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Full text of "Handbuch der vergleichenden Psychologie"

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KAFKA 

HANDBUCH  DER  VERGLEICHENDEN 
PSYCHOLOGIE 


HANDBUCH 

DER 

VERÖLE  ICHENDEN  PSYCHOLOGIE 

lIKKAL'iSaEGEBEN  VON  GUSTAV  XAFKA 


BANDI: 

DTK  ENTWICKLUNGSSTUFEN  DES  SEELENLEBENS 

Ableilung  1 :     Tierpsychologie  von  Gustav  Kafka 
Abteilung  2:     Psychologie  des  primitiven  Menschen 

von  Richard  Tliufnwald 
Abteilung  3 :     Kinderpsychologie  von  Fritz  Giese 

BAND  H: 
Dil:  FUNKTIONEN  DES  NOEMALEN  SEELENLEBENS 

Abteilung  1 :  Psychologie  der  Sprache  von  Hermann  Gutzmann 

Abteilung  2:  Psychoh^gie  der  Religion  von  Georg  Runze 

Abteilung  3:  Psychologie  der  Künste  von  Richard  Miilliir-Freienfels 

Abteilung  4:  Psychologie  der  Gesellschaft  von  Aloys  Fischer 

Abteilung  5:  Psychologie  der  Berufe  von  Otto  Lipmann 

BAND  III: 

DIE  FLNKTIONEN  DES  ABNOEMEN  SEELENLEBENS 

Abteilung  1 :  Psychologie  des  Abnormen  von  Hans  W.  Grüble 

Abteilung  2 :  Kriminalpsychologie  von  M.  H.  Göring 

Abteilung  3:  Psychologie  des  Traumes  von  Sante  de  Sanctis 

Abteilung  4:  Psychologie  des  Geschlechtslebens  von  Rudolf  Allers 


10    2    2 
VEELAG  VON  EENST  EEINHAEDT  IN  MÜNCHEN 


FsvcK 

^'i2>     .         HANDBUCH 


I)1:H 


VERGLEICHENDEN  PSYCHOLOGIE 


UNTER   MITARBEIT    VON 

R.  ALLERS    (WIEN),    A.  FISCHER    (MÜN- 
CHEN), F.  GIESE  (HALLE).  M.  H.  GÖRLNG 
(GIESSEN).  H.W.GUUHLE  (HEIDELBERG), 
H.   GUTZM.\NN    (BERLIN),    0.   LIPM.VNN 
(BERLIN),     R.    MÜLLER  -  FREIENFELS 
(BERLIN),    G.   RUNZE   (BERLIN), 
S.  DE  SANCTIS    (ROM), 
R.THURNWALD 
(IL\LLE) 

HERAUSGEGEBEN  VON 

GUSTAV  KAFKA 

IN  MÜNCHEN 


DRITTER  BAND: 

DIE  FUNKTIONEN  DES  ABNORMEN  SEELENLEBENS 

MIT  i5  ABBILDUNGEN  IM  TEXT  UND  U  TAFELN 


19   2  2 
VERLAG  VON  EENST  EEINHAEDT  IN  MÜNCHEN 


Copyright   1922   by 

Ernst  Reinhardt  Verlag 

München 


Druck :  Münchner  Buchgewerbehaus  M.  Müller  &  Sohn 


INHALTSVERZEICHNIS  DES  HI.  HANDES 

1.  ABTEILUNG: 
rSYCnOLOGIE  DES  ABNORMEN  VUX  HANS  W  GEUHLE 

Seite 

EINLEITUNG 3 

BEGRIFF  DES  ABNORMEN 3 

ABNORMITÄT  DES  MASSES  (QUANTITÄT) i« 

A.  ALF  DER  GEGENSTAiNDSSEITE lo 

1.  Empfindungen  .    .    .    • lo 

2.  Vorstellungen  und  gedankliche  Inlialle ii 

B.  AUF  DER  ICHSEITE 20 

ABNORMITÄT  DER  ART  (QUALITÄT) 29 

ABNORMITÄT  DER  FUNKTIONEN  (AKTE)  88 

A.  INTENTIO.NALER  AKT  (PROSPEKTIVER  GESICHTSPUNKT) 88 

1.  Richtung  normal,  Durchführung  abnorm 88 

2.  Richtung  abnorm,  Durchführung  normal       107 

3.  Richtung  und  Durchführung  abnorm 118 

B.  MOTIVZUSAM.MEIVHANG  (RETROSPEKTIVER  GESICHTSPUNKT)      .    .    .    .120 

ABNORMITÄT  DER  BEZIEHUNGEN  ZWISCHEN  DEN  SEELISCHEN 

UND  KÖRPERLICHEN  VORGÄNGEN     128 

ABNORMITÄT  DER  SEELISCHEN  ENTWICKLUNG i33 

LITERATURVERZEICHNIS     i36 

2.  ABTEILUNG: 
KEIMLN'ALPSYCHOLOGIE  VON  M.  H.  GÖRING 

EINLEITUNG '55 

I.  DER  VERBRECHER  IN  SEINER  ENTWICKLUNGSZEIT     i38 

A.  DER  EINFLUSS  DER  VERANLAGUNG .    .  i58 

i.DerEinflußderRasse i58 

2.  Der  Einfluß  der  Familie iGo 

3.  Alter  und  Geschlecht 162 

B.  EXOGENE  GIFTVVIRKUxNG i63 

C.  KOSMISCHE  EINFLÜSSE i64 

D.  DAS  MILIEU i65 

E.  DIE  WIRKUNG  DER  ELNFLÜSSE  AUFELNANDER 17^ 


Seile 

II.  DER   VEUBRECHEK   VOR    DER   TAT    UNTER    BESONDERER 

BERÜCKSICHTIGUNG  EINZELNER  DELIKTSGRUPPEN i8o 

III.  DIE  AUSFÜHRUNG  DER  TAT • 190 

I\  .  DER  VERBRECHER  NACH  DER  TAT  BIS  ZUR  VERURTEILUNG  2o3 

V.  DER  VERBRECHER  NACH  DER  VERURTEILUNG 2,0 

LITERATURVERZEICHNIS     aiö 


3.  ABTEILUNG : 
PSYCHOLOGIE  DES  TEAUMES  VON  SANTE  DE  SAXCTIS 

I.  DIE  PHYSIOLOGISCHEN  BEDINGUNGEN  DES  TRAUMES  ...  333 

A.  ATMUNG,  BLUTKREISLAUF  UND  STOFFWECHSEL  DI  SCHLAFE    .    .    .  234 

B.  TOXISCHE  UND  CHEMISCHE  THEORIEN  DES  SCHLAFES :  LOKALISATION 

IM  GEHIRN 239 

C.  HISTOLOGISCHE  UND  BIOLOGISCHE  THEORIE  DES  SCHLAFES    ...  2^3 

D.  EINSCHLAFEN  UND  ERWACHEN 2^6 

E.  DIE  TIEFE  DES  SCHLAFES  UND  DIE  TRÄUME 249 

F.  DIE  STELLUNG  DES  SCHLAFENDEN  UND  DIE  TRÄUME 256 

G.  DAS  NERVENSYSTEM  UND  DIE  TRÄUME 260 

II.  STRUKTUR  UND  DYNAMIK  DES  TRAUMES 266 

A.  STRUKTUR  DES  TRAUMBEWUSSTSEINS 266 

B.  HERKUNFT  DES   TRAUMMATERIALS   ODER   DER   KOMPONENTEN  DES 
TRAUMES 273 

C.  INHALTE  DES  WACHBEWUSSTSEINS,  UNTERBEWUSSTSEIN  UND  INHALT 
DER  TRÄUME 278 

D.  DYNAMIK  DES  TRAUMES 282 

111.  THEORIEN  DES  TRAUMES 395 

A.  JiLTERE  UND  NEUERE  THEORIEN 296 

B.  DIE  THEORIE  FREUDS  UND  SEINE  SCHULE 3o2 

C.  KRITIK  DER  FREUDSCHEN  LEHRE 3o6 

1 .  F i n a li s m u s 3o6 

2.  Das  Unbewußte 3o8 

3.  Dynamik  des  Traumes 3io 

4.  Der  Wunschtraum 3i2 

5.  DerPansexualismus •3i4 

D.  THEORIE  DES  VERFASSERS 3iü 

LITERATURVERZEICHNIS     ^27 


4.  ABTEILrXG: 

rSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 
VON  KUDOLF  ALLERS 

ücile 

ELNLEITl  N(; ■   .  ;i33 

DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSHKIFEN .i>a 

DIE  ONTOGKNIE  DER  SEXUALITÄT     ^«i 

DIE  SEKUNDÄREN  PHÄNOMENE •  ■ -h'^ 

EROTISCHE  TYPEN ^o-j 

DIE  ARARTUNGEN     /i'9 

EROTISCHE  PHANTASIEN,  TRÄUME,  HALLUZINATIONEN Viü 

DIE  LIERE ^ti2 

AUSWIRKUNGEN  UND  UMGESTALTUNGEN     m 

SCHLUSS ^oi 

LITERATURVERZEICHNIS     ^o'« 


SACHREGISTER  ZUM  III.  BAND ^07 


PSYCHOLOGIE  DES  ABNORMEN 


VON 
HAXS  W.  GPtUHLE 


1    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


KTNLEITUNG 

In  diesem  Handbuch  ist  mir  für  die  Psychopathologie  ein  enger  Rahmen 
zugeschnitten.  Der  Beschränkung,  der  ich  mich  zu  fügen  habe,  unterwerfe 
ich  vor  allem  jenes,  was  irgendwie  in  die  anderen  Abschnitte  des  Werkes 
hinüberragt.  Ferner  schließe  ich  absichtlich  alles  aus,  was  in  die  Psychiatrie 
hineinführt ^  So  bleibt  eine  Psychologie  des  Abnormen  übrig,  d.h. 
eine  Untersuchung  der  abnormen  seelischen  Phänomene,  sofern  sie  für  den 
Psychologen  Wissenswertes  fördert.  \Venn  man  betrachtet,  was  die  bekann- 
ten Lehrbücher  der  Psychologie  zum  Problem  des  seelisch  Abnormen  bei- 
tragen, so  bleibt  man  recht  unbefriedigt:  man  bemerkt  die  fehlende  An- 
schauungskraft der  Verfasser;  man  erkennt,  daß  sie  sich  das  Abnorme, 
das  sie  erörtern,  entweder  theoretisch  konstruiert  oder  aus  der  Literatur 
wirklichkeitsfremd  zusammengestellt  haben.  Die  Psychiater  andererseits  sind 
selten  theoretisch  orientiert,  sie  versinken  zu  leicht  in  der  Fülle  der  Er- 
fahrung, sie  haften  an  den  Konkretissimis  und  werden  sich  nicht  genügend 
der  Voraussetzungen  der  Betrachtung  und  der  Gesichtspunkte  ihrer  Ein- 
teilung bewußt. 

Ich  versuche  die  goldene  Mittelstraße  zu  gehen:  aus  der  Fülle  der  Er- 
fahrung zu  schöpfen  und  doch  dabei  das  Methodologische  nicht  außer 
acht  zu  lassen. 

Wenn  ein  kritischer  Leser  manche  Theorie  abnormer  Phänomene  und 
besonders  ihrer  Entstehung  vermißt,  so  erwäge  er,  daß  die  wenigsten  in 
die  Psychopathologie,  die  meisten  in  die  allgemeine  Psychiatrie  gehören. 


BETRIFF  DES  ABNOEMEN 

An  der  Spitze  des  Versuchs  stehe  eine  kurze  Erörterung  des  Begriffs 
des  Abnormen,  wie  er  hier  zugrunde  gelegt  ist.  Man  kann  selbstverständ- 
lich die  Abweichung  von  einer  Norm  recht  verschieden  orientieren,  — 
vor  allem  aber  muß  die  Norm  selbst  klar  umschrieben  sein,  von  der 
etwas  abweicht.  Es  stehen  sich  im  Seelischen  zwei  Gesichtspunkte  gegen- 
über: 

1 .  der  Vergleich  des  seelischen  Vorgangs  mit  dem  Durchschnitt  gleich- 
artiger Vorgänge, 

2.  die  Beziehung  des  seelischen  Vorgangs  auf  eine  Forderung,  eine  Wertung. 


1  Dahin  rechne  ich  z.  B.  die  Theorien  über  die  Ursachen  der  seelischen  Störungen. 
1* 


GRLHLE:  PSYCHOLOGIE  DES  ABNORMEN 


In  der  Naturwissenschaft  verwendet  man  meist  beide  Gesichtspunkte,  ohne 
sich  ihrer  grundsätzhchen  Verschiedenheit  bewulit  zu  sein.  —  Der  Begriff 
des  Durchschnitthchen  ist  rein  erfahrungsmäßig,  statistisch  gewonnen.^  Hier 
ergibt  die  Zähhmg,  daß  bei  irgendeiner  Versuchsreihe  z.  15.  50  Prozent  mit 
einer  Leistung  von  10 — 20  reagieren,  während  25  Prozent  unter  10  bleiben, 
andere  25  Prozent  20  übersteigen.  Es  steht  nun  im  Ermessen  des  Unter- 
suchers, ob  er  jene  50  Prozent  mit  der  Leistung  zwischen  10  und  20  als 
den  Durchschnitt  bezeichnen  will  und  also  folgerichtig  die  Leistungen 
unter  10  als  unterdurchschnittlich,  diejenigen  über  20  als  überdurchschnitt- 
liche (unternormal  und  übernormal,  aber  beide  abnorm)  einschätzen  will, 
oder  ob  er  die  Breite  der  Mittelzone  weiter  wählt  und  vielleicht  erst  dies- 
seits 8  und  jenseits  22  die  Bezeichnungen  abnorm  verwendet. 

Erhalte  ich  bei  irgendeiner  psychologischen  Zeitmessung  die  Werte  1,2 — 5,.'i — O.2  — 
2.2   —  4,2   —  4-2   —  [\.'i   —    2,ü    —   6,8   —   2,6    —    3,2    —   2,8   —   3,2    —   i4,4 

—  2,4  - —  16,2  —  3,6  —  3,6  —  2,4  —  4.2  und  bringe  ich  diese  Werte  in  eine  an- 
steigende Reihe,  so  ergeben  sich  folgende  Ziffern:  1.2  —  2,2  —  2,4  11  2,4  — 
2.6      2,6  —  2,8  —  3,2   —  3.2   —  3,6  —  3,6  —  4,2    —   4-2   —   4.2   —   4,2    1  5,4 

—  0,2  II    6,8  —  i4,4  —  16,2. 

In  dieser  Reihe  ist  3,6  das  Stellungsmittel;  ich  habe  es  nun  nach  den  Erfahrungen 
mit  anderen  Reihen  und  sonstigen  Erwägungen  mit  mir  auszumaclien.  ob  ich  die  Breite 
der  Norm  zmschen  2,6  und  4,2  annehme  oder  bis  2,4  und  ,6.2  hinausschiebe.  Im 
letzteren  Fall  würde  ich  in  der  Sprache  wissenschaftliciier  Alltagsarbeit  sagen,  daß  der 
Wert  2,2  der  Norm  noch  ..nahe  stünde",  während  der  Wert   i4,4  zweifelsfrei  abnorm  sei. 

Der  Lmstand,  daß  man  über  die  Breite  einer  solchen  Normalzone  ver- 
schiedener Meinung  sein  kann,  begründet  die  so  häufig  wiederholte  Be- 
hauptung der  fließenden  Grenzen.  Und  in  der  Tat:  man  wird  im  Seelischen 
nach  diesen  statistischen  Gesichtspunkten  häufig  im  Einzelfalle  „streiten" 
können,  ob  ein  Phänomen  schon  als  abnorm  zu  bezeichnen  oder  „noch 
in    den  Umfang  des  Normalen  einzurechnen"  ist. 

Mag  der  Einwand  auch  berechtigt  sein,  daß  bei  den  seelischen  Vorgängen 
im  seltensten  Falle  von  einer  wirkhchen  Meßbarkeit  und  daher  von  einer 
zahlenmäßig  genau  abzugrenzenden  Mittelzone  gesprochen  werden  kann  — 
mag  man  in  den  meisten  Fällen  also  nur  auf  die  allgemeine  unmeßbare 
Erf alirung  des  Forschers  angewiesen  sein :  —  die  Methode  ist  klar. 
Dieser  Abnormitätsbegriff  hat  nichts  mit  einer  Wertung,  nichts  mit  einer 
Forderung  zu  tun.  Man  verwendet  ihn  in  der  Psychologie  ebenso,  wie 
man  etwa  in  der  Somatologie  den  Tatbestand  einer  blauen  und  einer  grünen 
Iris,  das  Vorhandensein  einer  überzähligen  Brustwarze  usw.  als  abnorm 
bezeichnet.  In  diesen  Abnormitätsbegriff  ragt  noch  an  keiner  Stelle  der 
Begriff  der  Krankheit  hinein. 

^lan  würde  irren,  wenn  man  annähme,  daß  auch  der  Krankheitsbegriff 
nur  auf  derselben  Basis  beruhe-.  Man  könnte  vermuten,  daß  bei  ihm  nur 
ein  Neues  hinzukäme,  nämlich  das  Einsetzen  einer  Veränderung.  Man 
könnte  die  Behauptung  aufstellen,  daß  man  als  krankhaft  einen  Vorgang 
bezeichnen  müsse,  der  eine  Form  oder  Funktion  des  Körpers  oder  der 
Seele  derart  abändere,   daß  Form  oder  Funktion   nach  der  Hypo-  oder 


1  Genaueres    darüber    bei    Rautmann    (255a). 

-  Mit  „Krankheit'-  ist  hier  und  in  der  ¥o\^g  nicht  Krankheitseinheit,  sondern  Krankhaftig- 
keif  gemeint. 


p.ir.iniT  Di:s  minop.mkn 


Hvperseile  aus  iler  Diirchsrluiilbbroile  hinausfieloii.  Man  würde  im  \  crlolg 
dieser  .Meinung  also  als  ahnorni  etwa  das  Fehlen  des  I^ignientes  bei 
einem  Albino  (angeboren,  unveränderbar),  als  krankhaft  die  Zucker- 
krankiieit  (Diabetes)  bezeichnen  (neu  einsetzend,  Innktionsstörend,  tort- 
sehreiterul).  Man  könnte  sich  im  Ausbau  (Heses  (ledankens  vorstellen, 
dal')  nicht  nur  für  jed(^  l'unktion  und  Fcjrni  «miu'  DurchschniUsbreite  er- 
tuittelt,  sondern  diese  auch  noch  nach  (jeschlecht  und  Aller  abgcstinunt 
worden,  und  dali  jede  erhebliche  irgendwann  neu  einsetzende  Abänderung 
als  krankhaft  zu  kennzeichnen  wäre.  Diesen  Grundsatz  könnte  man  auch 
auf  die  Lebensdauer  ausdehnen,  so  dali  jede  Heeinträchtigung  dieser  Zeit- 
sj)anne  als   Folge  einer  Krankheit  anzusehen   wiire. 

Tatsächlich  aber  ragen  bei  der  Feststellung  des  Inhalts  des  Iviankhaltig- 
keitsbegriffes  in  jene  naturwissenschaftlichen  Gedankengänge  andere  Ideen 
hinein,  die  das  Leben  als  Wert  anerkennen.  Sicherlich  nicht  unabhängig 
\on  ilen  Erfahrungen  über  den  Durchschnitt  aber  doch  grundsätzlich  anders 
orientiert,  setzt  sich  hier  der  Glaube  an  (Muen  Idoaltypus  durch,  der 
für  das  gesunde  Kind,  das  Weib,  den  Mann  „gilt",  l'^in  gewisses  Optimum 
von  Körperstärke,  Widerstandsfähigkeit,  Kraft,  Energie,  Aktivität  usw.  setzt 
man  für  den  gesunden  Mann  voraus  und  ist  geneigt,  alles,  was  diese 
Eigenschaften  \ ermindert,  was  also  die  Vitalität  und  Lebensdauer  —  den 
Lebenswert  -  zu  beeinträchtigen  vermag,  als  krank  zu  bezeichnen.  — 
Mag  der  Idealtypus  körperlicher  Gesundheit  noch  relativ  eindeutig  sein, 
so  wird   das  Ideal  geistiger  Gesundheit  schon   recht  verworren.    Hier   ent- 


fernt sich  der  seelische  Idealtypus  schon  erheblich  vom  Durchschnitts- 
tA.pus.  Eine  grolSe  Zahl  der  Verhaltungsweisen  zu  den  Kulturwerten  spielt 
herein.  Vom  „rechten",  d.  h.  vom  gesunden  Mann  erwartet  man  z.  ß.,  dali 
er  seine  feste  Gesinnung  habe  und  sich  nicht  im  Wirbel  wechselnder  Zeit- 
strömungen leicht  mitreifjen  lasse.  Von  der  „rechten"  Frau  fordert  man 
eine  gewisse  Scheu,  Zurückhaltung,  Takt  usw.,  und  man  ist  geneigt,  das 
gegenteilige  Verhalten  etwa  der  englischen  Wahlrechtsweiber  vor  dem  grofien 
Kriege  als  krankhaft  zu  bezeichnen.  Ja,  man  nennt  hier  in  der  Presse 
gelegentlich  schon  den  Namen  einer  bestimmten  „Krankheit",  der  Hysterie. 
Jeder  Zeit  ist  also  die  Überzeugung  eigen,  dafj  eine  Fülle  der  Kultur- 
einstellungen —  d.  h.  bestimmter  dieser  Zeit  eigentümlichen  ^  erhaltungs- 
weisen zur  Sphäre  der  Kulturwerte  —  als  normal,  die  Abweichung  davon 
als  krankhaft  (pathologisch)  einzuschätzen  sei^  Man  löst  sogar  die  Beur- 
teilung eines  Verhaltens  als  krankhaft  von  der  Persönlichkeit  ab,  und  be- 
zeichnet eine  Kulturbewegung  oder  eine  Richtung  als  pathologisch.  Aus 
diesem  ungemein  interessanten,  hier  aber  nicht  zu  behandelnden  Gedanken- 
kreis sei  nur  beispielsweise  der  Symptome  gedacht,  die  den  angeblichen 
Verfall  einer  historischen  Epoche  zu  begleiten  pflegen,  wie  etwa  des  Rück- 
gangs der  Religiosität,  der  Vernachlässigung  gesellschaftlicher  Sitten,  der 
Auflösung  der  Familie,  des  Aufkommens  neuer  (angeblich  entarteter,  ja  oft 
als   psychotisch   bezeichneter)  Kunstrichtungen.    Hier  gilt  also   ein    Kultur- 

1  Bernhard  (20)  z.  B.  erklärt,  der  Verbreclier  sei  anormal,  weil  er  „seilen  genug  ist,  um 
der  ('normalen)  Mehrheil  erlieblich  zu  mißfallen".  (Dabei  käme  es  also  gleiclisam  auf  ein 
Abstimmungsergebnis  an.)  Er  sei,  wenn  man  das  anormale  Verhallen  nur  an  der  Schädiguna: 
der  Gesellschaft  messe,  gleiclisam   nur  ein  spezieller  Geisteskranker. 


GRUHLE:  PSYCHOLOGIE  DES  ABNORMEN 


phänomen  selbst  als  krankhaft.  Man  entwirft  sich  —  je  nach  der  Welt- 
anschauung —  von  dem  sozialen  Körper  einer  Zeit  und  seiner  Entwicklung 
ein  gewisses  Idealschema  und  schätzt  die  Abweichungen  als  krankhaft  ein. 
Es  ist  klar,  daß  hier  kein  Häufigkeits-,  kein  Durchschnittst}'pus  mehr  hinein- 
spielt: es  handelt  sich  dabei  lediglich  um  Wertgesichtspunkte.  Man 
erlebt  es  nicht  nur  in  der  Tagespresse,  sondern  selbst  in  /Vrbeiten,  die 
wissenschaftliche  Maßstäbe  für  sich  fordern,  daß  ein  Arzt  um  ein  Urteil 
über  irgendeine  Kulturerscheinung  befragt  wird,  daß  z.  B.  ein  Psychiater 
ein  Gutachten  über  den  Expressionismus  als  krankhaftes  Zeichen  einer 
verfallenden  Zeit  abgeben  soll.  Welche  Begriffsverwirrung!  Woher  soll  denn 
dieser  Arzt  die  Maßstäbe  seiner  Begutachtung  nehmen?  Mit  Worten  läl5t 
sich  das  trefflich  durchführen.  Man  braucht  ja  nur  vom  sozialen  Körper, 
von  dessen  Lebenserscheinungen,  Krämpfen,  Wehen  oder  dergleichen  zu 
sprechen,  um  auch  den  Arzt  und  die  Heilung  bei  dieser  Gelegenheit  leicht 
und  folgerichtig  einzuführen.  Aber  welcher  Einsichtige  verkennt,  daß  es 
sich  hier  nur  um  analogische  Wortspielereien,  um  Feuilletons  handelt. 
Der  Arzt,  auch  der  Seelenarzt,  hat  mit  der  Beurteilung  von  Kulturerschei- 
nungen als  Arzt  gar  nichts  zu  tun.  Die  ganze  Frage,  ob  ein  Kulturvorgang 
als  krankhaft  zu  bezeichnen  sei  oder  nicht,  ist  müßig.  Der  Begriff  „krank- 
haft" gehört  aus  diesen  Gedankengängen  ganz  heraus^.  Wenn  die  Zu- 
sammenstellung von  Ausdrücken  wie  „pathologische  Kunst",  „krankhafter 
Mystizismus"  usw.  überhaupt  einen  Sinn  haben  soll,  so  kann  er  nur  zwei- 
fach orientiert  sein: 

1.  Entweder  man  versteht  darunter  die  Kunst  von  Geisteskranken,  den 
Mystizismus  pathologischer  Personen, 

2.  oder  man  will  damit  nur  ausdrücken,  daß  das  als  krankhaft  kritisierte 
Phänomen  dem  Ideal  widerstreitet,  das  sich  der  Kritiker  von  Kunst, 
Mystik  usw.  gebildet  hat. 

Es  wird  klar  genug  geworden  sein,  daß  ich  also  eine  Anwendung  des 
Begriffes  „krank"  auf  Kulturphänomene  entschieden  ablehne.  Und  doch 
habe  ich  oben  zugegeben,  daß  der  Krankhaftigkeitsbegriff  nicht  rein  natur- 
wissenschaftlich, nicht  rein  statistisch  begründet  sei,  sondern  sich  doch  in 
die  Sphäre  der  Werte  irgendwie  eindränge.  Aber  man  beachte,  daß  es 
sich  dabei  nur  um  einen  biologischen  Wert  handelt,  nur  um  die  Be- 
jahung des  Wertes  des  Lebens,  seiner  Intensität  und  seiner  Dauer.  Und 
wenn  das  Bild  vom  Volkskörper  und  seiner  Gesundheit  überhaupt  gebraucht 
werden  soll,  so  kann  von  ihm  nur  als  von  der  Summe  der  einzelnen 
körperlichen  und  seelischen  Individuen  die  Bede  sein,  und  von  seiner 
Gesunderhaltung  nur  als  von  der  Hygiene  gesprochen  werden.  Ein  Hygi- 
eniker  kann  als  Arzt  von  dem  Einfluß  der  Frauenarbeit  auf  den  Zeugungs- 
vorgang, auf  die  Geburtenzahl  usw.  handeln,  —  sobald  er  sich  aber  anmaßt, 
über    die    allgemeine   Kulturbedeutung   der   Frauenemanzipation    als   eines 


1  Man  denke  daran,  daß  Richard  Wagners,  daß  Beethovens  Musik  seinerzeit  für 
pathologisch  gehalten  %vxirde.  TNicht  aus  der  Kenntnis  der  Persönlichkeit,  sondern 
nur  der  Musik  (VII.  Symphonie)  erklärte  Carl  Maria  von  Weber:  „Nun  haben  die 
Extravaganzen  dieses  Genius  das  Non  plus  ultra  erreicht;  B.  ist  nun  ganz  reif  fürs 
Irrenhaus."     (August    Göllerich:    Beethoven.    II.  Aufl.,    Berlin,    Bard-Marquardl.    S.    äi.) 


HIICUIFF  Di:S  ABMIUMEN 


k  rank  ha  ricii   Faklors  /u  sprcclioii,  M'rh'ilol  ihn  seine  Selbstüberschälzuny 
zu   bodiMikliihsleiu   nu'thotloloj^'ischcMi    Fehler, 

Ks  hat  sicli  in  der  Psytho[)athoh)^'ie  die  (jcwohnlieit  lieraus^'ohildel,  das 
anirebonMi  Abnorme  als  psvehopathisch,  das  erworben  Krankhalte  als 
psychotisch  zu  bezeichnen,  obj^'leich  die  Wortbedeutung'  selbst  zu  einer 
solchen  L  nterscheithinj;  eigentlich  nicht  berechtigt.  Aber  es  ist  von  ver- 
schiedenen Stantlpuiikten  aus  eni[)fehlcnswert,  diese  Differenzierung  streng 
durchzuführen.  Dabei  darf  man  jedoch  nicht  in  den  l'ehler  verfallen,  in 
den  der  erste  Autor  geriet,  der  den  psychopathischen  Absonderlichkeiten 
oine  eingehende  Arbeit  widmete:  .1.  L.  A.  Koch  (153).  Kr  nannte  seinen 
(legenstantl  [)sycho{)athische  Minderwertigkeiten,  brachte  also  schon 
in  der  i' berschrift  ein  Werturteil,  welches  er  hauptsächlich  soziologisch 
meinte.  Sachlicli  ist  gegen  diese  soziale  Bewertung  nicht  viel  einzuwenden, 
denn  die  überaus  große  Mehrzahl  der  Psychopathen  ist  sozial  minderwertig, 
sei  es,  dafj  sie  direkt  antisozial  (kriminell)  werden,  sei  es,  daß  sie  als 
lebensuntüchtige  hüls-  und  rücksichtsbedürltige  Persönlichkeiten  der  Arbeit 
der  andern  nur  zusehen.  Aber  mit  dem  Begriff  der  Psychopathie  —  wie 
Koch  meinte  —  hat  diese  soziale  Eigenschaft  der  meisten  Psychopathen 
nichts  zu  tun:  auch  die  Überbegabungen,  selbst  das  Genie  sind  —  wie  später 
gezeigt  wird  —  der  psychopathischen  Sphäre  zuzumessen.  Kronfeld  (165 
und  164)  unternimmt  neuerdings  den  Versuch,  die  Beziehungen  methodo- 
logischer .\rt  zwischen  psychologischen  und  soziologischen  Gesichtspunkten 
darzulegen. 

Begehen  schon  die  Fachleute  den  F'ehler,  soziale  oder  sonstige  Werturteile 
mit  dem  Abnormitätsbegriff  zu  verknüpfen,  so  ist  es  kein  Wunder,  wenn 
das  Volk  in  gleicher  Weise  verfährt  ^  Der  Psychopath  (noch  mehr  der 
Psychotische)  wird  nicht  wie  ein  körperlich  Kranker  eingeschätzt:  Jeder 
„Narr"  hat  bestenfalls  nur  etwas  Lächerliches,  meist  aber  etwas  Verächt- 
liches und  Grauenvolles  an  sich.  Geisteskrankheit  ist  dem  Volk  eine  Schande. 
Diese  Auffassung  hat  aber  keineswegs  nur  der  Ungebildete.  Auch  beim 
Literaten  findet  man  häufig  den  affektbetonten  Versuch,  die  geistige  Ab- 
normität eines  kulturellen  Führers  zu  behaupten,  gleich  als  ob  zugleich 
mit  der  F'eststellung  dieser  Abnormität  die  Persönlichkeit  oder  die  Werke 
dieses  geistig  Hochstehenden  verunglimpft  würden.  Zahlreich  sind  die  Ver- 
suche der  Kulturwissenschaftler,  bei  der  Behandlung  des  Genieproblems 
von  vornherein  jede  Erörterung  der  seelischen  Gesundheit  des  Genies 
abzulehnen;  jene  Forscher  glauben  meist,  den  Psychiater  „in  seine  Schranken 
zurückweisen"  zu  müssen.  Aber  diese  Schranken  gibt  es  natürlich  nicht: 
alles  Seelische,  auch  das  Geniale  unterliegt  der  Untersuchung  des  Psychologen. 
Nur  ist  es  leider  noch  nicht  Gemeingut  aller  Gebildeten  geworden,  daß  die 
Feststellung  geistiger  Abnormität  sich  mit  kultureller  Bewertung  nirgends 
und  niemals  berührt. 

Wie  ich  es  soeben  als  einen  Fehler  bezeichnete,  wenn  F'achpsychologen 
mit  dem  Abnormitätsbegriff  irgendwelche  sozialen  Urteile  verbinden,  so  ist 
auch    die    Hineinbeziehung    des    Rasse nmomentes    fehlerhaft.     In    der 


1  Vgl.  MönkemöUer  (207). 


GHl  HLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 


Sprache  der  Psychiatrie  herrscht  noch  vielfach  das  Wort  Degeneration, 
Entartung  ^  Auch  hinter  diesem  Begriff  steckt  ein  Idealtypus,  eine  Forde- 
rung. Aber  selbst  wenn  in  ihn  keine  sonstigen  Wertungen  einbezogen 
werden,  sondern  lediglich  der  biologische  Wert  getroffen  werden  soll,  so 
ist  er  für  die  Psychopathologie  wenig  brauchbar.  Denn  es  gibt  trotz  der 
großen  modernen  Vererbungsliteratur  noch  keine  einwandfreien  Unter- 
suchungen, die  eine  wirkliche  Verschlechterung  der  Nachkommenschaft 
durch  die  geistige  Abnormität  der  Eltern  nachwiesen.  Man  kennt 
selbstverständlich  Familien  mit  allmählich  abnehmendem  biologischen 
Wert,  in  denen  auch  geistige  Abnormitäten  reichlich  vorkommen, 
doch  sind  auch  Stammtafeln  sehr  wohl  bekannt,  in  denen  neben  einzelnen 
Psychosen  gar  keine  sonstige  „Entartung"  festzustellen  ist.  Am  besten  läßt 
man  den  unklaren  und  vieldeutigen  Degenerationsbegi'iff  aus  der  Psycho- 
pathologie ganz  heraus  2.  Die  beste  allgemeine  Studie  über  Degeneration 
verdanken  wir  Bumke  (36).  Die  gewissenhaftesten  Sonderuntersuchungen 
über  das  Vorkommen  seelischer  Anomalien  als  ererbter  Faktoren  hat 
Rüdin  (273,  274)  angestellt.  Seine  und  seiner  Schüler  iVrbeiten  stellen 
auch  die  zugehörige  Literatur  zusammen. 

Wenn  man  den  Versuch  macht,  die  Fülle  der  Erscheinungen  des  seelisch 
Abnormen  in  eine  Ordnung  zu  bringen,  kann  man  nicht  —  gleichsam  von 
außen  —  an  das  Material  ein  festes  System  von  Fächern  herantragen,  in 
die  man  nun  die  einzelnen  Erscheinungen  unterbringt.  Dies  würde  alles 
auseinanderreißen,  was  die  r>fahrung  doch  vereint  darbietet.  Aber  selbst 
wenn  man  bestrebt  ist,  die  Gesichtspunkte  der  Ordnung  dem  Stoffe  selbst 
zu  entnehmen,  läßt  es  sich  nicht  vermeiden,  manches  zu  trennen,  was 
dem  Kundigen  in  der  Natur  doch  zusammengehörig  erscheint  Ich  bin  mir 
klar  bewußt,  daß  die  von  mir  gewählte  Ordnung  manchen  unbefriedigt 
lassen  wird  —  bin  ich  doch  selbst  mit  ihr  keineswegs  zufrieden.  Aber 
ich  fand  keine  bessere.  Jeder  Bearbeiter  des  gleichen  Materials  dürfte  je 
eine  andere  Anordnung  wählen;  ein  consensus  omnium  ist  ganz  unmöglich, 
denn  keines  dieser  Systeme  ist  irgendwie  „verbindlich".  Am  lebendigsten 
und  anschaulichsten  würde  zweifellos  jene  Darbietung  sein,  die  auf  jede 
Systematik  verzichtet  und  eine  Folge  von  Essays  aneinanderreiht,  wie  dies 
etwa  Theophrast  in  seinen  Charakterbildern  versuchte,  oder  Pelman  in  seinen 
psychischen  Grenzzuständen  (235)  in  liebenswürdig  anregender  Weise  durch- 
geführt hat.  Jede  wie  immer  geartete  Ordnung  rückt  von  der  Lebendig- 
keit ab,  und  ich  nehme  daher  von  vornherein  den  Vorwurf  des  Kritikers 
als  berechtigt,  aber  unumgänglich  hin,  daß  manches  in  der  Natur  zeitlich 
einheitliche  Phänomen  in  der  hier  gewählten  Ordnung  zerrissen  wurde  und 


^  Bei  dieser  Gelegenheit  sei  der  sog.  Degenerationszeiclien  gedacht,  körperliclier  Ab- 
weichungen in  Form  oder  Funktion  (schlechte  Zahnbildung,  zusammengewachsene  Augen- 
brauen, Beweglichkeit  der  Ohren  usw.),  denen  man  früher  (Lombroso)  einen  großen  Wert 
als  Merkmalen  verborgener  geistiger  Anomalien  zuschrieb.  Heute  \^i^d  ibre  Bedeutung  geringer 
eingeschätzt.    Ich   selbst  halte  sie   für  ganz  unwichtig. 

-  Vgl.  das  anregende,  sehr  persönliche  Buch  von  Hildebrandt  über  Norm  und  Entartung, 
zu    dem    ich    in    vielfachem    bewußten    Gegensatz    stehe    (12  la). 


IU:<.IUKI'  Di:s    MiNUKMKN 


unler  ^erschieaene^  CberschriflcM.  wiederhult  u.e,  erkolul.   •'ea.\\....n  ehalt 
Oranun.^    und  jode  UrdnunK  lul  den    TalsaduM.   m  .rgeu.l  .m mn    Wc. 
ewa      an     WeKhe    der    n.ö.'luluM,    Ordnungen    aber    der    Autor   seinen 
""rn   darbieten  soll,  das  hängt  mmmu^s  ICracl^ens  gerade  von  diesen  L^m^ 

li     Ich  glaubte  im   UahnuM.  <-iMe.  Handbuches  der  ^e^glelchenden  1  s>clu - 
tie      in;  Ordnung    widden    .u    sollen,    die    sich    /u.nal   für  psychologisch 


.»eschulle  Leser  eignet 


ABNORMITÄT  DES  MASSES  (QUANTITÄT) 

A.  AUF  DER  GEGENSTANDSSEITE 

Seelische  Inhalte  und  Zustände  können  in  mannigfacher  Weise  abnorm 
sein.  Ganz  abgesehen  von  ihrer  Bedeutung  im  seelischen  Gesamtzusammen- 
hang können  sie  selbst,  isoliert,  vom  Durchschnitt  abweichen.  Man  kann 
ihnen  meist  einen  Grad,  eine  bestimmte  Intensität  zuschreiben.  Und 
so  ist  es  klar,  daß  eben  dieser  Grad  abnorm  sein  kann.  Dabei  richtet  sich 
die  Betrachtung  zuerst  auf  jene  relativ  einfachen  seelischen  Inhalte,  die  (nur 
bedingt  richtig)  als  Elemente  unter  anderen  Elementen  angesehen  werden 
können:  auf  die  Empfindungen.  Kann  eine  Empfindung  (oder  ein 
Komplex  solcher,  eine  Wahrnehmung)  einen  abnormen  Grad  erreichen? 
Der  Gedanke  liegt  nahe,  die  Empfindung  bliebe  sich  wohl  gleich,  es  sei 
die  mehr  weniger  intensive  Zuwendung,  die  Aufmerksamkeitsbesetzung,  die 
abnorm  werden  könne.    Beides  ist  richtig. 

1.  Empfindungen 

Wenn  hier  von  der  Abnormität  einer  Empfindung  die  Rede  ist, 
ist  nicht  die  Abnormität  des  Reizempfängers,  des  Sinnesorgans  gemeint, 
etwa  in  dem  Sinne,  daß  z.  B.  ein  Gehörorgan  auf  Schwingungszahlen  schon 
anspricht,  die  für  das  Durchschnittsohr  als  unterschwellig  bekannt  sind. 
Also  eine  Unter-  oder  Überempfindlichkeit  des  Sinnesorgans  bleibt  hier 
ebenso  außer  Betracht,  wie  das  vollkommene  Fehlen  mancher  Sinnesemp- 
findungen etwa  bei  dem  extrem  Rot-Grünblinden.  Dies  wäre  ein  Kapitel 
aus  der  Pathophysiologie  der  Sinnesorgane.  Hier  ist  von  jenen  Tatbeständen 
die  Rede,  daß  bei  vollkommen  normalen  Sinnesorganen,  normalen  Reiz- 
leitungen und  normalen  Gehirnbahnen  und  -Zentren  irgendwelche  Emp- 
findungen abgeschwächt  zum  Bewußtsein  kommen,  ja  in  extremen  Fällen 
überhaupt  nicht  erscheinen.  Es  handelt  sich  um  das  Problem  der  Hyp- 
ästhesie,  Anästhesie,  ferner  um  die  Hyperästhesie,  und  endlich  um  die 
Verfeinerung  aller  Sinnesqualitäten  (Hypersthenie). 

Es  gibt  Ausnahmezustände  ^,  in  denen  plötzlich  bei  nachweislich  gleich- 
bleibendem Reiz  die  Empfindungsintensität  stark  zunimmt.  Das  (objektiv 
gleichbleibende)  Rauschen  eines  Baches  schwillt  zu  gewaltigem  Tosen  an,  — 
das  einförmige  Zirpen  einer  Zikade  zerreißt  me  mit  gewaltsamen  Schnitten 
die  Stille  der  Natur,  —  die  Stimme  eines  bekannten  Menschen  erschallt 
wie  die  Posaune  des  jüngsten  Gerichts.  Oder  das  wohlbekannte  Gelb  eines 
Trambahnwagens  brennt  plötzlich  unerträglich  grell  in  den  Augen.  In  an- 
deren Fällen  klingt  das  längst  gewohnte  Schlagen    der  Zimmeruhr   so,    als 

1  Bei  akuten  schizophrenen  Wahncrlebnissen,  in  epileptischen  Verstimmungen,  ab 
..Aura"  epileptischer  Anfälle,  in  hysterischen  Entrücktheiten,  bei  beginnender  Narkose 
und    sonstigen    Vergiftungen    (Fieberdelirien).      Auch    bei    Hirn-Herderkrankungen. 


KNIPFINDINGEN.  VORSTELLINGEN  LND  CKDANKLICIIK  INHALTE  11 

käme  es  aus  woilester  Ferne,  der  helle  Sonnenschein  des  Sommertages 
verändert   sich    wie   bei    einer    Sonnenfinsternis,  der   (ieschniack   einer 

sonst  hevorzuij^ten  Speise  wird  fad  nnd  uid)esiitninl.  Solche  Phänomene 
lassen  sich  keineswegs  nur  derarl  auffassen,  dafj  man  hei  einer  scheinbaren 
Verslärkuiip;  der  Intensität  eine  \eruichrle,  hei  einer  Abschwächung  eine 
verminderte  Heachtunp:  annehmen  kiMiutf:  der  normale  Mensch  kann  ein 
Geräusch  noch  so  energisch  beachten,  es  wird  dadurch  nie  zu  einem 
<lonnernden  (lelöse  anschwellen.  Auch  die  Empfindungsformen  (Anschau- 
ungen, Strukturen)  zeigen  sich  in  solchen  aijnormen  Zuständen  gelegent- 
lich verändert: 

Ein  wolilbokannlos  Gosiclit  erscheint  plülzlicli  verzerrt,  irgendeine  Gestalt  sciieint 
zerstört  z»i  sein.  Oder  die  Gegenstände  des  Zimmers,  in  dem  ich  mich  befinde,  sind 
ganz  weil  weg.  gleich  als  ob  icli  sie  durch  ein  umgekehrtes  Fernglas  betrachte  (M  i  - 
kropsie).  Der  Löffel,  mit  dem  ich  in  der  Teetasse  umrühre,  wäclist  plötzlich  an. 
als  wolle  er  das  ganze  Zimmer  erfüllen,  —  und  doch  werde  ich  in  diesem  Augenblick 
keinesweg^^  an  dem  Eindruck  irre,  daß  es  ein  Löffel  ist  (Makropsie).  Auch  die 
eigenen  Körperempfindungen  können  sich  derart  verändern:  die  Mundhöhle  nahm 
riesige  Dimensionen  an,  die  Hände  erschienen  auf  die  3 — '»  fache  Größe  gewachsen  l. 
Ob  sich  dabei  ein  im  allgemeinen  angenehmes  oder  peinliches  Ergebnis  herausstellt  — 
die  einfachen  Töne  eines  Kinderliedes  werden  zu  unendlicii  schönem  Sphärengesang, 
das  Tropfen  der  Wasserleitung  dünkt  dem  Fiebernden  wie  eine  Folge  von  Explosionen  — 
hängt  wohl  von  der  begleitenden  Grundstimmung  ab,  z.  B.  von  der  Euphorie  manciier 
Vergiftungen.  1  '        I 

In  anderen  Fällen  kann  man  weniger  gut  sondern,  was  vom  Erlebnis 
wirklich  in  der  Empfindung  begründet  liegt,  und  was  nur  der  Aufmerk- 
samkeitszuwendung entstammt.  \\  enn  man  in  Zuständen  starker  Ermüdung 
eine  große  Abschwächung  mancher  ^^  ahrnehmungen,  ja  schließlich  für  ge- 
wisse Qualitäten  eine  völlige  Unansprechbarkeit  (Anästhesie)  erlebt,  so 
dürften  hierbei  wohl  beide  Komponenten,  die  Empfindungen  selbst  und 
die  Schwäche  der  Zuwendung  beteiligt  sein  -.  Hiervon  wird  später  bei  dem 
Kapitel  der  Beachtung  nochmals  die  Rede  sein. 

2.  \orstellungen  und  gedankliche  Inhalte 

Von  den  Vorstellungen,  den  mnestisch  ekphorierten  Empfindungs- 
inhalten, gilt  das  gleiche:  auch  ihre  Intensität  kann  über-  oder  unterdurch- 
schnittliche Grade  erreichen.  Es  ist  ja  eine  wohlbekannte  Tatsache,  daß 
gegenüber  den  Originalempfindungen  die  wiederbelebten  Engramme  weniger 
merkmalreich,  abgeblaßter,  verschwommener,  weniger  vivid  erscheinen.    Es 

1  Schilder  (279)  S.  i^.  —  Eine  Kranke  Josefsons  (1A6):  ,.Das  Zimmer  wird  so 
groß",  sie  findet  ,,den  Arzt  so  hocli,  sein  Gesicht  so  vergrößert".  Es  iiandelt  sich 
dabei  übrigens  nicht  etwa  um  Akkonmiodafionsslörungen.  —  Ein  Fall  Oppenheims  (zitiert 
von  Josefson  1/46)  sah  die  Menschen  konvex  oder  konkav.  Baudelaire  beschreibt  im 
Haschischrausch  sehr  klar  eine  Mikropsie:  er  sieht  die  Schauspieler  auf  der  Bühne  außer- 
ordentlich klein  und  von  einer  scharfen,  sorgfältigen  Kontur  umrissen.  Trotz  ihrer 
Kleinheit  konnte  er  an  ihnen  die  subtilsten  Einzelheiten  unterscheiden,  selbst  die  Linie, 
welche  die  Perückenstim  von  der  richtigen  trennt.  (Werke  II,  Minden.  Bruns.  S.  /j5 
u.  46).  —  Vgl.  femer  Sittig  (997a),  Fischer  (6:>a  u.  b),  Heilbronner  (lolb).  Liebscher 
<i78a). 

-  Auch  das  Ausbleiben  der  Ermüdungsempfindungen  jjei  großen  Affekten,  z.  B.  bei 
Tobsuchtsszenen.    Tanzepidemien    usw.,    geiiört    zum    Teil    hierher. 


]2  GilLIILE:  PSYCHOLOGIE  DES  ABNOIIMEN 


ist  hier  nicht  der  Ort,  auf  die  grundsätzlichen  Unterschiede  zwischen  Emp- 
findungen und  Vorstellungen  und  die  Streitfrage  einzugehen,  ob  beide 
gradweise  oder  grundsätzlich  verschieden  seien  ^.  Jedenfalls  gibt  es  Per- 
sönlichkeiten, die  die  Fähigkeit  haben,  je  nach  ihreni  Willen  ihren  \  or- 
stellungsbildern  eine  besondere  Lebhaftigkeit  zu  verleihen,  —  eine  solciie 
Lebhaftigkeit,  dafS  sie  selbst  das  Unterscheidungsvermögen  dafür  verlieren, 
ob  sie  Gebilde  ihrer  Einbildungskraft  oder  der  Wirklichkeit  vor  sich  haben. 
Ich  denke  dabei  nicht  nur  an  jene  Menschen,  von  denen  die  Sprache  des 
Alltags  sagt,  daß  sie  eine  besonders  lebendige  Phantasie  besäßen,  sondern 
an  jene  Psychopathen,  die  unter  ihren  lebhaften  \  oi-stellungen  wie  unter 
Sinnestäuschungen  leiden^.  Ein  Gefangener,  dessen  Lebensweise  durcli  die 
Verhaftung  eine  völlige  Umwandlung  erfährt,  der  allem  Verkehr  entzogen, 
der  körperlichen  Bewegung  beraubt,  ohne  Anregung  bei  veränderter  Er- 
nährung in  der  Einzelhaft  dahinvegetiert,  glaubt  allmählicli  nicht  nur,  aus 
den  seltsamen  Geräuschen  der  Strafanstalt  alles  mögliche  „herauszuhören" 
(Pareidolien),  sondern  seine  erregte  VorstcUungstätigkeit  zaubert  ihm 
schlieiSlich  leibhaftige  Gestalten  ins  Zimmer,  auf  die  er  vielleicht  mit  er- 
hobenem Wasserkrug  angsterfüllt  losschlägt  (Verfolgungswahn  der  hysteri- 
schen Haftpsychose),  oder  die  ihn  in  seiner  Einsamkeit  trösten  und  ihm 
wunscherfüllend  glücklichere  Zeiten  herbeizaubern.  Man  erinnere  sich  etwa 
der  Szene  aus  Benvenuto  Cellinis  Kerkerhaft^. 

Der  englische  Dichter  und  Zeichner  William  Blake  enlnalini  die  j\Iüti\e  zu  seinen 
Zeichnungen  seinen  Gesichten,  war  sich  aber  bewußt,  daß  diese  wiederum  seiner  hef- 
tigen Einbildungskraft  entstammten.  (Freimark  75.)  —  Eine  Kranke  erzählt,  si& 
habe  im  Halbdunkel  einen  Strauß  von  Ginsterblüten  auf  dem  Tische  stehen  sehen. 
Sie  hab(!  sich  nun  so  lange  und  so  lebhaft  vorgestellt,  daß  dies  Kirschblüten  seien, 
bis  sie  die  Kirschblüten  nicht  nur,  trotz  der  völligen  Dunltelheit,  ganz  klar  und  lielt 
gesehen,  sondern  auch  deren  Duft  deutlich  gerochen  habe.  (Psych.  Klinik.  Hcidelijerg. 
Mila  Schild.  i3.  Mai  iQiS.)  —  Oder  man  denke  der  Worte  Flauberts:  ,,Die  Gestalten 
meiner  Einbildungskraft  affizieren  mich,  verfolgen  mich,  oder  vielmehr  ich  bin  es, 
der  in  ilinen  lebt.  Als  ich  beschrieb,  wie  Emma  Bovarj  vergiftet  wird,  hatte  ich  einen 
so  deutlichen  Arseniligeschmack  auf  der  Zunge,  war  ich  selbst  so  richtig  verglflcl, 
daß  ich  hintereinander  davon  zwei  Indigestionen  akquirierle,  zwei  reelle  IndigcstioniMi; 
denn    ich    habe    mein    ganzes    Diner   wieder    von    mir    gebrochen  ^". 

Manche  Psychopathen  geben  sich  ihren  Wachträumereien  jedesmal  hin, 
wenn  die  Außenwelt  ihnen  nur  Unerfreuliches  beschert.  Sie  ziehen  sich 
dann  ganz  in  ihre  Phantasien  zurück.  Bei  einem  Falle  konnten  Bouman 
und  Grünbaum  (31)  interessanterweise  feststellen,  daß  ein  solcher  stark 
Phantasiebegabter  bei  der  Reproduktion  visuellen  Materials  keineswegs 
Gutes  leistete.  —  An  die  oft  überaus  lebhaften  Vorstellungen  der  Kinder  sei 
hier  nur  erinnert^. 

„Ich  konnte  lange  nicht  einschlafen,  da  betrachtete  ich  mir  die  im  Zimmer  hängenden 
Bilder.  Die  nahmen  plötzlich  alle  Gestalt  an,  auch  der  Spiegel,  Steckkontakt,  Wasser- 
flasche,   und   kamen    auf    mein    Bett    zu.     Als    ich    versuchte,    mir    die    Gestalten    zu    ^er- 


^    Ich    persönlich    schließe    mich    im    wesentlichen    Stumpf    (3i3)    an    und    teile    weit- 
gehend   die    Meinungen    Semons    (290,    291    u.    292). 

2    Vgl.   auch   das    altmodische    aber   interessante    Buch    von   llil^bort    (119). 

^  Rüdins    Begnadungswahn    (272). 

*    Zitiert      nach    Dilthey     {l^g,     S.    21). 

^    Siehe    auch    Ribot    (26/1). 


NOnSTELM  NGKN  L.ND  T.KD WkLICHi:  IMIAMi: \3 

virUlclicii.  da  icli  in  ümon  liokannlc  (ie^iclilcr  zu  onhlerkpii  ifl.iiiblo.  wlclion  sio  zurück, 
l'ckamni  zum  Teil  plattgodrückf«'  Stimm,  larijffc  Nasen,  jranz  hohe  Stinicn.  Köpfe  gaiu 
ohne  HaU.  rlünne  Leiber,  zu  kurze  Beine.  Die  GestalU-n  lacliten  tnirh  aus,  »treckten 
mir  i|ie  Zunge»  heraus  uufl  hefen  alle  H.ind  in  Hand."  (Ein  Kall  aus  der  Psvrhüitr. 
Klinik,    Heidelberg.) 

.Man  pflegt  solche  überlebendigcii  ^  orslellungen  als  reine  oder  illusionäre 
Pseudohalluzinationen  von  den  echten  Sinnestäuschungen  zu  son- 
tlern.  Und  in  der  Tat  kann  man  in  vielen  Fällert  letztere  als  andersartig 
luilerscheiden :  sie  sind  leibhaftig,  stehen  mir  objektiv  gegenüber  und  fügen 
sich  in  den  umgebenden  Sinnesrauni  ein,  ähnlich,  wie  wenn  ich  ein  fremdes 
I5ild  in  ein  wohlbekanntes  Zinniier  hänge.  Demgegenüber  haben  die 
Pseujlohalluzinalionen  nicht  jene  Leibhaftigkeit,  sie  erscheinen  mir  irgend- 
wie als  meine  (lebilde  und  pflegen  die  Sinneseindrücke  des  Aufjcnraums 
ganz  zu  verdrängen.  Freilich  gibt  es  eine  große  Zahl  von  Fällen,  in  denen 
die  l'ngewandtheit  der  ausgefragten  Person  eine  Entscheidung  verhindert,  ob 
1.  echte  Sinnestäuschungen  oder  2.  Lmdeutungen  der  wirklich  vorhandenen 
Heize  der  .Vul^enwelt  (sogenannte  Illusionen  oder  Pareidolien)  oder  3.  Pseudo- 
halluzinationen vorliegen.  In  anderen  Fällen  mischen  sich  aber  alle  drei 
Phänomene  tatsächlich,  so  daß  eine  Analyse  selbst  bei  feinster  Selbst- 
beobachtung unmöglich  ist*. 

Auch  an  die  überaus  lebhaften  A  orstellungsinhalte  im  Traume  sei  hier 
erinnert.  Schwächliche  psychopathische  Kinder  träumen  oft  mit  solcher 
Lebendigkeit  ängstliche  Szenen,  daß  sie  schweißbedeckt,  zitternd  und 
schreiend  aus  dem  Schlaf  in  die  Höhe  fahren  (Pavor  nocturnus)-. 

..Es  kam  mir  nämlich  vor.  als  ob  ich  durch  einen  Luftballon,  der  allmählich  an 
Ausdehnung  zunähme,  in  die  Luft  gehoben  «öirde,  hierauf  aber,  wenn  ich  bis  an  die 
Sterne  gekommen,  der  Ballon  platze  und  ich  zur  Erde  stürze,  worüber  icii  dann 
in  unglaublicher  Angst  ein  heftiges  Geschrei  ausstieß."  (Z.  f.  Anthropologie  iSaö. 
Heft  3,   S.    174.) 

Nicht  im  Sinne  der  großen  Leibhaftigkeit  einzelner,  sondern  im  vorzüg- 
lichen leichten,  freien  und  raschen  Ablauf  aller  Vorstellungen  äußert  sich 
eine  andere  Anomalie,  die  von  Zuständen  außerordentlicher  Gefahr,  unmittel- 
barer Todeserwartung  beschrieben  worden  ist.  Bei  Erdbeben  z.  B.  beob- 
achtete man  solche  Vorstellungserleichterungen,  und  Livingstone  erzählt  von 
dem  Augenblick,  als  er  unter  dem  Löwen  lag.  Ähnliches  (Baelz,  8). 

Eine  Abnormität  der  Intensität ^  der  Vorstellunsren  nach  der  negativen 
Seite  kommt  vor  allem  in  Zuständen  der  Erschöpfung  und  Schwermut  vor. 


1  .\nders  Jaspers  (i3g — i4o).  Auf  seine  Ansichten  geht  auch  Stumpf  ein  (3i3). 
M  i.i  erinnere  sich  des  Versuches  von  Perky  (236),  der  an  die  Stelle  einer  lebhaft 
^fn  einstellten  Orange  allmählich  das  reale  Bild  einer  wirklichen  Orange  treten  ließ, 
oiine    daß    die    Versuchspersonen    dies    gewahr    wurden. 

-  Über  Träume  vgl.  das  populäre,  alle  ernsteren  Probleme  vermeidende  Werk  des 
selir  belesenen  Sanctis  (277).  Siehe  auch  S.  37  und  75.  Vgl.  ferner  die  Alpträume 
(C!ubasch   [4ia],  Röscher  [268a].) 

^  Ich  übersehe  keineswegs,  daß  das  Wort  Intensität  in  diesem  Zusammenhange  viel- 
dfulig  ist,  doch  kann  seine  Abgrenzung  von  Lebendigkeit,  Vividität  usw.  hier  wegen 
Raummangels  nicht  erfolgen.  Siehe  dazu  Stumpf  (3i3)  und  Semon  (290 — 291).  — 
Hibl>ert  (119)  spricht  schon  1825  von  der  Vividness.  Die  Ideas  seien  less  intense, 
lest  vivid  or  fainter  als  die  sensatlons.  Vgl.  auch  Linke  (i8'i)  an  mancherlei  Stellen, 
besonders    S.    43  u.   170. 


14       GIIUHLE:  PSYCHOLOGIE  DES  ABNORMEN 

Die  melancholischen  Kranken  klagen  darüber,  daß  sie  nicht  melir  imstande 
wären,  sich  iliren  Mann,  die  Kinder,  das  Haus  vorzustellen.  Alles  schwebe 
wie  in  einer  unendlichen  Ferne,  unbestimmt,  unklar,  verschwommen.  Selbst 
einfache  Sinnesqualitäten,  wie  die  Farben,  sind  nicht  mehr  ekphorierbar: 
„Ich  weiß  gar  nicht  mehr,  wie  es  in  der  Welt  ausschaut." 

Bei  den  soeben  erwähnten  Fällen  von  Abnormität  der  Intensität  von 
Vorstellungen  hatte  ich  Zustände  im  Auge,  die  als  Ausnahmezustände  dem 
gewöhnlichen  Vorstellungsablauf  gegenüberstehen.  Das  Vorstellungsleben 
kann  jedoch  auch  an  einem  ganz  anderen  Maße  gemessen  abnorm  sein. 
Der  durchschnittlich  Begabte  bringt  die  Disposition  mit  auf  die  Welt,  sich 
einen  gewissen  Schatz  von  Vorstellungen  zu  erwerben.  Diese  Dispositionen  selbst 
können  nun  aui^erordentlich  dürftig,  die  schließlich  erworbenen  Vorstellungs- 
inhalte können  ungemein  gering  und  kümmerlich  sein.  Zahlreiche,  von 
Geburt  schwachsinnige  (imbezille,  debile)  Persönlichkeiten  vermögen  sich 
viele  Vorstellungen  gar  nicht  zu  erwerben,  sie  sind,  wie  schon  die  Luthersche 
Bibelübersetzung  es  treffend  benennt,  geistig  arm  ^.  Man  verstehe  dies  nicht 
so,  als  wenn  das  Wesen  ihres  Schwachsinns  allein  in  der  Vorstel- 
lungsarmut  beruhe;  es  kommen  selbstverständlich  auch  Defekte  der 
Denkvorgänge  usw.  hinzu.  Aber  jener  Mangel  an  Quantität  ist  doch  eines 
der  wichtigsten  Kennzeichen.  Man  denke  dabei  auch  des  Taubstummen, 
dessen  geistige  Struktur  schon  deswegen  meist  unternormal  bleibt,  weil 
ihm  sein  Gebrechen  eine  Fülle  der  geistigen  Erwerbsmöglichkeiten  unter- 
bindet". 

Schließlich  gehören  aber  auch  jene  Gedächtniskünstler^  hierher, 
die  sich  eine  solche  Fülle  von  Inhalten  einzuprägen  vermögen,  daß  der 
Durchschnittsmensch  wie  vor  einem  Wunder  befangen  steht.  Wenn  Herr 
Dr.  Rückle  im  Kopfe  53116  in  4  Quadrate  zerlegen  kann,  wenn  Diamandi 
aus  2000  gelernten  Zahlen  z.  B.  die  310.  herzusagen  vermag,  wenn  Inaudi 
6241x3635  im  Kopfe  in  21  Sekunden  richtig  ausrechnet,  so  sind  diese 
Gaben  natürlich  abnorm.  —  Solche  Spezialgedächtnisse  finden  sich  gelegent- 
lich auch  bei  Personen,  die  im  übrigen  minderbegabt,  ja  schwachsinnig 
sind.    (Interesset>pen  [Van  der  Kolk,  159,  und  Wizel,  327]). 

G.  E.  Müller  (215)  bringt  in  seinem  dreibändigen  W^erk  über  das  Ge- 
dächtnis ein  großes  Material  dieser  Cberleistungen  des  Merkens  und  ilirer 
verschiedenen  Typen  zusammen.  (Siehe  dort  auch  die  neuere  Literatur.) 
Es  ist  eigentlich  kein  abnormes  Phänomen,  sondern  eine  normale  Erschei- 
nung, daß  im  Alter  eine  große  Zahl  der  Vorstellungsinhalte  unerweckbar 
wird:  das  Gedächtnis  nimmt  ab.  Insofern  dies  darauf  beruht,  daß  der 
Akt  der  Erweckung  eines  Gedächtnisinhaltes  geschädigt  ist,  gehört  dieses 
Moment  nicht  hierher.  Aber  die  Vorräte  selbst  gehen  allmählich  verloren. 
Mir  sind  keine  genaueren  Untersuchungen  darüber  bekannt  geworden,  ob 
im  Senium  die  Inhalte  selbst  dahinschwinden   oder  nur   ihre   sprachlichen 


1  Es  findet  sich  auch  bei  sonst  guter  Entwicklung  isoliert  ein  mangelhaftes  „Gedächt- 
nis" für  geschriebene  und  gedruckte  Wortbilder.  Vgl.  Schröck  (285)  mit  guten. 
Literaturangaben   und   eigenen    Fällen. 

'^    Über   den   sogenannten   moralischen    Schwachsinn  siehe    S.  25. 

3    Das    Buch    von    Offner    (282)    bringt    nur    sehr  wenig    Abnormes. 


VORSTELLUNGEN  UND  GEDANKLICHE  INHALTK 


Syinbolt*.  Die  allfiiMiu'inc,  iiichl  an  j^ciiaurr  wissoiiscliaftliclicr  l'orsclniiii,' 
orionticrli'  l!iraliriiiig  sdiciiit  dal'ür  /u  sproclipii,  dal')  die  sp  rac  li  1  iclic  ii 
\  orstelluDfrsiidialte  zuerst  auslallcii.  Anlangs  sind  es  die  Bezeichnungen 
für  die  relativ  selten  wiedcrkelirendeii  (und  also  wenig  geübten)  Inhalte  die 
J'^igeiiiianien  -  ,  welche  verlorengciien,  dann  iolgen  die  sonstigen  llaii|ilwürter 
und  die  l'ligenschattswörler  i'ür  Atischaiilichcs,  daiui  die  für  l  nanschauliches, 
ferner  die  Zeitwörter,  Präpositionen,  l\t)njunktionen,  (Grußformeln.  Hihot 
nennt  diese  Hegel  die  I^i  de  la  rcarcssion ;  sie  besagt  das  eigentlich  Selbst- 
verständliche, dalj  das  wenigst  Geübte  (Eigennamen  und  jüngst  Ivrworbcnes) 
zuerst  zugrunde  geht.  Nicht  nur  im  Alter,  auch  durch  mancjie  lukran- 
kungen  des  Ciehirns  verschwiiulen  viele  (ledächtriisiidialte  allmählich  ^  Aber 
es  kommt  auch  vor,  dal')  das  (ledächtnis  [)lötzlich  eines  Teiles  seines 
Materials  beraubt  wird.  Es  finden  sich  dann  Lücken  in  der  l">innerung 
an  den  zeitlichen  Ablauf  der  Erlebnisse,  die  ganz  scharf  umgrenzt  sind 
(zeitliche  Amnesie).  Es  handelt  sich  dabei  stets  um  schwere  plötzliche 
Schädigungen  des  Gehirns,  teils  durch  innere  (Gehirnblutung),  vor  allem 
aber  durch  äußere  Umstände  (Gehirnerschütterung,  Schädelbruch).  Das 
Interessante  dabei  ist  nicht  der  Umstand,  daß  vom  Augenblick  der  Schädi- 
gung an  sich  nichts  Neues  mehr  einprägt.  Denn  der  Radfahrer,  der  eine 
bergab  führende  Straßenkurve  falsch  genommen  hat  und  mit  dem  Kopf 
gegen  eine  Mauer  geprallt  ist,  ist  von  diesem  Augenblick  ab  natürlich 
bewußtlos:  er  nimmt  keine  neuen  Eindrücke  mehr  in  sich  auf,  und  es 
ist  selbstverständlich,  daß  er  für  die  Zeit  vom  Unfall  bis  zum  Erwachen 
aus  seiner  Bevvufitlosigkeit  keine  Erinnerung  hat  (einem  Narkotisierten 
vergleichbar).  Interessant  ist  vielmehr,  daß  auch  die  Ereignisse,  die  dem 
Sturz  unmittelbar  vorausgingen,  häufig  ganz  vergessen  worden  sind  (retro- 
grade Amnesie).  So  vermag  er  sich  z,  B.  nicht  mehr  daran  zu  erin- 
nern, von  welchem  Ort  er  denn  am  frühen  Morgen  weggefahren  ist,  wo 
er  zuvor  übernachtet  liatte  usw.  Alles  weiter  Zurückliegende  ist  ihm  jedoch 
dann  wiederum  wohlbevvußt^.    Ganz   andersartig   sind  jene    Amnesien    zu 

1  Arteriosklerose  des  Hirns,  progressive  Paralyse  u.  a.  Diese  Kranken  pflegen 
dio  zahlreichen  Lücken  ihres  Gedächtnisses  dann  häufig  durch  hcHebige,  immer 
wechselnde   kleine    Erfindungen   auszufüllen,    sogenannte    Konfabulationen. 

Es  ist  höclist  seltsam,  wie  Schopenhauer  auf  den  Störungen  des  Gedächtnisses  eine 
Theorie  des  Wahnsinns  aufhaut  (Welt  als  Wille  und  Vorstellung.  II,  S  ■^'■.  nnd  JII. 
S  36):  Die  eigentliche  Wurzel  des  Wahnsinns  sei  die  Störung  des  Gedächtnisses. 
Dio  Gesundheit  des  Geistes  bestehe  vor  allem  in  vollkommener  Rückerinncrung  jedes 
edgentümlichen  oder  bedeutsamen  Vorganges.  Werde  die  Verbindung  des  Gegenwärtigen 
mit  dem  Abwesenden  und  Vergangenen,  aus  welcher  allein  ein  lückenloses  und  richtiges 
Weltbild  hervorgehe,  zerstört  oder  verfälscht,  so  trete  jene  Erscheinung  ein,  die  \vir 
Wahnsinn  nennen.  Der  Faden  des  Gedankens  sei  zerrissen,  der  fortlaufende  Zusammen- 
hang sei  aufgehoben,  keine  gleichmäßig  zusammenhängende  Rückcrinnenmg  der  Ver- 
gangenheit sei  möglich.  Die  Lücken  der  Rückorinnerung  würden  mit  Fiktionen  aus- 
gefüllt, die  entweder,  stets  dieselben,  zu  fixen  Ideen  würden:  dann  ist  es  fixer  Wahn, 
Melancholie;  oder  jedesmal  andere  sind,  augenblickliche  Einfälle,  dann  heißt  es  TNarr- 
heit.  —  „Meine  vieljährige  Erfahrung  hat  mich  auf  die  Vermutung  geführt,  daß 
Wahnsinn    verhältnismäßig    am    häufigsten    bei    Schauspielern    eintritt."    (1) 

'■^  Man  stellt  sich  vor,  daß  die  Gehirnerschütterung  besonders  diejenigen  Engramme 
au.slöscht,  deren  ,,Spur"  noch  sehr  jung,  frisch  war.  Welche  materiellen  Vorgänge 
solchen  ,, Auslöschungen"  zugrunde  liegen,  kann  nicht  einmal  geahnt  werden.  Vgl.  zu 
den    organischen    Amnesien    auch    das    alte    Werk    (1822)    von    Prichard    (a^o). 


16 CnVULE:    PSYCHOLOGIE    DE?    AB^^OR^tE^ 

beurteilen,  bei  denen  nicht  eine  Zeitstrecke,  diese  über  mit  allen  ihren 
Inhalten,  ausgelöscht  ist,  sondern  bei  denen  ein  innerer  Erlebniszusaramen- 
hang  (ein  Komplex)  vergessen  worden  ist:  z.  B.  alles,  was  im  Leben  einer 
Frau  mit  ihrem  Geliebten  zusammenhängt.  Hierüber  wird  später  bei  der 
Frage  der  psychogenen  yVusschaltungen  gesprochen  werden. 

Es  ist  seltsam  und  dabei  nicht  unwichtig  für  die  Lehren  der  Psycho- 
logie des  Normalen,  daß  gelegentlich  nicht  die  Gedächtnisinhalte  selbst 
verlorengehen,  sondern  in  sich  nur  gleichsam  eine  Unordnung  erfahren. 
AVenn  man  in  solchen  Fällen  auch  nicht  eigentlich  von  einer  Abnormität 
der  Quantität  oder  Intensität  reden  kann,  so  liegt  doch  auch  keine  eigent- 
lich qualitative  Änderung  vor.  Nur  die  V  o  r  s  te  1 1  u  n  g  s  f  o r  m  e  n  sind  gestört, 
die  raumzeitliche  Anordnung,  die  Struktur  hat  gelitten.  So  erwähnen  die 
Sjjezialstudien  gern  das  Beispiel  Ludwig  Tiecks. 

Tieck  ging:  von  Berlin  aus  seiner  Braut  entgegen,  die  von  Hamburg  zurückkehrtr-. 
Bei  einer  \A  aldschenke  jenseits  Tegel  wollte  er  sie  erwarten.  Allein  schon  ehe  er  diesen 
Ort  passiert  hatte,  sah  er  in  erregter  Stimmung  die  Schenke.  Zwar  lag  sie  auf  dei* 
unrechten  Seite  der  Straße;  allein  sie  war  so  deutlich,  der  bekannte  Wirt  stand  unter  der 
Tür,  die  Hühner  liefen  auf  dem  Hofe,  daß  er  nicht  weiter  zweifeln  konnte.  Di 
er  keinen  Steg  über  den  längs  der  Straß©  laufendjen  Graben  fand,  entschloß  er  sich 
7um  Sprunge,  und  erst,  als  er  nach  zu  kurzem  Sprunge  im  Graben  lag,  verschwand  die 
Erschednung.  Das  Bild  war  offenbar  von  der  aufgeregten  Phantasie  hervorgebracht: 
aber  es  erschien  nur  an'  einer  bestimmten  Stelle,  was  oFine  Zweifel  durch  eine 
passende   Umgebung  und  durch  den  richtigen  Ton  des   Hintergrundes   vermittelt  wurde  '. 

Man  kann  die  Störungen  in  der  Struktur  (Gestalt)  von  Yorstellungs- 
komplexen  deshalb  nicht  scharf  von  denen  der  Wahrnehmungstrukturen 
trennen,  weil  in  die  letztere  stets  die  früher  erworbenen  ^  orstellungen  mit 
Eingehen  (in  einer  Weise,  die  hier  nicht  näher  erörtert  werden  kann  2), 
Es  ist  interessant,  daß  im  wirklichen  Erleben  irgendwelche  Eindrücke  ganz 
richtig  einander  zugeordnet  sein  konnten,  aber  in  der  Erinnerung  steht 
dann  alles  auf  dem  Kopf  (Paramnesie  a  images  rer\versees).  Es  handelt 
sich  z.  B.  im  Falle  Jules  von  Lemaitre  (172,  S.  115)  um  ein  Erlebnis  des 
flejä  vii  (siehe  später),  bei  dem  der  Kranke  glaubt,  die  im  Augenblick 
erlebte  Situation  schon  einmal  erlebt  zu  haben,  aber  mit  allen  umgekehrten 
Einzelheiten  („les  enfants  ayant  la  tefe  en  bas,  le  pied  des  arbres  et  l'herbe 
etant  en  l'air"  usw,)^. 

Auch  ein  Fall  Janets  gehört  hierher^:  (135)  Eine  Frau  glaubte  bei  allen 
ihren  Körperbewegungen  verkehrt  zu  gehen  'oder  umgekehrt  bewegt  zu 
werden.  Alles  kam  ihr  rechts  und  links  vertauscht  vor.  Beim  Laufen  schien 
es  ihr  also,  als  ginge  sie  umgekehrt.  Bewegte  sie  sich  nicht,  oder  war  sie 
in  fremder  Umgebung,  so  fiel  das  seltsame  Phänomen  weg,  —  Auch 
manche  Medien  (Flournoy,  66)  verlieren  im  Ausnahmezustand  die  Orien- 
tierung über  die  Körperlage  und  über  rechts  und  links.  Wenn  man  Flournoys 
Helene  z.  B.  in  den  rechten  Zeigefinger  stach,  bewegte  sie  den  linken. 
^AUochirie).  —  Eine  seltsame  Drehung  der  Objekte  in  der  Horizontalen  um 
180"  beschreibt  Pick  (246  a)  bei  Geisteskranken. 

1  INaegeli,   S.   53o   (221).    Siehe  auch  den   Fall  von   Saint-Paul,  zitiert  von   Pickh'it). 

-  Über    die    Vorstellungstopik    der    Blinden    vgl.    Müller    (aiS),    II,    35o. 

3  Vgl.  auch  Müller  (2i5),  II,   S.   n8. 

*  Vgl.  auch  Müller  (2i5),  II,  S.  207. 


\()USTF:LLrNGi:>'  l  ND  GKDANKLICIIE  IMIALTi: 17 

Teils  in  Beziehung  zur  geistigen  Armut,  teils  zur  Pathologie  des  Gestalt- 
charakters stehen  die  Abnormitäten  des  Erwerbs  der  „Zahlmomcnte"  und 
die  Störungen  des  Opericrens  mit  Zahlen.  Auch  in  den  sogleicli  noch  zu 
erörternden  Agnosien  und  Agraphien  haben  die  Zahlen  ihre  Sonderstellung. 
Einen  \  ersutii,  in  die  Psychopathologie  des  Zahlenverständnisses  einzu- 
dringen, macht  Otto  Sittig  (297). 

L  nter  besonderen  körperlichen  Umständen  kann  es  dahin  kommen,  daß  be- 
stimmte einzelne  Vorstellungen  oder  Gruppen  solcher  verlorengehen,  die  zu  den 
Sinnesorganen  oder  zu  den  ßevvegungsmechanismcn  nahe  Beziehungen  haben. 
\  or  allem  ist  hierbei  der  Sprache  zu  denken.  Es  geschieht,  daß  bei  völlig 
normal  arbeitendem  Gehörorgan  plötzlich  der  Sinn  des  Gehörten  entfällt 
(sprachliche  Agnosie  [Pick  246b,  Knauer  152b,  Liepmann  179j).  Die  Be- 
deutung der  deutlich  vernommenen  Worte  ist  verloren  gegangen.  Es  ist,  als 
wenn  der  Erkrankte  eine  ihm  unbekannte  Sprache  sprechen  höre.  Diese 
Störungen  (sensorische  Aphasien)  sind  sehr  vielgestaltig,  und  es  würde  den 
Rahmen  dieser  Abhandlung  völlig  sprengen,  wollte  ich  näher  auf  dieses  Gebiet 
eingehen.  So  gibt  es  Fälle,  bei  denen  der  Ivranke  nur  einzelne  Worte  (be- 
sonders anschaulichen  Inhalts)  nicht  mehr  versteht;  dann  findet  man  andere 
Kranke,  die  den  Sinn  des  Zusammenhangs  der  gehörten  Rede  durchaus  nicht 
mehr  begreifen  können,  obwohl  sie  noch  ein  Urteil  darüber  haben,  ob  die 
Reden  z.  B.  französisch  oder  deutsch  sind,  und  endlich  kommen  Erkrankungen 
vor,  bei  denen  die  gehörte  Sprache  sinnlos  wie  ein  Geräusch  der  Natur 
zum  Bewußtsein  kommt.  Bei  manchen  Kranken  hat  neben  der  Verständnis- 
störung der  gehörten  Rede  (oder  auch  allein)  der  „Sinn"  für  Musik  Schaden 
gelitten:  sie  vermögen  nicht  mehr  eine  Melodie  als  diese  Melodie  zu  er- 
kennen, oder  sie  vermögen  nicht  die  einzelnen  Töne  zu  einer  Melodie  zu- 
sammenzuschließen (Amusie  ^). 

Ein  Leser,  dem  die  systematisch  genaue  Einordnung  der  Phänomene 
sehr  am  Herzen  liegt,  könnte  hier  einwenden,  daß  solche  Erscheinungen 
doch  zur  Pathologie  der  Empfindungen  gehören.  Er  würde  irren,  denn 
die  Empfindungen  treten  hier  richtig  in  den  seelischen  Gesamtzusammen- 
hang ein;  was  hier  gestört  ist,  ist  etwas  hinzukommendes  ^  orstellungsmäßiges: 
die  assoziierten  Engramme  des  Sinnes  der  Worte.  Ähnlich  ist  es  auf  dem 
Gebiete  des  Optischen:  es  gibt  Störungen,  bei  denen  das  Auge  in  jeder 
Weise  richtig  funktioniert,  bei  denen  aber  die  Zuordnung  der  ^  orstellungs- 
inhalte  zu  den  Wahrnehmungsinhalten  wegfällt :  ein  bestimmter  Form-Farb- 
Komplex  wird  zwar  optisch  aufgenommen,  doch  bleibt  die  sonst  als  selbst- 
verständlich verknüpfte  ^  orstellung  (z.  B.  „Tisch")  aus.  Die  ganze  optische 
Welt  ist  plötzlich  sinnlos,  unverständlich.  Auch  ein  Erfassen  und  Merken 
der  Gestaltkomplexe  ist  oft  nicht  mehr  möglich  (Seelenblindheit,  Gestalt- 
blindheit) -.   Es  sind   Fälle  beschrieben,  bei  denen  nur  in  einem  Teile  des 


^  Vgl.  Idcrzu  Förster  (71),  Alt  (4l>),  Rohardt  (268),  Mingazzini  (208)  mit  l\8  Litcralur- 
angaben,  Bronislawski  (33),  Edgren  (56),  und  von  der  älteren  Forschung  (mit  guten 
Literaturangaben    bis    1899)    Probst    (25o).    —    Femer    Knauer    (i52a). 

2  Vgl.  liierzu  Henschen  (11. 'ja),  Pick  (2/|6b"),  Adler  (ra),  Liepmann  (182a)  und 
besonders  Slauffenberg  (3o^)  mit  iTk)  Literaturangaben,  auch  Mann  (i()^)  nnd  Gold- 
stein (87).  —  Ferner  Redlich-Bonvicini  (258  u.  25g),  Bychowski  (38),  Albrecht  (2) 
zum  interessanten   Problem  des  Fehlens  der  Walirnehmung  der  eigenen  Blindheit. 

2    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


18  GRUHLE:  PSYCHOLOGIE  DES  ABNORMEN 


Gesichtsfeldes  die  Erfassung  der  Bedeutung  der  Wahrnehmungsinhalte 
Schwierigkeiten  macht,  obwohl  das  Sehorgan  und  seine  rücklaufenden  Nerven- 
bahnen unverändert  sind^ 

Ja,  CS  kommen  sogar  Erkrankungen  vor,  bei  denen  nicht  die  Auffassung  der 
räumlichen  und  bedeutungsmäßigen  Qualität  in  bestimmten  Bezirken  des  Gesichtsfeldes 
Not  gelitten  hat,  sondern  bei  denwi  die  Aufmerksamkeit  den  Objekten  dieser  Bezirke 
nur  mangelhaft  zugewendet  werden  kann.  Z.  B.  zeigte  sich  einmal  bei  großer  Enge 
der  Aufmerksamkeit  (ohne  Seelenblindheit)  eine  Einschränkung  des  Aufmerksamkeits- 
feldes   nach    rechts    um    35 — '40^    bei    normalem    Gesichtsfeld '-. 

Gelegentlich  vermag  ein  Ivranker  zwar  Gegenstände  seiner  Umgebung  und 
allerlei  Abbilder  richtig  zu  erkennen,  doch  versagt  sein  Verständnis  teilweise 
oder  vollkommen  gegenüber  der  Bedeutung  von  geschriebenen  Worten  und 
Sätzen  (Alexie).  Vielleicht  erkennt  er  noch  die  Tatsache,  daß  bei  einem 
Wortzusammensetzspiel  das  eine  Wort  mit  dem  großen  Anfangsbuchstaben 
an  den  Anfang  des  Satzes  gehört,  oder  er  erkennt  noch  die  Symbolbedeu- 
tung eines  Wappens:  die  Sinnbedeutung  von  Worten  selbst  vermag  er  je- 
doch nicht  mehr  zu  vollziehen^.  Auch  die  Färb  Inhalte  können  in  seltenen 
Fällen  isoliert,  zerstört  oder  vielmehr  von  den  ihnen  erfahrungsgemäß  zu- 
geordneten Vorstellungen  geschieden  sein^. 

Auch  in  der  Körperempfindungssphäre  können  solche  Störungen 
erscheinen.  Die  einzelnen  Berührungs-,  Druck-,  Schmerz-,  Temperatur-, 
Spannungsempfindungen  usw.  sind  peripher  durchaus  vorhanden,  aber  ihre 
zentrale  Zuordnung  bzw.  Bedeutung  ist  gestört^.  Der  Erkrankte  erkennt 
nicht  mehr,  was  ich  ihm,  dessen  Augen  verbunden  sind,  für  einen  Gegen- 
stand in  die  Hand  gedrückt  habe  (Stereoagnosie).  Für  Geruch  und  Ge- 
schmack gilt  Ähnliches. 

In  anderen  Fällen  haben  die  Bewegungsvorstellungen  Not  gelitten^: 
der  Kranke  vermag  vielleicht  vorgesprochene  Worte  richtig  zu  wiederholen, 
aber  er  ist  außerstande,  selbsttätig  die  Worte  für  vorgezeigte  Gegenstände 
zu  finden,  obwohl  er  sehr  wohl  weiß,  was  es  für  Gegenstände  sind.  Ein 
anderer   ist   nicht  mehr  fähig,  aus  eigner  Initiative  zu  sprechen ;  er  vermag 


1    Lenz  (175)  und  Mann  (igS). 

~  Vgl.  Balint  (6).  Freilich  gehört  diese  Störung  eigentlich  nicht  in  diesen  Zu- 
sammerJiang. 

^    Schröck    (285;    über    angeborene    Wortblindheit.     Heilbronner    (lol). 

*  Eine  Übersicht  über  die  gesamte  neuere  Literatur  dieses  Problems  gibt  Sittig  (296). 
Man  muß  die  Farbamnesie  von  der  Farbennamenamncsie  unterscheiden!  —  Siehe  auch 
G.  E.  Müller   (2i5),   II,  639  ff.,   Adler   (la). 

Lewandowsky  (177)  beschreibt  einen  solchen  Kranlcen,  der  zwar  zu  gezeigten 
Gegenständen  die  Farben  spraclilich  imd  aus  einem  Farbenkasten  auswählend  be- 
zeichnen konnte,  der  aber  »sofort  versagte,  wemi  z.  B.  die  Frage  an  ihn  gestellt 
wurde,  was  eine  (nicht  gezeigte)  Erdbeere  für  eine  Farbe  habe  (nicht  nur  sprachlich). 
\\eder  für  vorgelegte  noch  für  genannte  Farben  vermochte  er  passende  Objekte  zu 
benennen.  Laubblätter  und  Siegellack  schienen  ihm  in  der  Erizinerung  gleichfarbig  zu 
sein,  während  er  sich  des  Helligkeitswertes  von  irgendwelchen  Gegenständen  sehr 
wohl  zu  entsinnen  vermochte.  Das  Wiederkennen  von  Farben  war  erhalten  und  auch 
die  nitclianisch  eingelernten  Versehen  (,,b]au  blüht  ein  Blümelein")  waren  in  der 
Erinnerung    geblieben. 

5    S.     Frank     (7^),     Bing    und     Schwartz     (26). 

ö    i;ber    das     Problem     der     Bewegungsvorstellungen     vgl.     Fuchs     (83a). 


AGNOSIEN.    APIIASIEN.    APRAXIEN 


19 


/.  B.  dem  Fragenden  nicht  zu  antworten,  wie  man  das  Tier  nenne,  welches 
belle  und  nachts  das  Haus  bewache.  Aber  in  dem  Augenblick,  in  dem  ich 
ihm  das  Abbild  eines  Hundes  vorweise,  findet  er  richtig  den  Namen  „lliuid". 
Kin  besonders  schwer  I->kraiikter  endlich  ist  auch  dieses  HiHsiiiiltcls  be- 
raubt, er  kann  weder  sprechen  noch  nachs[)rechen  und  bringt  viclioicht  nur 
noch  einzelne  Laute  als  einzige  S[)rachreste  henor  (motorische  Aphasie).  Man 
verwechsle  diese  Störungen  nicht  mit  jenen  des  \  ergessens,  bei  denen  ingröljercm 
Umfange  das  gleiche  geschehen  ist,  was  uns  oft  einmal  passiert,  wenn  uns 
ein  Name  (vielleicht  für  ein  Tiroler  Dorf,  das  wir  früher  oft  besuchton) 
entfallen  ist  (amnestische  Aphasie).  Hier  in  den  eben  geschilderten  Fällen 
handelt  es  sich  nicht  um  ein  solches  Vergessen,  handelt  es  sich  also  auch 
nicht  um  das  „Sich-nicht-besinnen-Können"  (darüber  später),  sondern  hier 
ist  der  Bewegungsentwurf,  der  Sprachentwurf  gestört.  Die  betreffenden 
Bewegungsvorstellungen  sind  dem  erweckenden  Akt  nicht  verfügbar.  Wenn 
man  bedenkt,  dafj  folgende  Hauptformen  möglich  sind,  daß  sich  diese  aber 
auch  noch  mannigfach  kombinieren  können,  wird  man  ermessen,  wie  viel- 
gestaltig die  Störungen  sind. 

Tabelle  I.    Schema  der  Sprachstörungen: 


Psachspreclien 

Spontansprechen 

Sprachverständnis 

+ 

4- 



+ 

+ 

+ 

nur  wenn  zugleich  gelesen 
wird 

-f 

+ 

+ 

nur  wenn  selbst  geschrie- 
ben wird 

+ 

4- 

+ 

nur  wenn  zugleich  mit 
gesprochen  wird 

+ 

— 

+ 

i- 

+ 

nur  wenn  Gewohntes  re- 

+ 

-j-  nur  von  Gewohntem 

produziert  wird  (Reilien) 

(Reihen) 

— 

+ 

-|-  nur  von  Gelesenem 

— 

+ 

— 

— 

+ 

+ 

+ 

doch  Wortfindung;  f.  Ge- 
genstände nur  bei  Ab- 
tastung 

+ 

usw. 

Die  Schädigung  der  Bewegungskoordinationen  vernichtet  in  vielen  Fällen 
die  betreffende  Kategorie  nicht  vollkommen,  sondern  verwirrt  sie  nur,  so 
daß  dann  (besonders  bei  mangelhafter  Kontrolle  durch  den  Geschädigten 
selbst)  Fehlleistungen  entstehen,  Verschmelzungen  verschiedener  Bewegungs- 
entwürfe (Paraphasien).  In  ganz  ähnlicher  Weise,  wie  es  soeben  für  den 
Sprachmechanismus  kurz  dargestellt  wurde,  kann  sich  die  Störung  auch 
auf  andere  Körperbewegungen  erstrecken.  Es  entstehen  dann  Fehlhandlungen 
(Apraxien),  die  es  dem  Betroffenen  z.  B.  unmöglich  machen,  einen  Brief 
zu   kuvertieren,    die   Zahnbürste   richtig   zu   gebrauchen  usw.   Auch   leichte 


20         GRUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Verkehrtheiten,    Unordnungen   bei    der   Ausführung   kommen    vor   (Para- 
praxien)^. 

Man  darf  mit  diesen  Störungen  des  Bewegungsentwurfes  nicht  jene  Altera- 
tionen der  Bewegungsausführung  verwechseln,  bei  denen  die  Ursache  in 
einer  Schädigung  der  peripheren  Apparate  gegeben  ist,  mögen  diese  Apparate 
selbst  (Muskeln,  periphere  Nerven)  oder  ihre  Ernährungs-  und  Führungs- 
zentralen (Kerne)  betroffen  sein.  Beim  Sprachmechanismus  würde  man  hier 
von  einer  artikulatorischen  Sprachstörung  (im  Gegensatz  zur  Aphasie),  also 
von  einer  Aussprachstörung,  reden.  Doch  hat  dieses  pathologische  Symptom 
mit  Psychologie  wenig  zu  tun  2. 

B.  AUF  DER  ICHSEITE 

Die  Bewegungen  des  Körpers  sind  ein  Hauptkennzeichen  für  die  grade 
vorhandene  Lebendigkeit  (Regsamkeit)  des  seelischen  Gesamtgeschehens,  sei 
es,  daß  sie  als  Mit-  oder  Ausdrucksbewegungen  irgendwelche  Regungen 
begleiten,  sei  es,  daß  sie  als  bewußte  Willenshandlungen  intendiert  werden. 
Und  diese  Willensregungen  können  nun  an  Intensität  und  Quantität  abnorm 
sein.  Der  Gesunde  erlebt  alltäglich  eine  Abnahme  der  Zahl  und  Kraft  seiner 
Impulse  in  der  Müdigkeit,  der  Gesunde  weiß  auch  aus  eigener  Erfahrung 
sehr  wohl,  daß  traurige  Verstimmungen  mannigfachster  Art  die  Initiative 
lähmen.  Im  Seelenleben  des  Abnormen  unterscheidet  man  zweierlei.  Manche 
Persönlichkeiten  haben  von  Geburt  an  eine  spärliche  und  verlangsamte  Willens- 
umsetzung, gleichsam  ein  kleines  Willensreservoir.  Sie  entbehren  nicht  nur 
der  Ausdrucksbewegungen  in  hohem  Grade  (einförmiger  Gesichtsausdruck, 
mangelnde  Gesten),  sondern  sie  entbehren  überhaupt  der  ins  Motorische 
und  Gedankliche  gewendeten  Willensimpulse.  Sie  sind  in  der  Tat  rein 
zahlenmäßig  ärmer  an  Bewegungen  und  Regungen.  Man  bezeichnet  solche 
Persönlichkeiten  in  der  pädagogischen  Praxis  oft  als  träge  (Birnbaum  26  c). 
Aber  man  trifft  damit,  wenn  man  in  dieses  Beiwort  Unlust  und  Übelwollen 
hineinlegt,  nur  einen  Teil  der  Impulsarmen,  der  Torpiden.  Ein  anderer 
Teil  gehört  zu  dem  alten  Temperamentsbegriffe  des  Phlegmatikers.  Man 
pflegt  ja,  abgesehen  von  der  hier  nicht  zu  betrachtenden  Grundstimmung, 
den  Phlegmatiker  vom  Melancholischen  dadurch  zu  unterscheiden,  daß 
beide  nur  eine  geringe  Zahl  der  Impulse  besäßen  3;  der  erstere  führe  aber 
die  Bewegung,  zu  der  er  sich  endlich  aufraffe,  matt  und  energielos  durch, 


^  Eine  genauere  Darstellung  dieses  ganzen  ungemein  interessanten  Gebietes  ist  nur 
hiöglich,  wenn  man  gleichzeitig  die  Anatomie  und  Physiologie  des  Zentralnerven- 
systems herbeizieht.  Dies  ist  im  Rahmen  dieses  Abschnittes  des  Handbuches  ausgeschlossen. 
Ich  verweise  auf  die  neuere  Literatur:  Besonders  die  Hirnschüsse  haben  zugleich  mit 
der  sehr  verbesserten  Methodik  reiche  Erkenntnisse  gebracht.  In  erster  Linie  stehen 
die  Forschungen  Goldsteins  und  Gelbs  (87,  88),  dann  jene  Poppelreuthers  (a/jS). 
Von  einzelnen  Studien  seien  hier  als  zweckdienlich  erwähnt:  Heilbronner  (io3), 
Adler  (la)  und  die  vortreffliche,  auch  die  Literatur  bis  in  die  jüngste  Zeit  be- 
rücksichtigende Studie  Lotmars  (189),  ferner  Dejerine  (^2,  S.  68 — 144).  l'ick  (^Jii), 
Na%dlle  (228).  Von  älteren  Arbeiten  wird  man  besonders  Liepmann  nicht  entbehren 
können    (181 — 182^). 

2  Vom    Stottern    wird    später    noch    die    Rede    sein. 

3  Hierbei    ist    Spontaneität    und    Reagibilität    meist    zusammengefaßt. 


WILLENSSTÖRUNG  21 


während  der  Mol;uuholikcr  die  wonigcMi  Impulse  machtvoll  und  ziolhewulit 
aktiviere.  Die  Krlahrung  erp^ibt,  dali  höhere  Grade  von  Inaktiviläl  oit  mit 
geringen  Geistesanlagen  gepaart  sind.  Der  llilfsschullehrer  weiß  diese 
torpid«in  Imbezillen  bald  von  den  übri-^'en  Soh\vachsinnig<>n  zu  sondern,  und 
in  der  Iihotenanslalt  verraten  die  hierher^M-luirigen  Tyix'ii  ihn;  Passivität  schon 
dadurch,  dali  sie  sich  die  Fliegen  in  Auge  und  Nase  herumkriechen  und 
Kot  und  Lrin  unter  sich  gehen  lassen.  Im  (iegensatz  dazu  steht  der  Ere- 
thiker,  der  immer  lebendige,  unruhige,  impulsreiche  Typus ^  Er  ist  die 
Steigerung  des  sanguinischen  Temperaments  ins  .Vbnorme. 

Wenngleich  man  im  Symptomenreichtum  des  eigentlich  Geisteskranken 
auch  Fälle  kennt,  in  denen  sich  eine  motorische  Überbereitschaft  mit  einer 
gedanklichen  Hemmung  vereint ^  so  ist  es  in  der  angeborenen  Anlage 
meist  anders:  da  ist  der  motorischen  Schwerfälligkeit  und  Armut  meist  eine 
geistige  Langsamkeit^,  der  äußeren  Lebendigkeit  meist  eine  innere  Unruhe, 
Unstetheit,  Sprunghaftigkeit  gepaart.  Der  angehende  Lehrer  muß  freilich 
davor  gewarnt  werden,  den  Intellekt  der  stillen,  langsamen  Kinder  zu  unter- 
schätzen, den  der  lebendig  regsamen  zu  hoch  zu  werten.  Geringe  Impuls- 
zahl  trifft  mit  geistiger  Schwerfälligkeit  besonders  bei  jener  nicht  mit  der 
Anlage  verknüpften,  sondern  erworbenen  Willenstörung  zusammen :  bei 
der  Hemmung  und  Sperrung.  Da  läßt  zugleich  mit  der  fortschreiten- 
den Störung  die  Zahl  der  Impulse  nach:  der  Kranke  regt  sich 
immer  seltener,  jede  Bewegung  wird  langsamer,  jeder  Entschluß  erlischt 
kurz  nach  der  beginnenden  Ausführung.  Schlaff,  versunken  sitzt  der  Kranke 
am  Tisch,  er  blickt  ausdruckserstarrt  oder  trübselig  auf  den  angefangenen 
Brief.  Vier  Worte  von  der  ersten  Zeile  sind  geschrieben;  nun  sitzt  der 
Schwermütige  schon  seit  zwanzig  Minuten  regungslos:  er  weiß  weder  weiter 
zu  schreiben,  noch  findet  er  die  Kraft  abzubrechen.  Steigert  sich  diese 
Hemmung  bis  aufs  äußerste,  so  spricht  man  von  einer  völligen  Impuls- 
und  Reaktionslosigkeit:  einem  Stupor^.  Oft  sind  die  Handlungen  bei  der 
Nahrungsaufnahme    der  einzig   verbliebene  Rest   der  Aktivität.   Auch    diese 


1  In  höheren  Graden  dieser  Anlage  auch  als  konstitutionelle  Erregung  otler  schließlich 
als   chronische    Manie   zu  bezeichnen. 

2  Sogenannte  agitierte  Melancholie  mit  innerer  Hemmung  (Depression  avec 
agitation).  Und  ebenso  umgekehrt  eine  motorische  Ilemmimg  bei  seelischer  Erregung 
(im    manischen    Stupor   mit    Ideenflucht,   Manie   akinetiqiie). 

^  Ihr  braucht  keineswegs  Oberflächlichkeit,  mangelnde  Aufwühlbarkeit  des  Ge- 
mütsgrundes    (Kerschensteiner)    gesellt    zu    sein. 

*  Man  unterscheidet  zwei  Formen,  deren  verschiedene  Genese  sich  aui  zwei,  zwar  sehr 
abgebrauchten,  aber  unentbehrlichen  Bildern  folgendermaßen  klarmachen  läßt:  beim 
gehemmten  (depressiven)  Stupor  sind  alle  Regungen  seelischer  und  motorischer  Art 
langsam,  aber  fortschreitend  so  abgebremst  worden,  daß  der  Mechanismus  ^^^^in^  die 
Widerslände  nicht  mehr  ankann,  sondern  schließlich  stillsteht  (Abiilie).  Beim  ge- 
sperrten (katalonischenj  Stupor  ist  ein  Riegel  in  den  Mechanismus  geschoben  worden, 
so  daß  er  für  den  Augenblick  eben  gesperrt  ist:  aber  in  jedem  Augenblick  kann  dieser 
Riegel  beseitigt,  die  alte  Beweglichkeit  wieder  lebendig  werden.  Preilich  dauern  auch 
diese  Stuporformen  zuweilen  monatelang.  —  I>ie  zweite  Form  ist  mehr  jener  plötzlichen 
Still-Legung  zu  vergleichen,  die  man  beim  Schrecken  kennt  (Emotionstupor).  Nichts 
geht  im  Augenblick  im  Erschrockenen  vor:  er  ist  wie  vom  Dormer  gerührt  (attonitus). — 
Einen  interessanten,  aber  recht  e.x\^en  Versuch,  den  schizophrenen  Mechanismus  auf  die 
Störung    der    psychischen    Aktivität    zurückzuführen,    macht    Berze    (22a). 


22 GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

können  noch  fehlen,  so  daß  der  Stuporöse  künsüich  ernährt  werden  muf5. 
Die  Auffassung  des  Laien  deutet  solche  Zustände  gelegentlich  als  Schlaf, 
obwohl  sie  mit  diesem  gar  nichts  gemein  haben.  In  den  Tageszeitungen 
kehren  in  regelmäßigen  Zwischenräumen  Geschichten  vom  schlafenden  Berg- 
mann oder  der  schlafenden  Jungfrau  wieder,  die  angeblich  schon  seit  Wochen 
tief  schlafen.  Dabei  handelt  es  sich  meist  nicht  um  Somnambulismus  oder 
dergleichen,  sondern  um  katatonische  Stuporen.  Auch  manche  Jahimarkts- 
und  Panoptikumswunder  gehören  wohl  in  diesen  Zusammenhang:  auch  auf 
suggestivem  Wege  (Hypnose)  lassen  sich  solche  (dann  psychogene  oder 
hysterische)  Stuporzustände  erzeugen.  Schließlich  wird  auch  manche  selt- 
same Erzählung  von  Wundern  aus  der  Heiligen-  und  überhaupt  der  Religions- 
geschichte auf  der  Beobachtung  von  Stuporen  und  ihrem  gelegentlich  ganz 
plötzhchen  Beginn  und  Ende  beruhen.  Freilich  werden  jene  Erzählungen 
dadurch  an  sich  nicht  weniger  seltsam,  denn  das  Phänomen  des  Stupors 
selbst  und  seiner  plötzlichen  Lösung  ist  vorläufig  jeder  Theorie  unzugänglich ^ 

Über  die  subjektive  Seite  der  Sperrung,  des  katatonischen  Stupors,  vermag 
man  von  den  Kranken  selbst  meist  keine  gute  Auskunft  zu  erhalten.  Dagegen 
klagen  die  depressiv  gehemmten  Kranken  oft  in  eindrucksvoller  Weise  von 
ihrer  Abuhe: 

„Sie  habe  überhaupt  nichts  mehr  tun  können,  habe  sich  schon  morgens  kaum  zum 
Aufslehen  entschheßen  können;  gekocht  habe  sie  den  ganzen  Winter  nicht,  hätte  den 
ganzen  Tag  simuheren  können,  sei  ganz  schlappig  geworden."  (Psych.  Klinik,  Heidel- 
berg,   Genoveva    Bäumler,    5.    Mai    1909.) 

Das  Gegenstück  ist  die  Tobsucht.  Dies  ist  freilich  mehr  eine  Bezeich- 
nung des  Laien ;  der  Fachmann  gebraucht  Heber  den  Ausdruck  „Erregungs- 
zustand" in  der  Erkenntnis,  daß  es  alle  Grade  eines  solchen  Bewegungs- 
überschusses gibt.  Die  Zahl  und  die  Energie  der  Bewegungen  und  ebenso 
der  rein  seehschen  Regungen  ist  oft  gleichermaßen  vermehrt;  nur  selten 
betrifft  die  Hyperfunktion  entweder  die  motorische  oder  die  geistige  Seite. 
Der  normale  Mensch  kennt  die  subjektive  Seite  des  leichtesten  Erregungs- 
zustandes vom  Gefühl  des  Angeregtseins  her:  nach  einer  fesselnden,  erlebnis- 
reichen Abenddiskussion  hat  man  nicht  das  Bedürfnis,  schon  nach  Hause 
zu  gehen;  nach  Schluß  eines  lebhaften  Vortrages  redet  der  Redner  auch 
im  kleinen  Kreise  laut  und  aufgeregt  weiter,  oder  er  läuft  mit  großen 
Schritten  umher.  Jeder,  der  einen  leichten  Rausch  kennt,  kennt  dabei  auch 
die  besondere  Willenslage  übermäßiger  motorischer  und  vorstellungsmäßiger 
Bereitschaft.  Schwerere  Erregungszustände  kommen  bei  allen  möglichen  see- 
lischen Ausnahmezuständen  und  Erkrankungen  vor. 

Hier  ist  nicht  der  Ort,  auf  die  allgemeinen  Beziehungen  der  Willenssphäre 
zur  Gefühlssphäre  einzugehen.  Hier  ist  daher  auch  nicht  zu  erörtern,  wie 
es  wohl  erkläi't  werden  möge,   daß  in  der  großen  Mehrzahl  der  Fälle  mit 

*  Neben  dem  katatonischen,  melancholischen  und  hysterischen  Stupor  kommen  auch 
bei  organischen  Himerkrankungen  Willenstörungen  vor,  bei  denen  vor  allem  die 
Initiative  schwer  beeinträchtigt  ist.  Auf  Geheiß  führen  diese  Kranken  alles  aus,  von 
selbst  fast  nichts.  (Bei  der  Grippe-Enzephalitis,  nach  Hirnschüssen  oder  bei  sonstigen 
Hirnherderkrankungen,  siehe  z.  B.  Balint  [6]).  Auch  die  Langsamkeit  der  Ausführung 
ist   bei    diesen    Kranken    oft    bemerkenswert.     Vgl.    Erich    Stern    (3o5b) 


WILLENS-    UND    GEFOHLSSTORUNG ^23 

einer  Heininunfj  gerade  eine  Scliworniut  vorknüpft  ist^  Gegenüber  dem 
ilepressiven  Stupor  ist  die  Zahl  der  manischen  Stuporzuständo  verschwin- 
dend gering.  Aber  an  sich  sind  diese  l)e|)ressionen  natürhch  auch  schon 
abnorm  tUirch  den  Grad  ihrer  eigenen  Intensität.  Alle  Gemütszuslände 
können  dem  Grad  nach  abnorm  werden.  Ks  erübrigt  sich  wohl  ihre  Auf- 
zählung. Deskriptiv  ergeben  sie  keine  besonderen  Schwierigkeiten.  Da  man 
die  Affekte  selbst  aus  eigenem  Erlebnis  kennt,  so  vermag  man  sich  auch 
in  ihre  gesteigerten  Grade  leicht  hineinzuversetzen.  Immerhin  bereichert 
auch  hier  die  Erfahrung  des  Abnormen  den  Forscher.  Oft  wird  ein  Moment 
erst  in  seiner  Übertreibung  recht  klar,  l  nd  die  Psychiatrie  liefert  die  Be- 
sclireibung  der  äußersten  Gefühlsstärken. 

Die  Gefühle  —  im  Lippsschen  Sinne  unmittelbar  erlebte  Qualitäten  oder 
Bestimmtheiten  des  Ich;  etwas  das  ich  bin,  nicht  das  ich  habe-  —  sollen 
an  dieser  Stelle  nicht  daraufhin  betrachtet  werden,  ob  ihre  Intensität  dem 
Anlaß  (Motiv)  ents[)richt;  hiervon  ist  später  die  Rede.  Die  Stärke  eines 
wohlbekannten  Gefühls  kann  weit  über  das  durchschnittliche  Maß  hinaus- 
ragen, aber  es  gibt  auch  Persönlichkeiten,  deren  sämtliche  Gefühlsmöglich- 
keiten dauernd  unter  normal  erscheinen  (siehe  unten).  So  sehr  das  Gefühl 
eine  Ichqualität  ist  und  daher  eigentlich  nur  subjektiv  untersucht  werden 
kann,  vermag  man  der  Angabc  der  Aussagenden  selbst  doch  nicht  immer 
zu  trauen.  Es  gibt  nämlich  krankhafte  Zustände,  in  denen  die  Erkrankten 
sich  über  den  Mangel  aller  Gefühle  beklagen  oder  einzelne  Gefühle  zu  ver- 
missen behaupten.  Dabei  ist  es  nicht  so,  daß  sie  nur  nicht  mehr  so  an- 
sprechbar sind  wie  früher,  daß  etwa  dasselbe  Erlebnis  ihnen  nicht  mehr 
den  gleichen  Eindruck  macht  wie  sonst,  sondern  sie  beteuern,  daß  manche 
Gefühle  ihnen  ganz  abhanden  gekommen  seien.  Nicht  nur  die  Fähigkeit 
zur  Freude,  zm-  Lust  jeder  /Vrt  sei  verloren  ^  —  dies  könnte  man  z.  B.  bei 
großer  Traurigkeit  ja  leicht  „verstehen"  — ,  sondern  auch  das  Mitleiden, 
^litgefühl  sei  verschwunden;  jede  Teilnahme,  jede  Erregung  um  eigene  oder 
fremde  Schicksale,  jede  Spannung  auf  den  Ausgang  irgendeines  Geschehens 
sei  unmöglich.  Solche  Kranke  äußern  etwa:  sie  seien  gefühlsleer,  wie  ab- 
gestorben, versteinert  usw. 

—  —  .AVeinen  kann  ich  überhaupt  nicht  mehr,  ich  bin  ganz  starr."  —  —  ,,lcli 
habe  i4  Tage  lang  kein  inneres  Gefühl  gehabt."  —  —  ,Jch  habe  keine  Liebe 
mehr  zu  niemandem."  —  —  ,,Ich  bin  so  unglücklich,  weil  ich  den  Mann  und  di)e 
Kinder  nicht  mehr  gern  haben  kann.  Ich  bin  ganz  tot;  Sie  glauben  nicht,  wie  das 
ist,  wenn  man  seine  Kinder  so  gern  gehabt  hat  und  jetzt,  jetzt  könnt'  ich  sie  grad 
sterben  sehen,  und  früher  hab'  ich  Todesangst  gehabt,  wenn  nur  eines  gefallen  ist.  — 
Wenn  mein  Mann  und  meine  Kinder  zu  mir  kommen,  dann  ist's  gerade,  wie 
wenn  ich  eine  Suppe  ohne  Salz  esse."  (Psych.  Klinik  Fleidelberg,  Afra  Meyer, 
29.  Dezember  191 1.) 


1  Bei  den  gewöhnlichen  Formen  der  Schwermutsanfälle  des  manisch-depressiven 
Irreseins. 

'   Mit    Ausschluß    der    Stumpfschen    Gefühlsempfindungen. 

3  Eine  Kranke  Foreis  (70a,  S.  20):  „Ich  mußte  mir  auch  eigentlich  Mühe  geben. 
Freude  zu  haben  an  dem,  was  zu  meiner  Ermunterung  getan  wurde.  Die  Fähigkeit, 
mich  zu  freuen,  war  sozusagen  erlahmt,  und  nur  langsam  erlernte  ich  es  >vieder." 
—   Weitere  gute   Beispiele  bei   Schneider   (282a). 


24  GRUIILE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Trotz  dieser  „Gefühlsleere"  machen  solche  Kranke  durch  Äußerungen 
und  Benehmen  meist  den  Eindruck  einer  tiefen  Schwermut.  Man  hat  ver- 
mutet, daß  dieser  enorm  starke  Affekt  der  Trauer  die  seelische  Energie  so 
stark  an  sich  reiße,  daß  für  andere  Gemütsregungen  daneben  gleichsam 
nichts  übrig  sei.  Aber  man  kennt  andere  anscheinend  genau  so  tief  depri- 
mierte Kranke,  bei  denen  das  Erlebnis  der  Gefühlsleere  ganz  fehlt,  und 
die  nur  von  hoffnungsloser  Trauer  zu  erzählen  wissen.  Selbst  bei  denselben 
Kranken  kann  man  bei  sonst  anscheinend  gleichbleibender  Gemütslage  die  Ge- 
fühlsleere kommen  und  verschwinden  sehen.  Sie  ist  also  sicher  nicht  an  die 
Schwermut  untrennbar  gebunden.  Deshalb  hat  man  eine  zweite  Theorie  auf- 
gestellt: die  Gefühlsleere  bestünde  eigentlich  gar  nicht,  sie  sei  eine  Selbst- 
täuschung oder  eine  depressive  Wahnidee,  der  Kleinheitsidee  oder  dem  Nichtig- 
keitswahn nahestehend.  Ebenso  wie  der  Kranke  meine,  er  sei  nichts  wert, 
sei  verblödet  usw.  und  andererseits,  er  sei  innen  hohl  oder  halb  verfault, 
oder  habe  keine  Speiseröhre  oder  keinen  After  mehr,  genau  so  behaupte 
er  auch,  er  habe  kein  „Gefühl"  mehr  für  seine  Kinder  usw.  Hat  diese 
Meinung  recht,  so  dürfte  man  also  eigentlich  von  Gefühlsleere  im  stren- 
geren Sinne  nicht  sprechen.  Endlich  hat  man  analog  der  Hemmung,  die 
die  Willensregungen  und  Denkvorgänge  bei  der  Schwermut  oft  erschwert, 
auch  an  eine  Hemmung  der  Gefühle  geglaubt  und  die  geschilderte  Gefühls- 
leere als  deren  Ausdruck  betrachtet.  .Aber  diese  dritte  Theorie  verwickelt 
die  Sachlage  eher,  als  daß  sie  sie  klärt.  Denn  me  soll  man  sich  eine 
Hemmung  der  Gefühle  vorstellen,  da  doch  das  eine  Gefühl,  die  schwere 
Traurigkeit,  nicht  gehemmt,  sondern  im  Gegenteil  höchst  lebendig  ist?  Man 
müßte  geradezu  nur  an  eine  Hemmung  eines  Teiles  der  Gefühle  glauben  ^. 

In  diesem  Sinne  ließen  sich  Beobachtungen  deuten,  die  besonders  an 
den  erschöpften  Teilnehmern  des  großen  Krieges  draußen  an  der  Front 
gemacht  werden  konnten.  Da  klagten  viele  darüber,  daß  keine  Nachricht 
aus  der  Heimat  sie  mehr  bewege,  keine  Todeskunde  eines  noch  so  ver- 
trauten Freundes  ihnen  ans  Herz  greife.  Sie  seien  kalt  und  stumpfsinnig 
geworden.  Hier  schienen  manche  Gefühle  wirklich  nicht  mehr  zu  leben, 
aber  andere  waren  gleichzeitig  äußerst  lebendig:  die  gleichen  Menschen 
konnten  durch  die  geringsten  Anlässe  (einen  unverdienten  Tadel  u.  dgl.) 
in  heftigsten  Zorn  geraten.  In  gewissem  Sinne  gehört  ja  auch  jenes  so 
gern  benutzte  Motiv  einer  Novelle  hierher,  daß  ein  Mensch  durch  ein  ge- 
waltig in  sein  Leben  eingreifendes  Ereignis  „versteinert"  wird,  daß  ihn  nichts 
mehr  rührt,  daß  von  diesem  Augenblick  ab  seine  Ansprechbarkeit  er- 
loschen ist,  seine  .\ffekte  verschwinden.  Er  vegetiert  „gefühllos"  bis  zum 
Tode. 

Solche  Gefühlslähmungen  finden  sich  auch  als  schnell  vorübergehende 
Phänomene.  Ein  schreckliches  Ereignis  ruft  dann  nicht  eben  den  Affekt 
der  Furcht,  des  Entsetzens  hervor,  sondern  der  Betreffende  ist  plötzlich 
aller  Gefühle  bar,  während   sein  Denken,  seine  Vorstellungen  dabei  nicht 


1  Theorien  über  den  Ursprung  solcher  Gefühlsstörungen  gehören  nicht  hierher.  Auch 
sei  nur  nebenbei  erwähnt,  daß  die  geschilderten  .\nomalien  hauptsächlich  bei  Schwermuts- 
anfällen  des  manisch-depressiven  Irreseins  und  bei  psvchopathischen  Ausnahmezuständen 
vorkommen.  In  den  Verläufen  schizophrener  Verblödung  erscheinen  sie  nur  selten 
und  meist  nur  angedeutet  im  Beginn  des  Leidens. 


GEKCIILSARMIT  25 


nur  woitor  K>1)imi,  sondern  sogar  l)oson(I(Ts  lohliall  iitul  scharf  rrsclKMiien. 
Baolz  (S")  l)fsi-hrolbl  oinon  solchon  Zustaml  beiin  uncrwarli'lon  lünlrill  oinos 
großen   Knlbebens. 

In  ganz,  anderem  Sinne  kann  man  Non  einem  Fehlen  der  (lefidde  in 
jenen  Fällen  sprechen,  ilie  der  ..nionil  instinilv",  dem  geborenen  Ver- 
brechertum angehören.  Fs  sind  dies  Menschen  mit  angeborenen  Mängeln 
der  (.iemülss[)häre.  Die  besonders  in  der  volkstümlichen  Literatur  oft  ge- 
brauchten Auisdrücke  —  Schwäche  des  moralischen  Fmpfindens,  sittliche 
Defekte  usw.  —  leiten  irre.  Solche  Persönlichkeilen  haben  keine  angebo- 
renen Ausfälle  moralischer  „Vorstellungen".  (  berhaupt  braucht  ihr  \  or- 
stellungsleben  keineswegs  arm  zu  sein.  Was  ihnen  fehlt,  ist  die  Mctglich- 
keit  mannigfacher  (i  ef  ü  hlsregungen  ;  ihr  Ge  m  ül  ist  arm.  Ihre  Ans[)rech- 
barkeit  ist  so  gering,  ihr  (lemüt  so  stumpf,  dabei  ihr  Triebleben  so  roh, 
ihre  Aktivität  so  gewaltsam,  daß  sie  vor  dem  Verbrechen  nicht  bewahrt 
werden  können.  Da  sie  fast  keine  Gemütsretjunirsdispositionen  besitzen,  mit 
denen  bestimmte  gedankliche  Inhalte  \ erknüpft  wertlen  können,  gehören 
sie  auch  zu  ilen  schwer  Frziehbaren,  l  nverbesserlichen '.  Aber  man  ver- 
meide die  Bezeichnung  des  moralischen  Schwachsinns.  Der  Ausdruck 
„Schwachsinn"  sollte  für  die  Defekte  der  formalen  Intelligenz  vorbehalten 
bleiben,  und  um  einen  solchen  handelt  es  sich  oftmals  beim  geborenen 
Verbrecher  nicht. 

Das  tberwiegen  einer  bestimmten  Gefühlslage  im  abnormen  Grad  kann 
angeboren  sein.  Fs  £ribt  Persönlichkeiten,  denen  das  ijanze  Leben  dauernd 
in  Trübsinn  getaucht  ist-.  Die  alte  Temperamentslehre  hat  sie  als  Melan- 
choliker bezeichnet.  Der  Sprachgebrauch  neuerer  Zeit  bewahrt  diesen  Aus- 
druck dem  eigentlich  kranken,  dem  an  einer  Melancholie  leidenden,  vor. 
Es  gibt  ein  Gemütsleiden',  bei  dem  ohne  jeden  seelischen  Anlaß  sich  das 
Gemüt  verdüstert;  alle  fröhlichen  Regungen  fallen  aus:  nichts  macht  melir 
Freude;  kein  Ziel  \ erlockt.  Das  Leben  erscheint  nicht  mehr  lebonswert, 
jede  Tätigkeit  dünkt  dem  Schwermütigen  sinnlos.  Kommt  noch  (wie  so 
häufig)  die  oben  beschriebene  Hemmung  hinzu,  so  verharrt  der  Kranke  in 
hoffnungsloser  Resignation. 

In  anderen  Fällen  gesellt  sich  dem  Trübsinn  die  Angst*.  Gräßliche 
Befürchtungen  steigen  auf: 

Draußen  wird  ein  Grab  poschaufolt,  um  die  Kranke  lebendig  zu  begraben  —  nebenan 
werden  die  Kinder  gemetzelt ,  gleich  kommt  auch  sie  daran  — -.  eine  Kiste  wird  ge- 
zimmert imd  innen  mit  iNägeln  ausgesciilagen,  damit  der  Kranke  darin  eingv^perrt 
und  stundenlang  gewälzt  werde.  Die  ,\ngst  treibt  ilin  dann  mchl  selten  zum  Selbstmord, 
um  ienen  grauenvollen  Schicksalen  zu  entgehen.  Oft  stürzt  ihn  aber  auch  die  Ver- 
zweiflung in  seltsam  sinnlose  Handlungen:  er  zündet  seine  Werkstjtte  an,  er  springt 
kopfülicr  in  ein  ganz  flaches  Wasser  und  bleibt  darin  sitzen,  er  klettert  in  der  Todesangst 
auf   einen    ganz    hohen    Baum    (Raptus    melancholicus).    —   Ich    lernte   im   großen   Kriege 


1  Vgl.    hierzu    meine    Ausführungen    in    Grüble    (98),    S.  397  ff.    und    die    dortselbst 
angeführte    Literatur. 

^  Konstitutionell    deprlnuerle.     Vgl.    Reiß    (261 V 

*  Manisch-depressives    Irresein. 

*  Über    Angst    bei    Kindern    s.    Hall    (loa).     Angst    im    Traum   siehe   dortselbst. 


26 GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

einen  Infanteristen  kennen,  der  sich  aus  maßloser  Angst  vor  den  Schrecken  der  Schlacht 
aus  der  Deckung  des  Schützengrabens  hinaus  auf  einen  exponierten  Geländepunkt- 
schlich   und    sich    dort    mit    dem    Revolver    eine    Kugel    in    die    Brust    schoß. 

Man  hat  früher  geglaubt,  daß  in  solchen  und  ähnlichen  Fällen  schreck- 
liche Vorstellungen  die  maßlose  Angst  erzeugen.  Man  ist  heute  eher 
umgekehrt  orientiert:  die  Angst  erzeugt  jene  Vorstellungen,  —  oder  viel- 
leicht besser,  sie  äußert  sich,  offenbart  sich  in  ihnen.  Sie  seien  in  diesem 
Zusammenhang  nur  als  ein  Merkmal  erwähnt  für  den  außerordentlichen 
Grad,  den  solche  depressiven  Affekte  annehmen. 

Gelegentlich  ist  der  Ausdruck  solcher  Gemütsbewegungen  ganz  bizarr:  eine  ältere, 
an  einer  ,.Jammcrmelancholie"  leidende  Frau  läuft  händeringend  von  Krankensaal  zu 
Krankensaal:  ,,Ach,  die  vielen  Frauen  und  die  schrecklich  vielen  Betlslellen  und  so 
viel    Handtücher,    ach    Gott,    ach    Gott,    was    sollen    v,-ir   denn    da    maciien.'" 

Mit  dem  Gefühl  der  Angst  paart  sich  in  manchen  Fällen  ein  peinigender 
Zustand  der  Ratlosigkeit.  Andere  toben  ihre  Dysphorie  in  einer  Art 
seeUscher  Selbstzerfleischung  aus: 

Sie  seien  nicht  lo  mal,  nein  looo  mal,  nein  lo  ooo  mal,  nein  trilliontelmal  verdammt, 
sie  seien  die  schlechtesten  Personen  unter  der  Sonne,  müßten  ewiglich  im  Fegefeuer 
schmoren,  seien  der  ewige  Jude,  würden  nie  sterben,  sondern  müßten  ihr  Leid  in  alle 
Ewigkeit    tragen. 

Endlich  äußern  sich  die  maßlos  gesteigerten  Un Seligkeitsgefühle  noch  in 
Äußerungen  des  „Nihilismus",  Sie  seien  ganz  zusammengeschrumpft, 
seien  winziger  als  das  Tüpfelchen  über  dem  i,  sie  hätten  keinen  Mund 
mehr,  keine  Eingeweide,  seien  innen  ganz  verfault.  —  Wenn  ich  hier  bei 
dem  Kapitel  der  abnormen  Intensität  der  Gefühle  alle  diese  Äußerungen 
anfülire,  so  geschieht  es,  um  die  Stärke  dieser  krankhaften  Gemütszustände 
in  jenen  Aussprüchen  deutlich  und  anschaulich  werden  zu  lassen. 

Jene  Persönlichkeiten,  bei  denen  die  Schwermut  nicht  als  eine  eigentliche 
Erkrankung,  als  ein  Monate  bis  Jahre  dauernder  Ausnahmezustand  er- 
scheint (manisch-depressives  Irresein,  Melancholie),  sondern  bei  denen  ein 
Konstitutionsmoment  die  Grundstimmung  ein  ganzes  Leben  lang  depressiv 
färbt,  nennt  man  heute  konstitutionell  deprimierte  oder  chronisch  depressive 
Psychopathen.  Ihre  dauernde  \  erstimmtheit  macht  sie  auch  oft  zaghaft, 
unschlüssig,  sie  untergräbt  ihr  Selbstvertrauen  und  läßt  sie  verlegen,  un- 
sicher und  ängsthch  werden  (Psychasthenie). 

Zu  jenen  Unlustgefühlen,  die  sich  in  gewissen  abnormen  Zuständen^ 
übermäßig  gesteigert  vorfinden,  gehört  ferner  die  Gereiztheit,  Geladenheit.  Auf 
die  geringfügigsten  Anlässe  reagieren  diese  Kranken  mit  großen  Wutausbrüchen. 

Das  Schreien  eines  kleinen  Kindes  versetzt  den  Yerstinunten  vielleicht  in  eine  solche 
Wut,  daJj  er  seine  Frau  dafür  verantwortlich  macht  und  sich  an  ihr  vergreift.  Er  stürzt 
von  Haus  fort,  vermag  sich  aber  nicht  zur  Arbeit  aufzuraffen,  macht  blau  und  treibt 
sich  in  den  Anlagen  oder  Wirtschaften  der  Stadt  umher.  Beim  Bier  führt  er  wilde 
Redensarten  über  die  Ungerechtigkeit  der  Welt:  überall  gebe  es  nur  Lumpen,  die  den 
kleinen  Mann  drückten  usw.  Leicht  kommt  es  zum  Streit,  zum  Ziehen  des  Messer? 
und    zu    einem   schweren    Affektdelikt. 

Man  kann  sich  bei  diesen  Verstimmungszuständen  nicht  des  Eindrucks 
erwehren,  daß  hier  auch  qualitativ  abnorme  Momente  hineinspielen.    Bei 


1  Bei    der    Epilepsie    und    der    epileptoiden    Psychopathie. 


GEMÜTSVERSTIMMUNGEN.   ABNORME  CHARAKTERE 27 

dem  Problem  des  impulsiven  Fortlaufens  (siehe  Seite  30)  wird  hiervon 
nochmals  die  Kedc  sein.* 

Es  ist  merkwürdig,  dali  in  manchen  dieser  endogenen  Verstimmungen 
auch  die  Sexualsphäre  abnorm  erregt  ist.  Die  dumpie  Geladenheil  sucht 
nach  irgendeinem  gewaltsamen  Ausbruch,  die  gewaltige  S[)annung  will  irgend- 
wie abreagiert  sein.  Hierdurch  kommt  es  gelegentUch  zu  schweren  sexu- 
ellen Gewalttaten:  Notzuchtsversuchen  und  Lustmorden.  Bei  weniger  gewalt- 
tätigen Naturen  führt  die  Verstimmung  mit  Sexualerregung  zuweilen  zu  den 
seltsameren  Befriedigungen  der  Kntblößung:  des  Exhibitionismus. 

Der  Laie  neigt  dazu,  alles  als  abnorm  gelten  zu  lassen,  was  nach  der 
Unlustseite  hin  gesteigert  erscheint.  \\as  jedoch  die  Lust  sehr  vermehrt, 
gilt  ihm  als  besonders  gesund  und  normal.  Und  doch  müssen  ebenso  die 
ungewöhnüchen  Steigerungen  der  Freudigkeit  und  des  Übermuts  als  abnorm 
angesehen  werden.  Mischen  sie  sich  mit  einer  Vermehrung  der  Impulse, 
mit  einer  Erleichterung  der  Bewegungs-  und  Vorstellungsvorgänge,  so  spricht 
man  vom  manischen  Zustandsbild.-  DafS  es  Vergiftungen  (Räusche)  gibt, 
die  besonders  im  Anfang  starke  Steigerungen  der  Euphorie  herbeiführen 
und  depressive  Stimmungen  beseitigen,  ist  allbekannt. ^ 

Bei  den  depressiven  ^  erstimmungen  war  schon  davon  die  Rede,  daß 
manche  Menschen  von  Geburt  an  wehleidig  verstimmt  sind.  Ihr  Gegenstück 
sind  die  konstitutionell  Hypomanischen.  Man  sagt  von  beiden,  daß  sie 
einen  abnormen  Charakter  haben.  .\ber  es  gibt  außerdem  noch  viele  andere 
abnorme  Charaktere  (Psychopathen).  Es  braucht  nicht  gerade  Lust  oder 
Unlust  zu  sein,  die  durch  ihr  übermäßiges  Vorherrschen  den  Typus  kenn- 
zeichnen, sondern  es  können  Eigentümlichkeiten  sehr  differenter  Gefühls- 
oder Willenslagen  sein,  die  dem  Betreffenden  die  psychopathische  Art  auf- 
prägen.^ Könnte  ich  hier  gründlicher  zu  Werke  gehen,  so  würde  ich  erst 
das  (im  Laufe  der  Zeiten  recht  verschiedenartig  formulierte)  Wesen  des 
Charakters  auseinandersetzen  und  dann  erörtern,  inwieweit  dieses  Wesen 
nun  abnorm  sein,  d.  h.  inwieweit  man  überhaupt  von  abnormen  Charakteren 
sprechen  dürfe.  Hier  muß  es  genügen,  darauf  hinzuweisen,  daß  alle  diese 
normalen  Charakterzüge  eben  dem  Grade  nach  aisnorm  werden  können, 
und  daß  natürlich  die  Lebensführung  durch  die  Abnormität  eines  Charakters 
von  Grund  auf  bestimmt  wird.  Man  könnte  etwa  (wie  Schleiermacher, 
Sigwart,  Ribot  usw.)  eine  Tafel  der  Charaktere  entwerfen  und  bei  jedem 
einzelnen  Punkte  hinzufügen,  inwieweit  dieser  Charakter  nun  abnorm  sein 
kann.  Man  kann  aber  auch  für  die  Zwecke  der  Psychopathologie  ein  be- 
sonderes Schema  der  psychopathischen  Persönlichkeiten  entwerfen.  Ich 
teile  hier  ein  solches  mit,  das  sich  beim  Unterricht  in  der  Psychiatrie  in 
Heidelberg  bewährt  hat.  Es  macht  keinen  Anspruch  auf  Originalität  der 
Erfindung  und  mag  im  gleichen  Augenblick  wegfallen,  in  dem  ein  anderes, 

1  Die  Franzosen  bezeichnen  unter  „Blanc"  einen  vorübergehenden  Zustand  von 
Unbesinnlichkeit    und    Gedankenleere.     (Vischer,    3i8.) 

'^  Eine  solche  Manie  kommt  bei  der  Paralyse,  dem  manisch-depressiven  Irresein 
imd  kurz  und  angedeutet  gelegentlich  auch  bei  der  Schizophrenie  vor.  Auch  die 
senile    Rückbildung    ist    zuweilen    von    manischen    Phasen    begleitet. 

^  Der    Wein    als    Sorgenbrecher. 
*   Vgl.   Wilmanns    (326b). 


28        GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

besseres  mitgeteilt  wird.  Es  soll  nichts  geben  als  eine  brauchbare  Übersicht. 
Die  abnormen  Charaktere  sind  praktisch  äußerst  bedeutsam.  Zumal  der 
Kriminalpsychologe,  aber  auch  der  Pädagoge  müssen  sich  mit  den  ver- 
schiedenen Typen  genau  bekannt  machen.  Für  die  theoretische  Psychologie 
des  Abnormen  indessen  ist  ihre  Bedeutung  ziemlich  gering. 

Abnorme  Charaktere: 

1 .  A  k  l  i  ^  i  t  ä  t : 

a)  üboriiormal:     erethischer    Typus, 
L)  untemormal:     torpider  ,, 

2.  Grundstimmung: 

a)  heiter:    konstitutionelle    Manie    (auch    Abenteurer), 

b)  traurig:    konstitutionelle    Depression    (Hypochondrie,    konstitutionelle    Neurasthenie), 

c)  zornmütig:     Schimpfer,    Polterer,    Nörgler, 

d)  ängstlich:     ängstlicher,    schüchterner    Typus. 

3.  Affektansprechbarkeit: 

a)  Roheit.    Härte    (geborener    Verbrecher,    moral    insaility), 

b)  Empfindsamkeit,     Beeinflußbarkeit. 
Ix.  Willenssphäre: 

a)  Energie     (Kraftnaturen,     Rücksichtslose,     Gewaltmenschen), 

]))  Sch\A'äche    (haltloser    Typus,    geborener    Landstreicher,    geborene    Prostituierte). 
5.  Eigenbeziehung: 

a)  stark    (arg\vöhnischer,    leicht    gekränkter,    mißgünstiger,    eifersüchtiger,    paranoider 
Typus:     überwertige    Idee,    psychopathisrhe     Paranoia), 

b)  schwach     (vertrauensseliger,     naiver,     harmloser     Typus). 
G.  U  m  w  e  1  t  V  e  r  a  r  b  e  i  t  u  n  g: 

a)  starli    bejaliend:      Streber,    Hochstapler, 

b)  schwach:     Träumer,     Phantast     (auch     Pseudologia    phantastica), 

c)  stark    verneinend:     weltfremder    Fanatiker     und    Prophet. 
7.  Selbstgefühl: 

a)  stark:      (selbstbe^^TIßt,    sicher,    Herrenmenschen), 

b)  schvvach:     Psychasthenie    (Insuffizienzgefühl,     mangelndes     Selbstvertrauen,    Neigung 
zu    manchen    Zwangssymptomen,    Angstneurose), 

c)  unnatürlich    gesteigert     (unecht):     hysterischer    Charakter    (Verlogenheit,     Suggesti- 
bilität,     Schauspielerei,     Sensationsbedürfnis). 


ABNOR.MITÄT  DER  ART  (QUALITÄT) 

Es  liegt  schon  im  Begrilf  der  Abnonniläl,  so  wie  er  oben  zu  cJeiiniercn 
versucht  worden  ist,  daß  jede  Qualität,  die  dem  Durchschnitt  fremd  ist, 
als  abnorm  bezeichnet  werden  muli.  Diese  (qualitativ  fremdartigen  Inhalte 
uiul  Zustände  sind  gleichsam  interessanter  als  jene  nur  an  Intensität  unter- 
schiedenen. Zu  ihnen  führen  keine  Übergänge:  der  Normale  findet  sie  in 
seiner  Erfahrung  nicht  vor.  Aber  ihre  Beschreibung  bereitet  deshalb  um 
so  größere  Schwierigkeiten.  Häufig  sind  die  Erkrankten,  die  über  solche 
seltsamen  Phänomene  Auskunft  geben  sollen,  in  der  Totalität  ihrer  Seele 
erkrankt:  sie  vermögen  sich  nicht  mehr  auf  die  Aufgabe  einzustellen,  eine 
klare  Schilderung  zu  geben ;  sie  stehen  ihren  Erlebnissen  nicht  mehr  objektiv 
gegenüber.  Oft  muf5  man  Äußerungen  auffangen,  die  etwa  im  Affekt  eines 
halluzinatorischen  Erlebnisses  herausgestoßen  werden,  oder  man  muß  die 
Wahrheit  rückschauend  aus  Niedei Schriften  oder  Verhören  rekonstruieren, 
die  längere  Zeit  nach  dem  Erlöschen  des  krankhaften  Zustandes  aufge- 
nommen worden  sind.  Endlich  wird  die  Treue  der  Aussage  über  ein  ab- 
normes Phänomen  gelegentlich  dadurch  verfälscht,  daß  der  Berichtende  sich 
an  der  Aussage  freut,  in  der  Fabelhaftigkeit  seiner  eigenen  Erlebnisse  schwelgt 
oder  sich  interessant  zu  machen  versucht.  Und  es  wären  aus  der  Literatur 
leicht  Arbeiten  nachzuweisen,  die  auf  den  deutlich  konfabulierten  Aussagen 
abnormer  Persönhchkeiten  aufbauen  und  daher  gänzlich  irrige  Folgerungen 
ableitend 

Bei  den  Empfindungen  vermag  man  ziemlich  selten  abnorme  Quali- 
täten im  Gebiet  des  Geruchs-  oder  Geschmackssinnes  festzustellen. 

,,Er  empfand  im  Beginn  des  Anfalls  einen  sehr  unangenehmen  Geruch,  einen  ,schreck- 
lichen',   wie  er  ihn   nie   gehabt,   der   während   des   Anfalls   anhielt."    (Sander,    278,   S.  235). 

,,Sie  roch  die  verschiedenartigsten  Dinge,  die  sie  nicht  näher  bezeichnen  und  deuten 
konnte  und  wofür  sie  keine  Namen  hatte,  wozu  aber  objektive  Veranlassung  durchaus 
nicht  vorhanden  war.  Der  Geruch  war  gerade  nicht  unangenehm  oder  lästig,  mitunter 
sogar    mit    einem    Gefülil    von    W  ohlbeliagen    verbunden."     (Lockemann,    i85.) 

Auch  der  Gesichts-  und  Gehörsinn,  so  häufig  auch  Sinnestäuschungen 
in  diesen  beiden  Gebieten  lokalisiert  werden,  bringen  qualitativ  kaum  etwas 
Abnormes,  sondern  die  Gemeinempfindungen  des  Körpers  aus  der  Sphäre 
des  Tastens,  der  Temperatur,  des  Druckes,  der  Lage,  des  Schmerzes  liefern 
die  der  .Vrt  nach  abnormen  Eindrücke.  (Hitzig  [123  a]  gebraucht  den  Ausdruck 
„Selbstempfindungen".)    Vor  allem  Empfindungen,  die  im  Leib  und  im  Kopf 


1  Der  Erfahrene  ist  immer  wieder  von  neuem  erschreckt,  hei  der  Lektüre  der  Werke 
theoretischer  Psychologen  zu  sehen,  was  sich  jene  wirklichkeitsfremden  Autoren  alles 
weismachen    lassen.     Auch    Österreicli    gehört    leider    hierzu. 


30  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

lokalisiert  werden  (Organempfindungen)  \  werden  von  den  Betroffenen  in 
recht  seltsamer  Weise  beschrieben.  Der  Unerfahrene  darf  freilich  nicht 
übersehen,  daß  gelegentlich  ein  Wahnkranker  höchst  merkwürdige  Schilde- 
rungen von  Sensationen  liefert,  die  doch  nur  dem  Grade  nach  von  der  ge- 
wöhnlichen Erfalirung  verschieden  sind.  Er  schildert  dann  nur  aus  seinen 
Wahngedanken  heraus;  diese  sind  das  .\bnorme.  Auch  macht  sich  gelegent- 
lich ein  Rentenquerulant  dadurch  wichtig,  daß  er  die  unglaublichsten  Aus- 
drücke z.  B.  für  irgend  ein  gewöhnliches  Erlebnis  des  Kribbeins  wählt. 
Aber  es  gibt  andererseits  zweifellos  Empfindungen,  z.  B.  im  Kopf,  bei  denen 
die  Erkrankten  von  selbst  betonen,  daß  diese  Qualen  mit  gewöhnlichen 
Kopfschmerzen  gar  nicht  zu  vergleichen  seien.  „Kopfweh",  —  das  sei  ihnen 
von  früher  her  wohlbekannt,  aber  dies  sei  etwas  Neues,  nie  Dagewesenes. 
Meist  hat  die  Sprache  keine  Bezeichnungen  zur  Verfügung,  die  diesen 
Kranken  charakteristisch  genug  erscheinen.  ^  Deshalb  greifen  sie  zu  dem 
Mittel  der  Umschreibung,  des  Bildest 

„Es  war  mir,  als  ob  der  Kopf  hinten  einen  Buckel  bekäme,  ich  fühlte  ihn 
ganz  deutlich  wachsen,  und  doch  überzeugie  ich  mich  durch  Abtasten  mit  der  Hemd 
und  im  Spiegel,  daß  nichts  von  einem  Buckel  zu  sehen  war  (Zwangsempfindungen).  — 
Ich  merkte  (ohne  Spiegel),  daß  sich  meine  Gesichtszüge  veränderten,  sie  nahmen  einen 
tückischen,  boshaften  Ausdruck  an.  —  Ein  eisernes  Band  scheint  den  Kopf  zu 
umscUießen  und  ihn  immer  enger  und  enger  zusammenzupressen.  —  Einzelne  Sclinurr- 
barthaaro    werden    herausgewaindert."     (Schreber,    284,    S.   1/I9.) 

„Sie  habo  immer  das  Gefühl  gehabt,  das  Gehirn  schwebe  zwischen  Himmel  und  Erde, 
wie  wenn  es  mit  Wasser  mid  Blut  gespannt  voll  wäre."  (^Psych.  Klinik,  Heidelberg, 
Genoveva    Bäumler,    5.    Mai    1909), 

„Im  Leib  ist  es,  als  wenn  alles  lebe,  als  wenn  Tiere  darin  herumkröchen.  — 
Tvleine  Lunsrenflüffe]  waren  zeitweise  nahezu  völlig  absorbiert,  ob  nur  durch  die  Tätigkeit 
des  Lungenwurms  oder  auch  durch  Wunder  anderer  Art  vermag  ich  nicht  zu  sagen;  icli 
hatte  die  deutliche  Empfindung,  daß  mein  Zwerchfell  ganz  ob«n  in  der  Brust  fast  un- 
mittelbar unter  dem  Kehlkopfe  saß  und  nur  noch  ein  kleiner  Rest  der  Lungen  dazwischen 
sich  befand,  mit  dem  ich  kaum  zu  atmen  vermochte."    (Schreber,  28/i,  S.    i5o.) 

„Manchmal  schien  alles  in  mir  lebendig  zu  werden.  Mein  Körper  wurde  oft  außer- 
ordentlich elastisch,  biegsam,  und  ich  möchte  sagen  plastisch,  mein  Becken  .  ,  .  auffallend 
klein   und   schmal."    (Staudenmaier,    3o3,   S,    121.) 

„Ich  Jiabe  zu  öfteren  iMalen  kürzere  oder  längere  Zeit  ohne  Magen  gelebt  ,  .  . 
Manchmal  wurde  mir  unmittelbar  vor  der  Mahlzeit  ein  Magen  sozusagen  ad  hoc  ange- 
^^uIlde^t  .  .  .  Freilich  war  dies  nie  von  langer  Dauer;  den  mir  angewunderten,  übrigens 
auch    nur    minderwertigen    Magen    wunderte    mir    die    v.    W.sche    Seele    in    der    Regel 


1  Es  sei  daran  erinnert,  daß  normalerweise  den  meisten  einzelnen  inneren  Organen 
keine  Empfindungskomplexe  zugeordnet  sind,  die  über  deren  Existenz  und  Lage 
Aufschluß    geben. 

-^  Es  ist  dies  ja  selbstverständlich:  die  Sprache  ist  nur  die  Summe  aller  Ausdrücke 
für  das  Normale.  Die  geistig  Abnormen  sind  keine  Gemeinschaft,  die  unter  sich  eirje 
eigene  Fachsprache  für  diese  Sensationen  schaffen  könnten.  Und  selbst  wenn  jemand 
glaubte,  in  den  großen  Landesanstalten,  in  denen  die  Kranken  oft  Jahrzehnte  zusammen- 
leben, müßte  eine  solche  Sprachschöpfung  möglich  sein,  so  möge  er  bedenken,  daß  es 
sich  hier  um  höchst  subjektive  Phänomene  handelt.  Kein  Kranker  kann  den  andern 
davon  überzeugen,  daß  beide  dasselbe  Erlebnis  teilen,  und  nur  in  den  wenigen  später 
zu  erörternden  Fällen  des  Gedankenmachens,  des  Gedankenabziehens  usw,  finden  die 
Psychotischen    gelegentlich  die   gleiche   sprachliche    Bezeichnung. 

^   Seltsame    Mißempfindungen    s.    z.    B.    bei    Serko    (29^). 


MISSEMPFINDUNGEN  31 


noch  während  der  bclreffondcn  Mahlzeiten  wieder  ab  .  .  .  Die  penoäscnen  Speisen 
und  Getriinke  ergossen  sicli  dann  olmo  weiteres  in  die  Bauchliühlo  und  die  Obcr- 
sclienkel,  ein  Vorgaiip,  der,  so  unglaubücli  er  klingen  mag,  nach  der  Djullichkeit  der 
t]nipfindu;i;.'    für    micn    außer    allem   Zweifel    lag."    (Schreber,   28/4    S.    i5i/2.) 

Im  folgenden  Beispiel  vermischen  sich  Halluzinationen  in  seltsamer  Weise 
mit  abnonnoii  Ein[)fin(lungen,  wobei  der  Kranke  interessanter  Weise  das 
\  erstand  11  is  halluziniorter  Worte  mit  seinen  kiiiäslhetischen  Sensationen 
in  Zusammenhang  bringt: 

„Die  Sprache  kann  ich  hören,  aber  nicht  verstehen,  oder  verstehen  kann  ich. 
was  so  gesprochen  wird,  aber  nicht  erfassen  .  .  .  Jetzt  geht  es  auch  etwas  zu  hoch, 
der  Gaumen  kann  das  nicht  melir  leisten."  Sein  Gaumen  und  sein  Gurgelknopf 
seien  beschädigt,  er  müsse  mehr  den  Oberkopf  sprechen  lassen.  Früher  konnte  er 
die  drei  Irrenhäuser  verstehen,  das  sei  ihm  aber  jetzt  zu  hoch,  das  geistige  Bild  sei 
jetzt  zurückgegangen,  er  könne  nicht  mehr  lesen.  In  Friedrichsberg  sei  es  das 
.Maschinensprechen  gewesen,  jetzt  könne  er  die  hohe  Sprache  nicht  mehr  finden. 
Es  körme  möglich  sein,  daß  er  bald  nicht  mehr  weiter  sprechen  könne.  Der  Gurgel- 
knopf habe  ihn  geistig  demoliert,  so  daß  er  nichts  mehr  verstehen  körme.  Dio 
Sprache,  dio  ihm  früher  gehörte,  habe  er  jetzt  nicht  mehr,  weil  der  Gaumen  be- 
schädigt   sei.    (Otto    Stoff,    23.    XI.    09,    Langenhorn.) 

Auch  das  Gleichgewichtsempfinden  ist  oft  seltsam  gestört,  z.B. 
bei  beginnenden  Ohnmächten  schwindet  alles  „Gefühl"  der  Schwere,  alles 
Irdische  fällt  ab,  engelgleiche  Leichtigkeit  leitet  wundervoll  über  in  das 
Bewußtsein  des  Nichts.  Auch  in  manchen  Räuschen,  in  der  Luft  des  Hoch- 
gebirges, bei  schnellen  Luftdruckschwankungen  entstehen  solche  Sensationen 
des  Schwebens  oder  des  Gegenteils:  des  Gelähmt-  oder  Gebanntseins.  Viel- 
leicht ist  schon  das  besondere  .Allgemein^ — „gefühl",  welches  bei  den  meisten 
Kranken    das   Fieber   zu   begleiten   pflegt,    qualitativ    etwas    Eigenartiges^. 

Manchen  Kranken  genügt  nicht  der  Vergleich,  das  Bild,  um  die  Seltsam- 
keit der  Sensationen  zu  bezeichnen:  sie  greifen  zu  W^ortneubildungen 
(Neologismen).    (Kerners  Seherin  150,  S.  234.) 

„Ihr  Schlaf  sei  so  ,sirisch  und  verzweiflungsvoll'.  Die  Verdauung  sei  rundum  ge- 
gangen, es  habe  den  Rückstrang  gehoben,  und  der  Schlaf  sei  hinten  oben  raus- 
gekommen, dabei  habe  es  den  Rückstrang  so  auf  und  ab  gerissen.  Der  Kopf  war 
wie  neblig,  wie  zugeklappt,  als  wenn  sie  gähnen  müßte.  Die  Ruhe  war  ganz  nervös, 
lag  immer  um  den  Leib  und  im  Rückgrat.  —  Einmal  \\'urde  ihr  aus  dem  Rücken 
ein  Rosenkranz  gezogen,  Perle  für  Perle  habe  sie  den  Schmerz  empfunden."  (Luise 
Leber,    2.    IV.    10,    Psychiatr.    Klinik,    Heidelberg). 

„Ich  halte  eine  Todesnacht.  Auf  der  linken  Seite  her  war  es  völlig  abgebrannt 
bis  in  die  Mitte  des  Leibes,  die  Gebärmutter,  das,  was  die  Lebensessenz  in  Natur 
enthält,  das  hat  er  mir  abgebrannt,  abgerissen,  das  gab  sich  herunter.  An  der  Lungen 
und  im  Herzen  hat  es  immer  gemacht  betteltet;  hinten  ist  es  zum  Darm  hinaus.- 
gefr.hren  wie  ein  Schuß,  kein  Stuhl,  eine  Flüssigkeit.  Das  ganze  Jahr  hat  er  mir 
die  Natur  abgetrieben,  ich  bin  hingefallen  vor  Elend,  wie  Dürnclien  hab  ich  Stiche 
im  Rücken  gehabt.  Dann  hab  ich  auch  Tierchen  mit  hineingegessen,  schleimartige, 
schmutzige  Flöckchen  auf  dem  Kaffee  von  besonderem  Geschmack.  Im  Magen  haben 
die  sich  netzartig  ausgebreitet,  N^e  aus  Seilen,  an  deren  jedem  ein  Würmchen  hängt; 
die  haben  die  Nerven  abgebissen,  da  hat  es  gckraclit  in  der  Brust  und  dem  Leib  wie 
Knochen."   (Blinde  Schizophrenie.   Marie  Erlinger,  g.I.ii,  Psychiatr.   Klinik,  Heidelberg.) 


^  Auch  die  gewöhnlichen  Schwindelzustände  gehören  eigentlicli  hierher. 
Man  vgl.  hierzu  die  alte,  vorzügliche  Studie  von  Pui-kinje  (25 1);  ferner  Lotze  (190), 
S.  4'»3;   Hitzig  (128  a),  Pick  (239  a). 


32  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Taucht  in  der  Erinnerung  irgendein  eigenes  früheres  Erlebnis  auf,  so 
pflegen  seine  Einzelheiten  von  dem  Bewußtsein  der  Bekanntheit,  dem 
Richtigkeitsbevvußtsein  begleitet  zu  sein.  Sei  es,  daß  dieses  Moment  nur 
eine  Begleiterscheinung  der  einzelnen  Vorstellung  ist,  welches  auch  fehlen 
kann,  sei  es,  daß  es  jeder  Vorstellung  —  nur  verschieden  beachtet  — 
anhaftet,  auf  jeden  Fall  kann  es  abnorm  gestaltet  sein.  Es  gibt  nämlich 
Fälle,  in  denen  eine  genaue  kühle  Beurteilung  einer  Situation  das  Gewißheits- 
urteil ergibt:  sie  ist  neu,  und  trotzdem  haben  die  Einzelheiten,  trotzdem 
hat  ihre  Zusammenordnung  den  Charakter  des  „Dejä  vu"  (Fausse  recon- 
naissance). 

Ich  trete  in  eine  fremde  Wohnung  ein,  um  einen  Besuch  zu  machen,  und  muß  in  einem 
Zimmer  einige  Minuten  warten.  Und  obwohl  ich  bestimmt  weiß,  daß  ich  noch  nie- 
mals in  diesem  Zimmer  war,  glaube  ich  plötzlich,  genau  die  gleiche  Situation  schon 
einmal  erlebt  zu  haben.  Bis  in  alle  Einzelheiten  geht  diese  Täuschung;  jedes  Bild, 
jede  Vase,  die  Zusammenordnung  des  Ganzen  kommt  mir  gerade  so,  wie  ich  sie 
jetzt    sehe,  bekannt  vor. 

Natürlich  braucht  sich  diese  Täuschung  nicht  nur  auf  Optisches  zu  er- 
strecken: auch  ein  Gespräch  hat  gelegentlich  durchaus  den  Charakter  des 
schon  einmal  Erlebten  (De/d  entendii).  Zuweilen  kann  die  Täuschung  solch 
lebhaften  Grad  erreichen,  daß  ich  trotz  gegenteiliger  Überzeugung  fast 
zwangsmäßig  grübeln  muß,  ob  ich  nicht  doch  zum  mindesten  etwas  ganz 
Ähnliches  schon  einmal  erlebte.  Ja,  das  Phänomen  kann  sogar  so  genau 
ausgeprägt  sein,  daß  sich  die  Überzeugung  einstellt,  es  muß  lange  oder 
es  muß  kurze  Zeit  her  sein^.  JMeist  währt  das  Erlebnis  einer  fausse  recon- 
naissance  nur  einige  Minuten,  doch  gibt  es  eigentliche  Geisteskranke,  bei 
denen  es  ohne  Unterbrechung  Jahre  andauert.  In  manchen  Fällen  bezieht 
es  sich  so  einheitlich  "auf  jedes  Einzelmoment  des  Alltagslebens"^,  daß 
der  betreffende  Kranke  glaubt,  ein  zweites  Leben  als  völlig  getreue  Nach- 
ahmung eines  ersten   Lebens  wiederholen  zu  müssend 

Im  Gegenspiel  zum  Dejä  vu  kann  eine  Wahrnehmung,  die  ich  (kühl 
urteilend)  als  sicher  bekannt  feststelle,  den  Charakter  der  Fremdartigkeit 
annehmen.  Ich  weiß,  dies  ist  mein  Zimmer,  es  sind  meine  Bücher,  und 
doch  kommen  sie  mir  so  eigenartig  fremd,  fern,  unwahrscheinlich  vor. 
Ich  werde  dadurch  vielleicht  an  meinem  Bekanntheitsurteil  nicht  irre,  aber 
ich  weiß  doch  genau,  daß  ich  etwas  Besonderes,  Eigenartiges  erlebe.  Diese 
Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt  hat  zwar  mit  den  Vorstel- 
lungen, d.  h.  den  Erinnerungen  und  ihrem  Bekanntheitscharakter  eng  zu 
tun,  doch  leitet  sie  andererseits  zu  den  Störungen  des  Icherlebnisses  über 
und  wird  daher  dort  nochmals  erwähnt  werden. 


^  In  der  schönen  Literatur  ist  dies  Moliv  oft  verwertet  wortlen.  Fischer  (62) 
stellt  eine  ganze  Anzahl  Belegstellen  zusammen.  Seiner  Studie  entnehme  ich  auch,  daß 
A.  L.  Wigan  in  Duality  of  Mind  i8^4  das  erstemal  darauf  aufmerksam  gemacht 
haben  soll.  Vgl.  ferner  Dromard  (54),  Bernard  Leroy  (19),  Heymans  (117),  Janet  (i36); 
Ballet  (Ca),  Anjel  (5):  Dejä  vu  als  Ermüdungserscheinung.  —  Kräpelin  (162)  bringt 
auch    eine    Auseinandersetzung    mit    der    älteren    Literatur    (bis    1886). 

2  Ballet   (6  a). 

■s  Einer  der  Ursprünge  des  Glaubens  an  tlie  Seelenwanderung.  Über  das  Dejä  VU 
der  Geisteskranken  vgl.  Rosenberg  (269).  Dort  auch  die  elegant  erdichtete,  völlig 
außer     jeder     Erfahrung     schwebende     Theorie     Bergsons. 


ERINNERUNGSTÄUSCm  ■^GE^J 33 

Man   muß   uiilorsc-luMdou :   ein   aktuelles   ICrlcljiiis  ^   kann: 

1.  riilitii,'  beurloilt  werdt'u   Irol/.    des   IMiänoinens  des  drja  vrcii, 

2.  l'alsch  „  „  \vef,'en   „  „  „        „  „ 

3.  riclitig         „  „         trotz      ,,  „  der  l'ji  Urem  düng, 

4.  l'alsch  „  „         wegen  „ 

Pick  (240)  schildert  z.  B.  einen  Schizophrenen,  dem  Mozartsche  Melodien 
beim  Anhören  jedesmal  als  schon  von  ihm  erdacht  erscheinen.  Der  Kranke 
nennt  dies  „Uecidive  in  den  (Jedanken".  Lemaitre  (172)  macht  auf  jene 
Fälle  aufmerksam,  bei  denen  die  Kranken  glauben,  das  nämliche  Erlebnis 
schon  geträumt  zu  haben.  Er  deutet  dies  gleichsam  als  einen  Ausweg 
aus  dem  Bewußtsein  des  Widerspruchs  zwischen  dem  richtigen  I'lrlebnis- 
urteil  („es  ist  neu")  und  dem  iloch_  vorhandenen  Bekanntheitscharakter. 
„Da  ich  es  tatsächlich  noch  nicht  erlebt  haben  kann,  und  da  es  mir  doch 
so  bekannt  vorkommt,  muß  ich  es  wohl  so  geträumt  haben  2." 

In  gewissem  Sinne  verwandt  mit  dem  eben  erwähnten  Erlebnis  des 
Pickschen  Kranken  ist  ein  weiteres:  dort  erscheinen  Melodien  nicht  nur 
schlechtweg  als  bekannt  (also  schon  erlebt),  sondern  von  ihm  erfunden; 
hier  sind  Cieschehnisse  zwar  nicht  wirklich  bekannt  (also  nicht  schon  erlebt) 
aber  von  früher  „bestmimt",  freilich  seltsamerweise  nicht  von  der  Kranken 
vorausbestimmt,  also  prophezeit,   sondern  ganz   allgemein  vorausbestimmt. 

,,Es  sei  ihr  immer  vorgekommen,  als  ob  alles,  was  geschehe,  vorausbestimmt  sei. 
Erst  bei  den  anderen,  dann  bei  sich  selbst.  Selbst  die  alltäglichsten  Dinge."  (Psychiatr. 
Klinik,   Heidelljerg,   Mihi   Schild,    i3.  V.   i5.)     (Siehe  auch  unten.) 

In  manchen  krankhaften  Zuständen  ^  zeigen  sich  Störungen  der  Bekannt- 
heitsqualität  in  dem  Sinne,  daß  irgendein  Vorstellungskomplex  —  sei 
es  ein  Ereignis,  von  dem  andere  erzählten,  sei  es  eine  eigene  Phantasie- 
vorstellung, sei  es  ein  Traum  —  als  real  selbst  er  lebt  beurteilt  wird.  Hier 
stellt  sich  also  nicht  nur  das  Bichtigkeits-  oder  Bekanntheitsbewußtsein 
(gleichsam  als  seltsamer  Nebenbefund  bei  sonst  korrektem  Urteil)  ein,  son- 
dern das  Urteil  selbst  wird  verfälscht:  der  Kranke  glaubt  etwas  wirklich 
erlebt  zu  haben,  was  er  tatsächlich  nur  träumte  oder  dichtete  (Pseudologia 
phantastica)^  oder  was  er  zufällig  irgendwie  von  anderen  erfuhr.  Man  spricht 
dann  von  Erinnerungstäuschungen^.   Aber  endlich  gibt  es  auch  Fälle, 


'  Es  kann  auch  motorisch  sein.  Vgl.  Lemaitres  (17^)  Paramnesie  kitietique  (Dejä 
execute). 

2  Daß  hierher  viele  Überzeugungen  von  Prophezeiungen  gehören,  ist  sichergestellt. 
Hierüber  siehe  später  bei  dem  ,, zweiten  Gesicht".  Dromard-Albes  (54)  und  .lanct  (i36) 
machen  darauf  aufmerksam,  daß  gelegentlich  das  Z)fyV/-VU- I^riobnis  aus  dem  andern 
der  Entfremdung  der  Wahmehmungswelt  erst  hervorgeht.  Zur  Entfremdung  vgl. 
Schneider    (282  a)    und    Schilder    (281). 

3  Besonders  bei  dem  Korsakovvschen  Symptomenkomplex  und  seinen  Konfabulationen 
(beim  Kopftrauma,  Alkoholismus,  Senium)  und  (seltener)  in  erlebnisreichen  Phasen 
der   Schizophrenie. 

^  Eine  besondere  Rarität  ist  die  negative  Paramnesie  Lemaitres  (172,  S.  ii/|): 
Der  Kranke  glaubt,  soeben  etwas  gefragt  zu  haben  und  erwartet  ungeduldig  die  Ant- 
wort:    Nun?    —    obwohl    er    durchaus    nichts    gefragt    hat. 

^  Es  sei  auch  daran  erinnert,  daß  alle  nur  einigermaßen  phantasiebegabten  Kinder 
in  einer  gewissen  Zeit  ihrer  Entwicklung  Pseudologisten  sind.  Man  denke  an  das 
vielgenannte   Beispiel   aus   Gottfried   Kellers    ,, Grünem   Heinrich",  I,   Kapitel  8,   S.87 — 92. 

3    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


34  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

in  denen  die  Kranken  einen  Vorstellungskomplex  oder  einen  Gedanken, 
den  sie  soeben  wirklich  vollzogen  haben,  in  unrichtiger  Weise  als  von 
früher  her  bekannt  auffassen  und  daher  fälschlich  weit  in  die  Vergangen- 
heit zurückschieben.  So  entsteht  z.  B.  eines  Tages  in  einem  VVahnkranken 
unvermittelt  der  Gedanke,  er  werde  von  seiner  vorgesetzten  Behörde  ver- 
folgt, und  sogleich  stellt  sich  die  Überzeugung  unverrückbar  ein,  daß  er 
dies  dem  Benehmen  seines  Amtsvorstandes  schon  vor  10  Jahren  angemerkt 
habe,  als  er  sich  jenem  zum  Dienstantritt  meldete.  In  der  Tat  aber  hat 
er  damals  vor  10  Jahren  gar  nichts  bemerkt:  es  hegt  eine  Erinnerungs- 
fälschung vor  (Rückdatierung)  1. 

Von  der  Erinnerungsfälschung  —  Phantasma  des  Gedächtnisses  —  (ein 
überhaupt  nicht  Erlebtes  wird  als  erlebt  vorgestellt)  unterscheide  man 
(mit  G.  E.  Müller  215  III,  S.  320)  die 'Erinnerungsverfälschung:  ein  erlebtes 
Ereignis  wird  in  der  Erinnerung  entstellt.  Daß  hierzu  manche  Gemüts- 
kranke besonders  neigen,  ist  begreiflich.  So  ändert  der  Melancholiker  viele 
seiner  früheren  Erlebnisse  im  Sinne  schwermütig  pessimistischer  Auffassung 
ab;  der  Manische  schmückt  sie  in  lustig-übermütiger  Weise  aus.  Alle  diese 
Verfälschungen  würden  in  das  Gebiet  der  Psychologie  der  Aussage 
hineinführen.  Man  kann  auch  gelegentlich  feststellen,  daß  die  Erinnerung 
an  ein  früheres  wirkliches  Erlebnis  dadurch  verfälscht  worden  ist,  daß  über 
die  Tatsachen  schon  einmal  eine  irgendwie  entstellte  Aussage  erfolgte  (ent- 
stellt vielleicht  im  Scherz  oder  in  bewußter  Übertreibung),  und  nun  herrscht 
vor  der  sozusagen  originalen  Erinnerung  diejenige  an  die  frühere  Aussage 
vor.  (G.  E.  Müller  215  III,  S.  308.)  —  Oft  werden  nicht  die  Einzelheiten  eines 
Erinnerungskomplexes,  sondern  nur  seine  zeitliche  Entfernung  von  der 
Gegenwart  verfälscht 2.  G.  E.  Müller  führt  noch  mancherlei  Einteilungen  der 
Erinnerungsfälschungen  an :  additive  und  subtraktive  (Wernicke),  positive 
und  negative  (Oetiker),  und  er  teilt  die  positiven  wiederum  ein  in  die  freien 
Falscherinnerungen  und  in  die  mit  nur  falscher  zeitlicher  Lokalisation, 
ferner  in  die  akzessorischen  usw.  (215  III,  S.  322.)  Doch  beleuchten  diese 
Schemata  das  ganze  Problem  nicht  eben  hell  2.  Eine  besondere  Form  der 
Fehlerinnerung  (Paramnesie)  ist  auch  jener  Fall,  bei  dem  ein  wirk- 
liches einheitliches  Erlebnis  in  der  Erinnerung  sich  spaltet,  indem  sich 
seine  Kontinuität  in  mehrere  gleichartige,  aber  doch  nicht  aufeinander  be- 
zogene Erlebnisse  zerlegt  (reduplizierende  Paramnesie).  Ein  solcher  Kranker 
erinnert  sich  z.  B.  sehr  wohl,  mit  einem  Herrn  Pick  mehrmals  zu  tun 
gehabt  zu  haben  —  vielleicht  waren  es  auch  verschiedene  Picks  — ,  aber 
jedenfalls  deckten  sie  sich  keineswegs  mit  diesem  Professor  Pick,  bei  dem 
er  sich  gerade  befindet,  und  der  ihn  doch  in  der  Tat  jüngst  mehrmals 
besuchte,    (Im  Semonschen  Sinne:  mangelnde  Homophonie*.)   Endlich  ge- 


1  Siehe  besonders  die  ältere  (1886/87)   Arbeit  von  Kraepelin  (162)   und  G.  E.  Müller 
(2i5),    III,    S.    320  ff. 

2  Eine    „blasse"    Erinnerung   läßt    schließen:    „Es    ist    schon    lange    her". 

3  Dies    gilt    auch    von    der    Älüllerschen    Aufstellung    einer    sechsfachen    Entstehung 
von   Erinnerungstäuschungen  in  pathologischen   Fällen,   III,  S.   348. 

*    Picks     (246)     interessanter     Fall     hat     ein     organisches     Hirnleiden.      Eine     weitere 
Spielart   einer  solchen   Fehlerinnenong   ist   jener   „zweite   Fall"    Coriats    (ein  Alkoholiker), 


EIUNNEUl  NGSFaLSCHUNGEN 35 

hört  als  eine  Spezialität  auch  nocij  jenes  I'häiioineii,  das  i)ei  Schi/ophreneii 
nicht  so  seilen  ist,  in  diesen  Zusainnienhan;,',  dali  ein  krank<T  bei  allem, 
was  sich  gerade  abspielt,  die  Überzeugung  hat,  gerade  so  habe  er  es 
kommen  sehen.  Er  hat  nicht  etwa  versucht,  vorher  irgend  etwas  zu  pro- 
phezeien, aber  allem,  was  sich  nun  tatsächlich  ereignet,  sieht  er  mit  über- 
legen wegwerfendem  Gesichtsausdruck  zu:  es  ist  mir  nicht  neu,  ich  wußto 
ja  längst,  so  nuilite  es  kommen.  Daiuit  meint  er  auch  alle  von  ihm  selbst 
gänzlich  unabhängigen  Einzelheiten,  etwa  wenn  sich  ein  Schmetterling  in 
das  Zimmer  verirrt.  Es  handelt  sich  also  hier  auch  um  eine  fausse  recon- 
naissance,  aber  kein  dejd  vu,  —  nicht  um  die  Täuschung  über  einen  von 
früherer  Realität  her  stammenden  Bekanntschaftsclwirakter,  sondern  um  die 
fälschhche  —  mit  Fehlurteil  verbundene  —  Erinnerungsgewißheit  einer 
früheren  Phantasievorstellung  ^, 

Ein  aufmerksamer  Leser  könnte  hier  mit  Recht  einwenden,  daß  es  sich 
doch  bei  diesen  abnormen  Phänomenen  nicht  um  eine  Abnormität  der  Art 
(Qualität)  der  ^  orstellungen  handle.  Es  liege  nur  eine  falsche  modale  Be- 
urteilung vor.  (G.  E.  Müller  215.)  Und  in  der  Tat:  die  letzt  geschilderten 
Phänomene  bergen  das  Abnorme  nicht  in  der  Qualität  der  Vorstellungen 
oder  zum  mindesten  nicht  in  ihr  allein,  sondern  auch  in  dem  angeschlossenen 
Urteil.  Insofern  würden  diese  Störungen  nicht  in  diesen  Zusammenhang 
gehören.  Wenn  man  aber  jene  beiden  ersten  Symptome  (das  dejä  vu  und 
die  Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt)  betrachtet,  so  kommt  es  dort 
nicht  immer  zu  einer  falschen  Beurteilung,  sondern  nur  der  den  Vor- 
stellungen irgendwie  angegliederte  Richtigkeitskoeffizient  ist  abnorm.  Dabei 
sei  freilich  ausdrücklich  zugegeben,  daß  hier  nicht  das  Phänomen  des 
Richtigkeitsbewußtseins  bzw.  das  Fremdheitserlebnis  selbst  als  abnorm  er- 
scheint, sondern  nur  seine  \erbindung  mit  einem  unzugehörigen  Inhalt. 
Die  Erinnerungsgewißheit  selbst  könnte  überhaupt  nur  insofern  als 
abnorm  gedacht  werden,  als  jemand  in  der  Fähigkeit  wiederzuerkennen 
(oder  besser  die  Bekanntheitsqualität  zu  erleben)  im  allgemeinen  geschwächt 
werden  oder  indem  er  sie  ganz  verlieren  könnte.  Solche  Fälle  wurden 
mir  nie  bekannt^.  Der  paranoide  Schizophrene  leistet  zwar  in  Erinnerungs- 
fälschungen gelegentlich  Außerordentliches,  aber  er  ist  keineswegs  all- 
gemein in  dieser  Hinsicht  gestört:  neben  den  gröbsten  Täuschungen 
vermag  er  andere,  außerhalb  seiner  Paranoia  liegenden  Inhalte  völhg  klar 
und  richtig  modal  zu  beurteilen.  Er  benutzt  also  gleichsam  den  Apparat 
der  modalen  Beurteilung  formal  richtig  und  wird  nur  auf  Grund  von  ab- 
normen Qualitäten  seiner  paranoiden  Inhalte  zu  irrtümlichen  Folgerungen 
verleitet.  Ist  diese  Auffassung  richtig,  so  gehören  diese  abnormen  Erschei- 
nungen doch  in  diesen  Zusammenhang,  da  nicht  der  Urteilsakt,  sondern 
die  \'orstellungs-  bzw.  Wahrnehmungsform  dann  das  .Vbnorme  bergen.  Der 


der  ein  einheitliches  Erlebniskontinuum  in  fünf  Teile  zerlegt,  dabei  aber  die  Inhalte 
der  einzelnen  Erlebnisse  ganz  richtig  miteinander  identifiziert  oder  aufeinander  bezieht 
(Rosenberg    [269]).    —  Femer   Sittig   (297  a). 

1  Hierzu    vgl.    besonders    Kraepelin    (162). 

'    Die    assoziative    Seelcnblindheit  gehört  nur   scheinbar   hierher.     Dagegen   hat    Dupres 
Topagnosie    gew-isse    Beziehungen    zu    dem    hier    Gemeinten    (Rosenberg,    269,    S.  569). 

3* 


36  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Unterschied  zwischen  dem  Dejä  vu  und  der  schizophrenen  Erinnerungs- 
täuschung bestünde  dann  nur  darin,  daß  es  im  letzteren  Fall  zu  einem 
tatsächlich  falschen  modalen  Urteil  kommt,  im  ersteren  nicht,  während  das 
rein  Phänomenale  des  Erlebnisses  selbst  in  beiden  Fällen  gleich  wäre. 
Die  interessante  Frage  nach  der  Ursache  dieser  Verschiedenheit  läßt  sich 
zwar  einfach  und  banal  damit  beantworten,  daß  der  Kranke  mit  dem 
falschen  Urteil  ja  eben  der  geistig  Kranke,  der  Schizoplu-ene,  sei,  während 
das  De/d-i'fi-Erlebnis  (mit  der  richtigen  Beurteilung)  ja  den  nicht  Kranken 
(Psychopathen)  heimsuche.  In  der  Tat  aber  läßt  sich  psychologisch  über 
das  Zustandekommen  des  geschilderten  Unterschiedes  noch  fast  nichts  aus- 
sagen. Man  kann  zwar  darauf  hinweisen,  daß  die  paranoiden  Erlebnisse 
des  Schizophrenen  schon  „Deutungen"  sind,  bei  denen  das  rein  Wahr- 
nehmungsmäßige zurücktritt  und  in  seiner  besonderen  Konstellation  auch 
nicht  rückdatiert  wird.  Fälschlich  rückdatiert  wird  nur  ein  sozusagen  rein 
inneres  Erlebnis,  nämlich  der  Glaube,  die  Überzeugung,  daß  —  um  im 
Beispiel  zu  bleiben  —  der  Amtsvorstand  schon  vor  zehn  Jahren  in  seinem 
Benehmen  Mißgunst  ausgedrückt  habe.  Genauer  genommen,  tragen  also 
hier  nicht  einzelne  Wahrnehmungsinhalte  —  wie  beim  Dejä  vu  —  ein 
fälschliches  Richtigkeitsbewußtsein,  sondern  eine  Bewußtseinslage,  eine 
Bewußtheit  wird  als  schon  früher  einmal  erlebt  modal  irrtümlich  beurteilt. 
Man  könnte  hieraus  also  folgern,  daß  das  Wiedererkennen  einer  Bewußt- 
seinslage oder  ihre  modale  Beurteilung  überhaupt  besonders  schwierig  ist. 
Man  könnte  dies  vermutungsweise  verallgemeinern,  indem  man  die  Er- 
innerungsgewißheit bei  allen  rein  inneren  (anschauungsfreien)  Erlebnissen 
als  besonders  schwierig  und  unbestimmt  einschätzt  \  Man  könnte  endlich 
darauf  hinweisen,  daß  beim  Dejä  vu  trotz  falscher  Richtigkeitskriterien  das 
richtige  Urteil  dennoch  meist  zustande  kommt:  „Du  hast  es  n i c h t  erlebt", 
und  daß  bei  der  Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt  trotz  der  Entfremdung 
das  richtige  Urteil  meist  gebildet  wird:  „es  ist  dir  doch  bekannt".  Und  man 
würde  mit  diesen  Gedankengängen  mancherlei  Bedenken  gegen  die  Theorien 
türmen,  die  die  Lehre  vom  Urteil  psychologisch  allein  auf  dem  Richtigkeits- 
bewußtsein aufzubauen  bestrebt  sind.  Doch  sind  dies  hier  nur  Hinweise, 
inwieweit  gerade  die  Kenntnis  des  Abnormen  überhaupt  psychologische 
Probleme  zu  beleuchten  geeignet  ist.  Die  besondere  Frage  ist  viel  zu  ver- 
wickelt, als  daß  sie  hier  ausführlich  dargelegt  werden  könnte-. 

Während  man  beim  Dejä  vu  und  bei  der  Selbsttäuschung  des  Pseudo- 
logisten  annehmen  kann,  daß  in  den  betreffenden  Ereignissen  oder  Phan- 
tasievorstellungen doch  einzelne  Ähnlichkeiten  an  frühere  wirkliche  Erleb- 
nisse vorhanden  sind  („Anklänge":  vgl.  Semons  Homophonie),  und  daß 
daher  zum  mindesten  die  Tendenz  zum  Bekanntheitserlebnis  einfühlbar 
erscheint,  vermag  man  bei  der  Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt  gar 
nicht  recht  näher  an  das  Symptom  hinanzugelangen.  Trotz  der  klaren 
Überzeugung,  in  seiner  gewohnten  Umgebung  zu  sein,  trotz  völlig  richtiger 


1    Dies    würde    zu    den    interessantesten,    hier    leider    zu    weit    abführenden    Gedanken 
über    unanschauliche   Erlebnisse   und   ihre    zeitlich©   Form   hinleiten. 

-    Vgl.    dazu    besonders    Karl    Bühlers    Ausführungen    in    seiner   geistigen    Entwicklung 
des    Kindes    (35). 


FRINM.IU  Nr.STÄUSCIllNC.KN   —  ZKIT?^1NN 37 

Beurteilung  der  Außouwclt,  ist  dorh  alles  fremd,  fern,  unwahrscheiidich. 
Der  (lodaiiko  ist  daiuT  nicht  von  der  lland  zu  weisen,  dali  hier  die  Wahr- 
nehmuiiLTen  selbst  überhaupt  nieiit  abnorm  serändert  sind,  und  dali  viel- 
mehr die  Subjekt-Ubjekt-Bcziehung  und  ihr  Bewuljtwerden  Schaden  ge- 
litten  hat  K 


Im  AnschluJj  an  die  Erinnerungsvcrfälschungcn  sei  auch  noch  des  ab- 
norm veränderten  Zeitsinnes-  gedacht.  Ich  will  zu  dem  allgemeinen 
Pri>l)lem  selbst  hier  nicht  Stellung  nehmen.  Ich  hätte  auch  nichts  dagegen 
einzuwenden,  wenn  jemand  bezvveileln  wollte,  ob  dies  Phänomen  in  diesen 
Zusaiuiuenhang  gehöre.  Ich  möchte  hier  nur  erwähnen,  dal5  mir  keine 
Störungen  des  Zeitsinnes  in  der  .Vrt  bekannt  geworden  sind,  daß  jemand 
die  „Zeitform"  irgendwelcher  Wahrnehmungen  überhaupt  verloren  hätte. 
Es  ist  zu  erwarten  —  es  ist  mir  nicht  bekannt,  ob  es  irgendwo  exakt 
nachgewiesen  wurde  — ,  daß  Ausnahmezustände  (z.  B.  Vergiftungen,  Er- 
schöpfungen) die  Genauigkeit  von  Zeitschätzungen  erheblich  beeinträchtigen 
dürften^.  Doch  ist  dies  wenig  interessant,  weil  dann  ein  irrtümliches  Urteil 
nur  auf  Grund  mangelhafter  Beachtung  von  Einzelheiten  der  Objekte  zu- 
stande käme.  Und  wenn  ich  einen  Augenblick  ängstlicher  Spannung  wie 
eine  Ewigkeit  erlebe,  so  vermag  der  vorherrschende  starke  Affekt  nebst 
seinen  Wünschen  wohl  nur  im  gleichen  Sinne  zu  stören.  Sicher  kommen 
aber  Zeitsinnstörungen  von  Vors  teil  ujggsabläufen  in  mehrfachem  Sinne 
vor.  Einmal  kann  eine  nachweisbar  sehr  kurze  Zeitspanne  von  einer  un- 
endlich großen  Zahl  innerer  Erlebnisse  erfüllt  sein,  so  daß  ich  zu  ihrer  Er- 
zählung das  vielhundertfache  der  Erlebniszeit  brauchen  würde.  Und  sodann 
kann  ein  nachweisbar  sehr  kurz  dauerndes  Erlebnis  in  der  Erinnerung 
außerordentlich  lange  gewährt  haben.  Für  den  ersten  Fall  kennt  jeder  Bei- 
spiele: der  Träumende  erlebt  das  morgendliche  Rasseln  des  Weckers  etwa 
als  das  Glockensignal  des  abfahrenden  Bodenseedampfers,  aber  diesem 
Signal  ging  im  Traum  eine  sehr  lange  Geschichte  voraus,  die  doch  von 
vornherein  auf  jenes  Signal  gleichsam  eingesteht  war.^  Möglicherweise 
spielen  hier  Erinnerungsfälschungen  des  Erwachenden  hinein,  vielleicht 
ordnet  auch  erst  der  Wache  den  manifesten  Traumeinzelinhalt  im  Sinne 
der  Signaldeutung  nachträgUch  ungewollt  ein,  —  aber  ich  muß  zugeben, 
daß   ich   für   das  interessante   Phänomen   weder    selbst   eine   befriedigende 


^   Hierüber  siehe  später  unter  Iclistörung. 

*  Von  älteren  Arbeiten  über  den  Zeitsinn  sei  hier  Vierordt  (3i7),  dann 
d'Allonnes  (3),  Becher  (ii)  und  endlich  BenussLs  neue  große  Arbeit  (17)  crwähnl. 
Zur   Pathologie  des  Zeitsinns   vgl.   Klien   (i52)   und   Pick   (a/lS). 

"^  Bei  starker  Merkfähigkeitsstörung  (Korsakowschcr  Psychose)  war  dies  nicht 
der  Fall.  Vgl.  Gregor  (92).  Versuche  mit  Mcscalin Vergiftung  in  der  Heidelberger 
Psychiatrischen  Klinik  ergaben  nichts  Bestimmtos  entgegen  den  Erfahrungen  Serko9(2g3). 

*  Über  Träume  Vgl.  Do  Sanctis  (277),  Hacker  (loi),  Köhler  (107)  und  Freud  (78), 
um  nur  weniges,  sehr  verschieden  Orientiertos  zu  nennen.  Über  patliologische  otler 
abnorme  Träume  ist  mir  nichts  Brauchbares  bekannt  (weniges  in  Radcsixjck  [aö^J 
von    1879). 


38  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Erklärung    beibringen    kann,    noch   eine    solche    in  der  Literatur    gefunden 
habe.' 

Ein  anderes  Beispiel  für  jenen  ersten  Fall  der  Zeittäuschung  ist  jene  Er- 
zählung von  Menschen,  die  ihren  plötzlichen  Tod  unmittelbar  erwarteten 
und  nun  in  diesen  wenigen  Sekunden  unendlich  vieles  erleben. 

So  berichten  etwa  Skifahrer,  die  von  dem  Luftdruck  einer  Lawine  große  Strecke«! 
fortgeschleudert  wurden,  Bergsteiger,  die  abstürzten,  daß  sie  in  diesen  kurzen  Augen- 
blicken des  Stürzens  noch  einmal  ihren  ganzen  LebensinJialt  an  sich  vorübereilen 
sahen,  oder  daß  sie  noch  einmal  aller  ihrer  Lieben  einzeln  in  großer  Klarheit  ge- 
dachten. Baclz  (8)  erzählt  von  einer  Dame,  die  schwimmend  von  einem  ebenfalls 
schwimmenden  großen,  jungen  Hund  im  Spiele  immer  wieder  unter  Wasser  gedrückt 
wurde  und  ihren  unmittelbaren  Tod  vor  Augen  sah.  In  diesen  wenigen  Sekunden 
erlebte  sie  eine  lange  Kette  von  Überlegungen:  was  man  mit  iluxjr  Leiche  tun  würde, 
was    ihr    Mann    sagen    würde    usw. 

Auch  hierbei  kann  man  ja  annehmen,  daß  sich  der  Erlebende  täuscht, 
daß  er  etwa  ganze  Teile  seines  Lebens  gleichsam  in  vertretenden  Symbolen 
gegenwärtig  hat  und  sich  keineswegs  der  Fülle  der  Einzelheiten  bewußt 
wird,  —  daß  also  in  jener  kurzen  Zeitstrecke  nur  wenige  solcher  Symbole 
einander  jagen,  —  aber  man  muß  zugeben,  daß  dies  eine  etwas  vage  Deu- 
tung eines  häufig  genau  geschilderten  Erlebnisses  ist  und  nur  wenig  be- 
friedigt. 

Der  zweite  Fall  —  die  erinnerungsmäßig  sehr  lange  Dauer  eines  nach- 
weisbar kurzen  Ereignisses  — ■  stellt  sich  vor  allem  bei  eigentlichen  Psycho- 
sen ein  2.  Mit  Merkfähigkeitsstörungen  haben  solche  Beeinträchtigungen  des 
Zeitsinns  aber  nichts  zu  tun  (Gregor  92). 

Für  den  umgekehrten  Fall,  daß  jemandem  eine  objektiv  lange  und  er- 
eignisreiche Zeitstrecke  nachträglich  äußerst  kurz  vorkam,  vermag  ich  keine 
kennzeichnenden  Beispiele  mitzuteilen.  Denn  die  bei  der  Schilderung  irgend- 
welcher Erlebnisse  (etwa  eines  spannenden  Vortrags)  häufig  zu  hörende 
Äußerung:  die  Zeit  verging  wie  im  Fluge  —  beruht  ja  auf  etwas  anderem, 
nämlich  darauf,  daß  innerhalb  des  interessanten  Erlebnisses  keia  Anlaß 
blieb,  auf  diesen  Zeitablauf  selbst  zu  reflektieren.  Nicht  aus  eigener  Er- 
fahrung, sondern  aus  einer  Arbeit  Kliens  sei  erwähnt,  daß  zuweilen  auch 
das  aktuelle  klare  Erlebnis  sich  ungemein  rasch  abzuspielen  scheint,  d.  h, 
scheinbar  einen  plötzlichen  Tempowechsel  erleidet  (152)-\ 

Bisher  war  in  diesem  Kapitel  mehr  von  den  Vorstellungsformen  als  von 
den  Vorstellungsinhalten  selbst  die  Rede.  Können  nun  auch  diese  abnorm 
sein?  Vielleicht  erwartet  mancher  Leser  an  dieser  Stelle  vor  allem  eine 
Erörterung  jener  Vorstellungen,  die  den  unbezweifelbar  Geisteskranken  recht 
eigentlich  zu  kennzeichnen  scheinen,  der  Wahnideen  und  der  Sinnes- 
täuschungen. 


^  Witry  (826  c)  beschreibt  interessante  halluzinatorische  Erlebnisse  während  eines  sep- 
tischen Delixs.  Außerordentlich  lange,  komplizierte  Ereignisse  waren  in  eine  meßbar 
kurze    Zeit    zusammengedrängt.     Siehe    übrigens    weiter    unten    S.    268. 

2  Strümpell  (3ii)  beschreibt  nur  dürftig  vier  Typhuskranke,  die  die  Zeit  der 
Anstaltsbehandlung   enorm  überschätzten. 

2  Klien  (i52)  setzt  sich  auch  mit  mancherlei  Tlieorien  auseinander  und  bringt 
Lileraturangaben . 


INHALTLICH    ABNORME    IDEEN 39 

Wenn  sich  jemand  einbildet,  er  sei  ein  zweiler  Heiland  der  Welt,  so 
wird  dios  oft  als  eine  abnormo  Vorstellung  bezeichnet  Und  in  der  Tat  ist 
nianclierlei  ilaran  abnorm.  \  ielleicht  entstand  diese  Cberzeugunj:^  ganz  un- 
mittelbar, ohne  jeden  Anlalj,  primär  als  waimhaite  Bewuljtheit.  Dann  kiumle 
diese  Cienese  als  abnorm  bezeichnet  werden.  Vielleicht  ist  die  Stärke 
dieser  Überzeugung,  die  Unerschütterlichkeit  abnorm,  mit  der  diese  Wahn- 
idee vorgebracht  wird.  Aber  man  wird  nicht  |in  der  Stärke  einer  (  ber- 
zeugung  überhaupt  ein  Moment  sehen  wollen,  welches  zu  den  (jualitativ 
abnormen  >  orstellungen  oder  Gedanken  gehört.  Vielleicht  ist  es  abnorm, 
dalj  in  dem  Wahnkranken  keine  Gegenvorstellungen  auftauchen,  daß  von 
ihm  keine  gegenteiligen  Erfahrungen  gemacht  werden,  die  die  primäre 
Cberzeugtheit  erschüttern  könnten.  Aber  auch  dies  hätte  nichts  mit  den 
Vorstellungsinhalten  selbst,  nur  mit  ihrer  Verknüp  fung  zu  tun.  Schließ- 
lich könnte  man  in  der  Bizarrheit  oder  Ungewöhnlichkcit  vieler  Wahnideen 
einen  Umstand  vermuten,  der  diese  Ideen  doch  zu  inhaltlich  abnormen 
stempelte.  .Vber  viele,  ja  die  meisten  Wahnideen  sind  recht  einförmig  und 
uninteressant  und  keineswegs  bizarr.  Und  welche  Phantasietätigkeit  könnte 
nicht  in  gänzlich  normaler  W  eise  Ideen  entwerfen,  die  weit  ungewöhnlicher, 
weit  verschrobener  wären  als  viele  Wahnideen? 

Nur  ein  Moment  ist  es,  welches,  inhaltlich  orientiert,  vielen  Wahnkom- 
plexen in  ihren  zeitlichen  Umläufen  eigentümlich  bleibt;  das  Moment  der 
Größe  oder  der  Kleinheit.  Aber  auch  dies  darf  nur  gleichsam  bedingt 
ausgesprochen  werden.  Denn  wenn  sich  jemand  einbildet,  1000  Schlösser  zu 
besitzen,  so  mag  wiederum  an  diesem  Gedanken  vieles  abnorm  sein:  in- 
haltlich braucht  dieser  Gedanke  nicht  als  abnorm  bezeichnet  werden,  da 
doch  sicherlich  mancherlei  „normale"  Luftschlösser  in  ganz  anderen  „Größcn"- 
Verhältnissen  schwelgen.  Aber  es  ist  eigenartig,  daß  das  Größenmoment 
selbst  —  zweifellos  ein  inhaltliches  Moment  —  zweifellos  an  sich  nicht 
abnorm  —  durch  seine  Dauer,  durch  seine  Besetzung  aller  oder  der 
meisten  Vorstellungsinhalte  manchen  Wahn  charakterisiert.  Alan  hat  ge- 
glaubt, daß  nur  der  begleitende  Affekt  diese  „Färbung"  der  Vorstellungs- 
inhalte vornehme,  und  daß  speziell  beim  Größenwahn  die  heiter  aus- 
schweifende (manische)  Grundstimmung  des  Kranken  diese  Größenvor- 
stellungen bedinge.  Dies  trifft  aber  keineswegs  immer  zu.  Sicherlich  gibt 
es  Krankheitszustände ',  in  denen  ein  glückserfüllter  Kranker  glaubt,  1 0  000 
Frauen  zu  besitzen,  Obergeneral  aller  Generäle  zu  sein  usw.,  aber  man  be- 
obachtet auch  blöde,  gänzlich  in  sich  versunkene,  keineswegs  fröhüche 
Kranke,  deren  wenige  noch  verständliche  Sprachlaute  solche  Größenmomente 
erkennen  lassen.  Ich  erinnere  mich  eines  solchen  Kranken,  der  fast  nur 
noch  die  Worte  produzierte:  „tief  im  Neckar".  Das  war  zweifellos  das 
persevierende  Größenmoment  ehemaliger  Wahnideen.  Aber  es  gibt  schließ- 
lich auch  Kranke,  die  keineswegs  lustig  sind,  vielmehr  sich  selbst  mit 
peinigenden  Vorstellungen  zermartern  und  doch  das  Größenmoment  dau- 
ernd produzieren :  sie  würden  niemals  sterben,  alle  andern,  ja  die  ganze 
W'elt  überdauern  u.  dgl.  mehr.  —  Vom  Kleinheitsmoment  gilt  grundsätz- 
lich dasselbe. 


1  Hauptsächlich    bei    der    pro^essiven    Paralyse. 


40 GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Nur  dies  an  den  Wahnideen,  und  selbst  dies  Moment  nur  mit  einer 
gewissen  Einschränkung,  gehört  hierher,  wo  von  der  inhaltlichen  Ab- 
normität der  Vorstellungen  und  gedankUchen  Inhalte  die  Rede  ist.  Im 
übrigen  wird  von  dem  Wahn  in  anderem  Zusammenhange  gesprochen 
werden.  Hier  folgt  nur  noch  ein  Beispiel,  wie  Kleinheits-  und  Größenideen 
durcheinandergehen : 

,,Icli  seh  keiiiem  ÖMenschen  mehr  gleich,  bin  gar  iiix  mehr  auf  der  Welt.  Am 
besten  gehör'  ich  begraben.  Ich  bin  eine  Mißgeburt,  nur  noch  Haut  und  Knochen. 
Wir  sind  aurli  kein  Vieh  nieliT,  gar  nix  mehr.  Herr  I>oktor,  kann  man  denn  so  weit 
kommen,  daß  man  nix  mehr  is  auf  der  Welt,  nur  grad  eine  Gestalt.  Man  soll 
mich  iu  ein  Loch  werfen  oder  vor  die  Hunde  schmeißen.  Oder  stellen  Sie  mich 
aus,  so  was  haben  die  Leute  noch  nicht  gesehen.  —  Ich  kann  ja  doch  nicht 
sterben,  man  kann  mich  nicht  einmal  begraben,  ich  muß  ewig  so  herumschweben.  — 
Die  Menschen  können  Weihnachten  feiern,  ich  nicht.  Ich  bin  ein  böser  Patient. 
So  gibts  unter  loooo  nicht  einen.  Alles,  was  Odem  hat,  stimmt  mit  Freuden 
zusammen,  ich  nicht,  ich  hab  keinen  Odem."  —  (26  Jalire  später):  ,,Sie  wolle 
sich  beim  Bäcker  verbrennen  lassen,  die  ganze  untere  Partie  ihres  Körpers  sei  aus 
Holz  und  arefühllos.  Sie  sei  kein  Mensch  mehr,  sondern  ein  Skelett,  oder  sie  sei 
zur    Salzsäule   geworden."     (Sannchen    Licht,    10.   II.    83,    Psychiatr.    Klinik,    Heidelberg.) 

Hier  könnte  noch  von  jenen  vorstellungsmäßigen  oder  gcdankhchen  In- 
halten die  Rede  sein,  die  aus  dem  bisherigen  Erfahrungsschatze  einer  Per- 
sönlichkeit nicht  zu  stammen  scheinen,  die  —  ihrer  Natiu-  nach  gänzlich 
neu  und  ungewöhnlich  —  unvereinbar  sind  mit  den  sonstigen  Kenntnissen, 
Fähigkeiten,  Interessen  dieser  Person,  und  die  daher  in  diesem  Sinne  als 
abnorme  Leistungen  imponieren.  Doch  haben  diese  Inhalte  so  viel  mit  dem 
Problem  der  Ergriffenheit,  des  Erleuchtetseins,  der  Besessenheit  zu  tun, 
daß  sie  dort  (unter  den  Willensstörungen)  mit  behandelt  werden.  Daß 
mancherlei  verwandtschaftliche  Beziehungen  eines  Teils  dieser  Eingebungen 
zu  den  Wahnideen  bestehen,  erscheint  wohl  begreiflich. 

Wie  steht  es  aber  mit  den  Sinnestäuschungen?  Sie  könnten  nicht 
entstehen,  wenn  der  Kranke  nicht  zuvor  schon  einmal  entsprechende  ^virk- 
liche  Walirnehmungen  gehabt  hätte.  Sinnestäuschungen  sind  also  —  von 
diesem  Gesichtspunkt  aus  gesehen  —  zweifellos  irgendwie  reproduzierte 
Empfindungen,  also  Vorstellungen  und  —  so  dürfte  leicht  behauptet  werden  — 
doch  sicherUch  abnorme  Vorstellungen.  .Vbnorm  ist  aber  an  ihnen 
nur  die  Entstehung,  nur  die  Tatsache  ihres  Auftretens,  keineswegs  ihre  In- 
haltlichkeit. Wenn  ich  durch  Druck  auf  die  geschlossenen  Augen  des  x\lko- 
holdeliranten  bewirke,  daß  er  mir  bunte  Blumen  oder  kaleidoskopartige 
Gebilde  beschreibt,  die  er  deutlich  zu  sehen  behauptet,  so  sind  selbstver- 
ständlich diese  Vorstellungsinhalte  an  sich  in  keiner  Weise  abnorm.  Und 
wenn  mir  ein  schizophrener  Kranker  schildert,  daß  er  mit  elektrischen 
Strömen  an  den  Schläfen  gequält  wird,  so  mag  das  eine  Mißempfindung 
am  Kopf  sein,  als  wenn  dort  wirkhch  Elektroden  angesetzt  wären.  Für  den 
Kranken  selbst  ist  die  Tatsache  dieser  Qual  gleichartig,  würde  sie  wirklich 
ausgeübt  oder  möge  sie  halluziniert  werden.  In  diesem  deskriptiven  Sinne 
ist  also  auch  die  Sinnestäuschung  nicht  abnorm,  oder  sie  braucht  es  zum 
mindesten  nicht  zu  sein.  Deshalb  gehört  auch  die  Besprechung  der  Sinnes- 
täuschungen nicht  eigenthch  in  das  Kapitel  der  quahtativ  abnormen  ^  or- 
stellungen. 


SI NNKSTÄISCIIUNGEN  41 


Al)er  dieses  Kapitel  der  Sinnestäuschungen  '  j,'eliört  auch  in  keinen  anderen 
Zusanunenhang,  es  steht  ganz  allein.  Man  könnte  auf  den  Einlall  kommen, 
die  IIallu7.inatii)nen  in  die  l'sychologie  des  intentionalen  Aktes  in  dem- 
jenigen Sinne  zu  verweisen,  dafi  bei  ihnen  ein  „lungestelltsein  auf",  ein 
„Gerichletsein  auf",  ein  „Meinen"  fehle.  Die  Sinnestäuschungen  drängen 
sich  auf,  sie  führen  eine  selbständige  Kxistenz,  sie  wertlen  nicht  von  mir 
ergriffen,    sondern    sie   ergreifen  mich;  aber  ich  kann  sie  nicht  einmal 

abschütteln,  übersehen.  Sie  seien  nicht  ein  Material,  das  mir  gegenüberstehe, 
sondern  sie  seien  doch  irgendwie  auch  .,Ich",  freilich  nicht  im  Sinne  eines 
spontiuien   Erfassens. 

Alles  dies  kommt  zweifellos  an  den  Sinnestäuschungen  vor,  aber  es  ist 
keineswegs  für  alle  charakteristisch  und  läßt  sich  daher  auch  nicht  als 
Merkmal  der  Einordnung  verwerten.  In  mannigfachster  Weise  treten  die 
Sinnestäuschungen  in  den  seelischen  Ciesamtmechanismus  ein,  sie  werden 
von  der  Persönlichkeit  in  der  verschiedensten  Weise  verarbeitet,  sie  sind 
deskriptiv  auch  sicherlich  untereinander  sehr  verschieden.  ,\ber  das  eine 
wirklich  Abnorme,  was  ihnen  allen  allein  eigentümlich  ist,  ist  nichts  un- 
mittelbar Erlebtes.  Es  ist  nur  die  Tatsache  ihrer  zerebralen,  von  den  Sinnes- 
organen und  der  Außenwelt  unabhängigen  Entstehung,  also  ein  gänzlich 
außerpsychologisches  Moment.  Die  wissenschaftliche  Bedeutung  dieses 
interessanten  Phänomens  der  Sinnestäuschungen  liegt  denn  auch  nicht  so 
sehr  in  der  eigentlichen  Psychologie  als  in  deren  Grenzgebiet  zur  Physio- 
logie und  vor  allem  bei  der  Frage  des  Zusammenhangs  zwischen  Leib  und 
Seele.  Alle  diese  Probleme  stehen  hier  nicht  zur  Untersuchung.  Was  aber 
an  den  Sinnestäuschungen  rein  psychologisch  interessant  ist,  soll  hier  gleich- 
sam als  Anhang  zu  dem  Kapitel  der  qualitativ  abnormen  Vorstellungen 
Platz  finden. 

Im  .\bschnitt  über  die  quantitativ  abnormen  Vorstellungen  wurde  schon 
erwähnt,  daß  manche  phantasiebegabten  Menschen  sich  eine  Einzelheit  oder 
ein  ganzes  Erlebnis  so  merkmalsreich,  so  plastisch,  so  lebendig  vorstellen 
können,  daß  es  „vor  ihnen  steht",  d.  h.  daß  ihr  Urteil  Schein  und  ^^  irk- 
lichkeit  nicht  mehr  zu  sondern  vermag.  Manche  bedürfen  dabei  noch  wirk- 
licher Empfindungen  als  Anhaltspunkte.  So  lautet  eine  aus  den  Zeiten  der 
italienischen  Renaissance  übernommene,  immer  wieder  empfohlene  Anwei- 
sung für  Maler:  eine  farbige,  moosbegrünte  Mauer  lange  zu  betrachten; 
dann  sprängen  schon  die  Gestalten  daraus  hervor  (Pareidolien,  Illusionen). 
Andere  Persönlichkeiten  mit  lebhafter  Phantasie  brauchen  solche  Hilfen  nicht. 
Der  dichterisch  wie  der  religiös  Erregte  glaubt  die  Gestalt  leibhaftig  zu  sehen 
oder  zu  hören,  die  ihm  Offenbarungen,  Heilswahrheiten  oder  Versuchungen 
vermittelt.  Solche  einzelnen  Gestalten  können  durchsichtig,  „neblig",  „wie 
ein  Schleier"  sein,  oder  sie  können  ganz  naturwahr  kompakt  den  Hinter- 
grund vercfecken  und  können  sich  bewegen,  schweben,  lächeln,  W^orte  spre- 
chen oder  stumm  und  undeutlich  wieder  verschwinden.  Der  Reichtum 
solcher  Schilderungen   ist  enorm.   Nicht   nur   die  Archive   der  Irrenhäuser, 


1  AJlg^nieüies  zum  Problem  der  Sinnestäuschungen  brüigon  besonders  Specht  (299  a), 
Jaspers  (lüg  u.  i/jo),  Goldstein  (89  u.  90),  und  allenfalls  Rülf  (275),  früher  Stör- 
ring   (3io)    in   Vorlcs.    3 — 7,    Parish   (233  b)    und    (i8/i5)    Brierre   de    Boismont    (3o). 


42  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

auch  die  Literatur  der  Religionspsychologie,  des  Spiritismus  und  Okkultismus 
sowie  die  Selbstbiographien  bergen  ein  unendliches  Material.  Aus  der  über- 
großen Mannigfaltigkeit  läßt  sich  nur  wenig  Allgemeines  heraussondern; 
dabei  ist  es  auch  wichtig,  das  zu  beachten,  was  selten  oder  niemals 
halluziniert  wird. 

Auf  dem  Gebiete  der  optischen  Sinnestäuschungen^  herrschen  zwei 
Formen :  entweder  glaubt  der  Kranke,  kleine  bewegliche  Dinge  zu  sehen 
(Fäden,  Spinnen,  Schlangen,  Mä;use,  sehr  kleine  Männchen  u.  dgl.)  -  oder 
es  erscheinen  menschliche  Gestalten  in  natürlicher  oder  gesteigerter  Größe  3. 
Erstere  Täuschungen  sind  fast  immer  echter  realistischer  Sinnestrug,  sie 
sind  einfach  da,  ohne  eine  besondere  Bedeutung,  oder  Gefühlsbetonung  zu 
erlangen. 

Dort  sprängen  Mäuse  unter  dem  Bette  umher,  Maikäfer  und  Mücken  sehe  er 
auch.  Die  Käfer  krabbeln  unten  am  Fußende  dos  Bettes  herum  und  kit/eln  ihn. 
(Er  hascht  während  der  Unterhaltung  nach  den  Mücken.)  Beinahe  habe  er  eine 
gefaaigen;  werm  er  wolle,  kriege  er  sie  schon.  Aus  den  Löchern  am  Boden  kommen 
fortwährend  Mäuse  hervor  und  klettem  am  Bett  in  die  Höhe.  Ein  Vieh,  so  groß 
wie  eine  Katze,  mit  langem  Schwanz  habe  er  auch  gesehen.  (Er  stößt  mit  dem  Fuß 
nach  den  Käfern,  schnalzt  mit  den  Fingern,  lacht,  pfeift.)  (Peter  Treiling,  7.  4-  08, 
Psvchiatr.    Klinik,    Heidelberg.     Delirium    tremens.) 

„Hyoscin  ist  ein  sehr  beruhigendes  Mittel,  man  spürt  das  Erschlaffen  der  Arme, 
Beine,  Enttäuschung,  man  glaubt,  Zigarren  zu  rauchen,  will  sie  in  die  Hand  nehmen, 
Zeitungen  zu  lesen,  die  man  nicht  hat.  Jeder  Gegenstand,  den  man  sieht,  mrd  zu 
einer  lebendigen  Form,  die  sich  bewegt,  mit  besonders  unangenehmen  großen  Augen, 
fratzenhaften  Gesichtern.  Es  kommen  Gestalten,  in  Massen,  groß  und  klein,  man  ruft  sie 
an,  und  ärgert  sich  schrecklich,  daß  sie  das  Verbot  haben,  zu  antworten.  Es  ist  ein  Zustand 
für  mich  voll  Angst  und  Unbehaglichkeit,  bis  ein  tiefer  Schlaf  dem  Theater  ein  Ende 
bereitet."  (Vergiftung  mit  einem  Centigramm  Hyoscin.  Fritz  Kalb.  Manisch-depressives 
Irresein.     Psychiatrische    Klinik,    Heidelberg,    10.    7.    20.) 

Die  in  Lebensgröße  erscheinenden  menschlichen  oder  menschenähnlichen 
Gestalten  sind  selten  echte  Sinnestäuschungen,  sie  sind  vielmehr  meist 
mit  vorstellungsmäßigen  Elementen  durchsetzt  und  fast  immer  bedeutsam, 
gefühlsbetont.  Oft  lassen  sie  sich  absichtlich  herbeiführen;  je  nach 
Stimmungslage  und  Ablauf  der  Vorstellungen  wandeln  sie  sich  auch  in  der 
Geste,  dem  Gesichtsausdruck  usw. 

Diesen  Zusammenhang  der  „Erscheinungen"  mit  Gemütszuständen  er- 
kannten schon  die  dämonengeplagten  Heiligen  des  Frühchristentums  *,  er  ist 
auch  den  modernen  Forschern  okkulter  Phänomene  nicht  verborgen  ge- 
blieben ^  Johannes  Müller  beschreibt  ausgezeichnet  (216),  wie  er  seine 
„phantastischen  Gesichtserscheinungen  befördern  und  festhalten  kann".  Er 
vermag  sich  in  eine  geeignete  Gemütslage  zu  versetzen,  aber  dann  muß  er 
warten,  was  da  kommt. 


1  Vgl.    hierzu   das    gute,    alte    Buch    von    Hibbert    (119). 

2  Bei  alkoholischen  und  anderen  Vergiftungsdelirien,  z.  B.  bei  Haschisch  (S.  255), 
Mescal  (S.  257),  Opium  (S.  252)  in  Jastrow  (i44).  Über  Haschisch  s.  auch  Meunier 
(202  a). 

3  Hauptsächlich    bei    den    psychogenen    Psychosen    und    der    Schizophrenie. 
*  \g!.    die    Vita   des   hl.    Antonius    von   Athanasius.     Vgl.    Stoffels    (3o8). 

&    Floumoy    (6/1,   65,   66,   67,    68,  69). 


OPTISCHE    SINNESTÄUSCHUNGEN  43 


..EHe  Erscheinung  ist  urplölzlicli,  sie  ist  nie  zuerst  eingebildet,  vorgestellt  und  dann 
leuchtend.  Ich  sehe  nicht,  was  ich  schon  sehen  möchte;  ich  kann  mir  nur  gefallen  lassen, 
was    ich    ohne    alle    Anregung    leuclitond    sehen    muß."     (aiö,    S.    aS.) 

bekannt  ist  die  Schilderung  Goethes:  ,,Ich  hatte  die  Gabe,  wenn  ich  die  Augen 
schloß  und  mit  niedergesenktoin  Haupte  mir  in  ilie  .Mitte  des  Sehorganes  eine  Blume 
dachte,  so  verharrte  sie  nicht  einen  Augenblick  in  ihrer  ersten  Gestalt,  sondern  sie 
legte  sich  auseinander,  und  aus  ilirem  Innern  entfalteten  sich  wieder  neuo  Blumen 
aus  farbigen,  auch  wohl  grünen  Blättern;  es  waren  keine  natürlichen  Blumen,  sondern 
phantastische,  jedoch  regelmäßig  wie  die  Rosetten  der  Bildhauer.  Es  war  unmöglich, 
die  liervorsprossende  Schöpfung  zu  fixieren,  hingegen  dauerte  sie  so  lange  als  mir 
heliehle,     ermattete     niciit     und     verstärkte    sich     nichtt." 

Bei  der  großen  Mehrzahl  der  geistig  Kranken  sind  die  Erscheinenden 
verstorbene  oder  fernweilende  .Vngehörige  oder  rehgiöse  Gestalten.  Fast  immer 
haben  diese  etwas  Phantastisches  oder  zimi  mindesten  verschwommen  Ln- 
goWsses.  Schon  dieser  Umstand  weist  darauf  hin,  daß  Vorstellungen  dabei 
äußerst  wirksam  sind  (Pseudohalluzinationen)-,  .Vuch  insofern  sind  diese 
Gestalten  oft  auffallend  unnaturalistisch,  als  sie  meist  plötzlich  da  sind  oder 
daher  schweben  oder  irgendwo  ruhig  stehen,  ähnlich  den  Gespenstern  der 
Dichtungen.  Niemals  hört  man  berichten,  daß  eine  halluzinierte  Gestalt  im 
gewöhnlichen  Schritt  des  .Ultags  herankommt,  womöglich  gar  mit  den  Ge- 
räuschen des  Schreitens.  Wenig  untersucht  sind  noch  die  Größen  Ver- 
hältnisse und  die  Topik  der  Erscheinungen.  Zwar  äußern  viele  Hallu- 
zinanten,  die  Gestalten  seien  „so  groß  wie  natürlich"  gewesen,  wissen  aber 
dann  nicht  genau  anzugeben,  in  welcher  Entfernung  jene  denn  gestanden 
habend.  G.  E.  Müller  (215,  II,  S.  410 — 41 Q)  nimmt  von  den  Halluzinationen 
an,  sie  seien  an  einen  festen  Ort  oder  Abstand  gebunden,  würden  rein 
egozentrisch  lokalisiert  und  stets  von  einem  unwirklichen  Standpunkt  aus 
wahrgenommen.  Aber  alles  dieses  ist  so  generell  einfach  nicht  richtig,  wenn 
man  die  Fülle  der  Erfahrungen  durchmustert. 

Nägeli  (221)  gibt  sich  selbst  über  die  Frage  der  Entfernung  Rechenschaft:  Einzelne 
Gestalten  seien  ,,in  seiner  Nähe  gewesen,  seltener  viele  in  einiger  Entfernung,  dio 
dann  gewöhnlich  dicht  gedrängt  beisammen  waren".  Die  Landschaften  hatten  meist 
keinen  Vordergrund,  aber  auch  niemals  einen  sehr  entfernten  Hintergrund,  wenigstens 
anfangs.  Die  l'iefe  der  Perspektive  nahm  mit  der  Zeit  fortwährend  zu.  Seiner 
Meinung  nach  waren  die  Visionen  wolü  nicht  stereoskopisch,  und  deshalb  etwas 
fremdartig. 

Interessanterweise  bezieht  sich  die  oben  erwähnte  Makropsie  gelegent- 
lich auch  auf  die  Sinnestäuschungen,  z.  B.  „.\meisen,  groß  wie  Käfer" 
(Eskuchen),  drei  ungeheuer  große  Greise  (Menschen  11 4  a),  Riesen  und  Zwerge 
an  einem  blendend  weißen  Weg  (Uhthoff).  Über  die  Größe  der  Erscheinungen 
siehe  auch  G.  E,  Müller  (215,  II,  S.  357  und  389)  und  die  dort  angeführten 
vier   Literatlirangaben*.    Bedenkt  man,   daß   sich  jemand  in   seinem   wirk- 

^    Zur     Morphologie    und     Naturwissenschaft.      Zitiert    nach    Müller     (216). 

^  Vgl.  zum  Unterschied  die  Ausführungen  oben  (über  besonders  lebhafte  Vor- 
stellungen) und  Fechner  (60),  2.  Bd.,  S.  468  ff .  Seine  Ausführungen  neben  denen 
von  Nikolai  (224),  Nägeli  (221),  Johannes  Müller  (216)  sind  noch  immer  die  wichtig- 
sten   Quellen. 

^  Gelegentlich  erscheinen  die  Täuschungen  auch  halbseitig,  z.  B.  immer  rechts: 
Josef  son    (1/I6). 

*  Müller  unterscheidet  nicht  hinreichend  zwischen  Halluzinationen  und  Pseudo- 
hulluzinationcn. 


44 GRUIILE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

liehen  Zimmer  eine  Gestalt  so  lebhaft  vorstellt,  daß  er  sie  zu  sehen 
glaubt,  so  wird  er  sie  sich  begreiflicherweise  so  vorstellen,  wie  sie  ihm  an 
jenem  Orte  tatsächlich  erscheinen  würde  (d.  h.  in  dem  gleichen  Sehwinkel). 
Daher  sprechen  Angaben  über  besonders  große  oder  auffallend  kleine  Gestalten 
sehr  für  echte  Sinnestäuschungen  (wie  beim  Deliranten).  „Normal"  große 
und  sich  gut  in  den  Raum  einfügende  Erscheinungen  lassen  eher  auf 
Pseudohalluzinationen  schließen.  Man  hat  gelegentlich  gefunden,  daß  die 
Gestalten  größer  wurden,  wenn  die  Versuchspersonen  durch  ein  Vergrößerungs- 
glas sahen.  Dies  deutet  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  auf  lebhafte  Vor- 
stellungen hin,  weil  die  übrigen  Außendinge  größer  gesehen  werden  und 
sich  die  Versuchsperson  nun  ungewollt  dieser  Änderung  anpaßt  (G.  E.  Müller, 
215,  II,  S.  384).  Aber  die  Sachlage  ist  recht  kompliziert;  man  braucht  nur 
an  seine  eigenen  Nachbilder  (den  echten  Halluzinationen  vergleichbar)  zu 
denken,  so  weiß  man  auch  bei  ihnen  keineswegs  immer  genau  die  Ent- 
fernung anzugeben,  in  der  sie  (ohne  Projektionsebene)  zu  schweben  scheinen. 
Weiß  ein  Halluzinant  komplizierte  Visionen  sehr  schlecht  zu  lokalisieren, 
vermag  er  nur  zu  schildern,  daß  sie  außerhalb  seiner  seien  (exterioriie)  ohne 
zu  wissen  wo,  so  kann  man  mit  großer  Wahrscheinlichkeit  annehmen,  daß 
sie  keine  wahre  realite  für  ihn  besitzen  (Janet  137,  S.  Q3),  sondern  leb- 
hafte Vorstellungen  sind^.  Es  ist  erstaunlich,  daß  sehr  wenige  Halluzinanten 
die  Farben  der  Erscheinungen  mit  einiger  Sicherheit  wiedergeben  können. 
Meist  ergänzen  sie,  gefragt,  die  Farben  nach  den  gleichen  Tendenzen,  die 
die  Psychologie  der  Aussage  bei  den  Irrtümern  feststellt  (das  Gewohnte, 
zu  Erwartende,  Assoziierte  usw.).  Auch  die  Unterscheidung  von  Flächen- 
und  Raumfarben  (Katz  149a)  erscheint  bei  den  optischen  Trugwahrnehmungen 
kaum  möglich.  Zuweilen  erlebt  man  ja  flächenhaft  farbige  Wahrnehmungen 
in  der  Erinnerung  als  raumhaft,  und  allen  leuchtenden  Farben  haftet  ja 
von  vornherein  etwas  Raumhaftes  an  (G.  E.  Müller,  215,  I,  S.  57). 

Nägcli  (221)  unterscheidet:  farblose  Bilder  mit  schwach  angedeuteten  Schatten 
und  hl nul ichgrauem  oder  grünlichgrauem  Ton,  mehrfarbige  Bilder  mit  blassen,  weni^^ 
kontrastierenden  Farben,  Bilder  mit  intensiven,  doch  einförmigen  Farben.  Neben- 
einanderliegendo  Farben  waren  nie  komplementär.  Nie  zeigten  sich  direkt©  Lichter, 
nie    scharfe    Schlagschatten. 

Daß  in  der  Erinnerung  an  echte  Sinnestäuschungen  die  Farben  zuerst 
erblassen,  oder  daß  bei  langsam  verschwindendem  Phantasma  zuerst  die 
Farben  undeutlich  werden,  wird  von  den  Halluzinanten  vielfach  bestätigt 
(Nikolai,  Fechner).  G.  E.  Müller  erwähnt,  daß  auch  die  Beteiligung  der  drei 
optischen  Spezialsinne  (Schwarz-weiß,  Rot-grün,  Gelb-blau)  an  den  Sinnes- 
täuschungen noch  nicht  genügend  untersucht  sei,  besonders  noch  nicht  hin- 
sichtlich ihrer  Nachhaltigkeit  (215,  II,  S.  629). 

Die  Sprache  der  halluzinierten  Erscheinungen  ist  meist  auffallend  unreal. 
Zwar  ist  gelegentlich  die  Stimme  eines  Angehörigen  wohl  erkennbar,  aber 
sie  beschränkt  sich  auf  wenige  Worte:  Warnungen,  Drohungen,  Namens- 
rufe,   Die  Stimme  des  Heilandes  oder  der  Jungfrau  ist  unbestimmt  feierlich. 


1  Es    kommen    auch    Sinnestäuschungen    vor,    die    sich    auf    bestimmte     Bezirke    des 
Gesichtsfeldes    beschränken:     de    Schweinitz    (287  a). 


OPTISCHE    SINNESTÄUSCHUNGEN 45 

in  den  ^^'o^lo^  dürftig.  Dio  Sätze  selbst  sind  meist  der  Ribel  eiitlelinl. 
Sind  doch  die  Äuljeruiigen  einer  l^rscheinung  einmal  aiisfülirlicher 
gewesen,  so  lassen  die  Nebenumstände  mit  grolier  Sicherheit  echte  Sinnes- 
täuschungen ausschlielien.  In  anderen  WOrten:  (ileich/eitige  optische  und 
akustische  echte  Sinnestäuschungen  sind  aulierordentlich  selten.  Je  mehr 
man  sich  in  die  Beschreibungen  der  optischen  Halluzinationen  vertieft  und 
sie  durch  Befragung  tler  llalluzinanten  zu  klären  sucht,  um  so  mehr  wird 
man  irre  am  \  orkommen  echter  optischer  Täuschungen  -  abgesehen  von 
der  ersten  oben  bezeichneten  Gruppe.  Die  allermeisten  sind  Pseudohalluzi- 
nationen '.  Aus  der  unendlich  groiien  Zahl  möglicher  Beispiele  folge  hier 
nach  bestimmten  Gesichtspunkten  eine  kleine  Auswahl: 

,,Icli  war  nämlicli  eines  Morgeiis  bei  schon  erhelltem  Himmel  nus  einem  liefen 
Schlaf  aufgewacht,  da  flimmerten  mir  Traumbilder  der  zurückgelegten  IVacht  und 
insbet^ondcro  das  Bild  eines  häßlichen  Schwarzen,  den  ich  vorher  niemals  gesehen, 
so  lebhaft  vor  meinen  Augen,  als  wenn  es  wirklich  Gegenstände  außer  mir  wären. 
Die  Gebilde  versciiwanden  fast  ganz,  wenn  ich,  nach  anderer  Unterhaltung  verlangend, 
auf  ein  Buch  oder  sonst  etwas  scharf  liinsah,  kehrten  aber  mit  derselben  l,el)hafLigkeit 
wieder,  sobald  ich  von  dem  bestimmten  Gegenstande  wieder  hinweg  ohne  fixierte  Aufmerk- 
samkeit auf  Verschiedenes  hinstierte,  bis  es  dann  nach  einigen  Wiederholungen  über 
dem  Haupte  hinwegschwand."  (Aus  einem  Brief  B.  de  Spinozas  an  den  hoch.veisen, 
hochgolelirten  Peter  Balling,  übersetzt  von  Pitschaft  in  Moritz'  Magazin  zur  Erfahrungs- 
seelenkunde.) 

,,Die  Gestalt  des  ^  erstorbenen  erschien  nicht  mehr  nach  dem  ersten  erschütternden 
Tage,  hingegen  kamen  sehr  deutlich  viele  andere  Gestalten  zum  Vorschein;  zuweilen 
Bekannte,  aber  meistens  Unbekannte.  Unter  den  Bekannten  waren  Lebende  und 
Verstorbene,  mehrenteils  erstere;  nur  bemerkte  ich,  daß  Personen,  mit  denen  ich 
täglich  umging,  mir  nicht  als  Phantasmen  erschienen,  es  waren  jederzeit  Entfernte. 
Auch  versuchte  ich,  nachdem  diese  Erscheinungen  einige  Wochen  gedauert  hatten 
und  ich  mich  dabei  ganz  ruhig  befand,  Phantasmen  von  mir  bekannten  Persononr 
selbst  hervorzubringen,  welche  ich  mir  deshalb  sehr  lebhaft  vorstellte;  aber  ver- 
geblich. So  bestimmt  ich  m(ir  auch  die  Bilder  solcher  Personen  in  meiner  selxr 
lebhaften  Einbildungskraft  daciite,  so  gelaing  es  mir  doch  nie,  sie  auf  mein  Verlangen 
außer  mir  zu  sehen,  ob  ich  sie  gleich  schon  \x>r  einiger  Zeit  unverlangt  als 
Phantasmen  gesehen  hatte,  und  sie  sich  auch  wohl  nachher  unvermutet  mir  wieder 
auf  diese  Art  darstellten.  Die  Pliantasmen  erschienen  mir  schlechterdings  unwillkürlich, 
als  würden  sie  mir  von  außen  dargestellt  gleich  den  Phänomenen  in  der  Natur, 
ob  sie  gleich  gewiß  bloß  in  mir  entstanden;  und  dabei  konnte  ich,  so  wie  ich 
überhaupt  in  der  größten  Ruhe  imd  Besonnenheit  war,  jederzeit  Phantasmen  von 
Phänomenen  genau  unterscheiden,  wobei  ich  mich  nicht  ein  einziges  Mal  geirrt  l»ab&. 
Ich  v\-ußte  genau,  wann  es  mir  bloß  schien,  daß  die  Türe  sich  öffnete  und  ein 
Phantom  hereinkam,  und  wann  die  Türe  wirklich  geöffnet  ward  und  jemand  wirk- 
lich   zu    mir    trat. 

Übrigens  erschienen  mir  diese  Gestalten  zu  jeder  Zeit  und  unter  den  verschiedensten 
Umständen  gleich  deutlich  und  bestimmt:  Wenn  ich  allein  und  in  Gesellschaft  war, 
bei  Tage  und  in  dunkler  Nacht,  in  meinem  Hause  und  in  fremden  Häusern,  doch 
waren  sie  in  fremden  Häusern  nicht  so  häufig,  und  wenn  ich  auf  offener  Straße 
ging,  sehr  selten.  Wenn  ich  die  Augen  zumachte,  so  waren  zuweilen  die  Gestalten 
weg,    zuweilen    waren    sie    auch    bei    geschlossenen    .\ugen   da."     (Nikolai,    22 i,    S.    335.) 

,, Einige  Male  sah  ich  unter  ihnen  auch  Personen  zu  Pferde,  desgleichen  Hunde 
und  Vögel.  Diese  Gestalten  alle  erscliienen  mir  in  Lebensgröße,  so  deutlich  wie  man 
Personen  im  wirklichen  Leben  sieht:  mit  den  verschiedenen  Karnazionen  der  unbe- 
kleideten Teile  des  Körpers  und  mit  allen  verschiedenen  Arten  und  Farben  der 
Kleidungen;  doch  dünkte  mich,  als  wären  die  Farben  etwas  blässer  als  in  der 
Natur.     Keine    der    Figuren    hatte    etwas    besonders    Ausgezeichnetes,    sie    waren    weder 


1  Vgl.   Stumpf  (3i3),  auch   Stoffels  (3o8). 


46 GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

schrecklich,    noch    komisch,    noch    widrig;     die    meisten    waren    gleichgültig,    einige    aucii 
arigcrieiim."    (Nikolai,    224,    S.    387.) 

Nicht  selten  berichten  Ilalluzinanten,  besonders  die  hysterischen  Persön- 
Hchkeiten,  auch  vom  Erscheinen  von  leuchtenden  Blumen  (diese  sind  dann 
fast  immer  schön  und  gefühlsbetont)  oder  Schriftzügen  (diese  haben  dann 
meist  einen,  wenn  auch  dunklen  Sinn).  Werden  einmal  Möbel  und  andere 
Gegenstände  halluziniert,  so  dienen  sie  nur  dazu,  einen  Raum  auszustatten, 
d.  h.  eine  Situation  zu  vervollständigen,  meist  einen  Raum,  in  dem  dann 
eine  irgendwie  bedeutsame  Person  erscheint.  Man  hört  fast  niemals  einen 
Ilalluzinanten  schildern,  daß  er  etwa  vereinzelt  ein  Möbelstück,  etwa  einen 
Kleiderschrank  oder  einen  Kochlöffel  oder  dergl.  halluziniert  habe,  es  sei 
denn,  daß  ein  solcher  Gegenstand  irgendeine  Wichtigkeit  für  die  betreffende 
Person  habe,  einen  Komplex  repräsentiere.  Das  Fehlen  solcher  Inhalte  unter 
den  optischen  Sinnestäuschungen  ist  für  ihre  Theorie  recht  bedeutsam^. 

Seltener  werden  gegenstandslose  Farben  oder  Flecken  halluziniert.  Nägeli 
(221)  berichtet,  im  Anfang  seiner  Erkrankung  sei  das  ganze  Gesichtsfeld 
gleichmäßig  ziemlich  intensiv  erhellt  gewesen.  Später  erschienen  helle  Stellen 
auf  dunklem  Feld.  Der  Fall  Sauden  von  Menschen  (114a)  sah  gelb  und  blau: 
nur  einen  „gefärbten  Schein".  Und  von  gewissen  Vergiftungen  (Santonin) 
werden  reine  Farbentäuschungen  häufig  beschrieben  (Photopsie,  [Rose  268c]). 
Dies  führt  aus  den  reinen  Sinnestäuschungen  schon  wieder  hinaus  und  in 
die  Verfälschung  der  Außenwelt  (Illusionen)  hinein  '•"■. 

Auch  von  Bewegungstäuschungen,  oft  verbunden  mit  Farberschei- 
nungen, wissen  die  lu-anken  zu  berichten : 

Es  seien  Lichter  gewesen,  die  ihm  nachgehüpft  seien,  so  Stemlein  auf  dem 
Boden.  Manchmal  auch  in  der  Höhe  der  zweiten  Etage.  „Vielleicht  waren  es  Rad- 
fahrer oder  ein  Geblänkel  mit  elektrischem  Licht."  Des  Nachts  sah  er  auf  der 
Straße  , .Laternen  schwingen",  was  ihn  sehr  störte.  (Thomas  Stephan,  Psychiatr. 
Klinik,    2.  XL   12.) 

Mit  dem  Problem  der  halluzinierten  Bewegung  haben  auch  die  soge- 
nannten Verwandlungen  zu  tun. 

Nägeli  (221)  beschreibt  trefflich,  daß  er  häufig  allmähliche,  in  sich  einheitliche 
Verwandlungen  erlebte.  So  erschienen  zahllose  Eispyramiden,  deren  Spitzen  sich  unter 
Beibehaltung  des  Farbentons  in  Köpfe  und  Fratzen  wandelten.  Oder  der  Zipfel  der 
Bettdecke  ging  in  einen  Gipskopf  über.  Es  wiar  keine  Ablösung,  sondern  einei 
wirkliche  Verwandlung  (wie  bed  Ovid).  „Ich  kann  zwar  nicht  angeben,  wie  sich 
die  Landschaft  in  ein  Zimmer,  das  Meer  in  ein  Haus,  die  Kirche  in  eine  Person 
umwandelle,  allein  es  sind  diese  Metamorphosen  am  Ende  nicht  viel  wunderbarer 
als    diejenigen,    die    ich    wirklich    gesehen    habe."     (221,    S.    52i.) 


1  Bei  den  willkürlich  erzeugten  phantastischen  Gesichtserscheinungen  Johannes  Müllers 
(216)  und  anderer  kamen  indessen  solche  Inlialte  vor.  —  De  Schweinitz  (287  a)  führt 
einen  Kranken  an,  der  in  seinen  Gesichtsfeldlücken,  „in  the  dark  fields",  Möbel 
halluzinierte.  —  Nägeli  (221)  betont,  daß  er  imter  den  so  mannigfaltigen  Phan- 
tasmen niemals  Gegenstände  erblickte,  mit  denen-  er  sich  sonst  immer,  beschäftigte, 
nie  Mikroskope  oder  Pflanzen.  —  Josefson  (1/16)  berichtet  von  einem  Kranken,  der 
Sterne,   braune   Blätter  iind    Ringe  halluzinierte. 

^  Über  pathologische  Farbenempfindungen  siehe  auch  Hilbert  (121  und  120).  — 
Pick  (2/12)  beschreibt  die  Halluzination  von  zwei  gelben  Streifen  in  einer  bestimmten 
Entfernunsf   und    von    einer   halbkreisförmieren    Fianar    mit    Zacken   in   blendendem  Silber. 


OPTISCHE    SINNESTÄUSCHUNGEN 47 

,,Als  bosoiidcrs  eipiMilümliche  Ersclieinuiij^  iiiiilS  icli  das  licrvorliobeii,  dali  sclicxi  eirvigo 
Tapw  vor  Ausbruch  der  Kraiikliwt  mir  «lio  'l".itrt'sln.'lli;  uiiil  überhaupl  der  fjniizf  Gf.sichls- 
krcis  in  die  Luft  oder  nach  einem  liclitcii  Raum  getiommen  in  dirlit  roter  Farbe  sicli 
zeigte,  und  dali  mir  beim  Gehen  auf  ebenem  Bcnieji  aliwarls  iilirkcnd  das  Gefüld  wunle, 
als  ob  sich  *ier  lioden  bewegend  nacl»  vorn  neigo,  aufwärts  oder  geradeaus  blickend  das 
Gefüld  wurde,  als  ob  der  Weg  unter  den  Füßen  steige  luid  über  Treppen  hinwegführe. 
Püisonen  gesehen  kamen  mir  alle  grölier  als  in  Wirklichkeit  befindlich  vor."  (Fall 
Freitag,    Psjchiatr.    Klinik    Heidelberg,    i8.    III.    la.) 

^  or  den  .\ugen  fliegen  feurigo  Kugeln  und  alle  Gegenstände  scheinen  sich  hin  und  her 
zu  bewegen.  —  Auf  einmal  habe  sie  Blumen  i/i  die  Hand  bekommen  —  in  der  Mitto  so 
schön   rosa,   wie   man's   sonst  nicht  sieht,   die   andern    braun   und    gefleckt. 

.  .  .  Sie  war  auf  einem  schmalen  Weg  mit  Gras  bewachsen  (in  der  Tat  auf  ihr 
Bett  gesunken),  links  eine  Rotte  Menschen  und  noch  etwas,  was  sie  gar  nicht  beschreiben 
könne.  Die  Menschen  haben  ihr  gar  nicht  gefallen,  und  sie  hat  sich  so  verlassen  gefühlt. 
Da  ist  der  Heiland  aufgetaucht,  mit  dem  Kreuz  belastet.  Es  hat  eine  schöne  Zcif 
gedauert.  Auf  einmal  sei  der  Heiland  vor  ihr  gelegen.  Das  war  so  ein  licblicjlier 
Schmerz,  die  unendliche  Liebe  der  Erlösung.  Hifiter  ihm  eine  Menge  Menschen,  sie 
immer  neben  ihm.  Sie  sei  ihm  auf  den  Berg  gefolgt  und  sei  dann  seitwärts  gestanden. 
Sie  habe  wohl  das  Kreuz  gesehen,  aber  keine  Kreuzigung.  (Luise  Leber,  2.  IV.  i3., 
Psychiatr.  Klinik  Heidelberg.  —  Man  beachte,  wie  eng  sich  hier  das  Gesehene  mit 
einem  gewissen  .Milhandeln  zu  einem  Gesamterlebnis  verbindet,  das  schwer  zu  analysieren 
ist.  Der  Vergleich  mit  einem  Traumcrlebnis  liegt  naJie,  doch  handelte  es  sich  hier  nich! 
um   ein   solches.) 

Vereinzelt  sind  in  der  Literatur  auch  Zeichnungen  mitgeteilt  worden  ^ 
die  die  Halluzinanten  von  ihren  Erscheinungen  entwarfen.  Ich  lasse  hier 
ebenfalls  zwei  solcher  Bilder  folgen. 

Tafel  1  gibt  eine  „freie"  Halluzination  eines  Gesichtes,  von  einem  zeich- 
nerisch gänzhch  ungeübten  Manne  wiedergegeben. 

Tafel  2  ist  aus  einer  Schuhsohle  „herausgesehen"  und  mit  Text  begleitet. 
Dieser  Kranke  hat  zahllose  derartige  Zeichnungen  angefertigt,  die  sich  wie 
auch  das  Beispiel  von  Tafel  1  im  Besitze  der  Bildersammlung  der  Heidel- 
berger psychiatrischen  Klinik  befinden. 

Der  Autor  der  Zeichnung  der  Tafel  I  nennt  seine  Zeichnungen  von  Köpfen  „Luft- 
zeichnungen"; eigentlich  seien  es  keine  Phantasien,  sie  seien  schon  bei  Leuten  vor  .Jahr- 
hunderten gezeichnet  gewesen  und  durch  „Luftzug"  auf  ihn  übergegangen,  manchmal 
sehe  er  sie  in  der  Luft;  wenn  er  sie  dann  gezeichnet  habe,  sehe  er  sie  nicht  mehr, 
dann  entstehe  eine  andere  Luflentwicklung;  sie  stammten  aus  Luftmengen,  die  nicht 
mehr  existierten;  die  Luftzeiclinungen  seien,  wenn  sie  glückten,  wie  Luft,  würden 
durch  Luftzug  verweht  und  gingen  auf  andere  über,  die  sie  wieder  zeichneten;  er  grüble 
nichts  aus,  sondern  zeichne  das,  was  die  Luft  bei  ihm  entstehen  lasse;  das  Bild  lasse 
die  Luft  entstehen  so  ähnlich  wie  andere  Bilder  manchmal;  der  Sumpf  lasse  auch 
solche  Bilder  entstehen.  (Kr.  gesch.  Otto  Stoff,  23.  XI.  09.,  Langenhorn.  —  Man  be- 
achte   das    Durcheinandergehen    von    Eindrücken    und    ihrer    theoretischen    Verknüpfung.) 

Schon  oben  wurde  ein  Beispiel  gebracht,  bei  dem  der  Kranke  nicht  reiner 
Zuschauer  bleibt,  sondern  handelnd  in  die  halluzinierte  Situation  mit  ein- 
greift.   Hierfür  folge  noch  eine  kennzeichnende  Probe: 

,, Plötzlich  sah  ich  einen  gewaltigen  schwarzen  Mann  sich  über  mein  Bett  beugen. 
Jetzt  erfaßte  mich  eine  namenlose  jVngsl  und  Wut  zugleich.  Schnell  war  ich  aus 
dem  Bette,  ergriff  die  auf  dem  Tisch  stehende  Lampe  und  schleuderte  sie  mit  aller 
Kraft  gegen  den  vermeintlichen  Riesen.  Durch  den  Lärm  ervveckt,  eilte  mein  Logis wirt 
mit  Licht  ins  Zimmer  und  fort  war  der  ganze  Spuk.  —  Gleich  als  es  zu  dunkeln 
begann,    sah    ich    das    ganze    Haus    erleuchtet.     Ich    konnte    durch   die    Wände    das    ganze 


*■  Morgenthaler  (210)  und  Schilder  (?.79)- 


48  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Haus  überi-ehen.  Eine  Musikkapelle  spielte  wilde  Tänze.  Eine  Türkgcsellschaft,  in  den 
phantastischen  Kostümen  gekleidet,  drehte  sich  im  wilden  Reigen.  Ich  glaubte  wahr- 
zunehmen, daß  diese  ganze  Gesellschaft  mich  dabei  stets  im  Auge  hatte.  Plötzlich 
änderte  sich  die  Szene.  EHcht  vor  meinem  Bette  sah  ich  einen  Mann  von  riesigen 
Körpordimensionen  sitzen,  bekleidet  mit  einem  Schifferhemde  und  einer  Schiffermütze. 
Dieser  suchte  vergebens  seine  Schulie  auszuziehen.  .  .  .  Kaum  daß  ich  wieder  zu 
Bett  liege,  fühle  ich  mich  auf  eine  große  Heide  versetjtl.  Um  mich  herrscht  ein 
Halbdunkel,  und  ich  sehe  eine  große  schier  unermeßliche  Herde  Schafe  an  mir 
vorbeiziehen.  .  .  .  Als  ich  nun  so  weiter  wandere,  sehe  ich  plötzlich  einen  Polizisten 
mir  entgegenkommen.  Schnell  biege  ich  von  der  Straße  ab.  Als  ich  nun  den  Polizisten 
liinter  mir  rufen  hörte,  ,, halten  Sie  still,  Hebold",  setze  ich  ein  beschleunigtes  Tempo 
ein.  Wie  ich  nun  aber  laufe,  sehe  ich  plötzlich  wieder  eine  dunkle  Gestalt,  in  der  ich 
einen  anderen  Polizisten  zu  erkennen  glaube,  deutlich  vor  mir.  Schnell  kehre  ich 
wieder  um  und  laufe  zurück,  doch  schon  sehe  ich  wieder  einen  Polizisten  vor  mir. 
Kalter  Schweiß  bricht  bei  mir  aus,  und  ich  greife  in  meiner  Angst  zum  Messer. 
Mit  offenem  Messer  bin  ich  nun  vorwärts  gelaufen.  Dunkle  Gestalten  sah  ich  von 
beiden  Seiten  mich  begleiten.  .  .  .  MiKlenveile  graute  der  Morgeii,  und  ich  sah 
die  GcslaKcii  immer  weiter  zurückweichen."  (Fall  Julius  Hebold,  -.  IX.  igoS,  Psychiatr. 
Klinik    Heidelberg.; 


Bei  den  akustischen  Sinnestäuschungen  verhält  sich  vielerlei  anders 
Für  sie  hat  der  normale  Mensch  meist  ein  gutes  Vorstellungsvermögen 
wenn  er  sich  erinnert,  daß  er  im  Einschlafen  nicht  so  selten  einmal  glaubte 
angerufen  worden  zu  sein  oder  ein  bestimmtes  Geräusch  zu  hören,  was 
ihn  wieder  völlig  erweckte  (H}^nagoge  Halluzinationen^).  Die  echten  akusti- 
schen Täuschungen  können  nur  einzelne  Worte  (Zurufe,  Namen)  umfassen 
oder  lange  Schilderungen.  Die  Stimme  kann  so  deutlich  sein,  daß  sie  als 
die  eines  Mannes  oder  einer  Frau,  eines  Bekannten  usw.  erkannt  >vird,  ja 
daß  sich  über  sie  aussagen  läßt,  ob  sie  von  rechts  oder  links,  von  oben 
oder  von  unten,  von  weither  oder  aus  der  Nähe  kommt,  laut  oder  leise  ist. 
Oft  läßt  sich  die  Stimme  von  einer  wirklichen  Stimme  überhaupt  nicht 
unterscheiden,  oft  aber  hat  sie  ein  eigentümliches  Etwas,  was  sie  von  natür- 
lichen Stimmen  durchaus  abhebt.  Man  ist  nicht  selten  erstaunt  zu  erfahren, 
mit  welcher  Bestimmtheit  ein  Kranker  diese  Unterscheidungen  trifft.  Er 
vermag  vielleicht  sogar  zwei  verschiedene  Sorten  von  Stimmen  und  diese 
wiederum  von  den  natürlichen  Stimmen  zu  sondern:  z.  B.  die  Kopfstimme, 
die  Herzstimme  und  die  Älenschenstimme.  .\ber  wenn  man  ihn  dann  auf- 
fordert, zu  beschreiben,  worin  denn  diese  Unterschiede  bestehen,  so  versagt 
er  völhg.  Die  Sicherheit  seiner  Unterscheidungen  ist  irgendwie  in  ihm  er- 
fahrungsgemäß begründet,  aber  die  Sprache  gibt  ihm  keine  Mittel  an  die 
Hand,  diese  trennenden  Eigenschaften  zu  bezeichnen.  Tut  er  es  doch,  so 
greift  er  nicht  selten  zu  Wortneubildungen  (Neologismen)  und  wird  dadurch 
natürlich  nicht  wesentlich  klarer. 

Ein  Beispiel  beweist  die  Seltsamkeit  der  Unterscheidungen  verschiedener 
Stimmen  und  Sensationen  und  ihrer  Bezeichnungen 2, 


^  Hoppe    bringt    für    die    optischen    hypnagogen    Halluzinationen    zahlreiche    Beispiele 
mit    einer    unwahrscheinlichen   Theorie    ( 1 2 4  a) . 

^  Ich    verdanke    dieses    Beispiel    der    Güte    von    Herrn    Geheimrat    Tuczek. 


•l-a[\l    1 
Zelcluun.,   nach   el..er  Sinnesläusclu.ng    (ÜUo   S.oH',   Aus.Ml   Lan,.nh..n.    ...«ü»- 
Origiiialgröl'x;    i  ()  V  3o  cm. 


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Ij  tiift  dxj,  'J(/ttffl,uf*i>r:K-l(<)iU  ertOMurU umI diuiAti^ 
/tti.(/'y  l nü^uMtf  ({atijJu-tu'üu  lt. <</,"(  ^ul,  ur: itJittmfitl 
(//•  1( llt/ dU/ Miu/it du  9u(a»>At  £<nu  MvuiM  .Haihlju 

(  uUnu  Jet  .  Jih  fuJU  tüvuiaj  »td ^\(t  rr<d  datCutih 
rra(Oi  %/(/  üiti  ((ujeni<fOrt   ■^aJimitinittn  cUutitAt'H 

A./4/  'inol  ht'mitJui  ^ Herdoiu  i-(it(i>tdrt  .rr>it.tiiH  %J4a  m 


teLum  au-Hjcw/M^.  n^iJ-  nettiitiei  qtoiUJj  u^U.  JttÜiU, 


fjut^ue/tf  /Tntl  KMef^tunj  />?!ttnn  otlfe^u  //\AuM 


'IrU,    nA  ot-n  y,iX.  f<c  jM/i»  ': 


•  JtiA  .Ittr^ 


1 :  ii'^iÜ  Jetki  j3h  3fj/^ da 


yiujic&*   i'rr  aüt^ 


Zeichnung 


\<J/irdCatA.  <ln«/« 

,, ,. — .^otMift^  (LuiA  (denutuntix. 

^trii/ii-/   ivayist  ut^el  Mh  (^  'n'iinätJi'atc*  eltX~ 
■Ja^/Iu  ^hnfcfi  nt7rnfin.jt*td4tgiuAf(iiru(  iJiJui 


Tafel  II 
nach    einer  Sinnestäuschung    (Carl  Laber,    Heil-  und  Pflegeanstalt    Schwetz   in 
Westpreußen,   7.  8.   1900).     Originalgröße  /(O  X  ^^   "". 


AKüSTISCHK    SlNNESTÄUSCHrNGEN 


49 


Bezeichnungen   eines    Hall 
S  i  n  n  e  s  t  ü  u  s  c  h 


VermilÜungssprcclicii, 

Rapporlsprachc. 

\;ulisprcclicrsliiniiicii, 

Spracliziiubcr. 

Rapporlcurc, 

Maclipappcln. 

Gt'lioimspraclie, 

Gclieimslimrnon, 

Stinimcnkrawall. 


Leibesgespräch , 

Aderngespräch, 

Blutgespräch, 

Herzgespräch, 

Augengespräcli, 

Muskclgespräch, 

Blasengeschwätz. 

Gespräch    zwischen    den    Beinen, 

Gespräch    aus   der    Harnröhre, 


u  z  i  n  a  n  t  e  n    für    seine 
11  n  g  e  n, 

Kitzelgcspräch, 

Schmerzenerregendes  Ferngespräch, 

Zischgfjpräch, 

Zwirkges-präch, 

Trnunigespräch, 

Kallo    Züchligungssprache, 

V  <(hiiicgericlitssprache, 

Katliolisclies    INervengeschwätz, 

Jüdische    Schwiebussprachc, 

Ora-pro-nobis-Sprache, 

Kling-Klang-GIoriasprache. 

Gcschlcchllichcs    Gespräch, 
Rapport«  eiber, 
Hurengeplapper, 
Heiratsgeschwätz. 
Unsittliches    Gespräch, 
Kuhslallgcspräch, 
Be-Be- Gespräch, 
Großes  Onanierkonzert, 
Zigeunergespräch, 
Tödliche   Sprache. 


Die  Inhalte  der  Stimmen  sind  oft  sehr  uninteressant.  So  hört  etwa  ein 
Kranker,  daß  alle  seine  Handlungen  von  konstatierenden  Bemerkungen 
begleitet  werden:  „jetzt  zündet  er  sich  eine  Pfeife  an  —  jetzt  ißt  er  die 
Suppe"  usw.  Anderen  ist  es,  als  wenn  eine  Stimme  plötzlich  den  ganzen 
I^^benslauf  schildere.  Sie  hören  erstaunt  und  etwas  gereizt  zu:  einen  Zweck 
hat  „es"  ihrer  Meinung  nach  nicht.  Andere  chronische  Halluzinanten ' 
werden  wochen-  oder  monatelang  mit  widrigen  Schimpfworten  geplagt. 
In  den  meisten  Fällen  sind  die  Inhalte  egozentrisch,  wenn  auch  wie  erwähnt 
oft  unwichtig;  häufig  sind  sie  peinlich  oder  sogar  entsetzlich  und  Angst 
erregend.  Sehr  selten  sind  sie  nicht  egozentrisch  und  angenehm,  selten 
sind  sie  phantastisch  und  wirklichkeitsfremd.  Im  Gegensatz  zu  den  optischen 
Sinnestäuschungen  (mit  Ausnahme  der  deliranten  Gruppe)  sind  die  aku- 
stischen Halluzinationen  meist  echte  Täuschungen.  Nur  die  stark  egozen- 
trischen und  gefühlsbetonten  erwecken  den  Verdacht  auf  Pseudohalluzinationen. 

„In  den  Ohren  summt  und  braust  es  mir,  als  ob  der  schwerste  Orkan  die  Welt 
durchtobte,  und  jedes  Geräusch  höre  icli  ,als  ein  leise  geführtes  Zwiegespräch  zwischen 
mehreren  Personen.  Dann  hörte  ich  oft  den  schönsten  Gesang  oder  die  schönste  Musik 
spielen.  Zuweilen  hörte  ich  Spottlieder  singen.  Oft  hörte  ich  blutige  Schlägereien 
und  heftigen  Streit  toben.  Dann  hörte  ich  herzerschütterndes  Weinen  und  Klagen 
um    mich,   und   merkwürdig:    stets   waren  es    Frauenstimmen,   die  da   weinten.   ....... 

Als  ich  nun  so  allein,  ohne  schlafen  zu  können,  dalag,  hörte  ich  erst  junge  Mädchen, 
die  von  mir  nur  durch  eine  verschlossene  Tür  getrennt  schliefen,  durchs  Schlüsselloch 
zu  mir  sprechen  und  allerlei  sinnliche  Redensarten  führen,  aber  alles  im  Flüsterton. 
—  Später  hörte  ich  meine  Logiswirtin  drinnen  im  Hause  üher  mich  schimpfen  und 
mich  schlecht  machen.  —  Vor  der  Tür  und  dem  Fenster  standen  Männer  und  Frauen, 
beobachteten     und     bekritisierten     meine     ganzen     Bewegungen.      Welche     meinten,     jetzt 


1  Fast    nur    Schizophrene. 
4    Kafka,  Versleichende  Psychologie  III. 


50  GRUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

schläft  er,  andere  dagegen  sagten:  ,nein,  er  wacht  noch,  schade  um  diesen  Menschen", 
und  weinten  dabei  so  sehr.  —  Ein  andermal:  ,Wir  verlassen  ihn  nicht,  morgen 
früh  wollen  wir  ihm  helfen'."  (Julius  Hebold,  7.  IX.  o5,  Psychiatr.  Klinik  Heidelberg.) 
Er  hörte  in  seinem  Zimmer:  „Dem  gehört  das  Haus  angezündet,  damit  er  aufhört 
mit  dem  Pfarrhausbau."  Dies  sagten  Leute,  die  er  mit  Namen  nicht  nennen  kann,  die  am 
Haus  vorbeigingen.  Er  hörte  es  ganz  deutlich:  „Sie  genierten  sich  nicht",  sie  >varen 
ca.  20  Schritte  vom  Haus  entfernt.  Ein  andermal  hieß  os:  „Der  möchte  ich  nicht 
sein,  dem  geht's  schlecht."  ,, Jetzt  haben  wir  ihn  gerade  nicht  erwischt,  jetzt  kommen 
wir  heute  abend,  stürmen  ihm  das  Haus."  Er  'kannte  dieses  Mal  die  Stimmen  gut, 
es  waren  Joseph  Fellner,  Ludwig  Seyfried  usw.  Sie  sangen  ihm  ,,das  Todeslied".  Er 
werde  ohne  Gesang  hinausgetragen.  Später  vernahm  er  Hedwig  Braun,  sie  sagte: 
„Es  wird  docii  ohne  Blutvergießen  abgehen";  „Thomas,  geh'  'raus.*'  (Thomas  Stephan, 
Psychiatr.   Klinik  Heidelberg,   2.   XI.    12.) 

Zuweilen  kommen  die  Stimmen  ganz  deutlich  von  außen,  so  wie  man 
eben  wirkliche  Stimmen  hört  —  daher  halten  sich  viele  schizophrene 
Halluzinanten  gern  die  Ohren  zu;  die  Zurufe  haben  dann  oft  einen 
befehlenden  Charakter  (imperative  Stimmen)  — ,  zuweilen  aber  ist  den 
Kranken  unklar,  ob  jene  von  innen  oder  von  außen  kommen. 

Nacn  kurzem  hörte  sie  die  Stimme  auch  am  Tag;  sie  befahl  ihr,  sie  solle  iiirem 
Leben  ein  Ende  machen,  sie  fiele  sonst  d  urch  Mörderhand.  Sie  hatte  nun  immer  Angst, 
daß  die  Stimme  Herr  über  sie  werde,  sie  war  so,  ,,wie  wenn  man  gehorchen  muß". 
Die  Stimme  wurde  nun  immer  eindringlicher,  energischer:  ich  muß,  ich  muß,  sie  hat 
mich    förmlich     dazu    gezwungen,    ich    stand    wie    in    einem    Bann 

„Wie  wenn  die  Stimme  in  mir  wäre,  aus  mir  heraussprechen  würde  und  doch  wieder, 
als  könnte  ich  die  Stimme  von  mir  wegscheuchen."  Wenn  sie  die  Stimme  hört,  danni 
macht  sie  oft  eine  abwehrende,  wegschleudemde  Handbewegung,  wie  wenn  sie  vom  Körper 
etwas    entfernen    müßte.     (Elisabeth    Bader,    Psychiatr.    Klinik    Heidelberg,    17.  III.  21.) 

Nikolai  (22/1)  berichtet  (S.  347):  „Mein  verewigter  Freund  Moses  Mendelsohn 
hatte  sich  im  Jahre  1772  durch  zu  starke  Anstrengungen  des  Geistes  eine  Krankheit 
zugezogen,  welche  auch  voll  sonderbarer  psychologischer  Erscheinungen  war.  Hatte 
er  dann  am  Tage  lebhafte  Reden  gehört,  so  rief  ihm  Avährend  des  Anfalles  eine 
Stentorstimme  die  einzelnen,  mit  einem  hohen  Akzent  ausgesprochenen  oder  sonst  laut 
geredeten  Worte  und  Silben  wieder  einzeln  zu,  so  daß  ihm  auf  eine  sehr  unangenehme 
Art    die    Ohren    davon    gellten." 

Gewiß  kann  man  in  vielen  Fällen  einwandfrei  vom  „Gedanken  laut 
werden"  reden;  die  Kranken  geben  dann  selbst  an,  daß  ihre  eigenen 
Gedanken  nur  gleichsam  laut  in  ihnen  ertönten  oder  laut  in  ihnen  selbst 
gesprochen  würden.  Aber  in  anderen  Fällen  werden  sich  die  Psychotiker 
selbst  durchaus  nicht  darüber  klar,  ob  die  Stimmen  nur  gleichsam  gehörte 
eigene  oder  zugerufene  fremde  Gedanken  sind.  Vielleicht  ist  der  Unter- 
schied der,  daß  im  letzteren  Falle  zur  Sinnestäuschung  noch  eine  Subjekt- 
Objekt(„Ich-")störung  hinzutritt,  im  ersteren  nicht.  Manchmal  mag  aber 
auch  nur  der  Inhalt  der  Stimmen  so  absonderlich  sein,  daß  der  Kranke 
ihn  gar  nicht  als  seine  Gedanken  anerkennt,  sondern  sie  einem  unbekannten 
Etwas  zuschiebt. 

,,Am  zweiten  Abend  hat  es  angefangen,  wie  wenn  das  Hirn  selber  sprechen  täte, 
so  innerliclio  Gedanken;  es  war  bloß  so  ähnlich  wie  Sprechen,  gesprochen  hat 
niemand,  es  war  in  meinem  Kopf,  es  war  wie  gefühltes  Sprechen."  (Genoveva  Bäumler, 
5.    V.    09, •  Psycliiatr.    Klinik    Heidelberg.) 

Unter  den  Sinnestäuschungen  überwiegen  die  optischen  und  akustischen 
sehr.  Aber  es  finden  sich  natürlich  auch  seltsame  Geschmacks-  und  Geruchs- 


SINNESTÄUSCHUNGEN.    SYNASTHESIEN 51 

uschungen  ^  Auch  unangcnehtiie  Sensationen  der  Körperempfindungssphäre 
nd   hei  «gewissen  geistigen   Störungen   nicht  scdtiMi  *. 

Man  kann  hei  ihnen  nicht  innner  mit  liestinuntheit  sagen,  ol)  es  sich 
ibei  um  wirkhche  Sinnestäuschungen  handelt,  oder  ob  tiitsächhche  I'lrre- 
jngen  der  betreffenden  Nerven  oder  ihrer  Zentren  vorliegen,  die  dem 
irmalen  vSchmerz  zu  vergleichen  sind,  l'nter  der  Überschrift  der  quali- 
tiv  abnormen  l'lmp  fi  n  d  u  ngs  i  n  halte  ist  hiervon  schon  gesprochen 
orden.  Die  Kranken  selbst  begnügen  sich  meist  nicht  damit,  diese  Sensa- 
onen  des  Körpers  einfach  zu  beschreiben.  Sic  greifen  zu  Deutungen,  die 
Hin  ins  Wahnhafte  hinübergehen.  So  erzählen  sie  von  elektrischen  Ma- 
diinen,  mit  denen  sie  gequält,  von  Uöhrensystemen,  durch  die  sie  angeblasen 
erden.  Doch  gehören  diese  \Vahid)ildungen  nicht  mehr  in  diesen  Zusammen- 
ung.  Der  an  die  Sinnestäuschungen  sich  gelegentlich  anschließende  Glaube 
es  Besessenseins,  Verhextseins  wird  unter  „Ichstörung"  sogleich  noch 
esprochen  werden. 

Hier  folge  noch  eine  Probe  aus  einem  Briefe  einer  schizoplircnen  Kranken,  Augusto 
arasol,    vom    i8.    III.    20.     (Psychiatr.    Klinik    Heidelberg.) 

„Das  Wischen",  Vibrieren  morgens,  wenn  es  noch  dunkelt,  Am-Herze-Wecken,  greift 
ihr  an,  untergräbt  die  Gesundheit.  Ebenso  die  unverantwortliche  Roheit  der  Sinnes- 
iuschungen.  Sie  machen  das  schon  hier,  seit  .luni  1907,  hat  gar  keinen  Wert,  da 
:h  ja  die  Täligen  nicht  keime  und  kein  Urteil  über  die  Vorführung  habe,  nicht  über 
io  Dilder  des  Films,  noch  über  die  Alittcilungen  Tag  und  Nacht." 

Als  weiterer  „Anhang"  an  das  Kapitel  von  den  qualitativ  abnormen  Vor- 
tellungen  sei  noch  des  Phänomens  der  Synästhesien  gedacht,  über 
essen  .Abnormität  man  freilich  streiten  kann.  Es  gibt  zahlreiche  Menschen, 
ie,  ohne  sonst  abnorm  zu  sein,  zugleich  mit  dem  Erlebnis  eines  bestimmten 
inneseindrucks  die  Erinnerung  an  einen  bestimmten  Inhalt  aus  anderem 
innesgebiet  haben.  Gerüche  zeigen  sich  mit  Farben,  Farben  mit  Tönen 
sw.,  oft  nur  gewohnheitsmäfjig,  oft  aber  auch  zwangsläufig  vereint.  Zuweilen 
edient  sich  der  Betroffene  absichtlich  dieser  seiner  Eigentümlichkeit,  um 
ein  Gedächtnis  zu  verbessern  (assoziative  Hilfen),  zuweilen  aber  leidet  er 
uch  ernstlich  unter  dem  Zwang  der  sich  aufdrängenden  Mitempfindungen 
bzw.  Vorstellungen).  Man  spricht  auch  von  Synopsien,  Audition  coloree, 
^hromatismen  *.     Auch    die    Verbindung   von    Vorstellungen    anschaulicher 

^  Vgl.    z.    B.    Sander    (27S)    imd    Lockemann    (i85). 

'^  Besonders  bei  der  Schizophrenie.  Hier  finden  sich  auch  die  Erlebnisse  .vollkommen 
lalluzinierten  Geschlechtsverkehrs.  In  solch  einem  Augenblicke  nimmt  die  Kranke  oft  ganz 
aturalistisch  die  Koitusstellung  ein,  sie  wehrt  sich,  windet  sich,  erleidet  und  spiegelt 
ri  ihrem  Gesichtsausdruck  die  entsprechende  Mischung  aus  Wollust  und  Schmerz. 
^uch  aus  den  großen  Besessenheilsepidemien  der  Nonnenklöster  sind  solche  Symptome  wohl 
)ekannt,  sie  werden  z.  B.  hei  der  Urheberin  der  Epidemie  im  Nazarelhkloster  tu  Köln 
iG.  Jahrh.)  genau  beschrieben.  Schon  eine  der  ersten  Klostermassenpsychosen,  die  des 
irigilfenkloslers  in  Xanthen  (i55o)  und  später  die  der  Ursulinerinnen  in  Loudun 
i63i  —  i63/i)  hatten  sexuelle  Halluzinationen  als  Hauptsymptom  (ßaelz,  7).  Andere 
3ese.ssenheiten   von   Massen  (Morzines,    1861)  waren  ga:iz   frei   hiervon. 

3  Vgl.  G.  E.  Müller  (2i5,  II.  407,  III.  181 — 209),  Lemailre  (172),  Laures  (169), 
Elossigneux  (271),  ferner  Z.  f.  Psychologie,  67,  1910,  S.  38/j  und  die  Literaturangaben 
n   Steins   differentieller  Psychologie. 


52  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Schemata  mit  unanschaulich  gedanklichen  Inhalten  gehört  hierher 
(Diagramme),  z.  B.  wenn  jemand  die  Geschichtszahlen  eines  Feldzuges 
im  Geiste  stets  auf  bestimmte  Punkte  der  Landkarte  projiziert  ^  Auch 
diese  Diagramme  können  sich  gelegentüch  in  peinlicher  Weise  aufdrängen, 
so  daß  der  Ergriffene  ihrer  nicht  mehr  Herr  wird. 


Oben  war  davon  die  Rede,  daß  die  \V  i  1 1  e  n  s  s  p  h  ä  r  c  in  dem  Sinne 
abnorm  sein  kann,  daß  die  Zahl  und  die  Durchführung  der  Impulse 
irgendwie  quantitativ  verändert  ist.  Hier  soll  ihre  qualitative  Abnormität 
besprochen  werden.  Die  Frage  taucht  auf,  ob  es  denn  neben  dem  Entschluß 
zu  einer  Handlung  und  ihrer  Durchführung  noch  eine  besondere  Qualität 
gibt,  die  abnorm  sein  kann.  Man  würde  vielleicht  gar  nicht  auf  den  Ge- 
danken kommen,  daß  hier  noch  eine  besondere  Eigenschaft  des  Willens 
vorhanden  und  zu  beachten  sei,  wenn  man  seine  pathologischen  Abänderungen 
gar  nicht  kennen  gelernt  hätte.  Der  Psychologe  kann  sehr  wohl  von  der 
Herkunft  des  Willensaktes,  seiner  Richtung,  seinem  Richtungswechsel  u.  dgl. 
handeln  sowie  von  seiner  Gesamtverknüpfung  und  seiner  Umsetzung  in  die 
Tat:  sobald  er  aber  über  das  Willensphänomen  selbst  noch  Näheres  mit- 
teilen will,  sieht  er  sich  auf  die  Aufforderung  beschränkt,  der  Leser  solle 
selbst  eine  Willenslage  oder  einen  Willensakt  erleben,  dann  wisse  er  außerhalb 
aller  Beschreibungen  von  selbst,  was  es  damit  für  eine  Bewandtnis  habe  -. 
Erst  durch  die  Erfahrungen  abnormer  Persönlichkeiten  wird  die  Aufmerk- 
samkeit des  Forschers  darauf  gelenkt,  welch  intensive  Beziehung  das  Willens- 
problem zu  jenem  anderen  Problemkomplex  hat,  der  als  das  Ichgefühl 
bezeichnet  wird.  Daß  mein  Wollen  mein  Wollen  ist,  erscheint  als  eine 
Selbstverständlichkeit,  und  doch  gibt  es  Fälle,  in  denen  dem  nicht  so  ist. 
Ich  will  hier  nicht  auf  die  grundsätzliche  Frage  eingehen,  inwieweit  der 
Name  des  Ichgefühls  für  jenes  Phänomen  glücklich  ist,  ich  will  ins- 
besondere hier  nicht  untersuchen,  inwiefern  denn,  wenn  im  Lippschen  Sinne 
alle  Gefühle  Ichqualitäten  seien,  nun  noch  ein  besonderes  Etwas  vorhanden 
sein  soll,  das  speziell  als  Ichgefühl  zu  bezeichnen  wäre^.  Hier  sollen  nur 
die  abnormen  Phänomene  vorgeführt  werden,  die  mit  diesem  Ichmoment 
verbunden  sind:  Die  Ich  Störungen. 

Wenn  ich  empfinde,  vorstelle,  denke,  strebe,  fühle,  so  erlebe  ich  diese 
Aktionen  als  meine  Tätigkeiten,  sei  es,  daß  ich  mir  dabei  mehr  passiv, 
sei  es,  daß  ich  mir  mehr  initiativ  vorkomme.  Aber  dieses  Ichmäßige 
kann  nun  irgendwie  gestört,  beeinträchtigt  oder  vernichtet  sein.  So 
merkwürdig  es  klingt,  so  uneinfühlbar  dies  dem  Normalen  erscheint:  es 
gibt  seelische  Tätigkeiten  meiner  Person,  die  doch  von  mu-  nicht  (oder  nicht 
voll)  als  mir  zugehörig  anerkannt  werden.  Schon  bei  der  Empfindung  läßt 
sich  das  Phänomen  aufzeigen.    Bei  dem  oben  schon  geschilderten  Erlebnis 

^  Vgl.  Müller  (2i5,  III.,  S.  72 — i8i),  Lemattre  (172),  mit  weiterer  französischer 
Literatur   und    einigen    Abbildungen. 

2  Ich  seile  von  dem  fruchtlosen  Spiel  der  Worte  ab,  Wille  mit  Wollung,  Strebung' 
«■   dgl.   umschreiben   zu   wollen. 

3  Vgl.    hierzu    Kafkas   schöne    Arbeit   (i49). 


ICHSTÖRl'NGEN  53 


der  Kn  If  rem  d  ii  iif?  der  \\  a  li  nioh  in  ungsw  ol  t  äiilj«'rt  zwar  der  |-^rkranklo, 
da(j  ihm  die  A  u  Ijo  ii  \vr  1  t  Ncräiidcrl  vorkomme,  dal'»  ihm  (he  l'arbeii,  I'ormeii 
ii^w.  der  Dinge  merkwürthg  fremd  erscheinen,  aber  er  Ijeziehl  das  abnorme 
l'j-lebnis  doch  auch  schon  auf  sich  selbst:  Es  käme  ihm  alles  so  fremd 
vor,  als  ginge  es  ihn  nichts  an,  als  sei  er  gar  nicht  beteiligt  usw. 

Nach  oinoni  schworen  Scliäilcllraum.1  glaul)t  ein  Voricfzier,  sein«  eigenen  Kleider  usw. 
gehörten  dein  Apotheker  G.:  Er  ,,Iiat  seine  Sachen  den  meinen  genau  naclibilden 
lassen:  es  hat  so  den  Anschein,  als  sei  ich  in  meiner  Heimat.  Es  ist  aber  nicht  der 
Fall;  l>oi  einer  guten  Portion  Idealismus  kann  man  sich  solches  einbilden."  (Roscn- 
bcrg,    369.) 

Man  verwechsle  die  Entfremdung  nicht  mit  dem  Tatbestand,  daß  einem 
Kranken  plötzlicli  einmal  alles  verändert,  bedeutungsvoll  usw.  vorkommt: 
dies  gehört  in  die  wahnhaften  l*hänomene  des  Schizophrenen ^  Das 
Symptom  der  Ichstörung  sondert  sich  alsbald  in  zwei  Arten.  Zu  der  ersten 
Art  führt  der  \\  eg  von  der  Entfremdung  der  Wahrnehnmngswelt,  also  vom 
Empfinden  aus:  Es  ist  das  Erlebnis  der  gesp  alten en  Persönlichkeit,  des 
Doppelichs  (Depersonalisation).  Die  zweite  Art  stellt  sich  bei  der  Ich- 
Störung  des  Denkens  heraus:  es  ist  das  Erlebnis  des  Unterlegenseins  unter 
eine  andere  Macht,  das  Ge  danken  machen,  Gedanken  ab  ziehen. 
Man  würde  das  letztere  Phänomen  am  treffendsten  als  Willensunfreiheit 
bezeichnen,  wenn  dieser  Ausdruck  nicht  schon  allzusehr  philosophisch  be- 
schwert und  populär-psychologisch  abgeschliffen  wäre.  Um  einen  einheit- 
lichen Ausdruck  zur  Hand  zu  haben,  kann  man  folgen dermafjen  formulieren: 
Die  Ichstörung  setzt  sich  aus  zwei  verschiedenen  Phänomenen 
zusammen:  dem  Doppelich  und  der  Ichlähmung.  Österreich 
(229  230)  hat  über  das  Doppelich  und  verwandte  Probleme  reichhaltige 
und  verdienstvolle  .\rbeiten  veröffentlicht. 

Beim  Erlebnis  der  Depersonalisation  muß  man  eine  ganze  Reihe  recht 
verschiedenartiger  Störungen  unterscheiden,  die  meist  kritiklos  zusammen- 
geworfen werden.  Überhaupt  nicht  hierher  gehört  das  Erlebnis,  daß 
man  sich  selbst  ein  zw  eites  Mal  irgendwo  sieht  (Autoskopie), 
selten  sprechen  hört  2.  Hier  handelt  es  sich  lediglich  um  Sinnestäuschungen 
(meist  Pseudohalluzinationen  oder  gar  Träume),  bei  denen  der  zufällige 
Inhalt  der  Täuschung  man  selbst  ist,  ohne  daß  dabei  ein  grundsätzlicher 
Unterschied  von  gewöhnlichen  anderen  Halluzinationen  gegeben  ist.  Eine 
eigentliche  Ichspaltung  liegt  hier  gar  nicht  vor.  Nur  ist  der  Betroffene  von 
iliesem  Phänomen  meist  gemütlich  erregter  als  dann,  wenn  er  gleichgültigere 
Inhalte  seiner  Täuschungen  erlebt.    Hierher  gehört   das  viel  zitierte  Sesen- 


heimer  Erlebnis   Goethes,  dessen   prophetische  Ausdeutung   wohl  auf  einer 
späteren  Erinnerungsverfälschung  beruht  (Jubiläumsausgabe  24,  S.  64). 

,,Nun   ritt  ich  auf  dem   Fußpfade  gegen   Drusenheim,   und   da  überfiel    micli  eine  der 
sonderbarsten    Ahnungen.     Ich    sah    nämlich,    nicht    mit    den    Augen    des    Leibes,    sondern; 


^  Schilder  (281)  ist  in  seinen  Unterscheidungen  nicht  sorgsam  genug.  Spechts  (299) 
Pathologie  des  Realitätsbewußtseins  (ein  Fall  mit  einer  heimwehartigen  Verstimmung) 
gehört   wohl    zur   Entfremdung. 

-  Über  die  Tendenz,  sich  selbst  erinnerungsmäßig  in  einer  Situation  zu  sehen. 
A'gl.  auch  G.  E.  Müller  (210,  II,  S.  36o),  femer  V.  und  C.  Henry  i'ii'i)  und 
Rusk    (276). 


54  GRUHLK:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEiX 

des  Geistes,  mich  mir  selbst,  denselben  Weg,  zu  Pferde  wieder  entgegenkommen  und 
zwar  in  einem  Kleide,  wie  ich  es  nie  getragen:  es  war  hechtgrau  mit  etwas  Gold. 
Sobald  ich  mich  aus  diesem  Traume  aufschüttelte,  war  die  Gestalt  ganz  hinweg. 
Sonderbar  ist  es  jedoch,  daß  ich  nach  aclit  Jahren  in  dem  Kleide,  das  mir  geträumt 
halte,  und  das  ich  nicht  aus  Wahl,  sondern  aus  Zufall  gerade  trug,  mich  auf  demselben 
Wege    fand,    um    Friedrikon    noch    einmal    zu    besuchen." 

Johannes  Müller  (216)  beschreibt  S.  79  eine  noch  eigenartigere  phan- 
tastische Gesichtserscheinung  der  eigenen  Person: 

,,Prof.  X.  kam  nach  einer  seiir  lebhaften  Lnteriialtung  über  wissenschaftliche  Gegen- 
stände nüchtern  und  sehr  hungrig  nach  Hause.  Der  Weg  führte  vom  Lande  ül)er  eine 
baumreichc  Wiese  nach  deir  S|tadt.  Plötzlich  sieht  er  in  einiger  Entfernung  sich 
selbst  in  zwölf  bis  fünfzehn  Exemplaren  lauf  der  Wiese  umherwandeln.  Die  Figxuren 
waren  aus  verschiedenem  Alter  des  Beobachters  und  trugen  die  sonst  fast  vergessenen 
Kleider  verschiedener  Zeiten  in  mancherlei  Farben.  Die  Gestalton  einer  und  derselben 
Person  gingen  gleichgültig  durcheinander  auf  der  Wiese.  Es  bedurfte  nur  der  An- 
strengung des  Gesichtssinnes,  der  Aufmerksamkeit  und  der  Erinnerung,  daß  die  Selbst- 
erscheinung eine  Halluzination  sei,  um  die  ganze  Gruppe  sogleich  zu  verscheuchen. 
Lichtllecke   blieben   nicht    übrig." 

Gewisse  Beziehungen  zum  eigenthchen  Doppelgängererlebnis  hat  ein 
Beispiel  Justinus  Kerners. 

„Als  ich  am  28.  Mai  1827  .  .  .  bei  ihr  allein  im  Zimmer  war  .  .  .  sah  sie  sich 
auf  einmal  selbst  (wie  sie  mir  nachher  erzählte)  in  einem  -".veißen  Kleide,  das  sie  nicht 
anhatte,  aber  so  eines  besitzt,  auf  dem  von  ihr  gerade  gegenüberstehenden  Stulile 
sitzen.  Sie  wollte  schreien,  konnte  aber  nicht,  konnte  sich  aber  auch  nicht  bewegen. 
Sie  hatte  ihre  Augen  weit  aufgerissen,  sah  aber  sonst  keinen  Gegenstand,  als  sich  und 
den  Stuhl,  worauf  sie  saß  .  .  .  Das  Bild  -stand  nun  auf  und  lief  auf  sie  zu,  und 
erst  als  es  fest  an  ihr  war,  fuhr  durch  ihren  Körper  wie  eine  elektrische  Erschütterung, 
die  ich  sah,  und  nach  dieser  tat  sie  einen  Schrei,  und  erzählte  mir  nun,  daß  und  wie 
sie   sich  selbst  gesehen."     (Aus  Justinus   Kerners:    Seherin   von   Prevorst,   S.    i38    [i5o]). 

Selbstverständhch  hat  jedes  solche  Erlebnis  (Halluzination  mit  dem 
Inhalt  der  eigenen  Person)  verschiedene  Nuancen,  doch  sollen  hier  keine 
weiteren  Beispiele  gehäuft  werden. 

In  den  Arbeiten  von  Hennig  (na),  Blnet  (aS),  Flournoy  (66,  68,  69),  ßaelz  (7), 
Österreich  (280,  228,  229,  226),  Lemaitre  (172),  SoUier  (298),  Dugas  (55a)  und  anderen 
findet  man  zahlreiche  Einzelheiten    geschildert. 

Es  sei  hier  weiter  jener  Fälle  gedacht,  die  nur  in  entferntem  Zusammen- 
hang mit  der  Ichstörung  stehen,  bei  denen  zwar  stets  ein  vollkommea 
klares  und  einheitliches  Ichgefühl  vorhanden  ist,  bei  denen  aber  ein  Nach- 
einander zweier  gleichsam  verschiedener  Personen  in  einer  beobachtet 
wird''.  Beide  Personen  wissen  nichts  oder  nur  äußerst  Ungewisses  von 
einander,  so  dafS  die  Verdoppelung  bis  Verfünffachung  der  Persönlichkeit 
eigentlich  nur  für  den  Beschauer  vorhanden  ist^. 

So  berichtet  etwa  Naef  (220)  von  einem  Herrn,  der  in  Zürich  aus  der  Zeitung 
erfährt,  daß  er  selbst  erstaunlichervveise  vor  Wochen  aus  seinem  australischen  Wohnort 
spurlos    verschwunden    sei.     James    (i3i)    erzählt    von    einem    Wanderprediger,    der    am 


^  Beim     Kapitel    der    Motivzusammenliänge     ^^i^d    hiervon     nochmals     die    Rede    sein. 

"  Es  ist  mir  kein  Versuch  bekannt  geworden,  in  der  Hypnose  die  beiden  Persönlich- 
keiten sich  miteinander  auseinandersetzen  zu  lassen.  Im  Gegenteil,  besonders  die 
französischen  Forscher,  die  diesen  Gegenstand  sehr  lieben,  haben  durch  ihre  Fragen 
diese  ,, Spaltung"  meist  noch  mehr  gezüchtet.  Es  handelt  sich  ganz  vorwiegexul  um 
ärztliche    Kunstprodukte. 


DOPPELICH  55 


17.  Januar  1887  aus  seinem  Woluiort  verschwand  und  darauf  unter  ganz  anderem  iSamen 
in  einer  aiideren  Provinz  zwei  Monate  lang  einen  kleinen  Kramladen  führlo;  er  besorgte 
auch  alle  für  sein  Geschäft  nöligon  Einkäufe,  bis  er  am  i^.  März  oiine  jodo  Erw 
iniierung  an  das  Vergangene  plötzlich  erwachte  und  nach  Hause  zurückkehrte.  — 
Seit  Charco!  ist  die  psychiatrische  Fachliteratur  voll  von  solchen  Fällen  alternierenden 
Bewußtseins.  Bei  Hennig  (112),  Dessoir  {^~},  Bertrand  (31),  Flournoy  (60,  08,  69), 
Janet  (i3'i.  io3,  137  a),  findet  man  ältere  und  neuere  Beispiele.  Meist  gehe«  sie  unter 
dem    Namen    dos    Dämmerzustandes.     Doch    sollte  diese    Bezeichnung    für   jene    Fälle    mit 

g'tn-iiiite!i    Erinnerungsketten    vorbelialten    bleiben    (mit    Amnesie).     Hier    folge    noch  ein 
eispiel    für    einen    solchen     Dämmerzustand,    bei    dem    die    zwei    Persönlichkeiten,    die 
einander    abwechseln,    der    Art    nach    nicht    verschieden    sind. 

..Ein  Seiler,  ein  wirklicher  Nachtwandler  bei  Tage,  von  aS  Jahren,  eiji  Manu 
von  melancholischem  Temperament,  hatte  seit  dritthalb  Jahren  folgende  Beschwerung: 
Es  überfiel  ihn  vielmals  am  hellen  Tage  ein  Schlaf  mitten  unter  seiner  Hantierung, 
es  sei  im  Sitzen,  Stehen  oder  Gehen.  Wenn  ihn  der  Paroxismus  ankam,  zog  er 
ihm  etliche  Male  die  Stirn  und  Augen  zusammen,  bis  sich  diese  fest  zuschlössen. 
Wenn  ihn  der  Schlaf  im  Gehen  über  Land  befällt,  so  bleibt  er  nicht  stehen,  sondern 
läuft  weiter,  fast  geschwinder  als  wachend,  ohxie  den  rechten  Weg  zu  verfehlen  oder 
über  etwas  im  Wege  Liegendes  zu  stolpern,  wie  er  denn  mehrmals  von  Weimar  nach 
Naumburg  scldafend  gegangen  und  in  eine  Gasse  gekommen  sei,  wo  Bauholz  im 
Wege  gelesen,  worüber  er  ganz  ordentlich  wio  ein  Wachender  oline  allen  Anstoß 
gestiegen.  Er  soll  auch  Pferden  und  Wagen,  die  ihm  begegnet,  ausgewichen  und 
wieder  in  seinen  ^^  eg  gekommen  sein.  Einstmals  war  er  im  Begriff  nach  Weimar  zu 
reiten.  Ungefähr  ein  paar  Stunden  davon  überfällt  ihn  sein  Schlaf,  er  ritt  aber  fort, 
traf  den  Weg  auch  durch  ein  kleines  Holz,  ohne  das  Ge^^Lcht  vom  Geisträuch  zm 
verletzen,  ritt  dann  durch  die  lim,  tränkte  darin  sein  Pferd,  pfiff  ihm  auch  daioi, 
zog  die  Beine  in  die  Höhe,  damit  sie  nicht  naß  werden  möchten.  Passierte  hiemäclist) 
durch  etliche  Gassen  über  den  Markt,  der  eben  voller  Leute,  Buden  und  Karren  stand, 
und  das  alles  so  glücklich  und  behutsam,  daß  er,  oluie  jemand  au  beschädigen  ode'r 
sich  Schaden  zu  tun,  in  das  Haus,  in  das  er  gewollt,  gelangt.  Hier  stieg  er  ab,  banld 
sein  Pferd  an  einen  an  dem  Lade«  befindlichen  Ring,  ging  durch  den  Laden  seines 
Mitmeisters,  wo  allerlei  im  Weere  lag.  oline  es  zu  berühren,  in  die  Stube  und  nach 
einigen  gesprochenen  Worten  wieder  heraus,  mit  dem  Vorgeben,  daß  er  durchaus  auf 
die  hochfürstliche  Regierung  gehen  müsse.  Als  er  nun  dagewesen  und  an  gedachten 
Ort  wieder  zurückkam,  wachte  er  auf.  —  W'enn  der  Paroxismus  zu  Ende  gehen  wollte, 
zog  er  ihm  wie  bei  seinem  ^\n£ang  Stirn  und  Augen  zusammen.  Darauf  kam  er  zu 
sich  selber,  öffnete  die  Augen,  schämte  sich  imd  entschuldigte  sich  gegen  die  An- 
wesenden." (xMitgeteilt  aiL«  .\kten  von  1725  in  Moritz'  Magazin  zur  Erfahrungsseelen- 
kunde,   7.  Band,    I.   Stück,    S.  80,    von    1789.) 

Wie  erwähnt,  handelt  es  sich  auch  bei  diesen  Fällen  nicht  eigentlich  um 
eine  (subjektive)  Spaltung  des  Ichgefühls.  Diese  tritt  erst  ein,  wenn  der 
Betroffene  sich  im  gleichen  Augenblicke  eins  und  doppelt  erlebt, 
während  es  sich  dort  nur  um  ein  alternierendes  Bewußtsein  handelt.  Man 
hat  jenes  ganz  zutreffend  mit  dem  Raupenich  und  dem  Schmetterhngsich 
verglichen,  beide  folgen  sich  und  brauchen  gleichsam  nichts  voneinander 
zu  wissen.  Über  die  eigenthche  Bewußtseinsspaltung  als  subjektives  Phä- 
nomen orientieren  am  besten  zwei  Erzählungen  von  Baelz  (7),  S.  1043. 

,,Ein  .  .  .  etwas  neurasthenischer  russischer  Diplomat  lag  im  russisch-türkischen 
Krieg  (1878)  an  schwerem  Abdominaltyphus  darnieder.  Im  Beginn  der  Rekonvaleszenz, 
so  erzählte  er  mir,  habe  er  wiederholt  eine  seltsame  Erfahrung  gemacht.  Es  war 
ihm,  als  ob  sich  sein  Selbst  in  zwei  Teile  teilte.  Er  fühlte  deutli^ch,  wie  sich  etwa^ 
von  ihm  ablöste,  wäe  er  aus  sich  selber  heraustrat  und  sich  als  sein  eigenes  Ipji 
gegenüberstand.  Dieses  neue  Ich  war  sozusagen  sein  höherer  Teil.  Es  war  mehr  geistig, 
hatte  doch  auch  körperliche  Form.  Jedes  der  beiden  Ich  war  sich  des  sonderbaren 
Vorgangs  bewußt.  Beide  standen  im  Verkehr  und  sprachen  manchmal  miteinander. 
Nach    einigen    Minuten    verschwand    die    Halluzination    und    ließ    einen    Zustand    von    Er- 


56  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

schupfung    und    Verwirrung    zurück.     Mit    fortschreitender    Genesung    verscIiwanJcn    die 
Anfälle." 

,Ein  Freund  von  niir,  ein  et>vas  krittelig  angelegter  Mann,  iiafle  Alaluria.  AI* 
ich  ihm  Chinin  verordnen  wollte,  bat  ^er,  ihm  doch  lieber  ein  anderes  Mittel  zu 
geben,  denn  jede  Dose  Cliinin  habe  bei  ihm  einen  unheimlichen  Zustand  zur  Folge. 
Nach  eini"-en  Minuten  gehe  in  ihm  eine  Veränderung  vor.  Er  teile  sich  in  zwei. 
Die  Sache  sei  schwer  zu  beschreiben,  aber  sicher  sei,  daß  er  sich  selber  gegen- 
überstehe, und  daß  jedes  Ich  sich  seiner  bcuTjßt  sei  und  sicli  über  das  andere 
wundere,  bis  beide  den  Zustand  furchtbar  komisch  finden  und  in  große  Ileitork.iit 
ausbrechen.  Das  dauere  manchmal  eine  Stunde,  dann  verblasse  und  verschwinde  das 
andere  Ich,  aber  es  bleibe  noch  längere   Zeil  ein  unbehagliches  Gefühl   zurück." 

Hill  Tout  (122)  fühlte,  wie  er  sein  eigener  (verstorbener)  Vater  wurde,  während  er  doch 
er  selbst  blieb. 

Vgl.  ferner  Loewy  (191),  Schilder  (280),  Jastrow  (i/lA  S.  323). 

Begreiflicherweise  machen  solche  Erlebnisse  auf  den  Betroffenen  einen 
tiefen  Eindruck.  Je  nach  seiner  Verslandesentwicklung,  seiner  sozialen  und 
kulturellen  Schicht  und  je  nach  den  Anschauungen  und  der  Form  der 
Beligiosität  seiner  Zeit  wird  er  sich  mit  solchen  merkwürdigen  Phänomenen 
auseinandersetzen.  Manche  Erlebnisse  des  second  sight  bei  den  nordischen 
Völkern,  auf  den  Hebriden,  in  Lappland  usw.  gehören  hierher'. 

Man  glaubte  schon  in  der  Erscheinung  des  zweiten  Ichs  (der  Halluzina- 
tion seiner  selbst)  das  Anzeichen  des  nahen  Todes  zu  sehen  oder  legte  ihm 
sonst  eine  prophetische  Bedeutung  bei.  Und  die  abwechselnde  Herrschaft 
zweier  von  einander  anscheinend  verstandesmäßig,  gefühlsmäßig,  ja  in  Bildung 
und  Sitten  ganz  verschiedenartiger  Wesen  in  einer  Person,  legte  selbstver- 
ständlich erst  recht  dem  Laien  den  Gedanken  nahe,  daß  sich  hier  ein  fremdes, 
vielleicht  ein  „höheres"  oder  ein  teuflisches  Wesen  der  Persönlichkeit  be- 
mächtigt habe,  daß  sie  besessen  sei.  Schon  bei  allen  Sinnestäuschungen 
liegt,  wie  oben  gezeigt  wurde,  dieser  Gedanke  nahe.  Ihnen  entsprechen 
keine  Beize,  keine  Gegenstände  der  Außenwelt;  sie  müssen  also  im  Er- 
griffenen —  so  meint  man  —  ir^jendwie  künstlich  erzeu2:t  werden.  In 
dieser  Meinung  werden  die  Angehörigen  des  Halluzinanten  ja  durch  dessen 
eigene  Äußerungen  meist  noch  bestärkt;  er  deutet,  wie  der  Psychiater  es 
nennt,  seine  Sinnestäuschungen  wahnhaft  aus*.  Noch  fester  gründet  sich 
im  Psychotischen  die  Überzeugung,  von  einem  fremden  Wesen  geleitet,  be- 
herrscht zu  werden,  besessen  zu  sein,  wenn  er  nicht  nur  scheinbare  Sinnes- 
eindrücke erlebt,  denen  sein  Ich  vielleicht  noch  irgendwie  objektiv  —  be- 
obachtend, beurteilend  usw.  —  gegenübersteht,  sondern  wenn  das  Ich  selbst 
vergewaltigt  wird.  Und  damit  ist  die  zweite  Form  der  Ichstörung  gegeben,  die 
—  in  sich  ^^ieder  recht  vielgestaltig  —  als  Ichlähmung  zusammengefaßt 
werden  kann.  Hier  kommt  es  nicht  zu  einer  Spaltung  des  Ichgefühls, 
sondern  der  Betroffene  glaubt,  einer  fremden  Macht  zu  unterliegen.  Er 
empfindet  nicht  nur  am  Körper  Beeinflussungen,  denen  äußerlich  nichts 
Feststellbares   entspricht,   er   merkt   auch    ganz  deutlich    an    seinen  eigenen 


^  Freilicli  werden  unter  secoild  sigllt  auch  allerlei  andere  Inhalte  von  Ausnahme- 
zusländen zusammengefaßt,  in  die  sich  die  nordischen  Magier  durcli  abenteuerliclie 
Zereimonien  und  geräuschvolle  Musik  versetzten.  Vgl.  von  älterer  Literatur  Martin 
(^97)'  ^''^  Archiv  für  den  tierischen  Magnetismus  aus  dem  Anfang  des  19.  Jahr- 
hunderLs,    und    Hibbert    ([119J,    S.    i33). 

"  Vgl.    Stoffels    (oü8). 


i(:iii.\iiMr\(;  57 


(icdaiiken,  dali  dies  nicht  mehr  seine  eip;enen  (icdankcn  sind,  an  seinen 
Wünschen,  dali  sie  ihm  gegen  seinen  WiMen  eingegeben  werden,  an  seinen 
ilandhingen,  daß  man  sie  ihm  aufzwingt.  Kr  will  dies  alles  nicht  denken, 
nicht  fühlen,  nicht  wollen,  aber  er  ist  machtlos,  er  ist  seelisch  gelähmt. 
So  sehr  er  sich  dagegen  aufbäumt,  so  sehr  er  alle  seine  ICnergi«'  zusamnuMi- 
rafft:  er  ist  der  (infolgedessen  ,, höheren")  (lewalt  unterlegen.  Er  merkt  das^ 
\  orhandensein  dieser  Macht  an  zweierlei,  l-lrstens  sind  ihm  die  Inhalte 
des  Gedachten,  Gewollten  fremd.  Sic  passen  nicht  in  den  Zusammenhang 
dessen,  womit  er  sich  gerade  beschäftigte.  Sie  fallen  von  außen  her  so 
.-törend  in  die  momentane  seelische  J'^rfüUtheit  hinein,  wie  wenn  uns  der 
Anruf  eines  Fremden  aus  unseren  Gedanken  aufschreckt.  Auch  der  Gesunde 
kennt  „freisteigende  Vorstellungen",  er  kennt  Einfälle,  die  ihn  augenblick- 
lich verwundern,  die  ihn  vielleicht  sogar  stören,  deren  Zusammenhang  er 
aber  doch  stets  bei  einigem  Nachdenken  aufzudecken  vermag,  und  die  er 
als  seine  Einfälle  unbedingt  anerkennt.  Diese  gemachten  Gedanken 
aber  widersprechen  dem  ganzen  Wesen,  dem  Gharakter  des  Erkrankten, 
er  erlebt  sie  als  unbedingt  fremd  und  daher  oft  als  widrig.  Deshalb  leidet 
er  so  sehr  unter  ihnen.  Der  Kern  seiner  Persönlichkeit,  seine  „Individualität** 
(Unteilbarkeit)  ist  zerstört:  er  ist  innerlich  mit  einem  fremden  Wesen  zu- 
sammengeschmiedet. Die  Qualen,  die  solche  der  Ichlähmung  unterworfenen 
schizophrenen  Kranken  zuweilen  auszustehen  haben,  sind  unermeßlich. 
Aber  es  ist  nicht  nur  die  Fremdartigkeit  der  einzelnen  Inhalte,  die  den 
(jlauben  an  eine  höhere  Macht  herbeiführen,  sondern  es  ist  offenbar  auch 
etwas  an  der  Funktion  selbst  Haftendes.  Es  gibt  Kranke,  die  auch  irgend- 
welchen inhaltlich  unauffälligen  Gedankengängen  anmerken,  daß  es  nicht 
ihre  Gedanken  sind.  Am  Gedanken  selbst  merken  sie  den  fremden  Ein- 
fluß. Eine  Frau  will  vielleicht  ihrem  Mann  eine  Keissuppe  kochen,  und 
sie  geht  an  den  Herd  und  bereitet  eine  Bohnensuppe  zu.  Sie  merkt,  dieser 
letztere  Entschlufj  war  ihr  eingegeben.  Nicht  als  ob  sie  nicht  schon  oft 
Bohnensuppe  zubereitet  hätte,  nicht  als  ob  sie  nicht  auch  an  diesem  Tage 
hätte  Bohnensuppe  kochen  können,  aber  am  Entschluß  selbst  erkannte  sie 
den  gemachten  Gedanken  ^  Ähnlich  ist  jenes  Phänomen,  welches  die 
Kranken  selbst  oft  als  „G  e  danken  ab  ziehen"  bezeichnen-.  Das  gleicht 
nicht  dem,  wenn  dem  normalen  Menschen  einmal  ein  Gedanke  entfällt, 
oder  wenn  im  Zustande  der  Zerstreutheit  sich  die  Gedankenfäden  verwirren. 
Das  „/Vhziehen"  ist  etwas  qualitativ  Neues,  sonst  nicht  Erlebtes;  die  Gedanken 
sinken  gleichsam  nicht  passiv  dahin,  sondern  sie  werden  von  irgendwoher 
positiv  so  beeinflußt,  dafj  sie  sich  ändern,  ihren  Gharakter  als  meine 
Gedanken  einbüßen  und  dann  mir  direkt  genommen  werden.  Wieder  glauben 
die  Kranken,  einem  äußeren  Einfluß,  einer  fremden  Macht  zu  unterliegen, 
ihr  Ich  ist  in  dieser  Beziehung  gelähmt.  Aber  man  beachte,  daß  es  nur 
in  dieser  Beziehung  gelähmt  zu  sein  braucht.  Man  fasse  den  Versuch  dieser 
Beschreibung   nicht   so   auf,   als  ob  ein  solcher  Kranker  nun  völlig  seiner 


^   Pick    (2^0)    macht   auf    die  unpersönliche    Form    aufmerksam,    in    der   die    Krankea 

oft    erzählen:     ,.es"    wurde    mir  gegeben,     ,,es"    ist    mir    eingekommen,     ,,es"     jjcginnera 

sicii    mir    die    Gedanken    in    den  Kopf    zu    schreiben. 

-     Ein    Kranker    Picks    (2-I0)  erfindet    den    Ausdruck    „intellekluieren". 


58  GIIUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Selbststeuerung  beraubt  sei.  Im  Gegenteil:  meist  sind  es  nur  vereinzelte 
seelische  Rcungcn,  die  den  Charakter  des  Gemachten  haben.  Zwei  Gedanken 
laufen  (vielleicht  inhaltlich  eng  mit  einander  verbunden)  kurz  hintereinander 
daher,  und  von  dem  einen  vermag  der  Kranke  mit  Sicherheit  zu  sagen, 
daß  es  sein  Gedanke  sei,  während  der  andere  mit  ebensolcher  Sicherheit 
<ils  beeinflußt  bezeichnet  wird.  Es  kommt  freiUch  vor,  daß  der  Gedanken- 
gang eines  Schizophrenen  durch  solche  querkommende  Einflüsse  für  längere 
Zeit  so  heftig  gestört  wird,  daß  er  dadurch  gleichsam  verwirrt  wird,  nicht 
anders  als  wenn  ein  Nachdenkender  durch  irgendwelche  äußeren  Störungen 
beständig    abgelenkt   und    schließlich   ganz    durcheinander    gebracht    wird. 

Das  Vergewaltigtwerden  des  Ichs  spielt  sich  in  zwei  verschiedenen  Formen 
ab,  die  von  der  klinischen  Psychiatrie  als  die  hysterische  und  die  schizo- 
phrene Ichlähmung  auseinandergehalten  werden.  Das  Zustandekommen 
heider  ist  wahrscheinlich  völlig  verschieden,  deskriptiv  haben  sie  mancherlei 
Züge  gemein.  Auf  die  l'nterschiede  gehe  ich  später  noch  ein,  hier  sollen 
erst  einige  Beispiele  für  beide  Arten  mitgeteilt  werden. 

Für  die  hysterische  Form  diene  eine  Beschreibung  von  Baelz  (7,  S.  983): 
eine  von  einem  Fuchs  besessene  Japanerin. 

,, Während  sie  uns  mit  Tränen  in  den  Augen  ihre  Leidensgeschichte  erzählte, 
iiieklete  sich  der  Fuclis.  Zuerst  zoigteji  sich  leichte,  dann  stärkere  Zuckungen  links 
um  den  Mund  und  im  linken  Arme.  Sie  schlug  sich  mit  der  geballten  rechten 
Faust  wiederholt  heftig  auf  die  linke  Brust,  die  von  früheren  solchen  Anlässen 
her  ganz  geschwollen  und  blutrünstig  war  und  sagte  zu  mir:  .Ach.  Herr,  jetzt  regt 
er  sich  liier  wieder,  hier  in  meiner  Brust.'  Da  kam  plötzlich  aus  ihrem  Munde 
eine  fremde,  scharfe  Stimme  in  schnarrendem  Ton:  ,Ja,  freilich  bi/i  ich  da, 
imd  glaubst  du  dumme  Gans  etwa,  daß  du  mich  hindern  kannst?'  Darauf  die 
Frau  zu  uns:  .Ach  Gott,  ihr  Herren,  verzeiht,  ich  kann  gewiß  nichts  dafür!', 
dann,  sich  immer  wieder  auf  die  Brust  schlagend  und  mit  dem  linken  Gesicht 
7.uckend  zum  Fuchs:  .Sei  still,  Bestie,  schämst  du  denn  dicii  gar  nicht  vor  dieseai 
Herrn?'  Der  Fuchs:  ,Hehehe.  ich  micli  schämen?  Warum?  .So  gescheit  we 
diese  Doktoren  bin  ich  auch.  Wejin  ich  mLch  schämte,  so  wäre  es  darüber,  daß. 
ich  mir  ein  .so  albernes  Weib  zum  Wohnsitz  au.sgesuclit  habe.'  EHe  Frau  droht 
ihm.  beschwört  ihn.  ruhig  zu  sein.  Er  unterbricht  sie.  und  nach  kurzer  Zeit  ist 
er  im  Alleinbesitz  des  Denkens  und  der  Sprache.  Mit  einer  unfaßlichen  Schlagfertig- 
keit antwortet  er  auf  alle  Fragen,  hat  sofort  für  alles  eine  Erklärung  ]>ereit.  Die 
Frau  ist  jetzt  passiv  wie  ein  Automat,  versteht  offenbar  nicht  mehr  deutlich,  wbh 
man    ihr    sagt,    an    ihrer    Stelle    antwortet    immer    hämisch    der    Fuchs." 

Ferner  ein  Beispiel  aus  A.  Lehmann  (171,  S.  533)  aus  einer  Schrift  des 
beginnenden  17.  Jahrhunderts:  eine  dänische  Frau  schildert,  wie  in  ihrer 
Familie  allmählich  Besessenheit  die  einzelnen  Mitglieder  ergriff : 

,,Wir  halten  einen  kleinen  Knaben,  der  im  neunten  Jahre  stand.  Er  wurde  so 
wunderlich,  daß  wir  nicht  begreifen  konnten,  was  ihm  fehlte.  Er  sagte,  es  liefe 
immer  in  seinem  Leibe  und  stäche  ihn,  .  .  .  Als  ich  nun  ün  der  Stube  stand  und 
das  Kind  in  einem  Korbbett  lag,  wurde  das  Bett  anderthalb  Ellen  von  der  Erde 
emporgehoben  und  begann,  auf  luid  nieder  zu  springen.  Ich  lief  zu  Hans  und  rief 
ihn  herein.  Als  wir  hineinkamen,  war  der  Knabe  aus  dem  Bett  gehoben,  er  stand 
auf  dem  Kopfe,  mit  den  Beinen  in  die  Luft,  und  mit  ausgestreckteii  Armen;  und 
nur  mit  großer  Mühe  gelang  es,  daß  wir  ilin  in  das  Bett  brachten.  Von  dem  Tage 
an  sahen  wir  großen  Jammer  an  ihm.  Der  böse  Geist  lief  in  ihm  auf  und  ai) 
wie  ein  Ferkel  und  .  .  .  legte  seine  Glieder  so  fest  zusammen,  daß  vier  stämmige 
Kerle  nicht  stark  genug  waren,  um  sie  auseinanderzuziehen.  Er  krähte  wie  ein  Hahn, 
bellte  wie  ein  Hund,  führte  ihn  hinauf  auf  unsere  Balken  in  der  .Stube  und  ebenso 
auf  das  Holzlager  im  Hofe  ...  Er  zog  seine  Augen  in  den  Kopf  zurück  und 
ebenso    seine    Wanecn    und    machte    ilm    so    steif    wie    einen    Stock,    so    daß    der,    der  es 


BESESSEMU:iT  59 


lüclit  wulito,  niclit  anders  sagvn  konnlu,  als  dab  es  ein  Stück.  Holz  sei.  Wir  IioIxmi 
ihn  iMnfxu"  ^egt>n  die  Wand.  Da  stand  or  oluie  alle  Bewegungen,  wie  ein  liild 
ans  Hol/.  .  .  .  .Vhends,  wenn  wir  sänge«:  .Eine  feste  Burg  ist  unser  Gt)tt',  oder  wenn 
wir  (in  dfr  Bibel)  lasen,  wieherte  er  wie  ein  Pferd  und  spottete  darüber,  so  viel 
er   nur  konnte." 

..Vis  der  Pfarrer  ^^.Magi.ster  Niels  Gloslrupj  einmal  kam.  nm  uns  zu  besnclicn, 
.-Higlo  [i\.\>  kind)  der  .Satan  zu  iiun:  .W'eim  icii  des  großen  Mannes  wegen  dürfte, 
tlann  windo  ich  didi  s(j  t)chandeln,  daß  du  Schande  davon  hättest.  Du  betest  so  innig 
zu  dem  großen  Mann  für  dies  Kind  und  für  dies  g.inze  Haus  und  quälst  nüch  damit, 
Heule  sal.'i  ich  am  Saume  deines  Kleides,  aber  als  du  batest  für  diesen  Knaben, 
fiel  ich  hinab  und  schlug  mir  einen  Tenfelsschlag,  so  daß  ich  Schande  bekam.' 
iSlag.  iSiels  antwortete:  ,Du  Imst  genug  Schande,  du  verdammter  Geist.'  Dann  ant- 
wortete der  Satan:  ,Das  weiß  ich  selbst.'  —  ^^^g-  Niels  fragte  ihn  nun:  ,Waiui  wirst 
du,  verdammter  Geist,  diese  Wohimng  räumen,  in  welche  du  dich  hineingestohlcn  hast, 
und  dies  arme  Kind  verlassen,  das  du  Tag  und  iNacht  quälst?'  Der  böse  Geist  ant- 
wxjrlete  durch  den  Mund  des  Kindes:  .Willst  du  mich  hinaushahen?'  Darauf  ant- 
vsorlete  Mag.  ISicls:  .Der  allmächtigste  Gott  soll  dich  hinaustreiben  an  den  Ort,  der 
dir  in  dem  ewigen  Feuer  bereitet  ist.'  —  Der  Satan  antwortete:  .Wenn  der  große 
^L^nn   sagt:     Schere  dicii    fort!,  dann  muß   ich  das   Feld  räumen   usw.'" 

In  beiden  Beispielen  wird  die  vom  Geiste  ergriffene  Person  zur  Ver- 
mittlerin seiner  Äußerungen  und  Wünsche.  Sie  ist  es  zwar  wider 
Willen,  ihr  eigener  Wille  ist  irgendwie  gelähmt  und  vermag  sich  nur  zwischen- 
durch einmal  wieder  (ieltung  zu  verschaffen.  Aber  sie  ist  sich  der  Rolle 
dieser  Mittlerschaft  (Medium)  bewußt,  mag  sie  nun  dem  Geist  eines 
Fuchses  (Japan),  einer  Hyäne  (/Vbessinien),  eines  Tigers  (Indien),  eines  Rindes 
(im  Altertum),  eines  Wolfes  (Werwolf, Mittelalter)  oder  eines  Teufels,  Engels, 
Gottes  oder  Verstorbenen  zu  Äußerungen  verhelfen  (Hennig  112).  Das 
Medium  spielt  eine  Rolle,  es  spielt  sie  vielleicht  leidend  unter  Stöhnen, 
Sichkrümmen,  Schwitzen  und  zahlreichen  Ausdrucksbewegungen  ^,  aber  es 
ist  sich  dabei  bewußt,  das  Sprachorgan  eines  anderen  Wesens  zu  sein. 
Wenn  es  einen  Geist  gäbe,  der  in  einen  anderen  hineinfahren  könnte, 
um  dort  sein  Wesen  zu  treiben,  so  müßte  sich  dies  wohl  in  der  Tat  so 
abspielen,  wie  es  das  hysterische  Medium  darstellt. 

Solche  Schilderungen  hysterischer  Ichlähmungen,  von  denen  die  Literatur 
der  Religionspsvchologie  (Österreich  226  und  227,  Delacroix  44,  Heyne 
118a,  Diefenbach  48  a,  Längin  167  a,  Roskoff  269  a,  Nippold  225  a),  der 
Hysterie  (Charcot,  Janet  132—134,  137,  137  a.  Richer  265,  Einet  25, 
Mandel  194  a),  der  okkulten  Wissenschaften  voll  ist,  lassen  es  begreiflich 
erscheinen,  wie  in  den  Völkern  aller  Rassen  und  Zeiten  der  Glaube  an  die 
Besessenheit  aufwuchs-.  Sie  ließ  sich  auch  künstlich  erzeugen.  Manche 
Vergiftungen  werden  ja  noch  heute  geschätzt,  um  sich  fabelhaften  Sen- 
sationen wollüstig  hinzugeben  (Opium,  Haschisch,  Kokain,  Meskalin)^. 

1  Zu  den  Darstellungen  der  Besessenen  in  der  Kunst  vgl.  Heitz  (io6aj  und 
Charcot    (3f)b). 

2  Aus  der  Fülle  der  meist  populären  uiad  verworrenen  Schriften  zum  Okkultismus, 
die  häufig  von  offenbaren  Psvchotikern  stammen,  seien  hier  einige  ernst  zu  nehmende 
psychologisch  interessante  herausgegriffen:  Binet  (aS),  Myers  (217,  218),  von  dem  an- 
geblich das  Wort  Unterbewußtsein  stanunt,  Marillier  (196).  Jastrow  (lA/i).  Gyel  (lOO), 
Chowrin  [^o),  Aksakow  (ib),  Boirac  (29),  Sollier  (298),  Seiling  (289),  Freimark 
(76),  Österreich    (aSi),    Kotik    (160),    Tischner    (3i4    u.    3i5),    v.    Wasielewski    (323). 

3  Zu  den  Lustrauschvergiftungen  vgl.  Jastrow  (i44).  Meunier  (202a),  Moreau  (209), 
Baudelaire   (ga)   und  die   später  (unter   abnormen   Gefühlen  S.   81)   angeführte   Literatur. 


50  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Aber  auch  in  den  verschiedensten  reUgiösen  Kulten  bediente  man  sich 
allerlei  Mittel,  um  jenen  Zustand  herbeizuführen,  in  dem  „der  Geist  über 
ihn  kommt".  Sandalum,  Aloe,  Piper,  Mastix,  Krokus,  Kostus,  Sulphur 
wurden  benutzt  >,  aber  auch  Gase,  die  aus  Erdspalten  hervorquollen,  ver- 
setzten die  Priesterin  in  die  Nähe  ihres  Gottes:  das  nveOjaa  Kv^ouöiaönxöv, 
der  anlielitus  leirae  Delphis.  Auch  Fasten  und  sonstige  Askese  bereiteten 
die  Seele  auf  den  Umgang  mit  Gott  vor.  Freilich  war  es  häufig  schwierig, 
zu  erkennen,  ob  dann  die  Seele  Gott  oder  dem  Teufel  unterlag.  Jamblichos 
bemühte  sich  in  seinem  Werke  „De  Mysteriis"  die  göttlichen  von  den 
dämonischen  Besessenheiten  zu  unterscheiden  und  Kardinal  Lambertini 
(Benedikt  XIV)  führte  die  unterscheidenden  Merkmale  der  objektiv  gött- 
lichen von  den  trügerischen  oder  gar  dämonischen  im  49.  Band  des 
3.  Buches  De  servorum  Dei  beatificatione  genau  an  (Job.  Müller  216, 
S.  61)-.  Bei  den  großen  Massenepidemien,  die  besonders  in  den  links- 
rheinisch-deutschen, den  holländischen  und  französischen  Nonnenklöstern 
vom  Mittelalter  ab  immer  wieder  ausbrachen  ^  vermochten  die  Besessenen 
sogar  die  Namen  der  in  sie  gefahrenen  Teufel  zu  nennen.  Leviathan  saß 
in  der  Stirn,  Beherit  im  Magen,  Balaam  hatte  sich  in  der  zweiten  rechten 
Rippe,  Isacaron  in  der  untersten  rechten  Rippe  niedergelassen.  Noch  1861 
brach  in  Ober-Savoyen  (Morzines)  eine  Ki'ampf-,  Tanz-  und  Besessenheits- 
opidemie  aus,  bei  der  120  Personen,  besonders  Mädchen  von  9 — 15  Jahren, 
von  Dämonen  befallen  wurden^.  Wie  oben  erwähnt,  verstärkten  bei 
manchen  anderen  Epidemien  sexuelle  Halluzinationen  den  Glauben  an  die 
Besessenheit:  manches  junge  Mädchen  schwur,  mit  dem  Teufel  Beilager 
gehalten  zu  haben,  und  bestimmte  sich  dadurch  selbst  zum  Scheiter- 
haufen. In  den  Inspirationsgemeinden,  die  sich  von  1688  bis  1850 
fortlaufend  verfolgen  lassen,  ja  selbst  noch  in  der  sogenannten  Kasseler 
Bewegung  von  1905  erhielten  die  Entrückten  —  oft  unter  Tänzen  und 
Krämpfen  —  Eingebungen  ihres  Gottes  (Avertisseinenfs).  Katholische  Welt- 
anschauung lieferte  in  den  Klosterepidemien  keineswegs  allein  die  Grund- 
stimmung des  Besessenheitserlebnisses,  auch  die  verfolgten  französischen 
Protestanten  verfielen  in  der  CeAcnnen-Bewegung  in  ganz  ähnliche  Aus- 
nahmezustände (Ende  des  1 7.  Jahrhunderts).  In  der  Gegenwart  ist  es  das 
I^ben  der  Sekten,  in  deren  engerem  vertrauten  Kreis  sich  Entrücktheiten 
mit  Aufgabe  der  eigenen  Person  und  das  Ergriffenwerden  durch  „den 
Geist"  abspielen  •'•, 

Der  Spiritismus,  die  Gemeinschaftsbewegung,  die  Heilsarmee,  die  Metho- 
disten, die  Negersekten  usw.  führen  durch  allerlei  Musik,  eintönig  rhyth- 
mische  Gesänge,   Trommeln,    Händeklatschen,    ferner    durch   seltsame    Be- 


1  ..Fumigationes"   des  Pelrus  de  Abano,   Elomenta  magica.     Siehe  auch   Stoffels  (3o8). 

2  Dazu    auch    Poulain    (248a),    II,    S.    3i  —  n4,    und    Laurent    (i68a),    II,    S.    237. 
^    VgL    liierzu   die   Arbeiten    von    Richer   (265),    besonders   im   Anhang    ,, Notes   histori- 

ques",  S.  616,  ferner  Baelz  (7),  Österreich  (227,  226V  Zeitschrift  ,. Zeitgenossen", 
ab  1817  N.  F.  2,  S.  A8,  Hennig  (m).  James  (i3i).  Friedmann  (81),  Hellpach  (108), 
Calmeil    (38a). 

■*    Ahnhch    1878    in    Verzegnis    im    FriauL 

•'  tber    die    Christian    Science    vgL    z.  B.     Geiger    (86),    Hellwig    (iioV 


EMRÜCKTHEIT.  /l.NT.KNRLDEN 6£ 

leuchtungen,  Käucherungen  usw.  den  Zustand  lu'rhi'i,  in  dein  dann  der 
besontlers  Disponierte  vom  (Jott  geschlagen  wird  (^l'^rweckungen,  lirrirdLs). 
Garn  ähnhche  ICnlrücklheiten  uiul  Besesscnheilszuslände  werden  aus  den 
sonst  so  gänzhch  anders  gearlelon  Kulturkreisen  des  Ostens  beschrieben. 
Psychologisch  ist  es  dort  derselbe  \  organg.  Nur  fehlt  dort  meist  das 
Moment  der  Massensuggestion.  Viele  einzelne  Källe  von  Besessenheit  werden 
noch  heute  in  China,  Japan,  Korea,  Sibirien  beobachtet.  In  manchen  Ge- 
geiuleu  sind  ganze  l'amilien  bekaimt,  deren  einzelne  (ilieder  besonders  leicht 
vom  (leiste  belallen  werden.  \\  ie  es  im  alten  babylonischen  Reich  schon 
berufsmäßige  Beschwörer  gab  (l'^a-  und  Mardukpriester),  wie  in  Griechen- 
land die  ürpheotelesten  als  „Teufels"austreiber  im  Lande  umherzogen,  so 
gibt  es  heute  noch  geübte  Geistbeschwörer,  die  im  Herumziehen  in  Si- 
birien (Schamanen)  und  Japan  (Hoin-  und  llokkepriester)  ihr  Gewerbe  be- 
treiben (Baelz  7). 

Die  Überzeugung,  daß  das  eigene  Ich  in  der  Besessenheit  irgendwie  über- 
wältigt und  daß  wirklich  ein  fremder  Geist  in  das  menschliche  Gehäuse 
eingezogen  sei,  wird  nicht  nur  durch  die  \'ersicherungen  der  Beteiligten 
selbst  erweckt,  welche  diese  Besitzergreifung  oft  mit  vielen  Einzelheiten 
schildern,  sondern  auch  die  objektiven  Produktionen  der  Ergriffenen 
im  Ausnahmezustand  liefern  ja  hierfür  einen  „Beweis"^.  Wie  schon  oben 
erwähnt,  bedienen  sie  sich  oft  „fremder"  Worte,  d.  h.  Worte,  die  ihnen 
selbst  bisher  gar  nicht  bekannt  waren,  also  doch  auch  nicht  von  ihnen  — 
so  scheint  es  —  stammen,  sondern  nur  von  anderen  Wesen  eingegeben 
sein  konnten.  Wenn  man  Lukians  Geschichte  von  Alexandros,  dem  Lügen- 
propheten, kennenlernt,  so  stimmen  alle  Umstände  dieser  Massenpsychose 
so  getreu  mit  ähnlichen  Bewegungen  unserer  Tage  überein,  daß  man  sich 
Avundert,  nicht  auch  von  Neologismen  erzählt  zu  bekommen.  Von  der 
lallenden  und  oft  unverständlich  geheimnisvollen  Sprache  der  Ergriffenen 
in  den  Krampf-  und  Tanzepidemien  des  Mittelalters  wird  in  den  Berichten 
nicht  selten  gesprochen.  Jakob  Böhme  erfand  —  um  nur  ganz  weniges 
anzuführen  —  eine  Reihe  eigener  Worte,  die  Seherin  von  Prevorst  und 
andere  von  Kerner  (150  S.  208  und  233)  erwähnten  Somnambulen  redeten 
in  seltsamen  Sprachen,  „die  einer  orientalischen  Sprache  ähnlich  zu  sein 
schienen".  Und  die  vom  Geiste  Gottes  Ergriffenen  haben  in  den  verschie- 
densten Religionskreisen  immer  „mit  Zungen"  geredet,  d.  h.  in  einer 
von  ihnen  selbst  nicht  beherrschten,  ihnen  selbst  unheimlich  feierlich 
fremden  Art.  Man  kann  (mit  Österreich  227)  verschiedene  Formen  dieses 
yXcocJöaiq  XaXeiv  unterscheiden:  auf  der  ersten  Stufe  spricht  der  Ergriffene 
nur  in  einer  gehobenen,  gewandten  Rede  mit  gesteigerten  und  dichterischen 


1  Mit  dern  Glauben,  nur  „Gefäß"  einer  fremden  Seele  zu  sein,  hängt  natürlicli 
aucli  eng  jene  andere  Cberzeugxing  der  Metempsychose  zusammen,  in  ver- 
gangenen Zeiten  selbst  sich  schon  einmal  eines  anderen  Körpergefäßes  bedient  zu  haben. 
Dabei  glauben  manche  Anhänger  der  Seelenwanderung  nicht  etwa,  früher  schon 
einmal  auf  Erden  als  solche  gewandert  zu  sein,  die  im  Charakter  als  ähnlich 
überliefert  sind,  sondern  diese  wählen  sich  rückwärts  gewendet  meist  illustre  Persön- 
lichkeiten. (.\ndcrs  in  den  östlichen  Religionen.)  Manche  glauben  ernstlich  an  diese 
Seelenwandcrung.     andere    fassen    sie    in    freundlich    symlx>lischcm    Sinn. 

,,Acli.  du  warst  in  abgelebten  Zeiten  meine  Schwester  oder  meine  Frau."  (Goethe, 
i4.    April    1776.)     Vgl.    auch    Fischer    (62). 


g2  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Ausdrücken  in  einer  Weise,  die  seinem  normalen  Geisteszustand  gänzlich 
unan"-emessen  erscheint ^  Man  denke  etwa  an  manche  Prophezeiungen 
des  aUen  Testaments''.  Auf  der  zweiten  Stufe  kommt  es  zum  Reden  in 
fremden  Zungen,  d.  h.  in  fremden  Sprachen.  Hört  man  genau  zu,  so  handelt 
es  sich  zweifellos  um  Worte  einer  bekannten  Sprache  —  zuweilen  sind 
auch  mehrere  Sprachen  untereinander  gemischt  — ,  doch  entbehren  sie  meist 
des  lof^ischcn  Gefüges,  des  Satzbaus.  Das  Erstaunliche  dabei  ist,  daß  der 
Prophet  diese  fremde  Sprache  zu  kennen  in  seiner  gewöhnlichen  Geistes- 
verfassung glaubhaft  leugnet.  Drittens  hört  die  gläubige  Gemeinde  zuweilen 
eine  neue  Sprache,  die  selbst  vielsprachenkundige  Leute  nicht  als  diejenige 
eines  bekannten  Kulturkreises  anerkennen.  Sie  ist  wirklich  neu,  wenngleich 
das  Ohr  zuweilen  Anklänge  an  bekannte  Fremdsprachen  herauszuhören 
glaubt.  Sie  ist  objektiv  wahrhaft  sinnlos,  wenngleich  der  Ergriffene  natürlich 
ebenso  einen  Sinn  damit  verbinden  kann,  wie  der  Geisteskranke.  Denn 
auch  dieser  spricht  nicht  selten  in  einer  selbsterfundenen  Sprache,  zuweilen 
sicher,  ohne  etwas  zu  „meinen",  zuweilen  ebenso  sicher  mit  einem  be- 
stimmten Gegenstandsbewußtsein.  Vergl.  z.  B.  Äußerungen  von  Flournoys 
Medium  (66,  S.  180): 

Kesin    onitidje     basimini     meleche     tinis     toutch, 

oder 

Dode    ne    ci    haudan    te    meche      metiche 
(Dies    ist    das    Haus    des    großen    Mannes) 
astane    ke    de    me    veche 
(Astane,    den    du    hast    gesehen). 

Man  vergleiche  hiermit  die  Äußerungen  eines  erregten,  verblödeten  Epi- 
leptikers: 

„Winne  ta  winne  ta  wien  ta  ziehn, 
Wie  er  sitzen  auf  dem  hohen  Zahn. 
Tara    tara    tamineta    baff, 

Dann    werd    ich's    einem    andern    sagen    ta    baff. 
Rohn,    rohn    mein    Sohn, 
In    meinem    Sinn,    wo    ich    wohn." 
(Ludwig     Robel,     24.    Juni     1910,     Psychiatr.     Klinik,    Heidelberg.) 

Hier  sei  noch  eine  Probe  aus  der  selbstgeschaffenen  Sprache  eines  kata- 
tonischen Geisteskranken  mitgeteilt: 

Freundlich  ein  vergangen  le  komlarah  (das  heißt  nichts  weiter  als:  „Guten  Abend, 
der    Arzt.'")    —    Fall    von    Karl   Tuczek    (3i5a). 

Ich  kann  hier  nicht  näher  auf  das  Problem  der  Glossolalie  eingehen 
es  ist  ein  besonderes  Kapitel  aus  der  Religionspsychologie ^.  Ich  will  nur 
zur  Veranschaulichung    des  Ausnahmezustandes,   in  dem  sich  die  Zungen- 

1  Siehe    auch    später    unter    Hypnose. 

-  Auch  im  epileptischen  Ausnahmezustand  kommen  solche  feierlich  gehobenen 
Ansprachen  nicht  selten  vor.  Bei  diesen  handelt  es  sich  freilich  fast  niemals  um  ein 
iniialtlich  gehobenes  Niveau,  sondern  nur  um  schwülstig  feierliche,  inhaltsleere  Rede- 
wendungen, die  aber  trotzdem  und  gerade  wegen  ihrer  Unbestimmtheit  auf  gläubig 
disponierte    Zuhörer    einen    großen    Eindruck    machen    können. 

3    Vgl.    das    mehrfach   erwähnte    Buch    von    Österreich     (227)    und    die  dort   angegebene 
Literatur.     Femer    Mosiman    (212),    Hennig    (112),    Lombard    (186,    187),    Pfister    (aSg). 


ZUNGENREDEN  63 


retlncr  befinden,  zwei  l'robiMi  mitteilen:  erstens  das  altvertnuitc  Ka[)itel  2 
der  A|)i)steIi,'(>s(liiclito  (die  Frauke  der  historischen  „VVahrhcil"  steht  hier 
aulierliulb  tier   iietrachlung). 

Apostelgeschichte   Kap.  2,  5.   1      13. 

,,Und  als  der  Tag  der  Pfingsten  erfüllet  war,  waren  sie  alle  einmülhis  hey  ciiimuler. 
Und  es  geschah  schnell  ein  Brausen  vom  Himmel,  als  eines  •gewaltigen  Windes,  und 
erfülleto  das  ganze  Haus,  da  .sie  saßen.  Und  in.in  saho  an  ihnen  die  Zungen  zer- 
tlieilet,  als  wären  sie  feurig.  Und  er  setzt*?  sich  auf  einen  jeglichen  unter  ihnen; 
und  wurden  allo  voll  des  heiligen  Geistes,  und  fingen  an  zu  predigen  mit  andern  Zungen, 
nachdem  der  Geist  ihnen  gah  auszuspreciic<i.  Es  ware«i  aber  Juden  zu  Jernsaleni 
wchnend,  die  waren  gottesfürchtige  Männer,  aus  allerley  Volk,  das  unter  dem  Himmel 
ist.  Da  nun  diese  Slnnme  geschah,  kam  die  Menge  zusammen,  und  wurdeii  verslür/t; 
denn  es  hörele  ein  jeglicher,  daß  sie  mit  seiner  Sprache  redeten.  Sie  entsetzten  sich 
aber  alle,  verwunderten  sich,  und  sprachen  unter  einander:  Siehe,  sind  nicht  diese 
alle,  die  da  reden,  aus  Galiläa?  Wie  hören  wir  denn  ein  jeglicher  seine  Sprache,  darinnen 
wir  geboren  sind?  Partlier,  und  Meder,  und  Elamitor,  und  die  wir  wohnen  in 
Mesopotamien,  und  in  Judäa,  und  Cappadocien,  Pontus  und  Asien,  Phrygicn  und 
Paniphylien,  Ägypten,  und  an  den  Enden  der  Lybien  bey  Kyrene,  und  Ausländer  von 
Rum.  Juden  und  Judengenossen,  Creter  und  Araber;  wir  hören  sie  mit  unscrn  Zungen 
die  großen  Thaten  Gottes  reden.  Sie  entsetzten  sich  aber  alle,  und  wurden  irre, 
und  spraclien  einer  zu  dem  andern:  Was  wall  das  werden?  Die  andern  aber  hatten 
es    ihren    Spott,    und    sprachen:     „Sie    sind    voll    süßen    Weins." 

Ein  zweites  Beispiel  aus  unserer  Zeit  entnehme  ich  der  Einführung  in 
die  Rehgionspsychologie  von  Österreich  (227)^.  Ein  Steglitzer  Geistlicher 
Paul  beschreibt  in  Heft  109  und  110  seiner  Zeitschrift  „Die  Heiligung" 
selbsterlebtes  Zungenreden: 

„Zwischen  lO  und  ii  Uhr  war  die  Arbeit  an  meinem  Munde  so  stark,  daß  der 
Unterkiefer,  die  Zunge  und  die  Lippen  sich  zum  SprecheJi  bewegten,  ohne  daß 
ich  dies  veranlaßt  e.  Ich  war  dabei  völlig  bewußt,  ganz  still  im  Herrn,  tief 
glücklich,  und  ließ  dies  alles  geschehen,  ohne  dabei  sprechen  zu  können.  Wenn  ich 
auch  laut  zu  beten  versuchte,  so  ging  es  nicht,  denn  k  e  i  n  e  s  meiner  deutschen 
Worte  paßte  in  die  Mundstellung  hinein.  Ebensowenig  paßten 
andere  Worte  aus  einer  der  mir  bekannten  Sprachen  zu  den 
M  u  n  d  s  t  el  1  u  n  g  en,  die  an  mir  fort  und  fort  vorgingen.  Ich  sah  auf  diese  Weise, 
daß  mein  Mund  stumm  in  einer  fremden  Zunge  redete;  und  ich  erkannte,  es  müsse  mir 
jetzt  noch  gegeben  werden,  auch  entsprechend  auszusprechen.  Gegen  n  Uhr  ent- 
ließen wir  einige  von  uns,  zumal  solche,  die  jnorgens  früh  wieder  zu  arbeiten  hallen; 
und  so  blieben  außer  mir  noch  zwei  Brüder  zurück,  einer  von  ilmen  ist  Pastx)!'  H. 
Als  wir  wieder  beteten,  begann  die  Arbeit  wieder  an  meinem  Mund,  und  ich  sah,  daß 
ich  nun  die  Gabe  brauchte,  auch  Töne  den  Lippenbewegungen  zu  verleihen.  Ich 
blickte  auf  zum  Herrn,  daß  Er  es  geben  wolle:  und  bald  danach  wurde  ich  zum 
Sprechen  angeregt.  Jetzt  aber  geschah  etwas  Wunderbares.  Es  war  mir,  als  wenn 
in  meiner  Lunge  ein  Organ  sich  bildete,  welches  die  in  die  Mundstellung  passenden 
Laute  hervorbrachte.  Da  die  Mundbewegungen  sehr  schnell  waren,  mußte  dies  recht 
rasch  geschehen.  Es  war  mir,  als  wirbelten  sich  die  Töno  auf  diese  Weise  heraus. 
So  entstand  eine  wundersame  Sprache  mit  Lauten,  wie  ich  sie  nie  geredet  jiatle.  Ich 
hatte  den  Eindruck  nach  dem  Klang  derselben,  es  müsse  ,, chinesisch"  gewesen  sein. 
Danach  kam  eine  völlig  andere  Sprache  mit  ganz  anderer  Mundslellung  und  wunder- 
samen Tönen.  Da  wir  gerade  an  diesem  Tage  Missionsversammlungen  für  China  tind 
die   Südsee  hatten,  lag  es   mir  nahe,  zu  denken,  es   könnte  dies  eine  Mundart  der  Südsco 


1  Dort  finden  sich  viele  wertvolle  Beiträge  zur  Psychologie,  nicht  nur  der  Glossolalie, 
sondern  auch  der  Entrücklheit,  Ekstase  usw.  Die  Hauptquellen  für  alle  weiteren  hierher 
gehörenden  Einztilheitcn  sind  die  Werke  Flournoys  (G/j — Gg).  Ihr  Studium  macht  die 
Lektüre  «ines  großen  Teiles  der  älteren,  recht  verworrenen  Literatur  eJilbe'iilich. 
Siehe    auch    Vorbrodt    (32 1). 


^  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORiMEN 


O 


a2oL 

Fig.  I 

(Fig.  2    aus  Fiournoy  [66])    Schrift  der  Marsbewohner. 

Erster  Marstext  von  Fräulein  S.  niedergeschrieben  (gemäß  Visualhalluzinalionen) 
Natürliche  Größe.     Anbei  folgt  die  französische  Transkription : 

astane 
esenale 
pouze 
mene  simand 
ini 
mira 


INSPIRIERTE    SCHRIFT  65 


gewesen  sein.  Ich  weiß  nicht,  wie  lange  ich  so  redete.  Gewiß  wohl  einige  Minuten- 
Dann  mußte  icli  in  deutsclier  Sprache  in  IxAy  und  Anbetung  meines  Gottes  ausbrechen. 
Bei  <licsem  ganzen  Vorgang  saß  ich,  je<loch  wurde  mein  Leib  dabei  von  einer  großen 
Kraft  gi'schütt<^lt,  keineswegs  unangiiiehm  otlor  schmerzhaft,  im  Gegenteil  waltete 
in  und  über  mir  eine  stille  Ruhe,  und  d<ir  Leib,  das  irdische  G«fäß,  bebte  unter  der 
Macht  und  Majestät  des  Herrn.  Ich  selbst  konnte  nicht  anders.  Ich  mußte  nachher 
nochnials   ausrufen:     O  Jesus,   wie  schön   bist  Du!" 

Die  Zuhörer  der  Krweckungen  oder  die  Zuschauer  spiritistischer  Sitzungen 
werdtMi  in  ihrer  Gläubigkeit  natürhch  noch  gestärkt,  wenn  sie  sehen,  wie 
die  Medien  auch  \V  erke  produzieren,  die  nicht  von  ihnen,  sondern  von 
(leisterhand  stammen. 

Floumo\s  Vp.  Helene  Smith  keimte  nicht  nur  bekarmtgeben,  wie  die  Sprache 
dor  Mar.<l)ewohncr,  später  die  Üllramarssprache,  dann  die  uranische,  endlich  das 
Mondidiom  laiite^^,  sondern  sie  teilte  auch  die  Schriftzeichen  von  einem  jener 
Himmelskörper  mit  (siehe  Figur  i)  und  schrieb  außer  mit  ihrer  eigenen  Handschrift 
auch    mit   der   ihres    Geistes   Leopold.     (Siehe    Figur   2.) 

Jeanno  Marie  Bouvier  de  la  Motte-Guvon  (geboren  16/18)  schrieb  oft  ihre  Auf- 
zeichnungen   nicht    nur    ohne,    sondern    beinahe    gegen    ihren    Willen.     Sie    berichtet: 

„Dans  cette  retraite  il  me  vint  un  si  fort  mouvement  d'ecrire,  que  je  nc  pouvais  y 
r^sister.  .  .  .  Jamais  cela  ne  m'etait  arrive.  Ce  n'est  pas  que  j'eusse  rien  de  particulier 
ä  ecrire:  je  n'avais  chose  au  monde,  pas  m^me  une  idee  de  quoi  que  ce  soit. 
C'etait  un  simple  instinct,  avec  une  plenitude,  que  je  ne  jxyuvais  supporter  .  .  .  En 
prenant  la  plume  je  ne  savais  pas  le  premier  mot  de  ce  que  je  voulais  ecrire.  Je 
ine  mis  ä  ecrire  sans  savoir  comment,  et  je  trouvais  quo  cela  veuait  avec  une 
impetuosile  efrange  (Delacroix,  44,  S.  i65).  —  Gar  ceux  qui  me  voient  ecrire  savent 
bicn  que  je  le  fais  sans  aucune  etude  ou  speculation  humaine;  et  que  cela  coule  de  mon 
€»sprit  comme  un  fleuve  d'eau  coule  hors  de  sa  source;  et  que  je  no  fais  que  pretei* 
ma  main  et  mon  osprit  ä  une  aulre  puissance  que  la  mienne  (44,  S.  i58).  —  J'etaLs 
moi-memo  surprise  des  lettres  que  vous  (il  s'agit  de  Dieu)  me  faisiez  ecrire,  auxquelles 
je  n'avais  guere  de  part  que  le  mouvement  de  ma  main:  et  ce  fut  en  ce  temps-lä 
qu'il  me  fut  donne  d'ecrire  par  l'esprit  Interieur  et  non  par  mon  esprit  .  .  .  aussi 
ma  maniere  d'ecrire  fut-elle  toute  chang'ee;  et  l'on  etait  etonne  quo  j'ecrivisse  avec 
tant  de  facilile  (44,  S.  i5i).  —  L'ame  ,ne  vit  plus,  n'opere'  plus  par  elle- 
meme,    mais    Dieu   vit,    agit  et   opere"    (44.   S.    i43)^. 

Das  Medium  Flournoys  schuf  in  ihrer  Vielseitigkeit  auch  noch  andere  Werke  außer 
den  inspirierten  Schriften.  Sie  zeichnete  Marsblumen,  -tiere,  -lampen,  -landschaften, 
Ultramarsbewohner  in  ihren  Räumen  usw.  Und  alle  diese  ihr  sonst  völlig  fremden  Kennt- 
nisse und  Fähigkeiten  erhielt  sie  durch  ihren  Geist  und  Beherrscher  Leopold  (angeblich 
identisch  mit  Joseph  ßalsanio-Cagliostro).  Er  zeigt  sich  ihr  und  verdeckt  dabei  andere 
Gegenstände  der  Umgebung,  oder  er  verdrängt  mit  anderen  Visionen  die  ganze  augen- 
blickliche Situation.  Er  spricht  in  ihr  linkes  Ohr,  bald  aus  zwei  Meter  Entfernung, 
bald  von  viel  weiter.  Er  rüttelt  den  Tisch,  au:0  demi  ihre  unbewegten  Hände  ruhen. 
Kr  spricht  durch  sie  mit  rauher  Mannesstimme  in  italienischem  Tonfall.  Er  bleibt 
bisweilen  wochenlang  fort  und  gibt  sich  kund,  wenn  sie  es  am  wenigsten  envartet. 
Er  diktiert  ihr  Dichtungen,  zu  denen  sie  sonst  nicht  fähig  wäre,  er  gibt  ihr  Befehle, 
gegen    die    sie    sich    aufbäumt    (66,    S.    92). 

In  anderen  Fällen  wird  nicht  eine  bestimmte  fremde  Persönlichkeit  ge- 
nannt, der  der  Produzierende  seine  Werke  verdankt,  sondern  nur  das 
Passive,  das  Ergriffenwerden,  das  Erfülltsein  wird  betont.  Es  gibt  eine  be- 
sondere kleine  Gattung  von  Kunst,  die  unter  dem  Namen  der  mediumisti- 
schen  Kunst  insofern  einheitlich  ist,  als  die  betreffenden  Künstler  selbst 


1  Vgl.:     V.  Henry    (ii3). 

2  Delacroix'   Werk   (44)   ist   für  das    Studium   der   Entrücktheiten,  Verzücktheiten   usw. 
sehr    wichlig. 

5    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  HI. 


66 GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

%i^  tU  ^cryvt  cd)  ^(MoTVneJ    Je  //'. 


Vn 


Fig.   2 


(Fig.   I  aus  Flournoy  [65])  Doppelte  Persönlichkeit  mit  doppelter  Schrift. 

Fragment  eines  Briefes  von  Fräulein  S.  (28.  2.  1900).  Es  enthält  2^2  Zeilen  einer  anders- 
artigen Handschrift,  mitten  in  ihre  gewöhnliche  Schrift  eingeschoben.    Man  beachte  besonders 

die  Form  der  p,  r,  ss  und  d. 

die  Fähigkeit  zu  dem  Geschaffenen  bei  sich  im  gewöhnlichen  Zustand  ver- 
neinen. Selbstverständlich  sind  von  dieser  eigenartigen  Kunstausübung  treff- 
liche und  gänzlich  wertlose  Werke  geschaffen  worden^. 

Bei  der  plötzlichen  Erscheinung  einer  künstlerischen  Idee,  einer  tech- 
nischen Erfindung  oder  eines  wissenschaftlichen  Gedankens  hat  der  Nach- 
denkende nicht  selten  den  Eindruck,  als  sei  er  selbst  unbeteiligt.  Er  er- 
lebt den  betreffenden  Einfall  nicht  als  fremdartig,  erst  recht  nicht  als  auf- 
gezwungen, aber  er  fühlt  sich  dabei  passiv:  „es"  denkt  in  ihm.  Eine  Er- 
leuchtung kam  über  ihn  irgend  woher.  In  dem  Zusammenhang  dieses 
Kapitels  soll  dieses  Phänomens  nur  insofern  gedacht  werden,  als  das  Willens-, 
das  Initiativerlebnis,  das  Verbundensein  mit  dem  Ichgefühl  hierbei  häufig 
fehlt.  In  der  Breite  des  normalen  Erlebens  liegt  es  ja  als  ein  wohlbekanntes 
Verfahren,  daß  man  seine  Aufmerksamkeit  auf  irgendein  Problem  (z.  B. 
auf  eine  mathematische  Aufgabe)  fest  konzentriert.  Alle  Voraussetzungen 
der  Aufgabe  und  die  Fragestellung  selbst  sind  klar  im  Blickpunkt  des  Be- 
wußtseins  vorhanden,    eine    Lösung    zeigt    sich    im  Augenblick  nicht,  alles 


1  Vgl.    Freimark    (75),   Fleury    (63). 


INSPIRATION  67 


stockt,  alle  seelische  Energie  ist  aufs  höchste  gestaut:  da  [)lölzlicii  durch- 
bricht der  neue  Gedanke  die  Schranken,  in  einem  besonderen  (jefühl  der 
Lösung,  iler  Erleichterung,  in  einem  Moment,  den  die  neue  Denkpsycho- 
logio  gern  als  das  „Aha"-I'>lebnis  bezeichnet,  stellt  sich  die  Auflösung  des 
gedanklichen  Problems,  der  Einfall,  die  Erfindung  ein  ^  Man  hat  ja  eben 
den  besonderen  Ausdruck  „Einfall"  geprägt,  um  das  nicht  weitläufig  Abge- 
leitete sondern  plötzlich  Hereinfallende  zu  kennzeichnen.  Insofern  ist  an 
dem  lUiänomen  nichts  Absonderliches.  In  den  Fällen  dichterischer  Intuition 
oder  wissenschaftlicher  Erkenntnis  steigert  sich  aber  das  ßewufitsein,  nur 
Schauplatz  der  (bedanken,  selbst  nur  gleichsam  erleidend  zu  sein,  zuweilen 
derart,  dali  sich  allmählich  Übergänge  zu  dem  oben  besprochenen  Phänomen 
der  Depersonalisation  einstellen-. 

Ilclmholtz  sagte  in  einer  Rede  einmal  (1891,  zitiert  nach  Hennig  [11 11) : 
„Die  günstigen  Einfälle  .  .  .  schleichen  oft  ganz  still  in  den  Gedanken- 
kreis ein,  ohne  daß  man  gleich  von  Anfang  an  ihre  Bedeutung  erkennt; 
dann  hilft  später  zuweilen  nur  noch  ein  zufälliger  Umstand,  zu  erkennen, 
wann  und  unter  welchen  Umständen  sie  gekommen  sind;  sonst  sind  sie 
da,  ohne  daß  man  weiß,  woher.  In  anderen  Fällen  aber  treten  sie  plötzlich 
ein,  ohne  Anstrengung,  wie  eine  Inspiration.  Soweit  meine  Erfahrung  reicht, 
kamen  sie  nie  dem  ermüdeten  Gehirn  und  nie  am  Schreibtisch". 

Zahllos  sind  die  Zeugnisse  der  Künstler  und  Gelehrten,  die  diesen  Tat- 
bestand in  immer  neuen  Formen  wiedergeben.  Je  nach  der  Bildung,  Kultur- 
beherrschung und  dem  dichterischen  VVortvermögen  des  einzelnen  schwanken 
diese  Äußerungen  zwischen  der  nüchternen  Beschreibung  dieser  freisteigen- 
den Ideen,  für  die  sich  keine  Ableitung,  keine  Herkunft  aufzeigen  läßt,  bis 
zu  der  Schilderung  seltsam  verklärter  Zustände,  in  der  die  Erkenntnisse 
von  außen,  von  „oben"  auf  den  Ergriffenen  herabströmen. 

Ein    Ausspruch    Nietzsches    sei    noch    genannt: 

„Hat  jemand  .  .  .  einen  deutlichen  Begriff  davon,  was  Dichter  starker  Zeitalter 
Inspiration  nannten?  .  .  .  Mit  dem  geringsten  Rest  von  Aberglauben  in  sich  würde 
man  in  der  Tat  die  Vorstellung,  bloß  Inkarnation,  bloß  Mundstück,  bloß  Medium 
übermächtiger  Gewalten  zu  sein,  kaum  abzuweisen  wissen.  Der  Begriff  Offenbarung 
in  dem  Sinne,  daß  plötzlich  mit  unsäglicher  Sicherheit  und  Feinheit  etwas  sichtbar, 
hörbar  wird,  etwas,  das  einen  im  tiefsten  erschüttert  und  umwirft,  beschreibt  einfach 
den  Tatbestand.  Man  hört  —  man  sucht  nicht;  man  nimmt  —  man  fragt  nicht,  wer 
da  gibt;  wie  ein  Blitz  leuchtet  ein  Gedanke  auf,  mit  Notwendigkeit,  in  der  Form  ohno 
Zögern,  —  ich  habe  nie  eine  Wahl  gehabt  .  .  .  Alles  geschieht  im  höchsten  Grade 
unfreiwillig,  aber  wie  in  einem  Sturm  von  Freiheitsgefühl,  von  Unbedingtsein,  von 
Macht,    von   Göttlichkeit." 

Und  Otto  Ludwig  an  irgendeiner  Stelle:  „Dies  alles  in  großer  Hast,  wobei  mein 
Bewußtsein  ganz  leidend  sich  verbal  t."  —  Goethe  zu  Eckermann  (1828) : 
Der  'Mensch  „als  ein  würdig  befundenes  Gefäß  zur  Aufnahm©  eines  göttlichen 
Einflusses"  ■*. 


1  Inwiefern  solche  Erfindungen  schon  bei  Tieren  vorkommen,  dazu  vgl.  Koehlers 
Schimpansenarbeit  (i56)  und  Bühlers  Ausführungen  hierzu  (35),  sowie  dieses  Handb. 
Bd.  I.     S.     91,     126  ff. 

2  Zur  Inspiration,  Intuition  vgl.  Moebius  (2o4),  Nachmansohn   (219),  Waldslein  f322a). 

3  Vgl.    über   Goethes    Stellung   zu   diesen    und    ähnlichen    Problemen    Seiling   (289).  

Der  heilige  Dunstan  ließ  eine  im  Schlaf  in  einer  Eingebung  gehörte  Antiphonie  gleich 
nach  dem  Erwachen  samt  der  Melodie  aufzeichnen.  (Vita  Dunstani  S  29,  zitiert 
nach   Bezold   [23a].  —  Zum  Problem  dos   Dichters  siehe  auch   Hinrichsen  (338  f.). 

5* 


gg  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Von  dieser  Art  der  Ichlähmung,  die  von  den  leichten  Andeutungen  des 
Unbeteiligtseins  in  der  Inspiration  bis  zu  jener  Opferung  der  Persönlich- 
keit an  den  Dämon  gleichsam  ansteigt,  ist  jene  zweite  Form  wesensver- 
schieden, die  bei  der  schizophrenen  Geistesstörung  vorkommt.  Hier  hat  der 
Kranke  nicht  das  Bewußtsein  einer  medialen  Rolle,  er  hält  sich  nicht  für 
das  Werkzeug  eines  außerpersönlichen  Wesens  im  Sinne  einer  Mittlerschaft. 
Hier  findet  sich  auch  nichts  von  irgendeiner  Theatralik;  er  denkt  gar 
nicht  daran,  Zuschauern  etwas  mitzuteilen,  er  wüßte  auch  gar  nicht,  was 
er  mitteilen  sollte.  Er  hört  zwischendurch  vielleicht  einmal  ein  halluziniertes 
ihm  unverständliches  Wort,  und  dann  kann  man  ihn,  wenn  er  sich  unbe- 
obachtet glaubt,  einmal  leise  fragen  hören,  z.  B.  „Wie?  enzodir?"  Aber 
sonst  ist  er  still,  leidend.  Er  grübelt  vielleicht  über  den  Inhalt  der  gemachten 
Gedanken  nach,  er  sinnt  traurig  darüber,  wer  ihm  denn  nun  wiederum 
seine  Gedanken  abziehe,  wer  seine  Entschlüsse  aufhielte,  wer  ihn  beeinflusse. 
Er  ist  mit  sich  reichlich  beschäftigt.  Er  glaubt  sich  nicht  so  häufig  besessen 
von  einem  Geist,  als  gequält  von  irgendwelchen  Verfolgern,  welche  ihm 
—  vielleicht  durch  Maschinen  —  jene  Beeinflussungsqualen  bereiten. 

Um  diese  Qualen  richtig  zu  beschreiben,  bedienen  sich  die  Kranken  nun 
sehr  verschiedenartiger  Ausdrücke.  Offenbar  ist  das  ganze  Symptom  auch 
in  sich  nicht  ganz  einheitlich,  so  daß  es  nicht  nur  in  der  verschiedenen 
Darstellungsfähigkeit  der  Erkrankten  liegt,  wenn  sie  sich  recht  verschiedener 
Wendungen  bedienen, 

Schreber  (284)  spricht  von  einem  „Denkzvvang",  —  ,,eln  Ausdruck,  den  mir  die 
inneren  Stimmen  selbst  genannt  haben,  der  aber  anderen  Menschen  kaum  bekannt  sein 
wird,  weil  die  ganze  Erscheinung  außerhalb  aller  menschlichen  Erfahrung  liegt"  (S.  li'j). 
Er  werde  zu  unablässigem  Denken  genötigt,  und  zwar  durch  Strahlenwirkung,  die  von 
Tausenden  von  Seelen  auf  dem  Wege  des  Nervenanhangejs  ihn  erreichen.  „Bei  einer 
bestimmten  Gelegenheit  zogen  auf  einmal  a/io  Benediktinermönche  unter  Führung  eines 
Paters,  dessen  Name  ähnlich  wie  Starkiewiez  lautete,  als  Seelen  in  meinen  Kopf  ein.' 
(S.  Aq.)  Träume  wurden  nicht  von  seinen  eigenen  Nerven  unwillkürlich  hervorgerufen. 
Sondern  von  Strahlen  in  dieselben  hineingeworfen  (S.  67).  Die  göttlichen  Strahlen 
lasen  auch  seine  Gedanken  (S.  i37),  sie  muteten  ihm  völlige  Regungslosigkeit  zu 
(S.  ilii),  sie  verfälschten  seine  Stimmung  durch  Wunder  (S.  i44)-  Die  Wahl  seiner 
Worte  beruhte  nicht  auf  seinem  eigenen  Willen,  sondern  auf  einem  gegen  ihn  geübten 
äußeren  Einfluß  (S.  216).  Zuweilen  vnirde  automatisch  ein  Brüllzustand  veranlaßt 
(S.  /.gi). 

Staudenmaier  (3o3)  fühlte  häufig  eine  Beeinflussung  seiner  Augen  (S.  21),  auch 
seine  Hand  stand  unter  dem  merklichen  Einfluß  eines  Wesens,  die  Beine  wurden  zu 
Krämpfen  veranlaßt,  der  Gesichtsausdruck  wurde  abgeändert  (S.  28).  Eine  fremde 
Macht  war  in  ihm  bestrebt,  seine  Zunge  seitlich  hin  und'  her  zu  bewegen  oder  auch 
vorzustrecken  (S.  Sa).  Intelligente  Teilwesen,  an  einen  seitlichen  Platz  im  Organismus 
verwiesen,  erlangten  auf  die  Gemütsstimmungen  imd  auf  die  ganze  Lebens-  und 
Handlungsweise  des  bewußten  Ichs  außerordentlichen  Einfluß.  Sie  suchten  ihn  nicht 
selten  heimlich  auszufragen  und  ihm  ihre  Ideen  aufzudrängen  (S.  60).  Ganze  Ideen- 
gänge wurden  ihm  von  irgendeiner  Personifikation  suggeriert  (S.  61).  Machte  sich 
eine  solche  einmal  in  gemeingefährlicher  Weise  bemerkbar,  so  besaß  er  ihr  gegenüber 
doch    die    erforderliche    Widerstandsfähigkeit    (73). 

Ein  schizophrener  Tischler  erzählt  (Otto  Stoff,  20.  November  09,  Langenhom): 
, .Dieser  H.  besitzt  die  Fähigkeiten  zu  hypnotisieren,  und  ich  habe  eine  Zeitlang 
unter  seinem  Einfluß  gestanden.  Er  hat  wiederholt  versucht,  mir  Handlungen  auf- 
zuzwingen, die,  wenn  ich  sie  ausgeführt  hätte,  jedenfalls  schwer  bestraft  worden  wären. 
So  z.  B.  hat  er  mich  öfters  auf  die  Schutzleute  gehetzt,  ich  sollte  wiederholt  auf  der 
Straße    einzelne   niederschlagen.     Ich    wurde    jedoch    an    dnr    Ausführung   dadurch    zurück- 


GEMACHTE    GEDANKEN  69 


gehalten,  daß  ich  slcls  im  letzten  Momejil  an  meine  Braul  daclite,  was  dann  stet» 
7ur  Folge  hatte,  daß  ich  dadurch  blit/sclmell  wie  umgewandelt  war.  Das  ist  die 
Tclepathio".  —  ,,Ich  wußte  schon  alles  vorher  durch  Telepathie,  sogar  die  Godankco 
anderer  Leute,  das  wissen  auch  die  Ärzte.  Ich  habe  gewissermaßen  einen  Kontroll- 
blick 1."  —  ,, .Meine  Braut  ist  mein  guter  Leitstern,  ich  habe  an  der  Frau  eine  ganze 
Welt,  ich  stehe  ja  fortgesetzt  unter  ihrem  guten  Einfluß,  ich  kann  es  ja  in  mir 
fühlen,  wie  sie  an  mich  denkt,  sogar  kann  icii  in  mir  merken,  wenn  sie  weint."  Er 
habe  die  Denkkraft  verloren,  jetzt  verliere  •  er  das  Bewußtsein,  jetzt  müsse  er  anders 
denken,  jetzt  gehe  die  Hypnose  los.  Solange  er  Mensch  w-ar,  habe  er  anders  gedacht 
und  gegrülH?ll,  jetzt  habe  er  etwas  verloren.  Er  komme  mitunter  auf  die  QOcr  Jahre 
zurück,  unil  da  träume  er  wie  früher,  aber  nur  bis  zu  einem  gewissen  Stadium,  dann 
habe  er  wieder  Denkkraft.  Daim  liabe  er  wieder  die  iMannessprache.  In  Friedrichs- 
berg habe  er  Telepathie  tlurcii  das  Lalxjralorium  gemerkt;  wenn  er  geschlafen  habe,  seien 
die  Gespräche  durch  Telepatlue  gekommen.  Dort  habe  er  nicht  recht  essen  können, 
weil  er  von  den  liegenden  Personen  zu  stark  getrieben  worden  sei,  das  habe  ihn  so 
angestrengt. 

„Ich  hab'  so  Durchziehen  durch  den  Kopf.  So  als  wie  wenn  jemand  was  erzählt 
oder  was  von  anderen,  das  zieht  dann  bei  mir  durch  .  .  .  Daß  ich  auf  diesem 
Weg  was  mit  mir  machen  lassen  muß,  statt  mündlich  oder  schriftlich!  Daß  ich  all  die 
Sachen  vor  20  Jahren  oder  so  durch  meinen  Kopf  muß  ziehen  lassen,  daß  ich  alles 
auf  einmal  erfahr'.  Ich  hab'  nur  mit  Durchziehen  zu  tun.  Besser  kann  ich's 
nicht  au.'-drücken.  Manclmial  geht's  den  ganzen  Tag,  mal  stärker  mal  schwächer. 
Es  ist  nichts  dabei  zu  unterscheiden  von  Männer-  oder  Frauenstimmen.  Einmal  ist's 
so  durchgezogen  vom  Kaufhaus  und  vom  Massengrab  und  vom  Runlerstürzen  und 
mal  die  Nacht  durch  von  Sibirien.  Die  Worte  weiß  ich  nicht  mehr.  (?)  Es  isti 
kein  Ton  dabei,  nur  daß  es  mal  stärker  und  mal  schwächer  durchzieht.  Es  ist  wie 
wenn  w.is  erzählt  v>ird;  so  gut  man's  sonst  mit  den  Ohren  hört,  so  zieht  das  dann  durch 
den  Kopf.  Es  ist  manches  wahr,  und  manches  ist  dazu  gemacht,  um  den  Kopf  durch- 
einander zu  machen.  Manchmal  hab'  ich  gemerkt,  daß  auch  die  Gedanken  von  den 
andern  bei  mir  durchziehen.  Ich  weiß  nicht,  von  wcm's  herkommt,  wessen  Gedanken 
das  sind.  Von  mir  geht  nichts  aus,  ich  hab'  nur  Durchziehen.  Es  muß  ein  ganz 
dickes  Buch  sein,  daß  icii  durch  mich  muß  durchziehen  lassen.  Den  Kindern  wird's 
auch  durchgezogen.  Da  hab'  ich  nichts  dagegen  machen  können.  Das  ist  was  anders 
als  ■  hören,  auch  nicht  wie  nachdenken."  (Lina  Trenkel,  Psychiatr.  Klinik  Heidelberg, 
20.    Mai    191 1.) 

Neben  dem  Gedankenmachen,  dem  Gedankenbeeinflussen  oder  -durch- 
einanderbringen und  dem  Gedankenabziehen  steht  wohl  hier  auch  noch 
ein  anderes  Phänomen  an  der  richtigen  Stelle.  Manche  Kranke  glauben, 
ihre  Gedanken  gehörten  nicht  ihnen  allein;  andere  hätten  daran  teil,  ja 
die  ganze  Stadt  wisse  davon.  Solche  Überzeugungen  können  sich  selbst- 
verständlich auf  verschiedenen  Wegen  bilden:  Wenn  ein  Paranoiker  dem 
Gebaren  der  Leute  überall,  wohin  er  auch  reist,  anmerkt,  daß  sie  über 
seine  Person  orientiert  sind,  oder  wenn  ein  Halluzinant  den  Inhalten  seiner 
„Stimmen"  entnimmt,  daß  diese  schon  alles  wissen,  so  hat  dies  gewiß 
nichts  mit  einer  Ichlähmung  zu  tun.  Wenn  aber  ein  Schizophrener  an 
seinen  eigenen  Gedanken  —  ohne  Stimmen  zu  hören  —  „fühlt",  daß  sie 
Gemeingut  der  Stadt,  ja  der  Welt  sind,  so  spricht  vieles  dafür,  daß  es  hier 
eben  eine  qualitative  Veränderung  dieser  Gedankenvorgänge  selbst  ist:  sie 
gehören  ihm  nicht  mehr  allein  an,  sie  sind  ihm  irgendwie  entfremdet,  sein 
Ich   ist   nur   halb    an  ihnen   beteiligt.  Analysiert  man  die  Symptome  vieler 


^  Man  beachte  hier  die  Kombination  des  Gedanken-gemacht-Bekommens  mit  dem 
irrtümlichen  Bekanntheitscharakter.  (Siehe  oben  bei  dejä  Vll.)  —  Viele  Behauptimgeo 
über  Gedankenübertragungen  usw.  sind  auf  solche  schizophrene  Selbstzeugnisse  zurück- 
zuführen.   Vgl.    auch    hierzu    die   oben    zum    Okkultismus    angegebene    Literatur    S.    Sg). 


70       GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Schizophrener,  so  ist  man  von  der  Zugehörigkeit  dieses  Phänomens  zur 
Ichstörung  überzeugt. 

Ein  Leser,  der  den  bisherigen  Ausführungen  über  die  Pathologie  des 
Ich  aufmerksam  gefolgt  ist,  wird  nun  vielleicht  noch  die  Erörterung  der 
Zwangsvorstellungen  in  diesem  Zusammenhang  erwarten.  Ein  Kranker, 
der  soeben  wörtlich  angeführt  wurde,  sprach  ja  vom  Denkzwang.  Gehört 
nicht  auch  das  Problem  der  Zwangsvorstellungen  hierher?  Sicherlich  nicht. 
Beim  Denkzwang,  wie  Schreber  (284)  es  nennt,  muß  er  denken,  ganz  all- 
gemein, und  die  dann  entstehenden  Gedanken  sind  gemachte  oder  doch 
irgendwie  beeinflußte,  z.  B.  auf  halluzinierte  Fragen  als  Antworten  erzwungene 
Gedanken.  Die  Zwangsvorstellung  ist  nicht  von  irgendeinem  fremden  Wesen 
her  gemacht,  sie  ist  meine  eigene  Vorstellung,  wenngleich  ich  mich  ver- 
wundere, wie  ich  selbst  auf  solches  dumme  Zeug  verfalle.  Man  macht  sich 
ihr  Wesen  am  ehesten  klar,  wenn  man  sie  mit  einer  jMelodie  vergleicht, 
die  einen  schon  den  ganzen  Morgen  verfolgt.  Hierüber  siehe  dann   später. 

Wie  läßt  sich  nun  dieses  in  sich  so  verschiedenartige  hier  an  mannig- 
fachen Beispielen  anschaulich  gemachte  Symptom  der  Ichstörung  erklären? 
■ —  Aber  was  heißt  erklären?  Versteht  man  darunter  das  Zurückführen  auf 
irgendwelche  außerpsychische  Ursachen,  so  ist  eine  Erklärung  nicht  allzu 
schwer.  Alan  wird  mit  Recht  bei  der  Entfremdung  der  Wahrnehmungswelt 
z.  B.  die  Ermüdungstoffe  des  Körpers  als  Ursache  bezeichnen  können.  Man 
wird  für  manfhe  Entrücktheiten  die  eingenommenen  Gifte  verantwortlich 
machen  können,  man  wird  endlich  bei  der  schizophrenen  Geistesstörung 
annehmen  können,  daß  die  zwar  noch  nicht  nachgewiesene,  aber  mit  guten 
Gründen  angenommene  Stoffwechselstörung  die  Hauptursache  der  Erschei- 
nungen sein  wird.  Aber  dies  sind  mehr  Fragen  der  Physiologie  oder  der 
Medizin.  Versteht  man  jedoch  unter  „Erklären"  die  Einordnung  dieser 
Symptome  in  andere  wohlbekannte  Erscheinungen  des  Seelenlebens  an  wohl 
überlegter  Stelle,  so  läßt  sich  hierzu  folgendes  sagen. 

Dem  naiven  Erleben  des  normalen  Bewußtseins  erscheint  jede  seelische 
Regung  selbst^'erständlich  mit  der  Ichqualität  verbunden.  D.  h.  alle  see- 
lischen Inhalte,  die  in  das  Blickfeld  des  Bewußtseins  treten,  erhalten  in 
diesem  Augenblicke  diese  Qualität.  Gebraucht  ein  naiv  Erlebender  dennoch 
ohne  viel  Nachdenken  einmal  das  W^ort  „es",  z.  B.  es  ist  mir  eben  ein- 
gefallen, so  meint  er  damit  nur,  daß  aus  der  Fülle  der  Automatismen,  die 
sich  unbeachtet  unaufhörlich  in  ihm  abspielen,  ein  einzelnes  Element  in 
den  Blickpunkt  seiner  Aufmerksamkeit  getreten  ist,  ohne  daß  er  es  gewollt, 
erstrebt  hat.  Aber  keineswegs  will  der  Nichtreflektierende  hiermit  etwas 
Ichfremdes  kennzeichnen.  Der  Reflektierende  hat  jenes  Moment  verstärkt 
im  Sinne,  wenn  er  von  dem  „es"  spricht,  das  da  irgendwie  in  ihm  zum 
Vorschein  kommt.  Er  meint  damit  nicht  nur  das  nicht  Erstrebte,  sondern 
auch  das  nicht  Erstrebbare,  d.  h.  dasjenige,  was  sich  auch  dann  ihm  nicht 
darbieten  würde,  wenn  er  seine  Intention  nach  jener  Richtung  wendet.  Genau 
so,  wie  man  eine  Fülle  der  motorischen  Koordinationen  derart  eingeübt 
hat,  daß  sie  sich  unbeachtet  automatisch  vollziehen  (Gehen,  Sprechen  usw.), 
genau  so  gibt  es  eine  Fülle  rein  seelischer  Koordinationen,  deren  Mechanis- 
mus automatisch  abläuft.  Man  setzt  einen  solchen  Mechanismus  nicht  selten 
in  einer  bestimmten  Richtung  in  Tätigkeit,   wendet  sich  dann  von  ihm  ab 


rwviiXKCRLicin:  h.wdm.ngen ti 

urul  einer  anderen  Tätip^keit  zu,  die  man  hewiißt  betreibt,  und  nacb  einiger 
Zeit  ist  man  gleichsam  erstaunt  zu  bemerken,  dali  jener  erste  Mechanismus 
inzwischen  ein  Ergebnis  gehabt,  eine  Idee,  einen  Einfall  produziert  hat. 
An  ihm  glaube  ich  gleichsam  unbeteiligt  zu  sein,  er  ist  mir  bis  zu  einem 
gewissen  (Irad  fremd'.  Zuweilen  geschieht  es,  daß  ich  nicht  selbst  jenen 
ersten  Mechanismus  einschaltete,  dali  er  vielmehr  durch  irgendwelche  äulieren 
Eindrücke  angeregt  und  tätig  wurde;  durch  lündrückc,  die  ich  selbst  gar 
nicht  beachtete.  So  kommt  es  zu  den  freisteigenden  Vorstellungen, 
die,  von  mir  in  keiner  Weise  intendiert,  sich  plötzlich  einstellen. 

Z.  B.:  Als  ich  in  angestrengtem  Naclidenken  über  einen  religionsgesciuclitlichen 
Gegenstand  war,  stand  ganz  abrupt  plölzlicli  das  anschauliclie  Bild  einer  Straße  in 
Pegau  vor  mir.  Ich  glaube  sicher  seit  Jahrzeiintcn  an  jenes  Städtchen  nicht  gedaciit 
zu  haben,  wo  ich  zuletzt  vor  rji  Jahren  nur  einen  Tng  weilte;  es  hat  mich  auch 
niemals  sonderlich  interessiert.  Und  doch  taucht  jetzt  plötzlich  ungerufen  eine  Einzelheit 
in    mir   auf,    die    idi    mir   l>ewußt    vielleicht    kaum    hätte   zurechf    rücken    können. 

Es  ist  häufig  betont  worden,  daß  jeder  Mensch  eine  Fülle  des  Gedächtnis- 
materiales  mit  sich  herumträgt,  von  dessen  Existenz  er  nichts  mehr  weiß. 
Ja,  wenn  er  absichtlich  nach  ihm  fahndet,  so  findet  er  es  nicht.  Ein  direkter 
Zugang  zu  ihm  ist  nicht  vorhanden,  und  die  verwickelten  Umwege  zu  gehen, 
die  zu  ihm  führen,  ist  ihm  nicht  möglich,  da  er  diese  assoziativen  Bahnen 
in  ihrer  \  erknüpftheit  bewußt  nie  erlebte.  Man  kann  bei  einer  derartigen 
Erörterung  die  Vergleiche,  die  Bilder  nie  ganz  entbehren,  so  sehr  man  sie 
einzuschränken  streben  soll.  So  sei  der  Vergleich  gestattet:  es  ist  nicht 
anders,  als  wenn  man  durch  einen  Bekannten  zu  einem  Ziele  geführt  wurde. 
Im  eifrigen  Gespräch  achtete  man  des  Weges  nicht.  Und  wenn  man  später 
von  selbst  das  Ziel  wieder  energisch  sucht,  bleibt  es  verborgen,  während 
der  „Zufall"  uns  von  ungefähr  gelegentlich  wieder  dahin  bringt.  In  der  Auf- 
zeigung solcher  vergessener  Wege,  unbeachteter  assoziativer  Verknüpfungen 
längst  verloren  geglaubten  Materiales,  hat  besonders  die  Psychoanalyse 
Sigmund  Freuds  \  orzügliches  geleistet^.  Ich  wiederhole:  Zwei  Momente 
sind  an  solchen  freisteigenden  Vorstellungen  ich  fremd:  ich  habe  sie  nicht 
beachten  wollen,  ich  hätte  sie  nicht  hervorrufen  können;  ich  war  dabei 
passiv.  Aber  wenn  ich  an  das  eben  erwähnte  Beispiel  von  Pegau  denke, 
so  erkenne  ich  doch  den  sich  mir  darbietenden  Inhalt  als  meine  Erinnerung 
an:    er  war   schon  einmal   in  mir  da.    Bei    der  Intuition  ist  es  anders,   da 


^  Dies  bezieht  sich  nicht  nur  auf  Vorstellungen,  Gedanken,  sondern  ebenso  auf 
Enbchlüsse.  H.  Groß  bringt  hierzu  (sogenanntes  unwillkürliches  Handeln)  einen  guten 
Beitrag  (96):  Ein  sehr  rechtschaffener  Hufschmied  wirft  den  verhaßten  Stiefvater, 
den  er  zufällig  trifft,  als  jener  zwecks  Reinigung  tief  in  den  heißen  Backofen  gebeugt 
ist,  ,, impulsiv"  in  diesen  hinein,  so  daß  jener  verbrennt.  ,,Herr,  ich  weiß  nicht,  wie 
CS  zuging  —  eintreten,  stoßen  und  Türe  zuschlagen  war  so  rasch  geschehen,  wiei  ich 
nach  eineir  Mücko  schlage;  ich  hal>e  nicht  überlegt,  habe  nicht  gedacht,  habe 
nicht  wollen;  es  geschah  alles  von  selbst  und  erst,  aJs  ich  vor  dem  Hause  wari 
wurde  mir  klar,  was  ich  getan  habe.  Damals  war  es  aber  einerseits  schon  zu  spät, 
die  Tat  wieder  gut  zu  machen,  und  andererseits  war  »ich  vom  Schrecken  gelähmt, 
beim    besten    Willen    konnte    ich    kein    Glied    rühren." 

-  Hier  sei  nur  sein  Hauptwerk  jüngster  Zeit,  seine  , »Vorlesungen"  genannt  (79); 
über  seine  und  seiner  Schüler  und  Anhänger  Lehren  unterrichten  am  besten  die 
beiden,  nun  schon  vielbändigen  Zeitschriften  ,,Imago"  und  die  „Internationale 
Zeitschrift    für    ärztliche   Psychoanalyse". 


72  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNOR.MEN 

sind  diese  Inhalte  neu,  entbehren  der  Erinnerungsgeuißheit.  Hier  ist  das 
Ich^-efühl  also  in  einem  dritten  entscheidenden  Punkte  ausgeschaltet,  der 
Dichter  glaubt  nur  Werkzeug  eines  „Höheren"  zu  sein. 

Es  gibt  also  zweifellos  seelische  Mechanismen,  die,  sei  es  durch  das  Ich 
selbst  ursprünglich  angeregt,  sei  es  durch  irgendwelche  äußere  nicht  bemerkte 
Eindrücke  in  Tätigkeit  versetzt,  eine  gewisse  Selbständigkeit  der  Funktion 
haben.  Die  verfügbare  seelische  Energie  steht  nicht  ohne  weiteres  nur  einer 
regulierenden  Zentralinstanz  zur  Verfügung,  sondern  sie  fließt  nach  nicht 
näher  bestimmbaren  Regeln  auch  diesen  Instanzen  zweiter  Ordnung  zu.  Am 
einfachsten  entfaltet  sich  ihr  Leben  im  Traum,  da  ist  die  Zentralinstanz 
vollkommen  ausgeschaltet:  irgendwelche  „Psychismen"  (Kohnstamm  158) 
führen  ein  kurzes,  bald  sinnvolles,  bald  sinnloses  selbständiges  Dasein^.  Im 
halben  Einschlafen  vermag  man  diesem  Treiben  oft  recht  gut  zuzusehen. 
Im  Wachen  überläßt  man  sich  gern  gelegentlich  dem  Träumen,  wobei  schon 
das  Wort  die  Verwandtschaft  der  seelischen  Zustände  kennzeichnet;  man 
läßt  seine  Gedanken,  seine  Phantasie  schweifen  und  legt  ihnen  nur  eine 
lose  Fessel  auf.  Noch  immer  ist  man  dabei  passiv,  und  erst  dann  greift 
z.  B.  der  Künstler  aktiv  in  dieses  Geschehen  ein,  wenn  er  einen  der  selb- 
ständig vorüberziehenden  Einfälle  aufnimmt,  um  ihn  dann  bewußt  künst- 
lerisch zu  bearbeiten  und  zu  gestalten.  Jeder  Mensch  hat  in  verschieden 
starkem  INIaße  die  Fähigkeit,  seinen  Automatismen  Spielraum  zu  lassen  oder 
die  Inhalte  bewußt  zu  bezwingen  und  zu  ordnen-.  Das  Wiesen  der  „Auf- 
gabe" z.  B.  besteht  darin,  eine  bestimmte  Konstellation  festzuhalten,  die 
nur  bestimmten  (eben  zur  Aufgabe  passenden)  Inhalten  den  Eintritt  in  das 
Blickfeld  des  Bewußtseins  erlaubt  (determinierende  Tendenzen).  Deshalb 
kann  man  auch  mehrere  Tätigkeiten  zugleich  ausführen,  indem  man  der 
einen  Sekundärinstanz  gleichsam  eine  bestimmte  Marschorder  mitgÜDt  und 
sie  dann  sich  selbst  überläßt,  während  man  eine  zweite  Instanz  in  das 
Bewußtseinsfeld  rückt  und  damit  mit  der  Zentralinstanz  vereint.  Diese  Fähig- 
keiten kann  man  üben,  besonders  wenn  eine  bestimmte  Disposition  besteht. 
Z.  B.  bei  der  Verstellung  kann  man  äußerlich  eine  bestimmte  Einstellung 
festhalten,  ohne  sie  dann  für  längere  Zeit  zu  beachten,  während  man  ich- 
mäßig mit  ganz  anderen  Inhalten  beschäftigt  ist.  Mancher  Schauspieler  ver- 
mag eine  ganze  Kette  wohl  eingeübter  Älechanismen  ablaufen  zu  lassen, 
trotzdem  sein  augenblickhches  Ichbewußtsein  keineswegs  in  ihnen,  in  der 
Illusion  aufgeht.  Und  der  Schauspieler  als  Boutinier  vermag  vielleicht  außer- 
ordentlich schnell  zAvischen  diesen  verschiedenen  dargestellten  Personen  und 
dem  eigenen  Ich  hin-  und  herzuspringen.  Über  ihn,  den  Schauspieler, 
geht  unser  Verständnis  für  den  Besessenen.  Der  Besessene  ist  in  seiner 
Rolle-  so  darin,  wie  jener  Schauspieler,  der  sich  ganz  in  seinem  Schein 
aufzehrt,  der  sein  eigentliches  Ich  inzwischen  gänzlich  opfert.  Man  hat  gelegent- 
lich gefragt,  wo  denn  in  solchen  Zuständen  das  Ich  eigentlich  bleibe,  in- 
wiefern  es   sich  opfern  könne;   dies  sei   doch   nichts   mehr  als   ein  Wort. 


1  Sigmund    Freud    ist    anderer     Meinung,    nach    ihm    hat    jeder    Traumteil     einen 
,,Sinn"    (78),    der    sich    nur    hinter    Symbolen    versteckt. 

-  Es    ist    interessant,    daß    in    der    Hypnose    sogar    zerebellare,    d.    h.    dem    normalen 
^^i]len    sonst    entzogene    Mechanismen,    ausgelöst    werden    können.     (Bauer-Schilder    lo.) 


AI  TOMATISMEN  73 


Nun  gibt  es  abnorme  Persönlichkeiten  mit  einer  besonderen  Gabe  des  Ein- 
fühlungsvermögens. Oft  selbst  ohne  ausgeprägten  Charakter  („(inwrphrs"' 
im  Siinie  von  llibots  Charakterologie)  vermögen  sie  gewisse  Situationen 
besonders  i-indringlich  Norstoilungsniäliig  zu  erfassen,  sich  in  andere  (Charaktere 
besonders  intensiv  einzuleben,  l  nd  wenn  sie  eine  solche  Situation  sich  an- 
geeignet, wenn  sie  die  Zusammenhänge  einer  anderen  Persönlichkeit  ergrilfen 
haben,  dann  gewinnt  dieser  Komplex  eine  besondere  Selbständigkeit  in  ihnen. 
Grundsätzlich  ist  es  nichts  anderes  als  der  Schlaflraum.  Nur  tritt  hier  beim 
sich  I^infühlenden  noch  nicht  das  vage  Spiel  der  Psychismen  ein ;  das  Ober- 
bewulitsein  wirkt  noch  immer  insofern  elektiv,  ordnend  ein,  als  es  die  see- 
lische Energie  allein  diesem  Komplex  zuführt  und  alles  Störende  fern 
hält.  So  wird  ein  solcher  Komplex,  anfangs  nur  zögernd,  vorsichtig  erlebt, 
allmählich  eingeübt,  zum  Automatismus,  während  das  eigentliche  Ichbewul')t- 
sein  vom  Schauplatz  zurücktritt,  wiederum  wie  beim  Tagträumen.  Die  VVillens- 
lage  ist  die  der  Passivität  mit  alleiniger  Tätigkeit  der  einen  Idee,  des  Auto- 
matismus.  Man  beachte,  daß  jene  Geister,  die  aus  dem  Besessenen  sprechen 
und  ihn  zum  Handeln  verleiten,  ja  immer  relativ  einheitlich  folgerichtig 
handeln,  nämlich  so,  wie  der  von  ihnen  Erfaßte  sich  auf  Grund  aber- 
gläubischer, religiöser  oder  sonstiger  Vorstellungen  eben  solche  Geister  und 
das,  was  sie  tun  und  sagen,  vorgestellt  hat^.  Nicht  unabsichtlich  wurde 
oben  gesagt:  Wenn  es  einen  Geist  gäbe,  der  in  einen  andern  hineinfahren 
könnte,  so  müßte  sich  dies  wohl  in  der  Tat  so  abspielen,  wie  es  das 
Medium  darstellt,  da,  so  ist  jetzt  hinzuzufügen,  es  sich  dies  eben  so  vor- 
stellt. Geht  man  dazu  über,  die  „übernatürlichen"  Leistungen  der  Medien 
oder  Besessenen  zu  analysieren,  wie  dies  Flournoy  (66)  so  vortrefflich  getan 
hat,  so  zeigt  sich,  daß  hier  irgendwelche  Automatismen  lebendig  sind,  deren 
einzelne  Inhaltlichkeit  sich  sehr  wohl  aus  dem  Erfahrungschatz  bzw.  der 
Phantasie  des  Betreffenden  ableiten  läßt.  Wenn  die  Fremdsprache  glosso- 
lalischer  Orgiastiker  über  ein  sinnloses  Lallen  hinausgeht,  zu  dem  ein  jeder 
bei  einiger  Übung  ohne  weiteres  fähig  ist"-,  so  zeigt  sich,  daß  in  den  scheinbar 
neuen  sinnvollen  Worten  mancherlei  Anklänge  an  wohlbekanntes  Sprachgut 
und  an  früher  aufgefaßte  Worte  stecken,  die  unter  die  Schwelle  des  will- 
kürlich ekphorierbaren  Erinnerungsschatzes  versunken  waren  (Kryptomnesien). 
Die  Marssprachen  Worte  z.  B.  lassen  sich  nach  wohlbekannten  und  in  der 
Sprachwissenschaft  klassifizierten  \  orgängen  auf  wirkliche  terrestrische 
Wörter  zurückführen. 


*    Flournoy    (66,    S.    I25)   nennt   diese    Geister   „hypnoide   Modifikationen"   der    Medien 
selbst.     Vgl.    auch    Dessoir    (^7)    und    Binet    (aS). 

2  Vgl.    z.    B.    das    Zungenreden    eines    schlesischen    Geistlichen    (1907),    das    sich    nach 
dem    Rhythmus    des    ,,Dies    ater"    richtet: 

Schua    ea,    Schua    ea,    o    tschi    biro    ti    ra    pea 
Akki   lungo,    ta   ri    fungo,    u    li    bara    ti    ra   tungo 
usw.     (Hennig,    112.    S.   4o.) 

Oder   nacii    der   Melodie    „Jesus    geh'    voran": 
Ea    Ischu    ra    ta 
U  ra  torida 
Tschu    ri    kanka 
Oli  tanka 
usw.     (Österreich,    227,    S.  64)  '  ' 


74  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Fräulein  Smith  hat  allein  mit  Hilfe  der  französischen  Syntax  —  denn  von  jeder 
anderen  Syntax  hatte  sie  nicht  die  geringste  Ahnung  —  und  mit  Hilfe  einiger  ihr 
bekannten  Vokabeln  aus  anderen  Sprachen  nach  den  gewöhnlichen  Sprachbedeutungs- 
cpsetzcn  (Metonymie,  Assoziation,  Suggestion  und  Kontamination  usw.)  ein  eigenes 
Vokabular  geschaffen."  (Henry,  ii3,  zitiert  nach  Flourny,  66,  S.  268,  macht  auch 
auf  die  Ähnlichkeit  mit  der  Sprachumformung  im  Traume  aufmerksam.)  —  In  der 
Literatur  wird  häufig  eine  ALigd  erwähnt,  die  im  Trancezustand  zu  aller  Staunen 
hebräisch  sprach.  Als  man  nachforschte,  stellte  sich  heraus,  daß  sie  früher  bei  einem 
Pfarrer  bedienstet  gewesen  war,  der  die  Gewohnheit  gehabt  hatte,  einige  hebräische 
Sätze  in  der  Art  von  Gebct^formeln  in  seinem  Studierzimmer  häufig  laut  zu  wiederholen. 
Obwohl  sie  nie  daran  gedacht  halte,  sich  diese  Sätze  merken  zu  wollen,  obwohl  sie 
sogar  im  NormalzusLinde  jede  Kenntnis  von  ihnen  glaubhaft  bestritt,  standen  sie  ihr 
doch    im    Ausnahmezustand    zur    Verfügung. 

Wenn  man  eine  Gruppe  von  Männern  beobachtet,  die  in  angeregtem 
Ciespräch  beieinander  stehen,  so  kann  man  gelegentlich  bemerken,  daß  der 
eine  plötzlich  beim  Zuhören  die  Arme  über  der  Brust  kreuzt.  Und  nicht 
lange  dauert  es,  so  tut  dies  ein  zweiter.  Würde  man  diesem  sagen,  er  habe 
CS  jenem  nachgemacht,  so  \YÜrde  er  sich  mit  Recht  sehr  dagegen  verwahren: 
er  habe  nicht  einmal  bemerkt,  daß  der  erste  die  Arme  gekreuzt  habe.  Und 
trotzdem  ahmte  sein  Unterbewußtsein  automatisch  die  Geste  nach.  —  Man 
erlebt  es  nicht  selten,  daß  jemand  anfängt  eine  Melodie  zu  pfeifen,  die 
einem  selbst  soeben  durch  den  Kopf  ging.  Das  Erstaunen  über  den  an- 
geblich gleichzeitigen  Einfall  vermindert  sich,  wenn  sich  herausstellt,  daß 
vor  wenigen  Minuten  ein  fernes  Waldhorn  die  Melodie  blies.  Aber  keiner 
von  beiden  hatte  dies  beachtet,  jeder  schwur,  von  selbst  auf  die  Töne  ver- 
fallen zu  sein.  —  Dies  sind  allereinfachste  Suggestionen,  die  in  vielfachen 
Übergängen  hinüberleiten  zu  den  x\utomatismen :  nicht  erstrebt,  vielleicht  nicht 
absichtlich  herbeiführbar,  vielleicht  sogar  sachlich  fremd.  Und  von  hier 
ist  nur  ein  Schritt  zur  H}-pnosei.  Die  H>^nose  ist  eine  Ausschaltung  der 
Zentralinstanz,  der  bewußten  Willenslage,  zugunsten  der  Automatismen 
oder  zugunsten  des  Willens  des  Hypnotiseurs.  Ein  vollkommen  normaler 
Mensch  muß  den  Wunsch  haben,  hypnotisiert  zu  werden,  wenn  dies 
glücken  soll.  Alle  gegenteiligen  Behauptungen  gehören  ins  Gebiet  der  Er- 
dichtung oder  des  Betrugs.  Ein  hysterisches  Mädchen  freilich  kann  schon 
durch  einen  Blick  dem  Willen  des  Hypnotiseurs  Untertan  werden.  Ein 
Hj'pnotisierter  glaubt  an  die  Macht  des  Priesters  oder  des  .\rztes,  oder 
wer  der  HN-pnotisierende  auch  sei.  Ohne  diese  Vorbedingung  würde  das 
Gelingen  des  künstlichen  Ausnahmezustandes  beim  Normalen  unmöglich.  — 
In  der  Hypnose  —  so  hört  man  sehr  oft  —  fallen  außer  der  regulierenden 
Willenseinstellung  vor  allem  die  Gegenvorstellungen  und  die  auf  ihnen  auf- 
gebaute Kritik  weg;  alle  Hemmungen  sind  beseitigt.  Dies  ist  jedoch  nicht 
ganz  richtig.  Auch  in  der  Hypnose  setzt  sich  trotz  ihrer  Zurückdrängung 
die  Persönlichkeit  noch  weitgehend  durch.  Gewiß  kann  ich  jemandem  im 
Tiefschlaf  Aufträge  geben,  die  er  am  nächsten  Tage  trotz  ihrer  Sinnlosigkeit 
getreulich  ausführt.  Gewiß  werde  ich  jemandem  suggerieren  können,  er 
sei  blind,  und  dieser  Hypnotisierte  wird  dann  mit  offenen  Augen  das  Ge- 
baren  eines  Blinden    annehmen,  so  wie  er  es  einst  sah  oder  es  sich  vor- 


^  Vgl.    Forel    (70),    Rieger    (267),    Claparede    (^l),    Hirschlaff    (i23),    Wagner-.Tauregg 
(822),    Kogerer    (i55).    —    Eine    amüsante    Theorie    der    Hypnose    bringt    Bjerre    (aöd). 


AUTOMATISMEN,   HYPNOSE.   TRAUM 75 

stellt.  Aber  dieser  hypnolislerle  „lilintle"  vvirtl  sich  niemals  in  einem  Ab- 
frrund  zersciimollern,  er  wird  nie  in  das  Feuer  die  Hand  stecken.  Wenn 
ich  einem  Mädchen  suggeriere,  sie  solle  einen  andern  ermorden,  wird  sie 
zwar  eine  entsprechende  Theaterszene  vorführen,  vielleicht  eine  ungeladene 
Pistole  abdrücken,  sie  wird  aber  niemals  wirklich  zur  Tat  schreiten,  es  sei 
denn,  dalj  eigene  Motive  ernsthait  mitwirken.  Also  auch  hier  herrscht  die 
Macht  tles  Ich  oder  seiner  Vorstellungen  noch  im  Sinne  der  Grenzfest- 
setzung 

Nicht  nur  in  der  Hypnose,  sondern  auch  im  wirklichen  Schlaf  vermag 
sich  ein  Automatismus  gelegentlich  durchzusetzen,  dem  vor  dem  Einschlafen 
besonders  energische  Direktiven  gegeben  worden  sind,  oder  der  aus  son- 
stigen (Iründen  auftauchte.  Freilich  sind  solche  Fälle  sicher  sehr  selten 
und  abnorm  ^ 

Myers  schuf  im  Traum  einen  griechischen  Vers,  der  heim  Erwaclion  sinnlos  erschien. 
Doch  wurde  er  sinnvoll,  wenn  man  ihn  mit  dem  ^falschen  Gebraucli  einer  Präpositiion 
las,    so    wie    es    Myers    in    seiner    Jugend    immer    fälschlich    gemacht    hatte    (217). 

,,Bis  tief  in  die  Nacht  hinein  saß  ich  eifrig  vor  meinen  ägjptischen  Inschriften, 
um  beispielsweise  die  Aussprache  und  die  grammatische  Bedeutung  eines  Zeichens  .  .  . 
festzustellen.  Ich  fand  trotz  allen  .  .  .  Nachdenkens  die  Lösung  nicht,  legte  mich 
übermüdet  in  mein  Bett  .  .  .,  um  in  einen  tiefen  Schlaf  zu  verfallen.  Im  Traum  setzte 
ich  die  unerledigt  gebliebene  Untersuchung  fort,  fand  plötzlich  die  Lösung,  verließ 
sofort  meine  Lagerstätte,  setzte  mich  wie  ein  Naciitwandler  mit  geschlossenen  Augen 
an  den  Tisch  und  schrieb  das  Ergebnis  mit  Bleislift  auf  ein  Stück  Papier.  Ich  erhob 
mich,  kehrte  nach  meiner  Schlafslätte  zurück  und  schlief  von  neuem  weiter.  Nach 
rnoinem  Erwachen  am  Morgen  war  ich  jedesmal  erstaunt,  die  Lösung  des  Rätsels  in 
deutlichen  Schriftzügen  vor  mir  zu  sehen.  Ich  erinnerte  mich  wohl  des  Traumes,  aber 
fragte  mich  vergebens,  wie  ich  imstande  gewesen  war,  in  der  dicksten  Finsternis 
deutlich  lesbare,  ganze  Zeilen  niederzuschreiben?"  Aus  des  Ägvptologen  Heinrich 
Brugsch'    Selbstbiographie,    zitiert   nach    Ilennig   (112,   S.    9).    —  Weitere   Fälle   dortselbst. 

Der  Ausdruck  Hypnose  ist  durch  seinen  Hinweis  auf  den  Schlaf  wenig 
glücklich:  es  handelt  sich  nur  um  eine  Ausschaltung  der  ich-betonten 
Willenslage,  nicht  aber  um  eine  Einführung  der  im  Schlafe  sonst  herr- 
schenden Dissoziation.  In  diesem  Zusammenhange  wurde  die  Hypnose 
nur  wegen  dieser  teilweisen  Ausschaltung  des  Zentralfaktors  erwähnt  (Ich- 
lähmung). Näher  auf  sie  einzugehen  verbietet  die  Beschränktheit  des  mir 
hier  gewährten  Raumes.  Von  den  einzelnen  Ausschaltungen  bestimmter 
Gebiete  oder  Inhalte  wird  später  die  Rede  sein.  Es  gibt  abnorme  Persön- 
lichkeiten, die  eine  besondere  Neigung  dazu  haben,  ihr  Ich  auszuschalten. 
Nicht  als  ob  sie  etwa  mit  den  Phantasiebegabten  identisch  wären,  die  an 
Einfühlungsmöglichkeiten  und  eigenen  Kombinationen  sehr  reich  sind,  son- 
dern  unter   den   religiös  Besessenen,    den  Ekstatikern,  den  Medien  gibt  es 


1  über  den  Traum  vermag  ich  nur  wenig  Literatur  zu  empfehlen.  Freuds  An- 
sichten wurden  schon  erwähnt  (78);  in  den  psychanalytischen  Zeitschriften  finden  sich 
viele  Traumstudien,  die  sich  seinen  Anschauungen  mehr  oder  weniger  eng  anschließen.  — 
Außerhalb  dieser  Literatur  gibt  es  nqr  sehr  spärliche  wertvolle  Traumschriften.  Des  alten 
Greiner  (1817)  sei  aus  historischem  Gesichtspunkt  gedacht  (gS),  ferner  seien  von 
älteren  Werken  Strümpell  (3i2)  1874,  Radestock  (2.5/i)  1877  und  Spitta  (3oo)  1892 
erwähnt.  Von  neueren  Arl>eiten  scheinen  mir  nur  Kraepelins  Traumsprache  (161)  und 
besonders  Hackers  systematische  Traumbcobachlungen  wertvoll  (loi),  denen  Köhler  (107) 
nacheifert.  De  Sanclis  (277)  stellt  vielerlei  zusammen.  Über  abnorme  Träume  ist 
mir  nichts   von   Belang  bekannt.    Von  den  Angstträumen  der  Kinder  war  oben  die  Rede. 


76  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

intellektuell  und  künstlerisch  Hoch-  und  Tiefstehende.  Es  ist  eine  besondere 
Eigenschaft,  eine  „Ichschwäche",  wenn  man  so  will,  die  alle  diese  Per- 
sönlichkeiten gemein  haben:  ihre  Medialität.  Es  ist  verständlich,  daß  sich 
in  ergreifenden  Schicksalen  und  in  aufregenden  sozialen  Bewegungen  solche 
Individualitäten  zusammenfinden;  starke  bewegende  Ideen,  aufpeitschende 
Gefühle  und  vor  allem  mediale  Beispiele  heben  gleichsam  die  anderen 
medialen  Persönlichkeiten  aus  der  Masse  heraus.  Das  Erlebnis  des  Auto- 
matismus beim  anderen  setzt  die  Tendenz,  ihm  auch  in  sich  das  Feld  ein- 
zuräumen. 

Hierher  würden  manche  Folies  ä  deux^,  die  Massensuggestionen,  über- 
haupt die  seelische  Ansteckung  und  die  psychischen  Epidemien  ge- 
hören^.   Hier  hätte  auch  die  Psychologie  der  Panik  ihren  Platz'. 

Aus  den  hier  mitgeteilten  Gedankengängen  lassen  sich  leicht  die  Phänomene 
des  alternierenden  Bewußtseins  und  die  anderen  oben  mitgeteilten  Ichstörun- 
gen verstehen.  Sehr  viel  schwerer  sind  einer  „Erklärung"  jene  Zustände 
zugänglich,  die  oben  als  eigentliche  gleichzeitige  Persönlichkeitsverdoppelungen 
beschrieben  worden  sind  (Fälle  von  Baelz).  Sie  lassen  sich  im  eigentlichen 
Sinne  wohl  überhaupt  nicht  mehr  einordnen,  das  heißt  auf  normale 
Bewußtheiten  beziehen.  Und  endlich  völlig  uneinfühlbar,  unerklärbar 
sind  die  schizophrenen  Formen  der  Ichlähmung.  Die  gemachten,  abgezo- 
genen, durchgejagten,  künstlich  erzeugten,  anhypnotisierten  (in  besonderem 
Sinne),  drahtlos  telegraphisch  erregten,  angewunderten,  angewunschenen 
Gedanken  sind  etwas,  was  mit  den  geschilderten  Automatismen  wohl  weder 
deskriptiv  noch  kausal  etwas  gemein  hat.  Der  normale  Mensch  kennt  nichts 
Ähnliches.  IMan  könnte  annehmen,  daß  solche  gemachten  Gedanken  nichts 
anderes  seien  als  halluzinierte  Gedanken*.  Halluziniere  man  eine  Empfin- 
dung (Wahrnehmung),  so  sei  man  von  der  normalen  Wahrnehmung  her 
ja  gewohnt,  daß  sie  von  außen,  unabhängig  von  meinem  Willen,  komme; 
folglich  sei  sie  mit  dem  Ichgefühl  nicht  direkt  verbunden,  folglich  habe 
man  auch  keinen  Anlaß,  an  ihr,  der  Sinneshalluzination,  etwas  phänomenal 
Abnormes  zu  sehen.  Der  Gedanke  aber  käme  nicht  von  außen,  er  sei 
mein  Erzeugnis,  er  sei  untrennbar  mit  meinem  Ichgefühl  verknüpft.  W  erde 
nun  ein  Gedanke  in  der  gleichen  —  an  sich  unbekannten  —  Weise  krank- 
haft erzeugt  wie  eine  "echte  Sinnestäuschung,  so  scheine  dieser  halluzinierte 
Gedanke   natürlich   von   außen    zu    kommen;   er    habe   daher  das  Fremde, 


1  Vgl.  Schönfeldt  (283),  der  interessantes  russisches  Material  beibringt,  und  Wollen- 
berg   (828),   der    ein    bis    1889    reichendes,    gutes    Literaturverzeichnis    anfügt. 

~  Literatur:  Die  gesamte  Religionspsychologie  (Österreich,  227,  femer  die  treffliche 
Arbeit  von  Heiler,  106),  dann  Delacroix  (lik),  Stoll  (Sog),  Lehmann  (171),  .lames  (loi), 
Friedmann  (populär  81),  Hellpach  (108),  Richer  (265),  Weygandt  (325),  Zeitschrift 
„Zeitgenossen",  N.  F.,  2,  S.  48.  —  Aus  dem  großen  Kriege  wurden  abnorme 
Massensuggestionen  ebenfalls  berichtet.  Hierher  gehören  vor  allem  die  sogenannten  Engel 
von  Mons.  (Machen,  ig/l,  Begbie,  i5.)  —  Über  die  Bedeutung  der  Suggestion  im 
sozialen  Leben  arbeitete  Bechterew  (i3),  er  verwendete  (sonst  schwer  zugängliches) 
russisches  Material.  —  Über  psychische  Epidemien  in  Schulen  vgl.  Dix  (oo).  Über 
die  Suggestionen  bei  den  Praktiken  der  Derwische  siehe  HellwaJd  (109).  Moderne 
religiöse    Massenbewegungen    behandeln    Tiesmeyer    (3i3a)    und    Schrenk    '(28/ia). 

'    Gothein    (91). 

*  Vgl.    die   sog.    „intellektuellen    Halluzinationen". 


EKSTASE 77 

liemachle  an  sich,  was  den  Kranken  so  errege  und  meist  peinige.  Diese 
.schizophnMUMi  Ichlähmungen  seien  also  mir  ein  Fall  aus  dem  allgemeinen 
Kapitel  der  llailu/.inationen :  es  gebe  Ilalluzinationcn  der  Empfindungen, 
der  (lefühlo.  der  \N  illenslageii,  der  Willensimpulse,  der  Gedanken;  —  im 
Grundsätzlichen,  in  der  Art  der  abnormen  Erregung  seien  diese  Symptome 
alle  gleich,  nur  ihr  Betätigungsfeld  sei  verschieden. 

Man  wird  solchen  Theorien  nicht  viel  entgegenhalten  können ;  ich  selbst 
lege  auf  sie  keinen  großen  Wert;  man  wird  sich  ihrer  so  lange  bedienen, 
bis  sie  von  einer  mehr  einleuchtenden  Theorie  abgelöst  werden. 


Bei  den  Beispielen  zum  Problem  der  Ichlähmung  wurde  mehrmals  schon 
seltsamer  Gefühle  gedacht,  die  das  Erlebnis  des  Begnadetseins  oder  des 
Besessenseins  begleiten.  Mag  man  das  Ichgefühl  überhaupt  zu  den  Gefühlen 
im  engeren  Sinne  zählen  oder  es  mehr  volitional  fassen,  sicherlich  sind 
seine  Störungen  meist  von  Alterationen  anderer  Gefühle  begleitet.  Und  zwar 
sind  dies  vielfach  qualitativ  abnorme  Gefühle.  Bei  dem  Studium 
religiöser  Ergriffenheiten  zeigt  sich,  daß  das  dort  so  häufig  beschriebene 
Glücksgefühl  mehr  ist  als  nur  eine  Steigerung  des  sozusagen  gewöhnlichen 
Glücklichseins.  Nicht  etwa  nur  neue,  zumal  sexuelle  Körpersensationen 
treten  hinzu,  sondern  es  stellen  sich  wirklich  neue  Gefühlsqualitäten  ein, 
die  oft  in  eigentümlicher  Weise  mit  intuitiven  Erkenntnissen  verbunden  sind. 
Bei  der  Gewinnung  irgendwelcher  Einsichten  mag  wohl  auch  der  Normale 
von  Gefühlen  der  Freude  und  des  Stolzes  erfüllt  sein,  wenn  ihn  sein  Nach- 
enken die  große  Tragweite  seines  Gedankens  ahnen  läßt.  Aber  in  den 
•Erlebnissen  der  Ekstase  ist  Gefühl  und  Erkenntnis  in  ganz  eigenartiger 
Weise  vereint.  Es  sind  nicht  einzelne  Akte  des  Erkennens,  die  so  glücks- 
betont sind,  sondern  es  ist  ein  seliger  Zustan  d  des  Schauens.  Aber  wiederum 
ist  dieses  Schauen  nicht  nur  im  eigentlichen  Sinne  Vision,  sondern  es  ist 
auf  unanschauliche  Inhalte,  eben  auf  gedankliche  Zusammenhänge,  insbe- 
sondere auf  irgendwelche  Werterkenntnisse  gerichtet.  Aber  es  ist  schon 
unrichtig  zu  sagen,  daß  das  Schauen  „gerichtet"  sei;  eine  aktive  „Einstellung 
auf"  ist  gar  nicht  gegeben.  Ein  Erfülltsein  kennzeichnet  den  Ergriffenen. 
Alle  Probleme  erscheinen  gelöst,  alles  in  der  Welt  zeigt  sich  gleichsam 
durchsichtig  und  klar.  Zwar  liegt  eine  starke  Aktivität  recht  häufig  in  dem 
Sinne  vor,  dafS  der  Gläubige  um  diesen  äußersten,  letzten  Glaubenszustand 
ringt,  daß  er  ihn  gleichsam  mit  Gewalt  herbeizuführen  trachtet:  schließlich 
kommt  er  aber  doch  als  eine  Gnade  über  den  Ekstatiker. 

Es  gibt  wohl  nur  zwei  Formen  eigentlicher  geistiger  Störung,  die  eine 
solche  selige  Entrücktheit  herbeiführen  können  ohne  alle  äußeren  oder 
inneren  Hilfsmittel:  ganz  endogen.  Es  sind  dies  gewisse  Beseligungen  im 
^  erlaufe  der  schizophrenen  Verblödung  und  bei  der  genuinen  Epilepsie. 
Bei  der  Epilepsie,  dem  Morbus  sacer,  „schlägt"  der  Gott  den  Erwählten 
nicht  nur  insofern,  als  dieser  plötzlich  zusammenstürzt,  sondern  er  begnadet 
ihn  auch  durch  unerhörte,  kaum  beschreibbare  Entzückungen.  Besonders 
als  Vorbote  des  großen  Anfalles  stellen  sich  solche  außerordentliche  Ge- 
fühle ein. 


78  GRUIILE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Dostojewski  spricht  (nach  einer  Erzählung  von  Sonja  Kovvalewsky)  von  einem  solchen 
eigenen    Anfall    (zitiert   nach    He«nig,    112,    S.    Sa): 

Und  ich  fühlte,  daß  der  Himmel  zur  Erde  kam  und  mich  verschlang.  Ich  fand 
wirklich  Gott  und  ward  von  ihm  erfüllt.  ,Ja  Gott',  schrie  ich  —  und  sonst  erinne're 
ich  mich  an  nichts  mehr."  (Einsetzen  des  großen  Anfalls.)  —  „Ihr  seid  alle  gesunde 
Menschen,  und  ihr  ahnt  nicht  einmal,  was  für  ein  Glück  jenes  Glück  ist,  das  wir 
Epileptiker  in  der  Sekunde  vor  dem  Anfall  empfinden.  —  Mohammed  versichert  in 
seinen»  Koran,  daß  er  das  Paradies  gesehen  habe  und  dort  gewesen  sei.  Alle  klugen 
Toren  sind  davon  überzeugt,  daß  er  einfach  ein  Lügner  und  Betrüger  ist  —  aber  nein! 
er  lügt  nicht!  Er  war  tatsächlich  im  Paradies,  während  des  Anfalls  der  Epilepsie, 
an  der  er  gleich  mir  litt.  Ich  weiß  nicht,  ob  diese  Glückseligkeit  Sekunden  oder 
Stunden  o<ler  Monate  währt,  aber  glauben  Sie  mir  aufs  Wort,  alle  Freuden,  die 
das  Leben  geben  kami,   würde  ich  für  sie   nicht  nehmen." 

Qualitativ  sind  die  Seligkeiten  der  Schizophrenen  hiervon  nicht 
unterschieden ;  beide  Geistesstörungen  hefern  in  diesen  Ausnahmezuständen 
meist  echte  Visionen,  zumal  himmlische  Erscheinungen  und  eigenartig  be- 
schriebene Lichter.  Man  kann  sagen,  daß  die  Euphorieen  verzückter  Psy- 
chotiker  relativ  arm  sind,  sofern  man  gedankliche  Inhalte  beachtet. 
Eigentliche  ins  Weite  gerichtete  Erkenntnisse  tauchen  selten  auf.  Die  Er- 
leuchtungen beziehen  sich  meist  auf  die  eigene  Person:  „Du  bist  mein 
lieber  Sohn,  an  dem  ich  Wohlgefallen  habe".  —  „Wahrlich,  ich  sage  Dir, 
Du  wirst  usw.".  Auch  die  sprachlichen  Formen  der  Eingebungen,  seien 
sie  nun  direkt  halluziniert  oder  nicht,  sind  ziemlich  unoriginell  und  halten 
sich  meist  an  die  Worte  der  Bibel  oder  sonstwie  bekannte  Redewendungen. 
Doch  sind  die  eben  genannten  Momente  nicht  so  sichere  Unterscheidungs- 
merkmale, daß  man  die  echt  psychotischen  Ekstasen  von  denen  der  nicht 
Geisteskranken  abgrenzen  könnte.  Deshalb  kann  auch  der  Erfahrene 
—  auf  Zeugnisse  der  Literatur  rückblickend  —  nie  mit  völliger  Sicherheit 
sagen,  ob  solch  ein  Erleuchteter  wirklich  geisteskrank  war  oder  nicht.  Die 
Zeugnisse  der  Propheten  des  alten  Testaments  z.  B.  machen  vielfach  den 
Eindruck,  als  handle  es  sich  um  Epileptiker,  deren  Verkündigungs-  und 
Visionsinhalte  später  vielleicht  durch  die  Tradition  etwas  künstlerisch  ab- 
gerundet und  ausgeschmückt  worden  sind. 

„Und  ich  sähe,  und  siehe,  es  kam  ein  ungestümer  Wind  von  Mitternacht  her  mit 
einer  großen  Wolke  von  Feuer,  das  allenthalben  umher  glänzte,  und  mitten  in 
demselbigen  Feuer  war  es  wie  lichthelle;  und  darinnen  war  es  gestaltet  wie  vier  Tiere, 
und  unter  ihnen  eines  gestaltet  wie  ein  Mensch.  Und  ein  jegliches  hatte  vier  An- 
gesichter und  vier  Flügel  .  .  .  Und  die  Tiere  waren  anzusehen  wie  feurige  Kohlen, 
die  da  brennen,  und  wie  Fackeln,  die  zwdschen  den  Tieren  gingen  .  .  .  Die  Tiere  aber 
liefen  hin  und  her  wie  ein  Blitz.  Als  ich  die  Tiere  so  sähe,  siehe,  da  stand  ein 
Rad  auf  der  Erde  bei  den  vier  Tieren,  und  war  anzusehen  wie  vier  Räder,  und  die- 
selbigen  Räder  waren  wie  ein  Türkis  .  .  .  Ilrre  Felgen  und  Höhe  waren  schreckhch; 
und  ihre  Felgen  waren  voller  Augen  um  und  um  an  allen  vier  Rädern  .  .  .  W'o 
der  Wind  hinging,  da  gingen  sie  auch  hin  .  .  .,  denn  es  war  ein  lebendiger  Wind 
in  den  Rädern  .  .  .  Und  ich  höreto  die  Flügel  rauschen  wie  große  Wasser  und 
wie  ein  Getöne  des  Allmächtigen,  wenn  sie  gingen,  und  wie  ein  Getümmel  in  einem 
Heer  .  .  .  Und  da  ich  es  gesehen  hatte,  fiel  ich  auf  mein  Angesicht  und  hörete 
einen   reden."     (Hesekiel,    i.) 

Wenn  man  dagegen  eine  Probe  aus  dem  Buche  Esra  setzt,  so  hat  man 
keineswegs   den    Eindruck    einer  Vision    eines   Psychotikers,   sondern    den 


KKSTASE 79 

einer  absichtlich  herbeigeführten,  von   lebhaften  \  orstellungen  (wohl  keinen 
Sinnestäuschungen)  begleiteten   Verzückungen*: 

..Als  ich  noch  so  zu  ilir  s[)racli.  sicho,  da  ergläiizto  ilir  Angesiclit  plöl/.hch, 
uiul  ihr  Aussi'hon  wanl  wie  Blitzes  Schein,  so  dalJ  ich  vor  großer  F'urcht  nicht  wagte, 
ihr  nahezukommen  und  sich  mein  Herz  gewallig  »-iitselzte.  —  Während  ich  noch  üher- 
legte.  was  dies  zu  bedeuten  habe,  schrie  sie  plötzlich  mit  lauter,  furchtbarer  .Slinimo, 
daß  die  Erde  vor  diesem  Schrei  erbebte.  L'nd  als  ich  hinblickte,  da  war  das  Weib 
nicht  mehr  zu  sehen,  sondern  eine  erbaute  Stadt,  und  ein  Platz  zeigte  sich  mir 
auf  gewaltigen  Fundamenten.  Da  erschrak  ich  und  schrie  mit  lauter  Stimme  und 
sprach :  Wo  ist  der  Engel  Uriel,  der  im  Anfange  zu  mir  gekommen  war?  Er 
selber  hat  mich  ja  in  die  Fülle  dieser  Schrecknisse  gesandt  .  .  .  Als  ich  noch  so 
sprach,   siehe,  da  kam   der  Engel   zu   mir   .   .   ." 

In  den  soeben  mitgeteilten  Zeugnissen  überwiegen  die  Visionen,  und  nur 
nebenbei  wird  das  Außerordentliche  des  ganzen  Erlebnisses  in  den  Eigen- 
schaftsworlen  gewaltig,  furchtbar,  schrecklich,  feurig  ausgedrückt*.  Das 
übergroße  Glücksgefühl  mögen  einige  andere  Proben  widerspiegeln: 

,,Iti  einem  Augenblick  hat  mich  der  Herr  so  glücklich  gemacht,  daß  ich  die 
Seligkeit  gar  nicht  besciireiben  kann.  Ich  jauchzte  vor  Freude  und  pries  Gott  von 
ganzem  Herzen  .  .  .  Ich  erinnere  mich,  daß  mir  alles  neu  erschien,  die  Menschen, 
die  Felder,  das  Vieli  und  die  Bäume.  Es  war  mir,  als  wäre  ich  ein  neuer  Mensch 
in  einer  neuen  Welt."     (James,    i3i,   S.   287.) 

„Als  ich  am  Morgen  aufs  Feld  ging,  um  zu  arbeiten,  erschien  mir  die  Herrlich- 
keit Gottes  in  seiner  ganzen  sichtbaren  Schöpfung.  Ich  erinnere  mich  wohl,  wir 
holten  Hafer  ein,  und  jeder  Halm  vmd  jede  Ähre  erschien  mir  im  Rcgenlwgen- 
glanz  oder,  wenn  ich  so  sagen  darf,  im  Glänze  Gottes  zu  erglühen."  (Fall  Leubas 
in   James,    i3i,    S.    a^i.) 

,, Gänzlich  uner^vartet,  olme  daß  es  mir  in  den  Sinn  gekommen  wäre,  mir  könne 
je  dergleichen  geschehen,  auch  ohne  daß  ich  je  emen  Menschen  etwas  Ähnliches 
hätte  erzählen  hören,  stieg  der  heilige  Geist  auf  micii  herab,  daß  es  mir  durch 
Leib  und  Seele  ging.  Mir  war,  als  stände  ich  "unter  der  Einwirkung  eines  elek- 
trischen Stromes.  In  der  Tat,  der  heilige  Geist  schien  in  Strömen  der  Liebe  auf 
mich  hernieder  zu  fließen  .  .  .  Ich  glaubte  den  Odem  Gottes  zu  spüren,  und  ich  kana 
mich  deutlich  erinnern,  wie  ich  die  Empfindung  hatte,  von  ungeheuren  Flügeln 
gefächelt  zu  werden.  Die  wunderbare  Liebe,  die  in  mein  Herz  ausgegossen  war,  läßt 
sich  nicht  in  Worte  fassen  .  .  .  Jene  Wiegen  der  Liebe  überfluteten  mich,  bis  ich 
ausrief:  Ich  sterbe,  werm  sie  sich  noch  länger  über  mich  ergießen.  Ich  sagte:  ,Herr, 
mehr    kann    ich    niclit    ertragen."'     (James,    i3i,    S.    2^2.) 

Das  Erlebnis  dieser  Liebe  ist  schlechthin  unbeschreibbar. 

Jakob  Böhme:  „Wer  sie  findet,  der  findet  nichts  und  alles;  denn  er  findet  einen 
übernatürlichen,  übersinnlichen  Grund,  da  keine  Stätte  zu  ihrer  Wohnung  ist,  und 
findet  nichts,  das  ihr  gleich  sei.  Darum  kann  man  sie  mit  nichts  vergleichen,  denn 
sie  ist  tiefer  als  das  Ich;  darum  ist  sie  in  allen  Dingen  als  ein  Nichts,  weil 
sie  nicht  faßlich  ist.  Und  darum,  daß  sie  Nichts  ist,  so  ist  sie  von  allen  Dingen 
frei  und  ist  das  einige  Gute,  das  man  nicht  sprechen   mag,   was  es  sei'." 

Über    den    seltsamen    Zustand    des    Gott-Schauens    sagt    Plotin: 

,, Solch  Schauen  ist  kein  Sehen  im  gewöhnlichen  Sinne;  es  findet  keine  L^nter- 
scheidung    von    Subjekt   imd    Objekt   statt.     Der    Schauende    hört   auf,    er   selbst    zu  sein. 


1  Gunkel    (99,    S.    /jS). 

"^  Pick  macht  darauf  aufmerksam,  daß  man  beim  Erlebnis  von  Gefühlen  sich  häufig- 
als  Erleidender  vorkommt:  nicht  ich  bin  bange,  sondern  ,,mir  ist  bang",  ,,micK 
friert".  Und  je  unbekannter  und  unheimlicher  dieses  Gefühl  ist,  um  so  eher  wendet- 
man    diese   impersonale    Form   an   (a^o). 

*   Zitiert    nach    James    (i3i,    S.    390). 


80 


GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 


Lou.ilirt   nichts    von    sich    selbst.     Ganz   in    Gott   versunken,    ist   er   eins    mit    ihm:    Gleich 
wio    die    Zentren    zweier    Kreise    vollständig    zusammenfallen    können*."     Und    Suso: 

„Aus  seiner  Selbstheit  ist  er  in  die  fremde  Seinsheit  vergangen  und  verloren, 
nach  Stillhcit  der  verklärten  glanzreichen  Dunkelheit  in  der  bloßen  einfältigen  Einig- 
keit.    Und    in   diesem   entweisten    Wo   liegt  die   höchste   Seligkeit*." 

Will  der  buddhistische  Mönch  zur  höchsten  Entzückung,  die  zugleich 
höchste  Erkenntnis  ist,  kommen,  so  muß  er  faueiv  r=  verschließen  (die 
Pforte  der  Sinne),  er  muß,  um  mit  buddhistischen  Texten  zu  reden,  aus 
der  Häuslichkeit  in  die  Hauslosigkeit  eingehen,  mit  dem  Ziele  der  Eini- 
gung mit  dem  höchsten  Gut  (=  evcoöic,  unio)  zum  Nirvana,  der  Seligkeit  des 
Erlöschens.  So  verschieden  die  Lehre  in  den  verschiedenen  Kulturkreisen 
ist,  —  die  seelischen  Zustände  des  Mystikers  sind  überall  gleich  beschrieben. 
Der  naive  Lebenswille  muß  ertötet,  das  natürliche  Affekt-  und  Triebleben 
•muß  gewaltsam  unterbunden  werden;  erreicht  werden  muß  die  Vernichtung 
(Inder),  die  Vereinfachung  (äxXcoöic;  der  Neuplatoniker),  das  Entwerden 
oder  Entmenschen  (der  deutschen  Mystiker).^ 

„Da  sitzt  ein  Bettelmönch  im  \Valde  oder  an  der  Wurzel  eines  hohen 
Baumes  oder  in  einem  menschenleeren  Haus,  die  Beine  übereinander  ge- 
schlagen, den  Körper  gerade  aufgerichtet,  wachen  Geistes  vor  sich  hin- 
blickend." Er  atmet  bewußt  ein,  er  atmet  bewußt  aus ;  wenn  er  lang  ein- 
atmet, erkennt  er:  ich  atme  lang  ein.  Wenn  er  lang  ausatmet,  erkennt 
er:  ich  atme  lang  aus.  Im  vollen  Bewußtsein  muß  die  ganze  Willens- 
energie allmählich  nach  innen  konzentriert  werden,  bis  es  ganz  stille 
wird  im  Innern.  Die  geistige  \ersenkung  durchschreitet  nun  ihre 
verschiedenen  Stufen.  Zuerst  gedenkt  der  Mönch  der  Flüchtigkeil, 
Nichtigkeit  und  Leidensfülle  des  Daseins.  Dann  folgt  das  Einswerden  des 
Geistes,  das  von  Überlegung  und  Erwägung  freie,  aus  der  Sammlung  ge- 
borene, freudevolle,  lustvolle  zweite  Jhana.  Nun  mindert  sich  die  Inten- 
sität des  W^onnegefühls,  die  Luststimmung  blaßt  ab,  es  folgt  der  heitere 
Gleichmut.  Im  Körper  ist  noch  das  weiche  Lustgefühl,  die  Seele  ist  schon 
in  heiliger  IndLfferenzstimmung;  diese  steigert  sich  schließlich  in  völlige 
Apathie.  Über  Lust  und  Unlust  erhaben,  frei  von  Liebe  und  Haß,  gleich- 
gültig gegen  Freude  und  Leid,  gleichgültig  gegen  die  ganze  Welt,  gegen 
Götter  und  ^lenschen,  gegen  sich  selbst,  steht  der  Heilbeflissene  im  voll- 
endeten Gleichmut  an  der  Schwelle  des  Nirvana^.  Es  ist,  so  wird  immer 
betont,  keine  Hingabe  an  den  Rausch,  keine  h}'p notische  Bewußtlosigkeit, 
sondern  ein  angespanntes  Ringen,  eine  höchste  Bewußtseinssteigerung.  In 
ihr   betätigen  sich  die  wunderbarsten  Geisteskräfte,  sie  schauen  erkennend 


1  Zitiert    nach   James    (i3i,    S.    892). 

2  Zitiert    nach   James    (i3i,    S.    Sga). 

3  Zur  Mystik  vgl.  folgende  Quellen,  die  psychologisch  wichtig  sind:  Montmorand 
(208),  Delacroix  (AS  u.  4^),  Hudtwalcker  (126),  Grohmann  (gS,  veraltet,  aber  lehr- 
reich), Pfister  (287,  238,  aSg),  Rademacher  (253),  Reitzenstein  (262),  Stoffels  (3o8), 
Zopf  (329),  Bechterew  (12),  Behn  (16),  Jakobi  (12g),  Jeanne  (i45).  Heiler  (106), 
Buber  (34),  Herrmann  (ii5),  Österreich  (226),  James  (i3i)  und  seine  Quellen, 
besonders  Starbuck  (3o2).  —  Beck  (i/i),  Poulain  (248a,  I,  336 — 4i6),  Hansen  (102b), 
Achelis    (i),    Calmeil    (38a). 

*   Ganz    ähnlich   die    Stadien   der    sogenannten    Intuition    Ploüns    (Reiff,    260,    S.  5g6). 


VERSENKUNG.    RAUSCH  81 


die  vier  heiligen  Wahrheiten.  Eine  seltsame  Erkenntnis  fremder  Herzen 
stellt  sich  ein.  wundersame  Eichterscheinungen  und  ein  göttliches  Gehör 
werden  dem  Entrückten  zuteil. 

Aber  die  buddhistische  Versenkung  kennt  auch  andere  .Ausnahmezustände 
des  (lofühls :  in  der  Kasinaübung  z.  H.  geht  der  Gläubige  durch  das  leere 
Anstarren  eines  bedeutungsarmen  profanen  Gegenstandes  in  das  abstrakte 
Ejlebnis  der  Lnendüchkeit  ein;  —  er  geht  darüber  hinaus  und  verweilt  an 
der  Stätte  der  Nichtheit,  bis  ihn  schliefSlich  das  nur  noch  schattenhafte 
Bewulitsoin  der  eigenen  Nichtsheit  umfängt:  eine  kataleptische  Starre,  ein 
traumloser  tagelanger  Tiefschlaf  ^  (Heiler  106). 

In  den  Glücksräuschen  und  in  den  Zuständen  des  mystischen  Entwerdens 
sind  schon  alle  jene  einzelnen  Momente  enthalten,  die  man  in  den  Be- 
schreibungen der  Gifträusche  auffindet*.  Deren  Literatur  ist  noch  klein 
und  befriedigt  wissenschaftliche  Ansprüche  nicht.  Meist  sind  die  Berichte 
der  Opium-  und  Haschischraucher,  der  Morphiumsüchtigen  usw.  Bruch- 
stücke aus  Reiseberichten  oder  wenn  nicht  sensationell  aufgebauschte,  so 
doch  künstlerisch  gestaltete  Aufsätze  3.  Das  Gefühlsmäßige  daran  ist  nicht 
sonderlich  originell,  wenn  auch  sicher  zum  Teil  qualitativ  von  normalen 
Gemütszuständen  unterschieden.  Ich  glaube,  daß  schon  beim  gewöhnüchen 
Aikoholrausch  neben  den  besonderen  Empfindungen  und  Denkstörungen 
auch  qualitativ  abnorme  Lustgefühle  entstehen,  denen  sonst  im  gewöhn- 
lichen Leben  nichts  Gleiches  entspricht.  Auch  das  Fasten  und  andere  Ze- 
remonien, wie  sie  z.  B.  Bastian  (9)  bei  den  Urvölkern  beschreibt,  führen 
Ausnahmezustände  des  Gemütes  herbei.  Natürlich  können  diese  auch  sug- 
gestiv auf  andere  übertragen  werden.  Auch  im  Fieber  stellen  sich  leichte 
Abnormitäten  der  Gefühlssphäre  ein,  die  eigenartig  sind.  Ebenso  ist  das 
allgemeine  Krankheitsgefühl  wohl  nicht  nur  ein  spezieller  Empfindungs- 
komplex, sondern  es  enthält  auch  abnorme  Ichzustände*.  Ob  bei  den  un- 
gewöhnlichen Sexualbetätigungen  (dem  Fetischismus,  Sadismus,  Masochis- 
mus, der  Homosexualität  usw.)  auch  abnorme  Sexualgefühle  sich  aus- 
leben, oder  ob  hier  die  Abnormität  nur  in  der  Art  der  Verknüpftheit  mit 
dem  besonderen  Sexualobjekt  besteht,  vermag  ich  nicht  mit  Sicherheit 
zu  entscheiden  *.  Dagegen  bin  ich  fest  davon  überzeugt,  daß  die  beson- 
deren Verstimmungen  der  Pubertätszeit  mehr  sind  als  bloße  Steigerungen 
normaler  Gemütslagen.  Diese  Jugendlichen  befinden  sich  nicht  selten  in 
merkwürdigen  Spannungszuständen,  einer  unbestimmten  Angst,  einer  inneren 


1  Eine  Differenzierung  unter  den  Glücksgefühlen  versucht  W.  Mayer-Groß  (199), 
siehe    dazu    auch    Pick    (245). 

-  Siehe    auch    oben    S.    Sg. 

3  Wenige  Angaben  bei  Pelman  (235),  S.  aSi,  über  Haschisch.  Femer  Baude- 
laire (9  a),  Moreau  (209),  Jastrovv  (i44),  Raulin  (a55)  mit  ansehnlichen,  vor  allem 
französischen  Literaturangaben,  Meunier  (202  a).  Über  Opium  vgl.  Quincey  (252), 
Baudelaire  (9  a),  Raulin  (255),  über  M  e  s  c  a  1  i  n  Serko  (298),  Guttmann  (99  a)  und 
Knauer  (i52  a).  Über  Kokain  Mayer-Groß  (200),  Latte  (168),  Detlefsen  (48). 
Über   Lachgas   Raulin   (aSS),    über  Veronal   Schneider   (283b). 

*  Der  Versuch  von  Stemberg  (3o5  c),  das  Krankheitsgefühl  nur  auf  den  Ekel  zurück- 
zuführen, erscheint  mir  viel   zu  eng. 

■^     Hierüber  handelt  ja  ein   besonderer  Abschnitt  dieses  Handbuchs. 

6    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


32  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Unruhe,  die  sie  forttreibt.  Sie  leiden  unter  einem  gegenstandslosen  Sehnen, 
dem  sie  nicht  selten  selbst  den  Namen  Heimweh  geben.  Man  glaubte 
früher  sogar  irrtümhcherweise  an  eine  besondere  Heimwehkrankheit  (No- 
stalgie), zumal  man  feststellte,  welche  seltsamen  Entladungen  diese  Span- 
nungsgefülile  oft  erfuhren. 

Vor  welligen  Jaliren  lebte  im  Dachauer  Bezirk  ein  jugendliches  Mädchen,  das  hinter- 
einander in  mehreren  Dienststellen  heimlich  den  anvertrauten  Säuglingen  eine  Nadel 
zwischen  dem  ersten  und  zweiten  Halswirbel  in  das  Rückenmark  bohrte,  so  daß  die 
Kinder  elend  zugrunde  gingen.  Und  als  man  das  harmlos  erscheinende,  unscheinbare» 
kleine  Mädchen  fragte,  warum  sie  es  denn  getan  hätte?:  Um  fortzukommen,  aus 
Heimweh.  —  Ein  anderes  Mädchen  gab  dem  Säugling  Ammoniak  in  die  Milch  aus 
demselben  Motiv.    Jaspers  (i38)  hat  eine  größere  Anzahl  solcher  Fälle  zusammengestellt. 

Mancher  jugendliche  Selbstmord  ist  der  Ausgang  einer  Pubertätsverstim- 
mung gewesen:  die  jungen  Menschen  fühlen  sich  unverstanden  und 
allein;  sie  werden  von  Weltanschauungskonflikten,  deren  Problemtiefe  sich 
ihnen  das  erstemal  öffnet,  so  erschüttert  und  sehen  so  wenig  einen  Aus- 
weg, daß  sie  freiwillig  aus  dem  Leben  scheiden  ^.  Manche  Theorien  nehmen 
an,  daß  alle  diese  Pubertätsstörungen  nur  Sexualkrisen  sind,  bald  deutlich 
als  solche  erkennbar,  bald  symbolisiert.  Solche  Deutungen  machen  es  sich 
wohl  zu  leicht.  Sicher  aber  ist  in  manchen  dieser  Krisen  die  sexuelle 
Erregung  und  ihre  Zielunsicherheit  offenbar.  Frank  (72)  teilt  einen  charak- 
teristischen Brief  mit: 

„Meine  liebe  Mutter!  Wer  hätte  gedacht,  daß  ich  jetzt  so  sclireibe.  Veraeih', 
daß  ich  so  war,  als  Du  mich  abholtest.  Aber  ich  denke  anders.  Ich  sehe,  es 
hilft  nichts;  ich  will  mich  dreinfügen,  so  gut's  halt  geht;  Du  weißt  gar  nicht,  wie 
das  schwer  ist,  es  zu  tun.  Es  ist  einfach  entsetzlich,  wie  ich  zornig  werde.  Immer 
und  immer  wieder  kommen  Gedanken  z.  B.  fortlaufen.  Eine  unsägliche  Wut  und 
einen  Zorn,  daß  ich  nimmer  ruliig  bin.  Ich  könnte  verzweifeln.  Alles  in  Stücke 
zerreißen.  Ich  kann  machen,  was  ich  will,  es  nützt  nichts.  Am  liebsten  wollte 
ich  sterben.  Ich  muß  mich  entsetzlich  zusammennehmen,  um  Dir  den  Brief  zu 
schreiben.  Ich  könnte  heulen,  schreien,  lachen,  brüllen,  weinen,  jubeln!  Und  das 
soll  so  weitergehen?  Ich  kann  es  unmöglich.  Und  dazu  entsetzliches  Heimweh  nach 
Dir!  Und  doch  könnte  ich  Dich  zerreißen.  O,  meine  teure  Mutter,  Du  weißt  nicht, 
was  das  ist.  Lieber  wollte  ich  Prügel  haben,  bis  mir  das  Fleisch  in  Fetzen  herunter- 
hing, als  das  noch  aushalten.  Ich  habe  Dich  so  gern,  daß  Menschen  es  nicht  sagen 
können.  So  gern,  daß  ich  wahnsirmig  werde.  Mutter!  Ich  kann  nimmer  mehr! 
Größer  könnte  mein  Leiden  nicht  sein.  Mutter!  Mutter!  —  —  —  Du  bist  ja 
nimmer    meine    (Mutter).     Es    nützt    also    alles    nichts!!!!!" 

Es  scheint,  als  ob  absonderliche  Situationen  Gemütszustände  hervor- 
bringen können,  die  auch  qualitativ  abnorm  sind.  So  deuten  manche  Be- 
schreibungen von  beginnenden  Psychosen  in  der  Haft  (Situationspsychosen) 
darauf  hin,  daß  hier  Gefühle  besonderer  .\rt  entstehen  2.  Und  auch  von 
jenen  Fällen  wird  Seltsames  berichtet,  in  denen  eine  Gruppe  von  Männern, 
in  sich  immer  gleich  zusammengesetzt,  zwangsmäßig  dauernd  aufeinander 
angewiesen   ist.    So   nett   die    Kameradschaft  erst   sein    mag,  so  sehr    sich 

1  Nur    wenig    brauchbare    Literatur,    am    besten    noch    Eulenburg    (Sg). 

-  Vgl.  die  Irritation  nerveuse  considerable  und  melancoUe  noire  von  Napoleon 
auf  St.  Helena.  (Recueil  de  pieces  authentiques  sur  le  capfif  de  St. -Helene,  Paris, 
1822,  zitiert  nach  Vischer,  819. )  —  Über  die  „Lebenslänglichen"  vgl.  Rüdin  (272) 
und  Liepmann  (i83,  S.  747),  Lumpp  (igS).  —  Über  Gefängnispsvchosen  überhaupt 
Wilmanns    (326  a),    Birnbaum   (26  a),    Stern    (3o5  a). 


VERSTIMMUiNGEN  83 


alle  Mülu"  geben,  sich  aufeinander  abzustimmen,  schiieljlich  koiniiil  trotzdem 
tuler  gerailc  deshalb  ciru'  äußerste  Milistiinniiuig,  eine  geladene  (Jereiztheit 
aul,  die  von  der  (jerei/llieil  des  .Normalen  wohl  nicht  nur  (juantitativ  unter- 
schieden ist  Vielleicht  gehören  hierher  auch  die  „Cafavd"  genannten 
\  erstininiungcn  der  Frcmdenlegionäre',  die  mit  den  endogenen  Ver- 
stiinuumgen  der  Kpilejdoiden  und  auch  mit  dem  Heimweh  manches  gemein- 
sam zu  haben  scheinen.  \  or  allem  aber  sind  es  drei  Lebenslagen,  die 
diese  .Xusnahmezustände  des  Gemüts  aufkommen  lassen:  Das  Klosterleben, 
die  .Vbgeschlossenheit  im  Polareis  und  die  Abgesondertheil  im  Kriegs- 
gefangenenlager. 

Aus  seinen  Klosterjahren  berichtet  Heinrich  Siemer  (agS,  S.  79): 
,,i\acli  den  monatelaiigen  Bemühungen  um  Andacht  im  Gebet  und  ununterbrochene 
Aufmerksamkeit  im  Studium  und  während  des  Unterrichtes  stellten  sicii  Kopfschmerzen 
ein,  die  durch  kalte  Tücher  gebannt  wurden.  Heftiger  wurden  die  Stiche  im  Vorder- 
kopf, der  Schlaf  wurde  unruhig  und  die  Verdauung  schlecht.  Alle  Kräfte  waren 
nun  aufs  äußerste  angespannt,  die  Nerven  erregt,  das  Gesicht  blaß  und  schmal.  Aber 
der  Eifer  erlahmte  nicht,  so  leicht  ergab  man  sich  nicht,  man  raffte  sich  zusammen, 
stampfte  dcu  Boden  mit  den  Füßen  und  wollte  über  sich  siegen. 

Dann  kam  die  Zeit,  wo  einem  das  Buch  in  der  Hand  zitterte,  wo  man  in  die 
Höhe  fuhr  bei  einem  Geräusch,  und  wo  der  Kopf  dumpf  und  schwer  wurde.  Man 
setzte  einen  Tag  aus  imd  erging  sich  im  Hof.  Die  neuen  Kräfte  genügten  wieder 
eine  Weile,  und  dann  kam  der  Zusamnienbruch.  Ich  kann  das  alles  so  genau  beschreiben, 
weil  ich  es  am  eigenen  Leibe  erfahren  habe.  Man  war  ruiniert.  Ich  habe  Zeiten 
erlebt,   wo  ich  kein   Paternoster  zu  Ende   beten   konnte,  ohne   zu   beben 2." 

Von  den  Polarforschern  haben  eine  ganze  Anzahl  seltsame  Ausnahme- 
zustände des  Gemüts  beschrieben,  die  vor  allem  in  größter  Reizbarkeit 
zu  bestehen  scheinen  (Roß  270,  Nansen  222,  Payer  234,  Drygalski  55, 
Friis  82).  Vischer  (319)  hat  auf  die  Verwandtschaft  dieser  Störungen  mit 
der  Stacheldrahtkrankheit  aufmerksam  gemacht  (barbed  wire  disease. 
psychose  du  fil  de  fer),  die  sich  in  den  Kriegsgefangenenlagern  bei  Offi- 
zieren und  Mannschaften  nach  etwa  einem  halben  Jahr  einzustellen  pflegte 
(große  Ermüdbarkeit,  Schlaflosigkeit,  wilde  Träume,  erhöhte  Reizbarkeit, 
Ünstetheit,  allgemeiner  Pessimismus,  Mißtrauen,  tagelange  Stummheit,  Spre- 
chen im  Schlaf).  Solche  gemütlichen  Verstimmungen  mit  ihren  üblen 
Äußerungen  waren  auch  aus  den  Sträflingskolonien  Frankreichs,  seinen 
weltabgeschiedenen  Militärkolonien  (mentalite  gregaire)  und  von  Schiffs- 
besatzungen bekanntgeworden  (Vischer  319  und  318,  Bechterew  13). 

,,I1  toume  ä  l'aigre,  mon  cafard.  II  s'en  faut  de  peu,  ce  soir,  que  je  comprenne 
certaines  scenes  de  casemate  qui  m'avaient  etonne:  des  hommes  silencieux,  s'exasperant 
soudain,  et  pour  un  mot,  se  jeitant  les  uns  sux  les  autres,  se  battant  comme  chevaux 
sans    avoine   dans   l'ecurie Pauvres    fauves   en    cages  '•." 

Vischer  macht  auch  auf  jene  eigenartigen  Verstimmungen  aufmerksam,  die  schon 
durch  eine  sehr  geringe  Situationsänderung  eintreten  können:  durch  den  Sonntag. 
Langweile,  leichte  Rührseligkeit  und  Traurigkeit  bilden  die  Grundlage  dieser  Sonntag- 
Nachmittag-Stimmung    (3 18). 

1  Das  Wort  ist  neuerdings  mit  erweitertem  Sinn  vielfach  verwendet  worden:  Siehe 
Huot-Voivenel  (127)  und  Nicole  (225).  Vielleicht  hat  auch  der  sog.  Tropenkoller 
hiermit    Verwandtschaft. 

^   Vgl.    auch    Mossier    (2i3)    über  den   TrappLstenorden. 

^  Gaston  Riou,  Journal  d'un  simple  soldat.  Paris,  1916,  S.  i3  (zitiert  nach 
Vischer,    3  ig). 

6* 


84  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

In  solchen  eigenartigen  Dysphorien  ^  mischen  sich  vielerlei  Gefühls-  und 
Kmpfindungsmomente,  so  daß  zum  mindesten  in  dieser  Gesamt mischung 
eine  qualitativ  neue  Stimmurigsiage  erscheint.  Aber  selbst  wenn  vielleicht 
bei  einer  »genaueren  Zerlegung  nur  das  Unbestimmte  mancher  Gefühlsregungen, 
das  Zielunsichere  mancher  Strebungen  herausgestellt  werden  könnte,  während 
sich  die  Funktionen  selbst  der  Art  nach  nicht  als  abnorm  erweisen  dürften, 
80  ist  doch  ein  Moment  hier  auch  bei  den  Gefühlen  hervorzuheben,  das 
später  bei  den  abnormen  Akten  nochmals  erwähnt  werden  wird,  die  soge- 
nannte Ambivalenz  der  Gefühle.  Was  für  ein  seelischer  Tatbestand 
mit  diesem  Ausdruck  getroffen  werden  soll,  ist  jedem  Erfahrenen  klar,  der 
zahlreiche  schizophrene  Gemütskranke  kennen  lernte.  Schwierig  ist  dagegen 
die  Beschreibung,  noch  schwieriger  die  psychologische  Einordnung  des 
Symptoms.  Der  Normale  kann  irgendeinem  Gegenstand  oder  einer  Person 
gleichgültig  gegenüberstehen,  er  hat  dann  dieses  bestimmte  Gleichgültigkeits- 
erlebnis bezogen  auf  dieses  Objekt;  weder  Freude  noch  Unlust  wird  ge- 
weckt. In  einem  zweiten  Falle  vermag  der  Gegenstand  ihn  mit  einem 
deutlichen  Affekt  zu  erfüllen,  etwa  mit  Abscheu:  wieder  ist  das  Erlebnis 
gefühlsmäßig  eindeutig,  klar.  Zuweilen  sind  es  an  einem  Objekt  mehrere 
„Seiten",  die  den  Erlebenden  freuen,  und  andere,  die  ihn  ärgerlich  machen, 
und  nun  fühlt  er  sich  zwiespältig  affiziert.  Er  drückt  dies  vielleicht  so  aus, 
daß  er  keine  „rechte"  Freude  daran  haben  könne.  Jeder  kennt  diesen  un- 
einheitlichen Gemütszustand,  wenn  er  sich  z.  B.  erinnert,  daß  er  einen 
Menschen  wegen  seiner  trefflichen  Charaktereigenschaften  liebt  und  sich 
doch  wegen  seiner  schlechten  Umgangsformen  heftig  an  ihm  ärgert.  Gelegent- 
lich ist  auch  dieses  Erlebnis  noch  klar  im  Bewußtsein,  man  kann  das  Für 
und  Wider  deutlich  aufzeigen.  Aber  schließlich  kennt  man  auch  Zustände, 
in  denen  man  schwankt;  man  ist  unschlüssig,  ob  man  bejahen  oder  ver- 
neinen soll.  Nicht  wie  im  ersten  Fall  aus  Gleichgültigkeit,  auch  nicht  weil 
mancherlei  Erwägungen  der  Vernunft  für  und  andere  gegen  den  betreffen- 
den Gegenstand  sprechen,  sondern  weil  wirklich  das  Gefühlsmoment  unklar 
und  unentschieden  ist.  Vielleicht  kann  man  sich  diese  Gefühlslage  am  ehesten 
mit  dem  Bilde  klar  machen,  daß  bei  der  Gleichgültigkeit  die  beiden  Schalen 
der  Gefühlswage  unbelastet  seien,  während  bei  der  Zwiespältigkeit  die  Plus- 
Schale  ebenso  stark  belastet  sei  wie  die  Minus-Schale.  Es  ist  nun  möglich, 
daß  von  diesem  Zwiespältigkeitserlebnis  aus  allmähliche  Übergänge  zu  dem 
Phänomen  der  Gefühlsambivalenz  führen,  und  daß  also  dies  bei  der  Schizo- 
phrenie so  häufige  Symptom  nur  insofern  abnorm  ist,  als  es  so  sehr 
überwiegt  gegenüber  der  Seltenheit  beim  Normalen.  Mir  persönlich  ist  es 
wahrscheinlicher,  daß  in  der  schizophrenen  Ambivalenz  ein  qualitativ 
abnormes  Moment  steckt.  Ich  vermute,  daß,  wenn  z.  B.  ein  Hebephrener 
seine  Mutter  gleichzeitig  liebt  und  haßt,  es  nicht  wie  beim  Normalen  so 
geschieht,  daß  er  manche  Züge  an  ihr  liebt  und  andere  an  ihr  haßt,  und 
daß  je  nach  der  Situation  bald  diese,  bald  jene  Einstellung  überwiegt,  sondern 
daß  gleichzeitig  Liebe  und  Haß  geweckt  werden  und  an  einem  und 
demselben   Gegenstandsmerkmal   sich   anheften.    Freilich    könnte   sich    der 


1  Ihre    Analyse    ist    sehr    interessant,    kann    jedoch    hier    wegen    Raummangels    nicht 
durchgeführt    werden. 


,\BNORME    GEFÜHLE  85 


.Normair  in  eine  solche  simultane  .Ambivalenz  nicht  einfühlen;  aber  es  ist 
ja  überhaupt  ein  Kennzeichen  der  schizophrenen  Symptome,  daß  man 
sich  in   sie   nicht  einzufühlen   vermag. 

Endlich  sei  als  Anhang  der  (I«^fühlsstörungen  noch  erwähnt,  dafj  sich 
gelegentlich  die  (lefühle  von  denjenigen  Gegenständen  lösen,  mit  denen 
sie  vereinigt  waren,  oder  daß  sie  sich  an  Objekte  anheften,  die  zu  anderen 
Zeiten  und  unter  anderen  Umständen  gänzlich  werUirm  erscheinen.  Es 
handelt  sich  also  um  eine  Störung  des  (lefühls Verbandes,  nicht  der 
einzelnen   (Qualität. 

Es  geschieht  z.  B..  daß  eine  Frau  sicli  in  der  Scliwaiigerscliaft  von  dem  bisher 
«ihr  geliebten  Manne  altwendel:  sie  steht  fortan  zu  ilim  kalt,  fast  feindlich.  Und  erst 
iiiil  dein  .Vugenblitkt-  der  Niederkunft  ist  das  alle  Wrtrauens-  und  Liebesverhältnis  wieder 
lierge^tellt.     In    anderen    Fälleni    gewinnen    gleicligtiltigo    Gegenstände    einen    außei-ordent- 

ichen  Wert:  das  \'erzehren  von  Kreide,  das  Betastopi  von  Seide,  der  Besitz  beliebiger 
( legenstände    erw^eckt    ein    sonst    in   diesem    Zusammenhange    nicht   gekanntes    Lustgefühl- 

Gelüste). 

Man  vermag  keine  bewußten  Motive  für  diese  Gefühl s lös ungen  und 
Gefühls  Verschiebungen  aufzufinden.  Und  wenn  man  auch  viellei  cht 
mit  Recht  eine  innere  Vergiftung  des  Körpers  als  Hauptursache  der 
Störung  verantwortlich  macht,  so  ist  doch  damit  noch  keineswegs  „erklärt", 
warum  sich  ein  bestimmtes  Lustgefühl  gerade  von  dem  einen  Inhalt  ab- 
wendet imd  dem  andern  zuwendet.  Manche  Forscher'  glauben  in  unter- 
drückten Wünschen  den  Ausgang  und  in  zufälligen  Komplexassoziationen 
den  Weg  solcher  Gefühlsverschiebungen  zu  sehen.  Solch  neue  Gefühls- 
besetzungen wären  dann  also  VVunscherfüllungen  im  Symbol.  Mich  selbst 
befriedigt  eine  solche  Theorie  wenig,  wenngleich  ich  keine  bessere  an 
ihre  Stelle   setzen  kann. 

Bei  diesen  Gefühlsverschiebungen  handelt  es  sich  schon  nicht  mehr  um 
eine  .\bnormität  der  seelischen  Inhalte  und  Zustände,  sondern  um  eine 
Störung  der  Ve  rk  nüpf  theit.  Und  damit  ist  eine  interessante  Frage  an- 
geschnitten :  gibt  es  in  der  Fülle  der  Assoziationen  solche,  die  als  abnorm 
zu  bezeichnen  sind?  Oder  in  anderen  Worten:  was  kann  an  einem  asso- 
ziativen Verband  als  abnorm  bezeichnet  werden  ?  Die  Antwort  lautet 
einfach:  nichts.  Mag  man  (mit  Semon)  annehmen,  dafj  sich  alle  Asso- 
ziationen auf  den  Ursprung  der  (ileich zeitigkeit  zurückführen  lassen,  mag 
man  noch  andere  selbständige  Arten  des  Assoziationsverbandes  gelten  lassen, 
jedenfalls  besteht  folgende  Tatsache :  innerhalb  einer  Gruppe  irgendwelcher 
Inhalte  äußeren  oder  inneren  Erlebens  setzt  die  Reproduktion  des  einen 
Inhaltes  die  Tendenz,  auch  die  übrigen  wieder  lebendig  werden  zu  lassen. 
Die  Tatsache  der  G  leichzeitigkeit  schafft  die  Verknüpf  theit. 
Was  aber  könnte  hieran  abnorm  sein?  Man  könnte  sich  vorstellen, 
daß    diese  Verknüpfung    unter     besonderen    Bedingungen    in    ihrem    Uni- 


1  Wiederum  haupLsiichlich  in  der  Schwangerschaft,  aber  auch  im  Verlauf  der 
schizophrenen    Verblödung. 

2  Bei  manchen  der  schwangeren  Warenhausdiebimien  spielt  diese  Gefühlsverschiebung 
als  Motiv  ihrer  Straftat  mit.  —  Man  denke  auch  daran,  wie  häufig  die  Gefühlsstörutig 
und  -Verschiebung  im  Traum  erlebt  wird. 

•*  Besonders    die    Anhänger    Freuds. 


86  GKÜHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    AB.NOilME.N 

fange  beeinträchtigt  würde  oder  ganz  ausbliebe.  Stimmt  man  freilich 
der  Theorie  zu,  daß  nichts  einmal  Erlebtes  verloren  gehe,  sondern  alles 
im  Gedächtnis  aufbewahrt  werde,  wenngleich  es  freilich  später  der  Inten- 
tion nicht  mehr  zugänglich  zu  sein  brauche,  so  könnte  man  der 
soeben  vorgeschlagenen  Annahme  nicht  zustimmen.  Läf5t  man  aber 
diese  an  sich  nicht  beweisbare  Ansicht  dahingestellt,  so  könnte  man 
gegen  jene  Annahme  nicht  viel  einwenden.  In  der  Tat  könnte  man  sich 
denken,  daß  bei  manchen  Menschen  ein  irgendwie  eintretendes  Erlebnis 
dürftige  Assoziationen  bindet.  l']s  bleibt  gleichsam  allein.  Manche  kümmer- 
liche geistige  Veranlagungen,  also  Debilitäten  und  Imbezillitäten,  mögen 
zum  Teil  mit  auf  dieser  Tatsache  beruhen:  der  Schatz  der  vorhandenen 
Assoziationen  ist  arm.  Man  könnte  sich  ferner  denken,  daß  beim  „Ver- 
gessen" nicht  nur  die  Inhalte  selbst^  verlorengehen,  sondern  ihre  Ver- 
knüpftheit  gleichsam  erlischt.  Auch  dies  muß  man  als  möglich  zugeben. 
Ja  es  war  oben  davon  die  Rede,  daß  sich  manche  Agnosien  und  Aphasien 
am  befriedigendsten  auf  diese  Weise  erklären  lassen.  Man  wird  also  zu- 
geben müssen,  daß  —  gemessen  am  Durchschnitt  —  der  Schatz  der  vor- 
handenen Assoziationen  verringert  (vielleicht  auch  abnorm  vermehrt :  Wunder- 
gedächtnisse) sein  kann.  Man  könnte  endlich  noch  annehmen,  daß  die 
simultanen  Engramme  dispositionell  so  lose  aneinander  geknüpft  sind,  dafi 
das  Auftauchen  des  einen  Engramms  das  andere  nur  unter  besonders 
günstigen  Bedingungen  mit  ekphoriert,  während  es  für  gewöhnlich  latent 
bleibt.  Aber  auch  dieses  Moment  liefe  wiederum  im  Ergebnis  auf  eine 
assoziative  Armut  hinaus.  Inwiefern  aber  der  assoziative  Verband  quali- 
tativ selbst  als  abnorm  angesehen  werden  könnte,  ist  schlechterdings 
nicht  auszudenken-.  Eine  Assoziation  an  sich  kann  niemals  als 
abnorm  bezeichnet  werden. 

Der  Anhänger  der  Assoziationspsychologie  hat  noch  einen  Einwand  be- 
reit. Er  meint,  daß  ungezählte  Assoziationen  den  meisten  Menschen  gemein- 
sam seien,  daß  z.  B.  in  fast  allen  Menschen  Weiß  und  Schwarz,  \  ater  und 
Sohn,  Heidelberg  und  Schloß  verknüpft  seien.  Wenn  dagegen  jemand  auf 
\Aeiß  mit  Brasilien,  auf  Vater  mit  Lombardei  usw.  reagiere,  so  seien  dies 
abnorme  Verknüpfungen.  Sicher  ist  zuzugeben,  daß  solche  Assoziationen 
ungewöhnlich  sind,  doch  läßt  sich  sonst  nichts  Abnormes  an  ihnen  auf- 
zeigen. Wollte  man  jede  nicht  geläufige  Ideenverbindung  als  abnorm  be- 
zeichnen, so  müßte  man  jeden  neuen  Einfall,  jede  Erfindung,  überhaupt 
jeden  originalen  Gedanken  zu  den  abnormen  Assoziationen  rechnen.  Wenn 
einige  Autoren,  besonders  Bleuler-^  hiergegen  einwenden,  daß  nur  diejenigen 
Assoziationen  als  abnorm  zu  bezeichnen  seien,  die  hinsichtlich  des  einge- 
schlagenen Gedankengangs  (also  der  früher  sogenannten  Zielvorstellung) 
als  abwegig,  bizarr  usw.  erschienen,  so  muß  man  den  unleidlichen  Miß- 
brauch bedauern,    den    hierbei    das  Wort  Assoziation  erlangt:  es  deckt  all- 

^  S.   oben    S.    i4. 

-  Vielleicht  hat  Richard  Semon  auch  hierüber  besondere  Meinungen  gehabt.  Sein 
liinlerlassenes  Werk  (292 1  brachte  nicht  jene  Pathologie  der  Mneme,  die  er  bei  Leb- 
zeiten   versprochen    hatte. 

^    In    allen    seinen    Arbeiten.     Siehe    besonder?    27    (S.    53)    und    28. 


GIBT    ES    ABNORME    ASSOZIATIONEN? 87 

mählich  alles  und  daher  nichts.  Auf  das  hier  gemeinte  Symptom  der  Ver- 
schrobenhoit,  Zerfahrenheit  usw.  gehe  ich  s[)ätcr  ein.  Aus  dem  Cesagten 
erhellt  wohl  zur  (JtMuige,  wie  es  gemeint  ist,  wenn  manche  Autoren  diese 
Störung  als   Lockerung  der  Assoziationen  bezeichnen. 

Bisher  habe  ich  die  quantitativen  und  qualitativen  Abweichungen  der 
seelischen  Inhalte  und  Zustände  beschrieben;  —  in  der  Folge  soll  ein 
überblick  über  jene  Störungen  folgen,  die  die  Ordnung  zwischen  den  In- 
halten betroffen.  Damit  sind  keineswegs,  wie  aus  dem  soeben  Gesagten 
hervorgehen  wird,  die  sogenannten  Assoziationen  gemeint,  sondern  die  Be- 
ziehungen des  Ich  auf  die  Gegenstände,  die  Richtung  auf  ein  Objekt,  die 
Weise  der  Beziehung  des  Bewußtseins  auf  einen  Inhalt  (Brentano),  die 
intentionalen  Erlebnisse  oder  Akte  (Husserl).  Diese  Weisen  der  Beziehung, 
die  sich  etwa  als  bloßes  Vorstellen,  Für-wahr-Halten,  Vermuten,  Zweifeln, 
Hoffen,  Fürchten,  Wohlgefallen-  oder  Mißfallen -Haben,  Begehren,  Fliehen, 
Urteilsentscheiden,  Willensentscheiden  usw.  darstellen,  sind  zwar  von  Bren- 
tano und  Husserl  weithin  geklärt,  jedoch  noch  keineswegs  so  klar  und  be- 
stimmt umrissen  worden,  daß  die  normale  Basis  schon  fest  gegründet 
wäre,  auf  der  eine  Phänomenologie  der  Abnormität  der  Akte  (im  psy- 
chologischen Sinne)  aufgebaut  werden  könnte.  So  reizvoll  auch  der  Versuch 
erscheinen  möge,  eine  „Lehre  von  den  abnormen  Akten"  zu  schaffen,  würde 
er  doch  die  mir  innerhalb  dieses  Handbuchs  gesetzten  Schranken  völlig 
sprengen.  So  dienen  mir  Husserlsche  Gesichtspunkte  nur  gleichsam  als 
Grenzsteine,  innerhalb  deren  das  wichtig  erscheinende  hierher  gehörige 
psychopathologische  Material  aufgestapelt  wird,  ohne  daß  seine  systema- 
tische Bearbeitung  und  innerliche  Ordnung  hier  möglich  wäre. 


ABNORMITÄT  DEE  FUNKTIONEN  (AKTE) 

A.  INTENTIONALER  AKT  (PROSPEKTIVER  GESICHTSPUNKT) 

1.  Richtung  normal,  Durchführung  abnorm 

Wenn  ich  etwas  wahrzunehmen  bestrebt  bin,  etwa  auf  Patrouille  einen 
fernen  sich  bewegenden  Gegenstand  zu  erkennen  wünsche,  so  kann  ich 
durch  innere  Umstände  dabei  gehindert  werden  (die  äußeren  Momente 
interessieren  in  diesem  Zusammenhange  nicht).  Ich  kann  mich  z.  B.  dabei 
ertappen,  daß  ich  aus  Müdigkeit  nicht  dauernd  scharf  beobachte.  Ich 
halte  zwar  meinen  Gegenstand  dauernd  im  Auge,  auch  bin  ich  innerlich 
beständig  auf  ihn  gerichtet,  aber  die  Intensität  dieser  Einstellung  ist  matt, 
ich  spüre,  wie  sich  alles  gleichsam  mechanisch  vollzieht,  ich  weiß,  daß  ich 
hernach  keinen  guten  Bericht  werde  abgeben  können.  Solche  Störungen 
finden  sich  vor  allem  in  der  Erschöpfung '.  Zwar  habe  ich  noch  die  be- 
treffenden Empfindungen  und  deren  Struktur  vor  mir,  aber  ich  bemerke 
nicht  mehr  das  Wichtige  an  ihnen,  ich  fasse  sie  nicht  mehr  zu  Komplexen 
zusammen,  ich  gelange  nicht  mehr  zur  begrifflichen  Bearbeitung,  zum  Ur- 
teil: kurz,  die  Funktionen  (Stumpf)  sind  gestört.  Ich  erhalte  vielleicht 
den  Vorwurf:  haben  Sie  denn  nicht  bemerkt,  daß  usw.,  und  ich  muß  ant- 
worten, ja,  ich  habe  das  an  sich  wohl  bemerkt,  aber  ich  habe  die  Bedeu- 
tung der  Sache  eben  nicht  erkannt.  Die  Apperzeption  (im  Herbartschen 
Sinn)  ist  gestört,  ich  verschmelze  die  einzelnen  Gestaltkomplexe  nicht  mit 
den  sonst  aus  mir  hinzutretenden  Elementen.  Vielleicht  drücke  ich  es  ge- 
legentlich auch  so  aus,  daß  ich  sage:  mir  fiel  dabei  nichts  ein,  ich  kam 
mir  so  unbeteiligt  vor,  obwohl  ich  durchaus  die  Tendenz  hatte,  mich  da- 
für zu  interessieren.  Das  Erlebnis  der  seelischen  Hemmung  äußert  sich 
nicht  selten  in  dieser  Weise:  die  Akte  des  Erkennens  sind  keineswegs 
vernichtet,  aber  sie  sind  erschwert,  verlangsamt,  eben  gehemmt.  Freilich 
erstreckt  sich  diese  Hemmung  nicht  nur  auf  die  Wahrnehmung;  auch  die 
Vorstellung  anschaulicher,  das  Denken  unanschaulicher  Inhalte  ist  in  der 
gleichen  Weise  erschwert.  Man  hört  die  Kranken  direkt  darüber  klagen, 
sie  hätten  den  Eindruck,  nicht  mehr  denken  zu  können;  sie  fragen  ängst- 
Hch,  ob  sie  nicht  blödsinnig  werden.  Aber  diese  Befürchtung  entsteht  nicht 
nur  aus  der  inneren  Wahrnehmung  der  Erschwerung,  es  entgeht  diesen 
Kranken  auch  nicht,  daß  ihre  Spontaneität  auf  ein  Mininum  reduziert  ist.  Es 
geht  in  ihnen  gar  nichts  vor,  sie  kommen  zu  gar  keinen  Akten  (Gedanken- 


1     Auch   bei   verschiedenen    Vergiftungen,    z\i    denen    ja   die   Erschöpfung    wahrschein- 
licli    mit   gehört. 


MLMMl.NG 89 

leere),  die  ganze  Maschinerie  scheint  schhoISHch  stillzuslehen  (Stupor)  *. 
Rafft  sich  der  kranke  doch  einmal  zu  eiiu'in  W  illcnsakt  auf,  so  bleibt 
er  oft  entweder  auf  halbem  Wege  stehen,  oder  er  schwankt  zwischen  diesem 
und  einem  andern  Impuls  hin  um!  her,  ohne  sich  für  einen  \on  beiden 
entschließen  zu  können  (Entschluliunfähigkeit,  sogenannte  Willensschwäche, 
Abulie)-.  Das  Unvermögen,  sich  von  einem  (Gegenstände  loszureißen  und 
sich  einem  anderen  zuzuwenden,  ist  auch  objektiv  oft  recht  deutlich  (Haften- 
bleiben). Zuweilen  befällt  die  Hemmung  nur  die  Akte  des  Denkens  und 
Wollens  (intrapsychische  Hemmung),  zuweilen  erstreckt  sie  sich  auch  auf 
die  Umsetzung  der  Impulse  ins  Motorische'. 

Proben  von  Hemmung:  „Es  ist  ganz  walir.  daß  ich  niclits  mehr  begreife.  Schon 
N-iele  Wochen  zu  Hause  verkroch  ich  niicli  immer.  Es  ist  mir  unmöglich,  einer  Untei- 
haltung  zu  folgiii.  Ich  kami  nicht  einen  vernünftigen  («eilanken  mehr  fassen.  Wenn 
man  mir  sagt,  so  und  .so  muß  etwas  gemacht  w^erdcn,  so  behalte  ich  es  uiclil.  Ich 
habe  die  Empfindung,  ich  niul'i  immer  auf  einen  Fle-ck  starren.  In  Gedanken  unterhalte 
ich  mich  immer  mit  dem  Ii«'rrii  Doktor,  aber  wonn  er  kommt,  kann  icli  kein  Wort  sagen. 
Es  ist  wirklich  keine  Einhilihing,  daß  icli  nichts  begreife.  Ess  ist  gar  nicht  möglich, 
daß  icii  unter  Menschen  gelie.  Ein  junges  Mädchen  in  <iiesem  Zustande,  daß  ihm 
alles  einerlei  ist,  ob  es  ordentlich  aussieht  oder  nichb  .  .  .  Ich  weiß  auch  gar  nicht 
mehr,  wie  ich  mich  betragen  soll.  Es  fällt  mir  sogar  schwer,  .guten  Tag'  zu  sagen, 
und  ,bitte.  nehmen  Sie  Platz"  .  Denn  wenn  man  mir  einen  Salz  gesagl  hat,  kann  ich 
ihn  in  Getlanken  zehnmal  wiederholen  ohiu>  doch  zu  tun.  was  er  tnir  sagt.  I^o  sitze  ich 
viele  Stunden  vor  dem  Papier  und  kann  .loch  niilils  Deutliches  sciireilieM.'  (Gerda 
Linde.    Psychiatr.    Klinik    Heidelberg.     lo.    XI.    1900.) 

..Ich  war  wie  ein  Simpel,  im  Kopf  war  es  auf  «iranal  so  leer,  es  war  so  als 
ob  ich  einen  .Stecken  im  Kopf  hätte."  (Psychiatr.  Klinik  Heidelberg,  2.  II.  i->..  Kaifiline 
SchuUe.) 

Eine  andere  Störung  des  seelischen  Ablaufs  ist  jene,  bei  der  der  (legea- 
stand,  auf  den  man  gerichtet  ist,  nicht  beibehalten  werden  kann.  Die 
Materie  des  intentionalen  .\ktes  ist  gestört^.  Das  kann  in  verschiedener 
Weise  der  Fall  sein.  Nach  dem  grofSen  Kriege  klagten  viele  Feldzugsteil- 
nehmer darüber,  daß  sie  sich  nur  ganz  kurze  Zeit  auf  etwas  konzentrieren 
könnten''.  Selbst  bei  ganz  einfachen  Gegenständen  —  etwa  einem  leichten 
Roman  —  ließe  ihre  Aufmerksamkeit  nach,  der  Faden  risse  ihnen 
ab,  die  Gedanken  wären  schon  wieder  wo  anders;  eine  innere  Unruhe 
jage  sie  von  Gegenstand  zu  Gegenstand.  Oft  faßten  sie  ihre  Klagen  in  die 
Form,  daß  ihr  Gedächtnis  gelitten  habe.  Und  in  gewisser  Hinsicht  war 
dies  auch  der  Fall,  denn  da  sie  jedem  neuen  Inhalt  sich  nur  in  unzu- 
reichender Weise  zuwendeten,  da  alles        \  olkstümlich  gesagt  —  zum  einen 


'   Siehe    oben    S.    21. 

2  Die  Janetsche  Abulie  ist  etwas  ganz  anderes.  Über  die  eigentliche  Vbulie,  als 
Fehlen    der    Impulse,    siehe    oben    S.    20. 

3  Daß  die  Hemmung  höheren  Grades  fast  immer  mit  depressiver  Stimmung  ver- 
bunden ist.  wurde  oben  schon  erwälint  (Melancholie).  Es  wäre  \orschnell,  zu  urteilen, 
daß  die  Schwermut  selber  hemmt ;  möglicherweise  sind  Schwermut  und  Hemmung 
aneinander  geknüpfte  Symptome  einer  pjemeinsanien  Ui^sache,  deren  Natur  noch  unbe- 
kannt  ist,  aber  vielleicht  in   eiiier  inneren   Verffiftunc   besteht. 

*  EHe  Terminologie  im  folgenden  lehnt  sich  vielfach  an  Husserl  (,128)  an.  Doch 
werden  seine  Begriffe  hier  natürlich  rein  psychologisch  gefaßt,  im  Gegensatz  zu 
Husserl    selbst. 

•''  Typische    Beschreibungen    solcher    Zustände    siehe    bei    Vischer    (3i8). 


90  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Ohr  herein-  und  zum  andern  wieder  hinausging,  genügte  die  aufgewandte 
seeHsche  Energie  nicht  zur  Fixierung,  zur  Einprägung.  Vermochten  sie  sich 
doch  einmal  zu  energischer  Konzentriertheit  zusammenzureißen,  so  zeigte 
sich,  daß  die  vvirküche  Fähigkeit  zum  Merken  nicht  gestört  war.  Diese 
Kriegsneurotiker  erklärten  sich  zuweilen  unfähig  zu  jeder  geistigen  Arbeit. 
Selbst  die  Erfüllung  irgendeiner  einfachen  Aufgabe  fiel  ihnen  schwer, 
denn  sie  beharrten  nicht  bei  der  determinierenden  Tendenz  (Ach),  die  zur 
Erledigung  einer  zusammenhängenden  geistigen  .\rbeit  gehört;  sie  ver- 
mochten die  Richtung  des  Denkens  nicht  beizubehalten. 

Zuweilen  äußert  sich  eine  solche  Störung  in  einer  übermäßigen  Ablenk- 
barkeit.  Manche  Geisteskranke ^  werden  durch  alle  äußeren  Sinneseindrücke 
übermäßig  in  Anspruch  genommen.  In  leichteren  Fällen  verlieren  sie  zwar 
noch  nicht  den  Faden,  aber  sie  machen  allerhand  Umwege. 

Vielleicht  will  ein  solcher  Hypomaniacus  ein  einfaches  Venvandtschaftsverhältnis  aus- 
einandersetzen. Dabei  fällt  sein  Blick  auf  die  blauen  Augen  seines  Gegenübers,  und  er 
kann  die  Bemerkung  nicht  unterdrücken:  „Meine  Schwester  hatte  genau  so  blaue  Augen 
wie  Sie."  Er  erzählt  weiter  von  seiner  Mutter,  und  wird  dabei  durch  die  Blumen  vor 
dem  Fenster  gestört:  „Gerade  solche  violetten  Petunien  pflegte  meine  Mutter  auch 
gern  zu  ziehen."  Eine  Tür  wrd  zugeschlagen:  „das  war  auch  mein  Fehler,  wie  oft 
hat  mir  die  Mutter  verboten,  die  Türen  zuzuwerfen,  dabei  wax  das  Haus  gar  nicht  so 
wacklig  gebaut,  es  war  etwa  so  wie  dieses,  nur  die  Fenster  waren  nicht  so  groß,  und 
dann,  wissen  Sie,  die  Einteilung  der  Fenster  war  anders,  es  waren  nicht  so  große  Spiegel- 
scheiben, sondern  kleinere,  mehr  in  der  Art  des  Barocks"  usw. 

In  schwereren  Fällen  entsteht  dann  eine  förmliche  Nennwut;  jeder  Gegen- 
stand der  Umgebung  wird  ausdrücklich  sprachlich  aufgegriffen  und  in  das 
allmählich  immer  konfuser  werdende  Gerede  mit  hinein  verflochten.  Nicht 
immer  sind  es  äußere  Sinneseindrücke,  die  sich  als  Gegenstand  in  das 
Bewußtsein  geradezu  gewaltsam  eindrängen,  sondern  es  entsteht  oft  ein 
inneres  Weiterschweifen  ^.  Eine  Vorstellung  weckt  ebenso  allerlei 
Erinnerungen,  wie  beim  Normalen,  aber  während  dieser  jene  leichten  inneren 
Anklänge  genau  so  unbeachtet  läßt,  wie  er  von  zufälligen  augenblickUchen 
Geräuschen  oder  Beleuchtungsänderungen  keine  Notiz  nimmt,  steht  der 
Manische  unter  einem  gewissen  Zwang.  Die  einzelnen  Inhalte  sind  mächtiger 
als  die  Energie  seiner  Auswahl,  die  determinierende  Tendenz  seiner  augen- 
blicklichen Einstellung  (Aufgabe)  wird  gleichsam  vergewaltigt,  und  die  Assozi- 
ationen setzen  sich  selbständig  durch.  Diese  Ideenflucht  ist  in  leichteren 
Fällen  gleichsam  nur  ein  ausschweifendes  .\rabeskenwerk  um  die  doch 
schließlich  noch  festgehaltene  Generalidee;  in  schwereren  Fällen  kommt  es 
zur  unendlichen  Aneinanderreihung  ohne  Sinn  und  ZieP.  Häufig  sind  die 
Bindungen  zwischen  den  einzelnen  vorgebrachten  Inhalten  rein  sprachlich, 
lautlich  oder  sonstwie  äußerlich  begründet  (sogenannte  äußere  x\ssoziationen). 
Man  darf  nicht  annehmen,  daß  diese  Ideenflucht  auch  immer  ausgesprochen 

1  Manisch -Erregte. 

-  Man  denke  auch  an  den  sogenannten  Ideenrausch  in  manchen  Fällen  der  leichten 
Alkoholtrunkenheit . 

^  Zuweilen  bemerkt  man  noch  eine  gewisse  einlieitliche  Tendenz  der  Aneinander- 
reihung, die  zwar  keineswegs  ,, beabsichtigt"  ist.  aber  doch  eine  Zeitlang  fortwirkt  (perse- 
veriert).  Z.  B.  wenn  ein  Kranker  lauter  sehr  schckie,  prächtige,  auffallende  Dinge  anein- 
anderfüfft. 


AI  FMKRKSAMKEITSSTÖRUNG.   IDEENFLUCHT 91 

werden  müßte.  In  den  meisten  Fällen  besteht  zwar  gleichzeitig  auch  eine 
S()rachmotorische  (und  überhaupt  eine  motorische)  Krregung  —  die  Worte 
überstürzen  sich  förmlich,  die  Stinuue  ist  laut  ,  doch  gibt  es  auch  Fälle 
inneren  (ledankenjagens  bei  äuljerlich  ruhigem   \  erhaltend 

Beispiele:  (Zuruf:  Heizung.)  ..Kühlung  Orlisiiilung  R.iuch  Zigarren,  lo  Pfennig 
das  Stück,  gib  mir  ein  Stück  Brot,  gib  mir  ein  Stück  Kticlu-n.  du  mußt  suclion."  (F.\a 
Schmöller.    Psychiatr.    Klinik    Heidelberg.    17.    XI.    18. j 

(Spont.nn:)  ..Herla.  Herl.n.  luiflichst  dankend  angenommen.  Kunigunde  aus  Mannheim, 
der  Spruch  der  deutschen  Feuerweiir  lautet  folgendermaßen:  wenns  liier  erwünscht, 
nur  zu.  Lokalzug  über  Brucksal — Zürich,  Dr.  von  Bauer,  Edmun<l  von  König,  Herbst- 
parade Tempelhof,  Vergnügen  Stiftskaffee,  Achtung  hoflichst  Filiale,  Platzmajor,  ist 
dort  Station  aufgegeben,  höflichst  dankend  angenommen.  Blitz  Phonograph,  jetzt  schnell 
geladen,  <ler  Großherzog  geht  Mannheim.  Velhagen  und  Klasing,  Villa  Nißl.  apres  nous 
le  deluge,  Dr.  Heller.  Kolmar  stationiert."  (Minna  Weller.  Psvchiatr.  Klinik  Heidel- 
berg.    I.    \.    95.) 

Man  hat  die  Ideenflucht  auch  genaueren  psychologischen  Analysen  unter- 
worfen. Noch  nicht  völlig  geklärt  ist  die  Frage,  ob  sich  die  einzelnen 
aneinandergereihten  Inhalte  mit  besonderer  Schnelligkeit  folgen,  oder  ob 
nicht  jemand,  der  sich  auf  diese  besondere  Form  des  Assoziierens  absichtlich 
einüben  würde,  die  gleichen  Zeiten  hätte.  Alle  Versuche,  die  Ideenflucht 
zu  „erklären",  die  mir  bisher  bekannt  geworden  sind,  reichen  bei  weitem 
nicht  aus,  das  Phänomen  in  die  sonst  gut  beschriebenen  psychischen  .\b- 
läufe  befriedigend  einzuordnen.  Daß  der  Rededrang  allein  nicht  die  spezielle 
Struktur  der  Ideenflucht  erklären  kann,  ist  ja  selbsherständlich.  Aber  auch 
aus  der  Annahme  einer  „Gesamtvorstellung"  heraus  kann  man  nicht  das 
geordnete  Denken,  und  aus  ihrem  Fehlen  nicht  die  Ideenflucht  begreifen. 
Denn  ich  kann  aus  einer  Gesamtvorstellung  zwar  durch  Beachtung  einzelne 
Teile  henorheben,  doch  regelt  eine  solche  Gesamtvorstellung  niemals  die 
Sukzession  und  die  Ordnung  der  Teile.  Eine  andere  Theorie  vermutet,  daß 
eine  „Obervorstellung"  für  gewöhnlich  den  Ablauf  des  Denkens  dirigiere. 
Die  Einzelheiten  setzen  angeblich  eine  Obervorstellung  nicht  mosaikartig 
zusammen,  sondern  aus  ihnen  entstehe  etwas  Neues,  und  dies  sei  die 
Obervorstellung.  Zwei  Obervorstellungen  lassen  dann  wiederum  eine  neue 
Obervorstellung  höheren  Grades  entstehen  usf.  Aber  gesetzt  den  Fall,  ein 
solche  Obervorstellung  sei  vorhanden,  so  könnte  man  ihr  gemäß  irgend- 
welche Inhalte  ordnen,  z.  B.  etwas  aufzählen.  Niemals  aber  könnte  die 
Obenorstellung  selbst  auf  Grund  ihrer  assoziativen  Verknüpftheit  etwas 
reproduzieren,  sie  könnte  nicht  selbst  etwas  aufzählen.  .\ber  selbst  wenn 
man  auch  dieses  noch  zugeben  wollte,  wenn  man  also  einräumen  wollte, 
daß  durch  den  Fortfall  einer  Obervorstellung  das  Denken  imgeordnet 
würde:  warum  sollte  dann  gerade  eine  ganz  bestimmte  Form  der  l  ngeordnet- 
heit,  nämlich  die  Ideenflucht,  entstehen 2?  Sicherlich  ist  bei  dem  Zustande- 
kommen  der  Ideenflucht  die  seelische  Erregung  ein  Hauptfaktor,  sicher  ist 


^  Sogenannte  gehemmle  Manie  oder  manischer  Stupor,  eine  besondere  Form  des  Misch- 
zustandes aas  dem  Symptomenkreis  des  manisch-depressiven  Irreseins.  EHe  Franzosen 
sprechen  dann  \on  einer  excitation  avec  Inhibition  psychomotrice  imd  Ijenennen  sie  „Manie 
akinefiqiie",  „Inhibition  maniaque".     N>1.  Di'nv.  'lO. 

2  Zu  diesen  Theorien  vgl.  be.sonders  Liepmann  (^180).  Isserlin  (i'i7)  und  Heil- 
bronner    (io4  a). 


92  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

dabei  „das  Nicht-festhalten-Können",  das  Schwinden  der  Intention  ein 
zweites  Hauptmoment;  sicherlich  aber  wird  hierdurch  nur  die  Unordnung 
des  Denkablaufes  überhaupt,  nicht  gerade  diese  ihre  spezielle  Form  in 
Begriffe  gefaßt. 

Wenn  man  z.  B.  eine  weitere  Störung  des  geordneten  Denkens,  die  Ver- 
wirrtheit, ins  Auge  faßt,  so  gilt  auch  für  diese  zuweilen  das  erste  Moment, 
die  Erregung,  gilt  immer  auch  der  zweite  Faktor,  das  Wegfallen  der 
Intention,  und  doch  entsteht  hier  eine  ganz  andere  Form  der  Denkstörung. 
Die  Verwirrtheit  kann  sich  in  sehr  verschiedener  Weise  zeigen.  Einmal 
kann  in  der  Wahrnehmung  die  Einordnung  der  Empfindungen  Not  leiden: 
die  Apperzeption  ist  gestört.  Fast  jeder  Mensch  vermag  sich  von  einer 
fieberhaften  Erkrankung  her  zu  erinnern,  daß  er  dabei  einmal  leicht  ver- 
wirrt wurde.  Daß  ihm  beim  Eintritt  eines  unbekannten  /Vrztes  mit  braunem 
Vollbart  und  hoher  Statur  die  Erinnerung  an  Kaiser  Friedrich  kommt,  ist 
durchaus  natürhch,  —  daß  er  jedoch  diesen  Herrn  für  Kaiser  Friedrich 
hält,  dieser  „setzende  Akt"  ist  abnorm.  Die  Fülle  der  übrigen  Urteile,  daß 
Friedrich  III.  längst  gestorben  sei,  daß  er  auch  bei  Lebzeiten  den  Fiebernden 
kaum  besucht  hätte  usw.,  dies  alles  steht  dem  Kranken  nicht  im  Augen- 
blick zur  Verfügung,  und  so  kommt  er  zu  seinem  Fehlurteil. 

Der  fiebernd  Verwirrte  nimmt  z.  B.  deuflich  und  richtig  walir,  daß  am  messingnen 
Idaiikca  Fuß  seiner  Lampe  Lichterscheinungen  zu  sehen  sind,  aber  anstatt,  daß  er  wie 
der  Normale  „mit  einem  Blicke'  erkennt,  daß  es  sich  hier  um  Spiegelungen,  um 
Lichtreflexe  handelt,  ruft  er  besorgt  nach  seiner  Pflegerin:  sie  solle  schnell  die  Lampt' 
auslöschen,  sie  fange  unten  schon  an  zu  glühen.  Solche  Fehlurteile  führen  oft  zu 
^erwi^^tem  Handeln:  er  venvechselt  Fenster  und  Türe,  will  aus  dem  Suppenteller  trinken 
usw.  Er  erfaßt  einzelnes  und  ordnet  dieses  einzelne  bis  zu  einem  gewissen  Grade  richtig 
ein,  er  beurteilt  den  Suppenteller  z.  B.  richtig  als  Gefäß  mit  Nahrung;  er  ist  aber 
dann  fälschlich  innerlich  auf   ,, Tasse"  eingestellt  und  versucht  daher  zu   trinken. 

Nicht  seine  Assoziationen  sind  gestört  —  seine  plötzlichen  Einfälle  sind 
zuweilen  sogar  überraschend  treffend  und  „gescheit"  — ,  sondern  die  Ord- 
nung, die  Bearbeitung  des  Materiales  seiner  Wahrnehmungen  ist  beein- 
trächtigt. Es  ist  kein  Wunder,  daß  bei  dieser  gleichsam  lückenhaften  Auf- 
fassung seiner  Umgebung  auch  seine  örtliche  und  zeitliche  Orientierung 
alteriert  ist.  Er  verkennt  seine  Angehörigen,  seinen  Aufenthaltsort;  er  ver- 
mag sich  zeitlich  nicht  mehr  zurechtzufinden.  Dabei  ist  es  gerade  für  diese 
Form  der  Verwirrtheit  charakteristisch,  daß  sie  sehr  wechselt;  in  einem 
Augenblicke  klar,  vermag  der  Fiebernde  im  nächsten  Moment  nur  ganz 
verwirrte  Angaben  zu  machen^.  Nimmt  die  Verwirrtheit  höhere  Grade  an, 
so  spricht  man  von  einem  Delirium*.  Selbstverständlich  ist  dann  nicht 
nur  die  Wahrnehmung  und  die  Merkfähigkeit,  sondern  auch  das  Denken 
betroffen.  Ein  Delirant  vermag  z.  B.  oft  eine  Aufgabe  nicht  mehr  richtig 
zu  erfassen,  er  weiß  gar  nicht  mehr,  was  er  tun  soll,  und  wirtschaftet 
gedanklich  oder  motorisch  sinnlos  herum. 


^  Es  handelt  sich  dabei  nicht  nur  um  Fiebernde  (besonders  bei  Kindern,  dann  bei 
Scharlach,  Wundrose,  Lungenentzündung  bei  Trinkern,  Typhus,  Vergiftungen),  sondern 
auch  um  schwer  Erschöpfte  (Blutverluste,  Gebärende)  und  andere  Krankheitszustände 
(Basedowsche    Krankheit    und    die    großen    Psychosen). 

2  Der    französische   Ausdruck    delire   hat   canz  anderen    Sinn. 


VERVMRRTULIT  93 


,,Wi«  und  ^\eshalb  icli  iüerher  (in  die  kliiiik^  kam,  weiß  icli  niclit,  zu  Haust-  kam  mii 
alles  so  fremd,  uh  »ellwl  kam  mir  so  kumiscli  vor.  Hior  hatU;  ich  keiii»-  Ahnung,  wo  icJi 
»ar.  Icli  dachte  >iolleiclit  im  Tliealer.  weil  ich  »>>  viel  Slimmeii  hörte,  uamentlich  von 
i«ängem,  die  ich  früher  einmal  gehört  hatte.  Dann  war  mir  ganz  komisch  zunmte,  icli 
dachte,  es  habe  ein  KrdniL^cli  slaltgofimden.  die  ganze  NNelt  sei  untergegajigen,  nur  die 
Klinik  sei  übrig  gi'blieben.  und  ich  sei  zum  Wiederaufbau  Ix'rufen.  Es  war  als  ob  alle 
Häuser  einstürzten,  alles  war  wie  im  Schwindel,  alles  kam  mir  so  verschüttet  \or.  Mein 
iJruder  kam  mir  auch  so  anders,  so  wacklig  >or.  E>  w;ir  wie  geträumt.  Meiiu'  Phantasie 
war  äuliersl  rege.  Es  war  ein  Kunterbunt,  stän<lig  wecliselte  es,  da  waren  Stimmen  voi> 
Verstorbenen,  die  kamen  bis  zur  Tür  und  wollten  mich  abholen.  Ich  war  dann  sehr  ent- 
täuscht, wie  niemand  kam.  Dann  war  ich  jjlöt/licii  im  Krieg,  um  Telephonleitungen  zu 
legen.  —  Die  .\rzte  habe  ich  anfangs  gar  nicht  erkamit.  Ich  dachte,  sie  wollten  .Ulk  mit 
mir  treiben.  —  Ich  war  ja  den  ganzen  Tag  beschäftigt,  war  j;i  inmier  im  Dienst,  habe  u. 
Crtdankeii  inmier  gearbeitet,  getippt,  telephoniert,  deshalb  kommandierte  ich  ja  immei . 
l.\inn  kam  ich  mir  vor  wie  auf  einer  Wandervogelwanderung."  (Marie  Basler.  Psvchiatr. 
Klinik    Heidelberg.) 

Bei  einer  zweiten  Form  der  Verwirrtheit  besteht  nur  zum  kleinen  Teil 
die  Störung  der  .\pperzeption,  sofern  diese  auf  die  Verarbeitung  der 
Außeneindrücke  eingestellt  ist.  Bei  ihr  besteht  eine  geistige  Unordnung, 
die  vorzüglich  die  eigenen  Impulse  des  Kranken  und  ihre  Durchführung 
betrifft. 

Der  Psychotische  ist  z.  B.  innerlich  auf  die  Befriedigung  eines  Bedürfnisses  eingestellt. 
Aber  es  kommt  ihm  in  diesem  AugCiiblicke  nicht  zum  Bewußtsein,  daß  er  sich  in 
«inem  fremden  Zimmer,  etwa  im  Wartezimmer  des  Arztes,  unter  anderen  Menschen 
l)efindet.  Lnd  so  stellt  er  sich  mitten  in  dies  Zimm«r  und  uriniert  auf  den  Teppich. 
Würde  man  ihn  in  diesem  Augenblicke  fragen,  wo  er  sich  befände,  .so  würde  er  völlig 
Ivorrekt  antworten.  Aber  er  bezieht  diesen  Bewußtseinsinhalt  (Sprechzimmer  des  Arztes) 
nicht    auf    den    anderen    (Urinieren;. 

Er  verkennt  die  .Vußenwelt  nicht  wie  der  Fieberdelirant,  aber  er  ver- 
bindet seine  Inhalte  nicht  in  normaler  Weise  zu  Urteilen,  die  sein  Handeln 
beeinflussen.  \Viederum  sind  nicht  seine  Assoziationen  gestört,  sondern 
seine  intentionalen  Erlebnisse  haben  Not  gelitten.  Ähnlich  wie  der  Fiebernde 
kann  auch  er  zu  verwirrten  Handlungen  kommen,  aber  aus  anderer  Ursache: 
er  „findet  nichts  darin",  wenn  er  sich  plötzlich  auf  der  Straße  nackt  aus- 
zieht, wenn  er  als  Lehrer  in  der  Schulklasse  plötzlich  einen  unanständigen 
\  ers  vorsingt,  wenn  er  „zur  Abwechslung*'  einmal  das  Feuer  nicht  im 
Herd,  sondern  auf  dem  Fußboden  der  Küche  anmacht.  Aber  selbstverständ- 
lich erscheint  seine  Störung  nicht  nur  im  Handeln,  sondern  auch  im  Denken. 
Er  vermag  verwickeiteren  Gedankengängen  nicht  zu  folgen,  weil  er  den 
Gegenstand  nicht  festhalten,  weil  er  die  Beziehungen  der  Teile  zum  Ganzen 
nicht  erfassen,  die  Begriffe  von  Ursache  und  Wirkung,  Grund  und  Folge, 
Mittel  und  Zweck  usw.  nicht  anzuwenden  vermag.  Es  fehlt  an  seinen 
zusammenfassenden,  an  seinen  Urteilsakten.  Diese  seine  Urteilsschwäche 
führt  dann  zu  verwirrten  Handlungen  und  verworrenen  Denkprozessen.  Jede 
innere  Disziplin,  jede  Haltung  ist  verloren  gegangen^. 

Läßt  man  etwa  einen  solchen  Kranken  Kopfrechnen,  so  antwortet  er 
7.,  B.  auf  die  Frage  5  X  17  =  75,  nein  38,  nein  35,  ach  so,  nein  65,  ganz 
sicher  65  oder  42  usw.  Es  ist  ein  blindes  Daherraten  ohne  Ansatz  und 
Beharrlichkeit.    Bei  dieser  Form   der  Verwirrtheit   wirkt   meist   auch   noch 


1  Hierfür   seien   beispielsweise  erwähnt   vor   allem   die  progressive    Paraüyse,  dann   auch 
^e    Arteriosklerose,    das    Senium. 


94  GRUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABiNQRMEN 

der  Umstand  mit,  daß  das  Gedächtnis  nur  noch  unregehiiäßig  mit- 
arbeitet. Sei  es,  daß  der  auf  einen  Gegenstiind  gerichtete  Akt  jenen  nicht 
vorfindet  (darüber  siehe  später),  sei  es,  daß  der  Gegenstand  selbst  im 
Gedächtnis  verlorengegangen  ist,  jedenfalls  stellt  er  sich  nicht  an  jener 
Stelle  des  Denkprozesses  ein,  an  dem  er  vorhanden  sein  müßte,  wenn  ein 
korrekter  Urteilsakt  zustande  kommen   sollte. 

Es  f'ibt  nun  eine  dritte  Form  der  Verwirrtheit,  bei  der  hauptsäch- 
lich dieses  mnestische  Moment  die  Ordnung  stört.  Wenn  man  annimmt, 
daß  einem  die  Erinnerungen,  deren  man  bedarf,  um  irgendetwas 
einzuordnen,  nicht  mehr  zur  Verfügung  stehen,  daß  einem  die  einfach- 
sten Gegenstände  nicht  mehr  einfallen,  so  kann  man  sich  vorstellen, 
daß  man  sich  benimmt  wie  in  fremder,  ganz  unübersehbarer  Situation. 
Auch  das  Wiedererkennen  ist  ja  gestört.  Ein  solcher  Kranker  verläuft 
sich  in  den  altbekannten  Straßen;  er  schiebt  vielleicht  einen  Brief,  den 
er  absenden  will,  unter  den  heruntergelassenen  Rolladen  eines  Geschäftes; 
er  kann  sich  nicht  mehr  erinnern,  wohin  die  Abfälle  seiner  Mahlzeiten 
gehören,  und  so  wickelt  er  sie  sorgsam  in  Papier  und  versteckt  sie  unter 
seinem  Bett.  Er  ist  so  wenig  mehr  komponiert,  daß  er  selbst  das  Wider- 
sinnige seiner  Handlungen  nicht  mehr  bemerkt,  höchstens  daß  ihn  am 
Abend  im  hereinbrechenden  Dunkel  einmal  das  Bewuf5tsein  der  geistig 
nicht  übersehbaren  Situation  in  lebhaften  Angstaffekt  versetzte 

Ganz  anders  ist  die  Genese  einer  Verwirrtheit,  bei  der  ein  plötzlich  ein- 
tretender Affekt  „die  Sinne  verwirrt".  Wenn  ein  großer  Schrecken  jemandem 
„in  die  Glieder  fährt",  ist  er  oft  nicht  nur  am  schnellen  und  gewandten 
Gebrauch  seiner  Motilität  gehindert  —  er  ist  wie  gelähmt  — ,  sondern  auch 
„sein  Verstand  steht  still".  Er  vermag  sich  im  Augenblick  nicht  mehr  der 
einfachsten  Dinge  zu  erinnern,  er  gibt  verwirrte  Antworten  und  ist  jeder 
Kombinationsfähigkeit  bar. 

Man  denke  nur  an  die  verdrehten  Antworten  der  Examenskandidaten  oder  an  die 
sinnlosen  Handlungen  der  übermäßig  Erregten;  bei  einer  Feuersbrunst  will  ein  er- 
schrockenes Mädchen  geradeswegs  in  die  Flammen  laufen;  nach  einem  nahen  Einschlag 
einer  Granate  beginnt  ein  heftig  Erschreckter  angesichts  des  Feindes  ungedeckt  und  laut 
singend  trotz  einer  Verwundung  herumzuspringen;  im  höchsten  Angstaffekt  begeht 
mancher    Melancholiker    ganz    sinnlose    verwirrte    Handlungen    (Raptus    melancholicus). 

Spricht  man  doch  auch  bei  starkem  Lust af f ekt  von  Freude trunkenheit. 
Außer  starken  Affekten  sind  es  auch  lebhafte  Vorstellungen,  sich  aufdrängende 
Gedanken,  die  gelegentlich  einen  Menschen  ganz  verwirrt  machen.  Im 
Grunde  ist  dies  ja  nichts  anderes,  da  ein  solch  „bewegender"  Gedanke 
eben  ein  stark  gefühlsbetonter  Gedanke  oder  in  anderen  Worten  ein 
intensiver,  auf  einen  bestimmten  Gegenstand  gerichteter  Gefühlsakt  ist.  Ein 
Künstler  etwa,  der,  ganz  mit  einem  künstlerischen  Problem  innerlich  beschäf- 
tigt-, in  der  „Zerstreutheit"  Torheiten  begeht,  —  ein  Gelehrter,  der  im 
Verfolg  irgendwelcher  wissenschaftlicher  Gedankengänge  sich  konfus  und 
taktlos  benimmt,  sind  Beispiele  für  solche  leichte  Verwirrtheiten.    Der  Ver- 


1  Hauptsächlich    im    Senium    und    nach    schweren    Kopfunfällen. 

2  Tagträumereien.     Es   gibt    Psychopathen,   die    fast  das   ganze  Leben   wie   im   Traume 
daherwandeln    und    unfähig    sind    zu    jeder    klaren    Tat    oder    Einstellung. 


VERWIRRTHEIT  95 


gleich  mit  doin  Nachtwaiullcr  liegt  nahe,  uinl  er  ist  mehr  als  ein  \  ergleich. 
Denn  auch  der  .Nachhvaiuiicr  handelt  in  mancher  Hinsicht  vollkommen 
besonnen  uiui  klar,  in  anderen  Zusammenhängen  wiederum  ganz  sinnlos 
und  verwirrt. 

.\ber  eine  \  erwirrtheit  kann  auch  auf  noch  ganz  anderem  -W  ege  zu- 
stande kommen.  .Nicht  in  der  Apperzeption  (im  Sinne  Herbarts)  liegt  dann 
das  Wesen  der  Störung,  sondern  die  an  sich  richtig  angesetzte  und 
richtig  arbeitende  Apperzeption  wird  durch  querkommende  Sensationen 
gestört.  W  enn  man  sich  vorstellt,  daß  man  im  Augenblicke  eines  Gedanken- 
ganges dadurch  abgelenkt  wird,  daß  einem  „Stimmen"  unangenehme  Worte 
ins  Ohr  rufen,  daß  man  bei  stärkster  Aufmerksamkeit  schließlich  diese 
Zurufe  zwar  überhört,  aber  im  nächsten  Augenblicke  durch  irgendeine 
„gemachte"  Gedankenreihe  wieder  aus  dem  Konzept  gebracht  wird,  — 
wenn  man  sich  vorstellt,  dafj  solche  Sinnestäuschungen,  wahnhafte  Bewußt- 
heiten, gemachte  Gedanken  usw.  sich  sehr  häufen,  so  kann  man  es  leicht  be- 
greifen, dafj  ein  solcher  geplagter  Schizophrener  schliefjlich  keinen  .\kt  beibe- 
halten, keine  Funktion  durchführen  kann,  sondern  eben  in  eine  allgemeine  innere 
l  ngeordnetheit,  die  \  erwirrtheit,  verfällt.  Sehr  häufig  besteht  diese  nur 
während  solcher  erlebnisreicher  Attacken  und  wird  dann  auch  vom  Kranken 
selbst  sehr  wohl  bemerkt;  nach  wenigen  Stunden,  ja  Minuten,  kann  der 
Kranke  wieder  völlig  klar  besonnen  orientiert  sein.  Bei  anderen  Formen 
geistiger  Störung^  mischen  sich  alle  bisher  beschriebenen  Ursachen,  um 
eine  Verwirrtheit  zu  ergeben:  einerseits  ist  die  Einordnung  der  von  außen 
kommenden  Empfindungskomplexe  an  sich  alteriert,  und  zudem  stören 
noch  zahlreiche,  lebhafte  Sinnestäuschungen,  .\ffekte  und  einzelne  Wahn- 
bewußtheiten die  Auffassung. 

Es  ergeben  sich  also  folgende  Formen   der  ^  erwirrtheit: 

1.  apperzeptive, 

2.  gedanklich  strukturelle, 

3.  mnestische, 

4.  affektive, 

5.  halluzinatorische  ^Verwirrtheit. 

Bei  allen  diesen  Formen  ist  die  Bichtung,  der  Gegenstand,  der  inten- 
tionalen  .\kte,  normal,  nur  ihre  Durchführung  ist  gestört.  Um  einige  an- 
schauliche Beispiele  einer  völligen  Verwirrtheit  zu  geben,  lasse  ich  hier 
Protokolle  über  die  Äußerungen  von  zwei  Psychotischen  folgen: 

„Guten  Morgen,  Herr  Dr.  Müller,  sind  Sie  nicht  mein  Bruder  Hermann?  Ich 
habe  doch  alles  zerbrochen.  (?)  Ich  habe  Ihr  ganzes  Glück  zerbrochen.  Sind  Sie 
nicht  mein  Vater?  Wo  ist  das  Märchenbuch?  Ich  weiß  nicht,  gehört  mir  das  Märchen- 
buch, oder  wo  ist  es?  Ich  finde  nicht  zurecht  in  dem  Märchenbuch."  (Psychiatr. 
Klinik    Heidelberg,   MUa   Schild,    i3.   V.   i5.) 

Ke  nächste  Probe  gibt  die  Antwort  auf  eine  gestellte  Aufgabe  wieder.  (Frau 
Kürer,  Psychiatr.  Klinik,  Heidelberg,  Ix.  V.  1920;  ratlos  ängstliche  Verwirrtheit  im 
Verlauf    des    manisch-depressiven    Irreseins.): 

(Wenn  ich  von  1,17  M.  25  Pf.  wegnehme,  wieviel  bleibt  dann  übrig?)  8.  (Dann 
fragt  die  Kranke  auf  Vorhalt  nochmals  nach  der  Aufgabe,  diese  wird  wiederholt, 
und  sie  beginnt  zu  rechnen:)  117  —  27  =  7,  7  -f-  25  =  117  (falsch!);  — 
I   M.   17  —   17  =^   I   M.,    I   M.   —  5  =   i5,    100  —  5  :=  95. 

^  Z.     B.    beim     Delirium    tremens    der    Alkoholiker. 


96  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    AB.\QRIV1EN 

Die  folgende  Probe  zeigt  deutlich,  wie  sie  beim  spontanen  Erzählen  den  Faden  immer 
wieder  verliert.  „Die  Fahrt  dauerte  bis  ich  in  die  Klinik  kam.  Dann  war  Frau  Leverenz 
iioch  da  —  da,  wie  wir  auch  auf  dem  Kino  gefahren  —  da  waren  aber  alle  Sieges- 
zeichen dab«'i,  und  dann  habe«»  sie  diese  Werner  Vogel  gegeben  zum  reinigen.  Das 
darf  doch  nicht  sein.  —  Aber  das  war  alles  die  Jagd  nach  dem  Geld.  Sic  dachte, 
das  ist  von  Kriegsgewinnlern.  Ich  bin  auch  mal  mitgefahren  nach  England  mit  meiner 
Citla.  England  ist  eigentlich  nichts  als  Kalkfelsen,  wir  dachten,  daß  England  noch 
da  sei,  aber  wie  wir  oben  waren,  da  habe  ich  selbst  gesagt,  da  kann  man  nicht  leben  — , 
in  der  Zeitung  stand  das  Loch  im  Westen.  Da  kommt  alles  rein,  aber  da  bin  ich 
nicht  mehr  weiter  gefahren.  Es  war  >vie  eine  goldene  Kette,  die  mußte  man  fassen, 
aber  ich  liatio  doch  nicht  so  viel  Geld  und  da  bin  ich  abgesprungen.  Die  Frau 
Leverenz  iiat  doch  Porphyrwerke.  Ich  habe  mir  inuner  gedacht,  die  Welt  ist  eine  Kugel, 
rund.  Das  sah  ich  auch,  Heidelberg  muß  doch  auch  eine  Kugel  sein.  Wie  ich  sah,  daß 
die  Welt  rund  ist,  dachte  ich,  daß  Heidell>erg  auf  der  einen  Seite  zu  schwer  sei,  da 
müßte   es    anliegen,    mit    dem    Rhein    muß    das    auch   so    sein"    usw. 

Man  glaube  nicht,  daß  mit  einer  solchen  Verwirrtheit  stets  auch  das 
Bewußtsein  der  Verwirrtheit  verbunden  sein  müßte.  Im  soeben  ange- 
führten Beispiele  war  dies  der  Fall,  es  gibt  aber  Psychotiker,  die  ihrer  Ver- 
wirrung (besonders  derjenigen  strukturellen  Charakters)  gar  nicht  inne  werden, 
wiederum  aus  ihrer  ^  erwirrtheit  heraus,  denn  auch  die  Selbstbeobachtung 
fordert  ja  zielsicheres  Festhalten  der  Intention  ^  Aus  einer  Mischung  der 
apperzeptiven  und  strukturellen  Verwirrtheit  entsteht  zuweilen  jener  Zustand, 
in  dem  die  Kranken  weder  die  Außenwelt  mehr  richtig  erfassen,  noch  ihrer 
gedanklichen  Abläufe  mehr  Herr  sind ;  dazu  kommt  eine  gewisse  Hemmung: 
man  spricht  dann  von  einem  getrübten  Bewußtsein,  einer  Benommenheit, 
in  schweren  Fällen  von  einem  komatösen  Zustand.  Der  „Bewußtlose"  ist 
dann  meist  ganz  in  sich  versunken,  nimmt  von  der  Außenwelt  nur  noch 
ganz  dürftige  Notiz  und  ähnelt  dem  Schlafenden  oder  Ohnmächtigen.  Man 
verwende  für  diese  Zustände  am  besten  die  Ausdrücke:  Benommenheit 
(Somnolenz)  und  Koma,  und  man  vermeide  die  Namen:  Bewußtseinstrübung 
und  Bewußtlosigkeit.  Denn  bei  der  Vieldeutigkeit  des  Terminus  „Bewußt- 
sein" entstehen  leicht  Mißverständnisse  und  besonders  Verwechslungen  mit 
Dämmerzuständen  -. 

Die  verschiedenen  Formen  der  Verwirrtheit  sind  meist  Äußerungen 
vorübergehender  Geistesstörungen.  Bei  einem  Fieberdelir  dauern  sie  vielleicht 
nur  Minuten,  bei  einer  Altersverblödung  können  sie  monatelang  währen. 
Stellt  man  sich  jedoch  vor,  daß  sie  —  besonders  die  gedanklich  struktuelle 
Form  —  nicht  Ergebnis  einer  plötzlichen  ^  ergiftung,  eines  Schädelunfalls 
oder  dergleichen  sind,  sondern  daß  sie  den  seelischen  Ausdruck  einer 
chronischen  Gehirnveränderung  darstellen,  so  werden  sie  irreparabel  und 
sind  dann  ein  Anzeichen  einer  Defektpsychose,  eines  dauernden  geistigen 
\erfalls,  einer  Verblödung.  Man  versteht  unter  Verblödung 
oder  Demenz  einen  erworbenen  irreparablen  geistigen 
S  c  h  w  ä  c  h  e  z  u  s  t  a  n  d.     Die     Aufnahme    des    Wortes    „erworben"    grenzt 


^  Etwas  ganz  anderes.  Besonderes  ist  die  Sprach  Verwirrtheit ;   darüber  siehe  später. 

-  Diese  gehören  meist  in  das  oben  beschriebene  Gebiet  der  Bewußtseinsspaltungen, 
des  alternierenden  Bewußtseins.  Der  Ausdruck  Dämmerzustand  ist  wenig  glücklich: 
oft  handeln  die  L  md.immerten  ganz  frei  und  vernünftig,  und  nur  die  Erinnerung  für 
die  Gegenstände  dieser  Bewußtseinsphase  ist  in  der  späteren  dann  nicht 
vorhanden. 


VERBLÖDUNG  97 


diese  Defekte  ab  gegen  die  angeborenen  (oder  in  allerfrühestcr  Jugend 
entstandenen)  geistigen  Schwächen  (Debihtät,  ImbezilHtät,  Idiotie).  Von 
ihnen  war  schon  oben  die  Rede.  Sie  vermögen  im  Leben  nicht  das 
normale  Ma(j  geistiger  Kntwickking  zu  erreichen,  da  sie  weder  die 
nötigen  \  orräte  (\Vis.sensstoffe)  zu  erwerben  imstande  sind,  noch  das 
geordnete  Spiel  der  Akte  erlernen  können,  das  die  normale  Funktion  des 
Intellekts  konstituiert.  —  Wenn  in  der  obigen  Definition  das 
V\ort  irreparabel  den  zweiten  Platz  hat,  so  will  man  dadurch  aus  dem 
Demenzbegriff  alle  vorübergehenden  geistigen  Störungen,  die 
beschriebenen  Hemmungen,  Verwirrungen  usw.  ausschalten.  Und  wenn 
endlich  von  geistigen  Schwächezuständen  die  Rede  ist,  so  will  man  nicht 
jene  Defekte  mit  umfassen,  die  unter  dem  Namen  der  gemütlichen  Ver- 
blödung zusammengefafSt  werden.  Unter  dieser  Rezeichnung  birgt  sich 
zweierlei:  einmal  eine  allgemeine  Abschwächung  der  Affektmöglichkeiten', 
sodann  eine  Affektabspaltung,  die  unten  bei  dem  schizophrenen  Mechanismus 
mitbeschrieben  werden  wird.  Die  Demenz  ist  also  nur  die  erworbene 
irreparable  geistige  Verblödung.  Wenn  man  in  der  psychiatrischen 
Literatur  auch  vieles  andere  gelegentlich  mit  diesem  Namen  bezeichnet  findet, 
so  ist  sich  der  Psychiater  meist  der  Unterschiede  sachlicher  Art  wohl  be- 
wußt, er  ist  es  nur  nicht  gewohnt,  sich  einer  psychologisch  sauberen 
Terminologie  sorgsam  zu  bedienen. 

Es  gibt  nun  ebenso  wie  bei  der  Verwirrtheit  recht  verschiedene  Formen 
der  Demenz.  In  der  Wirklichkeit  sind  sie  selten  rein,  meist  überwiegt  die 
eine  oder  andere  Art,  und  die  anderen  Formen  sind  nur  leicht  beigemischt. 
Hier  sollen  sie  kurz  theoretisch  gesondert  werden. 

Die  apperzeptive  Verblödung  ist  nur  in  schweren  Defektzuständen 
deutlich.  Die  Aufnahme  der  äußeren  Sinneseindrücke  und  die  Ver- 
.schmelzung  mit  den  von  innen  hinzukommenden  Elementen  (Wundts  Assi- 
milation), auch  die  Aufnahme  der  sprachlichen  Laute  und  ihre  Ver- 
knüpfung mit  den  entsprechenden  Symbolwerten  bleibt  relativ  lange  erhalten. 
Man  kann  z.  R.  bei  senil  Dementen  häufig  beobachten,  daß  sie  die  Um- 
gebung noch  im  groben  recht  gut  auffassen,  und  daß  sie  auch  sprachlich 
perzeptiv  und  produktiv  kaum  auffallen.  Sie  benehmen  sich  etwa  bei 
einem  Resuche  korrekt  uud  erweisen  sich  noch  im  Resitze  der  Umgangsformen 
und  einer  gewandten  Sprache.  Erst  bei  genauerem  Zusehen  zeigt  sich,  daß 
gar  keine  Spontaneität,  keine  Einfälle,  keine  determinierenden  Tendenzen  usw . 
mehr  vorhanden  sind.  Die  experimentelle  Psychologie  hat  sich  dieser 
Probleme  noch  nicht  bemächtigt:  es  bedarf  noch  genauerer  Untersuchungen, 
ob  sich  gerade  nach  diesem  Gesichtspunkt  der  Apperzeptionsstörung  einzelne 
Formen  der  Demenz  unterscheiden  lassen.  Rei  fortgeschritteneren  Fällen 
dürfte  freilich  eine  solche  Untersuchung  unmöglich  sein,  da  dann  schon 
allein  die  Unterwerfung  der  Persönlichkeit  unter  ein  Experiment  nicht  mehr 
möglich  ist. 

Die  gedanklich  strukturelle  Demenz  ist  viel  häufiger.  Sie  be- 
ginnt vielleicht  mit  leichten  Verwirrtheitshandlungen,  für  die  oben  Reispiele 


mitgeteilt   wurden.     Sie    sind  das    erste  Symptom   des   geistigen   Verfalls. 


^  Darüber    siehe    schon   oben    S.    2  4 
7    Kafka,  Vergleicbende  Psychologie  HI. 


98  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Allmählich  nimmt  die  geistige  Verödung  zu.  Genauere  Untersuchungen 
ergeben  zwar,  daß  die  einzelnen  Inhalte  noch  sehr  lange  dem  Bewußtsein 
an  sich  zur  Verfügung  stehen,  aber  dieses  macht  von  ihnen  nicht  mehr 
Gebrauch.  Es  verlangt  ihrer  gleichsam  nicht  mehr,  es  bezieht  sich  nicht 
mehr  auf  sie.  Der  Kranke  wird  unfähig,  die  Gegenstände  miteinander  in 
zusammenfassenden  Akten  zu  kombinieren.  Wenn  ich  den  Ausdruck 
„unfähig"  gebrauche,  so  steckt  darin  ein  Doppeltes:  einmal  die  Fähigkeit 
zur  Ausübung  eines  formalen  Vermögens,  sodann  die  Spontaneität  dieser 
Ausübung.  Das  letztere  erlischt  meist  zuerst;  die  rein  formalen  Fähigkeiten 
der  Intelligenz  folgen  im  Untergang  erst  später. 

Man  macht  sich  dies  am  besten  klar,  wenn  man  an  den  Aufbau  der  eigenen  Geistes- 
funklionon  in  der  Kindheit  zurückdenkt.  Man  lernte  damals  z.  B.  schnell  die  Hilfsverse 
der  lateinischen  Grammatik:  als  männlich  sind  auf  s,  davor  ein  Konsonant,  die  Wörter 
fons  und  mons  nebst  pons  und  dens  bekannt.  Man  hatte  diese  Verse  auch  nicht  etwa 
papageienhaft  auswendig  gelernt,  sondern  man  hatte  sie  durchaus  ,, verstanden".  Aber 
wetin  nun  irgendwo  pons  vorkam,  so  erfaßte  man  nicht,  daß  man  nun  seinen  Vers 
anwenden  mußte. 

Diese  Anwendung  irgendeiner  Kategorialfunktion  erlischt  zuerst,  die 
Akte  höherer  Ordnung  werden  nicht  mehr  betätigt,  es  kommt  zu  jenem 
Schwächezustand,  den  man  gerne  als  Urteilsschwäche  bezeichnet.  Dieser 
Ausdruck  ist  nur  glücklich,  wenn  er  im  engeren  Sinne  gefaßt  wird.  Auf 
der  Schwäche  muß  hier  der  Ton  liegen,  auf  dem  Unvermögen  zu  kom- 
plizierten Intentionen.  Wenn  sich  ein  Kranker  indessen  auf  Grund  irgend- 
welcher Wahnideen  absonderlich  benimmt,  so  darf  man  dies  keineswegs 
als  einer  Urteilsschwäche  entspringend  bezeichnen.  Hier  ist  ein  neues 
—  später  zu  erörterndes  —  Moment  hinzugetreten.  —  xVllmählich  leiden  dann 
bei  fortschreitender  Verblödung  auch  die  rein  formalen  Denkfähigkeiten  Not, 
und  schließlich  kommt  es  zu  völligem  geistigen  Zerfall,  zu  geistigem 
Siechtum. 

Meist  ist  mit  dieser  Störung  der  gedanklichen  Struktur  auch  eine  m ne- 
stische Verblödung  verbunden.  Das  Gedächtnis  erlischt^.  Es  ist 
klar,  daß  ein  komplizierter  Gedankengang  nicht  mehr  möglich  ist, 
wenn  die  im  Beginn  dieses  Gedankengangs  erarbeiteten  Erkenntnisse  dann 
vergessen  worden  sind,  sobald  man  sich  seinem  Ende  nähert.  Vielleicht 
ist  auch  das  Festhalten  irgendeines  unanschaulichen  Wissens,  einer  Bewußt- 
heit, einer  determinierenden  Tendenz  (Aufgabe)  nur  eine  mnestische  Funktion; 
hierüber  ist  noch  nichts  Sicheres  auszumachen.  Jedenfalls  ist  ein  gewisses 
Maß*  an  gut  arbeitendem  Gedächtnis  erforderlich,  wenn  die  Intelligenz 
einwandfrei  fungieren  soll.  Jedermann  weiß,  daß  die  Abnahme  der  geistigen 
Tätigkeiten  im  Alter  zuerst  auf  einer  Gedächtnisabnahme  zu  beruhen  scheint. 
Freilich  ist  dieses  erste  Anzeichen  der  senilen  Involution  im  wesentlichen 
subjektiv:  wenn  man  objektiv  bei  einer  wohlbekannten  Persönlichkeit  die 
ersten  Anzeichen  des  Alterns  festzustellen  bemüht  ist,  so  findet  man  anfangs 
nicht  so  sehr   das  Verschwinden   der  Inhalte,  besonders  der  Namen  3,   als 


1  Oben   war    schon   vom    Verlorengehen   der   Inhalte   die   Rede.     Siehe   S.    i4- 
*  Es     kommen     Gedächtnishöchstleistungen     neben     Intelligenztiefstand     und    auch    In- 
telligenzhöchstleistungen   bei    nur    mäßigem    Gedächtnis    vor.     Ja,    manche    glauben,    daß 
Intelligenz  höchsten  Grades  sich  mit  einem  abnorm  guten   Gedächtnis  , .nicht  verträgt". 
3  Erst   der   Eigennamen   usw.,   wie  S.    i5   mitgeteilt  wurde. 


VERBINDUNG  99 


das  Krlöschen  feinerer  seelischer  Kegungen:  jener  Intentionen,  die  man  als 
Taklgefülil  zu  bezeichnen  gewohnt  ist,  der  Sorgsamkeit  in  Haltung  und 
gesellsclialtlichen  Formen  usw.  Auch  hier  mulS  man  also  wie  bei  der 
vorigen  lH>rm  der  Demenz  unterscheiden:  die  Fähigkeit  zur  Frinnerung  und 
die  S[)<>ntaneilät  zur  Ausübung  dieser  Fähigkeit.  I"]s  ist  experimentell  noch 
nicht  sicher  erwiesen  worden,  aber  sehr  wahrscheinlich,  daß  bei  der  mne- 
stischen  \  erblödung  die  Sprachakt(;  zuerst  Not  leiden,  d.  h.  jene  Inten- 
tionen, deren  Materie  die  Bewegiuigsentwürfe  des  Sprechens  sind.  Diese 
Akte  werden  allmählich  erschwert,  sie  können  ihren  Gegenstiuid  gleichsam 
nicht  mehr  finden,  nicht  mehr  realisieren,  während  ihre  Richtung  noch 
vollkommen   normal  ist. 

Eüi  senil  Werdender  hat  das  Aussehen  jenes  Tiroler  Dorfes  auf  der  Malser  Haide 
optisch  noch  genau  vor  sich,  er  würde  auf  der  Karte  und  in  Wirklichkeit  den  Weg  «lorliiin 
sogleich  finden,  aber  der  Name  stellt  sich  motorisch  nicht  mehr  ein,  wenngleich  er 
akustisch    noch    „gleichsam    im    Ohre    liegt". 

Die  drei  Formen  der  Demenz  lassen  sich  herausarbeiten,  wenn  man  die 
Fülle  der  tatsächlich  beobachteten  Defektzustände  analysiert.  Die  Natur  liefert 
sie,  wie  erwähnt,  selten  rein,  meist  vermischen  sie  sich  im  einzelnen  Verlauf  der 
Verblödung.  Am  reinsten  zeigt  sich  die  mnestische  Verblödung  im  Alters- 
schwachsinn, ziemlich  rein  kommt  die  gedanklich  strukturelle  Verblödung 
bei  der  progressiven  Paralyse  vor;  man  findet  endlich  eine  besondere  Form 
der  apperzeptiven  Verblödung  bei  der  genuinen  Epilepsie  und  dem  trau- 
matischen Schwachsinn.  Ganz  kurz  seien  diese  drei  Typen  schematisch  an- 
gedeutet: 

Der  .Vltei  ^schwachsinnige  macht  anfangs  oft  einen  Zustand  der  Nörgligkeit  und 
Unzufriedenheit  durch;  er  wird  eigensinnig,  hält  starr  an  alten  Gewohnheiten  fest  und 
wehrt  sich  gegen  jede  Veränderung.  Er  weiß  nicht  mehr,  wohin  er  seine  Sachen  verlegt 
hat,  und  so  kommt  er  leicht  auf  den  Gedanken,  betrogen,  bestohlen  zu  werden.  All- 
mählich verschwindet  auch  diese  dysphorische  Einstellung,  hinter  der  oft  noch  eine 
gewisse  Klarheit  über  seine  abnehmenden  Geisteskräfte  steht.  Seine  Gedanken  leben  ganz 
in  früher  Vergangenlieit;  er  lernt  und  erlebt  nichts  mehr  dazu;  er  glaubt  nl\e  überhaupt 
möglichen  Erfahrungen  schon  gemacht  zu  haben.  Er  hat  keine  Interessen  mehr  außer 
denen  für  sfjinen  äußeren  Wohlstand,  für  Essen  vmd  Trinken  und  Körpergesundheit. 
Er  hat  nichts  mehr  mitzuteilen,  seine  Reden  werden  immer  leerer  und  bewegen  sich 
schließlich  in  alteingeübten  Grußformen,  Sprichwörtern,  Phrasen  und  Redensarten; 
die   Maschine   läuft  leer. 

Der  Paralytiker  wird  mitten  im  besten  Alter  konfus,  er  begeht  zweckwidrige 
Handlungen,  führt  verwirrte  Reden,  verwechselt  die  Begriffe.  Er  handelt  ganz  gegen 
seine  sonstigen  Gewohnheiten,  man  erkennt  die  Züge  seines  Charakters  nicht  mehr 
wieder,  seine  Persönlichkeit  ist  zerstört.  Er  ist  den  einfachsten  Fragen  nicht  gewachsen, 
und  dann  löst  er  plötzlich  eine  weit  schwierigere  Aufgabe  völlig  korrekt.  Man  kann 
ihm  keinen  Augenblick  trauen,  niemals  irgendein  Verhalten  voraus  berechnen.  Es 
fehlt  jede  Haltung,  im  einen  Augenblick  ist  er  schluchzend  sentimental,  im  nächsten 
Augenblick  gewaltsam  roh.  Ein  kleines  wertloses  Geschenk  versetzt  ihn  in  Entzücken, 
die  Erinnerung  an  seine  vor  ;',o  Jahren  verstorbene  Schwester  erschüttert  ihn  plötzlich  lief. 

Der  Epileptiker  faßt  außerordentlich  schwer  auf.  Er  hört  höflich  und  aufmerksam 
dem  Sprechenden  zu  und  weiß  doch  nicht  im  mindesten,  worauf  es  ankommt.  Er 
vermag  Haupt-  und  Nebensachen  nicht  zu  unterscheiden.  Einzelnes  hat  er  sehr  wohl 
aufgefangen,  dieses  haftet  auch  fest,  —  aber  das  Wichtigste  entging  ihm.  Sein  ge- 
steigertes Selbstgefühl  hindert  ihn  an  der  Erkennung  seiner  Insuffizienz.  Er  braucht 
zu  jeder  Erzählung  ungewöhnlich  lange  Zeit.  Mit  umständlichen,  geschraubten  Wendungen 
verziert  er  seine  Rede.  Er  liebt  und  erfindet  Höflichkeitsformen  und  tönende  Phrasen. 
Zur     Darlegung     des     einfachsten     Sachverhaltes     holt     er     unendlich     weit    aus.      Seine 


100  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    AB>ORM£N^ 

Uriiatkndliclikeit  wird  vielleicht  seine  Sprache  merkwürdig  verschroben,  zuweilen  fast 
verwirrt  gestalten,  doch  wird  er  kaum  zu  irgendwelchen  verwirrten  Handlungen  —  natür- 
lich  abgesehen    von   seinen   Ausnahmezuständen    —   fähig   sein. 

In  sehr  fortgeschrittenen  Verblödungen  verwischen  sich  meist  wieder  alle 
Unterschiede:  man  kann  einer  ganz  zerstörten  Menschlichkeit  oft  nicht  mehr 
ansehen,  welcher  A  erlauf  diesem  Endzustand  vorausging. 

Ich  muß  nun  nochmals  an  das  Problem  des  Vergessens  anknüpfen. 

Ich  habe  oben  besprochen,  daß  irgendein  Inhalt  wirklich  verlorengehen 
kann.  Ich  höre  z.  B.,  daß  jemand  die  Jahreszahl  der  Ermordung  des  mexi- 
kanischen Maximilian  gegenwärtig  zu  haben  wünscht,  aber  der  Wunsch 
bleibt  umsonst;  er  versichert,  es  sicher  einmal  gewußt  zu  haben  und  jetzt 
ebenso  sicher  zu  sein,  die  Zahl  nicht  wieder  zu  finden.  Ich  vermute,  es 
liege  eine  gegenständliche  Indisposition  vor,  und  hypnotisiere  ihn,  aber  auch 
im  Tiefschlaf  stellt  sich  die  gewünschte  Zahl  nicht  ein.  Ich  tue  ein  übriges 
und  wende  eine  andere  Methode  der  Erweckung  von  Inhalten  an:  Freuds 
Psychoanalyse  —  aber  auch  auf  diesem  Wege  kommt  die  Zahl  nicht  her- 
aus. Nun  bin  ich  überzeugt:  der  Inhalt  ist  wirklich  verlorengegangen. 
Dies  ist  der  erste  Fall  des  Vergessens.  In  einem  zweiten  Falle  hat  jemand 
die  feste  Überzeugung,  einen  Namen  zu  wissen,  ohne  ihn  doch  gegenwärtig 
zu  haben  (sich  nicht  besinnen  können);  er  weiß  ganz  genau,  was  er 
meint,  aber  er  findet  jene  bestimmte  Spracheinstellung  nicht,  die  dem  Namen 
entspricht.  Er  versucht  von  den  verschiedensten  Seiten  heranzukommen, 
um  z.  B.  den  Namen  jener  sibirischen  Verbrecherkolonie  zu  finden,  in  der 
Dostojewski  schmachtete.  Aber  nur  dunkel  liegt  ihm  erst  Orplid  auf  den 
Lippen;  er  weiß  ganz  genau,  wie  unsinnig  das  ist,  und  doch  weiß  er  auch, 
daß  Orplid  mit  dem  gesuchten  Namen  irgend  etwas  zu  tun  hat,  sei  es  im 
Rhythmus,  sei  es  in  einigen  Buchstaben.  Bei  weiterem  Nachdenken  stellt 
sich  Orlik,  dann  Orstig  und  schließlich  Ostrog  ein.  Hier  —  und  auch 
häufig  beim  Mechanismus  des  Versprechens,  Verlesens,  Verschreibens  — 
handelt  es  sich  also  um  eine  Entgleisung:  O,  r  und  Zvveisilbigkeit  werden 
von  vornherein  richtig  getroffen,  das  weitere  folgt  erst  mühsam  unter  starker 
Anspannung.  Aber  gelegentlich  bleibt  ein  Inhalt  —  es  braucht  keineswegs 
immer  ein  Name  zu  sein  —  ganz  aus.  So  habe  ich  gestern  vielleicht  in 
einem  mathematischen  Gedankengang  an  der  kritischen  Stelle  „weiter  ge- 
wußt", und  heute  ist  dort  das  Tor  wie  verrammelt;  alle  Anstrengung  hilft 
mir  nicht  auf  den  richtigen  Weg.  In  solchen  Fällen  ist  also  der  inten- 
dierte Inhalt  nicht  verlorengegangen,  sondern  der  völlig  korrekt  gerichtete 
.'Vkt  findet  seinen  Gegenstand  nicht  ^.  Und  in  manchen  anderen  Fällen 
herrscht  im  Gedankenablauf  ein  seltsames  Haftenbleiben  (Perseverieren). 
Es  scheint,  als  wenn  ein  einzelner  Inhalt  selbständig  geworden  wäre  und 
sich  immerzu  aufdränge.  Eine  Melodie  geht  mir  vielleicht  durchaus  nicht 
aus  dem  Sinn,  ein  bestimmter  Gedankengang  drängt  sich  immer  wieder 
auf.  Hier  liegt  ein  Übergang  —  es  gibt  deren  mehrere  —  zu  den  Zwangs- 
vorstellungen, von  denen  noch  später  die  Rede  sein  wird.  So  konnte 
während  des  Krieges  in  Bensheim  ein  Herr  eine  heftige  Fliegerangst  niemals 
los   werden.     Zwar   kamen    die   feindlichen  Flieger  sehr  selten,   und  jener 

1   über    die    Erweckbarkeit   der    frühesten    Kindheitserinnerungen    vgl.    Henri    (ii4)- 


CNBESINNLICHKEIT  IUI 


Psychastheuikpr  wulSlc  auch  ganz  genau,  dali  gerade  seine  Gegend  sehr 
wenig  gefährdet  war,  er  wulite  natürhch  auch,  dali  an  regnerischen  Tagen 
an  eine  (Jefahr  gar  nicht  zu  denken  war  -  trotzdem  Hefi  ihn  auch  an 
diesen  Tagen  der  (Jedanke  an  die  Flieger  nicht  los  und  ängstigte  ihn  un- 
aufhörlich. Auch  hier  ist  der  Cüegenstand  des  intcntionalen  Aktes  an  sich 
nicht  abnorm,  nur  der  Vollzug  ist  in  dem  Simie  gestört,  daß  die  vor- 
handene seelische  Energie  immer  wieder  in  diesen  Akt  einmündet,  obwohl 
eine  lebhafte  Tendenz  besteht,  ihn  nicht  zu  vollziehen.  Es  zeigt  sich  also 
•^chon  an  diesen  wenigen  Beispielen,  daß  die  Persönlichkeit  über  ihr  Material 
nicht  immer  frei  verfügt,  daß  sich  ihr  gelegentlich  Inhalte  entziehen,  und 
daß  andererseits  Inhalte  zuweilen  eine  merkwürdige  Selbständigkeit  ge- 
winnen. Diese  Beispiele  werden  jedem  Leser  ohne  weiteres  einfühlbar  er- 
scheinen, da  er  Ähnhches  aus  seinem  eigenen  Leben  leicht  wird  beibringen 
können.  .\ber  dieser  Tatbestand  kann  nun  normale  Grenzen  weit  über- 
greifen. Es  geschieht,  daß  nicht  nur  einzelne  Inhalte  der  „Macht"  der 
Persönlichkeit  trotzen,  sondern  daß  ganze  Gebiete  als  Gegenstände  seiner 
Akte  wegfallen,  obgleich  seine  Intentionen  darauf  gerichtet  sind.  Der  Hy- 
steriker hat  zuweilen  bestimmte  Amnesien  (Unbesinnlichkeiten),  die  sich 
von  den  oben  behandelten  durchaus  unterscheiden.  Dort  waren  bestimmte 
Zeitabschnitte  scharf  mit  ihrem  gesamten  Inhalt  aus  dem  Gedächtnis  getilgt 
und  ließen  sich  durch  keine  Kunstgriffe  wieder  vergegenständlichen  — 
hier  sind  Erlebniskomplexe  der  Erinnerung  entfallen,  die  nicht  zeitlich  sinn- 
los ausgeschnitten,  sondern  sinnvoll  beziehungsmäßig  verknüpft  sind.  Hier 
ist  die  Betrachtung  wieder  von  einer  ganz  anderen  Seite  her  bei  jenem 
Phänomen  angelangt,  das  oben  als  alternierendes  Bewußtsein  be- 
zeichnet wurde.  Vielleicht  eine  Reise,  ein  Liebesabenteuer,  ein  Unglück, 
alles,  was  mit  einer  bestimmten  Person  zusammenhängt  usw.,  ist  aus  dem 
Gedächtnis  verschwunden.  Gelegentlich  kann  ein  solches  Erlebnis  zufällig 
auch  zugleich  eine  zeitliche  Abgrenzung  haben,  wie  oben  bei  dem  Beispiel 
des  aus  Australien  unwissentlich  Geflüchteten  —  doch  ist  dieses  Moment 
dabei  unwesentlich,  es  kommt  nur  auf  die  innerliche  Aufeinanderbezogenheit 
dieses  Erlebnisses  als  eines  Erlebnisses  an.  So  sehr  der  Hysteriker  sich 
anstrengt,  er  kann  sich  auf  diesen  Komplex  nicht  besinnen.  Aber  was 
ihm  unter  „normalen"  Umständen  nicht  gelingt,  glückt  dem  Hypnotiseur. 
Unter  den  Kniffen  des  Experimentators  wird  die  Erinnerung  entweder 
dauernd  wiederhergestellt  oder  doch  während  des  Experimentes  wieder 
wachgerufen'.  Man  pflegt  in  diesen  Fällen  von  Verdrängungen,  Absper- 
rungen oder  Ausschaltungen  zu  sprechen.  In  der  Erinnerung,  aber  auch 
in  der  Auffassung  der  augenblicklichen  Umgebung  geht  diese  Ausschaltung 
gelegentlich  so  weit,  daß  fast  nichts  im  Blickpunkt  der  Aufmerksamkeit  übrig 
bleibt.  Man  spricht  dann  von  einer  psychogenen  Einengung  des  Bewußt- 
seinsfeldes, z.  B.  wenn  ein  Hysteriker  im  Dämmerzustand  von  allem,  was 


1  Außer  der  Hvpnosc  und  Psychoanalyse  dient  auch  das  Assozialionsexperiment  diesem 
Nachweis.  Beachtet  man  bei  ihm  nicht  die  assoziierten  Inhalte,  sondern  die  Assoziations- 
teiten,  so  zeigt  sich,  daß  jene  Engramme  meist  verlängerte  Zeiten  haben,  die  den  Komplex 
anschneiden.  Siehe  hierüber  die  neueste  Arbeit  von  Schwechten  (287)  und  die  dort 
angefüllte  Literatur.  Auch  die  in  der  Kriminalpsychologie  zu  behandelnde  sogenannte 
Tatbestandsdiagnostik  gehört  hierher.    Vgl.  dazu  übrigens  schon  Prichard  /2/19)  von  i822-- 


102   GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

ihn  umgibt,  nichts  als  den  G  lanz  der  Gegenstände  apperzipiert  (Pick  240 
und  Janet  an  vielen  Stellen). 

Die  soeben  gewählten  Beispiele  entsprachen  —  bildlich  gesprochen  — 
rein  gedanklichen  Provinzen.  Doch  kann  diese  Ausschaltung  auch  körper- 
liche Mechanismen  betreffen.  So  kann  z.  B.  die  Empfindung  eines  Körper- 
teils vollkommen  ausgeschaltet  sein,  oder  es  kann  die  Berührungs-  und 
Temperaturempfindung  erhalten  bleiben,  während  nur  die  Schmerzempfin- 
dung ganz  erloschen  ist.  So  kann  in  der  Hypnose  der  Zusammenhang 
zwischen  Motilität  und  Sensibilität,  zwischen  Schmerzempfindlichkeit  und 
Gefäßkontraktionen,  zwischen  zwei  sonst  koordinierten  Sinnesqualitäten, 
zwischen  der  Motilität,  Sensibilität  einerseits  und  den  Sehnenreflexen  an- 
dererseits usw.  absichtlich  gelöst  werden  (Sydney  Alrutz  4).  Auch  die 
normale  Mischung  von  Empfindungs-  und  Vorstellungselementen,  die  im 
gewöhnlichen  Wahrnehmungsprozeß  enthalten  ist,  kann  durch  psychogene 
Ausschaltungen  erheblich  verändert  werden  (Schilder  279).  Dies  ist  der 
Tatbestand,  der  in  diesem  Zusammenhang  betrachtet  werden  soll: 

Bei  normalen  Sinnesorganen,  bei  normal  arbeitenden  Nerven 
und  Gehirnzentren,  bei  stärkster  Zuwendung  der  Aufmerksam- 
keit bleibt  die  Empfindung  aus. 

Man  nennt  dies  eine  Anästhesie,  und  man  bezeichnet  sie  als  psychogen  ^, 
weil  man  ihre  Ursache  in  der  Seele  sucht,  während  man  die  körperlich 
(peripher  oder  zerebral)  bedingten  organisch  nennt. 

Ein  Madchen  liat  bei  plötzlich  eintretendem  Hochwasser  über  eine  breite  über- 
schwemmte Wiese  hinweg  das  bis  an  die  Knie  reichende  Wasser  durchwaten  müssen, 
um  sich  in  Sicherheit  zu  bringen.  Seit  jenem  Schrecken  sind  beide  Füße  und  Untere 
Schenkel  bis  genau  zur  Kniescheibe  —  obwohl  sie  in  keiner  Weise  geschädigt  wurden  — 
schmerzunempfindlich;  auch  der  Temperatursinn  ist  dort  erloschen,  während  Tast- 
empfindlichkeit, Lagesinn  usw.  erhalten  geblieben  sind.  Eine  genaue  Untersuchung  ergibt 
nicht  die  geringste  objektive  Veränderung.  Dies  ist  eine  psychogene  Analgesie; 
durch  geeignete  seelische  Behandlung  gelingt  es  bald,  das  normale  Empfindungsvermögen 
%vieder  herzustellen. 

Der  Unterschied  zwischen  einer  organischen  und  seelischen  Empfindungs- 
taubheit ist  meist  in  ihrer  Ausbreitung  gegeben:  die  erstere  folgt  genau 
dem  oft  recht  komplizierten  Ausbreitungsgebiet  eines  Nerven  oder  eines  seiner 
Äste,  während  die  psychogene  Störung  meist  einen  irgendwie  vorstel- 
lungsmäßig abgegrenzten  Bezirk  befällt  (daher  der  Name  ideogen). 
Man  findet  daher  strumpfförmige,  handschuhförmige,  ringförmige,  halb- 
seitige usw.  psychogene  Anästhesien.  Alle  Sinnesqualitäten  können  psychogen 
geschädigt  werden.  Bei  der  seelisch  entstandenen  Taubheit  (nach  Explo- 
sionen und  dgl.)  kann  man  häufig  beobachten,  daß  der  Erkrankte  über- 
raschend schnell  von  den  Lippen  anderer  abzulesen  lernt  (Selbsttäuschung). 
Bei  dem  seelisch  Erblindeten  (Feuersbrunst)  fällt  auf,  daß  er  Hindernissen 
geschickt  ausweicht.  Nicht  selten  wird  eine  —  ursprünglich  organische  — 
Störung  psychogen  konserviert.  Bei  einer  leichten  Verletzung  kann  z.  B. 
der  Nervus  ulnaris  der  Hand  mit  behoffen  worden  sein.  Eine  Empfindungs- 
herabsetzung in  seinem  Versorgungsgebiet  ist  die  unmittelbare  organische 
Folge.    .\ber  nach  einiger  Zeit  hat  sich  die  Funktion  des  Nerven  objektiv 

^  Oft   auch    als    funktionell    und    unter    bestimmten    Umständen    als   hysterisch. 


AUSSCHALTUNG  103 


völlig  wiederhergestellt,  während  die  liypalgesie  von  dem  Ulnarisgebiet 
sogar  auf  die  ganze  Hand  übergegriffen  hat.  INicht  anders  ist  es  mit  motori- 
schen Synergismen. 

Z.  B.  klapt  eiii  Reiscntlor,  der  euicii  leiclitcn  Kisenbahnunfall  erlitt,  über  die  Un- 
möglichkeit, seinen  Unterschciike!  aktiv  zu  beugen,  sein  rechtes  Bein  sei  steif.  Und 
diese  L.ihmung  sei  nicht  iii  dem  Augenblicke  eingetreten,  als  bei  jenem  Zusammenstoß 
ein  Handkoffer  aus  dem  Gepäcknetz  auf  .seinen  rechten  Oberschenkel  stürzte,  sondern 
erst  dann,  als  er  sich  glücklich  aus  dem  Wagen  in  Sicherheit  gebracht  hatte  und  auf 
Weitcrbefürderung  wartete. 

Wiederum  sind  bei  solchen  psychogenen  Paresen  nicht  jene  Muskeln 
gelähmt,  die  von  einem  bestimmten  Nerven  innerviert  werden,  sondern 
eine  gedankliche  motorische  Einheit  ist  ausgeschaltet,  etwa  ein  ganzer 
Arm  oder  eine  Hand  oder  dergleichen '.  Auch  hier  läßt  sich  durch  Elektri- 
zität oder  in  der  Hypnose  leicht  der  Nachweis  erbringen,  daß  der  Nerv- 
muskelapparat selbst  ungeschädigt  ist.  Man  hat  zum  Nachweis  einer  psycho- 
genen Bewegungs-  oder  Empfindungslähmung  auch  noch  ein  anderes  Mittel 
zur  Verfügung:  das  Erhaltensein  der  Reflexe*.  Die  Pupille  z.  B.  erweitert 
sich  stets  bei  der  .Vnbringung  irgendeines  Schmerzreizes,  und  diese  Erweite- 
rung tritt  nun  auch  dann  ein,  wenn  der  Hysteriker  glaubhaft  versichert, 
von  den  Nadelstichen  in  seine  Fingerspitzen  nicht  das  mindeste  zu  spüren 3. 
Zum  Zustandekommen  dieser  sensorischen  Reflexe  ist  das  „Bewußtsein" 
eben  überhaupt  nicht  erforderlich.  Dies  beweisen  u.  a.  auch  die  technisch 
vorzüglichen  Versuche  von  Canestrini  (39),  der  beim  Neugeborenen  nachwies, 
daß  sich  lebhafte  Schall-,  Licht-  usw.  Reize  auch  dann  schon  „einschreiben" 
(Engramme),  wenn  von  einem  „Bewußtsein"  überhaupt  noch  keine  Rede 
sein  kann.  Es  ist  eine  Erfahrung  fast  jedes  Menschen,  daß  man  bei  starker 
Einengung  der  Aufmerksamkeit  auf  irgendeine  Aufgabe  (Zielen  beim  Scharf- 
schießen) allerlei  Reize  nicht  bemerkt:  man  „überhört"  die  Worte  der  Um- 
stehenden usw.^.  In  der  .Vufregung  einer  Gefechtshandlung  ist  mancher 
Soldat  sogar  einer  Verwundung  nicht  gewahr  geworden.  Hier  liegt  es  eben  nur 
an  diesem  „Nicht-gewahr-W^erden",  an  der  fehlenden  Beachtung,  daß  die 
Schmerzempfindung  nicht  in  das  Bewußtsein  eintritt.  Die  herannahende 
Empfindung  findet  gleichsam  gar  keine  seelische  Energie  vor,  deren  sie 
.sich  bemächtigen  könne  (Aufmerksamkeitserzwingung).  Aber  in  anderen 
Fällen  wende  ich  mich  einer  erwarteten  Empfindung  zu,  ich  stelle  ihr 
reichlich  psychische  Energie  zur  Verfügung,  ich  beachte  sie  mit  äußerster 
Konzentration,  imd  doch  stellt  sie  sich  nicht  ein.  Ich  sehe,  wie  der  Arzt 
seine  Nadel  tief  in  meine  Fingerkuppe  einsticht,  und  doch  bleibt  jedes 
Schmerzgefühl  aus. 

Die  -Vusschaltungen  irgendwelcher  Sinnesqualitäten  können  auch  vor- 
sätzlich geübt  werden :  so  produzieren  sich  auf  den  Messen  und  Märkten 
nicht  selten  „Künstler",  die  sich  in  den  Arm  usw.  lange  Nadeln  tief  hinein- 


1   Vgl.     zu    den     psychogenen     Lahmungen     Gaspero     (84)     und     Lewandowsky    (178). 

-   Freilich    nur    mit    gewissen    Einschränkungen. 

^  Beim    organisch    Analgischen    bleibt    dieser    Reflex    natürlich    aus. 

'  Dies  gilt  natürlich  ebenso  von  der  allgemeinen  Abschwächung  der  Zuwen- 
dungsmöglichkeiten: Erschöpfung.  Benommenheit,  Bewußtlosigkeit,  aber  auch  von  der 
Ekstase,   siehe   Rohde   (268  a),    \\,   S.    i8. 


^04  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

stechen,  ohne  nur  mit  der  Wimper  zu  zucken.  An  den  Armnerven  usw. 
dieser  Personen  ist  alles  in  Ordnung;  ideogen  haben  sie  ihre  Schraerz- 
empfindung  ausgeschaltet.  Ich  brauche  wohl  kaum  näher  auszuführen,  daß 
in  der  gleichen  Weise  nicht  nur  Herabsetzungen  (Hypästhesien,  Hypal- 
gesien,  Paresen),  nicht  nur  Aufhebungen  (Anästhesien,  Analgesien,  Para- 
lysen), sondern  auch  Cberempfindlichkeiten  (Hyperästhesien,  Hyperalgesien) 
und  übermäfiige  Bewegungsbereitschaften  (Hyperkinesien)  erzeugt  werden 
können.^  Die  Erwägung  des  letztgenannten  Mechanismus  leitet  zum  Be- 
greifen einer  weiteren  Störung  über.  Der  menschliche  Organismus  verfügt 
über  Einrichtungen,  die  die  Auslösung  der  Reflexe  abzubremsen  vermögen. 
Ein  sensibler  Reiz,  etwa  das  Beklopfen  des  Unterschenkels  dicht  unter  der 
Kniescheibe,  löst  nicht  immer  die  gleich  starke  Schleuderung  des  Unter- 
schenkels aus.  Sondern  je  nach  der  Aufmerksamkeitszuwendung  fällt  diese 
Bewegung  verschieden  aus.  Es  gibt  nun  Fälle,  in  denen  diese  Reflex- 
bremsung weitgehend  ausgeschaltet  wird  (ideogen).  Der  große  Krieg  er- 
zeugte viele  Neurotiker,  bei  denen  schon  die  leichtesten  Berührungen  heftige 
Schleuder-  und  Zitterbewegungen  hervorriefen,  die  dann  über  die  eigent- 
lichen Reflexbewegungen  durchaus  hinausführten  und  allerlei  ursprünglich 
willkürliche  Bewegungskoordinationen  mit  wachriefen.  Und  so  kam  es 
damals  zu  ganz  grotesken  motorischen  Erscheinungen,  z.  B.  dem  sogenannten 
saltatorischen  Reflexkrampf,  bei  dem  schon  die  Berührung  des  Fußbodens 
hinreichte,  um  diesen  Neurotiker  wieder  in  die  Luft  zu  schnellen,  so  daß 
er  solange  gummib allartig  auf  und  nieder  flog,  bis  er  erschöpft  liegen  blieb. 
Auch  hierbei  haben  diese  Personen  die  Herrschaft  über  irgendeinen  Mecha- 
nismus und  zwar  über  jenen  verloren,  der  diese  zitternden  Glieder  ruhig 
stellt  Neu  tritt  hier  gegenüber  jenen  früher  erwähnten  Ausschaltungen  noch 
jenes  produktive  Moment  hinzu,  das  einen  chronischen  Reiz  setzt.  Die 
Erkrankten  versichern,  daß  ihre  ganze  Aufmerksamkeit,  ihr  angespannter 
Wille  darauf  gerichtet  sei,  die  Störung  zu  unterdrücken,  doch  seien  sie 
leider  dazu  nicht  imstande.  Solche  Reizerscheinungen  zeigen  sich  natürlich 
auch  auf  dem  sensiblen  Gebiete: 

Ein  iSjähriger,  von  jeher  etwas  kränklicher  Schüler  einer  Unterprima  \¥ird  wegen 
einer  hartnäckigen  Gesichtsakne  einer  Lichtbehandlung  unterworfen.  Obwohl  man 
selbstverständlich  die  Augen  genügend  geschützt  hat,  machen  sich  in  der  Folge  Blendungs- 
erscheinungen geltend,  die  schließlich  so  heftig  werden,  daß  der  Kranke  behauptet,  das 
verdunkelte  Zimmer  nicht  mehr  verlassen  zu  können.  Eine  einmalige  Hypnose  beseitigt 
die  Störung. 

Beim  Bekanntwerden  mit  solchen  Symptomen  liegt  dem  Unerfahrenen 
begreiflicherweise  der  Gedanke  nahe,  es  handle  sich  um  eine  absichtliche 
Täuschung  der  Umgebung  bzw.  des  Arztes  durch  den  Kranken.  Natürlich 
kommen  solche  Täuschungen  vor.  Aber  man  mache  z.  B.  den  Versuch, 
sich  selbst  etwa  eine  gürtelförmige  Empfindungslosigkeit  zu  suggerieren, 
und  man  wird  seine  Unfähigkeit  hierzu  bald  feststellen  können.  Besondere 
„Gaben",  besondere  seelische  Mechanismen  sind  zur  Erzeugung  solcher 
ideogenen  Störungen  notwendig.  Freilich  ist  es  eine  nicht  beweisbare 
Theorie,  wenn    man    angeborene  Anlagen    hierzu   immer   voraussetzt:   man 


^   Vgl.    dazu    Lange    (167). 


AUSSCHALTUNG,    AUTÜMATISMÜS 105 

kennt  auch  mancherlei  Situationen  (lange  körperliche  Leiden,  religiöse 
Kkstasen,  unglückliche  Ehen,  Rentenkämpfe),  die  die  Disposition  zu  solchen 
psychogenen  Mechanismen  erst  schufen  (hysterisierend  wirkten).  Hierher 
gehören  auch  die  sogenannten  Stigmata  d.h.  die  •''ähigkeit,  auf  |)sycho- 
genem  Wege  an  den  Stellen  der  Wundmale  (Ihristi  am  eigenen  Körper 
Flecke,  d.  h.  Hautblutungen,  Ödeme  [usw.  zu  erzeugen.  Hierüber  siehe 
später  S.  129. 

Aus  den  absichtlich  so  verschieden  gewählten  Beispielen  ergibt  sich  also, 
daß  es  mit  dem  Begriff  der  Ausschaltung  allein  nicht  getan  ist,  wenn 
man  die  Fülle  der  unter  dem  Namen  psychogen  zusammengefaßten  Störungen 
einordnen  will;  es  kommt  noch  ein  neues  Moment  hinzu,  welches  sich  in  der 
Produktion  von  meist  körperlichen  Symptomen  äußert.  Das  Gemeinsame 
aller  psychogenen  Störungen  ist,  daß  sie  seelisch  (gedanklich)  erzeugt  werden 
und  doch  der  seelischen  Beherrschung  entzogen  sind.  Im  Seelischen  liegt 
also  hier  eine  Zweiheit.  Nicht  die  Persönlichkeit  in  ihrer  klaren  Bewußtheit 
hat  die  Symptome  erzeugt,  sondern  eine  gleichsam  untergeordnete  Instanz 
hat  sie  selbständig  ins  Leben  gerufen.  Daher  verwendet  man  hiefür  gern 
den  Ausdruck  des  Automatism  us'.  Auf  die  Frage,  wie  denn  ein  solcher 
entstehe,  haben  sich  manche  Autoren  die  Antwort  leicht  gemacht.  Sie  be- 
haupten, daß  es  stets  verborgene  oder  verdrängte  Wünsche  wären,  die 
diese  Automatismen  schüfen. 

Damit  ist  etwa  folgendes  gemeint:  Ein  Soldat  steht  an  der  Front.  Er  ist  ein  un- 
erschrockener Mann,  der  die  Gefahr  nicht  scheut.  Aber  er  hat  zu  Haus  eine  Frau, 
deren  Leidenschaftlichkeit  er  kennt.  .\us  ihren  Briefen  sprechen  Klagen  über  den  all- 
mählichen Niedergang  des  Geschäftes;  es  wäre  schon  ganz  zusammengebrochen,  wenn 
sich  Freunde  nicht  seiner  und  ihrer  angenommen  hätten.  Sorgen  und  Eifersucht  erfüllen 
nun  sein  Gemüt  und  er\%ecken  den  Wunsch,  zu  Haus  selbst  nacii  dem  Rechten  zu 
sehen.  Dieser  Wunsch,  vom  hellen  Bewußtsein  pflichtmäßig  unterdrückt,  hat  eine 
eigene  Macht;  er  emanzipiert  sich  gleichsam  und  wartet  nur  auf  die  Gelegenheit,  sich 
zu  realisieren.  Ein  naher  Granaten-Einschlag  gibt  den  Anlaß:  ein  heftiger  Schrecken  hat 
den  im  Unterstand  halb  Verschütteten  für  kurze  Zeit  der  Sprache  beraubt.  Zwar  findet 
er  sich  schnell  wieder,  rafft  sich  zusammen  und  versucht  weiter  Dienst  zu  tun, 
aber  die  Beine  tragen  ihn  nicht  mehr,  ein  heftiges  Zittern  befällt  seine  Glieder.  Er 
kommt  ins  Feld-,  dann  ins  Kriegs-  und  schließlich  ins  Heimatlazarett,  aber  das  Ziltem 
weicht  nicht  von  ihm:  er  beherrscht  seine  Glieder  nicht  mehr,  der  Wunscli  hat 
sich  durchgesetzt  gegen  die  Persönlichkeit:  er  kann  zu  Hause  bleiben.  Zwar  erklärt 
er  bona  fide,  er  wolle  seine  Pflicht  tun,  wolle  meder  ins  Feld,  wäre  glücklich,  das 
quälende    Zittern    los    zu    sein,    aber   sein    subliminaler    Wunsch   hält    das    Zittern    fp*t. 

Man  kann  es  nicht  bezweifeln,  daß  diese  etwas  populäre  Theorie  in 
manchen  Fällen  recht  hat.  Man  hat  es  so  oft  erlebt,  daß  man  solche 
Symptome  durch  Setzung  noch  heftigerer  Leiden  (schmerzende  elektrische 
Ströme,  Hunger„behandlung"  usw.)  beseitigte,  oder  daß  sie  von  selbst  ver- 
schwanden, wenn  der  betreffende  Wunsch  auf  andere  Weise  erfüllt  wurde 
(Heimatkommando),  daß  die  Rückführung  mancher  psychogenen  Symptome 
auf  solche  heimliche  Wünsche  wohl  das  Richtige  trifft^.    Bemüht  man  sich 


^  SchoTi  oben  bei  den  Ichstörungen  war  ja  unter  einem  anderen  Gesichtspunkt  von 
diesen   Autoinatismen   die   Rede. 

■'  Derjenige  Sprachgebrauch  pflegt  sich  immer  mehr  durchzusetzen,  der  den  Ter- 
minus „psychogen"  jils  den  Oberbegriff  setzt  und  ihm  als  „h  y  s  t  e  r  i  s  c  li"  jene 
Form   unterordnet,  die  auf  Wunsch  komplexen  aufgebaut  ist. 


105  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEiV 

aber,  diese  Theorie  etwas  gründlicher  zu  fassen,  so  stößt  man  auf  große 
Schwierigkeiten.  Waren  diese  Wünsche  einst  als  bewußte  klare  Akte  des 
Begehrens  vorhanden,  und  wurden  sie  wirklich  von  der  Persönüchkeit  so 
verdrängt,  wie  wir  uns  etwa  einer  peinlichen  Erinnerung  entledigen,  in- 
dem wir  unsere  Intentionen  gewaltsam  auf  neue  Gegenstände  richten?  Ist 
es  „richtig"  oder,  besser  gesagt,  theoretisch  empfehlenswert,  hier  Persönlichkeit 
und  einzelne  /Vkte  einander  gegenüberzustellen,  derart,  daß  erstere  einen 
Akt  verdrängt?  Man  kann  es  vorziehen,  den  Sachverhalt  anders  zu  fassen: 
die  Persönlichkeit  bestehe  aus  den  Akten  und  ihrer  Ordnung;  was  verdrängt 
wird,  sei  nicht  ein  Akt,  sondern  die  Materie  eines  Aktes.  Aber  wie  kann 
dann  diese  Materie  verdrängt  so  weiter  wirken,  daß  sie  den  Einfluß  der 
Persönlichkeit,  d.  h.  des  Systems  der  geordneten  Akte,  auf  irgendwelche 
Körpermechanismen,  z.  B.  das  Zittern,  ausschaltet?  —  Endlich  kann  man 
jene  Schichtentheorie  annehmen,  nach  der  sich  in  den  einzelnen  Sphären 
des  Bewußtseins^  verschiedene  —  qualitativ  gleiche,  aber  verschieden 
dirigierte  —  Akte  abspielen,  die  miteinander  konkurrieren  können.  Die 
psychogenen  Symptome  würden  dann  z.  B.  von  den  Akten  des  zweiten 
Bewußtseinsystems  geliefert  und  wären  nur  den  objektivierenden  Akten  des 
ersten  Systems,  nicht  aber  den  fundierten  des  Wollens  zugänglich.  Endlich 
aber  könnte  man  versuchen,  aus  den  mannigfachen  Schwierigkeiten  dieser 
Einordnungen  dadurch  herauszufinden,  daß  man  so  formuliert:  es  gibt  nicht 
mehrere  Systeme  des  Bewußtseins,  sondern  nur  beachtete  und  nicht  beach- 
tete Akte*;  die  psychogenen  Symptome  werden  durch  nicht  beachtete  Akte 
(\Vunschakte)  geschaffen;  sind  sie  einmal  geschaffen,  so  werden  die  be- 
treffenden körperlichen  Mechanismen  automatisiert,  selbständig  und  dadurch 
dem  Einflüsse  neuer,  nun  beachteter  Akte  entrückt. 

Wie  immer  man  diese  Versuche  einer  Einordnung  gestalten  möge,  sie 
erscheinen  mir  alle  als  recht  unbefriedigend.  Und  diese  Unzufriedenheit 
wächst,  wenn  man  darauf  achtet,  daß  die  Erfahrung  auch  solche  psycho- 
gene Symptome  liefert,  bei  denen  bestimmt  von  einer  Wunscherfüllung 
nicht  die  Rede  ist.  Zwar  greift  die  Schule  Sigmund  Freuds  (79)  sogleich 
zu  einer  Hilfstheorie.  Befriedige  ein  Symptom  einen  Wunsch  nicht  direkt, 
so  geschähe  dies  doch  vielleicht  symbohsch. 

Wenn  z.  B.  ein  Hysteriker  eine  seltsame  zum  Schlag  ausholende  Gebärde  wochen- 
lang fixiert  beibehalte,  so  nütze  ihm  diese  Haltung  zwar  nicht  direkt,  aber  sie  ver- 
trete die  eigentliche  Tat.  Er  habe  zwar  den  Schlag  gegen  seinen  Gegner  nicht 
wirklich  ausführen  können,  aber  er  ziehe  doch  jetzt  aus  der  fixierten  Haltung  dauernd 
eine  Menge  der  Lust.  Eine  Persönlichkeitssteigerung  trete  ein,  indem  er  sich  innerlich 
an  dem  Symbol  der  Tapferkeit  seines  Benehmens  erfreue.  (Flucht  aus  der  Wirklichkeit, 
Befriedigung  in  der  Phantasie.) 

Aber  selbst  wenn  man  dieser  Hilfstheorie  in  solchen  Fällen  noch  zu- 
stimmen wollte  —  ich  selbst  halte  sie  für  recht  künstlich  und  unbefrie- 
digend — ,  so  gibt  es  weitere  subliminale  Mechanismen,  bei  denen  der  auch 
nur  symbolisch  erfüllte  Wunsch  nicht  herangezogen  werden  kann.  Schon 
oben  wurde    in    anderem    Zusammenhange    von    Handlungen  berichtet,   die 


^  Siehe   z.   B.    Kohnstamm    (i58). 

-  Beachtung    im    Sinne   der   Apperzeption    vx>n    Wandt-Lipp>    ^   Aufmerksamkeit. 


AUTO.H-VTISMEN  107 


automatisch  im  reinen  Nachahmungstrieb  vorgenommen  werden.  Die  Per- 
zcption  eines  Gegenstandes  „fordert"  (Lipps)  die  Vomalime  der  zugehörigen 
Handkmg.  So  veranlaßt  mich  eine  Hose  „automatisdi",  daran  zu  riechen. 
Hei  JJetrachtung  eines  herabhängenden  (ilockenseiles  mulS  ich  mich  vielleicht 
zusammennehmen,  um  nicht  daran  zu  ziehen.  Die  Assoziationspsychologie 
half  sich  in  solchen  Fällen  damit,  zu  sagen:  das  (ilockenseil  ekphoriere 
eben  die  von  früher  her  damit  schon  verknüpfte  Hewegungs>  orstelhmg. 
.\ber  es  geschieht  tatsächlich  mehr:  nicht  nur  die  Krinnerung  an  jene 
Bewegung  taucht  auf  —  in  Wirklichkeit  taucht  sie  bewußt  oft  gar  nicht 
auf  — ,  nicht  nur  ein  „nicht  setzender"  Vkt  ist  auf  jene  Bewegungsvorstellung 
gerichtet,  sondern  ganz  gegen  meine  Vbsicht  ziehe  ich  vielleicht  tatsächUcli 
an  dem  Strang,  um  im  nächsten  Augenblicke  d;u-über  heftig  erschrocken 
zu  sein  ^  Die  Beispiele  genügen  wohl,  um  daran  zu  erinnern:  es  gibt 
Automatismen  —  sie  sind  in  der  abnormen  Psyche  sehr  verbreitet  und 
wichtig  — ,  die  phänomenologisch  eine  Sonderstellung  haben,  mögen  sie 
nun  als  Ergebnis  nicht  beachteter  Akte  aufgefafSt  werden,  oder  mag  man 
sie  überhaupt  aufierhalb  des  Bereiches  der  Akte  stellen. 

Bisher  war  nur  davon  die  Rede,  daß  die  Durchführung,  der  Vollzug 
eines  .\ktes  abnorm  sein  könne,  während  seine  Richtung  nebst  seinem 
Gegenstande  nicht  als  abnorm  zu  bezeichnen  sei.  Jetzt  ist  der  umgekehrte 
Fall  zu  betrachten. 

2.  Richtung  abnorm,  Durchführung  normal 

Schon  bei  der  Besprechung  der  Denkslörungen  ergab  sich,  daß  auch 
mancher  Inhalt  als  abnorm  angesehen  werden  müsse,  nicht  an  sich,  son- 
dern hinsichtlich  der  Richtung  des  betreffenden  Aktes  (der  determinieren- 
den Tendenz  der  Aufgabe.)  Wenn  sich  z.  B.  in  eine  Erörterung  des  zweiten 
punischen  Krieges  plötzlich  ein  Exkurs  über  den  rationellsten  Anbau  von 
Stiefmütterchen  einschiebt,  so  ist  diese  Gedankenverbindung  und  in 
diesem  Zusammenhange  also  der  zweite  Inhalt  abnorm.  Aber  er  ist  es 
eicht  in  der  Tendenz.  Denn  der  Erzählende  ist  ja  durchaus  auf  den  zweiten 
punischen  Krieg  gerichtet  und  ist  selbst  sehr  unwillig  über  jene  quer- 
kommende  und  von  ihm  keineswegs  intendierte  Störung.  Oben  wurde  noch 
ein  anderes  Beispiel  gebracht,  das  dem  soeben  genannten  aufs  erste  sehr 
ähnlich  zu  sein  scheint:  die  Hingabe  an  eine  Zwangsvorstellung.  Wird 
nicht  auch  der  Zwangskranke  in  seiner  irgendwie  gerichteten  Intention  nur 
durch  die  gerade  querkommende  Zwangsvorstellung  gestört?  Heißt  denn 
die  Vorstellung  nicht  gerade  deshalb  Zwangsvorstellung,  weil  sie  sich  dem 
Psychastheniker  aufzwingt? 

Wenn  jemand  einen  Brief  geschrieben  und  in  den  Umschlag  gesteckt 
hat,  und  er  erledigt  darauf  einen  zweiten,  so  taucht  ihm  leicht  der  Gedanke 
auf,   er  könne   beide  Umschläge  verwechselt   haben.     Er  wird   sie  vielleicht 


1  Hierher  gehört  ein  Teil  der  sogenannten  Zwangsimpulse:  der  plötzliche 
Blick  in  einen  Abgrund  erzeugt  blitzschnell  den  Impuls,  hinunterzuspringen.  Ein 
blankes  Messer,  das  ich  liegen  sehe,  fordert  mich  sofort  auf,  jemanden  damit  zu 
stechen  usw.  Über  das  Für  und  Wider.  Ja  und  Nein,  das  damit  verknüpft  ist,  siehe 
im   folgenden   unter   Zwangsvorstellungen. 


108  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABISORMEN 

nochmals  öffnen,  um  sich  zu  überzeugen,  ob  jeder  Empfänger  auch  wirk- 
lich den  für  ihn  bestimmten  Brief  erhält.  Und  wenn  er  mit  Aufmerksam- 
keit die  Angelegenheit  geprüft  und  vielleicht  neue  Umschläge  geschrieben 
hat,  so  ist  für  ihn  die  Sache  erledigt,  und  die  Briefe  kommen  in  den 
Briefkasten.  Ein  leichter  Ärger  über  die  doppelte  Mühe  und  die  verschwen- 
deten Umschläge  stärken  vielleicht  den  Vorsatz,  das  nächste  Mal  besser 
aufzupassen.  Für  den  Psychastheniker  ist  jedoch  die  Angelegenheit  nun 
erst  recht  verfahren.  Er  ist  der  sicheren  Überzeugung,  gerade  erst  bei  der  Prü- 
fung die  Briefe  verwechselt  zu  haben.  Eine  große  Unsicherheit  befällt  ihn: 
er  kann  sich  zwischen  der  Vorstellung:  „Umschläge  vertauscht"  und  „Um- 
schläge nicht  vertauscht"  nicht  entscheiden.  Die  Sachlage  bleibt  dahin- 
gestellt, ein  ewiges  Erwägen  und  Überlegen  setzt  ein,  das  nie  zu  einem 
Ergebnis  kommt,  da  gar  keine  Momente  mehr  vorhanden  sind,  an  die  sich 
der  Urttiilsakt  gleichsam  anklammern  könnte.  Die  Qualität  des  Aktes  ist 
alleriert.  Unaufhörhch  intendiert  der  Zweifelnde  eine  Entscheidung,  aber 
diese  erwägende  und  fragende  Intention  findet  niemals  ihre  Vollendung, 
es  bleibt  ein  ewiges  Erwägungserlebnis  ohne  Erfüllung  (Husserl  128  II,  S.  448). 

Die  Ijihalte  solcher  Zwangserlebnisse  sind  sehr  vielgestaltig.  Es  gibt  wahrhafte  Grübel- 
süchlige  (les  scrupuleux),  die  niemals  die  Addition  einer  Zahlenreihe  beenden  können, 
weil  sie  meinen,  sie  hätten  sich  doch  verrechnet.  Andere  sehen  hundertmal  nach, 
ob  sie  wirklich  die  Lampe  ausgelöscht  haben,  ob  sicher  niemand  unter  dem  Bett 
steckt,  ob  der  Schlüssel  im  Schloß  tatsächlich  umgedreht  ist.  Sie  könnten  ihn  ja  unab- 
sichtlich im  letzten  Moment  der  Berührung  wieder  zurückgedreht  haben.  Jemand  liest 
von  einer  Feuersbrunst  in  der  Stadt:  kann  er  nicht  die  Ursache  gewesen  sein,  ging 
e  r  nicht  gestern  dort  vorbei,  hatte  e  r  nicht  eine  brennende  Zigarre,  ist  nicht  ein  Funke 
4avon  \ielleicht  in  den  Keller  gefallen  usw.  Zuweilen  erstreckt  sich  diese  Zweifelsucht 
auf  ganz  allgemeine  abstrakte  Fragen:  hat  die  katholische  oder  die  evangelische  Lehre 
größere  Vorzüge?  Bei  dieser  ist  dies,  bei  jener  jenes  höher  zu  werten.  Wenn  ich 
nun  dies  betrachte,  so  meine  ich,  der  Katholizismus  verdiene  den  Preis,  wenn  ich 
aber   jenes  usw. 

Die  Unsinnigkeit  mancher  Gegenstände  ist  den  Zwangskranken  oft  voll- 
kommen bewußt.  Mit  den  Zwangsgedanken  werden  vielfach  auch  die  so- 
genannten Phobien  abgehandelt  Es  handelt  sich  dabei  um  den  Tat- 
bestand, daß  jemand  vor  einer  gleichgültigen  Sache  die  schrecklichste 
unbezwinghche  Angst  hat,  etwa  vor  jeder  Kuh,  vor  jedem  Gewitter,  vor 
jeder  Termin  Setzung,  vor  jeder  Überschreitung  eines  freien  Platzes  (Agora- 
phobie, Platzangst)  usw.  Mit  dem  soeben  geschilderten  Phänomen  der  Aweifel- 
sucht  haben  manche  dieser  Phobien  auch  die  „ewige  Erwägung"  gemein. 
Die  Kranken  haben  die  klare  Einsicht,  daß  dies  alles  Unsinn  sei,  und  daß 
sie  von  diesem  Unsinn  frei  kommen  möchten  und  doch  nicht  könnten. 
Aber  es  gibt  manche  Symptome,  die  reichhaltiger  sind,  deren  Beschreibung 
sich   nicht  in    dem  ewigen  Erwägungserlebnis  erschöpft. 

Manche  seltsamen  Erlebnisse  stehen  mit  den  Zwangsvorstellungen  (im  engeren  Sinne) 
nur  noch  in  losem  Zusammenhang.  Z.  B.  wenn  ein  Herr,  der  in  eifrigem  Gespräche 
mit  einem  Freunde  eine  Straße  e-'ulang  geht,  plötzlich  einen  großen  Seitensprung  macht: 
,,zwangs"mäßig  war  plötzlich  die  Vorstellung  aufgetaucht,  eine  von  hinten  heran- 
gekommene Straßenbahn  drohe  beide  zu  überfahren  — ,  obwohl  auf  der  Straße  gar 
keine  Trambahnschionen,  noch  sonst  ein  Fuhrwerk  zu  sehen  war.  Oder  wenn  jemand 
einen  Spaziergang  macht  und  sich  urplötzlich  tief  bückt,  unter  dem  Zwange,  es  sei 
ein  Seil  über  den  Weg  gespannt  — ,  obwohl  nicht  der  geringste  Anlaß  zu  einer 
solchen   Annahme   vorlag. 


ZWANGSVOKGaNGE  1()9 


Die  Schule  S.  Freuds^  hat  sich  um  die  Aufklärung  der  ZwTjngssyinptome 
viele  Verdioiistp  »»rworben.  Freilirli  beantwortet  seine  Psychoanalyse  nur  die 
Frage  nach  dem  NVeg:  wie  kam  diese  Person  gerade  zu  diesem  Zwangs- 
symptom; sie  steht  {vfie  auch  die  übrige  Forschung)  noch  jener  Frage  ratlos 
gegenüber:  warum  wurde  dieser  Weg  beschritten,  warum  kam  diese 
Person  überhaupt  zu  einem  Zwangssymptom.  Das  ganze  Problem  der 
Zwangsphänomene  verdient  an  dieser  Stelle  fehlt  es  leider  am  Raum  eine 
ganz  neue  Darstellung  vom  Gesichtspunkt  der  Vktpsychologie  aus.  Das 
Beste,  was  bisher  über  das  Problem  beigebracht  wurde,  stammt  von 
M.  Friedmann  (80  und  81a-).  Dieser  P^orscher  betont  selbst  den  Zusammen- 
hang der  Zwangsideen  mit  den  sogenannten  überwertigen  Ideen,  wobei 
er  diesen  Begriff  etwas  eng  faßt.  Diese  Ideen  erlangen  im  Rahmen  des 
psychischen  Gesamtzusammenhangs  eine  übermäßige  Bedeutung.  Auch  sie 
drängen  sich  auf,  auch  ihrer  vermag  man  sich  nicht  zu  entledigen,  man 
unterliegt  ihnen.  Aber  man  erkennt  sie  immerhin  als  seine  eigenen  Ideen 
an,  es  ist  keinerlei  Ichstörung  mit  ihnen  verbunden. 

Ein  Psychastheniker  leidet  aus  irgend  welchen  Ursachen  an  Rücken- 
schmerzen. Er  glaubt  zu  wissen,  daß  sich  in  der  Gegend  dieser  Schmerzen 
die  Nieren  befinden,  und  so  setzt  sich  in  ihm  die  Überzeugung  fest,  er 
leide  an  einer  Nierenerkrankung.  Er  sucht  den  Arzt  auf  und  wird  von 
diesem  belehrt,  daß  sein  Urin  von  allen  chemischen  und  Formbestandteileii, 
die  eine  Nierenentzündung  kennzeichneten,  vollkommen  frei  sei,  er  sei  sicher 
nierengesund.  Der  Psychastheniker  beruhigt  sich  hierbei  aber  keineswegs: 
der  Arzt  könne  sich  doch  getäuscht  haben,  zufällig  könne  an  diesem  Tage 
kein  Befund  vorhanden  gewesen  sein.  Und  so  geht  der  Ängstliche  zum 
nächsten  Arzt  und  beruhigt  sich  auch  bei  dessen  ablehnendem  Bescheid  nicht. 
Er  ist  keineswegs  glücklich,  an  dieser  ernsten  Krankheit  nicht  zu  leiden, 
sondern  er  wandert  von  Spezialarzt  zu  Spezialarzt,  trägt  seinen  Urin  in  immer 
neue  Apotheken  und  so  fort.  Nur  diese  eine  überwertig  gewordene  Idee 
beherrscht  ihn:  du  bist  nierenkrank.  Aber  er  findet  sich  mit  diesem  an- 
geblichen Tatbestande  nicht  etwa  schließlich  so  ab,  wie  sich  jemand  mit 
der  Eröffnung  des  Arztes  abfindet:  er  habe  eine  Lungentuberkulose.  Er 
richtet  sein  Leben  nicht  etwa  so  ein,  daß  er  die  ihm  nun  noch  angeblich 
verbleibenden  Lebensjahre  möglichst  verständig  ausfüllt,  sondern  er  lebt 
dieser  hypochondrischen  Idee  selbst.  Alle  anderen  geistigen  Inhalte  treten 
zurück,  alle  seine  übrigen  Interessen  erlöschen,  selbst  seine  soziale  Einstellung 
(Beruf,  Familie)  leidet  Not.  Er  kann  diesen  einen  Inhalt  nicht  abschließen, 
nicht  erledigen;  in  ewiger  Unruhe  und  Spannung  treibt  er  sich  umher.  Es 
fehlt  das  Erfüllungserlebnis  auf  die  Frage:  „bist  du  nierenkrank"  genau  so 
wie  auf  die  Gegenfrage:    „bist  du  es  nicht".    Man  hat  von  immobilen  Ideen 


1  79  und  die  drei  Zeitschriften  der  psychoanalytischen  Forschung:  a)  Image 
(Kulturwiüsenschaften),  b)  Internationale  Zeitschrift  für  ärztliche  Psychoanalyse,  c)  Zentral- 
l>latt  für  Psychoanalyse  (früher).  Auch  Janets  Gedanken  zum  Zwangsproblem  sind 
wichtig    (187,    1873   und    iSa). 

-  Siehe    auch    das    neue    Sammelreferat    vx>n    W.    Stöcker    (007).     Friedmann    vermag 
freilich    das    Problem    nicht    recht    befriedigend    der    gesamten    Psychologie    einzuordnen 
Seine    Begriffe    fügen    sich    nicht    harmonisch    in    die    sonstige   Begriffswelt    der    Normal - 
:OSYchologie    ein. 


HO  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

und  von  einem  gestauten  Denkablauf  gesprochen.  Wie  immer  man  sich 
den  Sachverhalt  auch  zurecht  legen  möge:  in  der  Intention  des  .\ktes  selbst 
liegt  das  Abnorme. 

Man  bedient  sich  des  Ausdrucks  überwertige  Idee  noch  mit  erweitertem 
Umfang.  Bei  dem  soeben  erörterten  Beispiel  des  Hypochonders  waren  zwei 
Umstände  wesentlich:  das  Nicht-abschließen-Können  eines  Zwiespaltes  und 
das  völlige  Ausgefülltsein  mit  diesem  Erlebnis.  Aber  man  bedient  sich  jenes 
Terminus  auch  dann,  wenn  nur  das  letztere  Moment  vorliegt,  wenn  jemand 
von  einer  Idee  zwar  nicht  loskommt,  aber  von  ihr  auch  gar  nicht  loszu- 
kommen wünscht.  Man  bezeichnet  mit  überwertiger  Idee  auch  die  einfache 
Tatsache  einer  ungemeinen  Einseitigkeit,  Verranntheit  auf  einen  Gesichts- 
punkt. So  gibt  es  Menschen,  die  sich  etwa  der  Theorie  des  Yegetarianismus 
ergeben  und  vielleicht  noch  auf  jene  Behauptung  schwören,  die  Gesundheit 
verlange  ein  minutenlanges  Kauen  jeden  Bissens.  Sie  treiben  eine  übermäßige 
Propaganda  für  diese  Ideen,  vernachlässigen  alle  Berufsinteressen  und  alle 
bisherigen  Beschäftigungen,  halten  die  augenblickliche  enge  Einstellung  für 
die  einzig  wichtige  und  versuchen  aus  diesem  kümmerlichen  Gesichtspunkt 
schließlich  eine  „Weltanschauung"  zu  machen.  Trifft  man  diese  Persönlich- 
keiten nach  einigen  Jahren  wieder,  so  ist  von  Vegetariertum  oder  von  berufs- 
mäßigem Kauen  keine  Rede  mehr:  jetzt  ist  es  vielleicht  der  Kommunismus, 
oder  das  Siedeln,  was  sie  völlig  beherrscht.  In  ganz  gleicher  Weise  stürzen 
sie  sich  jetzt  in  diesen,  aber  nur  in  diesen  Gedankenkreis,  alles  andere 
ist  völlig  versunken. 

Wenngleich  es  vielleicht  aufs  erste  scheint,  daß  das  Beispiel  des  Hypo- 
chonders mit  dem  des  kommunistischen  Vegetariers  nicht  viel  zu  tun  habe, 
so  ist  es  dennoch  ein  psychologisches  Moment,  welches  beiden  verschiedenen 
Phänomenen  mit  gewissem  Recht  den  gleichen  Namen  der  überwertigen 
Idee  verleiht;  das  Nicht-fertig-werden-Können,  das  Ganz-erfüUt-Sein  im  Sinne 
der  Denkstauung.  Im  zweiten  Falle  ist  es  sicher  nicht  die  Bewußtseinslage 
des  Zweifeins,  Schwankens,  Erwägens,  welche  dauert,  aber  doch  das  Sich- 
ewig-im-Kreise-Drehen  um  diesen  einen  Punkt,  dessen  spezielle  Inhaltlichkeit 
an  sich  ganz  gleichgültig  ist.  Auch  hier  ist  es  also  eine  Aktqualität,  welche 
Schaden  gelitten  hat^. 

Völlig  andersartig  ist  eine  andere  Abnormität  des  Seelenlebens,  bei  der 
ebenfalls  die  Richtung  der  Akte  beeinträchtigt  ist.  Wenn  jemand  in  einer 
Gartenanlage  auf  einer  Bank  sitzt  und  das  Treiben  der  Vorübergehenden 
beobachtet,  so  werden  mancherlei  wechselnde  Gegenstände  seine  Aufmerk- 
samkeit erregen.  Sein  Bewußtsein  wird  bald  von  einem  Buben  erfüllt  sein, 
der  einen  Reifen  treibt,  bald  wird  es  sich  einem  Mädchen  zuwenden,  das 
einen  Kinderwagen  schiebt  usw.  Er  wird  an  diesen  Gegenständen  mancherlei 
„meinen".  Bald  interessiert  ihn  an  dem  Kindermädchen  eine  freundliche 
Tracht,  bald  an  dem  Buben  ein  besonderer  Ausdruck  usw.  Er  beurteilt 
vielleicht  die  Tracht  als  schön,  den  Ausdruck  als  häßlich  usw.    Allerlei  andere 


^  Es  ist  ja  wohl  auch  kein  Zufall,  daß  die  Erfalirung  das  häufige  Zusammen- 
treffen beider  Phänomene  in  einer  Person  ergibt:  derjenige,  der  immer  nur  in  irgend- 
eine Einseitigkeit  verbohrt  ist,  leidet  besonders  oft  an  Phobien  oder  anderen  Zwangs- 
vorstellungen.    Allerdings    gilt   dies    nicht    umgekehrt. 


IBEIUVKKTIGE    IDEE.    WAHN m 

Gedankongänpc  werden  sich  anschließen,  vielleicht  eine  leichte  freudebetonte 
Erwüpung,  welch  schöne  Anlagen  die  Sladl  hier  lür  Spaziergänger  geschaffen 
habe,  wie  gesund  diese  Einriihlung  für  die  Bevölkerung  sei  usw.  kein 
normaler  Mensch  aber  wird  auf  d<'n  (ledanken  kommen,  dali  hinter  diesen 
harmlosen  Spaziergängern  noch  etwas  „stecke",  daß  sich  hinter  diesen 
Dingen  noch  etwas  verberge,  dali  ein  verborgener  Sinn  in  dem  kindlichen 
Spiel  läge,  aber  ein  Sinn  eigener  Art.  Der  I'aranoiker  nimmt  alle  diese 
Objekte  von  seiner  Bank  aus  genau  so  wahr  wie  der  Normale.  Aber  er 
bemerkt  mehr.  Für  ihn  kommt  noch  etwas  hinzu,  nämlich  die  primäre 
Bewulilheil,  dali  jene  Wirklichkeit  Schein  sei,  und  daß  erst  die  Bedeutung 
der  Gegenstände  das  Wichtige  darstelle.  Einem  anderen  mag  das  Kinder- 
mädchen und  der  Bube  gleichgültig  vorkommen,  e  r  weiß,  daß  dies  alles 
nur  eine  Art  Theater  ist,  eine  Aufführung,  seinetwegen  veranstidtet.  Vielleicht 
brauchen  die  handelnden  Personen  dieser  Aufführung  nicht  in  jedem 
einzelnen  Zug  irgendwelche  Umstände  zu  verraten,  die  direkt  für  ihn  wichtig 
sind  '.  Vielleicht  „bedeuten"  sie  etwas  Allgemeines,  z.  B.„Ruhe  vor  dem  Sturm", 
aber  dann  spielen  sie  sich  immerhin  seinetwegen  und  vor  ihm  ab,  damit 
er  von  dem  Kommenden  (vielleicht  dem  Weltuntergangserlebnis)  rechtzeitig 
Kenntnis  erhalte.  Meist  aber  sind  die  „Anspielungen"  der  Aufienwelt  auf  ihn 
äußerst  direkt.  Der  Gesichtsausdruck  des  Buben  besagte  deutlich:  „Du  bist 
längst  erkannt,  tu  nur  nicht  so",  die  Tracht  des  Mädchens  in  ihren  bunten 
Farben  sollte  ihn  reizen;  mit  und  in  diesen  Farben  wollte  sie  sich  über 
ihn  lustig  machen.  Zwar  gebe  er  zu,  es  waren  Farben  wie  sonst  auch,  es 
war  eine  Anlageszene,  wie  sie  häufig  zu  beobachten  sei,  zwar  vermag  er 
keine  einzelnen  absonderlichen  Umstände  anzuführen,  die  ihn  auf  jene 
Gedanken  gebracht  hätten,  aber  er  kann  eben  mehr  als  andere,  er  „weiß 
schon  Bescheid",  er  läßt  sich  kein  X  für  ein  U  machen. 

Ein  solches  primär  paranoisches  Erlebnis  ist  für  den  normalen  Menschen 
vollkommen  uneinfühlbar.  Man  darf  mit  ihm  nicht  Einstellungen  originär 
argwöhnischer  Menschen  verwechseln,  die  auch  schnell  hinter  allem  etwas 
„wittern".  Ein  solch  konstitutionell  Mißtrauischer  ^  der  die  Generalidee  hat, 
er  würde  immer  umgangen,  benachteiligt,  schlecht  behandelt  usw.,  kann 
zwar  auch  leicht  auf  den  Gedanken  kommen,  man  schiebe  ihm  immer 
gerade  jene  .\ktenstücke  zur  Bearbeitung  zu,  die  die  schwierigsten  Fälle  ent- 
hielten; er  kann  sich  zwar  auch  einbilden,  daß  der  Gruß  seines  Vorgesetzten 
gerade  ihm  gegenüber  besonders  leger,  beinahe  mißachtend  sei,  aber  er  wird 
niemals  den  Gedanken  fassen,  daß  das  Fällen  eines  Baumes  im  Nachbar- 
garten bedeuten  solle,  „auch  deine  Stunde  hat  geschlagen".  Man  stelle  sich 
zwei  Fälle  gegenüber,  so  wird  man  schneller  als  in  langen  Erörterungen 
erfassen,  auf  welchen  Unterschied  es  ankommt;  die  angeboren  Mißtrauische, 
die  einen  neuen  Hut  auf  hat  und  glaubt,  alle  Leute  sähen  sie  an  —  und 
der  schizophrene  Paranoiker,  der  schildert:  „Und  dann  standen  in  dem 
Cafe  drei  Marmortische"  (ja,  und  ?),  „und  da  wußte  ich  gleich,  daß  das 
Reich  des  Antichrists  angebrochen  sei."  Man  kann  sich  auch  bei  gebildeten 


1  Die    Menschen    erscheinen    vsie    Marionetten,    die    auf    Befehl    irgendeiner    geheimen 
Macht    alles    ausführen    müssen. 

2  Vgl.    dazu    Kretschmer    (i63)    und   die   dort    angeführte    Literatur. 


JJ2  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORM£i\ 

Paranoikern  stundenlang,  ja  in  monatelang  fortgesetzten  Unterredungen  ver- 
geblich bemühen,  herauszubekommen,  was  es  denn  speziell  an  den  äußeren 
Erlebnissen  sei,  was  das  Bedeutungserlebnis  begründe.  Man  hört,  es  waren 
Marmortische  wie  in  jedem  Cafe,  der  Wahnkranke  findet  auch  in  der 
Dreizahl  selbst  nichts  Abnormes,  sie  bildeten  auch  im  Grundriß  nicht  etwa 
eine  besondere  Figur  -  alle  derartigen  Fragen  werden  verneint  — ,  und 
dennoch:  der  Kranke  weiß,  daß  und  so  weiter.  Er  vermag  nicht  anzu- 
geben, wodurch,  aber  er  ist  seiner  Sache  unerschütterlich  sicher  (wahnhafte 
Bewußtheit  verschiedenster  Bezogenheiten)  ^.  Er  kann  dabei  irgendwelche 
anschaulichen  Gegenstände  oder  ihre  Beziehungen  „konstatieren"  (z.  B.  daß 
jemand  hinter  ihm  steht,  den  er  weder  sieht  noch  hört,  noch  sonst  emp- 
findet) oder  unanschaulicher  (gedanklicher)  Bewußtheiten  inne  sein  (z.  B. 
Deutschlands  Kultur  werde  mit  denselben  Symptomen  zugrunde  gehen 
wie  die  römische  Kultur).  Hierher  gehören  jene  Wahninhalte,  die  in  der 
religionspsychologischen  Literatur  unter  dem  wenig  glücklichen  Namen  der 
„intellektuellen  Visionen"  gehen  (Österreich  227).  Untersucht  man  nun 
solche  VVahnerlebnisse,  so  muß  man  vorsichtig  analysierend  verfahren. 
Es  ist  nämlich  relativ  selten,  daß  eine  solche  Wahnbewußtheit  ganz  allein 
vorkommt.  Meist  wird  sie  durchkreuzt  von  allen  möglichen  anderen  ab- 
normen Bestandteilen  des  Seelenlebens,  z.  B.  von  Sinnestäuschungen,  patho- 
logischen Affekten  u.  dgl.-.  Und  beide  eben  genannten  Komplikationen  können 
ebenfalls  wahnbildend  wirken.  Es  ist  früher  in  der  psychiatrischen 
Literatur  viel  darüber  gestritten  worden,  ob  die  Wahnideen  den  Affekt 
oder  der  Affekt  die  Wahnideen  erzeugen.  Beides  und  noch  dazu  mancherlei 
anderes  ist  richtig.  Manche  primär  (d.  h.  aus  psychologisch  völlig  unbe- 
kannten Motiven)  entstandenen  Wahnideen  führen  einen  starken  Affekt, 
z.  B.  Angst,  herbei,  andere  nicht  Manche  intensiven  Affekte  erzeugen  Wahn- 
ideen (z.  B.  die,  verfolgt  zu  werden),  andere  nicht  Hier  ist  jeder  Fall  anders. 
Es  ist  deshalb  von  vornherein  wenig  befriedigend,  wenn  sich  manche 
Forscher  bemühen,  e  i  n  Moment  als  sogenannte  Ursache  der  Wahnbildung 
aufzuzeigen.  So  hört  man  etwa,  der  Affekt  solle  eine  „Vorstellung*'  derart 
an  „Kraft"  verstärken  können,  daß  ein  falsches,  nämlich  ein  wahnhaftes 
Realitätsurteil  entstehe.  Aber  es  gibt  eben  stärkste  .Affekte  ohne  Wahn- 
ideen und  deutliche  Wahnideen  ohne  Affekte.  Daran  können  alle  Theorien 
nichts  ändern ".  Ich  begreife  z.  B.  schwer,  >vie  sich  ein  so  unterrichteter 
Forscher  wie  Pick  mit  der  Meinung  zufrieden  geben  kann,  der  Affekt 
schaffe  die  Ichbeziehung,  d.  h.  den  Beziehungswahn  (244).  Zum  mindesten 
taucht  doch  sofort  die  weitere,  die  Hauptfrage  auf:  welcher  Affekt  und 
unter  welchen  Umständen  ?  Und  wenn  Berze  (22)  eigene  frühere  Arbeiten 
zusammenfaßt  in  der  Behauptung,  die  Ursache  des  Beziehungswahnes  liege 
in  einer  Störung  des  W^ahrnehmungserlebnisses,  so  knüpft  doch 
der  Nachdenkende  sofort  die  weitere  Frage  an:  in  welcher  Störung  des 
Wahrnehmungserlebnisses   denn?    Und   warum    denn   gerade   des  Wahr- 


1  Vgl.   die   kleine   Studie   von   Jaspers    (i4i),    besonders    die    dort   angeführten    Proben 
aus    Strindbergs    Inferno,    —   und    Dromard   (5o  a). 

2  Siehe    z.    B.    Schreber    (284)    und    Serko    (294). 

•''    Daran    ändert    auch    die    Hilfstheorie    der    ..verdrängten"    Affekte    nichts. 


WAHN n3 

n  ehnni  ugsericbiiisses,  da  es  doch  viele  [)riniärc  VValinideen  <,äbt,  die  mit 
dem  \N  aliniehnninjjsakt  ül)erh;uij)l  gar  nichts  zu  tun  haben!  Ganz  wirk- 
lichki'ilslrcnid  sind  die  Theorien  von  Juhus  Schultz  (286),  sie  passen 
\ielleicht  zur  Not  auf  eine  kleine  Klasse  von  Wahnideen,  keinesfalls  aber 
auf  <lie  Mehrzahl.  Diejenigen  ^  ersuche  einer  Paranoiatheorie,  die  mir  bish«»r 
bekannt  wurden,  unterscheiden  meines  Erachtens  niemals  sorgsam  genug 
folgende  drei  Momente: 

1.  Die  Frage  nach   der  Ursache  der  Wahnbildung; 

2.  die    Frage    nach    etwaigen    verständlichen     Zusammenhängen   einer 
Wahnbildung; 

3.  die  Frage  nach  dem   Wesen  der  Wahnbildung  selbst. 

Die  [ersten  beiden  Gesichtspunkte  sollen  hier  unerörtert  bleiben.  Was 
aber  den  dritten  anlangt,  so  besteht  für  mich  kein  Zweifel,  daß  der  pri- 
märe Wahnvorgang  eben  etwas  Primäres,  d.  h.  nicht  Ableitbares  ist^.  Wenn 
ich  bei  der  Betrachtung  der  roten  Mütze  eines  Bahnhof  Vorstehers  plötzUch 
die  unerschütterhche  Gewißheit  habe,  daß  diese  sonst  tausendfach  erlebte 
Mütze  plötzUch  etwas  für  mich  bedeutet,  so  hat  sich  nicht  an  der  Wahr- 
nehmung der  Mütze  selbst  irgend  etwas  geändert,  sondern  in  der  Mütze  ist 
gleichzeitig  etwas  anderes  mit  „gemeint",  die  Qualität  des  /\ktes  ist  alte- 
riert,  andersartig  geworden.  Was  die  Ursache  dieser  .\ktqualitätsveränderung 
ist,  ist  wiederum  eine  Frage  für  sich.  Zukünftige  Forschungen  werden  diese 
spezielle  paranoische  /Vktform  noch  besser  herausarbeiten  müssen. 

Die  sekundären  Wahnideen  sind  demgegenüber  abgeleitet,  erschlossen-. 
Sie  sind  Erzeugnisse  irgendwelcher  Überlegungen,  z.  B.  wenn  ein  lebhaft 
akustisch  halluzinierender  Kranker  aus  den  gehörten  Stimmen  schheßt,  es 
sei  eine  Verschwörung  da,  ihn  unschädlich  zu  machen.  Oder  sie  sind 
gleichsam  plastische  Gestaltungen  maßloser  Affekte,  z.  B.  wenn  eine  agitierte 
Melancholika  jammernd  ausruft,  ihre  Kinder  würden  im  Nachbarzimmer 
geschlachtet.  Natürlich  gibt  es  noch  mancherlei  andere  Wahnmechanismen. 
Sieht  man  aber  von  diesen  —  phänomenologisch  minder  interessanten  — 
sekundären  Wahnideen  ab,  und  versucht  man,  die  primären  zu  ordnen, 
so  kann  dies  auf  verschiedene  Weise  geschehen.  Tausendfältige  Erfahrung 
ergibt  sehr  mannigfaltige  Bilder.  Es  hat  weniger  Sinn,  zu  unterscheiden,  ob 
jemand  mit  elektrischen  Maschinen  oder  durch  Vergiftungsversuche  verfolgt 
wird,  —  auch  hier  hat  freilich  die  Freudsche  Psychoanalyse  viele  Verdienste, 
indem  sie  untersuchte,  wie  der  einzelne  gerade  zu  seinen  und  nicht  zu  an- 
deren Wahnideen  kommt,  —  sondern  abgesehen  von  dieser  persönUchen  Fär- 
bung der  Symptome  (assoziativen  Geformtheit)  kann  man  folgende  Arten 
unterscheiden : 

Es  gibt  primäre  Wahninhalte,  die  im  ersten  Entstehen  egozen- 
trisch sind.  „Ich  sah  jene  Dame  sich  mir  nähern  und  wußte  sofort, 
daß  es  mir  ans  Leben  geht".  Andere  Wahnkranke  erleben  primär 
unegozentrische   Bezogenheiten :   eine   Ansammlung  vieler   Kinder    an  einer 


^  Vgl.   auch   Heveroch   (ii6). 

2  Besonders    Bleuler   (28)   hat   diesen  Teil  der   Psychopathologie   bereichert. 

Kafka,  Vergleichende  Psychologie  lil. 


,14  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEiN 

Straßenecke  bedeutet  einen  modernen  Kreuzzug.  —  Es  lassen  sich  die 
Wahninhalte  ferner  danach  unterscheiden,  ob  sie  irgendwelche  anschau- 
lichen Momente  miteinander  verknüpfen  oder  unanschauliche  Be- 
ziehungen behaupten.  Für  den  ersten  Fall  diene  als  Beispiel,  wenn  jemand 
annimmt:  kleine  Strohreste  auf  der  Straße  bewiesen  die  Anwesenheit  von 
zwei  Detektivs;  für  den  letzteren  Fall,  wenn  eine  Zeitungsüberschrift: 
„Aufgeregte  Szenen  in  der  französischen  Kammer",  den  Anfang  des  Welt- 
untero-angs  andeuten  soll.  —  Ferner  lassen  sich  die  primären  Wahnideen 
danach  sondern,  ob  sie  von  vornherein  ganz  klar  und  äußerst  speziell 
geformt  sind,  oder  ob  sie  nur  ungewisse  Andeutungen  geben.  Im  letzteren 
Falle  hat  der  Kranke  oft  nur  den  unmittelbaren  bestimmten  Eindruck,  daß 
„etwas"  los  sei,  ohne  doch  angeben  zu  können,  was  er  denn  eigentlich 
Bedeutungsmäßiges  erfahren  habe.  —  Wenn  ich  ferner  erwähne,  daß  die 
primären  Wahnerlebnisse  —  wenigstens  die  im  Beginn  der  Psychose  er- 
lebten —  meist  stark  gefühlsbetont  sind,  während  sie  in  seltenen  Fällen 
von  den  Kranken  nur  gleichmütig  registriert  werden,  habe  ich  ein 
weiteres  unterscheidendes  Merkmal  erwähnt.  Aber  man  könnte  aus 
dem  Material  heraus  noch  manchen  anderen  Gesichtspunkt  der  Einteilung 
wählen.  Das  Gemeinsame  an  allen  noch  so  verschiedenartigen  primären 
Wahninhalten  ist,  daß  diese  festen  Überzeugungen  aus  dem  Nichts  heraus 
geboren  oder  an  gleichgültige  äußere  Umstände  geknüpft  werden,  die  für 
den  Normalen  nicht  das  mindeste  Bedeutungsmäßige  enthalten.  Ich  lasse 
hier  eine  Schilderung  eines  solchen  Wahnerlebnisses  folgen.  Es  pflegt  oft 
den  völlig  Gesunden  unvermittelt  mit  allen  Schrecknissen  eines  ungeheuer- 
lichen Ereignisses  zu  überfallen.  A  or  dem  großen  Kriege  nannten  es  manche 
Kranke  ^  das  Weltkriegserlebnis ,  um  das  unsagbar  Schreckliche  anzu- 
deuten, oder  man  hört  die  Ausdrücke  des  Weltuntergangs-  oder  Karfreitags- 
erlebnisses. 

Es  war  in  der  Natur  so  trübe  und  so  dunkel.  Djle  Freundin  iiatte  so  trübe 
dunkle  Augen.  Sie  habe  zu  ihr  gesagt:  Du  siehst  so  ganz  anders  aus.  Sie  half  ihr 
Kuchen  backen.  Als  der  Kuchen  in  den  Ofen  kam,  sei  ihr  der  Gedanke  gekomme«, 
da  wird  eine  arme  Seele  in  den  Backofen  gesclioben.  Sie  konnte  nichts  essen,  es  war 
ihr  alles  so  zuwider.  —  Als  morgens  die  Sonne  aufging,  war  es  Karfreitag.  Da 
war  alles  so  anders.  Die  Sonne  war  so  groß  und  so  merkwürdig.  Im  Garten  standen 
drei  Pfähle,  die  kamen  mir  vor  wie  drei  Kreuze,  über  dem  mittleren  Pfahl  hing 
ein  Tuch.  Da  meinte  sie,  es  sei  der  gekreuzigte  Heiland.  Sie  sagte  zu  den  anderen: 
Was  ist  denn  das,  wir  sind  auf  dem  Kalvarienberg.  Es  sei  ihr  alles  wie  umgewandelt 
vorgekommen.  Sie  habe  gedacht,  es  sei  eine  neue  Welt.  Es  fing  an  zu  schneien. 
Es  war  eine  unheimliche  Umwandlung.  Alles  lief  so  schnell,  es  war  gerade  wie 
elektrisiert.  Sie  war  wie  in  einem  Kino.  Die  Leute  auf  der  Straße  liefen  so  eigen- 
tümlich, so  hastig.  Als  sie  zum  Fenster  hinaussah,  da  habe  sie  geglaubt,  im  Acker 
werden  Schützengräben  gebaut.  In  der  Natur  war  alles  so  benebelt.  Sie  hörte,  wie 
im  Gang  ein  Kreuz  geschleppt  wurde.  Da  habe  sie  gedacht:  Der  Mensch  denkt  und 
Gotl  lenkt,  nun  sei  sie  die  erste,  die  gekreuzigt  werde.  (Fräulein  Meister.  Psychiatr. 
Klinik,   Heidelberg,    26.  Juni    1919.) 

,,Dann  stellte  es  sich  am  aS.  April  ein,  da  fiel  plötzlich  ein  Maikäfer  vor  mich 
lun  auf  den  Rücken  und  zappelte.  Ich  lachte,  bekam  sofort  Muskelschmerzen,  hatte 
damit  zu  tun  bis  Oktober.  Es  war  damals,  als  die  Vögel  so  aus  den  Kästchen  plötzlich 
während   der   Brutzeit   flogen,    und    an    den    Bäumen    hörte   ich    merkwürdige    Sachen,  N\ie 


1  Es    handelt    sich    inruner    um    Schizophrenien. 


WAHN n5 

l-uiso.     Lu/io"    usw.      ( Aupusto     I'arasol,    Brief    vom     iM.     März     1920,    Psychialr.     Kliiiik, 
llri.lfllK>rg.) 

rS'achts  gegen  '.i  Ihr  waclil«'  .'>ir  an  cineni  ganz  iiicikxMirdigen  ITi^iten  aiil'.  Es  sei 
kein  menschliches  luul  kein  Vogelnfoifen  gewesen.  Ks  sei  ganz  nah  am  Hans  gewesen 
lind  doch  wieder  ganz  in  der  Feme.  Da  Imlx'  der  Hahn  gekräht,  und  sie  habe 
gedacht,  ob  e.s  denn  Passionsreil  sei  und  der  Heiland  komme.  Sie  belete  und  meint«, 
es  sei  vielleicht  die  Verkündigung  eines  <ler  siel>en  Siegel  aus  der  Of IVnharung.  Sie 
dachte,  es  sei  vielleicht  die  Trübsal  ausgt^isson  worden,  als  es  so  pfiff.  Es  zog  auch 
eine  schwarze  Wolke  so  ganz  schnell  am  Schlafzimmer  vorbei.  Da  dachte  sie,  es 
.sei  der  böse  Geist,  .außerdem  habc*i  dreimal  drei  helle  Lichtstrahlen  den  Himrnirl 
gespalten.      (Luise    Biserla,    Psvchiatr.     Klinik.     Heidellurg.     •>.')      April     i<)iy.) 

In  solchen  primären  Wahnerlebnissen  sind  die  Kranken  meist  auch 
äulierlich  auffällig,  ängstlich  oder  ekstatisch  erregt.  Demgegenüber  folgen 
hier  die  Beobachtungen  eines  ruhigen  Mannes,  eines  Zugführers,  der  ein 
Eisenbahimnglück  verschuldete : 

Offenbar  wolle  man  ihn  nicht  mehr  einstellen,  weil  er  zu  viel  Mijjslände  in  der 
Verwaltung  der  Ixidischen  Eisenbahnen  aufgedeckt  habe.  Er  sei  den  Lr'uten  zu  ge- 
iähriich.  Man  wolle  ihn  kaltstolhn.  Er  schließe  das  alles  aus  ^e^schiedenen  Beobachtungen: 
In  seinem  jetzigen  Amt,  wo  er  also  seit  dem  i^.  August  191 3  beschäftigt  werde, 
falle  ihm  alles  mögliche  auf.  Ganz  offenbar  wolle  man  ihn  verwirren.  Man 
übertrage  ihm  Schoinarbeiten,  wenigstens  der  größte  Teil  seiner  Arbeiten  bestehe  in 
solchen  Scheinarbeiten.  Z.  B.  seien  manche  Schriftstücke,  die  er  zu  erledigen  habe, 
Sonntags  ausgefertigt.  Das  habe  sich  herausgestellt,  als  er  die  Daten  der  Abfertigung 
nachgeprüft  habe.  Es  fände  sich  femer  häufig  in  den  Instruktionen  der  Stempel 
,,EIisenbahnschule  Karlsruhe".  Dieser  Stempel  ,,Eisenbahnschnle"  sei  ganz  offenbar 
eine  Anspielung  darauf,  daß  er  jetzt  quasi  in  eine  Eisenbahnschule  gehe.  In  den 
Paragraphen  sind  nianche  Worte  oder  Sätze  sei/ietwegen  verdreht.  ,,Wcnn  mir's 
zu  dumm  geworden  ist,  habe  ich  gar  nicht  drin  gelesen.  Ich  hab'  gemerkt,  daß 
es  nicht  gut  tut.  Alles  ist  ja  nicht  dumm,  aber  immer  wieder  kommt  so  Lumpen- 
kram  dazwischen,  was  einem  nicht  gut  tut,  zu  lesen."  Die  Nachricht^nblälter  von  der 
Generaldirektion  würden  doppelt  geführt,  ein  Exemplar  für  ihn,  eins  für  die  andern. 
Das  schließe  er  a  us  einer  eigenartigen,  doppelten  Numerierung  der  Blätter  und  Ab- 
schnitte, die  früher  nicht  vorhanden  war.  Auch  waren  die  Nachrichtenblättcr  immer 
so  auffällig  dick.  Man  wollte  ihn  offenbar  ,, schulen",  indem  man  ihm  Artikel  über 
das  Eisenbahnunglück  hinschob.  Es  war  alles  wie  Scheinmanüver;  nein,  doch  nicht  alles, 
sondern  nur  teilweise.  Z.  B.  mußte  er  etwas  über  die  Feuerversicherung  «sines 
Wasserturmes  ausfertigen!  Das  sei  doch  der  reinste  Hohn.  Auch  kam  auffällig 
oft  das  Wort  Umformerraum  vor,  das  sollte  liesagen:  sein  Raum,  insofern  man  ihn 
umformen  will  in  der  Eisenbahnschule.  In  den  Schriftstücken  fanden  sich  zahlreiche 
orthographische  Fehler,  und  er  erkundigte  sich  nun  zum  Schein  jedesmal  bei  einem 
anderen  Beamten,  was  richtig  wäre.  Z.  B.  wurde  geschrieben  Sääle  und  lehr  (anstatt 
leer).  Dahinter  habe  etwas  gesteckt.  Doch  er  nahm  sich,  sobald  er  sich  einigermaßen 
kräftig  fühlte,  vor:  ,,Ich  mach'  mit."  Bei  Dezimalstellen  der  Summen,  die  er  zu 
addieren  hatte,  wurde  plötzlich  nur  eine  Dezimalstelle  geschrieben,  und  nicht,  wie 
es  bei  Mark  und  Pfennigen  üblich  sei,  zwei.  Dann  wurde  die  Sache  immer  toller; 
bis  Weilmachten  nahm  es  zu,  dann  , .rüsteten  sie  ab",  sie  trugen  in  der  letzten  Zeit 
sogar  schon  die  Akten  fort.  ,,.\m  i.  Dezember  igiS  haben,  sie  schon  gedacht,  ich 
streck'  die  Waffen,  aber  ich  hab'  ausgehalten"  (mit  Stolz  und  Selbstbewußtsein!).  Man 
ließ  ihn  ausgangs  NovemI>er  eine  Sach  selbständig  schaffen,  um  ihn  auf  die  Probe 
zu  stellen.  Der  Bau  eines  Hauses  im  Industriehafen  war  auch  Schwindel.  Man  trieb 
mit  Hochbau  und  Tiefbau  ein  ewiges  Spiel.  Man  hatte  extra  Drucksachen  ,, Straf- 
antrag gegen  Werkstättenarbeiter",  obwohl  das  doch  so  selten  vorkomme,  daß  man  dafür 
nicht  be.sondere  Impressen  brauche.  ,,Das  glaub'  ich  ganz  bestimmt,  daß  d  a  s  gegen 
mich  gemünzt  war."  Nämlich  deshalb,  weil  e  r  einen  solchen  Strafantrag  gestellt 
habe.  Wenn  er  weg  war,  durchsuchte  man  immer  seine  Papiere,  ja,  man  rief  ihn 
zu  diesem  Zwecke  auch  extra  ans  Telephon.  Man  hat  ilin  beobachtet,  ist  hundertmal 
ganz    sinnlos    ins    Zimmer    hereingelaufen    usw.     ,,IcIj    hab'    ganz   genau    gewußt,    was  ich 

8* 


11g  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

privatim  anderen  sag',  wird  weiter  getragen."  So  hab'  er  einmal  einem  Kollegen 
er/älilt,  ob  er  wohl  die  Schriften  von  Grassmanfi  gelesen  liabe,  und  in  der  Tat,  nach 
welligen  Tagen  fand  sich  dann  auch  unter  den  abzuschreibenden  Schriftstücken  ein 
solches,  wo  Grassmaiinstraße  drin  vorkam.  Was  er  gesprochen  habe  (er  sprach  ulle>j 
mit  Bedacht  und  mit  Absicht),  kam  auf  diese  Weise  wieder,  anfangs  schleppend, 
später:  „Schwupp,  den  andern  Tag  war's  da."  Man  ist  seinetwegen,  wenn  er  ins 
Zimmer  trat,  „scheinweis"  erschrocken,  man  hat  seinetwegen  Unterhaltungen  gef üliri . 
Man  fragte  soviel  nach  Leuten,  die  akkurat  nicht  da  waren.  Z.  B.  fragte  ein  Beamter 
im  Bureau  eines  Tages,  ob  der  Tüncher  dagewesen  sei  und  das  Rattengift  gelegt  habi'. 
Natürlich  wollte  man  ihn  damit  nur  irre  machen,  denn  was  gehe  ihn  denn  Ratten- 
gift an?  Diese  Mannheimer  Stelle  sei  extra  für  ilin  geschaffen.  (Lachend):  „Man 
soll  ja  grad  meinen,  man  war'  dort  in  der  Irrenklinik."  Alles,  das  Arbeiten,  diö 
Schrifti'tücke,  das  Vorlesen  solle  ihn  dort  krank  machen.  Zweifellos  würden  seine 
Arbeiten  hinterher  wieder  vernichtet,  weil  es  eben  nur  Scheinarbeiten  seien.  Das 
scidießc  er  ja  schon  daraus,  daß  einmal  der  Abort  verstopft  gewesen  sei.  Und  womit 
solle  er  denn  anders  verstopft  sein  als  mit  seinen  Arbeiten!?  (Leonhard  Bader, 
22.    Juli     igi^i,    Psychiatr.     Klinik,     Heidelberg.) 

Interessanlerweise  glauben  manche  Ivranken,  daß  sie  nicht  nur  selbst  die 
Anspielungen  der  andern  merken,  sondern  daß  auch  ihre  eigenen  absicht- 
lichen Winke  von  den  andern  sehr  wohl  aufgefaßt  werden.  So  ergibt  sich 
dann  eine  seltsame,  nur  dem  Psychotischen  verständliche,  vom  anderen 
meist  gar  nicht  bemerkte  Zeichensprache: 

Frau  Küfer  legte  z.  B.  ein  Bündel  Haare  ilires  Kindes  außen  vor  das  Küchenfenster, 
um  den  Nachbarn  zu  zeigen,  sie  habe  ein  Haar  in  der  Wohnung  gefunden.  —  Weil 
man  ihr  für  die  kleine  und  kalte  Wohnung  zuviel  abverlangte,  legte  sie  eine  Schraube 
neben  die  Haare,  um  anzudeuten,  sie  werde  geschraubt.  —  Endlich  nahm  sie,  bevor 
sie  aus  der  Wohnung,  wo  sie  soviel  auszustehen  gehabt  hatte,  wegzog,  einen  großen 
Korb  mit  in  den  Hof,  wo  alle  zusehen  konnten,  und  kehrte  ihn  dort  mit  einem  Besen 
aus.  Das  bedeutete,  daß  sie  jetzt  Schluß  mache  mit  ihrer  Wohnung,  sie  wollte 
ihre  Ruhe  haben.  Als  sie  sah,  daß  der  Korb  schimmelig  war,  freute  sie  das 
besonders,  denn  daraus  koimten  alle  ersehen,  daß  das  schon  ,, etwas  Altes"  (Schimmel 
=^  alt)  sei,  daß  sie  immer  geplagt  würde.  Sie  drehte  sich  dann  um  ihre  eigene 
Achse,  um  zu  zeigen,  mir  ekelt  es  vor  den  Leuten.  (Berta  Küfer,  Psychiatr.  Klinik. 
Heidelberg,    i.    III.    21.) 

Bei  einem  andern  Beispiel  tauchen  deutlich  sekundäre  Wahnideen  auf; 
aus  ihnen  entwickelt  sich  dann  zuweilen  ein  richtiges  Wahn  System. 

Am  Dienstagabend  kam  er  vom  Dienst  heim,  da  merkte  er.  ,,daß  die  Sach'  net 
richtig  war";  es  war  ihm  unheimlich,  er  dachte,  die  Schwarzen  könnten  ihm  was 
tun.  Er  sah  ,,vermülbte  Gestalten",  die  standen  am  Schulhaus,  es  war  ihm  verdächtig. 
Er  ließ  den  Bruder  nicht  ins  Haus,  richtete  den  Revolver  und  schob  Patronen  hinein. 
Er  hatte  Angst,  die  ganze  Nacht  standen  die  Feinde  draußen,  er  war  in  der  Küche, 
ging  nicht  zu  Bett.  Als  ler  früh  um  6  Uhr  das  Haus  verlassen  wollte,  sah  er, 
daß  die  Nachbarin  in  ihr  Haus  ging,  erschrak,  ein  Tuch  um  ihr  Licht  hing  und 
in  den  Stall  ging.  Daraus  schloß  er,  daß  noch  Kerle  draußen  standen.  In  ängst- 
liclier  Verzweiflung  sprang  er  durch  Feld  und  W'ald,  lief  Tag  und  Nacht,  um  sich 
vor  den  Verfolgern  zu  retten.  Wo  er  auch  stand,  immer  hüpften  ihm  Lichter  nach. 
Er  warf  4oo  M.  in  den  Bach  und  hockte  dann  selber  ins  Wasser.  Es  sei  eine 
eingefädelte  Geschichte,  die  Verfolgung  sei  schon  lange  vorbereitet.  Er  sei  das  Opfer. 
Wenn  er  nicht  so  eine  feste  Natur  hätte,  wäre  er  schon  gebrochen,  ein  halber  Mann 
sei  er  ohnedies  schon,  es  sei  traurig.  (Thomas  Stephan,  Psychiatr.  Klinik,  Heidel- 
berg,   2.    November    19 12.) 

Ganz  anders  sehen  die  Wahnideen  der  Melancholischen  aus. 
Sic  sind  zwar  auch  in  gewisser  Hinsicht  primär,  nicht  abgeleitet,  aber  sie 


WAHiN n7 

hängen  doch  aufs  engste  mit  dein  depressiven  Affekt  /nsanunen.  Mit 
ilieseni  Affekt  beginnt  meist  die  Stctning,  und  (he  \Vahnged;uiken  begleiten 
ilni  erst,  wenn  er  höhere  abnorme  (jrade  erreicht '.  Man  liat,  wenn  man 
viele  solche  Zustände  sah,  die  feste  t  berzeugung,  dali  im  depressiven  Wahn 
ein  ganz  andersartiger  Mechanismus  vorliegt,  weimgleich  es  bisher  noch 
kaum  möghch  erscheint,  diesen  näher  zu  beschreiben  und  vom  Well- 
untergangserlebnis  abzugrenzen. 

Sie  sei  (lio  Wurzel  alles  Cbols.  Sic  sei  durcli  ein  Versehen  in  die  Klinik  gehrnrht 
worden,  die  Aufnahme  sei  überhaslel,  der  Schwager  habe  sich  nicht  rcchlzoilig  alles 
überlegt.  Er  habe  dadurch  eine  schwere  Schuld  auf  sich  geladen,  sie  sei  aber  schuld 
daran.  >>un  komme  er  wegen  Freiheitsberaubung  ins  Gefängnis.  Sie  koste  zu  \iel 
Geld;  sie  ruiniere  die  ganze  Familie,  sie  allein  sähe,  wie  traurig  alles  sei.  Sie  sei 
die  Urheberin  alles  Unglücks  auf  der  Welt.  Am  besten  wäre  sie  als  lünd  schon 
gestorben.  Über  die  Augehörigen  habe  sie  furchtbares  Unheil  gebracht:  Ihrer  Nichte 
seien  im  Bad  die  Brüste  abgeschnitten  worden,  eine  andere  Nichte  habe  man  in  eine 
Kiste    verpackt.     (Luise    Wollenbach,    Psychiatr.    Kliruk,    Heidelberg,    lo.    August     1908.) 

Diese  nihilistische  Wahnbildung  nimmt  zuweilen  ganz  seltsame 
Formen  an.  Die  Kranken  glauben  keinen  Magen,  keinen  .\fter  mehr  zu 
haben.  Es  ginge  weder  oben  etwas  hinein,  noch  hinten  etwas  heraus.  Oder 
sie  meinen,  sie  wären  nichts;  weniger  als  ein  Tüpfelchen  auf  dem  i.  Zu- 
weilen haben  diese  krankhaften  Vorstellungen  trotz  aller  Depression  einen 
fast  humoristischen  Zug: 

Die  ganze  Welt  sei  voller  Wald.  Niemand  könne  mehr  hindurchkoinmen.  Alles  sei 
zunichte  gemacht,  der  Boden  in  den  Himmel  und  der  Himmel  da  herunter  —  joi/X 
xNird  es  nimmer  duidicl,  jetzt  wird  es  immer  heller,  das  hab'  i  c  h  gemacht,  i  c  h  bin 
eine  Person!  —  —  Ich  bin  die  dümmste  Person.  Ich  hätt'  die  Nacht  nicht  auf 
das  erste,  sondern  auf  das  zweite  Klosett  gehen  sollen,  dann  wäre  es  immer  dunkel 
geblieben,  dann  wäre  es  gar  nicht  mehr  Tag  geworden,  dann  brauchten  die  Arbeiter 
ilrüben  beim  Neubau  nicht  mehr  zu  arbeiten,  dann  tat'  kein  Zug  mehr  fahren,  dann 
hätt'  es  so  geregnet,  daß  die  Flüss'  ausgingen,  alle  wären  dann  versoffen.  (Anna 
Kumpel,    Psychiatr.    Klinik,    Heidelberg,    26.    Juli    1920.) 

In  fortgeschritteneren  paranoischen  Fällen  von  Schizophrenie  kann  man 
kaum  mehr  analysieren,  was  primär,  was  abgeleitet  ist,  was  auf  Sinnes- 
täuschungen beruht  usw.  Obwohl  diese  verworrenen  Wahnkomplexe  ebenso 
wie  die  klaren  Wahnsysteme  nur  in  losem  Zusammenhang  mit  dem  hier 
erörterten  abnormen  Akt  des  Wahnerlebnisses  stehen,  seien  doch  einige 
kleine  Proben  mitgeteilt: 

,,Bin  icli  über  den  Arbeiterstand  hinaus  (er  ist  Tischler),  so  habe  ich  Denkkraft, 
hin  ich  imter  den  Arbeiterstand,  so  sterbe  ich  ab.  Es  gibt  acht  Menschcnklassen, 
passe  ich  unter  die  o.  Klasse,  so  weiß  i<;h  nicht,  was  Mensch  ist,  so  weiß  ich  nieht, 
ob  es  Weib  oder  Mann  ist.  Geistig  bin  ich  (offen  gestanden)  in  der  2.  bis  3.  Klasse 
gewesen."     (Otto    Stoff,    aS.     November    1909.    Langenhom.) 

Und    von    dem    gleichen    Kranken    ein    Beispiel    für    Größenwahn: 

Sein  Großvater  sei  ein  gewdsser  Roderich  von  Stoff,  ein  für  irrsinnig  erklärter, 
in  Friedrichsberg  verstorbener  Irrenarzt  gewesen,  ein  Mann  von  ungeheurem  Genie, 
dessen    ganzer    Gedankengang    sich    auf    ihn    übertragen    hätte,    wahrscheinlich    durch   Ein- 


^   Deshalb    halten    manche    Forscher    den    gesamten    depressiven    Waiin    für    sekundär. 


118     GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

iinpiung  .  .  .,  dalier  rührten  aucli  seine  Impftiarbeii;  von  ihm  stammen  auch  seine 
Keniitxiisso  über  alle  pröliereji  Politiker.  In  einer  Versammlung  habe  Bebel  die  gänz- 
liche Slamiiie^gescliiclile  der  IlohenzoUem  uiid  der  Hohenstaufen  auf  ihn  übertragen- 
Er  stamme  ab  vun  einer  .Majestät in,  der  Frau  Be«idoif.  man  könne  sie  auch  Sultanin 
ncnnefi    usw. 


3.  llichtung  und  Durchführung  abnorm 

Die  großen  Psychosen  hefern  zahh-eiche  Fälle,  bei  denen  nicht  nur  die 
richtig  begonnenen  Intentionen  an  irgendeiner  querkommenden  Störung 
scheitern,  sondern  bei  denen  außerdem  auch  die  Akte  selbst  abnorm  sind. 
Die  Gesamt  struktur  des  Seelenlebens  ist  eben  dann  gestört.  Eine  eigent- 
liche Analyse  ist  nicht  mehr  möglich.  Man  kann  nur  das  Gesamtbild 
schildern  und  vermag  kaum  mehr  Einzelheiten  herauszusondern.  Doch 
kann  man  zwei  sehr  verschiedene  Typen  der  seelischen  Destruktion  von- 
einander trennen.  Der  eine  ist  der  paralytische  Typus.  Er  entspricht  am 
ehesten  dem  oben  beschriebenen  Zustand  der  gedanklich  strukturellen 
Demenz.  Er  ist  ein  vorwiegend  negativer  Typus.  Die  Gedanken  ver- 
wirren sich,  das  Gedächtnis  nimmt  ab,  die  feineren  Regungen  des  Gemütes 


erlöschen.  Einzelne  Wahngedanken  tauchen  auf  und  werden  sofort  wieder 
verlassen.  Nichts  hat  Bestand.  Etwas  eigenthch  Neues  erscheint  nicht.  Der 
andere  ist  der  schizophrene  Typus.  Hier  betrifft  die  Störung  am 
wenigsten  und  erst  am  spätesten  die  formalen  Fähigkeiten  der  Seele. 
Die  einzelnen  Akte  des  Wahrnehmens,  Erinnerns,  des  Kombinierens,  Ur- 
tcilens,  Schließens,  Begreifens,  des  Erwartens,  Zweifeins,  Fürchtens,  Hoffens, 
Wünschens,  Freuens,  Betrauerns  usw.  können  sich  hier  bis  in  späte  Zeiten 
des  seelischen  Destruktionsprozesses  richtig  vollziehen.  Und  wenn  man 
sich  trotzdem  bei  solchen  schizophrenen  Zerfallsvorgängen  gelegentlich  des 
Wortes  Demenz  bedient,  so  ist  dies  eigentlich  insofern  unzulässig,  als  es  sich 
um  eine  wirkliche  formale  Demenz  im  oben  definierten  Umfang  nicht  handelt. 
Hier  drängt  sich  der  Beschreibung  geradezu  das  alte  populäre  Bild  des  Schiffes 
auf,  das  in  seiner  inneren  Struktur  im  einzelnen  gut  erhalten  ist,  und  das 
doch  durch  ein  mangelndes  Zusammenarbeiten  aller  Faktoren  inj  ganzen 
unfähig  geworden  ist,  ein  Ziel  zu  erreichen:  die  Steuerung  versagt 
Inwieweit  zum  Beispiel  die  Fähigkeit  der  schriftstellerischen  Darstellung, 
inwieweit  Scharfsinn,  Beobachtungsgabe,  Gefühlsleben  usw.  noch  gut  er- 
halten sind,  vermag  ein  Leser,  der  Schizophrene  selbst  zu  studieren  keine 
Gelegenheit  hat,  aus  den  Denkwürdigkeiten  Schrebers  (284)  zu  entnehmen. 
Zugleich  wird  er  aus  der  Lektüre  dieses  Buches  aber  erfahren,  in  welch 
gewaltiger  Weise  dieser  Geist  doch  gestört  worden  ist.  Viele  der  bisher 
beschriebenen  einzelnen  seelischen  Abnormitäten  finden  sich  im  Verlauf 
der  Schizophrenie  zusammen :  Sinnestäuschungen  und  Wahnideen,  abnorme 
Gefühle  und  seltsame  Willenslagen  usw.  Aber  alle  diese  einzelnen  Ab- 
normitäten machen  nicht  das  Wesen  der  Störung  aus.  Alle  diese  Momente 
sind  —  wenn  ein  Vergleich  gestattet  ist  —  nicht,  wenn  auch  in  wirrer 
Weise,  auf  ein  geordnetes  Grundgewebe  gestickt,  sondern  dieses  Grund- 
gewebe ist  selbst  in  all  seinen  Fäden  verwirrt,  so  daß  jeder  Versuch  einer 
einheitlichen  Erfassung  scheitert.  In  viele  einzelne  Seelenabnormitäten  vermag 


o 


SCHIZOI'IIUE.NKU     MKCHA.MSMl^ 119 

sich  auch  der  Normale  nodi  hiiioiii  /u  versetzen,  weil  er  sie  hinzufügt  zu 
dem  normalen  l  nierbau;  in  den  schi/ophrenen  Mechanismus  vermag  sicli 
kein  gesunder  einzufühlen,  weil  hier  (he  gemeinsame  Basis  der  \  erständigung 
fehlt.  Das  liierwarlete  wird  hier  stets  l^reignis.  Die  (jefühis.ikte  beziehen 
sich  nicht  mehr  auf  die  (jlegenslände,  auf  die  sie  sich  bisher  bezogen. 
Geliebtes  wird  gehafit  und  umgekehrt.  Alle  alten  Ziele  werden  verleugnet, 
neue,  inmier  wechselnde  Augenblickszicle  werden  erstrebt.  Die  Seele  hat 
ihre  Steuerung  verloren.  Allni;ihlich  wird  auch  der  äußere  .Ausdruck,  das 
Benehmen,  verschroben,  seltsame  Angewohnheiten  stellen  sich  ein,  jede 
gesellschaftliche  Form  wird  ins  Groteske  übertrieben  oder  ganz  vernach- 
lässigt. Auch  die  Sprache  wird  oft  verändert,  die  sprachlichen  Laute  dienen 
nicht  mehr  als  Symbole  für  das  bisher  im  Leben  Lrlernte,  sondern  gewinnen 
neue  Bedeutungen ;  neue  Wörter  werden  erschaffen  (Neologismen).  Selbst 
im  Satzbau  \erschwindet  die  Ordnung,  die  Steuerung  des  sprachlich  nieder- 
gelegten Gedankengangs  (Sprachvervvirrtheit).  Die  sprachhchen  Produkte  seien 
hier  in  einigen  Proben  veranschaulicht,  sie  sollen  nur  eine  ungefähre  Vorstellung 
geben  :eine  genaue  .\nalyse  würde  den  hier  vorgeschriebenen  Rahmen  sprengen  ^ 

..Ich  bin  eine  freie  Zitlierspielerin,  deshalb  brauche  ich  meine  Heiratspapiere.'' 

(Frau  Schönemann,   lo.  ii.  i/|,  Psychiatr.  Klinik  Heidelberg.) 

Gedicht. 
Botanik  ohne  Affen 
Fällt  gar  schnell 
Botanik  mit  Affen 
Hält  gar  grell! 

Der    Mann. 
Der  Mann  kennt  seine   Korpuskologie, 
Setzt    sie    in    Marmorgröße 
Muskelt    seine    Stärke, 
Versteht    das    Begreifen. 

Hemisphäre. 
Voll  bewohnte   Form 
Tragbar    auch    in    Fremd 
Habend    mannigfaltige    Kinderleben 
Habend    auch    den    englischen     Hof. 
Habend    die    schweizerischen    Maison    fen^tre 
Habend    die    deutschen    Finanzen 
Seiend  gepflanzt  europäisch 
Habend    den    Baseler    botanischen    Garten 
Habend   den    Karlsruher   Museumsaal 
Sprechend    deutsch,    französisch    und    englisch 
Habend    Berliner    Zeitungen 
Habend    das    Parlament    Hohenhön 
Seiend    gehalten    von    Gärtner    und    von    Architekten 
Habend    das    architektonische    Heidelberg 
Haltend   Heidelberg  badisch 
Habend    in    Karlsruhe   den    .\rchitekten  Weinbrenner 


'   Vgl.    zu    den    Sprachneubildungen    Meringer    und    Mayer    (201)    und    Spitzer    (3oi). 
Auch   Itten   (1^8),    Haßmann    (102  c)   und   Tuczek    (3i5a). 


120  GRUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Sicli    verlebten  in   zehn   Jahrigkeit 
Habend    außer    Kurorte    die    Stadt    Aachen 
Haltend   die    Stadt   Aachen    mit    Infanterie 
Habend  berühmte  Buchhandlungen 
Cohn    Bonn. 

Danker    und    Groos    Koblenz 
Strauß    Bubbecke    Bonn 
Lassend    lernen    Gedichte 

Haltend    in    Bonn    Beethoven,    halten    Kinder    Konzerte 
Lassend    in    Koblenz    Lieder    singen 
Lassend   die    Koblenzer   Musik    regieren    durch  Häubner 
Seiend    eine    tadellose    Zehnjährigkeit. 
(Luise    Lebrun,    21.    Februar    1906,    Psycliiatr.    Klinik,    Heidelberg.) 

Ein   ganz    extremes    Bild    der    Sprachverwirrtheit    (Wortsalat)    liefert   ein 
Brief  einer  alten   schizophrenen  Frau. 

An  Ihre  Exzellenz  Frau  Regierungspräsident  von  N.  in  Spiere  a.  Rliein. 

Fischen  im  Algäu  23.  Enascham.  ' 

The    Tsche    Notre    I>ame 
Nccravowe    compreve    desse    tischewecente 
dessederavont   Ampeffe   capovedent   amprow 
desseschou.     Dechende  requipen   te    Dresseda 
vesedy    abo   scheve   edeserento    Kavrote    usw. 


Sopron    Baronesse 

pilar    paz    Dell 
De  —  la   Haye. 

(Frau   Etzbaum,   Juli    1920,    Klingemnünst«r.) 

Man  würde  sehr  irren,  wenn  man  glauben  würde,  daß  Kranke,  die  solch 
wirre  Worte  reden  oder  schreiben,  nur  diese  „Sprache"  sprechen  könnten. 
Man  kann  sich  gelegentlich  minutenlang,  stundenlang  mit  einem  Schizo- 
phrenen formal  korrekt  unterhalten,  ohne  vom  Vorhandensein  einer  solchen 
neuen  Sprache  eine  Ahnung  zu  haben.  Erst  wenn  zufällig  ein  bestimmter 
Gedankenkomplex  angeschnitten  wird,  oder  wenn  ein  kundiger,  den  Kranken 
kennender  Arzt  ein  Zauberwort  spricht,  stürzt  plötzlich  diese  fremde  Sprache 
hervor.  Auch  dieses  Beispiel  der  Sprachverwirrtheit  weist  darauf  hin:  die 
formalen  Fähigkeiten  korrekter  Sprache  bleiben  erhalten,  und  daneben 
besteht  die  katatonische  Neuheit.  —  Man  könnte  glauben,  solche  Worte 
seien  klangliche  Spielereien  ohne  Sinn:  das  mag  gelegentlich  \orkommen. 
Aber  sicher  gibt  es  solche  neue  Sprachen,  die  Sprachen  im  eigentlichen 
Sinne  sind,  d.  h.  übersetzt  werden  können. 

Karl  Tuczek  (3i5  a)  glückte  es,  eine  scliizophrene  Sprache  in  statu  nascendi  zu  studieren. 
Aus    seinem    Material    finde    hier    noch    ein    Beispiel    Platz    : 

Der  Stein  =  le  Distel       (Weil    zu    Hause    auf   dem    Feld    neben    ränem    Stein,   auf    dem 

sie    oft    zu    sitzen     pflegte,     eine     schöne     rote     Distel     stand.) 
Das  Bett  =  le   Kuchen     (Weil    die    Mutter,    als    sie    krank    war,    das    Nudelbrett    zum 

Kuchenbacken   ans   Bett  bringen   ließ.) 
Der  Arm  =^  le  Traube     (Weil   der   erste   Mensch   eine   Traube   am    Arm    tätowiert    hatte, 

den    hat   man   ihm    abgenommen,    das    waren    nämlich    zerbrecli- 

liche    Menschen.) 
Die    Schwester   =   den    Holz    (Weil    „Schwe"    =  den   ist   und    ,.ster"   =    ein  Ster  Holz, 

also   Holz.) 


SCHIZOPHRENER    MECHANISMUS 


121 


Auch  die  spielerische  oder  künstlerische  Betätigung  wird  durch  den 
schizophrenen  Mechanismus  oft  seltsam  modifiziert.  Ja  es  ist  seit  langem 
bekannt,  daß  Persöidiihkeilen,  die  bisher  weder  ein  Interesse  an  der  Kunst 
hatten,  noch  etwa  selbst  sich  darin  \ ersucht  hatten,  erst  (hu'ch  ihre  schizo- 
phrene Geistesstörung  zur  künstlerischen  Betätigung  veranlaßt  wurden  '.  Die 
Psychose  schafft  hier  geradezu  Werte;  ohne  sie  wäre  der  Kranke  niemals 
zum  Künstler  geworden.  Das  Motiv  ist  im  einen  Fall  (neben  dem  Unver- 
nuigen,  sich  sprachhch  auszudrücken)  vielleicht  die  Fähigkeit,  mit  den  Händen 
bildnerisch  zu  arbeiten.  Dem  geistig  wenig  ausgebildeten  Manne  gehorchen 
ja  oft  die  Hände  besser  als  die  Zunge.  Lud  da  die  Fülle  seiner  Erlebnisse 
zum  Ausdruck  drängt  (Wille  zur  Abreaktion  ins  Motorische  und  Will«*  zur 
Form),  wird  er  zum  Künstler. 

Oft  sind  es  nur  abnorme  innere  Gefühle,  die  nach  künstlerischem  Aus- 
druck drängen,  oft  aber  suchen  sich  auch  schizophrene  Gedanken  zu  ge- 
stalten. Die  Kranken  beschäftigen  sich  mit  Gott  und  der  Welt,  sie  erfinden 
seltsame  Systeme,  die  sie  dann  bildlich  deutlich  zu  machen  versuchen.  Für 
die  schizophrene  Kunst  gebe  ich  hier  keine  Proben,  Morgenthaler  (2\\) 
hat  soeben  einen  wichtigen  Fall  veröffentlicht 2,  und  Hans  Prinzhorn  wiid 
bei  Springer  in  kurzem  einen  Teil  der  Schätze  der  Bildersammlung  der 
Heidelberger  psychiatrischen  Klinik  erläuternd  herausgeben.  Für  ein  ver- 
anschaulichtes schizophrenes  „System"  gibt  Figur  3  ein  Beispiel. 


i*»*-«^ 


^^  y^IZt 


Gezeichnete  „Weltanschauung"  eines  Schizophrenen 
(22.  l\.  i3.  Psychiatr.  KHnik  Heidelherg.) 


'  Bejijamin  Rush  (i745  his  i8t3;  handelt  in  dem  5.  Band  seiner  Medical  inquiiies 
and  Observation«  von  den  Geisteskrankheiten  und  erwähnt,  daß  in  zwei  Fällen  sich  das 
Zeichentalent  während  einer  Geisteskrankheit  entwickelte.  Auch  gebe  es  in  jedem 
Irrenhaus  Kranke  mit  überraschenden,  erst  in  der  Psychose  entstandenen  mechanischen 
Talenten  i  Scliiffsbauer  u.  dgl.).  Ähnliches  über  dichterische  Betätigung  bei  Pinel, 
Sur  l'ali^nation  mentale,  S  210,  S.  2/42  und  bei  Möbius  (20A).  Siehe  auch  Haßmann 
(loa  c),   Prinzhorn   (249a),  Morgenthaler   (210  u.   3ii). 

-    Einen    weiteren    bei    Schilder    (279),    S.    3o. 


122  GRüHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

Zu  dieser  (um  ein  Drittel  verkleinerten)  Zeichnung  gab  der  Kranke 
folgende  Erklärung: 

,,Das  ist  die  VWlle,  um  die  sicli  alles  dreht:  Natioiuilslol/.  Das  soll  die  Gerechlig- 
koit  sein,  das  Militär,  die  Polizei  also,  nicht  wahr  —  eben  der  Nationalstolz. —  Fleiß 
und  Geld,  das  ist  das  vis-ä-vis.  Für  Fleiß  ist  das  Geld  die  Lösung;  das  alte  Wort 
Iioißt:  Geld  regiert  die  Welt.  Und  wer  fleißig  ist,  bringt  es  zu  Geld,  auf  welchem 
Gebiet  ich  da  arbeite,  ist  ganz  gleich.  So  sagt  schon  Schopenhauer:  Nicht  der  Reiche 
ist  glücklich,  sofidem  der  Glückliche  ist  reich.  —  Das  Ganze  will  das  ganze  Weltall 
vorstellen,  Sonne,  Mond  und  alle  Sterne.  Das  Bindeglied  zwischen  dem  Weltall  und 
der  Erde  ist  die  internationale  Wissenschaft."  (Gustav  Vierneusel,  P.sycliiatr.  Klinik 
Ilfidelberg,    23.    April     igiS.) 

Die  Heidelberger  psychiatrische  Klinik  besitzt  eine  ganze  Sammlung  von 
Büchern  pseudophilosophischen  Inhalts,  die  von  Geisteskranken,  meist  von 
Schizophrenen  geschrieben  worden  sind.  Die  Leserschaft  solcher  Bücher 
merkt  das  nicht  immer.  Daß  z.  B.  das  Buch  „Rembrandt  als  Erzieher,  von 
einem  Deutschen"  so  viele  Auflagen  erlebte,  ist  nicht  nur  angesichts  der 
Tatsache  verwunderlich,  daß  ein  Schizophrener  es  schrieb,  sondern  daß 
sich  seine  Schizophrenie  auch  in  der  Schreibweise  so  deutlich  kundtut. 

In  dem  Bilde  schizophrenen  Zerfalls  fällt  häufig  eine  eigentümliche  Ab- 
kapselung von  der  Umgebung  auf.  Die  wahnhaften  Ideen  stehen  in  so  hef- 
tigem Widerspruch  zur  Umgebung,  daß  diese  absichtlich  nicht  mehr  be- 
achtet, sondern  ausgeschaltet  wird.  Der  Kranke  lebt  ganz  seiner  Ideenwelt 
und  entschließt  sich  oft  nicht  einmal  mehr  zum  Reden,  zur  Pflege  des 
Körpers  usw.  (Autismus).  Verharrt  er  dabei  auch  motorisch  regungs- 
los, schlaff  oder  widerspenstig  gespannt  (Negativismus),  so  spricht  man 
von  einem  katatonischen  Stupor^.  —  Die  Intentionen  zu  irgendwelchen 
Bewegungen  werden  oft  nicht  zu  Ende  geführt,  sondern  mitten  drin  unter- 
brochen, gesperrt,  wie  wenn  ein  Sperrhaken  plötzlich  in  einen  bewegten 
Mechanismus  eingreift.  Eine  solche  Sperrung  kann  auch  den  Gedanken - 
ablauf  treffen.  In  anderen  Fällen  löst  eine  —  vielleicht  sehr  unbequeme  — 
passive  Bewegung  nicht  die  Gegenbewegung  aus :  die  Glieder  bleiben  in  der 
mitgeteilten  Haltung  lange  Zeit  unbeweglich  stehen  (Flexibilitas  cerea).  Eine 
Tendenz  zur  ungewollten  Nachahmung  ist  oft  deutlich.  Es  braucht  nur 
irgend  jemand,  der  mit  dem  Katatoniker-  das  Zimmer  teilt,  irgendeine 
plötzliche  Bewegung  zu  unternehmen  oder  einen  lauten  Ausruf  zu  tun,  so 
kann  der  Kranke  der  Tendenz,  sie  ebenfalls  zu  vollziehen,  nicht  wider- 
stehen (Echopraxie,  Echolalie).  Hiermit  hängt  auch  die  andere  Tendenz 
mancher  Schizophrener  zusammen,  sich  selbst  immer  wieder  zu  imitieren, 
d.  h.  eine  einmal  begonnene  Bewegung,  eine  Geste,  einen  Ausruf,  einen 
Rhythmus  von  Lauten  lange  Zeit  einförmig  zu  wiederholen  (Stereotypie). 
Alle  diese  Symptome  kann  man  beschreiben,  aber  nicht  auf  einzelne  Ur- 
sachen zurückführen,  nicht  aus  psychologischen  Motiven  verständlich  machen. 
Soweit  man  in  der  Auffassung  solcher  Symptome  überhaupt  etwas  weiter 
gekommen    ist,    hat    man     diesen     Fortschritt    vielfach    den    Forschungen 

^  Es   gibt   sicherlich    aber   auch    Stuporen   ohne   innere    Welt,    ohne  geistige    Vorgänge- 

-  Katatonie  ist  eine  besondere,  stürmische  Verlaufsform  innerhalb  der  Schizophrenie. 
Katalepsie  ist  ein  Zustandsbild,  eine  Tendenz  dos  Kranken  zur  stunden-  und  tagelangen 
Fixierung   irgendeiner   Haltung. 


SCmZOlMlUKNER    MECHANKSMUS 123 

Bloiilers  (28)  zu  Nonlaukou.  Kinos    ilieser  schizophroiien  Symptome  ist 

j)syclu>l()^nscli  von  hosoiuliM'em  Interesse:  tue  sofjenaniite  A  mh  i  \  a  len  z. 
Jeder  (lesuiuie  kennt  sell)st\erst;iii(llicli  das  lirlebnis  des  Schwankens,  des 
Zweilelns.  Soweit  dieses  Zweilein  in  der  Form  etwa  des  (irübelzwanges 
erscheint,  wurde  es  schon  oben  l)es|)r<»chen.  In  dem  schizo[)hrenen  Me- 
chanisnuis  lie^t  aber  noch  ein  besonderer  in  seiner  lidialtlichkeil  abnormer 
Akt  \(>rl)orpMi :  die  .\nd)i\alenz.  \  (»r  allem  im  (jelühlsleben  ^  zeiligt  sie 
merkwürdige  l^gebnisse.  Liebe  und  llal'i  sind  in  seltsamer  Weise  gleichzeitig 
vorhaiulen.  Nicht  etwa  wie  es  auch  beim  Gesunden  geschieht,  daJj  er  an 
einem  Ciegenstand  die  eine  Seite  liebt  und  die  andere  haßt,  sondern  die 
gleiche  Materie  ist  zugleich  einem  Akte  der  Liebe  und  des  Hasses  gegeben. 
Anders  ausgedrückt:  gleichzeitig  bestehende  Akte  der  Zu-  und  Abneigung 
richten  sich  auf  den  gleichen  Gegenstand.  Bleuler  ilrückt  dies  so  aus:  Der 
Schizophrene  liebt  die  Kose  um  ihrer  Schönheit  w illen  und  halit  sie  zu- 
gleich wegen  der  Dornen.  Mich  befriedigt  diese  Fassung  des  l*hänonien> 
noch  nicht  recht.  .Vber  ich  müßte  weiter  ausholen,  als  es  hier  der  Raum 
erlaubt,  um  meine  eigene  theoretische  Formung  der  Tatsachen  zu  begrün- 
den. Die  ganze  Lehre  der  Akte  und  besonders  der  Denk\orgänge  harrt 
noch  der  Beleuchtung  vom  psychopathologischen  Standpunkte  aus. 

B.  MOTIVZUSAMMENHANG  (RETROSPEKTIVER  GESICHTSPUNKT) 

Bei  der  hier  so  kurz  zusammengedrängten  dürftigen  Beschreibung  des 
überaus  interessanten  schizophrenen  Alechanismus  wurde  schon  das  Problem 
der  Moti\e  gestreift.  Und  dies  führt  in  ein  ganz  neues  Gebiet  der  see- 
lischen A  orgänge  und  ihrer  \  erknüpf ung.  Bisher  wurde  gleichsam  eine 
zentrifugale  Betätigung  der  seelischen  Energie  untersucht :  die  Richtung  des 
Aktes  auf  den  Gegenstand.  Jetzt  erhebt  sich  die  Frage,  wie  der  einzelne 
Akt  seelisch  begründet  ist,  wo  er  herkommt,  wie  er  entsteht,  aus  was 
er  hervorgeht,  oder  welche  Ausdrücke  man  immer  verwenden  möge.  Dabei 
denke  ich  nicht  etwa  an  die  causa,  nicht  an  das  physiologische  Substrat 
oder  dergleichen,  sondern  eben  an  jene  Herkunft,  für  die  man  den  Namen 
der  psychischen  Kausalität  nicht  verwenden  sollte.  Denn  diese  Kausalität 
hat  mit  jener  nichts  gemein.  Das  Motiv  leuchtet  ein  oder  wird  abgelehnt, 
die  Ursache  wird  als  vorhanden  oder  nicht  vorhanden  lediglich  festgestellt. 
Das  Wort  Moti>  muß  hier  im  weitesten  Umfang  verstanden  werden,  als 
Zusammenhang  des  psychologischen  Sinns,  als  Sinnbeziehung,  nicht  in  dem 
engeren  der  Herkunft  speziell  der  Handlung,  der  Tat.  Aber  auch  auf  die 
Lehre  von  den  Motiven  hier  näher  einzugehen  verbietet  der  beschränkte 
Raum.  In  diesem  Zusammenhang  erhebt  sich  hier  nur  die  Frage:  Gibt 
es  auch  abnorme  Motive,  und  was  versteht  man  darunter? 

Wenn  ich  mich  bemühe,  mich  in  jemanden  einzufühlen,  so  bin  ich  auf 
den  Sinnzusammenhang  seiner  Gefühle,  Gedanken,  Handlungen  eingestellt. 
Ich  interessiere   mich   für    die  psychologische  Herkunft  der  einzelnen  Mo- 


^  Aber  auch  in  der  Willensphäre  (Impuls  —  Gegeiximpuls)  und  in  den  ürteils- 
akten  (schreckliches  Wetter  —  herrlicher  Tag)  betätigt  sich  die  Ambivalenz.  —  Horst- 
mann   (i24)    versucht    eine    Theorie,    doch    erscheinen    mir    seine    Begriffe    wenig    präzis. 


124  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

mente'.    Und  wenn   ich   dies  auch  bei  einem  geistig  Abnormen   versuche, 
so  erhalte  ich  bei  der  Analyse  seines  Verhaltens: 

I.  Die  vom  Kranken  spontan  angegebenen  Sinnzusammenhänge,  darunter  : 

a.  die  von  mir  affirmativ  vollziehbaren;  diejenigen,  die  ich  kenne» 
oder  die  mir  „einleuchten":  die  sinnvollen, 

b.  die  von  mir  als  sinnmöglich  erlebbaren;  die  sinnhaften,  deren 
Sinn  ich  selbst  aber  nie  erlebte;  in  die  ich  mich  auch  „nicht 
recht"  einfühlen  kann, 

c.  die  von  mir  negativ  vollziehbaren;  diejenigen,  deren  Sinnhaftigkeit 
ich  zugeben,  deren  Sinnerfüllung  ich  leugnen  muß:  „Ich  finde 
da  keinen  Sinn", 

•  d.  die   von    mir  überhaupt  nicht  vollziehbaren,  bei    denen  es  Unsina 
ist,  überhaupt  von  einem  Sinn   zu  sprechen. 

11.  Die    \on    mir   vorgeschlagenen    und    vom    Kranken    angenommenen 
Sinnzusammenhänge. 

III.  Die  von  mir  (auf  Grund  allgemeiner  oder  persönlicher  Erfahrung) 
konstruierten  Sinnzusammenhänge,  zu  denen  der  Kranke  keine  Stel- 
lung nimmt. 

Wenn  man  im  Auge  behält,  daß  man  sich  ja  bemühen  will,  das  Ab- 
norme im  Seelenleben  verstehend  zu  untersuchen,  so  erhellt  leicht,  daß 
la  und  II  sich  nicht  auf  das  spezifisch  Krankhafte  erstrecken  können» 
denn  es  sei  hier  nicht,  wie  oben,  der  Fälle  gedacht,  bei  denen  die  Vor- 
gänge selbst  abnorm  sind,  sondern  nur  jener,  bei  denen  der  Zusammen- 
hang pathologisch  erscheint.  Dies  ist  aber  bei  la  und  II  nicht  der  Fall. 
Auch  bei  Ib  erreiche  ich  noch  nicht  eigentlich  das  Gebiet  des  Abnormen; 
ich  höre  hier  von  Zusammenhängen  (wie  oft  im  täglichen  Leben)  bei 
Menschen,  die  ich  „nicht  so  recht  verstehe",  mit  denen  ich  „nicht  recht 
mitkann",  die  mir  „nicht  ganz  klar  sind",  ohne  daß  ich  doch  etwas  Pa- 
thologisches aufzuzeigen  vermöchte.  In  dessen  Bereich  trete  ich  erst  ein 
(I  c),  wenn  ich  einen  Zusammenhang  nennen  höre,  der  für  mich  des 
Sinnes  entbehrt  oder  (Id)  bei  dem  es  sinnlos  ist,  von  Sinn  zu  reden. 
Wenn  eine  Kranke  in  einen  trüben,  finsteren  Novemberabend  hinaussieht 
und  plötzlich  von  selbst  sagt:  „Die  Sonne  sticht  und  strahlt"  und  dies  auf 
Fragen  mit  den  Worten  begründet:  „Der  Gegensatz  macht  mir  Freude,"  so 
habe  ich  Fall  I  c;  antwortet  sie:  „Sie  haben  blonde  Haare,"  so  liegt  I  d 
vor.  Erhalte  ich  aber  überhaupt  keine  Auskunft,  so  liegt,  wie  schon  er- 
wähnt, die  Möglichkeit  der  analogischen  Deutung  aus  der  allgemeinen  oder 
[)ersönlichen  Erfahrung  vor  (Fall  III). 

Hat  man  nach  diesen  Gesichtspunkten  ein  Motiv  als  abnorm  beurteilt, 
so  ist  diese  Abnormität  wieder  dreifach  orientiert.  Erstens  kann  ich  ein 
Motiv  gemäß  Ib  als  nur  relativ  abnorm  bezeichnen:  es  steht  dann  Hand- 
lung und  Motiv  in  einem   gewissen    Mißverhältnis   zueinander.     Ich   pflege 


^    Das     Folgende    zum    Teil     wörtlich    aus    einem    früheren    Aufsalz:     Gruhle    (97). 


MOTIVZUSAM.ME.MlAiNG  125 


dann  zu  sagen,  dali  z.  B.  ein  liofliger  Affekt  abnorm  sei,  quoad  Moti\,  „über 
eine  solche  Kleinigkeit  l)rauclit  man  sich  doch  nicht  so  selir  aufzuregen". 
Ich  vermag  zweitens  aber  ein  Motiv  als  abnorm  zu  beurteilen,  v\'enn  es 
sich  in  die  augenblickliche  seelische  Gesamtlage  nicht  einfügt,  wenn  mir 
z.  ß.  jemand  erzählt:  er  sei  anfangs  im  (lotfesdicnsl  aufmerksam  und  an- 
dächtig gewesen;  aber  ph'HzIich  sei  in  ihm  der  kaimi  unlerdrückbare  Trieb 
entstanden,  die  Andacht  der  anderen  durch  ein  fürchterliches  (jeschrei  jäh 
zu  zerstören.  —  Lnd  drittens  endhch  \ermag  ich  einen  .Motivzusammen- 
hang als  abnorm  zu  bezeichnen,  wenn  er  mir  zu  der  Gesamtheit  einer 
Persönlichkeit  nicht  zu  passen  scheint.  Die  allgemeine  Menschenkennt- 
nis lehrt,  daß  gewisse  Eigenschaften,  Neigungen,  Triebe  usw.,  kurz,  gewisse 
Persönlichkeitskonstituentien  zusammengeordnet  sich  häufiger  vorfinden  als 
andere.  Ein  sensitiver,  differenzierter,  zum  Sentimcntalischen  neigender 
Charakter  wird  erfahrungsgemäfj  häufiger  eine  passive  Natur  sein  als  eine 
aktive  energievolle  Persönlichkeit;  ein  lebhafter,  unruhiger,  immer  nach 
Neuem  begieriger  Kopf  ^oll  Tatkraft  und  Lnternehmungsgeist  wird  er- 
falirungsgemälj  häufiger  frei  von  den  Hemmungen  des  (Jemüts  sein  als 
ein  rückwärts  gewandter  Träumer.  Kurz,  die  Erfahrung  stellt  gewisse 
Häufigkeitstypen  heraus,  nach  denen  sich  der  Charakterologe  im  einzelnen 
Falle  lieber  zu  richten  geneigt  ist,  ehe  er  an  absonderliche,  seltene,  kaum 
erlebte,  nur  vom  Hörensagen  bekannte  Verknüpfungen  denkt.  Aber  meine 
Auffassung  eines  Menschen  als  eines  mir  bekannten  Häufigkeits-  bzw.  Durch- 
schnittst} pus  kann  freilich  jedem  einzelnen  gegenüber  irren.  Es  bleiben 
nur  zwei  Momente  als  Hinweise  auf  die  Richtigkeit  meiner  Auffassung  eines 
anderen  übrig;  einmal  der  Consensus  plurium,  sodann  die  sog.  Einheit- 
lichkeit oder  innere  Harmonie,  das  Zwingende  einer  Auffassung.  Wenn 
sich  herausstellt,  daß  die  Mehrzahl  eines  Kreises  um  einen  Lebenden,  der 
Historiker  um  einen  Verstorbenen  die  gleiche  Auffassung  von  der  in  Frage 
stehenden  Persönlichkeit  haben,  dann  mag  dies  vielleicht  ein  Hinweis 
darauf  sein,  daß  diese  Auffassung,  diese  Beurteilung  das  „Richtige"  traf,  d.h.  der 
Realität  entsprach.  Aber  wie  oft  hat  sich  die  Allgemeinheit  in  einer 
solchen  Auffassung  getäuscht,  wie  oft  haben  etwa  später  bekannt  gewordene 
Memoiren  das  Bild,  das  sich  eine  Zeit  von  einer  Persönlichkeit  machte, 
umgestoßen!  —  Und  was  den  anderen  Maßstab  betrifft,  die  Einheitlichkeit, 
die  überzeugende  Kraft  einer  Auffassung:  worin  besteht  diese? 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  manche  Zusammenordnungen  bestimmter  cha- 
rakterologischer  Einzelzüge  zu  einem  Gesamtbilde  einheitlich  erscheinen, 
dafj  die  Hinzufügung  irgend  eines  neuen  Zuges  vielleicht  als  unpassend, 
störend,  nicht  hergehörig  beurteilt  wird.  Worin  besteht  nun  diese  Ein- 
heitlichkeit? Man  darf  nicht  vermuten,  dal^  es  nur  die  Häufigkeit  des 
Erlebnisses,  der  Erfahrung  ist,  daß  man  also  nur  den  Durchschnittstypus 
als  einheitlich  einzuschätzen  geneigt  ist.  Man  spricht  wohl  von  einer  psycho- 
logisch folgerichtigen  Auffassung  dann,  wenn  sich  keine  Gegensätze  (kon- 
tradiktorischer Art)  aufdrängen,  ^^enn  es  mir  z.  B.  gelingt,  eine  Persön- 
lichkeit in  all  ihren  Äußerungen  und  Handlungen  etwa  auf  das  Moment 
der  Passivität  zu  bringen,  wenn  ich  nachzuweisen  vermag,  daß  sie  niemals 
aus  freiem  Antrieb  ihr  Leben  selbsttätig  gestaltete,  sondern  sich  stets  von 
ihrer  Umgebung  schieben  ließ,  nur  gezwungen  einen  Entschluß  faßte,  allen 


126        GRUHLE:     PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEA 

Entscheidungen  möglichst  aus  dem  Wege  ging,  nie  etwas  produzierte,  viel- 
mehr allein  in  der  Beschaulichkeit  und  Rezeption  ihre  Befriedigung  fand 
usw.,  so  wird  man  mir  vielleicht  zugestehen,  da(i  meine  Auffassung  dieser 
Persönlichkeit  einheitUch  ist.  Und  wenn  es  sich  ferner  herausstellt,  daß 
sich  im  Leben  dieses  Menschen  nichts  aufzeigen  läßt,  was  dieser  meiner 
Einfühlung  widerspräche,  so  ist  man  vielleicht  geneigt,  meine  Auffassung 
als  zwingend  anzusehen.  Es  spricht  in  der  Tat  insofern  viel  für  sie,  d.  h. 
es  besteht  große  Wahrscheinlichkeit,  daß  sie  sich  der  Wirkhchkeit  nähert, 
als  es  kaum  einem  anderen  gelingen  dürfte,  die  Gesamtindividualität  des 
gleichen  Menschen  nun  gegensätzlich  aus  der  Aktivität  heraus  psycho- 
logisch zu  erklären.  Aber  es  wird  immer  Beobachter  geben,  die  das  ge- 
nannte Moment  der  Passivität  als  verschwommen,  unklar  oder  als  unwichtig, 
Unwesen thch  usw.  bezeichnen  und  sich  nun  ihrerseits  bemühen,  die  gleiche 
Persönlichkeit  auf  eine  andere  charakterologische  Formel  zu  bringen,  wieder- 
um mit  dem  Anspruch,  ihre  Auffassung  als  „die"  Auffassung,  als  zwingend 
gelten  zu  lassen.  Und  zumal  in  den  Fällen,  in  denen  die  Kenntnis  oder 
Überlieferung  lückenhaft  ist,  und  es  sich  um  sogenannte  widerspruchsvolle 
Charaktere  handelt,  werden  gleichzeitig  mehrere  Auffassungen  von  der 
gleichen  Individualität  bestehen,  oder  es  werden  in  der  Geschichtswissen- 
schaft je  nach  dem  Fortschritt  in  der  Kenntnis  von  Quellen  oder  nach 
den  geistreichen  Einfällen  neuer  Forscher  mancherlei  Einfühlungen  einander 
ablösen.  Immer  wird  sich  jene  Auffassung  am  besten  behaupten  und  sich 
des  meisten  Beifalls  erfreuen,  die  nicht  jede  einzelne  Äußerung,  jede  Tat 
der  betrachteten  Persönlichkeit  aus  einzelnen  Zügen  zu  verstehen  sucht, 
sondern  einen  übergeordneten  psychologischen  Gesichtspunkt  entdeckt, 
der  möglichst  viele  Zusammenhänge  verständlich  zusammenfaßt  (Struktur). 
Jene  eigenartige  Überzeugung,  daß  manche  Charakterzüge  zu  einander 
„gehören",  während  andere  ihnen  irgendwie  entgegengesetzt  sind,  beruht 
wohl  meist  auf  dem  eigenen,  d.  h.  auf  dem  aus  eigener  Erfahrung  stam- 
menden Erlebnis,  daß  diese  Züge  durch  ein  gemeinsames  Etwas, 
sei  es  einen  gemeinsamen  Gefühlston,  eine  gemeinsame  Tendenz,  eine  ge- 
meinsame Einstellung,  Strebung  oder  was  immer  zusammengefaßt  sind; 
ein  Gemeinsames,  das  man  dann  als  übergeordnet,  als  „höheren"  verständ- 
lichen Zusammenhang  anzusehen  geneigt  ist.  Häufig  ist  freilich  dieser  Zu- 
sammenhang zweiter  oder  höherer  Ordnung  noch  nicht  namhaft  zu  machen; 
er  ruht,  einer  begrifflichen  Formung  noch  nicht  zugänglich,  doch  erlebt 
in  uns,  ähnlich  wie  wir  zwischen  den  Werken  zweier  Künstler  oft  etwas 
(lemeinsames  entdecken,  ohne  daß  die  Sprache  es  näher  zu  formulieren  vermag. 
Wenn  ich  also  bei  sorgsamster  Einfühlung  in  den  Werdegang  einer  Per- 
sönlichkeit eines  Tages  entdecke,  daß  jene  sich  Gedankengängen  hingibt, 
die  ihr  bisher  ganz  fern  lagen,  daß  sie  Handlungen  begeht,  die  ich  „nicht 
recht"  verstehe,  so  werde  ich  mich  lange  Zeit  bemühen,  herauszufinden, 
welche  Einflüsse  wohl  auf  jene  eingewirkt  haben  mögen,  um  ihre  Ent- 
wicklung so  auffällig  zu  gestalten.  Finde  ich  nichts,  und  stellen  sich  nun 
allmählich  gar  Verhaltungsweisen  ein,  die  mir  geradezu  sinnlos  (oben  I  c) 
oder  unsinnig  (Id)  vorkommen,  so  wird  sich  mir  immer  mehr  der  Ver- 
dacht stärken,  daß  hier  eine  geistige  Erkrankung  eingesetzt  hat,  die  den 
bisherigen  Alotivzusammenhang  dieser  Persönlichkeit  stört,    die  bisherige 


ABNORME     MOTIVE 


..llaniioiiie"  aulgi'luilxMi  hat.  Ich  sa^c  von  «'üiciu  st)lchen  KraiiklieiLsprozeli 
(lirt'kl,  ilalj  vv  <lk'  IVxsönliclikeil  vcriiichleU'.  Man  übersehe  nicht  jenen  grund- 
sätiliclien  l'nU'rschic<l,  <>boinelNMS(>nHchk(Mt  <la<hirch  abnorm  ist,  daß  irgend- 
cineEigciisdial  l  an  ihr  gradweise  alsaMlj<Mthirchschnittlichlion'()rragt(Talent) 
oder  daß  eine  \  ielzahl  der  Kigenscliaften  außenudontüche  (Jrado  erreicht 
(Genie),  —  oder  ob  an  irgendeinem  PunkU'  der  Ijebwisbahn  ein  gelsti^r 
Zerstörungsprozeß  plölzhch  oiler  schleichend  eingesetzt  hat.  Dort  abnonne 
Persönlicldceiten,  Psychopathien,  abnorme  Anhigen  mil  außerdurchschnitt- 
licher Entwickhuig  —  hier  Psychosen,  Krkrankung(Mi,  Kran k hei ts | )rozesse '. 
Es  sei  noch  erwälint,  daß  es  vemn/elte  rein  stx'Usche,  wie  auch  mo- 
torische Verhaltungsweisen  gibt,  die  ganz  motivlos  entstehen  und  schnell 
vorübergehen-.  Es  handelt  sich  dabei  mii  Verstimmungen,  Dämmerzustände, 
Krämpfe  usw.  Im  nächsten  Kapitel  wird  hiervon  nochmals  die  Rixle  sein. 


^  Vgl.    Jaspers    (i^a). 

2  Es  gD^i  auch  Mischfonneii,  d.  h.  seelische  Verhaltungsweisen,  die  aii  sich  motivLis- 
entstehen,  bei  denen  aber  die  spezielle  Form  des  Ablaufes  , .verständlich"  erscheint. 
So  erzählt  z.  B.  in  der  älteren  JLiteratur  (die  Stelle  ist  mir  leider  verlorengegangen) 
Dt.  Spurzheim  von  einer  Frau,  bei  der  der  Bausinn  bei  jeder  Schwangerschaft  so 
erregt   war,   daß   sie    eine    ordentliche   Bauwut   bekam. 


ABNORMITÄT  DEE  BEZIEHUNGEN  ZWISCHEN  DEN 
SEELISCHEN  UND  KÖRPERLICHEN  VORGÄNGEN 

In  den  kurzen  Auslühiungen,  die  der  engbegrenzte  Raum  hier  diesem 
Problem  gestattet,  soll  keineswegs  das  Thema  des  allgemeinen  Zusammen- 
hangs zwischen  Körper  und  Seele  auch  nur  gestreift  werden.  Lediglich  aus 
der  Erfahrung  sei  hier  zusammengestellt,  inwiefern  die  Seele  in  abnormer  Weise 
den  Körper  beeinflußt.  Zahlreiche  seelische  Vorgänge  sind  von  Körper- 
\eränderungen  begleitet,  die  bald  in  der  Tätigkeit  muskulärer  Organe,  bald 
in  der  Sekretion  von  Drüsen  bestehen.  Wenn  man  hierfür  meist  die  Be- 
zeichnung Ausdrucksbewegungen  gebraucht,  so  ist  dieses  Wort  gleich- 
sam etwas  unvorsichtig  gewählt.  Denn  man  schiebt  diesem  Worte  leicht 
den  Sinn  unter,  als  wenn  sich  der  seelische  Vorgang  —  z.  B.  die  Angst  — 
in  der  Bewegung  gleichsam  ausdrücken  wolle.  Dieses  irgendwie  finale 
Moment  darf  man  nicht  annehmen,  und  man  bedient  sich  daher  besser 
des  Ausdrucks:  Mitbewegungen.  Schon  der  Neugeborene,  ja  selbst  der  zu 
früh  Geborene,  hat  Mitbewegungen  (siehe  Canestrini  39),  d.  h.  irgendein 
die  Sinnesorgane  und  also  die  „Seele"  treffender  Reiz  führt  Bewegungen 
herbei,  die  denen  beim  Erwachsenen  mit  entwickelter  „Seele"  völlig  zu 
gleichen  scheinen  (z.  B.  eine  Veränderung  der  Blutfülle  des  Hirns  auf 
einen  schrillen  Pfiff).  Beim  erwachsenen  Menschen  ist  ein  großer  Teil 
dieser  Mit-  oder  Ausdrucksbewegungen  dem  Willen  zugänglich,  sei  es,  daß 
sie  absichtlich  unterdrückt  werden  können  (Vermeiden  des  „Zusammen- 
fahrens"  bei  starken  Geräuschen),  sei  es,  daß  man  sie  mit  Vorsatz  hervor- 
bringen kann  (absichtliches  Weinen  und  vor  allem  die  Sprache)^. 

Dieser  Zusammenhang  zwischen  seelischem  Vorgang  und  körperlicher 
Bewegung  (im  weitesten  Sinne)  kann  gestört  werden.  Einmal  kann  man 
bei  manchen  Psychopathen  eine  abnorme  Labilität  der  Ausdrucksmecha- 
nismen beobachten.  Nicht  nur  ein  übermäßiges  Erröten  oder  Erblassen 
begleitet  ihre  Gemütsbewegungen,  es  kann  auch  zu  Gefäßkrämpfen  im  Ge- 
hirn (Ohnmächten)  oder  an  den  Verdauungsorganen  (plötzliche  reichliche 
Durchfälle  bei  Schreck  oder  Ärger) ^  kommen.  Nicht  nur  eine  „Gänsehaut"^ 
pflegt  dann  etwa  das  Anhören  einer  gruseligen  Erzählung  zu  begleiten, 
sondern  es  können  —  zumal  bei  psychopathischen  Kindern  —  Angstschweiße, 
Schreikrämpfe,  Zittern  u.  dgl.  erscheinen,  der  Urin  kann  unwillkürlich  ab- 
gehen. Angstvolle  Träume  können  von  Schreien  oder  Aufspringen  —  während 


^  Vgl.  zu  den  Ausdriicksbevvegungen  im  allgemeinen  Tuke  (3i6),  Raulin  (255), 
Domrich  (5i),  Krukenberg  (i66),  Benussi  (i8),  Leschke  (176).  Bickel  (24).  —  Im 
französischen    „Geschmack"   ist  das   große  Werk  von    Rochas   (267  a)    verfaßt. 

2  Man  denke  an  den  Volksausdruck:  Der  Ärger  ist  mir  auf  den  Magen  geschlagen. 
Auch  das  Stottern  gehört  hierher. 

3  Erregting   der   kleinsten   Muskeln    in    der    Haut. 


Ab.NORMK    AUSDRUCKSBEWEGU.NGEN 129 

der   Sclilai    fortilauort  l)Of?loitot    sein    (Pavor    nootumiis,    (lubasch   41a). 

Nalürliili  kann  der  KItythmus  dos  Pulses  stark  \vo(  liselri,  der  Atem  stocken. 
Auch  die  «'lektrischeii  \  (>ri;;iii<,'e  am  Körper  (psychogalvaiiisclies  Uel'lex- 
[)hänonuMi)  können  stark  niitheleiligl  sein.  Die  ex[)erinientelle  l*syciiologie 
Irdit  es  sicli  ja  schon  liuv^e  angelegen  sein,  die  Ausdrucksi)e\vegungen  in 
ilirer  verschiedenen  Bedingtheit  e\akt  zu  untersuchen'.  Doch  gehören  diese 
Probleme  nicht  eigentlich  hierher.  Bei  lang  dauernden  depressiven  Affekten 
kann  die  ganze  \  erdauungstätigkeit  stark  beeinträchtigt  werden,  wenngleich 
man  noch  nicht  mit  Sicherheit  behaupten  kann,  (hdj  che  melancholische 
Verstimmung  die  Trägheit  der  Verdauung  herbeifülirt;  mögUchervveise 
hängen  beide  Momente,  die  Verstimmung  und  die  Verdauungsstörung,  von 
einer  dritten  gemeinsamen  Ursache  ab  2.  Daß  die  häufigen  hypochon- 
drischen Wahninhalte  der  MelanchoHschen  (die  Därme  seien  verfault,  es 
gehe  nichts  durch)  mit  den  \  erdauungsstörungen  inhaltlich  zusammen- 
hängen, ist  kaum  zu  bezweifeln.  Auch  die  vielfältigen  hypochondrischen 
Ideen  der  Neurastheniker  hängen  wohl  zum  Teil  mit  wirklich  (sekundär) 
vorhandenen  Alterationen  der  Bauchorgane  zusammen;  zum  großen  Teil 
sind  sie  freilich  auch  rein  vorstellungsmäßig  bedingt. 

Es  ist  interessant,  daß  manche  Persönlichkeiten  eine  besondere  Macht 
über  Körperorgane  haben,  deren  Beeinflussung  dem  intensivsten  Streben 
des  Normalen  nicht  gelingt'.  Schon  oben  wurde  erwähnt,  daß  manche 
Tausendkünstler  es  zu  Erwerbs  zwecken  gelernt  haben,  halbseitig  zu  schwitzen, 
einzelne  Muskelteile  (z.  B.  die  einzelnen  Zacken  des  M.  serratus  anterior) 
gesondert  zu  innervieren  oder  dgl.  Aber  auch  ohne  diese  Absicht,  selbst 
ohne  verborgene  Wunschkomplexe  läßt  z.  B.  die  lebhafte  Vorstellung  von 
Jodoformgeruch  bei  einem  mit  Idiosynkrasie  hierfür  Behafteten  eine  heftige 
Übelkeit  (Nausea)  oder  etwa  ein  deutliches  Exanthem  entstehen  (Ncssel- 
ausschlag:  Urticaria).  Und  es  ist  noch  merkwürdiger,  daß  manche  hyste- 
rischen Persönlichkeiten  an  umschriebenen  Körperstellen  solche  Verände- 
rungen hervorbringen,  und  zwar  an  Körperteilen,  die  nicht  etwa  einheitlich 
von  einem  einzelnen  Nerven  versorgt  werden,  sondern  von  verschiedenen 
Ästen  verschiedener  Nervenstämme  innerviert  werden.  Sicherlich  sind  viele 
Erzählungen  von  Märtyrern,  die  die  heiligen  Wundmale  Christi  an  sich 
trugen,  fromme  Erfindungen.  Aber  die  Tatsache  selbst  kann  keineswegs 
geleugnet  werden.  Denn  wenn  es  auch  wenig  Fachleute  gibt,  die  eigent- 
liche Stigmatisierte  gesehen  haben,  so  sind  doch  jedem  Erfahrenen 
Fälle  bekannt,  in  denen  z.  B.  eine  starke  Anschwellung  irgendeines  Körper- 
teils binnen  wenigen  Stunden  kam  und  wieder  schwand*,  und  dies  viel- 
leicht sogar  in  mehrfachem  Rhythmus.  Gegenüber  solchen  umschriebenen 
Ödemen    aber    erscheinen    die    eigentlichen    Stigmata    (mit    Blutaustritten) 


1  über  die  Mimik  der  Geistesgestörten  gibt  es  nur  wenig  Brauchbares.  Über  das 
Lachen   der   Schizophrenen   vgl.    Pascal   et  Nadal    (233  c). 

2  Vgl.    Dreyfuß    (52)    und    Wilmanns    (326). 

**  Über  abnorme  willkürliche  Augen bewegungen  siehe  Lechner  (170)  und  Levi  (176a). 
Einen  Fall,  in  dem  sicli  hysterische  Mechanismen  und  plumpe  Schwindeleien  mischen 
und  der  in  der  Mitte  des  18.  Jahrhimderts  großes  Aufsehen  machte,  bespricht  Meige  (200a). 

*  Sogenanntes  Oedema  fugax,  angioneurotisches  Oedem,  Quinckesches  Oedem.  Siehe 
Cassirer   (Sg  a). 

•9  ~  Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


130        GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABIVORMExN 

prinzipiell  nicht  verwunderlicher.  Welche  Bedeutung  solche  abnorme 
Körperbeeinflussungen  in  den  Heiligenlegenden  und  in  den  religiösen  Be- 
wegungen vergangener  Kulturepochen  gehabt  haben,  kann  hier  nicht  aus- 
''eführt  werden.  Hier  sei  nur  nochmals  die  Merkwürdigkeit  aller  dieser 
Erscheinungen  betont,  daß  eine  allerintensivste  Einfühlung  in  eine  Vor- 
stellung (Kreuzestod  Christi)  umschriebene  körperliche  Veränderungen  hervor- 
bringen kann,  zu  denen  mit  Absicht  zu  gelangen,  vielen  äußerst  „willens- 
starken" Menschen  mit  der  größten  Energieanspannung  niemals  glückt. 

Am  bekanntesten  ist  die  Erzählung  von  der  Erscheinung  der  Wundmale  Christi  am 
heiligen  Franz.  Freilich  wurden  sie  anscheinend  erst  nach  dem  Tode  des  Heiligen 
gefunden.  Wenigstens  bericiitet  Jakob  von  Vitry  (Sermones  ad  fratres  minores,  heraus- 
gegeben   von    Hilarinus    Felder,     Rom,     igoS) et    ita    expresse    sequutus    est 

Crucifixum,  quod  in  morte  eius  in  pedibus,  manibus  et  latere  vestigia  vulnerum 
Christi    apparuerunt.     (Greven    [gA])  ^.     Anders    Hampe   (102  a). 

Auf  tlie  Pathologie  der  menschlichen  Stimme  (Phonation)  und  der  Hand- 
schrift^ soll  hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Auch  gehören  die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  der  großen  Psychosen  in  die  Psychiatrie. 
Der  sogenannten  Ausschaltungen  wurde  schon  oben  (S.  101)  gedacht. 

Manche  Mitbewegungen  werden  in  der  menschlichen  Entwicklung  zu 
Ausdrucksbewegungen  im  engeren  Sinn,  d.  h.  der  innerlich  „Bewegte"  hat 
die  .Absicht,  sich  auch  äußerlich  zu  bewegen;  er  findet  ein  Gefühl  der 
Befriedigung  in  der  Bewegung,  sei  es  in  der  Geste,  sei  es  in  der  Sprache. 
Jemand  fühlt  sich  gedrängt,  seinen  Schmerz  hinauszuschreien :  „ich  konnte 
es  nicht  mehr  für  mich  behalten,  es  mußte  raus",  „ich  hätte  es  in  alle 
Welt  schreien  können",  „ich  mußte  meinem  Ärger  Luft  machen",  „ich 
mußte  meine  Unruhe  austoben"  —  alle  solche  Aussprüche  weisen  darauf  hin, 
daß  mancherlei  Affekte  den  Abfluß  ins  Motorische  suchen,  daß  eine  wie 
auch  immer  geartete  Gefühlsstauung  den  Ausweg  in  die  Bewegung  sucht 
(Luftsprung  vor  Freude).  Solche  „Entladungen"  können  nun  leicht  abnorme 
Formen  annehmen^.  Man  denke  an  das  aufgeregte  Gebaren  der  unruhig 
Erregten,  an  das  Zerschmettern  eines  Gegenstandes  durch  den  Jähzornigen, 
und  man  gelangt  auf  dieser  Stufenleiter  bald  zu  jenem  hysterischen  Wut- 
ausbruch, in  dem  der  Verbrecher  alles  in  seiner  Zelle  zusammenschlägt. 
Nach  einem  solchen  „Tobsuchtsanfall"  ist  der  Erschöpfte  dann  oft  tief 
befriedigt:  nun  hat  er  Buhe.  Das  berüchtigte  „heute  muß  noch  einer  hin 
sein"  des  pathologisch  Berauschten  gehört  auch  mit  hierher,  und  vielleicht 
besteht  auch  mit  dem  Amoklaufen  eine  gewisse  Verwandtschaft.  Endlich 
sei  in  diesem  Zusammenhang  auch  der  „Fugrue"zustände  gedacht,  jenes 
impulsiven  Wandertriebes,  epileptoider  Psychopathen,  durch  den  sie  irgend- 
wohin laufen,  stundenlang,  ziellos,  zwecklos,  aus  einem  unbestimmten  Trieb 
ins  Weite  („nur  fort,  nix  wie  fort"),  bis  sie  irgendwo  erschöpft  zusammen- 

*  Vgl.  auch  Beßmer  (28),  Alrutz  (4  a),  Imbert  (i45  a),  Warlomont  (822  b).  —  Über 
eine  moderne   Stigmatisierte   (Gemma   Galgani)  siehe  Ludwig   (ig2). 

2  Vgl.  dazu  Klages  (i5i),  Lomer  (188).  Die  Schriftstörungen  der  eigentlichen 
Geisteskranken   liegen   außerhalb   dieses    Rahmens. 

3  Vgl.   Frank   (78). 


AIIUKAKTIONEN  131 


sinken   und  oft  nach  niehrstündigem  Schlaf  zerschlagen,  hungrig,  ««lend   und 
erstaunt  erwachen  ^ 

Niclit  innner  ist  es  direkt  die  motorische  Betätigung,  die  die  iirlcichte- 
rung  gi'währt:  oil  ist  es  nur  der  Drang  aus  dem  Gewohnten  heraus,  die 
Sucht  nach  etwas  Neuem,  nach  einer  Veränderung,  einem  starken  Eindruck, 
selbst  wenn  er  an  sich  unangenehm  ist. 

So  erinnere  ich  mich  eines  Knaben,  der  aus  jedem  kleinen  Lebenskonflikt  den 
gleiclien  Ausweg  fand:  er  löste  sich  eine  Fahrkarle  (zuweilen  mit  zu  Hause  gestohlenem 
Geld)  nach  irgendeiner  fernen  Station,  z.  B.  in  Pforzheim  nach  München.  Kam  er 
dort  nach  sechsstündiger  Falirt  an,  so  war  eigonüich  alles  schon  vorbei  und  abreagiert: 
or  stand  dann  noch  etwas  in  der  ßalmhofsgegend  herum  und  telegraphierte  dann  sogleich 
nach  Hause,  man  solle  ihn  doch  um  Gottes  willen  gleich  wie<ler  abholen. 

Und  in  diesem  Zusammenhang  sei  auch  der  Sucht  mancher  Kinder 
gedacht,  gelegentlich  Ungezogenheiten,  Streiche  usw.  förmlich  selbstquälerisch 
zu  häufen  in  Erwartung  und  Ersehnung  des  großen  Strafgerichts:  —  war 
dann  die  Tracht  Prügel  da,  so  war  wieder  alles  geordnet  und  alle  Unlust 
vorbei*. 

Man  hat  die  Theorie  aufgestellt,  daß  jeder  große  hysterische  Anfall  eine 
solche  „Reinigung"  von  einer  unlustvollen  Spannung  sei,  und  für  einen 
Teil  der  Anfälle  trifft  dies  wohl  auch  zu.  Für  einen  noch  kleineren  Teil 
der  Anfälle  kann  man  auch  der  noch  engeren  Theorie  zustimmen,  daß  der 
motorische  Anfall  ein  Symbol  für  den  Geschlechtsakt  sei:  daß  die  gerade 
unerfüllbare  Sehnsucht  nach  Sexualbefriedigung  in  den  Zuckungen  und  den 
„attäudes  passionelles"  des  Krampfes  ihr  Äquivalent  findet.  .\ber  in  sehr 
vielen  Fällen  hat  meiner  Meinung  nach  der  hysterische  Anfall  mit  SexucJität 
auch  im  vielfach  determinierten  Symbolsinne  nichts  zu  tun. 

Die  Erfahrung  ergibt,  daß  jene  Persönlichkeiten,  die  sich  gern  ins  Moto- 
rische entladen,  und  besonders  jene,  die  bei  Unlustal'fekten  große  psychogene 
Anfälle  bekommen,  in  der  Mehrzahl  energische,  robuste,  ja  brutale  Charaktere 
sind,  besonders  unter  den  Männern.  Aber  auch  die  Frauen,  die  an  hyste- 
rischen AnfäUen  (im  Sinne  des  eigentlichen  grand  mal)  „leiden",  haben 
meist  einen  Zug  von  Aktivität,  Impulsreichtum,  Spontaneität.  Die  Bezie- 
hungen vom  Charakter  zum  Ausdruck  und  insbesondere  vom  abnormen 
Charakter  zum  abnormen  Ausdruck  sind  —  abgesehen  von  der  Graphologie  — 
noch  so  gut  wie  nicht  untersucht  worden.  Die  Geschichte  überliefert  auch 
von  mancher  bedeutenden  Persönlichkeit,  daß  sie  ab  und  zu,  besonders 
nach  stärksten  seelischen  Erschütterungen  große  Anfälle  gehabt,  d.  h.  die 
rein  seelische  Unlösbarkeit  schwieriger  Konflikte  in  das  Motorische  ab- 
reagiert habe  (sich  in  den  Anfall  „geflüchtet"  habe).  Daraus  ist  dann 
nicht  so  selten  die  Sage  entstanden,  sie  sei  Epileptiker.  Prüft  man  je- 
doch diese  Quellen  nach,  so  ergibt  sich  z.  B.  von  Paulus,  daß  seine  Epi- 
lepsie höchst  zweifelhaft  ist  (Seeligmüller  288),  und  auch  von  Napoleon 
kann  man  mit  großer  Bestimmtheit  aussagen,  daß  er  nicht  an  Epilepsie 
litt.     Ich  lasse  die  Hauptstelle  der  letzeren  Überlieferung  hier  folgen: 


1  Vgl.  dazu  Benon  et  Froissart  (i6a)  und  Stiers  umfangreiche  Arbeit  (3o6). 
Auch  die  Dipsomanie  (das  Quartalssaufen)  gehört  zum  Teil  hierher.  Vgl.  Gaupp  (85  a) 
lind    Pappenheim    (aSS  a). 

2  Strindberg    z.    B.    erzählt    auch    von   sich    diesen    Zug. 


9« 


132  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

,,Lc  jour  meme  de  son  depart  de  Strasbourg,  j'avais  dine  avec  lui;  en  sortant 
do  table  il  elail  ontre  seul  chcz  rimperatrice  Josephine;  au  beut  de  quelques  minutes 
il  en  sortit  brusquement;  j'etais  dans  le  salon,  il  mo  prit  par  le  bras  et  m'amena 
dans  sa  chambre;  M.  de  Remusat,  premier  chambellan,  qui  avait  quelques  ordres 
ä  lui  demander,  et  qui  craignail  qu'il  ne  partit  sans  les  lui  donner,  y  antra  en  m^me 
temps.  A  peine  y  etions  nous,  que  l'empvereur  tomba  par  terre;  il  n'eut  que  Ic  temps 
de  me  dire  de  fermer  la  porte.  Je  lui  arracliais  sa  cravale  parce  qu'il  avait  l'air 
d'elouffer;  il  nc  vomissait  point,  il  gemissait  et  bavait.  M.  de  Romusat  lui  donnait 
de  l'eau,  je  l'inondais  d'eau  de  Cologne.  II  avait  des  especes  de  convulsions  qui 
cessörent  au  bout  dun  quart  d'hcure;  nous  le  rnimes  sur  un  fauteuil ;  il  commen^a 
ä  t>arler,  se  rhabüla,  nous  recommanda  le  secret  et  une  demi  heure  apres,  il  etait  sur 
le  cbemin  de  Karlsruhe.  En  arrivant  ä  Stuttgart,  il  m'ecrivit  pour  me  donner  de 
scs  nouvelles;    sa  lettre  finissait  par  ces   mots:    ,Je   me  porte   bien.'" 

(Talleyrand,    Memoires   vol.    I.    pag.    295/96.) 

Es  ist  begreiflich,  daß  die  Unmöglichkeit  einer  Abreaktion  öfter  zu 
peinlichen  Verstimmungen,  Ausnahmezuständen,  ja  zu  leichten  Situations- 
psychosen Veranlassung  gibt.  Oben  ist  deren  bei  der  Gefängnis-  und 
Stacheldrahtpsychose  schon  einmal  gedacht  worden.  Aber  es  wurde  auch 
bei  den  Heimwehverstimmungen  schon  erwähnt,  daß  diese  gemütlichen  Ab- 
normitäten oft  nach  ganz  seltsamen  „Lösungen"  drängen,  Mord,  Brand- 
stiftung usw.  Und  gerade  die  Brandstiftung  ist  zuweilen  auch  bei  Erwach- 
senen (Psychopathen)  eine  seltsame  Lösung  innerer  unerträglicher  Spannungen 
(Bychowski  37).  Manche  Persönlichkeiten  finden  glücklicherweise  harm- 
losere Mittel  der  Abreaktion:  Die  Kunst  gibt  ihnen  die  Form  ihres  Aus- 
drucks. Und  bei  künstlerisch  Untalentierten  ist  es  oft  die  Freude  am 
Überschwang,  an  der  Phrase,   in  der  sie  Genüge  finden: 

„So  wie  der  Wind  mit  welken  Blättern  spielet,  so  spielet  das  Leben  mit  Menschen- 
schicksalen.  Herbst  ist  es  geworden,  das  große  Sterben  zieht  ins  Tal.  Alles  Getier 
scheint  verschwunden  zu  sein,  nur  den  Zaunkönig  hört  man,  des  Winters  unentwegter 
Gesangsmeister.  Eintönig  und  grau  vergeht  der  Tag.  Gleich  Zyklopenmauem  türmt 
sich  bald  die  Nacht  empor.  Schon  oft  lag  ich  wach  und  schaute  in  die  Nacht.  Zwischen 
Wolkenfetzen  sendet  der  Mond  sein  fahles  Licht.  Die  Sterne  rieseln  weich  und  weiß 
am  Himmel.  Und  wirbelnde  Gedanken  in  der  Seele.  Sinnlos  hör'  mein  lautes  Blut 
ich  singen.  Von  fem  erklingt  eine  Glocke  dumpf  wie  kranker  Herzen  Stöhnen. 
Und  ist  der  Ton  auch  längst  verhallt,  mir  tönt  er  immer  noch  im  Herzen  nach- 
Da  überkommt  mich  dann  ein  leises  Grauen.  Gerade  wie  als  Kind  mich  oft  befiel 
ein    leises    Zagen    im    dunklen    Wald.     Es    weinet   die    Seele   und    klaget   um    dich." 

(Ernst   Linde,    Brief   an    seine   Frau,   Psychiatr.    Klinik,    Heidelberg.) 

Es  ist  selbstverständlich,  daß  auch  der  Selbstmord  nicht  selten  nur 
ein  Abfluß  ins  Motorische  ist;  in  die  Tat.  Sicherlich  gibt  es  Fälle,  in 
denen  eine  besondere  Verwicklung  objektiver  Umstände  auch  dem  Nor- 
malen den  Selbstmord  als  die  einzig  mögliche  Lösung  erscheinen  läßt; 
sicherlich  bestimmen  gelegentlich  auch  einzelne  krankhafte  Ideen  einen 
Kranken  zum  Selbstmord.  In  der  Mehrzahl  der  FäUe  werden  es  aber 
abnorme  Gemütsverstimmungen  sein,  Schwermutsanfälle  u.  dgl.,  die  den 
Tod  als  das  einzig  noch  Wünschenswerte  erscheinen  lassen:  Beendigung 
einer  unerträglich  gewordenen  Situation  ^.  Besondere  Gefahr  bringen  die 
Verstimmungen  der  Pubertätszeit  2. 


1  Vgl.    Placzek    (247).    Reboul    (256),    Stelzner   (3o5),    Gaupp    (85). 

2  Redlich-Lazar  (267),  Eulenburg  (Sg). 


SELBSTMORD.    ANFÄLLE  133 


Eii»  hinleilasbfiiiT  Brief  von  1-8(3  koimfeiclinPt  in  seiner  Scliiidilheit  gut  die 
Ivtzto  Sliiiuimag  eines  Selbstmörders  (aus  Dieff(jnl)acli  L.  F.  —  (jraf  Franz  zu  Krbacli 
-     E..    Darnistadl,    1879): 

,,Wenn  Du  dieses  erhaltest,  bin  ich  nicht  mehr.  —  Die  Well  isl  mir  zu  enge. 
Widerwärtigkeiten,  die  ich  von  Jugend  auf  zu  ertraget!  hatte,  und  die  ich  mit  zu- 
nehmenden Jahren  immer  lebhafter  zu  füiiien  anfange,  lassen  mich  den  Tod  als  das 
glücklichste    Ereignis    meines    Lebens    ansehen.     Gott    erbarme    sich    meiner." 

Es  ist  nicht  eigentlich  Aulgabe  der  Psychoj)athologie,  jener  Störungen 
des  Seelenlebens  ausführlicher  zu  gedenken,  die  durch  .\lterationen  der 
Körpenorgänge  oder  schließlich  der  Gehirnfunktionen  gesetzt  werden. 
Krankhafte  Veränderungen  des  inneren  Körperstoffvvechsels,  äufiere  Ver- 
giftungen, Veränderungen  des  Blutkreislaufes  im  Gehirn,  ferner  direkte 
Schädigungen  der  Gehirnsubstiinz  (Entzündungen,  traumatische  Zerstörungen 
usw.)  sind  selir  häufig  mit  den  verschiedensten  seelischen  Alterationen  ver- 
bunden. Dabei  gelingt  es  in  vielen  Fällen,  deren  Ursachen  in  den  Körper- 
iunktionen  einwandfrei  nachzuweisen.  In  vielen  anderen  Fällen  liingegen 
bleibt  die  Vermutung,  eine  Körperstörung  verursache  die  Seelenstörung, 
eine  nicht  erweisbare  Theorie^.  Gerade  das  Fehlen  seelischer  „Ursachen" 
(d.  h.  im  oben  erörterten  Sinne  seehscher  Sinnzusammenhänge)  veranlaßt 
in  solchen  Fällen  den  Forscher,  „wenigstens"  nach  den  hypothetischen 
körperlichen  Ursachen  zu  suchen.  Dabei  wird  er  sich  meist  der  Schiefheit 
seiner  methodischen  Stellung  nicht  recht  klar.  Beide  „Richtungen"  des 
Suchens  sind  ganz  verschieden  orientiert.  In  jedem  Falle  einer  seelischen 
Störung  muß  der  Psychologe  nach  den  Sinnzusammenhängen  forschen;  er 
muß,  wenn  es  ihm  vielleicht  auch  nicht  gehngt,  das  „Auseinanderhervor- 
gehen" zu  ergründen,  zum  mindesten  den  Versuch  unternehmen,  die  Form, 
in  der  sich  die  Störung  seeUsch  äußert,  aus  der  Persönüchkeit  abzuleiten.  Der 
Forscher  muß  —  um  einen  anders  gewendeten  Ausdruck  zu  gebrauchen  — 
sich  stets  um  die  Einfühlung  bemühen.  FreiUch  kommt  er  dabei  in 
vielen  Einzelfällen  sehr  bald  an  jene  Grenze  der  Einfühlbarkeit,  von  der 
oben  gesprochen  worden  ist.  Der  Seelenarzt,  der  Menschenkenner,  der 
Pädagoge  muß  sich  dieser  Einfühlung  gleichermaßen  befleißigen.  Der  erstere 
freilich  hat  dazu  noch  eine  weitere  Aufgabe:  er  muß  stets  auch  in  jener 
anderen  Richtung  nach  den  körperlichen  Ursachen  einer  seelischen  Störung 
fahnden.  Dies  darzulegen  ist  jedoch  Aufgabe  der  Psychiatrie.  Für  den 
Psychologen  sei  hier  nur  noch  einmal  deutlich  jene  Tatsache  hen  orgehoben, 
daß  sich  für  manche  seelische  abnorme  Erscheinungen  ein  sinnvoller  Grund 
nicht  finden  läßt.  Er  läßt  sich  aber  nicht  darum  nicht  finden,  weil  es 
dem  Suchenden  an  Geschicklichkeit  oder  Kenntnissen  fehlt,  sondern  weil 
er  grundsätzlich  nicht  gefunden  werden  kann.  Genau  so  wie  das  große 
Übel  des  Epileptikers,  das  grand  mal  des  Morbus  sacer,  ohne  Motive  ur- 
plötzlich über  des  Kranken  Körper  hereinbricht  —  die  Hand  des  Herrn 
schlägt  ihn  — ,  genau  so  gibt  es  seelische  Zustände,  die  motivlos  im 
Menschen  entstehen.  Es  sind  nicht  nur  die  sog.  epileptischen  (seelischen) 
Äquivalente,  sondern  es  sind  auch  andere  Gemütsverstimmungen,  Erregungs- 
zustände u.  dgl,,  die  grundlos  in  der  pathologischen  Persönlichkeit  wurzeln. 


1   Ich    gehe    hier    selbstverständlich    den    allgemeinen    Theorien    über    den    Zusammen- 
hang   von    Leib    tind    Seele    bewußt    aus    dem    Wege. 


ABNORMITÄT  DER  SEELISCHEN  ENTWICKLUNG 

Nur  wenige  Worte  seien  hier  den' Problemen  gewidmet,  die  von  der 
abnormen  Entwicklung  der  menschlichen  Seele  handeln.  Dabei  ist  nur  die 
Ontogenese,  die  Reifung  des  einzelnen  Individuums  gemeint,  denn  nach 
den  obigen  Ausführungen  über  den  Begriff  des  Abnormen  kann  von  einer 
abnormen  Phylogenese  prinzipiell  nicht  gesprochen  werden.  Hierzu  fehlt 
jeder  Maßstab.  Aber  auch  die  abnorme  Reifung  ist  eigentlich  mehr  ein 
Thema  der  pädagogischen  Psychologie  (Heilpädagog^)  einerseits,  der  Psychia- 
trie anderseits.  Es  ist  auch  mehr  von  praktischem,  als  theoretischem  In- 
teresse, zu  erörtern,  inwieweit  das  Tempo  einer  kindlichen  Entwicklung 
abnorm  werden  kann.  Einerseits  findet  man  eine  frühzeitige  Reifung  im 
Sinne  des  Vorausgehens  bestimmter  Anlagen  \  So  gibt  es  eine  Anzahl 
wohl  beschriebener  Fälle,  in  denen  die  mathematische  Begabung  sich  schon 
auf  sehr  frühen  Stufen  der  Kindheit  offenbarte-.  Und  die  musikalische 
Begabung  zeigt  sich  ja  ebenfalls  oft  schon  sehr  zeitig:  die  Wunderkinder 
haben  zwar  zu  allen  Zeiten  das  Staunen  und  die  Teilnahme  eines  größeren 
Publikums  erweckt,  sind  jedoch  erst  in  neuester  Zeit  auch  genaueren  psycho- 
logischen Analysen  unterworfen  worden  ^. 

Der  Bildhauer  Joseph  Kopf  benutzte  schon  als  Sechsjähriger  die  Hauswand  zu 
Zeichnungen,  und  die  Ziegelmasse  in  der  Ziegelei  des  Vaters  für  Plastiken.  Der 
Tiroler  Landschaftsmaler  Anton  Koch  hat  als  Ziegenhütejunge  hoch  oben  im  Ge- 
birge die  Felswände  mit  Zeichnungen  bedeckt,  die  (mittels  Kohle  vom  Hcrdfcuer) 
Landschaften    und    Geschichten,     besonders    aus   der    Offenbarung   Johannis,     wiedergal>eo . 

Möbius  vermag  (204)  24  bildende  Künstler  von  Rang  zusammenzu- 
stellen, die  schon  in  früher  Jugend  ihr  Talent  offenbarten  und  betätigten. 
^  on  Dichtern  bringt  er  unter  dem  gleichen  Gesichtspunkt  nur  5  zusammen. 
A.  Baeyer  entdeckte  im  1 2.  Lebensjalu-  ein  neues  Doppelsalz,  das  erst  4  Jahre 
später  von  Struve  beschrieben  wurde. 

Häufig  sind  solche  Wunderkinder  nicht  nur  in  ihrer  Entwicklung  un- 
ausgeglichen, sondern  diese  Unausgeglichenheit  ist  nur  ein  Symptom  in 
einer  Kette  solcher  Symptome  psychopathischer  Art.  Aber  gelegentUch 
kommt  es  auch  in  frühen  Entwicklungsstadien    zu   einer  Reife   und  Tiefe 


1  Körperliche  und  geistige  Reifung  können  auch  stark  divergieren.  Siehe  z.  B.  den 
Fall     Lenhosseks     (i74). 

2  Siehe  z.  B.  Moebius  (2o5).  —  Über  Schach  Wunderkinder:  Becker  (lob).  Bauni- 
garten     (loa). 

*  Vgl.  z.  B.  Revesz  (203)  und  die  dort  angeführte  Literatur,  und  Riebet  (266), 
auch  Feis  (6i),  Stumpf  (3 12  a).  Besonders  die  phänomenalen  Gedächtnisse  sind 
auch  hinsichtlich  ihrer  frülizeitigen  Offenbarung  schon  seit  langem  beachtet  worden 
In  dem  Buche  von  Offner  (232),  S.  200  ff.,  und  den  drei  Bänden  G.  E. 
Müllers  (2i5)  finden  sich  mancherlei  Hinweise.  Einen  interessanten  Beitrag  über 
das  Wunderkind  Christian  Henrich  Heineken  (geb.  172 1)  bringen  die  ..Interessanten 
Lebensgemälde",   von   Samuel   Baur   I.    Leipzig.   Voß   &   Co.,   i8o3. 


ABiNOllMITAT  DER  SEELlSGUEiN  ENTWICKLUNG 135 

des  Lirteils,  einer  Weite  der  Interessen  und  einem  Ernst  in  allen  Betätigungen, 
daß  man  nicht  von  der  Überentwicklung  einzelner  Gaben  reden  kann, 
sondern  oino  allseitige  geniale  Entwicklung  annehmen  muli.  .Vis  wichtigstes 
Dokument  hierfür  dienen  die  nachgelassenen  Schriften  eines  Frühvollendeten, 
Otto  Braun  (32). 

Andererseits  bleiben  manche  Kinder  in  der  Entwicklung  in  der  ver- 
schiedensten Weise  zurück,  sei  es,  daß  einzelne  „Gebiete"  sich  als  nicht 
recht  anbaufähig  erweisen,  sei  es,  daß  bestimmte  Anlagen  sich  in  dem 
Augenblick  als  zurückgeblieben  herausstellen,  sobald  der  Unterricht  zum 
ersten  Mal  an  sie  appelliert  (etwa  das  optisclie  Vorstellungsvermögen  in 
der  Geometrie),  sei  es,  daß  alle  geistigen  Funktionen  schwierig  großzu- 
ziehen sind.  Die  Pädag<^^  hat  sich  ja  in  ihren  besonderen  Zweigen  der 
Hilfsschul-  und  Heilpädagogik  höchst  ausführlich,  wenn  auch  in  ihrer  Ein- 
stellung etwas  einseitig  mit  diesen  Problemen  beschäftigt.  Hier  sei  von  der 
außerordentlich  großen,  speziellen,  allerdings  meist  mehr  populären  Lite- 
ratur nur  einiger  zusammenfassender  Werke  und  der  6  Zeitschriften  gedachte 

Daß  manche  geistig  Zurückgebhebene  dennoch  in  einzelnen  Gebieten 
Hervorragendes  leisten  können,  w  urde  schon  oben  erwähnt.  Besonders  das 
Rechnen-  und  Gedächtnis 3,  aber  auch  das  Zeichnen  können  trotz  erheb- 
licher Debilität  vorzüglich  sein. 

Endlich  -sei  bei  der  Frage  des  abnormen  Tempos  in  der  seeüschen 
Ent\vicklung  noch  jener  Persönlichkeiten  gedacht,  bei  denen  die  Ent- 
Nvicklungsjahre  besonders  stürmisch  oder  konfliktreich  verlaufen.  Über 
diese  Probleme  liegen  noch  keine  Arbeiten  vor,  die  wissenschaftUch  auf 
einem  höheren  Niveau  stehen.  In  der  populären  Literatur,  aus  der  deshalb 
hier  einiges  genannt  werden  muß,  findet  man  zwar  mancherlei  feine  Einzel- 
beobachtungen aber  kaum  mehr,  und  nur  der  Zusammenhang  der  Ver- 
wahrlosung mit  den  Pubertätsjahren  ist  eingehender  untersucht  worden.* 


1  Weypandl    (32^),    Handbuch    (Sao),    Heller    (107),    Fuchs    (83). 

Zeitschrift   für    Kinderforschung,   Langensalza,    Beyer,    1920,   2  5.    Jahrgang. 

Zeitschrift  für  pädagogische  Psychologie  und  experimentelle  Pädagogik.  Quelle 
u.    Meyer.    Leipzig,    1920.     21.    Jahrgang. 

Eos.     Graeser,     Wien-Leipzig.     191 7.       i3.     Jahrgang. 

Die    Hilfsschule,    Halle,    Marhold.    1920.      i3.    Jahrgang. 

Zeitschrift     für     angewandte     Psychologie.      Leipzig,     Barth,      1920.       17.     Jahrgang. 

Zeit<ichrifl  für  die  Behandlung  Schwachsinniger.  Halle,  Marhold.  1920.  io.  Jahr- 
gang-. 

Zeitschrift  für  die  Erforschung  und  Behandlung  des  jugendlichen  Schwachsinns. 
Jona,    Fischer,    1920.     8.    Band. 

"  Wizel     (327).. 

3  Van     der     Kolk     (lag)     mit    Literaturangaben. 

*  Vgl.  hierzu  Grüble  (98),  femer  Pappenheim-Groß  (233)  und  sonst  allenfalls  die 
kleine  populäre   Sammlung  von   Eger,   Die  Entwicklungsjahre   (67). 

(Während  der  Korrekturen  erschien  soeben  die  sehr  b^chtenswerte  Arbeit  von  Charlotte 
Bühler.   Das   Seelenleben  des  Jugendlichen.    Jena.  Fischer,    1922.) 


LITERATURVERZEICHNIS' 

Es  ist  nicht  leicht,  aus  der  Fülle  der  psychologischen  und  psychiatrischen 
Literatur  diejenigen  psychopathologischen  Arbeiten  herauszusuchen,  die 
dem  Psychologen  die  in  diesem  Grenzgebiet  gesuchten  Materialien  und 
(jesichtsp unkte  vermitteln.  Ich  habe  von  den  älteren  Werken  nur  jene 
angeführt,  die  besonders  wichtig  erscheinen  oder  die  mit  Unrecht  allgemein 
\ergessen  worden  sind.  Im  übrigen  beschränkte  ich  mich  auf  neuere 
.\rbeiten,  die  die  ältere  Literatur  gut  kennen  und  auch  zitieren.  Mancher 
kritische  Leser  wird  dieses  oder  jenes  vermissen,  doch  wird  mir,  glaube 
ich,  nicht  viel  Wesenthches  entgangen  sein^.  Wenn  ich  mancherlei  weg- 
ließ, so  schien  mir  dies  mehr  in  das  Gebiet  der  reinen  Psychologie,  reinen 
Psychiatrie  oder  Pädagogik  zu  gehören.  Auch  hielt  ich  mich  streng  an 
das  Programm  dieses  Handbuchs.  Sexualpsychologie,  Kriminalpsychologie 
usw.  haben  ihre  eigenen  Bearbeiter. 

Von  Gesamtdarstellungen  der  Psychopathologie  gab  es  bisher 
eigentlich  nur  die  zwei  Arbeiten  von  Stoerring  (310)  und  Jaspers  (143). 
Die  geringe  Befriedigung,  die  das  veraltete  Störringsche  Buch  gewährte', 
und  das  Fehlen  einer  modernen  Darstellung  waren  wohl  die  Motive  zu 
Jaspers'  Buch  gewesen,  das  die  gesamten  psychopathologischen  Probleme 
von  einer  gänzUch  neuen,  vor  allem  methodologischen  Seite  aufgriff. 
Gerade  in  diesem  Gesichtspunkt  liegt  seine  Hauptstärke.  Aus  dem  Versuch, 
in  die  Fülle  angehäufter  Beobachtungen  einmal  klare  Ordnung  zu  bringen, 
spricht  der  energische  Forscherwille  einer  mit  allen  modernen  Problemen 
vertrauten  Persönlichkeit.  Aber  es  wäre  gut,  wenn  wir  heute  nicht  eine, 
sondern  vier,  fünf  Psychopathologien  besäßen.  Die  mannigfach  ver- 
schlungenen Fragen  des  abnormen  Seelenlebens  haben  nicht  eine  be- 
friedigende Antwort,  sie  lassen  sich  recht  verschieden  behandeln.  Es  gilt 
mehr,  die  einzelnen  Probleme  aufzuzeigen  und  von  allen  Seiten  zu  beleuchten, 
als  sie  eindeutig  zu  lösen. 

Wünscht  ein  Leser  tiefer  in  das  Gebiet  der  eigentlichen  Psychiatrie 
einzudringen,  so  sei  ihm  das  Lehrbuch  von  Bleuler  empfohlen  (27).  Hinter 
ihm  steht  die  grosse  Kraepelinsche  Psychiatrie  (161a). 

Über  die  wichtigsten  bisher  erschienenen  Pathographien  gibt  ein 
Anhang  zum  Literaturverzeichnis  Auskunft. 


^  Für  mancherlei  wertvolle  Hinweise  bin  ich  den  Herren  Professoren  Dr.  G. 
Steiner,    Dr.    A.    Wetzel    und    Herrn    Dr.    Mayer-Groß    dankbar. 

2  Die  ausländische  Literatur  seit  igi4  fehlte  mir  allerdings  größtenteils.  —  Auf 
die  Frage  der  Priorität  eines  Gedankens  habe  ich  niemals  Wert  gelegt.  Ich  habe 
hierfür  keiti  Verständnis.  Insbesondere  sei  gegenüber  Stransky  betont,  daß  er  sicher 
viele    der    hier    mitgeteilten    Ideen    zuerst    gehabt    haben    mag. 

3  Das  noch  ältere  Emminghaussche  Werk  (58)  hat  nur  noch  historisches  Interesse. 
—  Inwieweit  die  üblichen  Methoden  der  experimentellen  Psychologie  auch  auf  dag 
Gebiet    des     Abnormen    angewendet     werden    können,     stellt     Gregor     (92  a)     zusammen. 


LITERATURVERZEICHNIS  137 


Über  mancherlei  Beziehungen  al)nornier  (icistesverfassung  zur  Kunst 
YNird  ein  demnächst  erscheinendes    liuch    vi)n   Hans  Prinzhorn    orientieren. 

Zalilreiche  interessante  Dokumente  zur  I*sycho[)athologie  stellt  Birn- 
baum zusammen  (26  b). 

I.     A  c  li  «•  1  i  s,  Thomas,  Die  Ekslaso  in  ihrer  kulturellen  Bedeutung,  Berlin,  Rade,  iyo2. 
la.   Adler,     A.,     Ein    Fall     von     ..subkorLikaler    Aloxio    (Wemicke)",    Berliner    Klin. 

VVochensclu-.,    37,    1890. 
iL.  A  k  s  ä  k  o  \v,    Alexandor    .N.,    Animismus    und    Spiritismus,    Leipzig,    Oswald    Mutze, 

3.  Aufl. 
3.     Albrecht,     O.,     Drei     Fälle     mit    Antons     Symptom,     Archiv     für    Psychiatrie, 

59,    1918. 
3.      D  '  A  i  1  o  n  n  e  s  .    G.    R.,    Rölo    des    sensalions    internes    dans    les    emotions    et    dan» 

la    perception    de    la    durec,    Rev.    pliil.,    60,    igoö. 
l\.     Alrutz.    Sydney,    Halbsponlano    Erscheinungen    in    der    Hypnose,    Z.    f.    Psychol., 

52,    1909. 
/ja.   — ,  Ett  bidrag  tili  frägan  om  Sambaudet  Mellan  psykiska  och  Kroppsliga  processer. 

Den   suggestiva   vesikationen .     Festschrift  für  E.   0.   ßurinan,   Upsala,    1910. 
/jb    Alt,    Ferdinand,    Über    Melodientaubheit    und    musikalisches    Falschhören,    Leipzig, 

Wien,    Deuticke,    1906. 

5.  Anjel,     Beitrag     zum     Kapitel     über     Erinnerungstäuschungen,     Archiv     f.     Psy- 

chiatrie,   8,    1878. 

6.  B  ä  1  i  n  t  ,     Rudolf,     Seelenlähmung    des     ,,Schaucns",    optische    Ataxie,    räumliche 

Störung  der  Aufmerksamkeit,   Monatsschrift  für   Psychiatrie  u.  Nour.,   25,    1909. 
6a.  Ballet,    Gilbert,    Un    cas    de    ,,fausse    reconnaissance"    ou    de    „dejä    vu",    Rev. 
neur.,    12,    1904. 

7.  Balz,     E.     von.     Über     Besessenheit     und     verwandte     Zustände,     Wiener    mediz. 

Wochenschr.,    57,     1907. 

8.  — ,    Über    Emotionslähniung,    Allg.    Z.    f.    Psychiatrie,    58,    1901. 

9.  Bastian,    Adolf,    Über    psychische    Beobachtungen    bei    Naturvölkern,    Leipzig, 

Ernst    Günther,    1890. 
9a.  Baudelaire,     Charles,     Die     künstlichen     Paradiese     (Opium     und     Haschisch), 
Minden,    Bruns,    olme    Jahr,    der    Werke    II.    Bd. 

10.  Bauer,   J.,  und   Schilder,   P.,   Über  einige   psychophysiologische   Mechanismen 

funktioneller    Neurosen,    D.    Z.    f.    Nervenheilkunde,    64,    1919- 
10a.  Baumgarten,     Franziska,     Die     Intelligenzprüfung    eines     Schachv^underkindes, 

Praktische  Psychologie,  L,   1920. 
10b.  Becker,    Wern.    IL,    Paul    Morphy,    seine    einseitige    Begabung    und    Krankheit, 

Archiv  f.  Psychiatrie,  64,   192 1. 

11.  Becher,  Erich,  Über  die  Sensibilität  der  inneren  Organe,  Zeitschr.  f.  Psychologie, 

49,    1908. 

12.  Bechterew,  W.  von.  Über  hypnotischen  Zauberwahn.    Monatsschr.  f.  Psychiatrie 

u.   Neur.,   22,    1907. 

i3.  — ,  Die  Bedeutung  der  Suggestion  im  sozialen  Leben,  Wiesbaden,  Bergmann, 
1905. 

i4-     Beck,    P.,    Die    Ekstase,    Sachsa,    Haacke,    1906. 

i5.  Begbie,  Harold,  On  the  side  of  the  angels,  London,  I9i5  (nicht  selbst  ein- 
gesehen). 

16.  Behn,   Siegfried,  Über  das  religiöse  G«nie.    Archiv  f.   Religionspsychol.,    i,   1914. 
16a.  Benon,    R.,    et    Froissart,    P.,     Les    Fugues   en    pathologie    mentale,    Journ. 

de  psychol.,  6,   1909. 

17.  Benussi,    Vittorio,    Psychologie    der    Zeilauffassung,    Heidelberg,    Winter,    igiS. 

18.  — ,   Die  Atmungssymplome  der  Lüge,  Archiv  f.  d.  ges.  Psychol.,   3i,    191 4. 

19.  Eernard-Leroy,    Eugene,    L'illusion    de    fausse    reconnaissance,    contribution 

ä    r^tude    des    conditions    psychologiques    de    la    reconnaissance    des    Souvenirs, 
1898    (zitiert    nach    Fischer). 

20.  Bernhard,    Kurt,   Der   Begriff    ,, anormal"   und    seine   Verwendung.    Zeitschr.   f. 

positivistische    Philosophie,    2,     191 4- 


138  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN      

21.  Bortran  d  A.,  Traite  du  somiiamJbulisme  et  des  differenteo  modifications  qu'il 
prcsente.  Paris,  Dentu,  1828.  Zitiert  nach  dem  Ajuszug  \on  Friedr.  Groos, 
Zeitschr.    f.   d.   Anthropologie,    1824. 

23.  Berze.  J..  Zur  Psychologie  der  Eigenbeziehung,  Zeitschr.  f.  ^athopsychologie, 
3,    1917. 

22a.  — ,  Die  primäre  Insuffizienz  der  psychischen  Aktivität,  Leipzig,  Wien,  Deuticke, 
191/». 

23.  Beßmer,   Jul.    (S.  J.),   Stigmatisation   und   Krankheitserscheinung,   Stimmen   aus 

Maria  Laach,  69,   igoS. 
23a.   Bezold,    Friedrich    von.    Über   die   Anfänge   der   Selbstbiographie   und  ihre   Ent- 
wicklung   im    Mittelalter,    in     „Aus     Mittelalter    und     Renaissance",     München, 
Oldenbourg,     1918. 

24.  Bickel,    Heinrich,    Die    wechselseitigen    Beziehungen    zwischen    psychischem    Ge- 

schehen    und     Blutkreislauf     mit     besonderer     Berücksichtigung     der     Psychosen, 
Leipzig,    Veit,    19 16. 

25.  Binet,  Alfred,  Les  alterations  de  la  personnalite,   Paris,   Alcan,   1892. 

26.  Bing,    Robert,    und    Schwartz,    Leonard,    Contribution    k  la    localisation    de 

la    stereagnosie,    Schweizer  Archiv    für   Neurol.   und    Psychiatrie,    4,    1919 

26a.  Birnbaum,  Karl,  Psychosen  mit  Wahnbildung  und  wahnhafte  Einbildung  bei 
Degeneration,   Halle,  Marhold,   1908. 

26b.  — .    Psychopathologische    Dokumente,    Berlin,    Springer,    1920. 

26c.  — .  Die  krankhafte  Willensschwäche  und  ihre  Erscheinungsformen,  Wiesbaden, 
Bergmann,   191 1. 

26d.  B  j  e  r  r  e.  Poul,  Das  Wesen  der  Hypnose.  Z.  f.  Psychotherapie  und  mediz.  Psycho- 
logie.  6,   1916. 

27.  Bleuler,    E.,   Lehrbuch   der   Psychiatrie.    Berlin,    Springer.    1916. 

28.  — ,  Dementia     praecox,     Leipzig,     Wien,     Deuticke.     191 1- 

29.  Boirac,  Emile,  La  psychologie  iiiconnue,  Paris,  F.  Alcan.   1908. 

30.  Boismont,    A.,    Brierre  de.    I>es    Hailucina tions.    Paris.    Germer   ßailliere,   i845. 
3i.     Bouman,     L.,     und     Grünbaum,     A.     A.,     Kasuistischer     Beitrag     zur    Vor- 
stellungspsychologie,   Z.    f.    Psychol..    85,    1920. 

02.     Braun,    Otto,    Aus    nachgelassenen    Schriften    eines    früh    Vollendeten.    Deutsche 

Verlagsanstalt,     Stuttgart,     Berlin,     1920. 
33.     Bronislawski,    Venceslas-Handelsman,    Contribution    ä    l'etude    de    l'amusie    et 

da    la   localisation    des    centres    musicau.x;.    These    de    Bordeaux,    1900. 
34-     Buber,     Martin,    Ekstatische    Konfessionen.    Jena,    Diederichs.     1909. 

35.  Bühl  er,    ^arl,    Die   geistige    Entwicklung   des    Kindes.    Jena,    Fischer,    1918. 

36.  Bumke,  Oswald,  Über  nenöse  Entartung,  Berlin,   Springer.    1912. 

37.  Bychowski,     Gustav,     Zur     Psychopathologie     der     Brandstiftung,      Schweizer 

Archiv  f.  Neur.  u.   Psychiatrie.   5,   29,   1919. 

38.  Bychowski,    Z.,    Über    das    Fehlen    der    Wahrnehmung    der    eigenen    Blindheit 

bei    zwei    Kriegsverletzten,    Neur.    Zentralbl..    89.    1920. 

38a.  C  almeil,   L.    F.,   De  la  foUe  depuis  la  renaissance   .   .   .    jusqu'au   dix-neuvieme 

sitcle.    —    Description    des    ?randes    epidemies    de    d6lire,    Paris.  Baillifere,   i845, 

2  Bde. 
09.     Canestrini,      Silvio.      Über      das     Sinnesleben      des       Neugeborenen,      Berlin, 

Springer,    19 13. 
Sga.   Cassirer,     R..     Die     vasomotorisch    trophischen     Neurosen.     Handb.    d.     Neur., 
5,  1914.  . 

ogb.  Charcot,    J.    M.,    et    Richer,     Paul.     Les     demoniaques     dans     f'art.     Paris, 

Delahaye,    1887. 
4o.     Chowrin,    A.    N.    (übers,    von    Schrenck-Notzing).    Exper.    Untersuchungen    auf 

dem    Gebiete   des   räumlichen    Hellsehens.    München,    Reinhardt.    1919 
4i-     Claparede,    E.,   Interpretation  psychologique   de   l'Hypnose.    Joum.    f     Psychol. 

u.   Neur.,   18.   1912, 
4ia.  Cubasch,   C.   Der  Alp.   Berlin,    1877. 

h2.  Dcjerine.  J..  Semiologie  des  affections  du  Systeme  nerveux.  Paris.  Masson, 
1914. 


LITERATüRVEKZEICHMs  139 


43.  Delacroix,    U.,    Anaivse   du    mysliciÄmo    de    Mino    Guyon,    Rev.   de    iiielaph.    el. 

mor.     1907,     i5. 

44.  — *     Lludes     d'histoire     t»l     ps^cholugie     du     myslicismc,     Paris,     V.     Alcan,     1908 
4'>.     Delbrück,  A.,  Die  paüiologisclu'  Lüge  und  die  psychisch  abnormen  Schwindler. 

Stuttgart,     1891,    Enko. 
4ti.     D  ö  n  y.    Über    Miaciiiustande,     Kongreßbericht    im    L'Encephaie.     4-     I909- 

47.  Dessoir,     M.,     Das     Doppelich,     Leipzig,     1890. 

48.  Dotlefsen,     Frederic,    Zur    Kasuistik    der    halluziiiaturischen    Cocain-Paraiioia, 

DLss.,    Berlin,    1890. 
48a.   1/ i  o  f  e  n  b  a  c  li  .    Johann.    Der    Hcxe4i\\;tlui    >x)r    und    nach    der    Glaubensspaltung 
in    Deutschland,    Mainz,   Kirchheim.    1886. 

49.  L)  i  1  t  h  e  V  ,     Dichterische     Einbildungskraft     und     Wahnsinn,     Leipzig,     Dunkrr  & 

Humblöt,   1886. 

r>o.  Dix,  K.  W..  Über  hysterische  Epidemien  an  deutschen  Schulen.  Langensal/.a. 
Beyer. 

5oa.   Dromard,    G.,    Le    d^lire    d'interpretation,    Joum.    de    Psychol.,    8.    191 1. 

5i.     Domrich.    Ottomar.    Die    psychischen    Zustände,    Jena,    Mauke.    1849. 

53.     Dreyfus,     Georges,    Über    nervöse    Dyspepsie.    Jena,     Fischer.     1908. 

53.  Drobisch,  Moritz  Wilhelm,  Empirische  Psychologie  nach  naturwissenschaft- 
licher   Methode.    2.    Aufl..    Hamburg.    Leipzig.    Voß.    1898. 

"»'4.  Dromard  et  Albes,  Essai  theorique  sur  l'illusion  dite  de  ,,fausse  recon- 
naissance",   Journal  de  Psychologie   normale   et   patholog.,   Paris.   Alcan,  2,   1905. 

55.  Drygalski.    E.    von.    Zum    Kontinent    des    eisigen    Südens,    Berlin,    1904. 
55a.  Dugas    et    Montier,    F..     La    depersonalisation    et    la    perception    int^rieure, 

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Z.    f.    angew.    Psychologie,    5,    191 1. 
6"!a.  — ,  Über    Makropsie    und    deren    Beziehungen    zur    Mikrographie    sowie    über  eine 

eigentümliche  Störung  der  Lichtempfindung,  Monatschr.  f.  Psychiatrie  u.  Neur., 

19,    1906. 
(}?.h.  — ,    Ein    weiterer    Beitrag   zur    Klinik    und   Pathogenese    der   hysterischen    Dysmega- 

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69.  — ,   Beiträge      zur     Religionspsychologie.     Übers,     v.     M.     Regel.     Leipzig,      Fritz 

Eckardt,    191 1. 

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und   therapeutische   Bedeutung,   Stuttgart.   Enke.  8./9.   Aufl..    1919. 
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140      GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

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sprechen,    Vergreifen    usw.),     2.    Aufl..     Berlin,     Karger,     1907. 

78.  — ,    Die    Traumdeutung,    2.    Aufl.,    Leipzig,    Wien,    1909. 

-n.     — ,    Vorlesungen    zur    Einführung    in    die    Psychoanalyse,    Leipzig,    Wien,    1916. 

80.  Friedmann,    Max,    Zur    Auffassung    und    zur    Kenntnis    der    Zwangsideen   und 

der  isolierten  überwertigen  Ideen.  Z.  f.  d.  ges.   Neurol.  u.  Psychiatrie,  21,  igiA- 

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H.  6  u.  7,    Wiesbaden,    Bergmann,    1901. 
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82.  Friis,    Achton,    Im    Grönlandseis    mit    .Mylius    Erichsen,    Leipzig,    1910. 

83.  Fuchs,    Arno,    Schwachsinnige    Kinder,    2.    Aufl.,    Gütersloh,    Bertelsmann,    1912. 
83a.  F  u  c  h  s,     Wilhelm,     Untersuchungen     über     das     Sehen     der     Hemianopiker    und 

Hemiamblyopiker,    Z.  f.  Psychologie,    84,     1920,    und    86,     1921. 

8/4.     Gaspero,     H.    di,     Hysterische    Lähmungen,     Berlin,     Springer,     1912. 

85.  Gaupp,    Robert,   Über  den    Selbstmord,    Verlag  der  Ärztl.    Rundschau,   München, 

1910. 
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kl,   1918. 

88.  — ,  und     Gelb,     Psychologische    Analysen    himpathologischer     Fälle    auf    Grund 

von    Untersuchungen    Himverletzter,    II,   Z.    f.    Psychol.,   83,    1920. 

89.  — ,  Kurt,    Die    Halluzination,    ihre    Entstehung,    ilire    Ursachen    und    ihre    Realität, 

Wiesbaden,    Bergmann,    191 2. 

90.  — ,  Kurt,    Weitere    Bemerkungen    zur    Theorie    der    Halluzinationen,    Z.    f.   d.    ges. 

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92.  Gregor,   Adalbert,   Zur   Kenntnis   des   Zeitsinnes   bei  der   Korsakoff  sehen  Geistes- 

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LI  TEKiVTURVEItZEICHNlb  141 


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110.  Hellwig,    Albert.    Gesundbeten    und    andere    mystische    Heilverfahren,    Leipzig, 

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112.  — ,    Beiträge    zur    Psychologie   des    Doppelichs.     Z.    f.    Psychol..    49.    1908. 
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to    trace    such    illusions    to    their    physical    causes),    2.    Aufl.,    Edinburgh,    1825. 

120.  Ililbert,     R.,     Über     Störungen     des     Farbensinnes     im     Gefolge     interner    Er- 

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121.  — ,    Über    pathologische    Farbenempfindungen    infolge    von    chirurgischen    Erkran- 

kungen.   Klin.    Monatsbl.    f.   Augenheilkunde,    47,    1909- 
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123.  H  i  r  s  c  h  1  a  f  f ,    Leo,    Hypnolismus    und    Suggestivtherapie.    Leipzig,    Barth.    i9o5. 
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125.  Horstmann,    Wilhelm,    Zur    Psychologie    konträrer    Strebungen.    Z.    f.    d.    ges. 

Neurol.    u.    Psychiatrie,    25,    1914. 

126.  Hudtwalcker.    M.    H.,    Über   den    Einfluß    des    sogenannten    Mystizismus   und 

der  religiösen  Schwärmerei  auf  das  Überhandnehmen  der  Geisteskrankheiten 
und  des  Selbstmordes,  besonders  in  Hamburg.  H.s  kriminalistische  Beiträge, 
3,    1827. 


142  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    AßiNQRAlEIM 

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120.      Husserl,    Edmund.    Logisclie    Untersuchungen,    Halle,    Niemeyer,    2.   Aufl.,    igiS, 

2  Bde. 
129.     J  a  c  ü  b  i ,    W.,    Die    Ekstase    der    alttestameotlichen    Propheten,    München,    Wies- 
baden.   Bergmann,    1920. 
i3o.     James,     W.,     Grundzüge     der    Psychologie,     Neuyork,     1890,     Deutsch,   Leipzig, 

Quelle    &    Meyer,    1909. 
i3i.     — ,  Die    religiöse    Erfahrjmg    in    ihrer    Mannigfaltigkeit,     Übers,     v.     Wobbermin, 

Leipzig,    Hinrichs,    1907. 
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i33_     ,    Pierre,   L'automalisme   psychologique,    Essai  de   psycho!,    exper.   sur  les  formes 

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x34.     — ,    Pierre,    L'Etat    mental    des    hysteriques.    2.    Aufl.    Paris.     Vbv^n,     19 ti. 
i35.     — ,    Pierre,    Le    renversement    de    l'orientation    ou    rallochirie    .les    represenhations, 

Joum.    de    psychologie    normale    et    patholog.,    5,    1908. 
i36.     — ,  Pierre,  A  propos  du  ..deja  vu ",  Journ.  <ie  Psychologie  normale  et  pathologir[ue, 

2,    1905. 
137.     — ,  Pierre,   Les   obsessions   et   la   psychasthönie,  Paris,    F.   .\lcan,    1908,    2   Bde. 
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189.     — ,    Die    Trugwahmehmungen,    Z.    f.    d.    ges.    Neurol.    u.    Psychiatrie,    Referaten- 
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Z.   f.   d.   ges.   Neurol.    u.    Psychiatrie,  6.    1911. 
i4i.     — ,  Über     leibhaftige     Bewußtheilen     usw.,     Z.     f.     Pathopsychologie.     2,     Leipzig, 

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LlTKlLVTLKVEK/tUllMS  145 


3  13.      Mo  5  im  an,     Eddison,    Das    Zuiigeureden    g<;srluciitli('h     und     psjrhologiscli     unter- 

.sutJil,  Tül)ingoii,  J.  C  B.  Molir,   i^ii. 
3i3.     Mossior.     G.,     Suldat     et     trappisle.      Eliidc     il'aiiu-     pax     un     pere     de     l'ordre 

des   trappisIc.H,    Paria,    1917    (niclil   selbst    eiiigi-sclien). 
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I.    19"- 
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tischen   Kryptographie,    Jahrb.    f.    psychoanalyt.    Forschungen,    3,    191 1. 


10    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


,46  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

a3qa.   Pick,     A.,     Über     Störungen     der     Orientierung    am     eigenen     Körper,    Arbeiten 

aus   der   deutsclien   psychialr.    Univ.-Klinik   in    Prag.    Berlin.    1908. 

.j[]n\).  Zur    Symptomatologie    des    atrophischen    Hinterhauptlappens,    Ebenda. 

jAq      '    \u5    dem    Grenzgebiet    zwischen    Psychologie   und   Psychiatrie,    Fortschritte   der 

Psychol.,    n,    Leipzig,    Berlin.    Teubner.    igi^- 
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a^5_     ,  Zur  Phänomenologie  abnormer  Glücksgefühle,  Z.  f.   Pathopsychologie,  3,   1917. 

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259.  — ,    Über    das    Fehlen    der    Wahrnehmung    der    eigenen    Blindiieit    bei    Hirnkrank- 

heiten,   Jahrb.    f.    Psyclüatrie.    29,    1909. 

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ohne  Jahr. 

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10« 


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304.  Stauffenberg,    Wilh.    v..    Über    Seelenblindheit    (Optische    Agnosie),    Wies- 

baden,  Bergmann,    191 3. 

305.  S  t  e  1  7.  n  e  r,   Helene  Friederike,  Analyse  von  200   Selbstmordfällen,  Berlin,  Karger, 

1906- 
3o5a.  Stern,    Felix,    Beiträge    zur    Klinik    hysterischer    Situationspsychosen,    Archiv  f. 

Psycliiatrie,   5o,    igiS. 
3o5b.  Stern,      Erich.      Experimentell-psychologische     Untersuchuiigen      an     Gehimver- 

letzten,    Journ.    f.    Psycho!,    u.    Neur.,    20,    1917. 
3o5c.    Sternberg,  W.,    Das  Krankheitsgefühl,  Pflügers  Archiv  f.  d.  ges.  Physiologie, 

i34i    1910. 

306.  Stier,   Ewald,   Wandertrieb  und   pathologisches   Fortlaufen    bei   Kindern,   Fischer, 

Jena,    igiS. 

307.  Stöcker,  Wilhelm,  Über  Genese  und  klinische  Stellung  der  Zwangsvorstellungen, 

Z.   f.   d.   ges.    Neur.   u.   Psychiatrie,   23,    igih- 

308.  Stoffel  s,    Joseph,    Die    Angriffe    der    Dämonen    auf    den    Einsiedler   Antonius, 

Theologie   und   Glaube,   2,    1910. 
009.     Stoll,    Otto,    Suggestion    und    Hypnotismus    in    der    Völkerpsychologie,    Leipzig, 

Köhler,    1894,    2.    Aufl.,    igo/j. 
3 10.     Störring.    Gustav,     Vorlesmigen    über    Psychopathologie,    Leipzig,    Engelmaxin, 

3n.  Strümpell,  Adolf,  Über  das  Zeitbewußtsein  und  über  eine  eigentümliche 
Wahnbildung  des  Zeitbe\^aIßtseins  bei  schweren  Typhuskranken,  Neurol.  Zentralbl., 
38,    1919. 

3i2.     Strümpell,    L.,    Die    Natur   und    Entstehung   der   Träume,   Leipzig.    Veit,    1874- 

3i2a.  Stumpf,  C,  Akustische  Versuche  mit  Pepito  Arriola,  Z.  f.  angew.  Psychologie. 
2,    1909. 

3i3.  — ,  Empfindung  und  Vorstellung,  Abhandl.  d.  K.  Preuß.  Akademie  d.  Wissen- 
schaften,    19 18. 

3i3a.  Tiesmeyer,  L.,  Die  Erweckungsbewegung  in  Deutschland  während  des  19.  Jahr- 
hunderts,   Kassel,     Böttger    (nicht    selbst    eingesehen). 

3i4.  Tischner,  Rudolf,  Einfühning  in  den  Okkultismus  und  Spiritismus,  München. 
Wiesbaden,    Bergmann,    192 1. 

3i5.     — ,    Über   Telepathie   und    Hellsehen.    München,    Bergmann,    1920. 

3i5a.  Tuczek,  Karl,  Analyse  einer  Katatonikersprache.  Z.  f.  d.  ges.  Neur.  u.  Psy- 
chiatrie,   72,    192 I. 

3i6.     Tuke,    Hack    D.,    Geisl    und    Körper.    Jena.    Fischer.    i888,    übers,    v.    Kornfeld. 

317.     Vierordt,    Karl,    Der    Zeitsinn,    Tübingen,    H.    Lauff.    1868. 


LITERATURVERZEICHNIS  149 


3i8.      Vi  sc  her,     A.     I...     Zur     Psvchülogii-     der     Übergangszeit,     Basel,     Kol)er,     igi'J 

iig.     — ,    Die    Staclieldrahtkmnklii'it.    Zürich,    Rascher    &    Co.,    1918. 

320.     Vogt,    H.,    und    \Ve>gandt,    W.,    Handbuch    der    Erforschung    und    Fürsorge 

de.s    jugtfidlichen    Scliwachsinns,    Jena,    Fischer,    bisiier    a    Hefte. 
Sai.      Vorbrodl,    Gustav,    Flourtio\s    Scherin    \im    (jcnf    und    die    Ruligionspsjrchologie. 

Leipiig,    Felix    Meiner.    191 4. 
023.      W  a  g  n  e  r  -  J  a  u  r  cg  g  .      Julius,      Über      Suggestion,      Hypnose      und      Telepathie, 

Wiener    mediz.    Wociienschr..    1919,    Nr.    27    u.    28. 
3aaa.    Waldstein.    Louis.    Das    untcrbewußl«-    Ich    und   .sein    Verhältnis    zu    Gesundheil 

und    Erziehung.    Wiesbaden.    Bergmann,     1908. 
3a3b.    W  a  r  1  o  m  o  n  t  .     Ix)uise     Lateau.     Rapport     niedic^il     sur    la     Stigmatis^    de     Bois 

d'Haine.     Bruxelles,     Miiquardt.     1875. 
3i3.     Wasielewski,   Waldemar  v.,  Telepathie   und   Hellsehen.   Halle,  Marhold,    1921. 
32^-      Wevgandt,    W..    Idiotie    und    Imbe/ilUtät,    Handbuch    der    Psychiatrie,    Leipzig. 

Wien,  Deuticke.    I9i5. 
3a5.     — ,    Beitrag    zur    Lehre    von    den    psychischen    Epidemien,     Halle,     1905,    Marhold. 

326.  Wilmanns,     Karl.      Die    leicliten     Fälle     des     manisch     depressiven      Irrescin.s 

(Zyklothymie)     und     ihn>     Beziehungen     zu     Störungen     der     Verdauungsorgane, 

Leipzig,    1906. 
326a.  — ,    über    Gefängnispsychosen.    Halle,    Marhold,     1908. 
326b.   — ,    Die    Psychopathien,    Handbucii    der    Neurologie,    5,    1914. 
3a6c.    Witry,    Theodor.    Über    die    Dauer    von    Halluzinationen,    Schweizer    Archiv  f. 

Neur.   u.   Psychiatrie,  8,    192 1. 

327.  Wizel,    Adam,    Ein    Fall    von    phänomcnaloni    Rechenlalent   bei    einem    Imbecillen, 

Arch.   f.   Psychiatrie.  38,    190^. 

328.  Wollenberg,    Robirt,   Ül>er  psyctiische   Infektion.   Archiv  f.    Psychiatrie,    1920. 

329.  Zoepf,    Julius,    Die    Mystikerin    Margareta    Ebner,    1291 — i35i.    Berlin.    Leipzig. 

Teubner,    191 4- 


Die  Pathographien,  die  es  sich  zur  Aufgabe  machen,  die  Persönlichkeit  be- 
deutender Menschen  auf  abnorme  Züge  zu  untersuchen,  sind  hier  gesondert 
aufgeführt.  So  wenig  die  meisten  unter  ihnen  befriedigen  —  die  Verfasser, 
besonders  Moebius,  hüten  sich  selten  vor  den  ungeniertesten  Werturteilen  — , 
hielt  ich  es  doch  für  empfehlenswert,  als  Material  für  den  psychologischen 
Forscher  alles  zusammenzustellen,  was  ich  fand. 


PATHOGRAPHIEN 

33o.     Abraham  ,    Karl,    Giovanni    Segantini,    Ein   psychoanalytischer  Versuch,    Leipzig. 

Wien,  Deuticke,   191 1. 
33i.     Albrecht,    Paul,    Fritz    Reuters    Krankheit,    Halle,    Marhold,     1907. 
33ia.   Bin  et  ,   Alfred,   et   Passy,   Etudes  de  Psychologie  sur  les  auteurs  dramatique$. 

L'annee   psychol.,    i,    1895. 

332.  Demole,    V.,    Analyse    psychiatrique    des    confessions    de    Jean  Jacques  Rousseau. 

Schweiz.    Axch.    f.    Neur.    u.    Psychiatrie,    2,    igi8. 
332a.   Dupre,    La    folie    de    Charles    VI.,    Revue   scientifique,   Janv.    1911    (nicht    selbst 
eingesehen). 

333.  Ebstein,     Erich,     Chr.     D.     Grabbes     Krankheil.     München,     Reinhardt,     1906. 
33'».     Ebstein,    Wilhelm.    Dr.    Martin    Luthers    Krankheiten,    Stuttgart,    Enke,    1908. 

335.  — ,   Artur   Schopenhauer,   Stuttgart,   Enke,    1907. 

336.  Feis,    Oswald,    Hector    Berlioz,    Wiesbaden,    Bergmann,    191 1. 

337.  Freimark,     Hans,    Tolstoi     als     Charakter,     Wiesbaden,     Bergmann,     1909. 

338.  — ,  Robespierre,  eine  historisch-psychologische   Studie.  Wiesbaden,  Bergmann,    igiS. 


150  GRUHLE:    PSYCHOLOGIE    DES    ABNORMEN 

338a.  G 1  a  g  a  u  ,    Hans,    Die    moderne    Selbstbiographie    als    historische    Quelle,    Marburg, 

El  wert,    1903    (Rousseau,    Goethe,    Moritz,    Marie    Roland). 
338L.  Gurrier,     P.,     Etüde     med.-ps.     sur    Thomas    de     Quincey,     Lyon,     Rey,     kjoS 

(nicht   selbst   eingesehen). 
338c.    Hell  p  ach,   Willy,   Zur   pathographischen   Diagnose  über   C.   F.   Meyer,  Zentral- 

blatt    f.    Nervenheilkunde    u.    Psychiatrie,    32,    190g. 
338d.  Heß,    Eduard,    Über    Konrad    Ferdinand    Meyer,    AUg.    Zeitschrift    f.    Psychiatrie, 

58,    1901. 
338e.    Hinjrichsen,     Otto,     Sexualität     \ind     Dichtung.      Ein     weiterer     Beitrag     zur 

Psychologie    des    Dichters,    Wiesbaden,    Bergmann,    191 2. 
338f.    — ,    Zur    Psychologie   und    Psychopathologie    des    Dichters,    Wiesbaden,    Bergmann, 

»9"-  .  '       !  ■"'■■■:' il'liiJ 

339.  Hoffmann,   Rieh.  Adolf,   Kant  und   Swedenborg,   Wiesbaden,   Bergmann,    190g. 
339a.  J  a  c  o  b  i ,  Walter,  Das  Zwangsmäßige  im  dichterischen  Schaffen  Goethes,  Langen- 
salza,   Wendt    &    Klauwell,    191 5. 

340.  Jaspers,    Karl,    Strindberg    und    van    Gogh,    Leipzig,     Bircher,     1922. 
34i.     Jentsch,    Ernst,    Julius     Robert    Mayer,    Berlin,    Springer,     191 4- 

342.  — ,    Das    Pathologische    bei    Otto    Ludwig,    Wiesbaden,    Bergmann,    igiS. 

342a.  Joly,    H.,    La    folie    de    J.    J.    Rousseau,    Revue    phil.,    3o,     1890    (nicht   selbst 
eingesehen). 

343.  Kanngießer,     Friedr.,     Die    Pathographie    der    Julisch-Claudischen    Dynastie, 

Arch.   f.   Psychiatrie,   53,    1914. 
344-     Kielholz,    A.,    Jakob    Boehme,    Ein    patliographischer    Beitrag    zur    Psychologie 
der    Mystik,    Leipzig,    Wien,    Deuticke,    19 19    (psychoanalytisch). 

345.  Kowalewsky,    P.    J.,    Wahnsinnige    als    Herrscher    und    Führer    der    Völker, 

München,   Gmelin   19 10. 
345a.  Lagriffe,    Lucien,    Guy    de    Maupassant,    Etüde    de    Psychologie    pathologi(|ue,. 
Annales    med.-psych.,    1908,    9.    Serie    8.    Bd.,    10.    Serie    9.    Bd. 

346.  Lange,    Wilh.,    Die    Psychose    Maupassants,    Ein    kritischer    Versuch,    Zentraibl. 

f.    Nervenheilk.    u.    Psychiatrie,    32,    1909. 
346a.  — ,    Konrad    Ferdinand    Meyer,    Eine    pathographische    Skizze,    Zentralbl.    f.    Neu- 
rologie,   32,    1909. 

347.  — ,    Hölderlin,    Eine   Pathographie,    Stuttgart,    Enke,    1909. 

348.  Margis,    Paul,    E.    T.    A.    Hoffmann,    Eine    psychographische    Individualanalyse, 

Leipzig,    Barth,    191 1. 
348a.  Mariani,     C.     E.,     L.     N.     Tolstoi,     Studio     psicologico,     Tinin,     Bocca,     igoä 

(nicht    selbst    eingesehen). 
348b.  Masoin,     E.,     Etüde     m6d.     sur     Chateaubriand,     Bull.     acad.     roy.     de     med., 

Belg.,    22,    1908    (nicht   selbst    eingesehen). 

349.  Möbius,    P.    J.,    J.    J.    Rousseaus    Krankheitsgeschichte,    Leipzig.    Barth,    1898. 

350.  — ,    Über    das    Pathologische    bei    Goetlie,    Leipzig,    Barth,     1898. 
35i.     — ,    Über    Schopenhauer,    Leipzig,    Barth,    1899. 

352.  — ,    Über    das    Pathologische    bei    Nietzsche,    W^iesbaden,    Bergmann,    1902. 

353.  — ,    Goethe,    2    Teile,    Leipzig,    Barth,    igoS. 

354.  — ,   Über    Scheffels    Krankheit,    Halle,    Marhold,    1907. 

354a.  — ,    Über    Robert    Schumanns    Krankheit,    Halle,    Marhold,     1906. 
354b.  — ,     G.     Th.     Fechners     Krankheitsgeschichte,     Neurol.     Beiträge,     Heft     2,     1894. 
354c.  Odinot,    R.,    Etüde    med.-psych.    sur    Alfred    de    Musset,    Lyon,    Storck,     1908 
(nicht   selbst   eingesehen). 

355.  Pascal,   Les   maladies   mentales   de   Robert  Schumann,   Journ.   de  Psychol.   norm. 

et    Pathol.,    5,    igo8. 

356.  P  f  i  s  t  e  r ,     Oskar,     Die     Frömmigkeit     des     Grafen     Ludwig     von     Zinzendorff, 

Leipzig- Wien,    Deuticke,    19 10    (psychoanalytisch). 

357.  Praetorius,    Niima,    Das    Liebesleben    Ludwigs    XHL    von    Frankreich,    Bonn, 

Markus  Weber,  1920. 

358.  Probst,    Ferdinand,    Edgar    Allan    Poe,    München,    Reinhardt,     1908. 

359.  Rahmer,    S..    August    Strindberg.     Eine    pathologische    Studie,    München,    Rein- 

hardt,   1907. 


LITERATURVERZEICHNIS 151 

33<4a.  Reichet,  G..  Zinrendorffs  Fröiniiiigkeit  im  Licht  der  Psychoanalyse.  Tübingeti, 
Mohr,    igil. 

36o.  Sadgcr.  J.,  Aus  dem  Liebeslebeii  Nicoiaus  Lenaus,  Leipzig,  Wien,  Deuticke. 
1909   (psychoanalytisch). 

061.     — ,   Heinnch    von    Kleist,    Wiesbaden.    Bergmann,    igio   (psychoanalytisch). 

362.     — ,  Friedrich    Hebbel,    Ein    psychoanalytischer    Versuch,    Wien,   Deuticke,    1920. 

So-"».  — ,  Konrad  Ferdinand  Meyer.  Eine  palliographisch-psychologischo  Sludie,  Wies- 
baden,   Bergmaiui,     1908. 

364.  Schweitzer,  Albert,  Die  psychiatrische  Beurteilung  Jesu,  Tübingen,  Mohr,  1918 

(dort    auch    weitere    Literatur    zu    diesem    Problem). 

365.  8  egal  off,   Tim.,   EHe    Krankiieit   Dostojewskys,    München,    Reinhardt,    1907. 

366.  Seeligmüller,   Adolf,   War   Paulus    Epileptiker?    Leipzig,  J.  C.  Hinrichs,  loio. 
56<)a.  Storch,    Alfred,    August    Strindberg    im    Lichte    .seiner    Selbstbiographie,    Wies- 
baden,    Bergmann,     1921. 

366b.  Toulouse,  E..  Enquete  medico-psychol.  sur  les  rapporls  de  ia  superiorit«* 
intellectuelle  avec  la  n^vropathie,  I.  Introduction  generale.  Emile  Zola,  Paris, 
Flamraarion.    1896. 

367.  Vorberg,  Gaston,  Guy  de  Maupassants   Krankheit,   Wiesbaden,   Bergmann,   1908. 
.>68.     Weich  br  od  t,  R.,  Der  Dichter  Lenz,  Arch.  f.  Psychiatrie,  62,  1920. 

369.  Weiß,  E.,  Psychologische  Streifzüge  über  Oskar  Wilde,  Leipzig,  Apian-Bennevitz, 

1908   (nicht  selbst  eingesehen). 

Nach  Abschluß  der  Revision  erschien : 

370.  Schneider,   Kurt,   Der  Dichter  und  der  Psychopathologe.    Mit  einem   Literatur- 

nachweis,   Köln,    Rheinlandverlag,    1922. 


KRIMINALPSYCHOLOGIE 


VON 
M.  H.  aÖRING 


lOa 


EINLKITUNG 

Die  Kriminal  Psychologie  kann  man  zurückverfolgen  bis  zum  B^un 
tle^  iS.  Jahrhunderts  (i34,  l\2S).  Feuerbach  hat  ihren  Wert  schon 
erkannt  (SSg),  doch  versuchte  er  noch  nicht,  sie  systematisch  zu  ver- 
arbeiten. Den  Hauptaufschwung  nahm  sie  durch  den  Grazer  Straf- 
rechtslehrer Hans  Groß,  der  in  seinen  Arbeiten  und  in  dem  von  ihm 
herausgegebenen  Archiv  inuner  wieder  auf  ihre  Wichtigkeit  hinwies,  und 
die  Literatur  und  seine  eigenen  Erfahrungen  schließlich  in  seinem  Werke 
„Kriminalpsychologie'"    verarbeitete    (i3/i). 

Das  Wort  Kriminalpsychologie  hat  verschiedene  Bedeutung.  Die  einen 
verstehen  unter  ilir  nur  die  Lehre  von  dem  Seelenleben  des  Verbrechers 
und  behandeln  sie  als  Unterabteilung  der  Kriminalanthropologie  (io4, 
383).  Andere  fassen  das  Gebiet  viel  weiter  und  rechnen  dahin  ,,alle 
Lehren  der  Psychologie,  welche  der  Kriminalist  bei  seiner  Arbeit  not- 
wendig hat"  (i33,  399).  So  kommt  Groß  dazu,  die  Kriminalpsychologie 
in  einem  vorläufigen  Schema  der  Kriminologie  (i33)  an  drei  ver- 
schiedenen Stellen  zu  benennen ;  wir  finden  die  objektive  Kriminal- 
psychologie unter  der  Kiiminalanthropologie,  die  soziale  unter  der 
Kriminalsoziologie  und  die  subjektive  unter  der  Kriminalphänomenologie; 
außerdem  enthalten  die  Untersuchungskunde  und  der  zweite  Teil  der 
Kriminalpolitik,  die  Pönologie,  ungenannt  noch  Abschnitte  der  Kriminal- 
psychologie. Nach  Schneickert  (423)  müßte  dem  heutigen  Bedürfnis 
entsprechend  ein  vollständiges  System  der  Kriminalpsychologie  folgende 
Gebiete  umfassen:  die  Psychologie  der  Aussage,  des  Verbrechers,  des 
Verbrechens  und  der  Urteilsfindung. 

Im  Rahmen  eines  Handbuches  der  vergleichenden  Psychologie  erscheint 
es  nicht  zweckmäßig,  in  dem  Band,  der  von  dem  abnormen  Bewußtsein 
handelt,  die  Psychologie  des  Richters  imd  des  Zeugen  aufzunehmen; 
sie  wird  daher  nur  so  weit  berührt  werden,  als  sie  in  Beziehimg*  steht 
zur  Psychologie  des   Verbrechers. 

Bevor  wir  auf  unser  Thema  eingehen,  müssen  kurz  die  Mittel  be- 
sprochen werden,  die  uns  befähigen,  die  Psyche  des  Verbrechers  kennen- 
zulernen. 

Als  erstes  kommt  die  Verwertung  der  philosophisch  gerichteten  Psycho- 
logie in  Betracht.  Es  hat  sich  aber,  besonders  auf  dem  XII.  Kongreß 
der  J.  K.  V.,  gezeigt,  daß  seitens  der  Juristen  der  Wert  dieser  Psychologie 
für  Juristen  nicht  hoch  angeschlagen  wird.  Auf  dem  genannten  Kongreß 
haben  sich  besonders  van  Hamel  jim.  und  Hoff  ding  (336)  ihr  gegen- 
über durchaus  ablehnend  verhalten.  Mezger  (336)  will  lediglich  das 
induktiv  gesammelte  Material  zu  wissenschaftlicher  Betrachtungsweise, 
zur  Gewinnung  allgemeiner  Typen  und  Gesetze  heranziehen;  dagegen 
glaubt  er,  von  der  theoretischen  Psychologie  keine  wesentlichen   Vorteile 

lOa* 


156  GORIJNG :  KRIMINALPSYCHQLOGIE 

erhoffen  zu  dürfen.  Damit  ist  natürlich  nicht  gesagt,  daß  man  diese 
gänzlich  unberücLsichtigt  lassen  soll.  Aschaffenburg  (i5),  Hellwig  (17/4) 
und  Münsterberg  (35/i)  haben  recht,  wenn  sie  behaupten,  daß  die  philo- 
sophisch gerichtete  Psychologie  durch  die  Erfahrungspsychologie  nicht 
ersetzt  werden  könne,  imd  Otto  Lipmann  (298)  meint,  die  theoretische 
Psychologie  müsse  erörtert  werden,  um  die  angewandte  verstehen  zu 
können. 

Ein  heftiger  Kampf  entbrannte  um  die  Frage  nach  der  Brauchbarkeit 
der  Statistik.  Von  Aschaffenburg  (ili),  Wulffen  (5o2)  u.  a.  wurde  sie 
in  ausgiebigster  Weise  benutzt,  Ijcsonders  zur  Feststellung  des  sozialen 
Einflusses.  Der  eifrigste  Verfechter  für  ihre  Verwendung  ist  Greorg 
V.  Mayr  (33o).  Ihm  ist  Hoegel  entgegengetreten  (.201,  202);  er  weist 
auf  die  Fehlerquellen  hin,  ohne  damit  die  Kriminalstatistik  ganz  und 
gar  zu  vei'werfen,  ein  Standpunkt,  den  auch  Hurwicz  (282)  einninunt. 
Zweifellos  kann  die  Statistik  der  Kriminalpsychologie  große  Dienste» 
leisten:  mu-  darf  man  nicht  zu  viel  von  ihr  verlangen.  Einmal  darf 
man  nicht  vergessen,  daß  sich  viele  Tausende  der  Bestrafung  und  somit 
auch  der  Statistik  entziehen  (i85),  und  zweitens  kann,  me  Wassermann 
treffend  sagt  (485),  idie  Kriminalstatistik  nur  eine  Wissenschaft  sein, 
die  die  Wirklichkeit  schildert,  wie  sie  ist;  sie  kann  im  besten  Fall 
ein  Bild  von  Partialiu-sachen  geben,  aber  nie  ein  vollständiges  Bild  des 
Ablaufs. 

Unter  Berücksichtigung  der  genannten  Einschränkung  wird  man  die 
Kriminal  Psychologie  immer  weiter  ausbauen  müssen.  Leider  ist  die 
Anregimg  Hellwigs  (166)  zu  einer  Statistik  der  Beweggründe,  die  auch 
V.  Mayr  empfiehlt  (33o),  während  v.  Inama-Sternegg  sie  für  midurch- 
führbar  hält  (234),  noch  nicht  auf  fruchtbaren  Boden  gefallen.  Natürlich 
könnte  es  sich  bei  dieser  Statistik  nur  um  eine  Erfassung  konkreter 
Motive,  nicht  um  eine  statistische  Eigenart  der  Individualität  des  Täters 
handeln  (23i). 

In  erster  Linie  muß  sich  die  Kriminalpsychologie  der  Biologie  als 
Hilfswi^enschaft  bedienen,  worauf  schon  Kafka  in  der  Einleitung  hin- 
gewiesen hat.  Dieses  ist  mu-  möglich  durch  gründliche  Bearbeitung 
von  Einzelfällen.  Schon  vor  fast  200  Jahren  haben  Pitaval  (38o)  und 
etwas  später  Feuerbach  (87)  Schilderungen  von  Einzelfällen  gegeben; 
sie  hielten  sich  aber  mehr  an  das  juristisch  Interessante.  Erst  in  neuerer 
2^it,  nachdem  man  erkannt  hatte,  daß  die  Statistik  nicht  alle  Wünsche 
erfüllen  konnte,  wandte  man  sich  wieder  der  Bearbeitung  der  Einzelfälle 
zu  (243);  vor  allem  haben  Sommer  (448)  und  in  jüngster  Zeit  Grüble 
und  Wetzel  einen  besonderen  Wert  auf  die  Bearbeitung  des  Einzelfalles 
gelegt  (149.  147,  493);  von  Münsterberg  wird  sie  für  die  gesamte 
Psydiotechnik  verlangt  (354).  Dabei  handelt  es  sich  aber  nicht  so  sehr 
um  eine  Beschreibung  der  Tat  und  der  für  den  Juristen  wichtigen 
Umstände  zum  Ergreifen  des  Täters,  sondern  um  eine  exakte  Beschreibung 
des  einzelnen  psychischen  Vorgangs  im  Verbrecher  und  der  kriminogenen 
Würdigui^  des  psychischen  Einzelvorgangs,  woraus  nach  Mezgers  Ansicht 
(337  a)  die  Kriminalpsydiologie  den  größten  Vorteil  f  iehen  wird.  In 
dieser  Hinsicht  könnte  die  Psychiatrie  für  die  Kriminal psychologie  vor- 


KIM.mi  \(. 157 

bildlich  sein  (5i7).  Sonuner  (449)  vcrlangU'  auf  dem  VII.  IiiUirnationaleii 
Kongreß  für  Kriminalpsychologie  die  Übertragung  der  MeÜiodik  der 
empirischen  Psychologie  luid  Psychiatrie  auf  <lie  Kriminalpsychologie. 
Es  sollen  die  Motive,  die  Denkweise,  die  Art  des  Zusamineidebens  und 
der  Organisation  sowie  die  Ursachen  der  Verbn^Jicn  auf  analytischer 
Grundlage  metliotüsch  erforscht  werden  (448).  Sommer  sowohl  wie 
Aschaffenburg  (i5)  empfehlen  die  Schaffung  kriminalpsychologischer 
Kliniken. 

Die  neu»»ste  Phase,  in  der  wir  uns  befinden,  ist  die  BearIxMtung  einzelner 
Verbrechen  in  größerer  Menge  (243);  es  handelt  sich  hier  also  um 
eine  Verquickung  von  Statistik  und  Einzelbearbeitungen,  um  eine  Indi- 
vidualstatistik.  Auf  Grund  der  Arbeiten  von  Passow  (874)  und  Wasser- 
mann (485)  hält  Wetzel  (494)  die  Bearbeitung  der  Einzelfälle  aus  den 
beiden  folgenden  Gründen  für  wichtig:  einmal  sollen  sie  als  Masse 
zur  Aufdeckung  allgemeiner  Ursachen  verhelfen  und  zweitens  der  Auf- 
stellung psychologischer  imd  psychopathologischer  Zusammenhänge  beim 
Zustandekommen  eines  Deliktes  dienen;  dabei  kann  dargetan  werden, 
wie  die  statistisch  erfaßten  Ursachen  bei  dem  Individuum  wirksam  ge- 
worden sind.  Diese  äußerst  nutzbringende  Verbindung  zwischen  Einzel- 
forschmig   und    Statistik    war    früher   schon    von    Groß    angeregt   worden 

(^39).    . 

Mit  dieser  Hervorhebung  der  Einzelforschung  soll  natürlich  nicht  gesagt 

sein,  daß  sie  auf  die  ganze  Allta^kriminalität  angewandt  werden  muß. 

Wetzel  selbst  erklärt    (494),    daß  bei   der  landläufigen    Kriminalität  die 

statistische  Methode  ausreichen   würde,   weil   es  hier  gelingen   würde,  die 

ursächliche    Bedeutung   statistisch    erfaßter    allgemeiner    Beziehungen    zu 

prüfen,  ohne  das  Einzeldelikt  des  einzelnen  Täters  zu  zergliedern. 


I.  DER.VERBEECHER  IN  SEINER  ENTWICKLUNGSZEIT 

Schon  bei  Besprechung  der  Statistik  als  Hilfsmittel  der  Kriminal- 
psychologie  wurde  darauf  hingewiesen,  daß  es  kaum  einen  Fall  gibt, 
in  dem  nur  eine  einzige  Ursache  wirkt.  So  stellt  auch  die  soziale  Straf- 
rechtsschule das  Verbrechen  als  gesetzmäßiges  Resultat  individueller  und 
sozialer  Faktoren  hin  (227),  und  Irk  (235)  nennt  die  Kriminalität 
eine  zusammengesetzte  Erscheinung,  das  Ergebnis  biologischer,  sozialer 
vuid  physikalischer  Komponenten.  Auf  letztere  wird  nur  kurz  einge- 
gangen, da  sie,  wie  wir  sehen  werden,  am  unwichtigsten  ist.  Wir  werden 
mit  der  Besprechung  der  endogenen  Komponente  beginnen. 

A.  DER  EINFLUSS  DER  VERANLAGUNG 

I.    Der   Einfluß    der  Rasse 

Die  Untersuchungen  über  die  Rasse  als  Kriminalitätsfaktor  sind 
schwierig,  da  weder  Sprache  noch  Staatsgebilde  für  die  Abgrenzung 
einer  Rasse  ausschlaggebend  sind  und  vielfach  eine  Mischung  der  Rasse 
stattgefimden  hat  (447).  Auch  steht  die  Bearbeitung  von  Einzelfällen 
und  deren  Vergleichen  sov\de  die  experimentelle  Untersuchung  der  Rassen 
noch  ganz  im  Anfangstadiiun  (354)-  Außerdem  muß  man  inouner 
daran  denken,  ob  es  gerade  die  Rasse  ist,  die  gewisse  Eigenschaften 
hervorbringt,  oder  ob  nicht  vielleicht  das  Klima,  die  Ernährung  u.  a. 
auch  einen  wichtigen  Faktor  darstellen  (283).  Während  Kovalevsky  (270) 
die  Rasse  kaum  berücksichtigt,  hebt  Rüdin  (409)  ihren  Einfluß  besonders 
hervor.  Es  gibt  allerdings  Landstriche,  in  denen  unter  annähernd  gleichen 
Lebensbedingungen  Angehörige  verschiedener  Rassen  nebeneinander  leben, 
z.  B.  Arier,  Mongolen,  Neger  und  Indianer  in  den  Vereinigten  Staaten 
von  Nordamerika;  ihre  Kjiminalität  ist  auch  schon  verglichen  worden; 
die  Arbeiten  beruhen  aber  lediglich  auf  der  Statistik.  Fehlinger  hat  ge- 
funden (82),  daß  die  Kriminalität  bei  den  Negern  viel  größer  ist  als 
bei  den  Weißen,  aber  geringer  als  bei  den  Mongolen  vmd  Indianern; 
er  ist  sich  bewußt,  daß  neben  den  Rasseneigentümlichkeiten  auch  die 
wirtschaftliche  Lage  eine  Rolle  spielt;  er  hält  sie  aber  nicht  für  allein 
ausschlaggebend,  i  Sie  auszuschließen,  ist  jedoch  der  Statistik  nicht 
möglich.  Dazu  gehören  Einzelbeobachtungen,  die  uns  einstweilen  nicht 
zur  Verfügung  stehen.  Näcke  (358)  glaubt,  daß  man,  je  mehr  man  siöh 
mit  der  vergleichenden  Pathologie  und  Kriminalistik  der  Rassen  be- 
schäftige, um  so  mehr  finden  werde,  daß  die  Einwirkung  der  Rasse 
nicht  zu  unterschätzen  sei;  zu  solchen  Untersuchungen  sei  aber  erforder- 
lich, daß  man  zunächst  Genaueres  über  die  Methodik  einer  solchen 
Forschung     und     über     die     Fragestellung     festsetze,    anstatt     sich     in 


DER  EINFLliSS  DER  RASSK 159 

Slati&tikon  m  stürzen.    Beeondors  nachteilig  wirkt  die  Vormiftchung  hetero- 
gener Hassenelemente,  worauf   u.   a.    Weinberg  aufmerksam  gemacht  hat 

Innerhalb  der  Rasse  muß  man  Unterabteilungen  bilden.  Wir  wissen, 
daß  Germanen,  Romanen  und  Sla>\'en  ganz  anders  geartet  sind,  was  sich 
auch  in  ihrer  Kriininaiilät  widerspiegelt.  Man  lese  die  ArbiMten  der 
Italiener,  aus  denen  deutlich  hervorgeht,  welchen  Einfluß  der  Affekt 
auf  die  Handlungsweise  der  Italiener  ausübt;  Wulffen  meint,  daß  man 
Beispiele  von  gleichartiger  Affektwirkung  nur  ganz  selten  in  der  deutschen 
Praxis  finden  werde  (5o2).  Die  Mischungen  innerhalb  der  Lnterab- 
teihmgen  können  von  großem  Nutzen  sein,  wie  z.  B.  der  germanische 
Einschlag  in  Frankreich,  während  die  Slawenbeimischung  in  Ost-  un<l 
Mitteldeutschland  auf  die  Germanen  ungünstig  gewirkt  hat.  Die  Unter- 
schiede zwischen  den  Süddeutschen  tmd  Rheinländern  einerseits  und 
den  Norddeutschen  andererseits  sollen  auf  die  Beimischung  von  romani- 
schem und  keltischem  Blute  zurückzuführen  sein  (356  a).  Sicher  könnte  das 
Studium  der  Geschichte  über  den  Einfluß  der  Rasse  auf  die  Kriminalität 
noch  manchen  .\uf Schluß  geben. 

Am  schwierigsten  sind  die  Rassen  zu  beurteilen,  deren  Angehörige 
verstreut  zwischen  anderen  Rassen  wohnen,  besonders  die  .Juden  und 
die  Zigeuner.  In  der  Zeitschrift  für  Demographie  und  Statistik  der 
Juden  wurde  viel  über  die  Kriminalität  der  Juden  geschrieben,  ohne 
daß  man  zu  einem  endgültigen  Ergebnis  gekommen  wäre.  Es  gibt  zu 
viele  Bedingimgen,  die  mitsprechen;  so  haben  beispielsweise  Hoppe 
(212)  Tuid  Mönkemöller  (344)  die  Vermutung  ausgesprochen,  daß  die 
geringe  Verbreitung  des  Alkohols  eine  Ursache  für  die  geringe  Anteil- 
nahme der  Juden  an  der  Kriminalität  sei.  Während  in  der  letzten  Zeit 
de  Roos  (4o4)  der  Rasseneigentümlichkeit  eine  besondere  Bedeutung  bei- 
mißt, vor  allem  glaubt,  daß  nicht  der  Beruf  Ursache  der  Teilnahme  der 
Juden  an  gewissen  Delikten  ist,  sondern  daß  die  Berufswahl  und  diese 
Delikte  gemeinsame  Ursachen  in  der  Eigenart  des  jüdischen  Volkes  haben, 
meint  Wassermann  (484),  daß  die  Kriminalität  der  Juden  vor  allem  das 
Prodxdct  sozialer  Verhältnisse  sei,  daß  die  Kriminalität  der  Gesamtheit 
eines  Landes  der  Kriminalität  seiner  Juden  ähnlicher  werde,  je  mehr 
das  Land  Industriestaat  werde.  Dazu  würden  die  in  Amsterdam  gemachten 
Erfahrungen  stimmen;  dort  sind  die  Juden  meist  Feibrikarbeiter  und 
stellen  in  der  Kriminalistik  einen  hohen  Prozentsatz  bei  den  Körperver- 
letztmgen,  im  Gegensatz  zu  den  Juden  anderer  Länder,  die  meist  Händler 
sind  und  sich  mehr  an  Eigentumsdelikten  beteiligen  (5i4).  Auch  Franz 
V.  Liszt  (3o2)  steht  auf  dem  Standpunkt,  daß  die  Kriminalität  der 
Juden  keine  Rassen-,  sondern  eine  Berufskriminalität  sei.  Die  Frage 
nach  der  Erhöhung  der  Kriminalität  bei  Kindern  aus  christlich- jüdischen 
Mischehen  ist  bis  jetzt  nur  angeschnitten  worden  (32o) ;  sie  bedarf 
noch  weiterer  Bearbeitung. 

Nicht  so  schwer  wie  das  Studium  der  Juden  ist  das  der  Zigeuner, 
da  sie  ihre  Eigenart  bewahrt  und  sich  kamn  mit  der  seßhaften  Bevölkerung 
vermischt  haben.  Eine  Zusammenstellung  der  Literatur  findet  man  bei: 
Hellwig    (168),   der    vor   allem    auf   die   Eigentümlichkeit   der   Zigeuner,^ 


160  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


bei  Eigentumsdelikten  den  Aberglauben  der  Bevölkerung  auszunutzen, 
hingewiesen  hat.  Es  wäre  statistisch  falsch,  wollte  man  die  Straf- 
fälligkeit der  Zigeuner  zur  einheimischen  hinzurechnen,  da  es  sich  um 
einen  Volkstanmi  handelt,  dessen  Sitten  und  Anschauungen  in  denkbar 
schärfstem  Gegensatz  zu  jenen  der  Umgebimg  stehen  (202).  Leider 
fehlen  über  die  Zigeunerkriiminalität  noch  genauere  Untersuchungen. 

2.  Der  Einfluß  der  Familie 

In  die  Vererbung  von  Familieneigentümlichkeiten  ist  man  weiter  ein- 
gedrungen als  in  die  Übertragung  von  Rasseneigentümlichkeiten  auf  ein 
Individuum.  Gruhle  kommt  in  seinen  eingehenden  Untersuchungen  über 
die  Flehinger  Zöglinge  (ikS)  zu  dem  Ergebnis,  daß  bei  20  Prozent  der 
Verwahrlosten  die  Ursache  des  sozialen  Verfalles  ausschließlich  oder 
vorwiegend  in  der  abnormen  Artiuig,  in  weiteren  21  Prozent  allein  oder 
hauptsächlich  in  der  Anlage,  die  aber  nicht  als  abnorm  zu  bezeichnen 
sei,  zu  finden  sei.  Sommer  hat  betont,  daß  eine  Individualpsychologie 
mit  der  Familienforschung  untrennbar  verbunden  sei  (447)-  Er  hat 
darauf  hingewiesen,  daß  es  Verbrecher  gibt,  die  aus  einer  unbescholtenen 
Familie  hervorgegangen  und  doch  infolge  Vererbung  zum  Verbrecher 
geworden  sind.  Das  sind  die  Fälle,  in  denen  eine  in  der  Familie  zu  be- 
obachtende Anlage  aktiv  wird.  Sie  sind  besonders  wichtig,  weil  sie  in  der 
Regel  übersehen  werden.  So  manches  Rätsel  könnte  gelöst  werden,  wenn 
man  sein  Augenmerk  auf  den  Familiencharakter  richten  würde  (446). 
Zu  dieser  Gruppe  dürfte  der  von  mir  begutachtete  Frhr.  v.  C.  gehören, 
der  aus  idem  Kadettenkorps  entfernt  Averden  mußte,  eine  landwirtschaftliche 
Schule  ohne  Erfolg  besuchte,  vergeblich  sich  bemühte,  Offizier  zu  wer- 
den, mit  2  0  Jahren  ein  Vermögen  durchgebracht  hatte  und  sich  dann 
eine  große  Anzahl  Eigentumsdelikte  zuschulden  kommen  ließ.  Anderer- 
seits gibt  es  Familien,  in  denen  die  kriminelle  Veranlagung  so  ausge- 
sprochen ist,  daß  zahlreiche  Familienglieder  ihr  zum  Opfer  fallen.  Mendel 
hat  versucht,  Vererbungsgesetze  aufzustellen,  auf  deren  Bedeutung  für 
die  Familienforschung  Sommer  (447) >  ^^^  ^^®  Kriminalistik  Fehlinger 
(98)  hingewiesen  haben.  Es  wurden  zwei  ^\ege  eingeschlagen,  um  die 
hereditären  Verhältnisse  bei  den  Verbrechern  zu  studieren;  entweder 
prüft<^  man  die  Heredität  der  Insassen  einer  Strafanstalt  imd  baute 
darauf  eine  Statistik  auf  (i55),  oder  man  untersuchte  ganze  Verbrecher- 
familien (262).  Am  interessantesten  sind  die  Bearbeitungen  der  Familien 
Yuke  (76),  Kerangal  (22),  Zero-Markus  (248),  Viktoria  (345)  und  vor 
allem  Lundborgs  Werk  über  ein  2282  köpfiges  Bauerngeschlecht  (3i4), 
von  dem  er  aber  ausdrücklich  behauptet,  daß  man  es  keineswegs  als  Ver- 
brechergeschlecht bezeichnen  dürfe,  wenn  es  auch  auf  einem  recht 
niedrigen  moralischen  Niveau  stehe.  Sighele  (443)  hat  in  dem  italienischen 
Dorf  ,\rtena,  in  dem  die  meisten  Einwohner  miteinander  verwandt  sind, 
eine  6  fach  höhetre  Zahl  von  schweren  Verbrechen  gefunden  als  im 
übrigen  Italien.  Sowohl  bei  der  Untersuchung  der  Verbrecherfamilien  als 
auch  bei  der  Prüfung  der  Heredität  der  Anstaltsinsassen  fand  man,  daß 
die  verbrecherische  Neigung  und  die  Anlage  zu  Geisteskrankheiten  Hand 


DKR  EUSFLUSS  DER  FAMILIE 161 

in  Hand  gehen,  daß  also  eine  polymoq)he  Vererbung  vorliege.  Infolge- 
dessen ist  es  auch  verständlich,  daß  unter  Vererbung  verbrtxherischer 
Neigung  nicht  die  Nererbung  der  Fähigkeit  zu  verbrecherischen  Ent- 
schlüssen als  solche,  sondern  nur  die  Vererbung  von  Unregelmäßigkeiten 
in  der  Bildung  von  \N  illensentschlüssen  zu  verstellen  ist,  worauf  Rosenfeld 
aufmerksam  gemacht  hat  (4o6).  Es  hat  aber  den  Anschein,  als  ob  die*se 
Unregelmäßigkeit  nicht  eine  gänzlich  vage  ist,  sondern  als  ob  die  abnorme 
Bildung  von  Willensentschlüssen  in  manchen  Fällen  in  einer  bestimmten 
Richtmig  verläuft;  so  hat  z.  B.  Kurella  gefunden  (28/i),  daß  in  bestimmten 
Familien  die  Neigung  zu  gewissen  Delikten,  wie  Betrug,  Brandstiftung, 
Grausamkeiten  und  Sittlichkeitsverbrechen,  immer  wieder  auftritt. 

Bisher  wurde  angenommen,  daß  im  allgemeinen  das  Zentralnerven- 
system der  Träger  des  Vererbten  sei.  In  vielen  Fällen  trifft  dieses  auch 
zu ;  in  anderen  fehlt  aber  jeder  Anhaltspunkt  für  eine  solche  Annahme. 
Die  Forschungen  auf  dem  Gebiete  der  inneren  Sekretion  (35)  geben 
uns  ganz  neue  Gesichtspunkte,  die  für  die  Kriminalpsychologie  von  aus- 
schlaggebender Bedeutung  werden  können.  Es  darf  angenommen  werden, 
daß  gerade  die  Störungen  des  innersekretorischen  Systems  auf  die  Psyche 
des  Menschen  von  besonderer  Wichtigkeit  sind,  was  im  .\bschnitt  E 
noch  näher  dargelegt  werden  soll.  Auf  Grund  dieser  Forschungen  würde 
die  polymorphe  Vererbung  ohne  Zwang  ihre  Erklärung  finden,  zugleich 
aber  auch  die  Grenze  zwischen  Geistesstörung  und  Verbrechen  mehr  als 
bisher  verAvischt  werden. 

Besonderer  Beachtung  bedarf  die  Frage  nach  dem  schädigenden  Einfluß 
des  Alkohols  auf  die  Keimdrüse.  Rosenberg  (4o5)  hat  den  Einfluß  des 
Alkohols  auf  die  Nachkommenschaft  bei  den  Bürgern  eines  Dorfes  ge- 
prüft und  gefunden,  daß  bei  der  Deszendenz  von  Trinkern  Minderwertig- 
keit in  körperlicher,  intellektueller,  moralischer  und  ökonomischer  Rich- 
tung auftritt.  Fehlinger  (8^)  vertritt  nun  den  Standpunkt,  daß  der  Alko- 
holismus nicht  die  Entartung,  sondern  die  Entartung  den  Alkoholismus 
hervorruft,  bestreitet  allerdings  nicht,  daß  der  Alkoholismus  die  Ent- 
artung zum  Vorschein  zu  bringen  vermag.  Schallmayer  dagegen  hat 
darauf  hingewiesen  (4i5),  daß  der  Alkohol,  ebenso  wie  das  luetische 
Gift,  nicht  nur  die  wichtigsten  OrgEuie,  sondern  auch  die  Erbsubstanz 
schädige.  Zu  der  gleichen  Ansicht  kommt  Hoppe  auf  Grund  der  Sta- 
tistik (218)  und  seiner  Beobachtungen  an  Fürsorgezöglingen  (212);  er 
behauptet,  daß  nach  dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  nichts  sicherer 
sein  könne  als  die  degenerierende  Wirkung  des  Alkohols.  Eine  gute 
Übersicht  über  die  Bedeutung  der  elterlichen  Trunksucht  gibt  Gruhle  (i48). 
Sehr  schwer  ist  die  Frage  zu  beantworten,  ob  der  Rausch  zur  Zeit  der 
Zeugung  als  solcher  eine  degenerierende  Wirkung  auf  die  Nachkommen 
ausüben  kann.  Näcke  (Sog)  hat  mit  Recht  darauf  hingewiesen,  daß  diese 
Frage  noch  nicht  genügend  geklärt  ist  und  sehr  schwer  zu  klären  sein 
wird,  da  in  erster  Linie  das  Vorhandensein  des  Rausches  und  die  Tat- 
sache der   Zeugung  festgestellt  werden   muß. 


11    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


5g2  GÖRl-NG  :  KRIMINALPSYCHOLQGIP: 

3.    Alter  und  Geschlecht 

Die  Eigentümlichkeiten  des  Alters  und  des  Geschlechts  stehen  mit  der 
Entwicklung  der  Geschlechtsdrüsen  in  engster  Beziehung,  was  sich  auch 
heim  Begehen  von  Verbrechen  deutlich  zeigt.  Über  Verbrechen  im  Kindes- 
alter hat  MönkemöUer  ausführlich  berichtet  (346).  Vor  der  Pubertäts- 
zeit fehlt  es  dem  Kind  oft  an  ethischem  Bewußtsein.  Das  Affekt-  und 
Triebleben  mit  ihrem  kaum  zu  bezwingenden  Egoismus  herrschen  (5o3^. 
Es  fehlt  die  Überlegung.  Die  Delikte  sind  Augenblickshandlungen,  bei 
denen  die  Suggestion  eine  große  Rolle  spielt  (347),  ^  besteht  eine  be- 
sondere Neigimg  zum  Lügen  (3 17).  Während  der  Pubertätszeit  drängt 
in  dem  Jugendlichen  alles  nach  Neuem;  wie  im  Körper  (3 17),  so  geht 
auch  in  der  Psyche  eine  Änderung  vor;  es  beginnt  die  Koppelung  der 
Erotik  an  die  psychischen  Eigenschaften  (92).  Während  dieser  Über- 
gangszeil fehlt  dem  Kinde  der  nötige  Halt.  Die  Beeinflußbarkeit  kann 
noch  größer  sein  als  vorher.  Die  Gefühlslage  ist  sehr  schwankend  (32.5). 
Es  besteht  eine  Neigimg  zu  Unzufriedenheit.  In  der  Fremde  tritt  häufig 
Heimweh  auf  (242,  i34)-  Jaspers  (242)  vergleicht  das  jugendliche 
Wesen  mit  einer  Pflanze,  die  aus  dem  Boden  genommen  >vird;  nach 
Wulffen  (5o4)  läßt  sich  das  Heimweh  zuweilen  überhaupt  nicht  moti- 
vieren: es  kann  geradezu  im  Gegensatz  zu  den  häuslichen  Verhältnissen 
stehen.  Oft  ist  mit  ihm  Zorn  oder  Rache  verbunden.  Die  Tat 
wird  meist  unter  dem  Drang,  nach  Hause  zu  kommen,  ohne  Prüfung  der 
Folgen  begangen.  Erich  Stern  (53o)  stimmt  Hoffmann  (523)  darin  bei, 
daß  nicht  jeder  jugendliche  Verbrecher  ein  Psychopath  oder  Schwach- 
sinniger sei,  meint  aber,  daß  leichte  Intelligenzdefekte  bei  Fürsorgezög- 
lingen   und    jugendlichen    Kriminellen    doch    überaus    häufig    seien. 

Bei  der  senilen  Involution  wird  die  Psyche  in  zwei  Richtungen  ver- 
ändert: vorhandene  Charakterzüge  werden  intensiver,  neue  treten 
hinzu  (289).  In  mäßigem  Grade  werden  die  Eigenschaften,  die  man 
beim  Eunuchen  findet,  wie  Egoismus  und  Reizbarkeit,  angetroffen  (i34). 
Der  Geschlechtstrieb,  der  schon  gesch\\amden  war,  kann  wieder  auf- 
flackern, unter  Umständen  in  veränderter  Form   (364,  57). 

Nicht  nur  das  Alter,  auch  das  G^chlecht  übt  einen  bedeutenden  Ein- 
fluß auf  die  Kriminalität  aus,  was  in  der  Konstitution  und  Geschlechts- 
funktion des  Weibes  begründet  ist  (490,  342).  Kühlewein  charakte- 
risiert den  Unterschied  kurz,  aber  treffend  (282):  Das  Verbrechen  des 
Mannes  trägt  mehr  den  Stempel  des  Brutalen,  das  des  Weibes  mehr  den 
der  Unehrlichkeit  an  sich.  Eine  ausführlichere  Schilderung  der  Frauen- 
psyche finden  wir  bei  Wilh.  Liepmann  (298  a),  Möbius  (342)  imd  in 
speziell  kriminalpsychologischer  Hinsicht  bei  Groß  (i34)  sowie  vor  allem 
bei  Lombroso-Ferrero  (3 10).  Wulffen  (5o4)  u.  a.  haben  darauf  hin- 
gewiesen, daß  die  Sexualität  der  Frau  einen  besonderen  Einfluß  auf 
ihre  Kriminalität  ausübe;  ihre  Beurteilung  ist  aber  sehr  erschwert, 
weil  das  Sexuelle  bei  der  Frau  meist  versteckt  ist  (i34);  es  wirkt  nur 
unsichtbar.  Jaßny  (244)  will  in  den  Verbrechen  des  Weibes  ihre 
Schwäche  wiedererkennen,  die  ihr  einen  ehrlichen,  offenen  Streit  nicht 
erlaubt.     W^ichtig  sind  die  Beobachtungen,,  die  Bloch  während  des  Kriegen 


EXÜGK.NE  GIFIVVIHkl  NG  163 


gt  macht  liat  (/j/ia).  Er  fand,  dalS  eine  grolie  Anzahl  Delikte,  die  Iriiher 
mir  von  Männeni  begang<Mi  >\-iirden,  Frauen  ausführt^^n.  die  in  die  Stellen 
der  iMänner  eingerückt  waren.  Eine  besondere  lieachtung  verdienen  die 
mit  der  Menstruation  (^5)  und  der  Geburl  (^i)  einhergehenden  psychi- 
schen Veränderungen.  Wollenberg  (/199)  hat  auf  die  Launenhaftigkeit, 
die  gesteigerte  Reizl>arkcit,  Unverträglichkeit,  eifersüchtigen  Hegungen 
hinge\vies<ni.  Marx  (325)  will  vor  den  Menses  Triebhaltigkeil,  Ijinüd- 
barkeit,  gesteigerte:  und  venninderte  intellektuelle  l^istimgsfähigkeil  Ix'- 
obachtet  haben.  Triebartigt>^  Handlungen  und  Affektentgleisungen  finden 
wir  vor  allem  auch  vor  und  nach  der  Geburt   (39). 

Die  Psyche  des  Homosexuellen  ähnelt  der  des  Weibes,  was  auch  Urninge 
zug^;'d>en :  auch  bei  ihnen  finden  wir  das  Unaufrichtige  als  hervor- 
stechendes  Merkmal    (/jiS). 

B.    EXOGENE   GIFTWIRKUNG 

Eine  sehr  bedeutende  Rolle  unter  den  für  Verbrechen  in  Betracht  kom- 
menden Bedingungen  spielen  Gifte,  welche  die  Psyche  des  Menschen  so 
ujigünstig  beeinflussen,  daß  die  zum  Verbrechen  treibenden  Eigenschaften 
die   Vorherrschaft  erlangen. 

An  erster  Stelle  ist  der  Alkohol  zu  nennen.  Er  ruft  allmählich  eine 
sittliche  Verrohung  hervor  (271),  die  zu  den  schwersten  Konflikten  mit 
dem  Strafgesetz  führt.  Zwei  Umstände  sind  es,  die  so  verheerend  wirken: 
die  immer  mehr  sinkende  Widerstandskraft  und  der  stets  zunehmende 
Drang  nach  alkoholischen  Getränken.  Seitens  der  Gießener  Klinik  wTirde 
ein  Alkoholist,  K.,  begutachtet,  der  aus  guter,  allerdings  verarmter  Familie 
stammte  und  infolge  dauernden  Alkoholmißbrauches  so  verkommen  wai', 
daß  er,  um  Geld  für  Schnaps  zu  erhalten,  seine  Sachen  versetzte,  unter 
Vorspiegelung  falscher  Tatsachen  Geld  borgte  und  schließlich  8  Diel> 
stähle  ausfülirte.  Von  anderen  Alkoholpsychosen  seien  nur  das  Delirium 
tremens,  die  Alkoholhalluzinose  und  der  Eifersuchtswahn  der  Trinker 
erwähnt,  da  sie  wegen  ihrer  Wahnideen  zu  den  schwersten  Verbrechen 
Anlaß  geben  können  (197,  220).  Über  die  Wirkung  des  Alkohols  ist 
schon  sehr  viel  geschrieben  worden;  Hirschfeld  (196)  glaubt,  man  könnte 
die  Strafanstalten  um  die  Hälfte  verkleinem,  wenn  es  keinen  Alkohol 
gäbe.  Killen  (256),  der  selbst  im  Gefängnis  war,  hält  sogar  zwei  Drittel  der 
Insassen  der  Anstalt,  in  der  er  war,  für  Opfer  der  Trunksucht; 
Kurella  (284)  meint,  daß  fast  alle  Gewohnheitsverbrecher  dem  Alkohol 
verfallen  seien,  öhlert  (371)  und  Yvernes  (5o8)  möchten  dem  Wein 
eine  Sonderstellung  zuweisen:  sie  glauben,  ihm  nicht  so  oft  wie  anderen 
alkoholischen  Getränken  die  Schuld  an  Delikten  zumessen  zu  dürfen, 
ob  mit  Recht,  möchte  ich  mit  Kürz  (285  a)  bezweifeln ;  die,  allerdings 
auch  nicht  unbedingt  maßgebenden,  statistischen  Angaben  über  die  Krimi- 
nalität in    der   Rheinpfalz    sprechen    dagegen    (218). 

Außer  dem  Alkohol  gibt  es  noch  eine  Anzahl  Gifte,  die  das  ethische 
Empfinden  herabsetzen  (i85),  z.  B.  Äther,  Kokain,  das  Gift  des  Stech- 
apfels und  Fliegenschwamms,  Haschisch,  Ophim  und  Morphium  (106); 
die    beiden    letztgenannten    haben    sich    bei    uns    besonders    eingebürgert. 


164  GÖIUNG:  KPJMINALPSYCHOLOGIE 


Die  Kranken,  die  unter  ihrer  Wirkung  leiden,  verkommen  vollkommen; 
sie  scheuen  sich  auch  nicht,  Rezepte,  also  Urkunden,  zu  fälschen,  nur 
um  in  den  Besitz  des  Giftes  zu  gelangen. 

Die  Einwirkung  des  syphilitischen  Giftes  auf  die  Psyche  des  Men- 
schen sei  hier  nur  kurz  erwähnt;  es  handelt  sich  um  ausgesprochene 
Geisteskrankheiten,  die  in  jedem  Lehrbuch  der  Psychiatrie  genau  be- 
schrieben sind.  Am  bekanntesten  ist  die  progressive  Paralyse,  die  schon 
frühzeitig  Zerstreutheit,  Gedächtnisschwäche  und  vor  allem  ein  Nach- 
lassen der  ethischen  Gefühle  hervorruft,  was  zu  Delikten  aller  möglichen 
Art   führen   kann. 

Auch  andere  Infektionskrankheiten  sowie  das  Fieber  an  sich  können 
die  Psyche  dadurch  beeinflussen,  daß  sie  Verwirrtheitszustände  hervor- 
rufen, die  vor  allem  mit  Wahnideen  und  Sinnestäuschungen  einher- 
gehen (271). 

G.    KOSMISCHE  EINFLÜSSE 

Das  Klima  eines  Landes,  die  verschiedenen  Jahreszeiten,  die  Höhen- 
lage eines  Gebietes  scheinen  nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Begehung  von 
Verbrechen  zu  sein  (i85),  wenn  man  ihnen  auch,  wie  Rüdin  im  Gegen- 
satz zu  Kovalevsky  mit  Recht  hervorhebt  (409,  270),  kein  zu  großes 
Gewicht  beimessen  darf.  Gaedeken  hat  darauf  hingewiesen  (iio),  daß 
die  Sonnenstrahlen  einen  physiko-chemischen  Einfluß  auf  den  mensch- 
lichen Organismus  ausüben;  er  glaubt,  daß  auf  diesen  Einfluß  unter  Um- 
ständen Sittlichkeitsdelikte  zurückzuführen  sind.  Wenn  dieses  auch  nicht 
die  alleinige  Ursache  ist,  so  darf  immerhin  angenommen  werden,  daß 
die  Hitze  nicht  unbeteiligt  ist,  was  auch  aus  statistischen  Erhebungen 
hervorgeht,  nach  denen  vor  allem  die  Unzuch tsverbrechen  im  Sommer 
zahlreicher  sind  als  im  Winter  (i4)-  Man  darf  aber  nicht  vergessen, 
daß  im  Sommer  mehr  getrunken  wird  und  der  Alkohol  die  sexuelle  Be- 
gehrlichkeit steigert;  Hentig  (i85)  glaubt  allerdings,  daß  an  schönen 
Sommertagen  nicht  soviel  getrunken  wird  wie  an  Regentagen,  da  die 
Menschen  bei  gutem  Wetter  mehr  ins  Freie  gehen,  als  in  Wirtschaften 
sitzen.  In  heißen  Gegenden  scheint  der  Alkohol  aber  doch  eine  recht 
erhebliche  Rolle  zu  spielen;  er  wird  von  Europäern  meist  in  sehr  kon- 
zentrierter Form  getrunken;  auch  wird  er  in  den  Tropen  schlechter  ver- 
tragen. Wichtig  sind  die  diesbezüglichen  Untersuchungen  französischer 
Ärzte.  Jullien  (249)  und  Gran  jux  (182)  warnen  davor,  beim  „Cafard", 
der  migefähr  unserem  Tropenkoller  entspricht,  dem  Klima  zu  viel  Schuld 
beizumessen,  und  verweisen  auf  die  anderen  Ursachen,  die  bei  Entstehung 
dieser  Erkrankung  sehr  wesentlich  sind,  während  Dautheville  dem  Klima 
die  Hauptschuld  beimißt  (68).  Die  in  den  heißen  Gegenden  begangenen 
Delikte  bestehen  vor  allem  in  äußerst  brutalen  Gewaltakten.  Am  meisten 
Aufsehen  machte  in  Deutschland  um  1900  der  Fall  Arenberg,  bei  dem 
aber  auch  Alkoholismus  und  psychische  Minderwertigkeit  eine  große 
Rolle  spielten   (375  b). 

Es  sei  noch  erwähnt,  daß  Antonini  in  der  Provinz  Bergamo  ein  Zu- 
nehmen der  Verbrechen  gegen  die  Person,  des  Betrugs  imd  des  Dieb- 
stahls mit   dem   Hinabsteigen   von   den   Bergen  in   die  Ebene  fand   (12). 


DAS  MIUKII  165 


D.     DAS   MILIEU 

Über  die  Frage,  ob  mehr  die  Veranlagung  o<ler  das  Milieu  Verbrocher 
erzeuge,  ist  viel  gestritten  worden.  Die  Untersuchungen  Gruhles  haben 
gezeigt  (i^8),  daß  bei  den  Flehingor  Zwangszöglingen  in  i8  Prozent  dem 
Milieu  die  Schuld  an  der  Verwahrlosung  zuzuschreiben  war.  Andere 
Autoren  legen  dem  Milieu  eine  weit  größere  Betloutung  bei  (357).  «Tacob- 
ßohn  (236)  hat,  während  er  Berater  am  Berliner  Jugendgericht  war,  die 
Erfahrung  gemacht,  <laß  nur  i  Prozent  der  Jugen<llichen,  die  sich  stralharer 
Handlungen  schuldig  gemacht  hatten,  aus  besser  situierten  Familien 
stammten.  Fürstenheim  (109)  führt  die  erste  Entstehung  verbrecherischer 
Handlungen  meist  auf  soziale  Ursachen  ziuniick.  Bei  Beurteilung  dieser 
Frage  kommt  es  auch  auf  die  subjektive  Auffassung  an.  Sicher  hat  bei 
den  Menschen,  die  durch  Alkoholismus  oder  progressive  Paralyse  mora- 
lisch verkommen  sind,  das  Milieu  in  den  meisten  Fällen  Einfluß  gehabt, 
obwohl  die  Begehung  der  Delikte  unmittelbar  auf  die  Giftwirkung  zurück- 
geführt werden  muß.  Bonger  (5o)  geht  noch  weiter;  er  steht  auf  dem 
Standpunkte,  daß  auch  die  Veranlagimg  mehr  oder  weniger  auf  soziale 
Umstände  zurückzuführen  sei,  dadurch,  daß  ihr  schlechte  hygienische 
und  Emähnmgsverhältnisse  zugrunde  lägen.  Dieses  hatte  Morel  (35o) 
schon  1857  erkannt  und  es  wurde  auch  auf  dem  V.  Internat.  Kriminalanthr. 
Kongreß  betont  (356).  Die  englische  Kommission  zur  Erforschung  der 
Entartung  glaubt,  daß  die  Entartung  weniger  ererbt,  als  im  Einzelleben 
erworben  ist  (58  b),  was  das  Massenexperiment  des  englischen  Groß- 
industriellen   W.    H.    Lever   auch   zu   beweisen   scheint    (4i5). 

Das  Milieu  ist  abhängig  von  der  herrschenden  Kultur.  Es  gibt  Menschen, 
die  sich  der  Kultur  ihrer  Zeit  und  somit  dem  Milieu,  in  dem  sie  leben, 
nicht  anpassen  können,  die  eine  von  der  Mehrheit  abweichende  Stellung 
einnehmen.  Kauf f mann  sagt  (253),  daß  die  Spitzbuben  eine  Welt  für 
sich  bilden,  ihre  eigenen  Lebensanschauungen  und  Gesetze  haben.  Klee- 
mann (261)  glaubt,  daß  diese  Gewohnheitsverbrecher  in  ihrem  Tun  und 
Treiben  nichts  Unrechtes  erblickten,  da  sie  den  Staat  und  seine  sittlichen 
Normen  nicht  anerkennten.  Aber  auch  einzelne  vom  Gesetzgeber  mit  Strafe 
bedrohte  Handlungen  haben  nach  Ansicht  ganzer  Bevölkerungsschichten 
zu  Unrecht  Aufnahme  in  den  Strafgesetzen  gefunden.  In  erster  Linie 
sind  einzelne  Sittlichkeitsdelikte  zu  nennen.  Je  nach  ihrer  Veranlagung 
haben  die  Völker  zu  verschiedenen  Zeiten  und  in  den  verschiedenen 
Gegenden  Gesetze  erlassen,  mn  der  Zügellosigkeit  in  geschlechtlicher 
Beziehung  zu  steuern;  natürlich  sind  sie  ganz  verschieden  ausgefallen 
(95).  So  ist  der  Begriff  und  die  Vorstellung  des  Inzestes  relativ  kurzen 
Datums  (3 18).  Infolgedessen  denkt  das  Volk  nicht  so  hart  über  dieses 
Verbrechen  (323)  wie  der  Gesetzgeber,  und  es  kommt  oft  vor,  daß  die 
Einsicht  für  die  Strafbarkeit  einer  solchen  Handlung  vollständig  fehlt 
(319).  Vor  allem  stehen  die  Homosexuellen  auf  dem  Standpunkt,  daß 
ein  gleichgeschlechtlicher  Verkehr  durchaus  nicht  verabscheuungs würdig 
sei,  infolgedessen  auch  nicht  unter  Strafe  gestellt  werden  dürfe  (240, 
196  a).  Diese  Anschauung  besteht  schon  lange  in  den  romanischen 
Ländern     und   scheint    sich    in    den    germanischen    allmählich    Bahn    zu 


jgg  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

brechen.  Kurella  {'28^)  hält  die  Bestrafung  der  Homosexualität  für 
ein  Überbleibsel  der  römischen  Ehe-  und  Bevölkerungspolitik  in  Ver- 
bindung mit  den  damals  vom  Orient  her  sich  verbreitenden  asketischen 
Gedanken. 

Das  >'erbot  der  Abtreibung  wird  in  vielen  Bevölkerungskreisen  als 
ein  unberechtigter  Eingriff  in  die  Rechte  der  schwangeren  Frau  ange- 
sehen, vor  allem  dann,  wenn  die  Frau  gegen  ihren  Willen  geschwängert 
worden  ist  (36o). 

Auch  in  bezug  auf  Eigentums-  und  andere  Delikte,  wie  Zoll-  und 
Steuerdefraudationen,  stimmen  die  Ansichten  einzelner  Individuen  mit 
denen  der  Allgemeinheit  durchaus  nicht  überein.  So  haben  wir  während 
des  Krieges  und  vor  allem  nach  Ausbruch  der  Revolution  gesehen,  daß 
die  meisten  Menschen  kein  Verständnis  für  die  aus  der  Lebensmittel- 
knapphcit  entstandenen  Gesetze  haben;  sie  sträuben  sich  gegen  die  Ein- 
griffe in  ihr  Eigentumsrecht  und  verstoßen  gegen  die  Straf bestimmungen. 
Eine  noch  tiefere  Kluft  besteht  zwischen  der  Allgemeinheit  imd  den 
linksstehenden  Sozialisten.  Diese  wollen  das  Privateigentum  nicht  an- 
erkennen und  haben  dementsprechend  sich  auch  betätigt,  wenn  sie  in 
einem  Orte  die  Oberhand  hatten.  Sollten  sie  ans  Ruder  kommen,  so 
würde  das,  was  imter  Verbrechen  zu  verstehen  ist,  eine  vollständige  Um- 
änderung erfahren.  Bezeichnend  sind  die  Ansichten  der  Arbeitnehmer- 
beisitzer in  den  Schlichtungsausschüssen;  sie  entschuldigen  Handlungs- 
weisen, sogar  Eigentumsvergehen  der  Arbeiter  ständig  mit  der  Notlage, 
der  mangelhaften  Bildung  und  schlechten  Erziehung.  Viele  Arbeiter 
stehen  auf  dem  Standpunkt,  daß  die  Gesetze  für  sie  nicht  maßgebend  sind 
vor  allem  in  bezug  auf  den  Vertragsbruch  und  Streik  (282  a).  Mit  Macht 
bricht  sich,  wie  es  scheint,  eine  neue  Rechtsanschauung  Bahn.  Oborniker 
sagt  mit  Recht  (370),  das  Verbrechen  sei  das  Produkt  aus  der  Eigenart 
des  Verbrechers  einerseits  imd  den  den  Verbrecher  im  Augenblick  der  Tat 
umgebenden  gesellschaftlichen  Verhältnissen  andererseits.  Ein  gutes  Bei- 
spiel dafür  ist  die  Geschichte  des  Duells  (287).  Die  Gesellschaft  be- 
stinuiit,  Avas  ein  ^ erbrechen  ist;  sie  ist,  wie  Jhering  (2  45)  sagt,  die 
Erzeugerin  des  sittlichen  Willens.  Auch  der  Fall  Wilden-Nettelbeck 
(96)  ist  auf  die  herrschende  Gesellschaftsordnung  zurückzuführen.  Der 
Verkehr  zAvischen  Fräulein  Wilden  und  Dr.  Nolten  war  von  der  Ge- 
sellschaft mißbilligt  worden;  infolgedessen  verlangte  sie  von  ihm  Reha- 
bilitierung in  der  ehrengerichtlichen  Verhandlung,  was  er  ver>veigerte. 

Unsere  Kultur  hat  es  mit  sich  gebracht,  daß  sich  die  Gegensätze 
zwischen  den  einzelnen  Klassen  immer  mehr  verschärfen.  Das  Tun 
und  Treiben  der  meisten  ist  beherrscht  von  der  Sucht  nach  dem  Gelde; 
Armut  und  Reichtum  stehen  sich  schroff  gegenüber,  und  aus  diesem 
Gegensatz,  also  aus  den  wirtschaftlichen  Verhältnissen,  entstehen  unend- 
lich viele  Verbrecher  (870).  Es  ist  nicht  notwendig,  daß  eine  ausge- 
sprochene Notlage  voi liegt;  der  Wunsch,  mehr  zu  besitzen,  ebensoviel 
wie  andere  ausgeben  zu  können,  ist  schon  ein  starker  Verbrechensantrieb. 
Die  stärkste  Triebfeder  wird  aber  die  Not  sein  (029),  die  in  den  Groß- 
städten einen  kaum  denkbaren  Grad  erreicht  (i45).  Um  seine  Bedürf- 
nisse  zu    befriedigen,    wird    man    sich    in    den    meisten    Fällen    nur   am 


DAS  MILIKI  167 


Eigenlimi  anderer  vergreifen;  doch  köuuca  damit  auch  andere  Delikte, 
vor  allem  solche  gegon  die  Person,  in  Verbindung  .stellen,  in  letzter  Linie 
der  Raubnu>rd:  es  ist  aber  zu  beachten,  daß  Ixn  ausgesprochener  Not- 
lage nur  sehr  selten  zum  Mord  gescliritlon  wird  (7a).  Nicht  nur  ein 
positiver  (Jewinn,  auch  die  Scheu  vor  neoer  finanzieller  Belastung  kann 
zum  Verbrechen  treiben;  es  sei  hier  an  den  kindsmord  erinnert,  bei  dem 
sicher  die  Not  (118)  tnler,  wie  Högel  «ich  ausdrückt  (199),  die  Be- 
hinderung im  Fortkommen  und  die  Schwierigkeit  der  Aufziehung  des 
Kindes  ein  stark  mitbestimmender  Faktor  ist,  was  allerdings  .Vschaffen- 
burg  auf  Grund  der  Statistik  bestreiten  zu  müssen  glaubt  (i4)-  E>iö 
Not  kann  auch  darin  bestehen,  daß  man  selbst  Erpressungen  ausgesetzt 
ist,  wie  der  von  Godeluppi  beschriebene  Homose.vuelle  (63),  und  keinen 
auideren  Ausweg  sieht,  als  daß  mau  sich  das  für  den  Erpresser  bestimmte 
Geld  auf  unrechtmäßige  Weise  verschafft.  Bonger  behauptet  sogar  (5o), 
daß  selbst  bei  Sittlichkeitsdelikten  die  wirtschaftliche  Notlage  eine  große 
Rolle  spiele;  so  steht  z.  B.  mißgewachsenen  und  alten  Männern,  denen 
sich  ohne  Entgelt  kein  Mädchen  zur  Verfügung  stellt,  falls  sie 
Geld  haben,  das  Bordell  offen ;  sind  sie  arm,  so  werden  sie  sich  unter 
L  mständen  zu  Notzucht  und  Unzucht  an   Kindern  liinreißen  lassen  (57). 

Mönkemöller  hat  bei  seinen  Untersuchungen  der  Hannoveraner  Kor- 
rigendinnen keine  .\bhäng^igkeit  von  der  wirtschaftlichen  Konjunktur 
feststellen  können,  im  Gegensatz  zu  den  Korrigenden  (344)-  Diese  Tat- 
sache findet  ihre  Bestätigung  in  den  Untereuchimgen  von  G.  v.  Grabe 
(i3i),  Chr.  Müller  (353)  und  Sichel  (44i)  über  Prostituierte,  wenn 
auch  in  einzelnen  Fällen  die  Not  ausschlaggebend  gewesen  sein  mag  (364)- 

Als  Notlage  kann  man  es  auch  bezeichnen,  wenn  Eltern  infolge  ihrer 
Erwerbstätigkeit  nicht  in  der  Lage  sind,  sich  um  ihre  Kinder  zu  kümmern. 
Zweifellos  spielt  die  Vernachlässigung  durch  die  Eltern,  die  mangelhafte 
Erziehung,  eine  große  Rolle  im  Leben  des  angehenden  Verbrechers.  Dazu 
kommt  noch  das  schlechte  Beispiel.  Man  muß  dabei  nicht  gleich  daran 
denken,  daß  Eltern  absichtlich  ihre  Kinder  zu  schlechten  Menschen 
erziehen  wollen,  oder  daß  es  ihnen  gleichgültig'  ist,  was  aus  ihren  Kindern 
wird.  Meist  wird  das  schlechte  Beispiel  ganz  ungewollt  gegeben.  Leben 
die  Kinder  mit  ihren  Eltern  in  einem  einzigen  Räume,  so  hören  sie  vieles, 
was  für  sie  nicht  gut  ist;  sie  sehen,  wenn  sie  mit  den  Eltern  im  gleichen 
Räume  schlafen,  den  Sexualverkehr,  schlafen  auch  oft  mit  einem  der 
Eltern  oder  mit  Geschwistern  im  gleichen  Bett  (324);  das  Scham- 
gefühl ist  bei  der  imteren  Bevölkerungsschicht  nicht  so  ausgebildet  (5oo), 
daß  man  bei  ihr  Verständnis  für  che  Einw^irkungen  auf  die  kindliche 
Seele  erwarten  darf.  Sergi  sagt  mit  Recht,  die  Seele  sei  empfindlicher 
als  die  Magnolienblüte,  die  an  der  berührten  Stelle  ihre  weiße  Farbe 
verliert;  es  gebe  für  sie  nichts  Gefährlicheres  als  den  wiederholten 
Kitzel  (439).  In  manchen  Fällen  bleibt  es  aber  njcht  bei  dem  ungewollten 
schlechten  Beispiel.  Ein  traiu'iges  Bild,  wie  es  in  Großstädten  keine 
Seltenheit  ist,  entwirft  PoUak  (382)  von  dem  Vorleben  von  i3  Knaben 
und  Mädchen  im  Alter  von  11  bis  16  Jalu^en,  die  sich  zu  einer  Verbrecher- 
bande zusammengeschlossen  hatten.  Bei  den  meisten  waren  die  häus- 
lichen   Verhältnisse    trostlos;     die    Mütter    gingen    tagsüber    zur    Arbeit; 


J58  GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

manche  lebten  in  wilder  Ehe;  eine  Mutter  verleitete  sogar  ihre  eigene 
Tochter  zur  Prostitution.  Über  die  Vorgänge,  die  Kinder  in  den  gemein- 
samen Schlafstuben  sehen  müssen,  hat  Horch  vor  kurzem  wieder  ein 
furchtbares  Beispiel  veröffentlicht  (216).  Der  in  Gießen  begutachtete 
M.  hatte  als  Vater  einen  Trinker,  der  sich  wochenlang  umhertrieb  und 
für  seine  Familie  nicht  sorgte;  seine  Mutter  ließ  sich  mit  anderen  ein 
und  wurde  deswegen  vom  Vater  erstochen.  M.  beging  sein  erstes  Delikt 
mit  i5  Jahren  und  hatte  mit  20  und  28  Jahren  je  1V2  Jahre  Zuchthaus 
wegen  Eigentumsverbrechen  zu  verbüßen. 

Man  findet  übrigens  nicht  nur  in  der  armen  Bevölkerungsschicht  das 
schlechte  Beispiel  imd  die  Vernachlässigung,  sondern  auch  in  besser 
situierten  Kreisen.  Die  Eltern  sind  durch  Geschäft,  Ehrenämter  und 
gesellschaftliche  Verpflichtungen  derart  in  Anspruch  genommen,  daß 
sie  für  die  Erziehung  der  Kinder  keine  Zeit  haben.  Der  oben  eovähnte, 
von  mir  begutachtete  K.,  der  zahlreiche  Diebstähle  begangen  hatte,  um 
sich  Geld  für  Schnaps  zu  verschaffen,  hatte  in  der  Jugend  nicht  die 
Erziehung  genossen,  die  er  so  notwendig  gebraucht  hätte;  auf  dem 
elterlichen  Tische  stand  stets  die  Weinflasche;  der  Vater  war  derart 
in  Anspruch  genommen,  daß  er  die  Erziehung  seines  Sohnes  fremden 
Leuten  überließ,  obwohl  er  wissen  mußte,  daß  sein  Sohn  intellektuell 
und  ethisch,  wenn  auch  nur  in  mäßigem  Grade,  minderwertig  war. 
Er  merkte  nicht  einmal,  in  wie  schlechte  Gesellschaft  sein  Sohn  geraten 
war.  Auch  der  dauernde  Widerspruch  in  den  Anordnungen  der  Eltern, 
übermäßige  Strenge  des  Vaters  einerseits  und  unangebrachte  Milde  der 
Mutter  andererseits  wirken  oft  sehr  ungünstig;  ein  von  mir  begutachteter 
Primaner  kam  zum  Teil  durch  ein  solches  Verhalten  der  Eltern  auf 
die  schiefe  Bahn,  ging  mit  einer  Prostituierten  durch  und  bot  sich,  als 
er  kein  Geld  mehr  hatte,  dem  französischen  Militärattache  als  Spion  an. 

Besonders  groß  ist  die  Vernachlässigung  bei  den  unehelich  geborenen 
Jugendlichen,  was  auf  das  Fehlen  der  väterlichen  Zucht  zurückzuführen 
ist.  Dazu  kommen  aber  noch  andere  Umstände,  die  auf  diese  Kinder 
ungünstig  ein>\drken;  die  Mutter  liebt  sie  oft  nur  wenig,  bringt  sie 
meist  bei  fremden  Leuten  unter  imd  kümmert  sich  kaum  mehr  um  sie; 
in  der  Schule  werden  sie  scheel  angesehen;  die  Lebensbedingungen  sind 
gewöhnlich  äußerst  ärmlich  (364)-  So  ist  es  zu  erklären,  daß  ■\>nr 
bei  den  unehelich  Geborenen  eine  verhältnismäßig  große  Kriminalität 
finden.  Bolte  (/jg)  und  Näcke  (364)  glauben  allerdings,  daß  die  körper- 
liche und  geistige  Minderwertigkeit,  die  bei  unehelich  Geborenen  weit 
häufiger  zutage  tritt  als  bei  ehelich  Greborenen  (268),  nicht  nur  auf  das 
Milieu,  sondern  auch  auf  die  Veranlagung  zurückzuführen  sei.  Ein 
Aufschluß  über  die  Verbrechensursachen  bei  unehelich  Geborenen  wird 
aus  der  Statistik  kaum  erwartet  werden  können,  da  vor  allem  die  Zahl 
der  ehelich  und  unehelich  geborenen  Straf  mündigen,  die  als  Grund- 
lage dienen  müßte,  fehlt  (202).  Daß  der  Mangel  an  Erziehung  einen 
ganz  erheblichen  Einfluß  auf  die  Jugendlichen  ausübt,  haben  wir  im 
Kriege  wahrnehmen  können,  worauf  Bovensiepen  (56),  Hellwig  (176), 
Franz  v.  Liszt  (3o3),  Wittig  (682)  u.  a.  hinge>\-iesen  haben. 


DAS  MlUEll  169 


Ob  die  Erwerbsarbeit  die  Jugendlichen  ungünstig  beeinflußt,  ist  noch 
nicht  geklärt:  Hoinburger  lx>streitet  e«  auf  Grund  von  statistischen  An- 
gaben (2o5),  während  Forcher  es  bejalit  (loi;.  Über  die  Frage  nach 
einer  ungünstigen  Einwirkung  des  Berufs  im  allgemeinen  auf  die  Psyche 
des  Menschen  hat  Lindenau  (3oo)  einige  Anhaltspunkte  gegeben.  Er 
hat  gefunden,  daß  es  hauptsächlich  drei  Wege  sind,  auf  denen  die 
Berufstätigkeit  zimi  Verbrechen  ausartet:  i.  der  Beruf  bietet  objektiv 
Gelegenheit  zum  Verbrechen;  2.  der  Täter  verwendet  die  im  Beruf 
erworbene  Fertigkeit  in  sozial-gefährlicher  Weise;  3.  der  Beruf  übt 
einen  imgünstigen  Einfluß  auf  die  sittlichen  Anschauungen  der  Angt*- 
hörigeji  aus.  Die  Lösung  der  Frage  nach  dem  Zusammenhang  zwischen 
Beruf  imd  Verbrechen  bietet  aber  manche  Schwierigkeiten.  Man  muß 
z.  B.  daran  denken,  daß  die  Berufsangabe  nur  als  Deckmantel  dienen 
kann  (344),  oder  daß  eine  bestimmte  Veranlagung,  die  zu  Verbrechen 
führt,  auch  für  die  Berufswahl  ausschlaggebend  gewesen  sein  kann,  worauf 
besonders  Hurwicz  (228)  und  Stekel  (454)  aufmerksam  gemacht  halxMi. 
Letzterer  hält  die  Berufswahl  zum  Teil  für  eine  Sublimierung  der  eroti- 
schen \md  kriminellen  Triebe.  Hurwicz  hat  gefunden,  daß  beispielsweise 
die  italienischen  Schlächter  zu  Roheitsdelikten  neigen,  und  meint,  daß 
sowohl  die  Gewalttaten  als  auch  die  Berufswahl  aus  der  Veranlagung 
hervorgegangen  seien.  Bei  Taglöhnem  mache  sich  der  unheilvolle  Ein- 
fluß des  Mangels  eines  ständigen  Verdienstes  und  Berufes  bemerkbar; 
die  Tätigkeit  als  Taglöhner  sei  aber  meist  gewählt  worden  wegen  ange- 
borener oder  erworbener  verminderter  Arbeitsfähigkeit.  Bei  den  Berufen, 
deren  Angehörige  sich  in  einer  günstigen  wirtschaftlichen  Lage  be- 
fänden, wie  die  Beamten,  höheren  Angestellten,  sei  die  Kriminalität  sehr 
gering.  Wie  recht  Hur>ricz  damit  hat,  daß  dabei  die  wirtschaftliche  Lage 
und  nicht  der  Beruf  das  Ausschlaggebende  sei,  geht  daraus  hervor,  daß 
seit  der  Teuerung  der  Lebensmittel  Beamte  nicht  mehr  so  selten  sich  am 
Staatseigentum  vergreifen;  so  wurde  von  mir  ein  städtischer  Beamter 
begutachtet,  der  aus  Not  Unterschlagungen  begangen  hatte:  es  war 
ihm  bei  dem  kärglichen  Lohn  nicht  möglich,  mit  seiner  großen  Familie 
durchrukommen,  zumal  seine  Frau  und  eine  Tochter  krank  waren.  Neben 
der  Not  spielte  die  günstige  Gelegenheit  und  die  psychopathische  \'er- 
anlagung  eine  Rolle.  Hurwicz  meint,  man  solle  in  Anbetracht  der  ange- 
führten Tatsachen  nicht  von  Berufs-,  sondern  von  Standes-  oder  Sozial- 
kriminalität  sprechen.  Er  wünscht  eine  möglichst  umfassende  Unter- 
suchung der  Lage  einer  bestimmten  sozialen  Gruppe  und  hat  sell>st 
angefangen  mit  der  Bearbeitung  der  Kriminalität  der  weiblichen  Dienst- 
boten (229),  wobei  er  zu  dem  Schluß  konunt,  daß  die  Kriminalität 
der  weiblichen  Dienstboten  sehr  günstig  dastehe,  im  Gegensatz  zu  de 
Rykere  (4 12)  und  Fehlinger  (85),  der  allerdings  die  Verhältnisse  in 
Nordamerika  schildert,  während  v.  Michaelis  seine  Ansicht  teilt  (34i). 
Hurwicz'  Bearbeitimg  der  Dienstbotenkriminalität  sollte  für  andere  Grup- 
pen vorbildlich  sein. 

Besonderer  Erwähnung  bedürfen  die  Schmarotzer  der  menschlichen 
Gesellschaft,  die  Landstreicher,  die  aus  Arbeitscheu  wandern,  und  die 
Prostituierten.   Während  Chr.  Müller  (353)  und  Seige  (435)  beide  einander 


170  GÖRING :  kHlML\AL]'SYCH(JLOGIE 

gegenüberstellen,  glaubt  v.  Grabe  (i3i  j  keine  Anhaltspunkte  für  Beziehun- 
gen beider  zueinander  gefunden  zu  haben.  Jedenfalls  neigen  beide  zum 
Begehen  von  Straftaten.  Die  Ursache  ist  aber  nur  sekundär  in  der  Tätig- 
keit zu  suchen.  Das  Primäre  ist  die  Wranlagung  und  das  Milieu  in  der 
Jugeiui  (^^76),  welche  das  Individuum  auch  zum  Landstreicher  und  zur 
Prostituierten  gemacht  haben,  wozu  kriminalitätfördernd  das  neue 
Milieu  hinzuJcommt.  Bei  den  Landstreichern  sind,  wie  Wilmanns  fest- 
goätellt  hat  (496)>  die  Affektverbrechen  besonders  zahlreich;  sie  werden 
meist  unter  der  Wirkung  des  Alkohols  begangen.  Zwischen  dem  Land- 
streichertum  und  dem  professionellen  Verbrechertum  bestehen  seiner 
Ansicht  nach  kaiun  Beziehungen  (497) .  Widffen  weist  aber  darauf  bin, 
dafj  auch  die  Schwerverbrecher  häufig  wandcTn  imd  gerade  auf  der 
Landstraße  ihre  De'i  kte  begehen  (Soa).  Die  Prostitution  (373)  soll 
nach  Lombroso  ein  Äquivalent  der  Kriminalität  sein  (3io),  eine  Ansicht, 
die  auch  von  Grame/  vertreten  (65),  von  anderen,  wie  Näcke  (364), 
nicht  geteilt  wird.  V.  Grabe  glaubt  (i3i),  daß  Kriminalität  und  Prosti- 
tution weder  Gegensätze  noch  Äquivalente,  aber  häufig  vereint  seien. 
Die  Ansichten  über  die  Häufigkeit  der  Kriminalität  der  Prostituierten 
gehen  se^hr  auseinander;  v.  Grabes  Ansicht,  daß  es  sich  bei  den  Be- 
strafmigen  Prostituierter  nicht  nur  um  isittenpolizeiliche  Verstöße,  sondern 
sehr  oft  um  Eigentmnsdelikte  handle,  teilt  Bonhöfer  (5i)  und  Sigbele 
(^^l)  im  Gegensatz  zu  Baumgarten  (3o)  und  Hübner  (221).  Hermann 
(189)  hält  die  Neigung  zu  Verbrechen  bei  heimlichen  Prostituierten  für 
stärker  als  bei  öffentlichen.  Daß  aber  auch  diese  leicht  zu  Verbrechen 
verleitet  werden,  zeigt  der  Prozeß  Riehl,  der  uns  ein  Bild  gibt  von 
den  schauerlichen  Zuständen  in  einem  Wiener  Bordell  und  von  dem 
Einfluß  der  Bordellwirtin    auf   ihre   Prostituierten    (5 16). 

Daß  die  männliche  Prostitution  mit  dem  Erpressen  in  engster  Ver- 
bindung steht,  ist  bekannt.  Hirschfeld  (195)  hält  die  Erpr^ser  meist 
für  Gelegenheitsprostituierte;    für  wenige  sei  die  Prostitution  nur  Vorwand. 

Einen  großen  Einfluß  auf  die  Kriminalität  üben  Kriege  aus.  Sommer 
(45 1)  nennt  sie  ein  Massenexperiment  über  die  Auslösung  von  Affekten 
mid  die  Aktivierung  geistiger  Eigenschaften.  Starke  hat  in  einer  Ab- 
handlung von  i884  (453)  fast  nur  von  der  versittlichenden  Kraft  des 
Krieges  gesprochen,  und  Travers  (473)  glaubte  zu  Beginn  des  Welt- 
krieges noch  an  die  günstige  Wirkung  auf  die  Kriminalität,  an  eine 
moralische  Besserung  des  deutschen  Volkes  durch  den  Krieg.  Er  hat 
sich  schwer  getäuscht.  Die  Begeisterung  im  August  191 4  mag  wohl 
vorübergehend  einen  günstigen  Einfluß  auf  die  Psyche  des  Volkes  aus- 
geübt haben.  Sie  hat  aber  mit  dem  Kriegshandwerk  nichts  zu  tun.  Auer 
(23)  hat  auf  die  zahlreichen  Roheitsdelikte  gerade  der  aus  der  Front 
heimgekehrten  Soldaten  hingewiesen;  Höpler  (207)  erwähnt  die  Lockerung 
der  Sitten  besonders  bei  den  ausziehenden  Truppen.  Aber  nicht  nur  bei 
den  Soldaten,  auch  bei  den  Daheimbleibenden  wirkt  der  Krieg  ungünstig. 
Kleemann  hat  beobachtet  (205),  daß  der  krasse  Egoismus,  der  Mangel 
an  Gemeinsinn,  gerade  während  des  Krieges  besonders  deutlich  zutage 
getreten  ist.  Die  Ursachen  dafür  sind  mannigfaltig.  Das  Frontleben 
übt  sicherlich  einen  verwildernden  Einfluß  aus;    aber  auch  die  Zustände 


1)A>   MILIKl m 

in  der  Heimat  spielen  eine  i^Toße  Rolle.  A.iif  die  mangelhafte  lirziehuiij,' 
wixrde  sch<in  oben  hingewit'sen.  Höplor  (207)  und  v.  Liszt  (3o3)  schreiben 
d*>m  lniirhab*Mi  \on  Vertraufiisslellunjj:«'!!.  deui  nbertriclx'iion  Selbstlx- 
wußtsein  der  jungen  Männer  und  den  hohen  Löhnen  für  junge  I^eute 
einen  schädigenden  Kinfhili  zu.  während  Auer  (^S)  darauf  w<Miig«*r 
Gt^wicht  legt.  Die  schädigende  Wirkung  des  überreichlichen  Arbeibs- 
verdiensU^  erwähnt  auch  Hellwig  (17O).  Klsa  v.  Liszt  glaubt,  daß  neben 
der  .\ufsichtslosigkeit  die  allgemeine  Amnestie  l>ei  Jugendlichen  krimi- 
nalität«, teigern  d  gewirkt  hat  (3oi).  VVittig  (532)  fafSt  die  äußere  Ursache 
für  die  Zunahme  der  kriminalität  der  Jugendlichen  zu.sammen  unter 
die  Begriffe:  Erziehungsnot,  Wirtschaftsnot,  Gewissensnot.  Die  günstige 
Gelegenheit,  kriminell  zu  werden,  wirkte  aber  nicht  nur  auf  junge  Leute. 
Die  Möglichkeit,  leicht  große  Sununen  zu  verdienen,  reizte  viele  .Menschen 
zu  Handlungen,  die  sie  im  Frieden  nie  begangen  hätten.  Dazu  konunt, 
daß  der  plötzliche  rechtmäßige  Vermögenserwerb,  wie  Auer  mit  Recht 
sagt  (23),  verheerend  auf  die  allgemeinen  sittlichen  .\nschauungen  der 
wenig  Gebildeten  wirkte. 

Noch  schlimmer  als  Kriege  ist  der  Einfluß  von  Revolutionen,  da 
durch  sie  die  Staatsautorität  vernichtet  wird.  Wer  im  Winter  1918/1919 
noch  im  Heeresdienst  war,  der  weiß,  daß  der  Begriff  Staatseigentum 
für  unzählige  Individuen  erloschen  war.  Noch  1920  war  die  Zahl  der 
Eigentumsdelikte  erschreckend  hoch  (282  a).  Dieselbe  Macht,  die  unser 
Volk  bei  Kriegsbeginn  gehoben,  stürzte  es  bei  der  Revolution  in  die 
Tiefe:  es  war  die  Massensuggestion,  wie  wir  sie  immer  wieder  in  der 
Geschichte  finden  können ;  es  sei  nur  an  die  französische  Revolution 
(470)  und  die  schon  vor  dem  Krieg  in  Erscheinung  getretenen  russischen 
Zustände  (3i)  erinnert  (444)- 

Nach  Le  Bon  (288)  folgt  die  Masse  nicht  denselben  psychologischen 
Gesetzen  \vie  das  Individuum.  Sie  ist  impulsiv,  leichtgläubig,  kritiklos, 
überschwenglich.  Kraus  (277)  nennt  die  Massenseele,  die  das  Resultat 
widersprechender  und  konformer  Äußerungen  der  einzelnen  Massenteil- 
nehmer  ist,  eine  variable,  je  nach  der  Natur  der  Komponenten,  die  das 
Übergewicht  bei  ihrer  Bildung  erlangen.  Eine  eingehende  Analyse  der 
Kollektiv-  und  Kumulativverbrechen  finden  wir  bei  Strasser  (46i). 
Die  Kollektivverbrechen  können  planmäßig  infolge  eines  chronischen 
Gärungsprozesses  entstehen  (Bandenverbrechen)  oder  durch  relativ  ein- 
fache Übertragung  gefühlsbetonter  Ideen  unter  der  Wirkimg  von  Kontagion 
und  Suggestion  mit  explosiver  Wirkung.  Letztere  entstehen  auf  Grund 
von  Gläubigkeit  und  I^ichtgläubigkeit  oder  durch  gleichartige  Affektivi- 
tät,  oder  durch  Übereinstimmung  alles  überragender,  wildleidenschaftlicher 
Affekte.  Die  Moral  der  Menge  wird,  wie  Zaitzeff  sagt  (612),  schlechter, 
der  Verstand  geringer,  der  Wille  stärker.  Wie  gewaltig  die  Suggestion 
wirkt,  hat  Rieh.  Wagner,  der  selbst  als  17  jähriger  von  ihr  zur  Zeit 
der  Pariser  Julirevolution  i83o  mitgerissen  wurde,  geschildert  (224) 
Jelgersma  (246)  hält  die  Kontagion  nicht  nur  für  eine  intellektuelle, 
sondern  auch  für  eine  emotive,  d.  h.,  daß  die  Menge  zuerst  die  Gesten 
des  Affekts  einzelner  nachahmt  und  dann  die  ihnen  entsprechenden 
Gefühle  empfindet.    Für  eine  Teil  Verantwortung  besteht  bei  dem  einzelnen 


172  GÖRIIVG :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

Individumn  kein  Gefühl;  es  glaubt  sogar,  wie  Le  Bon  betont  (280), 
nur  seine  Pflicht  zu  tun,  wenn  es  an  den  Handlungen  teilnimmt.  Die 
Seele  dieser  Masse  ist  nichts  anderes  als  der  Makroanthropos  Schopen- 
hauers (iSli).  Aber  nicht  jeder  läßt  sich  mit  fortreißen;  abgesehen  von 
Jugendlichen  besteht  ein  großer  Teil  der  Masse  aus  der  seelisch  oder 
moralisch  verkommenen  Hefe  des  Volkes  (444)-  Nach  ßrennecke  (5i8) 
liegt  die  psychologische  Begründung  der  Revolution  in  dem  tiefwurzelnden 
Egoismus  des  Einzelindividuums  und  dem  summierten,  brutalen  Egoismus 
der  Masse.  Kraepelin  (520)  dagegen  hebt  das  Psychopathische  hervor; 
er  glaubt,  daß  ein  laugandauernder  Druck,  wie  die  Not  und  Entbehrungen 
der  Kriegsjahre,  hysterische  Massenpsychosen  hervorrufen  kann.  B^de 
Autoren  sind  mit  Kahn  (525)  der  Ansicht,  daß  die  überwiegende  Mehr- 
heit der  revolutionären  Führer  zu  den  psychopathischen  Persönlichkeiten 
zu  rechnen   sind. 

Banden,  die  gemeinschaftliche  Verbrechen  ausüben,  können  auch  auf 
Grund  von  Suggestion  entstehen,  besonders  wenn  Jugendliche  sich  unter 
einem  Älteren  zusammenfinden  und  sich  von  diesem  leiten  lassen, 
wie  Pollak  es  geschildert  hat  (882).  Meist  werden  aber  Banden  aus  Ge- 
wohnheitsverbrechern bestehen  (444),  die  sich  zwar  g^enseitig  beein- 
flussen können,  aber  von  vornherein  in  der  Absicht,  Verbrechen  zu  be- 
gehen, zusammengeschlossen  haben.  Im  modernen  Staat  hat  sich  das 
Äußere  der  Bande  geändert;  an  Stelle  der  physischen  Übermacht  ist  die 
List  getreten  (192).  Vor  allem  sind  die  Organisationen  zum  Betreiben 
des  Mädchenhandels  und  für  Versicherungschwindel  berüchtigt;  ihre 
Verkettung  ist  oft  ebenso  innig  wie  die  der  Banden  in  früheren  Zeiten, 
wie  die  Vorschriften  einer  Brooklyner  Brandstifterbande  lehren  (4i4)- 
Vielfach  sind  die  Mitglieder  eidlich  miteinander  verbimden;  Verrat  wird 
mit  dem  Tode  bestraft    wie  bei  der  bekannten  Mafia  (191). 

Von  diesen  Kollektivverbrechen  hat  Strasser  das  Kumulativverbrechen 
unterschieden.  An  Hand  der  bekanntesten  Prozesse  schildert  er  die 
Wechselwirkung  des  individuellen  Faktors  imd  der  sozialen  Verhältnisse; 
es  handelt  sich  hier  mn  eine  gegenseitige  Induktion,  die  schleichend 
wirkt;  jeder  Beteiligte  trägt  immer  wieder  neue  Ideen  hinzu,  die  auf 
den  Partner  einwirken  und  bei  ihm  neue  Gedanken  auslösen;  so  schil- 
dert Sommer  eine  Familie  (447),  ^^"  ^^^  ^  Angehörige  dauernd  sich 
ungünstig  beeinflußten;  alle  waren  zur  Beobachtung  in  der  Gießener 
Klinik.  In  einem  von  mir  begutachteten  Falle  veranlaßte  eine  Frau  ihren 
Mann  zu  unnötigen  Ausgaben;  er  deckte  sie  durch  Unterschlagungen. 
Die  Ehegatten  waren  schwere  Psychopathen  und  hatten  sich  in  der  Heil- 
und  Pflegeanstalt  Eglfing  kennengelernt.  Strasser  sagt,  infolge  der 
gegenseitigen  Ein>virktmgen  sei  es  nicht  möglich,  aus  der  psychologi- 
schen Analyse  der  Tatbestände  oder  aus  der  Individualpsychologie  eine 
befriedigende  Erklärung  der  Entstehung  von  Kumulativverbrechen  zu  er- 
halten. 

Häufiger  als  die  gegenseitige  Induktion  findet  man  die  einseitige; 
auch  bei  der  gegenseitigen  ist  meist  ein  Teil  der  kräftiger  induzierende. 
Die  induzierten  Individuen  sind  in  der  Regel  schwer  psychopathisch  ver- 
anlagt, von   geringer  Willenskraft  und  großer  Beeinflußbarkeit.    In  der 


DAS  MILIKI  173 


Gielieiier  Klinik  wiirdo  ein  Psychopath  von  mir  beobachtet,  der,  durch 
die  Rtxlo  eines  Komniunistenführers  begeistert,  der  Partei  beitrat  und 
7  Tag«»  s|>äter  sich  mit  an  die  Spitze  eines  Pulsches  stellte,  obwohl  er 
sich  früher  kaum  mit  Politik  Ixischäftigt  hatte.  VVeygandt  (495)  hat 
4  Grup[)en  unterschieden,  von  denen  die  auslösende  psychische  Beein- 
flussung und  der  Einfluß  von  Geisteskranken  auf  geistig  Gesunde  ohne 
Entwicklung  einer  ausgesprochenen  Psychose  am  wichtigsten  sind.  N^n 
dieser  Wachsuggestion  kennen  wir  noch  die  Hypnose,  in  der  der  Hypno- 
tisierte in  einem  außerordentlichen  Abhängigkeitsverhältnis  zum  Hypnoti- 
seur steht;  dieses  Abhängigkeitsverhältnis  kann  bei  besonders  guten  Medien 
so  stark  sein,  daß  in  der  Hypnose  Delikte  begangen  werden.  Forel  (loo) 
und  V.  Schrenck-Notzing  (428)  haben  solche  Erfahrungen  gemacht, 
ersterer  auch  auf  experimentellem  Wege.  Auch  Wagner  von  Janregg 
ist  der  Ansicht,  daß  man  auf  Grund  der  Laboratoriumsversuclie  die  Mög- 
lichkeit des  Mißbrauchs  Hypnotisierter  zur  Ausführung  von  Verbrechen 
zugeben  muß   (53i). 

Einen  stark  suggestiven  Einfluß  üben,  vor  allem  auf  Jugendliche, 
Schundliteratur  und  -films  aus  (43o).  Nur  muß  man  sich  hüten,  gleich 
alles  auf  sie  zurückzuführen.  Helhvig  hat  gefunden,  daß  Lektüre  und 
Kinobesuch  nicht  selten  als  Ausrede  tmd  Entschuldigung  vorgebracht 
werden  (171)-  Er  rechnet  auch  nicht  die  ganzen  Indianergeschichten, 
wie  die  Schriften  von  Karl  May  (179),  dahin.  Für  besonders  schädlich 
hält  er,  wie  auch  Kleemann  (268)  und  Näcke  (364),  die  Kriminalromane 
und  Berichte  über  Skandalprozesse.  Die  Frage,  ob  Lektüre  oder  Film 
schädigender  wirke,  beantwortet  Meyer  (335)  dahin,  daß  der  Film  in- 
struktiver sei  und  nachhaltiger  wirke,  während  die  Lektüre  erst  in  der 
Phantasie  zu  einem  Bild  umgearbeitet  werden  müsse,  was  auch  von  Näcke 
betont  wird  (364).  Münsterberg  schlägt  vor  (354)  unter  Hinweis  auf 
die  Tatsache,  daß  beim  Eintreten  der  Erschlaffung  am  Ergographen  weder 
Wille  noch  Zureden,  wohl  aber  Vormachen  zu  erneuter  Tätigkeit  anregen 
kann,  es  solle  durch  psychologische  Experimente  geprüft  werden,  welche 
Faktoren  den  Gang  zum  Verbrechen  oder  die  Hemmung  des  verbreche- 
rischen Impulses  steigern  können.  —  Selbstverständlich  ist  die  Wirkung 
von  Schundliteratur  und  -film  durchaus  nicht  bei  jedem  Individuum 
gleich  schädlich.  Es  kommt  vor  allem  auch  auf  die  Veranlagung  an 
(364,  475). 

Im  Zusammenhang  mit  der  Suggestion  muß  auch  kurz  auf  die  Beein- 
flussung des  Verbrechens  durch  die  Religion  hingewiesen  werden.  Darüber 
besteht  wohl  kein  Zweifel,  daß  es  Menschen  gibt,  die  durch  ihre  Reli- 
gion vom  Verbrechen  abgehalten  werden.  Andererseits  weiß  man  auch, 
daß  eine  Religiosität  im  Sinne  des  Verbrechers  sehr  wohl  mit  einer  ver- 
brecherischen Gesinnung  vereinbar  ist  (46).  So  ermordete  der  Mönch 
Mazoch  den  Mann  seiner  Geliebten,  Pfarrer  Riembauer  seine  Geliebte, 
wobei  sie  den  Sterbenden  die  Absolution  erteilten  (890).  Eine  Frau 
tötete  ihr  neugeborenes  Kind,  nachdem  sie  ihm  die  Nottaufe  gegeben 
hatte  (77).  In  Grete  Beiers  Briefen  finden  sich  häufig  fromme  Aus- 
sprüche, bisweilen  sogar  angewendet  auf  ilire  verbrecherischen  Pläne  (119). 
In  der  Gießener   Klinik  wurde  ein   Student  begutachtet,   der  vor  einem 


J74  GÖRING :  KRlMliNALPSYCllOLOGlK 

Selbstmord  zurückschreckte,  weil  er  dann  nicht  die  Absolution  empfangen 
könne.  Er  scheute  sich  aber  nicht,  seinen  Vater  zu  ermorden,  ja  glaubte 
soear,  damit  ein  gutes  Werk  zu  tun,  da  sein  Vater  sich  mehrfach  den 
Tod  gewünscht  hatte.  Zugleich  mit  dem  Vater  tötete  er  drei  Geschwister, 
damit   diese    nicht    unversorgt   zurückblieben. 

Ob  die  Konfession  einen  Einfluß  auf  die  Begehung  eines  Verbrechens 
ausübt,  ist  sehr  mi wahrscheinlich.  Wassermann  (484)  bestreitet  es  für 
die  Juden,  und  ernste  Kritiker  halten  Ritualmorde  für  ausgeschlossen 
(i8ü,  i37)-  Nur  der  Ohrenbeichte  wird  von  einzelnen  Autoren  ein  ge- 
wisser Einfluß  zugeschrieben.  Einmal  kann  der  Beichtvater  durch  seinen 
Zuspruch  ein  Verbrechen  verhindern;  es  kann  aber  auch  die  infolge  der 
Beichte  zu  erteilende  Absolution  ein  die  Kriminalität  steigerndes  Moment 
sein  (169);  endlich  ist  erwähnt  worden,  daß  Geständnisse  über  das  Sexual- 
leben  im    Beichtstuhl    zu    Sittlichkeitsvergehen   geführt   haben    (i6i). 

Wichtiger  als  die  Religion  ist  für  die  Kriminalität  der  .\berglaube. 
i>  ist  weiter  verbreitet,  als  man  gewöhnlich  annimmt.  Hellwig,  ein 
Spezialist  auf  diesem  Gebiete,  hat  in  vielen  Aufsätzen  und  Broschüren 
darauf  hingewiesen,  daß  es  kaum  ein  Delikt  gibt,  welches  nicht  aus 
Aberglauben  begangen  werden  kann,  vom  Morde  angefangen  bis  zum 
harmlosen  Diebstahl  (178,  291);  besonders  hervorgehoben  seien  Gewalt- 
taten g^en  vermeintliche  Hexen,  Leichenschändungen  und  Meineid. 
Löwenstimm  (3 12)  hat  über  religiösen  Fanatismus  berichtet,  der  mit 
Ermordungen  einherging.  Es  sei  auch  bemerkt,  daß  unter  Ausnutzung 
des  Aberglaubens  schwere  Eigentumsdelikte  begangen  werden  (178); 
dahin  gehört  endlich  auch  die  Kurpfuscherei  mit  ihren  Sympathie^ 
und  VVunderkuren  (178,  172)  und  die  Ausnutzung  des  Geister- 
glaubens  (427,   4i6)- 

E.    DIE  WIRKUNG  DER  EINFLÜSSE   AUFEINANDER 

Schon  bei  Besprechung  der  einzelnen  Einflüsse  mußte  immer  wieder 
darauf  hingewiesen  Averden,  daß  es  nur  selten  eine  einzige  Ursache  ist, 
die  zum  Verbrechen  führt.  Meist  findet  ein  Zusammenwirken  mehrerer 
Ursachen  statt.  Die  dabei  denkbaren  Kombinationen  sind  natürlich  sehr 
zahlreich.  Es  besteht  die  Möglichkeit,  daß  eine  ungünstige  Veranlagung 
durch  ein  günstiges  Milieu  nicht  in  Erscheinung  tritt  (529).  Die  un- 
günstige Veranlagung  kann  aber  auch  so  stark  sein,  daß  das  Milieu 
seinen  Einfluß  nicht  mehr  zur  Geltung  zu  bringen  vermag.  Sie  ist  nicht 
immer  gleichartig,  wie  wir  gesehen  haben,  denn  sie  kann  nicht  nur  quan- 
titativ, sondern  auch  qualitativ  verschieden  sein.  So  kann  z.  B.  die  un- 
günstige Veranlagung  mehr  auf  dem  moralischen  oder  mehr  auf  dem 
affektiven  Gebiete  liegen.  Es  gibt  auch  Fälle,  in  denen  das  Milieu  für 
die  Verbrecherlaufbahn  eines  Menschen  ausschlaggebend  wurde.  Es  ist 
aber  auch  denkbar,  daß  eine  Veranlagung  so  ausgezeichnet  ist,  daß  selbst 
das  ungünstigste  Milieu  ohne  Wirkimg  bleibt.  Die  kosmischen  Einflüsse 
scheinen  eine  nur  untergeordnete  Rolle  zu  spielen.  Alkoholismus  und 
syphilitische  Gehimerkrankungen  können  an  sich  ausschlaggebend  für 
Delikte  sein ;    man  wird  aber  immer  daran  denken  müssen,  daß  bei   der 


PIK  wiKKU.NG  imw  i:i\Fi,üssE  aikkina.ndl:!; 1_75 

Akqiiisilioii  dieser  Krkrankiuigen  in  iloii  allormoisteu  Fällen  die  Veran- 
lagiiiii!'  lind  <las  Milien  eine  \ves«'ntliclie  IU)11<^  gespielt  haben.  Üborliaupt 
wird  man  in  jodein  einzelnen  l'alle  genan  |)nilen  müssen,  ob  nicht  nel)en 
der  bervorsttvhi'iiden  l  rsache  noch  andt're  vorhanden  sind;  iiunst  >viid 
man  sie  linden,  vor  allem  im  Zusammenwirken  von  Veranlagung  und 
Milieu;  so  fand  Grüble  (i/|8),  dali  l)ei  den  Flehinger  Zwangszc>glingeu 
in  /|i  Prozent  \eraidagung  und  Miliou  /u  gleichen  Teilen  an  <ler  Ver- 
wahrlosung  schuld    waren. 

Trotz  dit'ser  auljerordentiichen  Mannigfaltigkeit  hat  man  inmier  wieder 
versucht,  eine  Einteilung  der  \  erbrecher  vorzunehmen.  Nur  die  klassi- 
sche Strafrechtschule  will  nichts  davon  wissen;  so  erwartet  z.  B. 
Högel  (198)  von  der  Einführung  des  biologischen  Momentes  bei  der  Ein- 
teilung der  Verbrecher  nui'  Schallen:  er  will  lediglich  eine  Trennung 
zwischen  Erwachsenen  und  Jugendlichen  gelton  lassen.  EHe  anderen 
bemühen  sich,  eine  brauchbare  Einteilung  zu  finden;  doch  ist  man  noch 
zu  keinem  endgültigen  Ergebnis  gelangt,  v.  Liszt  (3o4)  teilt  die  ganze 
Kriminalität  in  die  akute  und  chronische;  er  erwähnt  ausdrücklich, 
daß  bei  der  ersteren  der  äufk^re  Anlaß,  bei  der  letzteren  die  dauernde 
Eigenart  über>vi^e;  dem  entspricht  die  Einteilung  von  Marx  ('inb)  in 
Situationsverbrecher  und  verbrecherische  Persönlichkeit.  Kauf f mann  (2  53) 
unterscheidet  den  willensschwachen  Verbrecher,  den  Landstreichertyp,  zu 
dem  er  auch  die  Leidenschafts-  und  Gelegenheitsverbrecher  rechnet,  von 
dem  energischen  Verbrecher.  Er  hat  bei  dieser  Einteilung  die  Milieu- 
wirkung weniger  berücksichtigt,  <lagegen  zwei  verschiedenartige  Veran- 
lagungen als  Grundlage  angenommen.  Nur  auf  die  Veranlagung  stützt 
sich  Garofalo  (112),  wenn  er  zwischen  den  durchaus  unmoralischen, 
den  heftigen,  den  haltlosen  und  den  zynischen  Verbrechern  unterscheidet. 
Am  differenziertesten  gliedert  Aschaffenburg  (i4),  und  zwar  in  Zufalls-, 
Affekts-,  Gelegenheits-,  Vorbedachts-,  Rückfalls-,  Gewohnheits-  und  Be- 
rufsverbrecher. ^ebaek  (478)  griff  in  seinem  an  die  Brüsseler  anthro- 
pologische Gesellschaft  191 1  eingereichten  Bericht  unter  besonderer  Her- 
vorhebung der  endogenen  und  exogenen  Momente  auf  Aschaffenburg 
zurück.  Zafita  (5 10)  hat  versucht,  die  Verbrechertypen  psychologisch 
zu  systematisieren;  von  denen,  die  die  verbrecherische  .Vbsicht  unmittel- 
bar verwirklichen,  nennt  er  die  Verbrecher  mit  emotionalem  Affekt  und 
die  mit  intellektuellem  Defekt;  ihnen  stellt  er  die  Verbrecher,  bei  denen 
der  verbrecherischen  Absicht  Bedenken  hinsichthch  Verbot  imd  Strafe 
entgegentreten,  gegenüber,  imd  zwar  den  uneigentlichen  Verbrecher,  bei 
dem  der  Gedanke  an  das  Verbot  den  konträren  Sollungsgedanken  verur- 
sacht, den  eigentlichen  Verbrecher,  bei  dem  der  Gedanke  an  die  Strafe 
imd  nur  er  eine  der  .\bsicht  konträre  Strebung  hervorruft,  und  endlich 
den  moralisch  irren  Verbrecher,  bei  dem  die  Bedenken  überhaupt  keine 
konträre   Wollung   verursachen. 

Während  Zafita  auf  der  Psychologie  seine  Einteilung  aufbaut,  benutzen 
die  anderen  biologische  Grundlagen,  aber  nicht  ausschließlich:  immer 
spielt  auch  der  Erfolg  hinein.  I>er  einzige,  welcher  versucht  hat.  auf 
rein  biologischer  Gnmdlage  einen  bestimmten  Verbrechertyp  herauszu- 
arbeiten, war  Lombroso  (3o6,  307,  3o8).     Auf  Grund  bestimmter  psvchi- 


17Ö  GÖRING :  KRLVUNALPSYCHOLOGIE 

scher  Eigenschaften  in  Verbindimg  mit  körperlichen  Degenerationszeichen, 
auf  die  zuerst  Morel  (35 1)  aufmerksam  gemacht  hat,  konstruierte  er 
den  „geborenen  Verbrecher".  Über  Lombrosos  Lehre  entbrannte  ein 
heftiger  Streit;  die  Kritiken  sind  außerordentlich  zahlreich  (5o2).  Wäh- 
rend viele  Italiener,  >vie  Ferri  (86)  u.  a.  ihm  mit  großem  Beifall  zu- 
stimmten, hatte  er  in  Deutschland  besonders  heftige  G^ner  wie 
Bär  (27)  und  Näcke  (36i).  Doch  gab  es  auch  viele,  die  Lombrosos 
Verdienste  durchaus  anerkannten,  wenn  auch  nicht  so  uneingeschränkt 
Avie  Kurella  (285).  Sommer  (448)  trennte  die  Frage  nach  dem  geborenen 
Vorbrecher  in  zwei  Teile:  er  verneinte  die  Frage,  ob  sich  angeborene 
moralische  Abnormitäten  in  signifikanten  morphologischen  Kennzeichen 
ausdrücken,  dagegen  bejahte  er  die  Frage,  ob  es  Menschen  gibt,  die 
in  einem  so  jugendlichen  Alter  ausgeprägte  Neigung  zu  verbrecherischen 
Handlungen  zeigen,  daß  man  von  angeborenen  moradischen  Abnormitäten 
reden  kann.  Auch  Bleuler  (^2),  Garofalo  (112),  Gaupp  (ii3), 
Giuhlo  (i48),  Kauffmann  (253),  Longard  (3ii),  Svenson  (468)  u.  a. 
lehnen  Lombrosos  Lehre  nicht  vollkommen  ab.  So  sagt  Bleuler  aus- 
drücklich, es  sei  kein  einziges  stichhaltiges  Argument  gegen  die  Auf- 
fassung Lombrosos  vorgebracht  worden.  Garofedo  (m)  hatte  auf  dem 
Internationalen  Kriminalanthropologischen  Kongreß  in  Paris  1889  bean- 
tragt, Lombrosos  Lehre  solle  von  einer  Kommission  methodisch  geprüft 
werden,  was  auch  einstimmig  angenommen  wurde;  doch  mußte  er  1896 
in  Genf  feststellen,  daß  nichts  geschehen  war  und  man  noch  immer  auf 
sich   oft   widersprechende   Einzeluntersuchimgen   angewiesen   ist    (112). 

Lombroso  hat  psychische  Eigenschaften  und  Degenerationszeichen  wahl- 
los zusammeaigestelit  und  geglaubt,  aus  ihnen  einen  Verbrechertyp  kon- 
struieren zu  können.  Er  hat  nicht  versucht,  ihre  Ursachen  zu  ergründen. 
Erst  allmählich  hat  man  angefangen,  psychische  und  morphologische  Ab- 
normitäten, die  man  beim  Verbrecher  findet,  mit  bestimmten  Störungen 
in  Beziehung  zu  setzen.  So  hat  Sommer  darauf  hingewiesen  (448),  daß 
sehr  oft  ein  Zusammenhang  zwischen  Abnormitäten  des  Schädelbaues 
und  in  der  frühesten  Entwicklungszeit  überstandenen  Gehirnerkrankungen, 
die  angeborenen  Schwachsinn  oder  Epilepsie  hervorrufen  können,  besteht. 
Andere  morphologische  Abnormitäten,  wie  mangelhafte  Ausbildung  der 
sekundären  Geschlechtsmerkmale  und  übermäßige  Ausbildung  der  Extre- 
mitäten, finden  wir,  wie  Fischer  ausführlich  angibt  (91,  92),  beim  Eu- 
nuchoidismus. Bär  (27)  und  Kiu'ella  (283)  betonen  die  Häufigkeit  un- 
gewöhnlich dichten  Haares  bei  schwachem  Bartwuchs,  das  späte  Er- 
grauen und  Ausfallen  des  Haares,  das  frühzeitige  Auftreten  von  Falten 
und  Runzeln  im  Gesicht,  Lombroso  (3o6)  die  große  Spannweite  der  Arme 
im  Verhältnis  zm*  Körperlänge  bei  Verbrechern,  alles  Symptome,  die  wir 
beim  Eunuchoiden  finden.  Auch  Tierexperimente  haben  zu  der  Erkenntnis 
geführt,  daß  das  innersekretorische  System  auf  die  Körperbildung  einen 
sehr  starken  Einfluß  ausübt,  so  ist  von  Abderhalden  (i)  u.  a.  an  Kaul- 
quappen gezeigt  vwrden,  daß  das  Füttern  mit  wirksamen  Substanzen  inner- 
sekretorischer Drüsen  erhebliche  gesetzmäßige  Mißbildimgen  hervorruft. 

Aber  nicht  nur  bezüglich  der  morphologischen  Abnormitäten  finde! 
man   Gesetzmäßigkeiten,    auch   bezüglich   der   persönlichen   Eigenschaften 


Dil;  WIHM  .N(;  DKK  KINFLÜSSK  AMFKINANDKR  177 

kann  man  unter  öen  Verbrechern  einzelne  Typen  herauslieben,  vor  allem 
den  eunuchoiden  xmd  epileploid«'n  Typ.  Bei  ersterem  finden  wir  ein 
verschlossem"«,  abweisendes,  miljtrauisclu's,  teilnahndoses,  entschluliun- 
fähiges.  reizbar*^,  egoistisches  und  emptindliciie«  Wesen;  Fischer  (90) 
hält  den  Ausfall  der  inneren  Sekretion  der  (jK'schlechtsdrüse  für  das 
ursprüngliclie  ätiologische  Moment;  <lieser  wiederum  hat  seine  Ursache 
in  der  mangelhaften  Geschlechtsdrüsenentwicklung,  die  nach  Fischers 
Ansiclit  entweder  auf  einen  ungenügenden  Reiz  der  Zirbeldrüse  auf  die 
Geschlechtsdrüse  oder  auf  eine  Unterwertigkeit  der  Geschlechtsdrüse  und 
dadurch  hervorgerufene  mangelhafte  Reaktionsfähigkeit  auf  Reize  der 
Zirbeldrüse  beruht.  Jedenfalls  ruft  diese  mangelhafte  Funktion  der  Ge- 
schlechtsdrüse eine  Enterotisierung  des  gosamteu  innersekretorischen 
Systems  hervor.  Der  epileptoido  Typ,  der  neben  höflichen  Formen,  ober- 
flächlicher Religiosität  imd  Pedanterie  eine  egozentrische  Einstellung, 
Reizbarkeit  mit  Neigung  zu  impulsiven  Handlungen  und  Empfindlichkeit 
aufweist,  scheint  u.  a.  auch  auf  innersekretorischen  Störungen  derNelx^n- 
nieren  zu  beruhen.  Fischer  (98,  94)  hofft,  nicht  nur  Krämpfe  durch 
Entfernung  einer  Nebenniere  (58  a)  günstig  beeinflussen  zu  können, 
sondern  auch  Reizbarkeit  und  Jähzorn  zu  mildem. 

Zu  diesen  beiden  Typen  kommt  als  dritter  der  mit  einem  anomalen 
sexuellen  Triebleben  (275).  Diese  Anomalien  werden  meistens  für  an- 
geboren gehalten,  wenn  es  auch,  wie  Groß  sagt  (i/jo),  unter  jungen 
Leuten,  namentlich  wenn  sie  in  der  Erziehung  zurückgeblieben  sind,  un- 
entschiedene Naturen  gibt,  die  durch  irgendeinen  Einfluß  von  außen  zum 
Hetero-  oder  Homosexuellen  entwickelt  werden  können.  Strasser  (462) 
dagegen  glaubt,  man  tue  denjenigen  Kranken,  die  sich  als  Homosexuelle, 
als  Fetischisten,  Sadisten  usw.  betraichten,  sicher  kein  schwereres  Unrecht, 
als  daß  man  ihre  Krankheiten  mit  einer  angeborenen,  unbeeinflußbaren 
Veranlagung  belaste.  Nach  Hoche  (197)  erhalten  alle  Triebe  den  zuge- 
ordneten Vorstellungsinhalt  erst  im  Einzelleben;  was  von  vornherein  ab- 
norm sein  könne,  sei  eine  das  gewöhnliche  Maß  übersteigende  Bestimm- 
barkeit des  Geschlechtstriebes  durch  zufällige  erste  Eindrücke  und  eine 
vom  Gewöhnlichen  abweichende  Gefühlsbetonung,  durch  welche  Lust  und 
Unlust  nicht  von  denselben  Eindrücken  hervorgerufen  werde,  wie  bei  der 
Mehrzahl  der  übrigen  Menschen.  Welch  große  Rolle  das  assoziative  Mo- 
ment in  geschlechtlichen  Dingen  spielt,  hat  auch  Senf  (437)  an  einzelnen 
Beispielen  ausgeführt.   Stekel  spricht  von  einer  Neurose  (454  a). 

Die  neueren  Untersuchungen  auf  innersekretorischem  Gebiete  weisen 
uns  einen  ganz  anderen  Weg  (5 19).  Schulz  (429)  und  Steinach  (455) 
haben  bei  Tieren  durch  Transplantation  von  Geschlechtsdrüsen  Männchen 
feminiert  und  Weibchen  maskuliert.  Lichtenstern  (292)  hat  durch  eine 
nach  einer  Kastration  vorgenommene  Hodenimplantation  positive  Re- 
sultate erzielt;  ihm  und  Mühsam  (352  a)  ist  es  auch  gelungen,  durch 
Einpflanzung  normaler  Hodensubstanz  bei  Homosexuellen  den  perversen 
Geschlechtstrieb  normal  einzustellen.  Auf  Grund  dieser  Untersuchungen 
behauptet  Fischer  (92)  mit  Recht,  daß  der  Geschlechtstrieb  keine  an- 
geborene Gehirnanlage  sei;  seine  Ausbildung,  d.  h.  die  Erotisierung  der 
Psyche,  sei   die   Leistung  der  reifen   Geschlechtsdrüse,   eine  Anschauung, 

12    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


^7g  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

die  auch  schon  in  der  i/j.  Auflage  von  Krafft-Ebbings  Psychopathia 
sexualis  erwälint  wird.  Fischer  konunt  weiter  auf  Grund  anderer  Unter- 
suchungen zu  dem  Schluß,  daß  die  Wirkung  der  innersekretorischen 
Keimdrüse  sowohl  auf  die  morphologischen  Eigenschaften  wie  auf  die 
Gharakteranlagen  keine  unmittelbare  ist,  sondern  durch  eine  Vergeschlecht- 
lichung   des   ganzen   innersekretorischen   Apparates   zustande   kommt. 

Von  großer  Bedeutung  wäre  es,  würde  man  noch  den  psychopathischen 
Typ  in  dieses  System  einordnen  können.  Seine  Symptome,  die  von  Birn- 
baum ausführlich  beschrieben  sind  (37),  sind  die  Neigung  zu  überstarken 
Empfindungen,  einseitige  Gefühlsbetontheit,  übertrieben  ausgeprägte  Gha- 
rakterzüge,  Disharmonien,  labile  Stimmung  und  Widers tandslosigkeit. 
Von  ihm  zu  trennen  wäre  der  Verbrecher  mit  moralischen  Defekten,  der 
.\hnb'chkeit  mit  dem  eunuchoiden  Typ  besitzt.  Sowohl  beim  psycho- 
pathischen als  auch  beim  moralisch  defekten  Verbrecher  muß  keine 
Intelligenzstörung  vorhanden  sein.  Gemäß  dieser  Erkenntnis  in  Verbindung 
mit  der  seit  langem  bekannten  imd  praktisch  verwerteten  Erf  ahrimgstatsache, 
daß  man  durch  Kastration  vorher  unbrauchbare  Tiercharaktere  zu  brauch- 
baren Arbeitstieren  machen  kann,  ferner  den  Ergebnissen  der  Experimente 
von  Gannon  (61  a)  und  de  la  Paz  (375  a),  w^elche  nach  Entfernung  der 
Nebennieren  bei  Katzen  ein  Fehlen  der  Affektäußerungen  feststellen  konn- 
ten, und  den  Feststellungen  Nagels  (365  a)  und  Stillings  (458  a),  daß 
bei  den  Tieren  in  der  Brmiftzeit  mit  ihrer  gesteigerten  Reizbarkeit  und 
Aggressivität  eine  Hypertrophie  der  Nebennieren  einhergeht,  nimmt  Fischer 
an  (92),  daß  der  Charakter,  soweit  er  unabhängig  von  der  Intelligenz  ist, 
keine  selbständige  Gehirnanlage  ist,  sondern  die  Reaktion  des  Gehirns 
auf  die  Tätigkeit  des  innersekretorischen  Systems.  Zu  dieser  Annahme 
hat  auch  die  Tatsache  beigetragen,  daß  bei  heftig  auftretenden  Affekten 
fast  immer  eine  mehr  oder  weniger  erhebliche  Bewußtseinstörung  zu 
finden  ist;  Voß  (48o)  hält  bei  allen  Affektverbrechen  eine  lückenhafte 
Erinnerung  für  naturgesetzlich,  weil  das  plötzliche  Eintreten  oder  rapide 
Anschwellen  eines  auf  Vorstellungen  beruhenden  Gefühles  mit  solcher 
Intensität  auftritt,  daß  dadurch  jeder  anderweitige  Bewußtseinsinhalt  ver- 
drängt wird  (247)-  Auf  Grund  der  Freudschen  Lehre  glaubt  Stekel  (454), 
daß  jeder  Neurotiker  mit  „verdrängten"  kriminellen  Gedanken  kämpfe; 
er  erkranke,  weil  sich  seine  psychische  Energie  im  Kampfe  zwischen  dem 
Kriminellen  und  den  ethischen  Hemmungsvorstellungen  aufreibe. 
Ribot  (4o3)  hat  schon  die  Theorie  aufgestellt,  daß  das  Wesentliche,  die 
Wurzel  des  Gefühlslebens,  nicht  in  dem  Bewußtsein  von  Lust  und  Un- 
lust liege,  sondern  daß  die  Ursachen  in  den  Tiefen  des  körperlichen  Ge- 
fühls zu  suchen  seien,  welches  seinerseits  eine  Resultante  der  Lebens- 
fähigkeiten darstelle.  Wichtig  für  die  Beurteilung  der  Affekte  ist  die 
Äußerung  Mezgers  (339),  ^  *®i  falsch,  daß  die  kurze  Dauer,  der  rasche 
Ablauf  ein  charakteristisches  Merkmal  des  wahren  Affektes  bilde,  wie  es 
vielfach  angenommen  werde;  genau  so  gut,  wie  es  akute  Affekte  gebe, 
kämen  auch  chronische  Affekle  vor,  vor  allem  auf  pathologischer  Grund- 
lage. Mezger  (337)  führt  die  Affekte  zurück  auf  die  ihnen  zugrunde 
liegenden  Triebe;  gerade  in  ihnen  —  den  guten  und  schlechten  —  sei 
die   kriminalpsychologische    Bedeutung   der   Affekte   zu   suchen.      Jeden- 


du:  Wliikl  .NG  DEU  EIINFLÜSSE  AUFEINANDER 179 

falls  ist.  wie  Kurolla  (aSS)  sagt,  die  Erforschung  der  individuellen  Affekt- 
disposition das  fundanientidc  Problem  der  KrimLnalpsychologic,  und 
Fischer  (yi?)  verlangt  mit  Recht  als  eine  der  wesentlichsten  Aufgaben  der 
Kriminal[^>sychologie  die  Analysierung  der  Verbrecher  nach  ihren  Gha- 
rakteix'igeiischaften  und  Trieben.  Vielleicht  wird  es  möglich  sein,  auf 
Grund  der  Forschungen  über  imiere  Sekretion  bald  tiefer  in  das  Wesen 
des  Affekt-  und  Trieblcbens  einzudringen  und  vor  allem  die  psychopa- 
thischen   Verbrecher   genauer   zu  ergründen. 

Die  Störiuigen  des  innersekretorischen  Systems  werden  meist  auf  Ver- 
anlagung beruhen ;  doch  können  sie  auch  durch  Erkrankungen,  besonders 
in  der  Kindheit  oder  wiUirend  des  embryonalen  Lebens  sowie  durch  über- 
mäßigen Alkoholgenuß  entstanden  sein. 

Außer  diesen  Störungen  des  Affektes  und  Trieblebens  können  Erkran- 
kungen oder  mangelhafte  Veranlagung  der  Großhirnrinde  zu  Störungen, 
besonders  auf  intellektuellem  Gebiete,  führen  (190),  die  häufig  Anlaß  zu 
Delikten  geben.  Das  Gehirn  kann  primär  erkrankt  sein,  etwa  infolge 
von  vererbter  Syphilis,  oder  sekundär,  z.  B.  infolge  primärer  Erkran- 
kung der  Schilddrüse,  was  Myxödem  und  Kretinismus  hervorrufen 
kann   (A81,  24i). 


12* 


II.  DER  VERBRECHER  VOR  DER  TAT 

UNTER  BESONDERER  BERÜCKSICHTIGUNG 

EINZELNER  DELIKTSGRUPPEN 

Nachdem  wir  im  vorigen  Kapitel  die  Einflüsse,  die  zum  Verbrechen 
führen  können,  im  allgemeinen  besprochen  haben,  wenden  wir  uns  nun- 
mehr den  unmittelbaren  Ursachen  bestimmter  Deliktsgruppen  zu  und  zu- 
gleich dem  Verhalten  des  Verbrechers  vor  der  Tat.  Gewöhnlich  bezeichnet 
man  die  unmittelbare  Ursache  als  Motiv.  Manchen  ist  diese  Fassung 
allerdings  zu  eng;  so  meint  Wallner  (483),  man  müsse  unter  Motiv  ein- 
mal jede  innere  und  äußere  Bedingung  für  das  Zustandekommen  einer 
Handlung  verstehen,  andererseits  den  durch  eine  Handlung  bezweckten 
Erfolg.  Hübner  imd  Löwenstein  (221a)  definieren  das  Motiv  als  die 
Vorstellung  eines  Zweckes,  sofern  sie  Antrieb  zur  Tat  wird.  Handelt  es 
sich  bei  Begehung  eines  Verbrechens  nicht  um  eine  Triebhandlung,  so 
ist  ein  Entschluß  erforderlich.  Kleemann  (205)  unterscheidet  zwischen 
Wahlhandlung,  bei  der  aus  zwei  Motiven  eines  gewählt  wird,  und  Willkür- 
handlung, bei  der  die  Wahl  aus  mehreren  Motiven  getroffen  wird. 
Zafita  (5ii)  hat  die  psychischen  Voraussetzungen  des  Entschlusses  ge- 
prüft und  sie  in  der  zeitlichen  Differenz  zwischen  Entschlußfassung  und 
Realisierung  sowie  in  der  Lösung  des  Wollungskonfliktes  gefunden;  diese 
Lösung  besteht  bei  gleichartigen  Wollungsgedanken  in  der  Überwindung 
des  einen  durch  den  anderen,  bei  verschiedenen  in  der  Erreichung  des 
relativ  höchsten  Intensitätsgrades  des  Begehrungs-  bzw.  Sollungselements. 
Hurwicz  (226)  hat  darauf  hingewiesen,  daß  die  Verbrechensmotive  nicht 
nur  emotioneller,  sondern  auch  intellektueller  Art  sein  können,  sich  oft 
sogar  zu  Rechtfertigungsgründen  steigern.  Eine  weitere  psychologische 
Differenzierung  hat  Senf  versucht  (h^'j) ;  er  nennt  als  Verbr^hensmotive 
die  absolute  Unverfügbarkeit  über  Hemmungsvorstellungen  xmd  endlich 
die  systematische  Abstumpfung  und  Vernichtung  der  Hemmungs Vorstel- 
lungen. Nicht  selten  findet  man,  daß  es  nicht  möglich  ist,  einen  Ein- 
klang zwischen  der  Tat  und  dem  später  angegebenen  Motiv  herzustellen, 
ohne  daß  man  dem  Täter  eine  Lüge  vorwerfen  könnte.  In  diesen  Fällen 
handelt  es  sich  gewöhnlich  um  eine  Triebhandlung,  und  die  Motivierung 
ist  eine  retrospektive  (448). 

Um  Aufschluß  über  die  Motive  zu  erhalten,  ist  es  notwendig,  daß  alle 
Hilfsmittel  gesammelt  werden,  die  auf  sie  Bezug  haben  können.  Allge- 
mein ist  aus  der  Schrift  (i35,  267)  und  Sprache  (260,  i5i)  der  Ver- 
brecher manches  zu  entnehmen,  was  kriminalpsychologisch  von  Interesse 
ist.  Im  einzelnen  können  die  Aufzeichnungen  von  Verbrechern,  die  Kerker- 
palimpseste  (809)  und  Autobiographien  (289)  von  Bedeutung  sein;    doch 


DF.!?  VERRHECHKR  VOK  DKR  TM' ]8] 

darf  man  iiiclil  vergessen,  dalS  dioso  Aufzeichnungen  meist  l)ef>timmU' 
Zwecke  verfolgeji ;  vor  allem  lieben  die  \  erbrtx:her  aus  Eitelkeil  oder 
anderen  Gründen  ihre  Handlungsweise  zu  beschönigen.  Ebenso  wird 
man  Aussagen  der  Verbrecher  vor  Gericht  nur  mit  Vorsicht  verwenden 
dürfen.  Dagegen  wird  man  manchi«  «rlahren  können,  wenn  man,  wie 
Plvnl  (<)9).  kauffmann  (203)  und  Klätr<'i'  (-'-59)  mit  den  Verbrecliern 
/usanimen  lebt,  da  sie  sich  natürlich  in  Freiheit  ganz  anders  geben  als 
in  Gefangenschaft. 

Besonders  mannigfaltig  und  nicht  selten  unklar  sind  die  Ursachen, 
die  zum  Morde  führen  ^  Einer  der  wichtigsten  Gründe  für  die  Unklar- 
heit ist  darin  zu  suchen,  daß  der  Hauptzeuge  der  Tat,  der  Ermordete, 
keine  Angaben  mehr  machen  kann.  Besonders  selten  dringt  man  in  die 
Psvcho  des  Mörders  ein.  wenn  es  sich  um  einen  Gattenmord  handelt; 
oft  fehlt,  wenigstens  äußerlich,  die  Zerrüttung  der  Ehe,  wie  Keukauff 
sie  in  2  Fällen  geschildert  hat  (/joi).  Voß  meint  (479),  die  Ehe  sei 
wie  mit  einer  chinesischen  Mauer  umgeben.  Überhaupt  ist,  sobald  das 
Sexualleben  bei  der  Tat  eine  Rolle  spielt,  eine  Enthüllung  der  Motive 
schwer  möglich.  Bei  dem  von  mir  begutachteten  Gattenmörder  Rein  lag 
der  Verdacht  vor,  er  habe  ein  Verhältnis  mit  einem  Mädchen  gehabt  und 
seine  Frau  ermordet,  um  das  Mädchen  heiraten  zu  können;  der  Beweis 
konnte  nicht  erbracht  werden,  da  sowohl  der  Mörder  wie  auch  das  Mäd- 
chen jegliches  Verhältnis  zueinander  bestritten,  obwohl  die  Zeugenaus- 
sagen auf  ein  solches  hinwiesen.  —  Es  gibt  aber  auch  Fälle,  in  denen 
tatsächlich  kein  greifbares  Motiv  vorliegt,  so,  wie  es  scheint,  bei  dem  ge- 
walttätigen, verschlossenen,  trotzigen  und  zynischen  Massenmörder  Stephan 
VVanyck  (392)  und  dem  von  Huler  beschriebenen  jugendlichen  Raub- 
mörder, der  schon  in  der  Schule  schlecht,  verschlossen  und  heimtückisch 
war  (222).  Vor  allem  wird  dies  auch  bei  den  Giftmördern  behauptet. 
Hellwig  (170)  meint,  es  handle  sich  bei  diesen  Fällen  lediglich  um  ein 
dämonisches  Behagen,  was  auch  Scholz  (42 4)  von  der  Gesche  Gottfried 
annimmt,  während  Abels  (3)  und  Wulffen  (5o5)  bei  ihnen  eine  sexuelle 
Komponente  erkennen  zu  können  glauben.  Bloch  (44)  sieht  bei  vielen 
professionellen  Giftmischerinnen,  vrie  Jegado,  Brivilliers,  Gottfried  in 
ihren  Taten  eine  sadistische  Neigung,  was  auch  bei  der  Zwanziger  nicht 
ausgeschlossen  erscheint.  Feuerbach  meint  allerdings  (87),  das  Gefühl 
unwiderstehlicher  Macht,  die  Freude,  eine  Kraft  zu  besitzen,  womit  sie 
jede  Beschränkung  nach  Gefallen  umwerfen,  jeden  Zweck  erreichen  könne, 
sei  der  Grund  für  die  Giftmorde  der  Zwanziger;  sie  selbst  sagte  dem 
Untersuchungsrichter,  ihr  Tod  sei  für  die  Menschen  ein  Glück;  denn  es 
wniirdo  ihr  nicht  möglich  gewesen  sein,  die  Giftmischereien  zu  unterlassen. 

Am  verständlichsten  dürfte  der  Raubmord  erscheinen;  er  ist  nur  einem 
moralisch  tiefstehenden  Individuum  zuzutrauen,  was  auch  in  den  zahl- 
reichen beschriebenen  Fällen  zum  Ausdruck  kommt;  nur  gehen  die  An- 
sichten darüber  auseinander,  ob  die  Raubmörder  langsam  dazu  erzogen 


'  Das    Wort  Mord  wird  im  folgenden  nicht  im  juristischen  Sinne   gebraucht,    sondern  in 
allen  Fällen,  in  denen  Tötungsabsicht  bestand. 


J82  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE    

werden  und  erst  andere  Delikte  verüben,  oder  ob  sie  gleich  mit  dem  Morde 
beginnen  (208,  Agi)'  ^^  ^^^  Mörder  im  allgemeinen  gilt,  daß  sie 
die  Tat  zumeist  im  jugendlichen  Alter  begehen,  sich  also  zum  Morde 
sehr  zeitig  entschlossen  haben  (384).  Der  Raubmord  wird  vorher  genau 
überlegt;  nur  selten  zögert  der  Täter  vor  der  Ausführmig  infolge  von 
Gewissensbissen  oder  ninamt  Alkohol  zu  sich,  umi  genügend  Kraft  zur 
Tat  zu  erlangen.  Zuweilen  wird  nur  ein  Raub  in  erster  Linie  beabsich- 
tigt; der  Täter  ist  sich  aber  schon  vor  der  Tat  schlüssig,  daß  er,  falls 
er  auf  Widerstand  stoßen  sollte,  die  Ermordung  des  Gegners  vornehmen 
werde;  auch  für  diesen  Fall  wird  ein  Plan  vorher  entworfen.  Nicht  selten 
handelt  es  sich  um  mehrere  Täter,  unter  denen  meist  einer  —  nicht  selten 
eine  Frau  (2  44)  —  der  intellektuelle  Urheber,  ein  anderer  der  Aus- 
führende ist.  Daß  große  Not  zum  Raubmord  führt,  kann  nur  dann 
angenommen  werden,  wenn  außerdem  die  endogenen  Bedingungen  dazu 
gegeben  sind,  wie  in  Haldys  Fall  (i53).  Psychologisch  aufs  engste 
mit  dem  Raubmord  verknüpft  sind  die  Morde,  die  auch  aus  Habgier 
begangen  werden,  ohne  daß  damit  eine  Beraubung  im  juristischen  Sinne 
verbunden  ist.  Gewöhnlich  handelt  es  sich  um  die  Erlangung  eines  Erbes 
oder  einer  Versicherungsumme.  Diese  Morde  sind  meist  von  langer 
Hand  vorbereitet;  so  hatte  Hau  seinen  Plan  in  England  erdacht;  er  gelang 
nicht  vollkommen;  trotzdem  ließ  er  nicht  von  ihm  ab;  es  ist  sehr  wahr- 
scheinlich, daß  ihn  vor  der  Tat  Gewissensbisse  plagten,  die  er  durch 
Verkehr  mit  Prostituierten  zerstreute  (5oi).  Es  sind  Fälle  bekannt,  wie 
der  des  Frankfurter  Mörders  Hopf  und  des  Grazer  Zotter  (459),  in  denen 
die  Mörder  heirateten,  um  zu  morden ;  in  den  genannten  Fällen  gelang  den 
Tätern  dieses  Manöver  mehrfach;  immer  wdeder  brachten  sie  ihre  Frauen 
um,  ohne  ertappt  zu  werden.  Auch  die  Engelmacherin,  die  für  ein  Ent- 
gelt Kinder  umbringt,  gehört  hierher  (2  44)-  Den  gleichen  sittlichen 
Tiefstand  zeigen  die  wenigen  Mörder,  die  die  Tat  begehen,  um  berühmt 
zu  werden,  wobei  meist  noch  Habgier  mitwirkt,  ferner  der  von  Höpler 
geschilderte  Fall  (209),  in  dem  ein  Mörder  im  Gefängnis  einen  Mord 
beging,  um  für  den  ersten  Mord  das  Wiederaufnahmeverfahren  durch- 
zusetzen. 

Verhältnismäßig  zahlreich  sind  die  Gatten-  rnid  Familienmorde.  Mit 
Recht  sagt  Voß  (479)  >  daß  gerade  die  Ehe  der  Nährboden  für  die 
schwersten  Konflikte  und  heftigsten  Leidenschaften  sei.  Das  ständige 
Zusammensein  steigert  Widerwillen  und  Haß;  schließlich  genügt  bei  leicht 
erregbaren  Menschen  ein  Wort  oder  sonst  ein  unbedeutender  Anstoß,  um 
eine  furchtbare  Tat  hervorzurufen.  Nicht  selten  gesellt  sich  zu  dem  Haß 
eines  Ehegatten  seine  Liebe  zu  einem  dritten  Menschen.  In  diesen  Fällen 
tötet,  wenn  es  sich  um  Frauen  handelt,  meist  nicht  der  Ehegatte,  sondern 
der  Geliebte  unter  dem  Einfluß  des  Ehegatten,  wie  der  Allensteiner  (428) 
und  andere  Prozesse  zeigen;  oft  ist  der  Altersunterschied  zwischen  den 
Ehegatten  sehr  erheblich  und  der  Grund  für  die  ehelichen  Zwistig- 
keiten  (4oi).  Dem  Morde  könnte  man  gleichstellen,  wenn  ein  Mensch 
einen  anderen  durch  gehässige,  still  arbeitende  Verleumdung  zum  Selbst- 
mord treibt  (4oi).  Meist  wird  der  Mord  vorher  genau  vorbereitet.  Der 
Haß  muß  sich  nicht  immer  auf  den   Ehegatten  beziehen:   er  kann  sich 


DER  VERBRECIIKK  VOR  DER  TAT 183 

auch  go^^n  andere  riditen,  die  im  Hause  wohnen,  besonders  g(^en  die 
Eltern  uiul  Sch\Niegereltern,  die  sich  auf  ihren  Altenteil  xurückgezogeii 
haben  luul  den  jungen  Leuten  zur  La>t  fallen,  was  Keukauff  aus  der 
Geschichte  und  dem  Lclx^n  der  Naturvölker  zu  erklären  versucht  {f\oi), 
schließlich  überhaupt  gegen  Leute,  die  im  Wege  sind;  so  ermordete 
ein  Neffe  seine  bei  ihm  und  seiner  ganzen  Familie  verhaßte  Tante,  weil 
sie  keine  pekmiiäre  l  nterstützung  leisten  wollte  (/»oi),  und  ein  Homo- 
sexueller den  Onkel  eines  von  ilim  zum  Sexualverkehr  erwählten  jungen 
Mannes,  weil  er  den  Verkehr  hindern  wollte  (33).  Kaum  glaublich  klingt 
der  von  zwei  jugendlichen  Mördern  angegebene  Grund,  der  Ermordete 
habe  sie  so  oft  verklatscht  (29). 

Eine  wichtige  Rolle  spielt  verschmähte  Liebe,  Eifersucht,  die,  wie 
Friedmann  sagt  (io5),  zur  dämonischen  Gewalt  wird,  wenn  man  sie 
systematisch  hegt  und  emporzüchtet.  Es  sind  genug  Fälle  bekannt, 
in  denen  besonders  der  Ehemann  seine  Frau  oder  deren  wirklichen  oder 
vermeintlichen  Liebhaber  umbrachte,  ohne  sich  vorher  lange  zu  besinnen, 
als  wenn  es  selbstverständlich  sei.  Reukauff  (4oi)  berichtet  von  einem 
Bulgaren,  der  aus  einer  Art  krankhaften  Verirrung  ideeller  Lebensauf- 
fassung sein  Mädel  ermordete,  und  Seyfarth  (44o)  von  einer  Frau, 
die  ihren  ersten  Liebhaher  erschoß  und  dem  zweiten  Schwefelsäure 
ins  Gesicht  goß,  so  dedi  er  erblindete;  nach  beiden  Taten  machte  sie 
Selbstmordversuche:  dem  zweiten  erlag  sie.  Bei  Urningen  ist  der  Mord 
aus  Eifersucht  eine  große  Ausnahme  (364)-  Ein  Fall  ist  von  Nema- 
nitsch  (4oi)  beschrieben,  ein  anderer,  in  dem  ein  Urning  merkmirdiger- 
weise  seine  Frau  aus  Eifersucht  tötete,  von  Näcke  (364).  Es  ist  übrigens 
nicht  nötig,  daß  sich  die  Eifersucht  gegen  ein  bestimmtes  Objekt  richtet: 
es  gibt  auch  eine  abstrakte  Eifersucht,  wie  Marcuse  sagt  (322),  aus 
sinnlichem  Despotismus. 

Es  kommen  Fälle  vor,  bei  denen  infolge  drückender  Not  zum  Morde 
gegriffen  wird;  meist  beabsichtigt  der  Täter  zugleich  sich  selbst  zu 
töten.  Der  Grad  der  Not  steht  dabei  in  der  Regel  in  umgekehrtem  Ver- 
hältnis zur  Schwere  der  Psychopathie.  Muralt  (355)  spricht  in  diesen 
Fällen  von  kompliziertem,  Straßmann  (463)  von  kombiniertem  oder 
erweitertem  Selbstmord  (487).  Liebe  zu  den  nächsten  Angehörigen, 
besonders  zu  den  unmündigen  Kindern,  und  Mitleid  mit  ihnen  sind  die 
Tnebfeder  zu  der  Tat.  Der  Entschluß  fällt  meist  sehr  schwer;  schließlich 
treibt  die  Verzweiflung  zur  Tat.  Ergreifend  ist  die  Schilderung  von 
dem  Schicksal  des  Christian  Holzwart  (5i5),  der  seine  Frau  und  Kinder 
umbrachte;  nichts  .Abnormes  konnte  an  ihm  festgestellt  werden,  nur 
das  Unglück  trieb  ihn  endlich  zur  Tat,  zu  der  ihm,  wie  er  selbst  sagte, 
die  Liebe  die  Kraft  gab;  der  Selbstmordversuch  mißglückte.  Zu  dieser 
Gruppe  gehören  die  meisten  Fälle  von  Massenmord,  soweit  sie  nicht 
von  Geistesgestörten  begangen  werden  (11 4,  494)-  Das  Mitleid  mit 
einem  unheilbar  kranken  Kinde  hat  schon  zum  Morde  geführt,  wenn 
die  Mutter  glaubte,  das  Kind  \\äirde  nach  ihrem  Tod  unversorgt  sein  (364)- 
Auch  bei  unglücklichen  Ehen  kommt  die  Tötung  der  Kinder  und  Selbst- 
mord nicht  so  selten  vor.    Erfolgt  die  Tat  gleich  nach  einem  ehelichen 


184  GÖRING :  KRIMrSALPSYCHOLOGIE 

Zwist,  so  sind  die  Vorbereitungen  meist  kurz;    die  Streitigkeit  wäre  dann 
das  auslösende  Moment  für  eine  schon  lange  beabsichtigte  Tat. 

Ein  interessanter  Fall  ist  von  Reukauff  beschrieben  (4oi),  in  dem 
ein  Selbstmordversuch  dem  Morde  vorausging;  der  Selbstmordversuch 
erfolgte  aus  wirtschaftlicher  Not  und  ehelichem  Zwiste,  der  Mord  wegen 
Verbitterung,  vor  aJlem  wohl  desw^en,  weil  die  Frau  auf  den  Selbst- 
mordversuch mit  den  sehr  schweren  Verletzungen  nicht  reagierte. 

Der  erweiterte  Selbstmord  kommt  auch  noch  vor  bei  Liebenden,  die 
aus  irgendeinem  Grunde  sich  trennen  müssen.  In  diesen  Fällen  ist  der 
Entschluß  meist  außerordentlich  schwer.  Tagelang  trägt  sich  das  Paar 
mit  dem  Gedanken;  aber  immer  wieder  wird  die  Tat  aufgeschoben. 
Gewöhnlich  ist  die  Frau  der  treibende,  der  Mann  der  ausführende,  infolge- 
dessen auch  der  hemmende  Teil.  Der  Einfluß  der  Frau  auf  den  Mann 
ist  unter  Umständen  so  bedeutend,  daß  man  von  einer  Hörigkeit  sprechen 
kann  (211).  Meist  liegt  eine  schwere  psychopathische  Veranlagung  bei 
beiden  Teilen  vor.  Seltener  sind  die  Fälle,  in  denen  auf  Wunsch  ein 
Mord  begangen  wird,  ein  lanschließender  Selbstmord  aber  nicht  beabsichtigt 
ist,  wie  im  Falle  Brunke  (407).  Psychologisch  kaum  verständlich  sind 
die  Morde,  die  ausgeführt  werden,  angeblich  um  selbst  hingerichtet  zu 
werden  (i84). 

Von  anderen  Ursachen  sind  noch  zu  erwähnen  der  Mord  aus  Rache, 
der  bei  uns  von  Frauen  ausgeübt  wird,  wenn  der  Geliebte  sie  verschmäht, 
auch  ohne  daß  dabei  Eifersucht  im  Spiele  zu  sein  braucht  (4oi) ;  besonders 
oft  finden  wir  ihn  bei  Slawen  imd  Südeuropäern,  von  denen  er  meist 
nicht  als  ein  entehrendes  Verbrechen  aufgefaßt  wird  (25i);  es  sei 
nur  an  die  korsische  Vendetta  erinnert.  Scholz  hat  einen  Fall  beschrieben 
(/|25),  in  dem  ein  1 4  jähriges  Mädchen  ein  2V2 jähriges  Kind  in  eine 
Klosettgrube  warf,  weil  es  von  der  Mutter  des  Kindes  eine  Ohrfeige 
bekommen  hatte,  und  ein  81/2  jähriges  Kind  schlug  und  dann  bewußtlos, 
aber  noch  lebend  verscharrte,  weil  es  angeblich  unartig  gewesen  war. 
Politische  Morde  waren  früher  vor  allem  in  den  romanischen  Ländern 
übhch  (2o4),  in  revolutionären  Zeiten  sind  sie  bekanntlich  auch  bei  uns 
beliebt.  Selten  ist  der  Mord  aus  Aberglauben.  Der  Lustmord  wird  bei 
den  Sexualdelikten  behandelt  werden.  Von  ihm  sind  die  Fälle  zu  unter- 
scheiden, in  denen  das  Opfer  getötet  wird,  um  den  Zeugen  eines  anderen 
Verbrechens,  z.  B.  einer  Notzucht,  zu  verdecken.  Diese  Fälle  sind  vielleicht 
auch  häufiger  als  die  Lustmorde.  Man  findet  sie  nicht  nur  zum  Ver- 
decken von  Sexualdelikten,  sondern  auch  von  anderen  Delikten,  besonders 
schwerer  Diebstähle,  und  nicht  zuletzt,  um  eine  Schwangerschaft  aus  der 
Welt  zu  schaffen;  im  letzteren  Falle  geht  eine  Vorbereitung  meist 
vorher,  während  bei  den  anderen,  besonders  bei  den  Sexualdelikten,  die 
Absicht,  zu  töten,  meist  plötzlich  auftritt. 

Bei  Jugendlichen  kommen  Morde  aus  Heimweh  vor  (242);  die  psycho- 
logische Erklärimg  ist  oft  schwer;  manchmal  wird  der  Drang  nach 
Hause  so  groß  sein,  daß  nichts,  selbst  ein  Mord  nicht,  gescheut  wird, 
lun  heimzukommen. 

Bei  Ermordung  durch  Geisteskranke  (129)  sind  die  Motive  nicht 
immer    leicht    sicherzustellen    (365) ;     oft    sind    sie    durch    die    der    Tat 


DEH  VEHBRECHER  VOR  DER  TAT 185 

zMgnin<l<'  lU>^'eiulo  WahuiiNN-  erklärbar:  es  handelt  sich  gewöhnlich  um 
\orfolgiiiig>i(l«MMi  odiT  sehr  schwere  Dcpri'ssioiieii  mit  Versündigungs- 
ideen; in  U't/.tenMM  Falle  handelt  <'s  sich  dann  um  Krmordung  d<'r  An- 
gehörigen mit  Selbstmordabsicht,  alst)  um  eine  Krgänzung  zum  normal- 
psychologischen erweiterten  Selbstmord.  Mt)rde  auf  Grund  von  Zwangs- 
gedanken sind  sehr  selten.  Angriffe  auf  Personen  in  Schlaftrunkenheit 
sind  mehrfach  beschrieb<Mi  (36'i),  ohne  dalS  jedoch  die  Ermordung 
erfolgte. 

Psychologisch  am  nächsten  steht  dem  Mord  die  beabsichtigte  schwere 
Körperverletzimg;  die  Motive  können  dieselben  .sein.  .Auf  den  tiefsten 
sittlichen  Stand  weisen  die  Kindsmißhandlungen;  die  Gründe  dafür 
sind  meist  darin  zu  suchen,  daß  ein  Elternteil  zum  zweiten  Male  ge- 
heiratet hat,  das  Kind  ihnen  lästig  ist,  oder  daß  bei  unehelichen  Kindern 
eine  Entfremdung  zwischen  Mutter  und  Kind  eingetreten  ist,  weil  es 
zuerst  bei  Fremden  aufgezogen  wurde  (210,  f\^\2).  Teils  werden  sie  im 
Affekt,  teils  aber  auch  mit  der  Absicht,  den  Tod  des  Kindes  herbei- 
zuführen, vorgenommen. 

Von  moralischem  Defekt  zeugen  auch  die  Kastrationen  (219)  und  auf 
Entstellung  hinzielende  Körperverletzungen  (78)  aus  Eifersucht.  Das 
Schlagen  der  Kinder  auf  das  Gesäß  (20)  und  das  sogenannte  Messer- 
stechen (862)  können  auf  sadistische  Neigungen  hinweisen;  doch  sagt 
Näcke  mit  Recht  (364),  nicht  laus  der  Tat,  sondern  nur  aus  den  Motiven 
könne  erkannt  werden,  ob  Sadismus  vorliege. 

Die  meisten  Körperverletzungen  werden  im  Affekt  begangen.  Die 
Epileptoiden  sind  vor  allem  gefährlich;  der  kleinste  Anlaß  genügt,  um 
eine  Entladung  herbeizuführen.  Als  krasser  Fall  einer  Körperverletzung 
im  Affekt  sei  der  von  Altmann  (7)  erwähnt,  in  dem  der  Täter  nach 
dem  Beischlaf  die  Dirne  schwer  verletzte,  aus  Ekel  über  sich  selbst 
und  aus  Wut  darüber,  daß  die  Dirne  ihn  verleitet  hatte.  Bei  den  Affekt- 
delikten spielt  der  voraufgegangene  Alkoholgenuß  meist  eine  große  Rolle 
(274)-  Sehr  lehrreich  sind  die  statistischen  Mitteilungen,  die  darüber 
veröffentlicht  worden  sind,  vor  allem  die  Erhebungen  in  Bayern  (36A) 
imd  Belgien  (186).  Es  sei  auch  auf  die  Gruber-Kräpelinschen  Wand- 
tafeln, auf  Azcarates  (25),  Aschaffenburgs  (i4)  und  Aulls  (2/4)  Aus- 
fühnuigen  sowde  auf  die  Berufs-  und  geographische  Verbrecherstatistik 
(53,  217,  344)  hingewiesen.  Man  darf  aber  nie  vergessen,  daß,  wie 
schon  oben  erwähnt,  in  der  Statistik  immer  nur  eine  Bedingung  zum 
Ausdruck  konmit  (258)  und  außerdem  vielfach  Delikte  zusammengefaßt 
werden,  die  psychologisch  nicht  zusammengehören. 

Natürlich  reagiert  nicht  jeder  Mensch  auf  Alkohol  gleichstark;  tritt 
nach  geringen  Mengen  eine  übermäßig  starke  Wirkung  ein,  so  spricht 
man  von  pathologischem  Rausch.  An  der  Münchener  Klinik  habe  ich 
einen  vielfach  vorbestraften  Mann  u.  a.  mit  dem  Weilerschen  Arbeit- 
schreiber untersucht;  er  leistete  an  den  alkoholfreien  Tagen  öög  kgcm, 
an  den  AJkoholtagen  1268  kgcm  (126).  Einen  noch  größeren  Unter- 
schied erreichte   ein    in   der  Gießener   Klinik   beobachteter   Gelegenheits- 


J86  GÖRING:  KRIIVmVALPSYCHOLOGIE 

arbeiter,  nämlich  an  den  alkoholfreien  Tagen  674  kgcm,  an  den    Vlkohol- 
tagen  i5i7  kgcm. 

Einer  besonderen  Besprechung  bedarf  die  Kindstötung.  Die  Mutter 
ist  meist  in  einer  ungünstigen  wirtschaftlichen  Lage,  oft  in  einer  Not- 
lage; dazu  kommt  die  Sorge,  was  aus  dem  Kinde,  das  sie  mangels  eines 
eigenen  Hausstandes  nicht  selbst  aufziehen  kann,  werden  soll.  Gleispach 
(118)  glaubt,  die  Mutter  könne  das  Wimmern  de^  Kindes  als  Bitte 
um  Tötung  auffassen,  der  sie  in  ihrer  Erregung  nachkommt.  Dazu  kommt 
die  Furcht  vor  Schande,  die  sich  natürlich  nach  der  Ansicht  der  Volks- 
schicht richtet,  zu  der  die  Mutter  gehört.  Gleispach  hat  darauf  auf- 
merksam gemacht,  daß  z.  B.  in  Kärnten  trotz  der  großen  ZaM  der 
unehelich  Geborenen  sehr  wenig  Kindstötungen  vorkommen  (199),  was. 
er  auf  geringe  Not  und  vor  allem  auf  den  wenig  ausgeprägten  Ehren- 
notstand zurückführt.  L'ber  die  genannten  Motive  kann  die  Mutter  schon 
während  ihrer  Schwangerschaft  nachdenken,  ^vie  eine  in  der  Gießener 
Klinik  begutachtete  Magd,  die  ihr  erstes  Kind  eine  Stunde  nach  der 
Geburt  so,  wie  sie  es  vorgehabt  hatte,  tötete,  während  sie  nach  der 
zweiten  Geburt  16  Stunden  wartete.  Die  Ansichten  darüber,  wie  der  Gre- 
burtsvorgang  auf  die  Psyche  wirkt,  gehen  auseinander.  Groß  (iSg)  hält 
die  physiologischen  und  psychologischen  Momente,  die  zur  Zeit  der 
Geburt  auftreten,  nicht  für  ausschlaggebend;  Bischoff  (4i)  meint,  die 
Affektt?  der  heimlich  Schwangeren  würden  durch  den  Geburlsvorgang 
normalerweise  nicht  zu  pathologischer  Höhe  g^teigert,  sehr  schwere 
Ergriffenheit  würde  durch  den  Geburtsvorgang  nicht  gefördert,  sondern 
gehemmt,  besondere  Disposition  besäßen  nur  geistesschwache  ledige  Erst- 
gebärende. Die  meisten  anderen  Autoren  teilen  diese  Ansicht  nicht. 
Margarete  Meier  (33 1)  und  Plempel  (38 1)  halten  den  erschütternden 
und  schAvächenden  Einfluß  beim  Geburts Vorgang  für  derart  ver>virrend, 
daß  die  Furcht  vor  Not  imd  Schande  mit  abnormer  Kraft  ausgestattet 
wird,  für  das  ,, Zuviel"  des  Reizzuwachses,  das  die  Tat  zur  Ausführung 
kommen  läßt.  Der  Entschluß  zur  Kindstötung  werde  der  Mutter  meist 
durch  die  Wucht  der  erdrückenden  Tatsachen  imd  Verhältnisse  erst 
im  Augenblick  der  Tat  aufgezwungen.  Gleispach  (118)  will  gerade  den 
Geburtschmerzen  die  größte  Bedeutung  beimessen;  er  vergleicht  die 
häufige,  heftige,  wenn  auch  nur  vorübergehende  Abneigung  der  Mutter 
gegen  das  neugeborene  Kind  mit  der  Wut  imgebildeter  Personen  bei 
Schmerzen  gegen  den  Urheber  oder  vermeintlichen  Urheber  des  Schmerzes, 
besonders  leblose  Gegenstände  und  Tiere.  Er  widerspricht  Groß'  Ansicht 
(iSg),  daß  stets  äußere  Momente  mitgewirkt  haben  müssen.  Aschaffen- 
burg hat  schon  zweimal  den  Wunsch  ausgesprochen  (18),  ein  psychiatrisch 
geschulter  Frauenarzt  möge  die  bei  normalen  ehelichen  some  unehelichen 
Geburten  auftretenden  Zustände  genau  beobachten  und  analysieren,  ohne 
daß  er,  soviel  ich  weiß,  bisher  erfüllt  wurde;  nur  Aschner  ist  auf  die 
Psyche  des  Weibes  etwas  näher  eingegangen   (21). 

Die  Kindstötung  kann  als  eine  höhere  Stufe  der  Abtreibung  aufgefaßt 
werden  (10).  Daher  findet  man  bei  der  .\b treibung  im  allgemeinen 
dieselben   Motive   wie   bei   der   Kindstötun?:     nur   fällt   das  im    Geburts- 


DKR  VERBRECHER  VOR  DER  TAT 187 

Vorgang  selbst  licgeiulo  Moinont  fort.  Dagegi^n  kommt  bei  der  Abtreibung 
hinzu,  (lalS  sie  dem  sittlichen  Empfinden  des  Volkes  nicht  widerspricht 
(Siga).  Dies  gilt  vor  allem  für  inlerne  Mittel,  weniger  für  mechanische 
örtliche   Eingriffe. 

Sowohl  bei  der  .\btreibung  als  auch  bei  der  Kindstötung  gibt  es 
genug  Eälle.  in  denen  lediglich  der  moralische  Tiefstand  der  Mutter 
die  Tat  hervorbringt  (388). 

Bei    den    Siltlichkeitsdelikten    führt    in    vielen    Eällen    ein    übermäßiger 
Sexualtrieb,     den    Moll    in    den     Detumeszenz-     und    Kontrektationstrieb 
zerlegt    (3/i3,    3/to),    und   ein    Mangel    von    Hemmungen    ihm   gegenüber 
zur  Tat,  vor  allem  zur  Notzucht  und  unzüchtigen  Handlungen  an  Kindern. 
Diese    beiden    Delikte    werden    besonders    oft    von    Schwachsinnigen    be- 
gangen,  bei   denen   die   Hemmungen   meist  sehr  gering,    der  Sexualtrieb 
dagegen  sehr  stark  ausgebildet  ist.    Es  gibt   aber   auch  Fälle,   in  denen 
genügend   Hemmmigen    vorliegen :     sie  überwinden    zunächst   den    Drang 
zu    sexueller    Betätigung;    der    Kampf   wird    fortgesetzt,    bis    schließlich 
die    Hemmungen    überwunden    werden.     So   hat   ein    von    mir   in    Gießen 
begutachteter  Arbeiter,  der  unzüchtige  Handlungen  an  einem  jungen  Mäd- 
chen   vorgenommen    hatte,    angegeben,    schon    tagelang   vor   der   Tat   sei 
er  beim   Anblick   des   Mädchens  erregt  gewesen:     er  habe  seine   Gesell- 
schaft   gemieden,    damit    nichts    passiere,    aber    schließlich    sei    er    dem 
Triebe  doch   unterlegen.     Bei  besonders  heftigen   Kämpfen   spiegelt  sich 
die   innere  Tätigkeit   außen   wnder;    Unruhe,   Zittern,   Rötung   des   Kopfes 
mid    Schweißausbruch    treten    auf.     Oft   fehlt   jede   äußere    Ursache   für 
die    Tat,    wie    bei    dem    von    Ungewdtter    (477)     erwähnten    Manne,    der 
wegen  seiner  Frömmigkeit  bekannt  war  und   1 1   Kinder  hatte,  trotzdem 
aber  keine  Gelegenheit   zm-  sexuellen   Betätigung  vorübergehen   ließ   und 
4o  Jahre  lang  unzüchtige  Handlimgen  an  Kindern  vornahm.    Besonders 
verhängnisvoll    ist    die    Wirkung   des    Alkohols;     er    beseitigt    nicht    nur 
die  Hemmungen,  sondern  steigert  auch  die  sexuelle  Begehrlichkeit  (128). 
Krohne  schloß   einen    i883   gehaltenen   Vortrag  mit  den   Worten:     „Die 
Verbrechen    gegen    die    Sittlichkeit,    mögen    sie    Notzucht,    Unzucht    mit 
Erwachsenen  und  Kindern  heißen,  haben  fast  ausschließlich  ihre  Ursache 
im   Branntwein.'"     Baiser    (26),    Bonhoeffer   (62)     und  Dannemann    (66) 
behaupten,  daß  Notzuchtsdelikte  nur  selten  vorkämen,  ohne  daß  Alkohol 
dabei    eine    Rolle   spiele.      xAschaffenburg    (i4)     bringt    eine    statistische 
Tabelle,    aus    der    wir    ersehen,    daß    unter    44    Sittlichkeitsverbrechern 
29  Gelegenheits-   imd   4  Gewohnheitstrinker  waren.    Ganz   plötzlich  auf- 
tretende Triebhandlungen  kommen  nur  bei  Geisteskranken  vor,  vor  allem 
bei   epileptischen    Dämmerzuständen    und   kata tonen    Erregungszuständen. 
In  diesen   Fällen  konmit  dem  Kranken  das  Unrechte  der  Tat  gar  nicht 
zum   Bewußtsein.     Zu   solchen   krankhaften    Handlungen   gehört   ein   Teil 
der    Fälle    von    Exhibitionismus.     Er   kann    aber    auch    andere    Ursachen 
haben;     Mönkemöller     (349)     ^^^^    darauf     hingewiesen,     daß     das    Ex- 
hibilionieren  nicht  selten  bei  Trinkern  vorkomme  und  damit  zu  erklären 
sei,  daß  der  Alkohol  nicht  nur  die  sexuelle  Begehrlichkeit  steigere,  sondern 
auch  die  sexuelle  Leistungsfähigkeit  herabsetze.    Im  übrigen  sieht  Mönke- 


^83  GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

möUer  im  Exhibitionieren  nur  den  Wunsch  des  Täters,  eine  Person 
des  anderen  Geschlechts  sexuell  zu  erregen;  es  handelt  sich  dabei  stets 
um  Männer,  da  Frauen  nur  im  geisteskranken  Zustande  exhibitionieren. 
Wulffen  hält  den  Exliibitionismus  für  einen  abgeschwächten  Sadismus 
(öo/i),  eine  Ansicht,  die  wohl  nur  in  einzelnen   Fällen  zutreffen  dürfte. 

Sadistische  Akte  werden  entweder  gut  vorbereitet  oder  triebartig  während 
des  Geschlechtsverkehrs  ausgeübt.  Es  ist  bekannt,  daß  Andeutungen 
von  Sadismus  auch  beim  normalen  Geschlechtsverkehr  vorkommen  (44)» 
daß  der  Biß  einen  Kuß  ersetzen  kann,  daß  ferner  sexuelle  G«sten  zur 
Grausamkeit  reizen  (364)  und  Schreien,  Schmerzen,  vor  allem  das 
Blul  des  Partners  die  Libido  steigern  körmen  (362,  i34)-  So  kann 
es  vorkommen,  daß  der  Beischlaf  begonnen  wdrd  ohne  jede  Absicht, 
sadistische  Handlungen  vorzunehmen,  und  erst  während  der  Ausführung 
der  sadistische  Trieb  zur  Betätigung  drängt.  Den  Höhepunkt  sadistischer 
Handlungen  stellt  der  Lustmord  dar  (276,  5o4).  Psychologisch  ist  er 
nicht  immer  in  gleicher  Weise  zu  erklären;  es  gibt  Lustmörder,  die 
im  Überwältigen  und  Zerstören  ihre  sexuelle  Befriedigung  finden,  und 
solche,  die  erst  während  des  Koitus  den  Drang  zum  Töten  verspüren, 
hyperhedonische  Lustmörder,  wie  Ziehen  sie  nennt  (438,  233) ;  Marcuse 
meint  (322),  beim  Lustmord  handle  es  sich  oft  nicht  um  einen  reinen 
Sadismus;  er  sucht  vielmehr  die  Ursache  in  dem  Haß  gegen  das  weib- 
liche Mysterium  des  Geschlechtlichen.  Eine  sexuelle  Ursache  hatte  auch 
der  von  Abels  (3)  berichtete  Giftmord,  der  von  einer  Frau  begangen 
wurde,  angeblich  imi  eine  Leiche  schmücken  zu  können,  da  bei  einer 
solchen  Handlung  stets  sexuelle  Erregungen  auftraten.  Es  sollen  auch 
Morde  vorkommen,  die  lediglich  aus  Übersexualität  begangen  werden, 
wenn  der  seelische  Drang  nach  der  Geliebten  zu  groß  wird  oder  die 
sinnliche  Begierde  nach  Wollust  über  isich  selbst  hinausgehen  will  (322); 
so  tötete  Streffau  im  höchsten  sexuellen  Affekt  seine  geliebte,  jung- 
fräuliche  Braut,    weil   sie   ihm   den    Beischlaf   verweigerte    (436). 

Auch  zu  Diebstählen  kann  der  Sexualtrieb  führen.  Es  gibt  Menschen, 
vor  allem  Männer,  deren  Sexualtrieb  auf  einen  bestimmten  Gegenstand, 
den  Fetisch,  gerichtet  ist;  sie  versuchen  ihn  auf  jede  Weise  zu  erhalten, 
sei  es  durch  Kauf,  sei  es  durch  Diebstahl;  manchmal  ist  sogar  der  Dieb- 
stahl für  die  sexuelle  Erregung  Vorbedingung.  Näcke  hat  darauf  auf- 
merksam gemacht  (363),  daß  der  Fetischismus  aus  dem  Normalen 
hers^orgegangen  sei ;  denn  es  seien  nicht  nur  die  primären  und  sekundären 
Geschlechtsmerkmale,  die  den  Mann  erregten,  sondern  noch  viele  andere 
Reize,  bald  bewußt,  bald  unbewußt.  In  anderen  Fällen  ist  der  Trieb 
nicht  auf  einen  bestimmten  Gegenstand,  sondern  die  Beschädigung  eines 
solchen  gerichtet;  sie  besteht  meist  in  einer  Besudelung  von  Kleidern; 
es  handelt  sich  dabei  um  eine  Art  von  Sadismus;  die  psychologischen 
Merkmale,  die  für  den  Messerstecher  als  typisch  von  Näcke  angegeben 
sind  (362),  finden  auch  hierauf  Anwendung   (47)- 

Verhältnismäßig  selten  kommt  heutzutage  der  Inzest  vor.  Als  Grund 
werden  die  merkwürdigsten  Umstände  angegeben,  z.  B.  die  Ähnlichkeit 
der  Tochter  mit  der  verstorbenen  Frau  oder  die  unnötigen  Kosten,  die 
der  Sohn  sich  machen  würde,  wenn  er  mit  einem  Mädchen  sich  einlasse 


DKU  VKRBKKCIIKil  \()U   DKU  TAT 189 

(3 19).  Meist  liegt  boi  den  Tätern  eine  erhebliche  geistige  Minderwertig- 
keit vor,  die  sie  auch  daran  hindert,  für  das  Verbot  den  Inzestes  Ver- 
ständnis zu  zeigen;  dazu  kommt  eine  große  Verwahrlosung  im  allge- 
meinen {'Ol'])-  Besonders  kraii  ist  der  von  Pollitz  beschriebene  F'all 
(385  a).  in  dem  die  eigene  Mutter  von  ihrtnn  sittlich  sehr  defekten, 
intellektuell  beschränkten,  sehr  sinnlich  veranlagten  Sohne  genotzüchtigt 
wurde. 

Die  verbreiletste  abnorme  Geschlechtsbetätigung  ist  die  homosexuelle. 
Im  allgemeinen  haben  die  Homosexuellen  genau  denselben  Trieb  zum 
gleichen  Geschlecht  wie  die  Heterosexuellen  zum  anderen.  Ein  von  mir 
begutachteter  Homosexueller  erklärte,  so  kalt,  wie  er  vielleicht  nach 
aulSen  erscheine,  so  heiß,  ja  wütend  toll  seien  seine  Gefühle;  aber 
gegen  das  weibliche  Geschlecht  habe  er  eine  ausgesprochene  Abneigung, 
in  seinen  Träumen  sehe  er  nur  Knaben,  meist  umgeben  von  roten 
Blumen.  Sicher  würden  die  Homosexuellen  den  Geschlechtsverkehr  mit 
ihresgleichen  genau  so  regelmäßig  ausüben,  falls  das  Gesetz  es  nicht 
verbieten  würde.  Bei  der  Sodomie  handelt  es  sich  gewöhnlich  um  mangel- 
hafte Erziehung,  geringe  Begabung  (i52)  und  einen  Mangel  an  Ge- 
legenheit zum  normalen  Geschlechtsverkehr  (79),  die  g^stige  Gelegen- 
heit zur  Betätigung  an  Tieren  und  einen  starken  Geschlechtstrieb  (467)- 
Ähnlich  verhält  es  sich  bei  der  Leichenschändimg ;  doch  spielt  hier 
nicht  so   selten   die   Perversion  des   Geschlechtstriebes  eine   Rolle   (52/i). 

Gerade  bei  Beurteilung  der  Sexualverbrechen  besteht  die  Neigimg, 
aus  der  Tat  selbst  Schlüsse  auf  eine  Geisteskrankheit  des  Täters  zu  ziehen. 
Es  muß  daher  immer  wieder  darauf  hingewiesen  werden  (127),  daß 
eine  noch  so  unglaubliche  Tat  nicht  unbedingt  von  einem  Geisteskranken 
begangen  sein  muß.  Nur  eine  genaue  Analyse  der  ganzen  Persönlichkeil 
kami  uns  Aufschluß  geben. 

Nach  Hentig  und  Viernstein  (52  2)  soll  sich  nach  der  Beendigung 
des  Krieges  die  Zahl  der  Sittlichkeitsverbrecher  vermindert  haben;  sie 
schieben  dieses  einerseits  auf  die  politischen  Unruhen  und  die  Möglich- 
keil, rohe  und  destruktive  Instinkte  unter  allen  möglichen  Formen  aus- 
zuleben, andererseits  auf  den  großen  Frauenüberschuß  mit  seiner  weit- 
gehenden Entspannung  der  sexuellen  Abwehrstellung  sowie  der  Möglich- 
keit, ohne  Schwierigkeit  Geldentschädigungen  zu  zahlen. 

Um  die  Vergehen  gegen  die  Ehre  richtig  zu  beurteilen,  muß  man 
zunächst  den  Haß  und  Neid  näher  betrachten.  Die  häufigsten  Ursachen 
des  Hasses  sind  Eifersucht,  Liebe  oder  ein  zugefügter  Schmerz.  Der 
Neid  entspringt  meist  aus  der  wirtschaftlichen  Lage;  er  ist  tiefer 
eingewurzelt  als  der  Haß,  gibt  aber  nicht  so  leicht  zu  impulsiven  Hand- 
lungen Anlaß  (i34)-  Bei  Verleumdungen  und  falschen  Anschuldigungen 
spielen  Haß  und  Neid  eine  große  Rolle.  Während  die  Beleidigung 
gewöhnlich  in  der  Erregung,  im  Verlauf  eines  oft  unbedeutenden  Streites, 
nicht  selten  unter  dem  Einfluß  von  Alkohol  ausgesprochen  wird,  geht 
der  Verleumdung  und  falschen  Anschuldigung  meist  eine  Überlegung 
voraus;  man  spricht  nicht  zu  seinem  Gegner,  sondern  über  ihn  zu 
anderen,  und  bezweckt  in  der  Regel,  ihm  einen   Schaden  irgendwelcher 


jgQ  GÖRING:  KIÜMINALPSYCHOLOGIE 

Art  zuzufügen.  Diese  beiden  Delikte  werden  besonders  gern  von  Frauen 
begangen;  eine  hysterische  Veranlagung  findet  man  bei  den  Täterinnen 
häufig  (378);  es  besteht  ein  Bedürfnis  nach  starken  Gefühls-  und 
Phantasieerregungen  (4o).  Die  Ursache  scheint  gewöhnlich  darin  zu 
suchen  zu  sein,  daß  die  Täterin  von  ihrem  Geliebten  verlassen  wurde 
oder  wenigstens  sich  von  ihm  zurückgesetzt  fülilt  und  sich  an  ihm  rächen 
möchte,  vor  allem  auch  verhindern  will,  daß  der  Abtrünnige  bei  einer 
anderen  sein  Glück  findet  (Sgö).  Es  gibt  aber  auch  moralisch  tief- 
stehende  Individuen,  die  nur  deswegen  die  genannten  Delikte  begehen, 
weil  sie  auf  das  Glück  anderer  neidisch  sind,  ohne  ein  tieferes  Interesse 
au  ihnen  zu  haben  (364). 

Fälle  sind  bekannt,  in  denen  Verleumdungen  und  falsche  An- 
schuldigungen nur  deswegen  begangen  wurden,  damit  der  Täter  sich 
selbst  vor  Schaden  schützt,  z.  B.  aus  Scham  vor  einem  •  mißglückten 
Selbstmord  (397)  oder,  um  verlorenes  Geld  nicht  ersetzen  zu  müssen. 
Haldy  berichtet  von  einem  Mädchen  (i54),  welches  einen  Notzuchts- 
versuch vortäuschte,  weil  es  HeimAveh  hatte  imd  nach  Hause  wollte. 
In  diesen  Fällen  wird  ein  Täter  nicht  genannt.  Selbstbezichtigungen 
sind  vorgekommen,  um  sich  der  Militärdienstpflicht  zu  entziehen   (364). 

Beschuldigungen  und  Selbstanzeigen  Geisteskranker  infolge  von  Wahn- 
ideen, Sinnestäuschungen,  Angstzuständen,  Zwangsvorstellungen  u.  a. 
kommen  oft  vor  (220,  i58,  197).  Von  besonderer  Wichtigkeit  sind 
die  falschen  Anschuldigungen  Hysterischer  nach  Narkosen  und  Hypnosen 
(197,  220);  es  scheint  nicht  ausgeschlossen,  daß  die  Ursache  in  erotischen 
Träumen  zu  suchen  ist  (2). 

Wie  schon  im  i.  Teil  beschrieben,  bildet  die  Notlage  und  die  Habgier 
die  Hauptursache  für  die  Eigentumsdelikte.  Meist  wenden  sie  ohne 
langes  Besinnen  begangen,  besonders  wenn  die  Gelegenheit  günstig  ist. 
Unter  den  Eigentumsverbrechern  findet  man  viele  Gewohnheitsverbrecher, 
die  zm*  Arbeit  keine  Neigung  verspüren  imd  lieber  auf  unehrliche  Weise 
sich  ihr  Brot  verschaffen.  Es  gibt  sogar  unter  ihnen  solche,  die  aus 
Freude  an  ihrer  Tätigkeit  sie  fortsetzen  (486),  wie  der  Wecliselfahrer, 
der  ims  in  seiner  Lebensbeschreibung  schildert  (6),  mit  welchem  Eifer 
er  seinem  Handwerk  nachging  und,  schon  dem  Tode  nahe,  trotz  bester 
häuslicher  Pflege  von  ihm  nicht  lassen  konnte.  Dahin  gehören  auch  die 
mit  einer  besonderen  Phantasie  ausgestatteten  Hochstapler,  wie  Mano- 
lescu  (3 16),  der  noch  im  TUter  im  Schwindeln  auf  literarischem  Gebiet 
und  im  Erfinden  von  Diebstählen  Befriedigung  fand  (5o6),  ferner  der 
von  mir  beschriebene  hysterische  Schwindler,  der  sich  so  tief  in  seine 
Schwindlerrolle  hineinversenkte,  daß  er  vorübergehend  Schauspiel  und 
Wirklichkeit  selbst  nicht  mehr  recht  auseinander  zu  halten  vermochte  (i25). 
Auch  Karl  May  dürfte  hierher  zu  rechnen  sein;  ihm  gelang  es  aber 
noch  rechtzeitig,  seine  phantastischen  Neigungen  auf  das  literarische 
Gebiet  zu  übertragen  (179).  Zu  dieser  Art  Betrug  gehört  eine  besondere 
Begabung  für  einfallsmäßiges  Denken  (54),  ein  Überwiegen  der  lust- 
vollen Betonung  des  Ichkomplexes  (37).  Für  den  Hochstapler  ist  das 
Schwindeln    Bedürfnis.      Eine    besondere   Bolle   spielt   die   Phantasie  bei 


DKU  VERBRECHER  VOR  DKK   lAT m 

jugendlichoii  Nerbrcchcni;  sie  wird  durch  Lektüre  und  Kinovorstellun- 
gen angeregt  und  führt  meist  zu  Diebstiihlen,  die  mit  groliem  Kalfine- 
ment  angelegt  sind,  während  für  lietrug  imd  Unterschlagung  weniger 
Neigung  In^stelit,  weil  bei  diesen  das  Ronumlische  fehlt  und  d<'r  Erfolg 
nicht   so    sichtbar    ist    ('if\']). 

Zu  don  iVlikton  aus  Leidenschaft  gehören  auch  das  Schmuggeln,  Wil- 
dem und  Falschspielen ;  bei  ihnen  kann  natürlich  die  Geldgier  nebenher 
oder  als  treibende  Kraft  beteiligt  sein.  Das  Schmuggeln  wird,  wenn  wir 
von  dem  berufsmäßigen  der  Grenzbevölkening^  absehen,  mit  besonderer 
Vorliebe  von  Frauen  betrieben;  es  gibt  Frauen,  die  in  den  besten  Ver- 
hältnissen leben,  aber  trotzdem  keine  Grenze  überschreiten,  olme  zu 
schmuggeln.  Abels  bezeichnet  solche  Fälle  als  Sport  (3,  5).  Bei  diesen 
Delikten  scheint  der  besondere  Reiz  in  dem  Wettstreit  der  Kräfte,  vor 
allem  der  geistigen  Kräfte,  in  dem  raffinierten  Überwinden  des  Gegners 
zu  liegen.  Beim  Wildern  und  Falschspielen  ist  die  Handlung  aji  sich 
schon  von  Bedeutung;  das  Jagen  und  Spielen  sind  Leidenschaften,  die 
bei  manchen  Menschen  nicht  einzudämmen  sind.  Einen  ähnlichen  Reiz 
findet  man  im  Warenhausdiebstahl  (74)-  Nicht  aus  Not,  nicht  zur 
Befriedigung  eines  tatsächlichen  Bedürfnisses  wird  gestohlen,  sondern 
zwecklos.  Es  handelt  sich  fast  nui  um  Frauen,  nach  Gudden  (i5o)  in 
99  Prozent  der  Fälle.  Legrand  du  Saulle  (287)  und  Lombroso-Ferrero  (3io) 
haben  darauf  hingewiesen,  daß  der  Warenhausdiebstahl  sehr  oft  zur 
Zeit  der  Menses  begangen  wird.  Nebenbei  hat  auch  die  leichte  Möghch- 
keit  zum  Stehlen,  ebenso  wie  bei  den  Diebstählen  durch  Dienstboten, 
einen  Einfluß  auf  den  Entschluß  des  Täters  (229).  Eine  besondere 
sexuelle  Grundlage  finden  wir  bei  den  Diebstählen  der  Fetischisten,  die 
bei    den    Sexualdelikten   erwähnt  wurden. 

Auch  falscher  Stolz  imd  Eitelkeit  können  die  Ursache  des  Diebstahls  sein ; 
so  begutachtete  ich  in  München  einen  jungen  Mann,  der  die  Erlaubnis  hatte, 
im  Nationalmuseum  zu  arbeiten,  und  bei  dieser  Gelegenheit  wertvolle 
Münzen  entwendete,  um  sie  zu  verkaufen;  seine  Eltern  hatten  ihm  immer 
wieder  vorgeworfen,  daß  er  nichts  verdiene;  er  konnte  sich  aber  zu 
einem  Examen  nicht  aufraffen;  andererseits  wollte  er  auch  keine  anderen 
als  wissenschaftliche  Arbeiten  ausführen.  Selten  sind  Diebstähle  aus 
Rache.  In  Gießen  woirde  ein  Bankbeamter  begutachtet,  der  280  000  Mark 
unterschlagen  hatte,  weil  er  sich  für  eine  vermeintliche  Zurücksetzung 
seitens  der  Bankleitung  rächen  wollte,  was  ihm  mit  Gewalt  nicht  mög- 
lich erschien. 

Sogar  ideale  Gründe  können  zum  Diebstahl  führen,  z.  B.  die  Liebe  zu 
Angehörigen,  welche  Not  leiden,  der  Wunsch,  andere  zu  beschenken;  bei 
letzterem  spielt  allerdings  meist  Eitelkeit  mit.  Auch  bei  dem  von  Abels 
beschriebenen  Banknotenfälscher  (3),  welcher  die  Tat  beging,  um  Ma- 
lariaforschungen ausführen  zu  können,  war  wohl  die  Hoffnung  auf  Ruhm 
und  Belohnung  ein  treibender  Faktor.  Höpler  (207)  berichtet  von  einem 
18  jährigen  Manne,  der  stahl,  um  eingesperrt  zu  werden,  weil  er  hoffte,, 
auf  diese  Weise  von  seinem  liederlichen  Leben,  dem  er  aus  eigener  Kraft 
nicht  mehr  entsagen  konnte,  geheut  zu  werden.  Karl  Schurz  hat  selbst 
beschrieben   (/i3i),  wie  er  aus  falscher  Scham  fast  zum  Betrüger  wurde. 


^92  GÖRING:  KRIMINALPSYCHQLOGIE 

Über  Diebstähle  aus  Aberglauben  ist  von  Hellwig  und  anderen  be- 
richtet worden,   wie  im    i.   Teil  dargelegt  wurde. 

Geisteskranke  verüben  Eigentumsdelikte  infolge  von  Wahnideen,  be- 
sonders Größenideen,  Dämmerzuständen,  Urteilschwäche  u.  a. 

Als  Eigentumsdelikte  müssen  auch  Kuppelei  und  Zuhälterei  aufgefaßt 
werden,  da  es  sich  bei  ihnen  in  der  Hauptsache  um  Gelderwerb 
handelt.  Allerdings  gibt  es  auch  Ausnahmen;  so  hat  Mezger  einen  Fall 
beschrieben  (S/jo),  in  dem  ein  Mann  das  Verhältnis  seiner  Frau  zu  einem 
Dritten  begünstigte,  weil  er  impotent  war,  seine  Frau  aber  ohne  Sexual- 
verkehr nicht  leben  zu  können  glaubte,  vor  allem  auch,  weil  ihm  dieses 
Verhältnis   einen    sinnlich-seelischen    Genuß    bereitete. 

Sachbeschädigungen  kommen  viel  seltener  vor  als  Diebstähle,  weil  für 
den  Täter  meist  kein  Vorteil  damit  verbunden  ist;  sie  werden  im  Affekt 
oder  aus  Rache  ausgeführt  und  zeugen  oft  von  großer  Roheit.  Gerade 
sie  reizen  zur  Nachahmung,  wie  man  es  bei  der  Zerstörung  unserer  Grab- 
denkmäler durch  die  Franzosen  gesehen  hat.  Die  kindliche  Zerstönmg- 
sucht  beruht  meist  nicht  auf  unedlen  Motiven,  sondern  lediglich  auf  der 
Lust  am  Unfug  (347)-  Nur  Baumfrevel  und  Tierquälerei  weisen  auf 
einen  schlechten  Charakter  hin.  Hie  imd  da  liegt  der  Sachbeschädigung 
doch  die  Erreichung  eines  Lustgefühls  zugrunde.  So  besudelte  eine  Frau 
ein  Haus  mit  Kot,  um  einen  Reflektanten  von  dem  Kauf  des  Hauses  ab- 
zuhalten, da  sie  ihm  ihr  Haus  verkaufen  wollte  (294). 

Sehr  schwierig  kann  die  Beurteilung  des  Brandstifters  sein.  Am  klarsten 
sind  die  Fälle,  in  denen  aus  Rache,  Haß,  Habsucht  oder  Not  gehandelt 
wird;  dieses  sind  auch  die  häufigsten  Ursachen  (472).  Eine  besondere 
Spezialität  bilden  die  Brände,  die  angelegt  werden,  um  eine  hohe  Ver- 
sichenmgsumme  zu  erhalten  (4i4)-  Aus  ihnen  spricht  eine  besonders 
rohe  Gesinnung;  meist  ist  es  den  Tätern  vollkommen  gleichgültig,  oh 
bei  dem  Brande  Menschen  zugrunde  gehen.  Es  werden  auch  Brände  au- 
g^elegt,  um  andere  Verbrechen  zu  verdecken  oder  um  während  des  Brandes 
andere  Verbrechen  auszuführen  (43,  62).  Gerade  bei  der  Brandstiftung 
darf  man  den  Angaben  des  Täters  bezüglich  des  Motives  nicht  trauen. 
In  zahlreichen  Fällen  kann  der  Täter  aber  auch  wirklich  das  Motiv  nicht 
angeben;  manchmal  scheint  der  Grund  in  der  Freude  am  Feuer  zu  suchen 
zu  sein,  z.  B.  bei  Kindern  (364).  Dieser  Freude  am  Feuer  kann  eine 
nicht  zum  Bewußtsein  kommende  Sexualempfindung  zugrunde  liegen, 
worauf  u.  a.  Byloff  hingewiesen  hat  (60) ;  auffallend  ist,  daß  die  Nei- 
gung zum  Anlegen  von  Feuer  besonders  stark  ist  zur  Zeit  der  Menstruation 
und  Pubertät.  Bei  Erwachsenen  würde  man  von  einem  Rückfall  in  das 
kindliche  Spiel  mit  dem  Feuer  sprechen  können  (4 18).  Nicht  selten 
spielt  dabei  vorheriger  Alkoholgenuß  eine  Rolle  (472).  Der  Brandstifter 
von  Trofaiach  motivierte  seine  Taten  mit  der  Lustempfindung,  die  ihn 
befällt,  wenn  er  das  Feuerblasen  hört,  mit  der  Feuerwehr  ausrückt, 
das  Feuer  sieht  und  bei  den  Rettungsarbeiten  mitwirkt  (60).  Die  Freude 
an  den  Bränden  wurde  besonders  im  Kriege,  vor  allem  bei  den  Russen, 
wahrgenommen,  während  im  Inland  die  Zahl  der  Brandstiftungen  zurück- 
ging (472).  Die  Anhänger  Freuds  halten  die  Brandstiftung  für  eine 
symbolische  Handlung,  die  der  gestauten  Libido  Abfluß  verschafft  (4 18), 


DEK  \i:nuiu:(:nEU  vou  dkk  tat 193 

was  nach  Többens  Ansicht  (472)  entsclüedon  zu  weit  geht.  Oft  wird, 
besonders  bei  weibllclien  Dienstboten,  als  Grund  der  Tat  Heimweh  an- 
gegeben ;  es  macht  aber  nicht  selten  den  Eindruck,  als  ob  es  .>ich  um 
endogene  \  erstimmungen  handle,  die  sich  nach  außen  als  Heimweh 
projizieren  (242);  *^  Sexualleben  scheint  dabei  nicht  unbeteiligt  zu 
sein.  Als  seltene  Motive  seien  genannt  die  Brandlegung  aus  Ruhmsucht 
nach  dem  \orbild  des  Herostrat  und  aus  /Vborglauben  (175).  Von  Geistes- 
gestörten werden  nach  Kraepelin  (273)  Brandstiftungen  begangen,  wenn 
eine  Abschweifung  oder  Ent^Nicklungshenunung  der  psychischen  Funk- 
tionen vorliegt  oder  infolge  von  Wahnideen  und  pathologischen  Affekten, 
bei  denen  die  Brandstiftung  eine  Entlastung  des  psychischen  Druckes 
herbeiführen  soll;  Jaspers  (242)  spricht  von  einem  unfreiwilligen  Drang, 
einer  inneren  Angst,  welche  durch  das  Sehen  einer  Flamme  beseitigt 
werden  soll.  Mönkemöller  (348)  hält  die  Motive  für  sehr  mannigfach 
und  auch  bei  pathologischen  Individuen  sehr  oft  für  verständlich;  gerade 
für  sie  sei  die  Brandstiftung  das  bequemste  Mittel  der  Rache.  Eine 
gewisse  Steigerung  will  er  während  der  Pubertätszeit  gefunden  haben. 
Többen  (472)  faßt  die  Ursachen  der  Brandstiftung  dahin  zusammen,  daß 
entweder  normale  Beweggründe  vorliegen  oder  eine  geringe  Widerstands- 
kraft gegen  augenblickliche,  mitunter  vielleicht  sexuell  betonte  .\ffekte 
oder  Intelligenzstöningen,  Alkoholmißbrauch,  Epilepsie,  Hysterie,  Aus- 
nahmezustände in  der  Pubertät  und  bei  der  Menstruation  oder  endlich 
krankhafte    Störungen    der   Geistestätigkeit. 

Den  Eigentumsdelikten  stehen  die  Urkundenfälschungen  nahe,  da  sie 
meist  begangen  werden,  um  sich  an  dem  Eigentum  anderer  zu  bereichern. 
Selten  sind  andere  Motive  maßgebend;  doch  kommt  es  vor,  daß  Urkunden 
gefälscht  werden  zwecks  Erfüllung  anderer  Wünsche;  so  wurden  während 
des  Krieges  ärztliche  Atteste  von  Kriegerfrauen  gefälscht,  damit  der  Mann 
Urlaub   erhalte    (3i3). 

Die  politischen  Verbrecher  wollen  entweder  sich  selbst  bereichem  oder 
halten  die  bestehende  Staatsform  für  einzelne  Klassen  der  Bevölkerung 
für  ungeeignet  und  sind  bestrebt,  darin  eine  Änderung  herbeizuführen, 
aber  nicht  mit  erlaubten,  sondern  mit  ungesetzUchen  Mitteln.  Die  Führer 
sind,  wie  Robespierre  (io3),  meist  psychopathisch  veranlagte,  leicht  er- 
regbare Menschen,  die,  mit  suggestiver  Kraft  ausgestattet,  jede  günstige 
Gelegenheit  benutzen,  um  ihre  Ideen  ihrer  Umgebung  einzuimpfen.  Streiks 
sind  besonders  zweckmäßig  für  die  Vorbereitungen,  da  durch  sie  die 
Unzufriedenheit  gewöhnlich  vermehrt  und  infolge  reichlichen  Alkoholge- 
nusses (i85)  die  Erreglichkeit  gesteigert  wird.  Je  besser  das  Feuer  in 
der  Umgebung  unterhalten  wird,  um  so  eher  kann  man  es  im  geeigneten 
Augenbhck  mit  wenigen  Worten  zur  lodernden  Flamme  anfachen.  Ist 
die  Lage  für  einen  allgemeinen  Aufstand  nicht  günstig,  so  findet  man 
immer  wieder  einen  Fanatiker,  der  für  sich  eine  Tat  begeht  in  der  Hoff- 
nung, damit  dem  Volk  oder  einer  Schicht  desselben  einen  Dienst  zu 
erweisen,  wie  die  Fürstenmörder  (5o2).  Doch  spielt  in  diesen  Fällen 
häufig  gekränkte  Eitelkeit  mit,  wie  bei  Luccheni. 

13    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  Hl. 


jg4  GÖRLNG  :  klUMLNALPSVClIOLOGIE 

Der  Meineid  wird,  meist  wohl  überlegt,  aus  den  verschiedensten  Gründen 
bc"^angen.  Man  schwört  aus  Dickköpfigkeit  und  Leichtsinn  falsch;  die 
(reringe  Aussicht  auf  Bestrafung  und  die  Aussicht  auf  Sündenvergebung 
durch  die  Beichte  erleichtern  den  Entschluß  zur  Ausfühning  der 
Tat  (5o2).  Oft  wird  auch  durch  Aberglauben  das  Gewissen  erleich- 
tert (i63).  Vermögensvorteile  halber  ^vi^d  besonders  oft  falsch  geschwo- 
ren ;  es  sei  nur  an  den  Offenbarungseid  und  den  Eid  bei  Alimenten- 
prozessen erinnert.  Aber  auch  falsches  Ehrgefühl  (5o2),  Renommage  (Sgö) 
und  der  Glaube,  einen  Freundschaftsdienst  erweisen  zu  müssen  (i6/i), 
führen   zum    Meineid. 

Psychologisch  von  großem  Interesse  ist  die  Fahnenflucht  (458).  Byloff 
unterscheidet  zwischen  echter  und  unechter  Desertion  (6i);  bei  der  echten 
liegt  als  Ursache  der  Wunsch,  sich  dauernd  dem  Heeresdienst  zu  ent- 
ziehen, zugrunde.  Als  Grundstimmung  ist  stets  ein  Gefühl  des  Über- 
drusses vorhanden.  Die  Ursachen  für  die  imechte  Desertion  sind  be- 
sonders zahlreich:  Pönitz  (386)  unterscheidet  das  Davonlaufen  mit  und 
ohne  Ziel;  zu  letzteren  gehören  Unlustgefühl,  Angst,  Freiheitsdrang,  zu 
ersteren  Heimweh  nach  den  Angehörigen,  sexuelle  Zielvorstellungen,  Eifer- 
sucht, der  Wunsch,  von  der  Heimattruppe  ins  Feld  zu  kommen.  Außer- 
dem kommen  natürlich  Psychosen,  vor  allem  Dämmerzustände,  als  Ur- 
sache in  Beti'acht.  Manche  glaubten,  der  Strafe  sicherer  aus  dem  Wege 
zu  gehen,  wenn  sie  sich,  statt  sich  zu  entfernen,  verstümmelten,  worüber 
Bennecke  berichtet  hat  (82);  dies  kam  auch  vor  dem  Kriege  schon  vor, 
um  nicht  in  den  Heeresdienst  eingestellt  zu  werden;  die  Gründe  waren 
meist  materieller  Art,  so  der  Wunsch,  das  Geschäft  weiterzuführen, 
die  Sorge  mn  die  eigene  Gesundheit,  mag  sie  berechtigt  oder  unberech- 
tigt gewesen  sein;  von  anderen  Ursachen  sind  sexuelle  Momente  und 
Furcht  vor  Unannehmlichkeiten,  vor  allem  vor  Strafen,  besonders  häufig- 

Bisher  war  nur  die  Rede  von  vorsätzlich  oder  in  einem  Zustande  von 
Geistesstörung  begangenen  Delikten;  diese  können  aber  auch  aus  Fahr- 
lässigkeit begangen  werden.  Schon  Feuerbach  (88)  hat  unterschieden 
zwischen  bewußter  Fahrlässigkeit,  bei  der  dem  Täter  ein  gewisser  Prozent- 
satz von  Gefahr  klar  vor  Augen  steht,  und  imbewußter  Fahrlässigkeit, 
bei  dem  die  Folgen  der  Handlung  nicht  in  das  Bereich  der  Möglichkeit 
gezogen  wurden.  Nach  Stern  (456)  liegt  in  der  bewußten  Fahrlässigkeit 
der  Fehler  auf  dem  Gebiete  der  Erkenntnis,  der  logischen  Wertung  und 
erst  mittelbar  auf  dem  der  moralischen  Wertung,  da  zunächst  erwogen 
wird,  wie  groß  die  Wahrscheinlichkeit  ist,  daß  die  vom  Täter  nicht 
gewollten  Folgen,  deren  Eintritt  als  möglich  erkannt  werden,  eintreten; 
erst  in  zweiter  Linie  wird  erwogen,  bei  welchem  Grade  von  \A^ahrschein- 
lichkeit  man  die  Tat  vornehmen  soll.  Bei  dieser  Art  Fahrlässigkeit  wird 
man  genau  wie  beim  Vorsatz  eine  große  Zahl  Unverbesserlicher 
finden  (i85),  die  immer  wieder  beim  Urteilen  leichtsinnig  vorgeht. 
Noch  mehr  als  bei  der  bewußten  tritt  bei  der  unbewußten  Fahrlässigkeit 
die  logische  Wertung  in  den  Vordergrund.  Einmal  ist  für  sie  die  Er- 
klärung in  der  Eigentümlichkeit  des  menschlichen  Seelenlebens  zu  finden. 


PKK  VKHBIIKCIIKK  \()K  DKH  TM' 195 

daß  nur  dio  zu  oiuor  gof,'ob<Mien  luuslellung  passiMiden  Vorstellungen  zum 
liewiißbNeiii  konunen.  wiUirend  die  anderen  keineji  «genügenden  AflVklwert 
besitzen,  um  durdizmlringen.  Zweitens  kann  die  unbewulole  Fahrlässig- 
keit darin  L>estelien,  daß  der  Handelnde  die  Folgen  der  Tat  übcrhau)>t 
nicht  kannte.  In  beiden  Fällen  ist  neben  der  logischen  Wertung  aber 
auch  <he  moralische  zu  berücksichtigen;  im  ersleren  Falle  hätte  unter 
rmständen  der  Täter  die  \orstellungen  zum  Bew^ilitsein  bringen  müssen, 
d.h.  nicht  vergessen  dürfen,  im  anderen  Falle  hätte  er  die  Folgen  erkeimen 
müssen.  Ein  Meineid  kann  z.  B.  beruhen  auf  mangelnder  Aufmerksam- 
keit und  ungenügender  Kritik  bei  Reproduktion  des  Beobachteten  (3i5). 
Ein  Selbstmörder  kann  beim  Aufdrehen  des  Gashahnes  vergessen,  daß  der 
Zimmergenosse  zugegen  ist  (45).  Ärzte  und  Apotheker  können  den  Tod 
eines  Menschen  herbeiführen,  weil  ihnen  die  erforderlichen  Kenntnisse 
oder  die  notwendige  Zuverlässigkeit  fehlen   (9). 

Bei  der  Stellungnahme  zum  Problem  der  Willensfreiheit  wird  sich  die 
Kriminalpsychologie,  die  sich  auf  endogenen  und  exogenen  Ursachen,  kos- 
mischen, soziologischen  und  biologischen  Einflüssen  aufbaut,  eher  dem 
Determinismus  als  dem  Indeterminismus,  deren  Für  und  Wider 
Messer  (333)  veranschaulicht  hat,  ohne  sich  für  das  eine  oder  andere  zu 
entscheiden,  zuwenden  müssen  (197,  220).  Jeder  psychische  Vorgang 
ist,  wie  Mezger  sagt  (338),  notwendig  so  und  nicht  anders  gegeben  und 
steht  in  einem  bestimmten  und  notwendigen  Kausalnexus.  Ob  wir  diesen 
Kausalnexus  immer  finden  werden,  ob  der  Determinismus  als  Postulat 
auch  zum  Determinismus  als  Forschungsergebnis  werden  wird,  das  kann 
nur  die  Forschung  selbst  ergeben.  Windelband  (/jqS)  spricht  von  Wahl- 
freiheit, wenn  bei  dem  Wählenden  in  seiner  Reaktion  auf  die  momentanen 
Motive  die  ganze  Energie  der  konstanten  Motive  des  dauernden  Wesens, 
des  Charakters  zur  Geltung  kommt;  es  ist  die  Freiheit,  von  der,  wie 
Messer  sagt  (334),  auch  der  Determinist  reden  kann,  in  ihr  liegt  die 
Aktivität  und  Spontaneität  des  Individuums;  dieses  konstante  Motiv  kann 
natürlich  aus  der  Kausalkette  nicht  entfernt  werden.  Sommer  betont  (448), 
daß  der  Wille  zwar  einerseits  natürlich  bedingt,  aber  andererseits  ein 
dynamisches  Moment  im  Ablaufe  des  psychophysischen  Geschehens  sei.  Der 
Wille  ist  nicht  ursachlos;  die  Willensfreiheit  unseres  Strafgesetzbuches 
bedeutet  nach  Dohna  (71)  nur,  daß  der  Wille  ursächlich  bestimmend 
in  die  Außenwelt  eingreifen  kann.  Er  ist,  wie  Senf  sich  ausdrückt  (437), 
determiniert  dadurch,  daß  ihn  stets  eine  Vorstellung,  deren  Rcalisienmg 
ein  Lustgefühl  verheißt,  zum  Tätigwerden  und  die  Aussicht  auf  Unlust 
zum  Untätigbleiben  veranlaßt,  und  daß  die  Summe  der  für  die  Willens- 
bildung verfügbaren  Vorstellungen  und  Gefühle  bedingt  ist  durch  die 
Reize  setzende  Umgebung,  in  welcher  er  lebt,  durch  seine  Natur  und  die 
ihm  angeborene  und  von  ihm  erworbene  psychische  Anlage.  Selbst 
Krauß  (276)  erkennt  an,  daß  es  keine  absolute  Willensfreiheit  für  den 
Menschen  gibt. 


13* 


III.  DIE  AUSFÜHRUNG  DER  TAT 

Der  Umstand,  wie  ein  Verbrechen  ausgeführt  wird,  läßt  sehr  oft  Schlüsse 
auf  die  Psyche  des  Täters  zu.  Deswegen  dürfen  die  Organe  der  Straf- 
rechtspflege keine  Mühe  scheuen,  um  alles,  was  zum  Erkennen  beitragen 
kann,  auszunutzen.  So  muß  bei  den  Zeugenvernehmungen  nicht  nur  da- 
nach gefragt  werden,  ob  der  Täter  das  Delikt  begangen  hat,  sondern 
auch,  wie  er  es  begangen  hat.  Natürlich  wird  man  beim  Vernehmen  der 
Zeugen  stets  an  die  zahlreichen  Fehlerquellen  denken  müssen,  die  bei 
der  Wahrnehmung,  Erinnerung  und  Aussage  selbst  vorliegen  können  (i3/j), 
worauf  an  dieser  Stelle  nicht  näher  eingegangen  werden  kann.  Neben 
den  Zeugenaussagen  werden  auch  die  Sachverständigenaussagen,  der  Lokal- 
augenschein (i34)  und  die  Besichtigung  der  Verbrecherwerkzeuge 
(Sog,  178,  460)  gute  Dienste  leisten  können.  Die  Vernehmung  des  Täters 
und  sein  Geständnis  werden  im  nächsten  Teile  besprochen  werden.  Bei  der 
ganzen  Beweisaufnahme  wird  man  nicht  vergessen  dürfen,  daß  der  Ver- 
nehmende und  Besichtigende  psychologische  Individuen  sind,  wie  Münster- 
berg sagt  (354),  daß  ihre  Ausbildung,  ihr  psychologisches  Verständ- 
nis (465),  ihre  Befangenheit  (21 5)  und  ihre  physischen  Eigenschaften  (i34) 
von   größter    Bedeutung   für  das   rechte   Erkennen  sind. 

Wir  wenden  uns  nunmehr  den  einzelnen  Deliktsgruppen  zu. 

Bei  Mord  und  Körperverletzung  wird  die  Art  der  Verletzung  über 
manches  Auskunft  geben  können.  Man  wird  aus  ihr  erkennen  können, 
ob  der  Täter  eine  schnell  zum  Tode  führende  Art  auswählte,  wie  meist 
bei  Familien-  und  Geliebtenmorden,  oder  ob  ihm  das  Leiden  seines  Opfers 
ganz  gleichgültig  war,  ob  er,  was  in  juristischer  Beziehung  von  besonderer 
Bedeutung  ist,  im  Affekt  oder  mit  Überlegung  gehandelt  hat;  bei  dem 
in  Gießen  verhandelten  Falle  Rein  legte  das  Gericht  großen  Wert  auf 
die  Aussage  des  Sachverständigen,  daß  die  der  Ehefrau  beigebrachten 
Verletzungen  nicht  stehend  hätten  beigebracht  werden  können;  Rein  hätte 
seine  Frau  dazu  hinwerfen  müssen;  der  Lokalaugenschein  wies  aber 
darauf  hin,  daß  die  Frau  nicht  schon  auf  der  Straße  gelegen  hatte,  son- 
dern abseits,  daß  sie  sich  also  zuerst  dorthin  begeben  haben  mußte; 
daraus  schloß  unter  Hinzuziehung  von  anderen  Umständen  das  Gericht, 
daß  Rein  seine  Frau  mit  Überlegung  getötet  habe.  Bei  Kindsmißhand- 
lungen wird  das  verschiedene  Alter  der  Verletzungen  sowie  ihre  Art 
Aufschluß  über  den  Charakter  des  Täters  geben  können,  vor  allem  auch 
darüber,  ob  die  Absicht  zu  töten  vorlag  oder  nicht;  Höpler  (210)  warnt 
aber  davor,  zu  glauben,  daß  auserwählte  Martern  und  erfinderische  Züch- 
tigungsmittel den  Eltern  nicht  zuzutrauen  seien.  Es  sei  hier  auch  an 
die  Verstümmelung  von  Kindern,  um  sie  zum  Betteln  tauglich  zu  machen, 
erinnert.     In  der  Art,  wie  der  Mord  begangen  wird,  kann  man  auch  auf 


PIK  AI  SFC  IIIU  NG  PKK  TAT 197 

die  Intelligonz  dos  Täters  schliofien;  so  Avirtl  ein  beschränkter  Mensch 
kaum  einen  Giftrnonl  begehen  können  oder  gar  einen  Mord  mit  Rein- 
kulturen von  Bazillen  (h,  527).  Auch  die  Entfenmng  der  Spuren  werden 
Anhaltspunkte  geben;  tler  eine  wird  beispielsweise  einen  Solbstmord\ er- 
such geschickter  als  der  andere  vortäuschen  (377).  Ob  ein  sexuelles 
Moment  mitspielte,  wird  die  Lokalisation  der  Wunden  und  die  Besich- 
tigung der  Geschlechtsteile  meist  ergeben.  Dagegen  wird  es  schwer  sein, 
zu  erkennen,  ob  es  sich  um  einen  Lustmord  otler  um  eine  unabsichtlich© 
Tötung  beim  Hindern  am  Rufen,  mn  Verdecken  eines  Sexualdeliktes  han- 
delt (/|02);  Groß  (i4^)  meint,  das  Erdrosseln  sei  mehr  ein  Zeichen  für 
Lustmord,  das  Zuhalten  oder  ^'^e^stopfen  des  Mundes  sowie  Faustschläge 
auf  den  Kopf  das  Zeichen,  daß  ein  Hindern  am  Schreien  beabsichtigt 
w;u*.  Bei  Körperverletzungen  weist  ein  Stich  in  die  Genitalgegend,  der 
plötzlich  und  unerwartet  ausgefülirt  wird,  sowie  das  rasche  Sichent- 
fernen des  Täters  auf  ein  sexuelles  Moment  bei  der  Tat  hin  (862).  Die 
Messerstecher  zeigen,  ebenso  wie  die  Zopfabschneider,  meist  eine  sehr 
große  Gewandtheit.  Am  Verwischen  der  Spuren  des  Verbrechens  kann 
man  auch  erkennen,  ob  der  Täter  behutsam  ist  oder  nicht;  häufig  findet 
man  bei  guter  Vorbereitimg  der  Tat  nachher  ein  lässiges  Verhalten.  So 
unterließen  die  beiden  von  Glos  (121)  beschriebenen  Raubmörder  die  ge- 
nügende Vernichtung  der  Verbrechensspuren  aus  Freude  an  der  großen 
Beute.  Strafella  berichtet  (459)  von  einem  Mörder,  dem  4  Giftmorde 
gelungen  waren  und  der  den  5.  Mord  aus  Leichtsinn  durch  Erschlagen 
beging  und  dadurch  ertappt  wurde.  Anna  Margareta  Zwanziger  war 
beim  Ausgeben  von  Gift  sehr  leichtsinnig;  nachdem  ihr  vorher  mehrere 
Morde  gelungen  waren,  verteilte  sie  noch  am  Tage  der  Abreise  Gift,  trotz- 
dem ihr  auf  eine  Vergiftung  hin  gekündigt  worden  war  und  sie  darüber 
hätte  stutzig  werden  sollen  (87).  In  den  seltensten  Fällen  findet  man, 
daß  der  Täter  vom  Mord  abläßt,  wenn  die  erste  Verletzung  nicht  zum 
Tode  führt.  Meist  greift  er  dann  sein  Opfer  noch  wütender  an ;  man 
könnte  glauben,  das  Sehen  von  Blut  rege  zur  Tat  noch  an  (278).  Eins 
der  krassesten  Beispiele  ist  die  von  Schütze  veröffentlichte  ,,Abschlach- 
tung"  einer  Geisteskranken  (432).  Ein  überflüssiges  Drauflosschlagen 
findet  man   sehr  häufig  (4oi). 

Eine  psychologische  Deutung  des  Gesichtsausdruckes  einer  Leiche  ist 
unzulässig  (280) ;  dagegen  värd  es  hie  und  da  möglich  sein,  aus  der 
letzten  Handlung  des  Ermordeten  im  Augenblick  der  Tat  Schlüsse  zu 
ziehen  auch  auf  die  Psyche  des  Täters  (i42). 

Hat  der  Täter  sein  Verbrechen  vorbereitet,  so  führt  er  es  oft  aus, 
selbst  wenn  die  Voraussetzungen  nicht  so  günstig  liegen,  als  er  gedacht 
hatte ;  so  schoß  Hau  auf  seine  Schwiegermutter,  obwohl  er  sich  beobachtet 
fühlte  und  die  alte  Frau  nicht  allein  war. 

Nicht  selten  spiegelt  sich  das  Geschlecht  des  Täters  in  der  Tat  wider. 
Frauen  wenden  gern  Mittel  an,  bei  denen  sie  dem  Stärkeren  nicht  offen 
entgegenzutreten  brauchen  oder  wenigstens  ihn  sofort  unfähig  machen, 
sich  zu  wehren.  So  sind  die  Frauen  besonders  stark  an  Giftmorden  be- 
teiligt (3o8,  108),  femer  nicht  selten  der  intellektuelle  Urheber  anderer 
Morde    (244)-     Seltener   finden    wir,   daß    Frauen   ihr    Opfer  erschießen 


J98  GÖRLXG :  KRIMLNALPSYCEIOLOGIE 

(96,  119,  368).  Das  Bespritzen  des  Gesichtes  mit  Vitriol  ist  eine  Lieb- 
lingswaffe der  Frau  (igS).  Geisteskranke  Frauen  wählen  oft  die  den 
Männern  eigentümlichen  Mordmittel  (494)-  In  einem  von  Reukauf f 
beschriebenen  Falle  (4oi)  gelang  es  einer  Frau  sogar,  ihren  Mann  zu 
überwältigen  und  zu  ersticken. 

Für  Aberglauben  des  Mörders  würde  sprechen,  wenn  einzelne  Organe 
der  Leiche,  z.  B.  Herz  oder  Geschlechtsteile,  entfernt  sind  (178). 

Sehr  schwer  wird  es  sein,  aus  der  Ausführung  des  Kindsmordes  Schlüsse 
auf  die  Psyche  der  Täterin  zu  ziehen.  Meist  wird  das  Kind  bei  der 
Geburt  zur  Erde  fallen  gelassen  oder  gleich  im  Anschluß  an  die  Geburt 
erstickt.  Wird  das  Delikt  mehr  als  einmal  begangen,  so  wird  man 
allerdings  daran  denken  dürfen,  daß  die  Täterin  roh  und  gemütsstumpf 
ist,  besonders  wenn  sie  die  Tötung  in  brutaler  Form  vornimmt,  z.  B. 
durch  Eingießen  von  giftigen  Flüssigkeiten,  wie  Dörr  es  beschrieben 
hat  (69),  oder  durch  Verbrühen,  was  eine  in  der  Gießener  Klinik  begut- 
achtete Mutter  fertiggebracht  hat. 

Der  Sexualtrieb  findet  seine  Entladung  oft  auf  eine  dem  normal 
eingestellten  Menschen  ganz  unverständliche  Weise.  So  ist  von  Brock 
ein  Fall  beschrieben  (58),  in  dem  ein  junger  Bursche  eine  82  jährig-e 
Frau  notzüchtigte.  Bei  den  Homosexuellen  wird  man  die  Päderasten 
und  Kinderschänder  anders  beurteilen  müssen  als  die  übrigen  Urninge, 
was  sie  selbst  auch  zugeben;  ein  homosexueller  Lehrer  sagte  mir  einmal, 
er  verurteile  homosexuelle  Handlungen  an  Kindern  durchaus;  sie  zeugten 
von  einem  schlechten  Charakter.  Für  den  Sadismus  findet  man  häufig 
Andeutungen  im  normalen  Geschlechtsverkehr.  Die  Stufen  des  Sadismus 
sind  äußerst  zahlreich.  Schon  das  Erschrecken  kann  einen  sadistischen 
Akt  darstellen;  es  folgen  die  Körperverletzungen,  die  in  verschiedener 
Schwere  imd  allen  möglichen  Variationen  auftreten;  den  Schluß  bildet 
der  Lustmord  (275,  5o4,  3/i3,  362).  Sadistische  Handlungen,  Notzucht 
und  Unzucht  an  Tieren  werden  oft  mit  unglaublicher  Roheit  begangen. 
Auffallend  ist,  wie  wenig  sich  die  Täter  durch  eine  ungünstige  Ge- 
legenheit beeinflussen  lassen;  das  gilt  besonders  auch  für  Fetischisten, 
die  einen  Diebstahl  begehen,  und  für  Exhibitionisten,  auch  dann,  wenn  sie 
die  Tat  nicht  in  einem  Dämmerzustand  ausführen.  Es  scheint,  als  ob 
der  Sexualtrieb  so  mächtig  sein  kann,  daß  die  notwendige  Vorsicht 
außer  acht  gelassen  wird.  Unzüchtige  Handlungen  an  Kindern  werden 
meist  vorgenommen,  nachdem  die  Kinder  in  die  Wohnung  des  Täters 
gelockt  worden  sind;  es  sind  aber  auch  Fälle  bekannt,  daß  solche 
Handlungen  von  einem  Lehrer  am  Katheder  begangen  wurden.  Sehr 
beliebt  sind  Kinos  wegen  der  Dunkelheit  und  der  Enge  der  Sitzplätze 
(32 1).  Es  ist  nicht  notwendig,  daß  stets  ein  und  dieselbe  perverse 
Handlung  von  einer  Person  vorgenommen  wird;  es  sind  Fälle  bekannt, 
in  denen  sich  der  Täter  von  einer  zur  anderen  wandte;  so  hat  Gruber 
einen  Fall  beschrieben  (i46),  der  chronologisch  folgende  Reihenfolge 
aufwies:  Onanie,  Koitus,  Kunnilingus,  sadistische,  fetischistische  Hand- 
limgen,  Exhibitionismus.  Ein  ähnlicher  Wechsel  woirde  von  Aronsohn 
festgestellt  (i3). 


nii:  \i  sFüiiRiNc.  Dr.u  tat 199 

Großes  kriniinalpsycliologischcs  Iiilonvsse  kommt  (itMi  falsclien  ;Vn- 
schuidigungon  zu.  Ist  ein«  Frau  der  Täter,  so  sind  sie  meist  sexuell 
gefärbt  (828^:  Groß  schiebt  den  Menses  einen  großen  Einfluß  zu  (i^i)- 
Es  ist  erstaunlich,  von  welcher  Mannigfaltii^k.<»il  sie  sind,  un<l  mit  welchem 
Raffinement  sie  ausgeführt  werden;  man  nuiß  sich  oft  fragen,  ob 
man  dem  Täter,  der  nun  endlich  vor  dem  llichter  steht,  so  viel  Sclilau- 
heit  zutrauen  darf.  Notzuchtattentate  werden  bis  ins  Ideinste  genau 
l>\>ichriebon  (21  f\).  Beschädigungen  werden  sich  beigebracht  (4o),  be- 
sonders von  Hysterischen,  nur  um  einen  bestimmten  Zweck  zu  erreichen, 
sich  selbst  von  einer  Schande  oder  Unannehmlichkeit  zu  befreien  oder 
einen  anderen  aus  Rache,  Haß  oder  Neid  ins  Unglück  zu  stürzen. 
Nicht  selten  stellen  sich  die  Anschuldiger  nicht  selbst  als  Objekt  der 
Straftat  hin,  sondern  bezichtigen  ihr  Opfer  eines  von  einem  Dritten  oder 
nf)ch  häufiger  eines  von  ihnen  selbst  begangenen  Verbrechens  (206,  4o8). 
Geschieht  die  Anzeige  anonym,  so  spricht  dies  für  eine  mehr  oder 
minder  große  Feigheit  des  Eienunzianten  (/j2i). 

Bei  den  Eigentumsdelikten  steht  die  Gewandtheit  des  Täters  im  um- 
gekehrten Verhältnis  zur  günstigen  Gelegenheit.  Ist  der  Inhaber  einer 
\^'ohnung  verreist  und  die  Tür  unkompliziert  geschlossen,  so  wird  mit 
Hilfe  eines  Postens  ein  Einbruch  auszuführen  sein,  ohne  daß  dem  Täter 
eine  besondere  Begabmig  zugesprochen  werden  muß.  Man  muß  sich 
oft  wundem,  wie  unverfroren  die  Diebe  vorgehen,  wie  ein  von  mir  begut- 
achteter junger  Mann,  der  bei  hellichtem  Tag  in  einer  belebten  Straße 
von  einem  Postkarren  ein  Paket  entwendete  und  mit  diesem  auf  der 
elektrischen  Straßenbahn  verschwand.  Natürlich  ist  der  Schluß  nicht 
zulässig,  daß  ein  Verbrecher  beschränkt  sei,  weil  er  primitive  Mittel 
angewandt  habe.  Strafella  hat  darauf  hingewiesen  (460),  daß  der  Ver- 
brecher nicht  selten  gezwungen  ist,  primitiv  zu  handeln,  weil  er  sich  alles 
selbst  schaffen  muß.  Manche  besitzen  allerdings  eine  erstaunliche  Ge- 
wandtheit im  Verfertigen  ihrer  V^erkzeuge.  Neuerdings  gibt  es  auch 
Sc  blosser  meister,  die  berufsmäßig  Verbrecherwerkzeuge  herstellen  (agS). 
Bei  manchen  Berufen  führt  die  Gelegenheit  zum  Diebstahl,  so  bei 
Dienstmädchen  (229),  die  täglich  mit  dem  Eigentum  ihrer  Arbeitgeber 
umgehen,  und  die,  besonders  wenn  sie  jung  und  leichtsinnig  sind,  oft 
den  Wunsch  hegen,  diesen  oder  jenen  Gegenstand  selbst  zu  besitzen. 
Auch  bei  den  Warenhausdiebinnen  spielt  die  günstige  Gelegenheit  eine 
große  Rolle;  mehr  als  zwei  Drittel  der  Täter,  meist  psychopathisch  ver- 
anlagte Frauen,  betreten  ohne  bestehende  Diebesabsicht  das  Kaufhaus 
(i5o);  der  Rest  ist  zum  großen  Teil  sehr  gewandt;  er  kleidet  sich 
zweckmäßig  und  scheut  sich  nicht,  auch  in  den  Körperhöhlen  die  ge- 
stohlenen Gegenstände  zu  verbergen.  Eine  große  Gerissenheit  besitzen  die 
Spezialdiebe  (/J19).  Die  Kassendiebe  und  Bankräuber  halten  sich  meist 
an  ein  ganz  bestimmtes  Vorgehen,  das  sie  genau  ausgearbeitet  haben. 
Teils  arbeiten  sie  lieber  allein  (225),  teils  in  Banden,  wie  die  bekannten 
amerikanischen  Bankräuber,  die  sog.  Yeggs  (38o).  Sie  sind  mit  dem 
feinsten  Werkzeug  ausgestattet  und  meist  modern  bewaffnet,  scheuen 
Mch   auch    nicht   davor,    Störenfriede   niederzuschießen.     Wichtig  ist   die 


200  GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

Ablenkung  des  Publikums,  z.  B.  durch  einen  Bombenanschlag  auf  ein 
benachbartes  Haus  (286).  Am  gewandtesten  benehmen  sich  die  Hotel- 
diebe, die  gewöhnlich  sehr  elegant  auftreten  und  mit  großer  Vorsicht, 
aber  auch  mit  um  so  größerer  Ausdauer  ans  Werk  gehen  (4oo,  /i74)- 
Die  Entwendung  von  Leichenteilen  oder  Gegenständen,  die  bei  einer 
Leiche  waren,  weist  meist  auf  einen  abergläubischen  Täter  hin  (161). 
Eine  besondere  Begabung  gehört  zum  Betrügen;  auch  hier  haben 
sich  zahlreiche  Spezialitäten  ausgebildet.  Am  nächsten  dem  Diebe,  und 
zwar  dem  Taschendiebe,  kommt  der  Wechselfahrer,  dem  es  darauf  an- 
kommt, durch  Fingerfertigkeit  und  Betören  des  Wechselnden  zuviel 
ziu-ückzuerhalten  (228,  6);  sehr  selten  kann  man  ihm  einen  Betrug 
nachweisen,  da  er  stets  angibt,  er  habe  sich  geirrt.  Eine  andere  Art 
von  Ladenschwindelei  hat  Hirsch  beschrieben  (194):  man  kauft  mehrere 
Gegenstände  ein  \md  läßt  sie  mit  quittierter  Rechnung  an  eine  falsche 
Adresse  schicken;  selbst  nimmt  man  etwas  weniger  Wertvolles  gleich 
mit  und  läßt  den  Betrag  der  Rechnung  hinzufügen.  Von  besonders 
großer  Bedeutung  sind  Betrügereien  an  Banken;  meist  handelt  es  sich 
um  große,  ja  enorme  Summen.  Die  Ausführung  setzt  eine  große  Be- 
gabung, Kaltblütigkeit  und  Gewissenlosigkeit  voraus.  Am  bekanntesten 
ist  der  Leipziger  Bankprozeß.  Der  Betrug  beruhte  nicht  auf  einfachen 
Buchfälschungen,  sondern  wurde  viel  raffinierter  vorgenommen.  Es  wurde 
für  die  Trebertrocknungsgesellschaft  ein  Geheimbuch  angelegt,  ebenso 
bei  dieser  für  die  Leipziger  Bank.  Später  wurde  eine  Zwischeninstanz 
zwischen  beide  Firmen  eing^choben,  nämlich  der  Direktor  und  die  Auf^ 
sichtsratsmitglieder  der  Trebertrocknungsgesellschaft,  und  diese  standen 
als  Gläubiger  bei  der  Leipziger  Bank  zu  Buch.  Eine  ausführliche  Dar- 
stellung hat  Weber  gegeben  (488).  Sehr  einträglich  ist  auch  der  Adels- 
und Heiratschwindel;  diese  Betrüger  treten  außerordentlich  gewandt 
imd  forsch  auf,  geben  sehr  schlagfertig  Antwort  und  sind  trotz  der 
schwierigsten  Situationen  ruhig  und  überlegsam  (120).  Vielfach  bietet 
eine  psychopathische  Veranlagung  die  Grundlage  zu  der  Möglichkeit 
ihres  Vorgehens.  Sie  leben  sich  in  die  Rollen,  die  sie  spielen,  derart 
ein,  daß  sie  selbst  mehr  oder  weniger  daran  glauben  (i25,  16),  was 
ihnen  eine  große  Sicherheit  in  ihrem  Auftreten  verleiht  (464),  besonders 
wenn  der  Leichtsinn  und  die  Leichtgläubigkeit  des  Publikums  ihnen 
ihr  Tun  erleichtert  (42o).  Es  sind  sogar  Fälle  beschrieben,  in  denen 
solche  Psychopathen  schwindeln,  ohne  daß  sie  einen  Vermögensvorteil 
für  sich  erwirken  wollen  (SgS,  2  04);  sie  befriedigen  dadurch  ihre 
Eitelkeit.  Den  Heiratschwindlern  ähnlich  sind  die  Betrüger,  die  sich 
an  alte,  alleinstehende  Damen  heranmachen,  ihr  Vertrauen  erwecken  und 
sie  schließlich  zur  Herausgabe  größerer  Geldbeträge  bewegen  (Sog). 
Auch  die  Anwendung  religiöser  Bräuche,  das  Auftreten  als  Geistlicher 
dienen  dazu,  das  Volk  zu  beeinflussen  (417);  gerade  'auf  dem  Lande 
kann  man  durch  solche  Manipulationen  manches  harte  Bauemherz  er- 
weichen ;  gute  Dienste  leisten  in  dieser  Beziehung  auch  die  bekannten 
Himmelsbriefe  (482).  Besonders  gern  wird  der  Spiritismus  zu  Schwin- 
deleien herangezogen;  entweder  werden  Trancezustände  nur  markiert  oder 
solche  Zustände  in  leichter  Form  zum   Betrügen  verwendet   (167,   427). 


PIK  ALSFCHRl">G  DER  TAT 201 

In  Gießen  wurde  ein  Sclnvindlex  begutachtet,  der  behauptete,  daß  er 
zu  UnU^rschlapunpen  (hu-ch  M'inen  \etter  vemiitteLs  Hypnose;  voranlaßt 
worden   war,    was   je<k)cli   vom   (iutachter   widerlegt  wurde. 

Beim  Wrsicherungsehwindel  handelt  es  sich  entweder  um  einen  ab- 
sichtlichen lietnig,  bei  «lern  meist  äußerst  raffiniert  ein  Leiden,  das  selbst 
Fachärzten  Kopfzerbrechen  bereiten  kann  (332,  12/1),  oder  gar  ein  Mord 
(98)  vorgeUiuscht  wird,  oder  es  handelt  sich  —  und  das  ist  die  Regel 
um  ein  leichtes  Ix?iden,  welches  durch  den  Kranken  schlimmer  dargestellt 
Avird.  als  es  wirklich  ist.  Nicht  selten  glauben  die  Kranken  selbst, 
daß  das  Leiden  so  schwer  ist,  wie  sie  es  darstellen ;  dazu  ist  allerdings 
eine  Veranlagung  notwendig;  man  bezeichnet  diese  Erkrankungen  aJs 
Unfalls-  und  Begehrungsneurosen  (366).  Selbstbeschädigungen  sind 
seltener,  konunen  aber  auch  vor. 

Ein  beliebtes  Mittel,  Betrügereien  nicht  aufkommen  zu  lassen,  ist 
das  Abfangen  von  ankommenden  Briefen;  so  wurde  in  Gießen  eine 
Frau  begutachtet,  die  nicht  nur  Sendungen  an  ihren  Mann  auffing, 
sondern  auch  einen  Brief  eines  Bekannten,  dessen  Namen  sie  unter  einen 
^^'echsel  gefälscht  hatte,  an  sich  zu  nehmen  verstand,  nachdem  sie  gehört 
hatte,  daß  er  abgesandt  worden  sei,  imd  denselben  beantwortete. 

Trotz  der  Habgier  der  Eigentumsverbrecher  findet  man  bei  ihnen  nicht 
selten  ein  Mitgefühl  mit  Armen  imd  Schwachen;  so  hat  Dolenc  einen 
Fall  beschrieben  (73),  in  dem  weibliche  Räuber  ihre  Opfer  unter  denen 
aussuchten,  die  keine  Kinder  imd  keine  Bedürfnisse  hatten,  und  der 
Verbrecher,  dessen  Betrachtung  Fliegenschmidt  übermittelt  hat  (97),  be- 
hauptet, die  Reichen  geschröpft,  aber  die  Armen  geschont  zu  haben. 
Schon  Lombroso  hat  erwähnt  (3o7),  daß  Bankerottierer,  Spieler  und 
Fälscher  gern  Arme  unterstützen  und  ihr  Wohltätigkeitsinn  oft  über- 
trieben  ist. 

Im  Gegensatz  zu  den  Betrügern  gehen  die  Erpresser  meist  plump 
vor  unter  Ausnutzung  von  vorgenommenen  Abtreibungen  (257)  oder 
abnormer  sexueller  Betätigung,  vor  allem  der  homosexuellen,  was  bei 
uns  infolge  der  Bestrafimg  des  gleichgeschlechtlichen  Verkehrs  zwischen 
Männern  besonders  beliebt  ist  (240).  Ein  mehrfach  beobachteter  Trick 
ist  das  Photographieren  in  kompromittierenden  Stellungen  (398).  Im 
Erpresser  liegt  stets  etwas  Feiges,  Hinterhältiges;  er  nutzt  die  Schwächen 
seiner  Mitmenschen,  die  er  möglicherweise  noch  selbst  durch  seinen 
Einfluß  und  sein  Zureden  ans  Tageslicht  gefördert  hat,  aus,  um  sich 
selbst  zu  bereichem. 

Mancher,  der  sich  zum  Betrug  nicht  entschließt,  wird  eine  Urkunden- 
fälschimg  nicht  scheuen.  Es  macht  den  Eindruck,  als  ob  das  Gewissen 
beim  schriftlichen  Betrug  viel  weiter  sei  als  beim  mündlichen  (375). 
Eine  Fälschung  ist  ja  auch  so  einfach;  oft  genügt  ein  Federstrich, 
um  Tausende  zu  gewinnen.  Die  Gewandtheit,  mit  der  Fälschungen  vor- 
genommen werden,  ist  staunenswert;  die  Wiederherstellung  durch  Säuren 
zerstörter,  das  Flicken  dm*chlochter  Stellen  ist  so  tadellos,  daß  oft 
mikroskopisch  nichts  sichtbar  ist.  Der  Plan  beim  Ausgeben  falschen  Geldes 
ist  meist  bis  ins  kleinste  ausgearbeitet;  bei  der  Auswahl  der  Helfer, 
besonders  der  Vorzeiger,   wird  große  Vorsicht  angewandt   (38oa).     Den 


202  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


Handschriftenfälschern  kommt  zu  ^te,  daß  die  Sachverständigen  sich 
sehr  leicht  irren   (387). 

Brandstiftungen  werden  sehr  verschieden  ausgeführt  (60 J;  handelt 
€6  sich  um  einen  Versicherungsbrand  (/ii4),  so  ist  die  Anlage  meist 
raffiniert,  ebenso  bei  dem.  Brand  zum  Verdecken  eines  anderen  Verbrechens, 
wie  im  Falle  Beckert  (43),  in  dem  der  Täter  zunächst  einen  Raubmord 
beging,  dann  dem  Opfer  seine  Kleidung  anzog  und  endlich  das  Haus 
anzündete;  die  verkohlte  Leiche  konnte  aber  am  Gebiß  identifiziert 
werden.  Der  echte  Brandstifter  dagegen  wird  vom  Feuer  angezogen; 
er  hilft  sogar  oft  bei  den  Rettungsarbeiten  (472). 

Andere  die  Allgemeinheit  gefährdende  Verbrechen,  wie  die  Gefährdung 
von  Bahntransporten,  werden  sehr  selten  verübt;  sind  sie  der  Ausfluß 
von  Habgier,  so  zeugt  es  von  großer  Gemütstumpfheit,  wenn  solche 
Mittel,  durch  die  so  viele  Menschenleben  zugrunde  gehen  können,  gewählt 
werden.  Daß  Geisteskranke  Bahntransporte  gefährden,  kommt  nicht  so 
selten  vor ;  in  die  Münchener  %^linik  wurde  ein  Lokomotivführer  auf- 
genommen, der  mit  einer  Geschwindigkeit  von  90  km  durch  Pasing 
gefahren  war,  obwohl  er  dort  hätte  halten  sollen;  er  litt  an  progressiver 
Paralyse.  Die  gleiche  Krankheit  hatte  ein  in  Gießen  aufgenommener 
Streckenarbeiter,  der  kurz  vor  der  Durchfahrt  eines  Zuges  Steine  auf 
die  Schienen  abgeladen  hatte. 

Die  politischen  Massenverbrechen  werden  meist  mit  ausgesuchter  Roheit 
ausgeführt;  dabei  ist  das  .Verantwortungsgefühl  eines  jeden  einzelnen 
herabgesetzt.  Für  beides  bietet  die  Geschichte  genügend  Beispiele  (46 1 ) ; 
auch  bei  uns  hat  es  sich  in  der  letzten  Zeit  wieder  bewahrheitet. 

Selbstverstümmelungen  zwecks  Befreiung  vom  Heeresdienst  werden  nur 
selten  geschickt  ausgeführt ;  meist  handelt  es  sich  um  geistig  beschränkte 
Täter,  die  nicht  in  der  Lage  sind,  zu  übersehen,  wie  weit  ein  Arzt  ihre 
Handlungsweise  klarzustellen  vermag;  man  findet  Verletzungen  durch 
Beilhiebe,    Messerstiche,    mit   Nadeln   und   durch    Schüsse    (32). 

Allgemein  sei  bemerkt,  daß  viele  Gewohnheitsverbrecher  abergläubisch 
sind  und  durch  gewisse  Handlungen,  z.  B.  die  Beschmutzung  des  Tat- 
ortes mit  Kot,  dem  sog.  Grumus  merdae  (162),  das  Gelingen  der  Tat 
erhoffen.  Auch  das  Mitführen  bestimmter  Gegenstände  (i65),  wie  einer 
geweihten  Kerze  bei  Brandstiftungen  (107),  vor  allem  auch  von  Leichen- 
teilen (434)  soll  Erfolg  bringen. 

Zum  Schluß  sei  noch  darauf  hingewiesen,  daß  Delikte  durch  Reflex- 
(34)   oder  reflexoide   Handlungen    (i36)   ausgeführt  werden   können. 


IV.  DER  VKRRRECHEI.'  NACH  DER  TAT 
BIS  ZUR  VERURTEILING 

Das  Verhalten  des  Tälers  nach  der  Tat  ist  für  den  Kriminal|>sychologen 
ebenso  >vichtig  wie  das  \'erhalten  vor  und  während  der  Tat.  Stern  (456) 
hat  an  Experimenten  zu  erforschen  versucht,  ob  ein  Mensch  im  allge- 
meinen bei  oder  nach  Begehung  einer  Straftat  an  die  Folgen  für  den 
Leidenden  oder  nur  an  die  ihn  selbst  treffenden  Folgen  denkt.  Bei 
seinen  ^e^suchen  hat  sich  herausgestellt,  daß  die  Versuchsperson  stete 
an  sich  und  meist  überhaupt  nicht  an  den  Betroffenen  gedacht  hat. 
Ganz  unverständlich  sind  zwei  von  Lindau  (299)  beobachtete  Fälle, 
in  denen  zwei  Mörder  nach  ihrer  furchtbaren  Tat  für  ein  Kind  und 
einen  Kanarienvogel  sorgten,  damit  diese  nicht  verhungerten.  In  den 
meisten  Fällen  legen  Mörder  eine  Stumpfheit  und  Gleichgültigkeit  an 
den  Tag,  die  ihresgleichen  nicht  findet.  So  essen  und  schlafen  viele  nach 
der  Tat  ausgezeichnet;  Reukauff  (4oi)  erwäJint  eine  Dirne,  die  2  Monate 
lang  mit  der  Leiche  des  von  ihr  ermordeten  Geliebten  zusammen  geschlafen 
und  gewohnt  hatte  (sie  gab  an,  sie  hätte  sich  an  die  Nähe  der  Leiche 
gewöhnt,  gut  gelüftet  und  nicht  geheizt),  ferner  einen  schwaclisinnigen 
Arbeiter,  der  neben  der  von  ihm  ermordeten  Stiefmutter  seine  Mahlzeit 
verzehrte.  Peßler  (876)  berichtet  von  einem  Menschen,  der  mit  seiner  Ge- 
liebten, deren  Mann  er  erschlagen  hatte,  gleich  nach  der  Tat  im  Bett 
de^  Erschlagenen  den  Koitus  ausübte,  was  Reukauff  allerdings  lediglich 
als  eine  Gewaltentladung  seelischer  Hochspannung  ansieht  (4oi).  Nur 
die  Affektverbrecher  sind  meist  sehr  eoregt  nach  der  Tat  (807)  und 
stellen  sich  oft  freiwillig  der  Polizei.  Während  die  berufsmäßigen  Diebe 
und  Betrüger  nach  der  Tat  vorsichtig  sind,  selbst  ihrem  Genossen,  auch 
wenn  er  für  sie  bezahlt,  nicht  gern  ihre  Schätze  zeigen  (253),  findet 
man  bei  den  anderen  Verbrechern,  besonders  auch  bei  den  Raubmördern, 
ein  Gefühl  von  Sicherheit,  als  ob  sie  dächten,  nachdem  ihnen  die  Tat 
gelungen  sei,  könne  ihnen  nichts  mehr  passieren.  Sie  geben  übermäßig 
Geld  aus,  obwohl  es  zu  ihrem  Vorlel>en  nicht  paßt  (i33);  sie  veräußern 
die  erbeuteten  Sachen  in  leichtsinniger  Weise,  besonders  wenn  die  ersten 
vorsichtig  vorgenommenen  Verkäufe  glatt  gelungen  sind  (384)-  Nur 
an  eine  Sicherheitsmaßnahme  wird  verhältnismäßig  oft  gedacht,  das 
Verschaffen  des  Alibibeweises  (122).  Mit  welch  kaltblütiger  Ruhe  er 
gesucht  wird,  selbst  nach  der  Ermordung  der  nächsten  Angehörigen,  ist 
kaum  zu  glauben  (278).  Zuweilen  ist  beobachtet  worden,  daß  Eitelkeit 
dem  Verbrecher  zum  Verderben  gereichte,  wie  den  beiden  von  Bosetti  (55) 
erwähnten  Dieben,  die  sich  photographieren  ließen  in  der  Pose,  wie 
einer  dem  anderen  die  Börse  entwendet. 

Bei    Sittlichkeitsverbrechem    findet    man    nach    der    Tat    nicht    selten 


204  GÖRI.NG:  KRIMINALPSYCIIOLOGIE 

einen  ausgesprochenen  Abscheu  vor  der  Handlungsweise,  eine  Empfin- 
dung von  dem  Scheußlichen  der  Tat,  von  den  Gegensätzen,  die  in  ihnen 
wirken;  so  berichtet  Liman  (298b)  von  einem  Päderasten  übelster  Art 
aus  guter  Familie,  der  selbst  angab,  er  sei  erschreckt  über  die  Gegen- 
sätze, die  in  ihm  beständen:  neben  dem  Gefallen  an  allem  Schönen 
und  Edlen  die  Sucht,  mit  Männern  aus  der  Hefe  des  Volkes  zu  verkehren. 

Wie  der  Täter  sich  nach  Begehung  des  Delikts  verhält,  kommt  nicht 
zum  wenigsten  auf  sein  Gewissen  an  (372),  d.  h.  auf  seine  soziale  Ge>- 
fühlsäußening  der  eigenen  Handlung  gegenüber,  die  einen  Mitmenschen 
verletzt  oder  verletzen  soll,  wie  Gerland  sich  ausdrückt  (117)-  Oppen- 
heim (372)  definiert  das  Gewissen  als  die  Tatsache  des  Regewerdens 
unserer  sittlichen,  bzw.  religiösen  Vorstellungen  und  Gefühle  in  bezug 
auf  von  uns  vorgenommene  oder  erst  vorzunehmende  oder  in  der  Aus- 
führung b^riffene  Handlungen.  Das  Gewissen  kann  also  auch  vor 
Begehung  der  Tat  schlagen;  es  kann  vorher  anders  sprechen  als  nach- 
her (3o5).  Wie  groß  die  Macht  des  Gewissens  sein  kann,  zeigen  die 
bei  Lohsing  (3o5),  angeführten  Beispiele.  Schlägt  das  Gewissen,  so 
kann  der  Täter  über  die  Tat  Reue  empfinden;  d.  h.  es  befällt  ihn  eine 
psychische  Depression,  weil  er  sich  von  der  Unrichtigkeit  einer  Hand- 
lung in  ihren  Folgen  überzeugt  hat  (117)-  Die  Reue  ist  ein  Gefühl  von 
Unlust,  das  sich  gegen  den  Urheber  des  Geschehenen  selbst  richtet  (295, 
457).  Manchmal  sind  die  Anwandlungen  von  Reue  nur  von  kurzer 
Dauer,  hervorgerufen  durch  äußere  Umstände.  In  anderen  Fällen  han- 
delt es  sich  nur  scheinbeir  um  Reue,  während  tatsächlich  Furcht  vor 
Strafe  der  Anlaß  zn  dem  äußerlich  reumütigen  Verhalten  darstellt  (479). 
Viele  Verbrecher  können  überhaupt  keine  Reue  empfinden;  sie  sind  zu 
stumpf  dazu;  sie  empfinden  nicht  altruistisch  genug  (5o2);  sie  sehen 
gar  nicht  ein,  daß  sie  ein  Unrecht  getan  haben,  z.  B.  .Jugendlicbei,  die 
aus  Heimweh  ein  Delikt  begangen  haben  (242).  Bei  gebildeten  Leuten 
findet  man  äußerst  selten  Reue  über  Zoll-  imd  Steuerdefraudationen ;  es 
darf  daher  auch  nicht  verwunderlich  sein,  wenn  wahrend  der  Revo- 
lutionszeit Diebstähle  an  Staatsgut  als  etwas  Selbstverständliches  galten 
und  zu  Reue  keine  Veranlassung  gaben,  trberhaupt  erscheinen  Eigen- 
tumsvergehen unpersönlicher,  unschuldiger;  bei  Delikten  gegen  die  Per- 
son findet  man  häufiger  Reue  (226).  Äußerst  selten  bereuen  Homo- 
sexuelle ihr  Tun;  ein  Lehrer,  der  sich  an  Knaben  vergangen  hatte,  sagte 
mir,  er  sei  sich  zwar  der  Schwere  des  Vergehens  bewußt  gewesen,  habe 
aber  doch  keine  Reue  empfunden,  höchstens  Mitleid  und  Bedauern  gegen- 
über den  Kindern ,  —  Nicht  selten  ergreift  einen  Täter  Scham;  es  ist 
das  Gefühl  der  Unlust,  welches  entsteht  durcb  erfolgte  oder  als  möglich 
gedachte  abfällige  Urteile  dritter  Personen  (117).  Häufiger  als  Reue 
und  Scham  findet  man  Depression  und  Verzweiflung  über  die  Tat  ausi 
rein  egoistischen  Gründen,  wegen  der  schlechten  Lage,  in  der  sich  der 
Täter  befindet  (5o2). 

Bei  der  Festnahme  wehren  sich  nicbt  viele  Verbrecher.  Je  schwerer 
das  Verbrechen  ist,  je  weniger  also  für  den  Täter  auf  dem  Spiele  steht, 
wenn  er  dem  begangenen  Verbrechen  noch  ein  neues  hinzufügt,  um  so 
leichter    >\ird    er    sich    dazfu   entschließen,    kein   Mittel    zu   scheuen,   um 


DKU  VKtlBllKCHKR  NACH  DHU  TAT 205 

der  Verhaftung  zu  entgehen.  Außerdem  sind  leicht  erreglicho  Menschen, 
bosondors  wenn  sie  .\lkohol  genossen  haben,  geneigt,  sich  der  Festnahnio 
zu  widersetzen. 

Das  lionohnien  des  Verbrechers  bei  der  Nernehmung  ist  aufierordontlich 
verschieden.      .\us    der    Art   des    .\uflretens    wird    man,    wenn    aucli   sehr 
vorsichtig,   manchen   Schluß   ziehen  können.     Von   iKSsonderer  ßodeutung 
sind  die  Gt^tändnisse.     Liegt  ein  solches  vor,  so  sollte  auch   stets   nach 
seinem    .Motiv    geforscht   werden    (3o5).      Nach   Groß   nmß    nicht   immer 
ein  Motiv  vorliegen   (i3/l),  was  Lohsing  bestreitet  (3o5).     Die  Ursachen, 
die  ein   Geständnis  henorrufen,  sind  sehr  mannigfaltig.     Lolising  (3o5) 
hat  sie   in   vier  verschiedene  Gruppen   eingeteilt.     In  die  erste  gehören 
die   ethischen    Motive;    das  Gewissen,   die   Reue,   religiöse   Motive,    L'i^ye, 
Rücksicht  auf   Freundschaft  und  Kameradschaft,   Patriotismus  und   Na- 
tionalgefühl, endlich   Ehrgefühl  können  die  Veranlassung  zu  einem  Ge- 
ständnis geben;    doch  sind  diese  Fälle  verhältnismäßig  selten.     Häufiger 
sind    unethische    Motive,    wie    Rachie,    Renonmiiersucht,    Opportunismus. 
Gerade  der   letztere   spielt  eine  große  Rolle;    oft   wartet  der   Täter  mit 
dem  Geständnis,   bis  er  sieht,  daß  die  Beweise  sich  so  verdichten,   daß 
das  Leugnen   zwecklos  ist;   dann  schlägt  er  eine  andere  Taktik  ein,   ge- 
steht   zwar,    sucht    aber    beispielsweise    geisteskrank    zu    erscheinen,   wie 
der  Lustmörder  Dittrich,  der  sich  zu  diesem  Zwecke  sogar  noch  anderer 
Morde,  die  er  gar  nicht  begangen  hatte,  beschuldigte  (367).     Als  dritte 
Gruppe  führt  Lohsing  einige  andere  Veranlassungen  zum  Geständnis  an: 
die  Reue  ohne  ethische  Grundlage,  Resignation,  Verblüffung  und  Zwang. 
Körperlicher  Zweuig  wird  schon  lange  nicht  mehr  angewendet;  aber  auch 
psychischer   ist   verpönt;    er  ist  jedoch  noch;  häufiger  in  Gebrauch,  als 
meui  denkt.     Das  Auftreten  des  Vernehmenden  kann  auf  die  Psyche  des 
Verbrechers   günstig  einwirken,   so  daß  er  seine  Tat  zugibt.     Nur  darf 
der    Vernehmende    den    psychischen   'Zustand    des    Verbrechers    nicht  in 
jeder   Weise   ausnutzen,    um  sein   Ziel   zu  erreichen   (436) ;    wir  würden 
dann  zu  einer  psychischen  Folterung  zurückkehren,  die  niemandem  förder- 
lich ist  (469)-     Ebensowenig  darf  durch  Hypnose  ein  Geständnis  herbei- 
geführt werden.     Die  sog.   Tatbestandsdiagnostik,   die  experimentell  oft 
erprobt  worden  ist  (^92,   io4,   i8i,   19,  25o),  sollte  im  Verfahren   nicht 
angewandt  werden,   weil,   abgesehen   von  den    zweifelhaften   Ergebnissen 
(45o,    109),   der   Vernehmende  dem  .Angeschuldigten  nicht  offen  gegen- 
übertrilt   (182).     Zweifelhaft  ist  auch,  ob  es  berechtigt  ist,  dem  Ange- 
schuldigten  mit   Bestimmtheit  die  Täterschaft  vorzuhalten,  obwohl  man 
selbst  noch  nicht  davon  überzeugt  ist.     Macht  der  Vernehmende  unwahre 
Angaben,  so  kommt  es  oft  vor,  daß  der  Angeschuldigte  aus  Wut  und   Em- 
pörung   widerspricht    und    sich    zum    Geständnis    hinreißen    läßt    (376). 
Als  letzte  Gruppe  erwähnt  Lohsing  das  Geständnis  aus  psychopathischen 
Gründen.     Verhältnismäßig   oft  löst  das  Wiedererleben   am  Tatort  imd 
das    Zugegensein    bei   der   Obduktion   ein   Geständnis  aus    (376) ;    es  Ist 
nicht  anzunehmen,  daß  ein  solches  Geständnis  auf  einer  ethischen  Grund- 
lage beruht;    vielmehr  scheint  meist  ein  innerer  Zwang  zum  Geständnis 
TU  treiben,  wie  man  ihn  auch  bei  Warenhausdiebinnen  findet  (74)-    Über- 
haupt spielt  die  Mystik  bei   Verbrechern   noch  eine  gewisse  Rolle.    Aus 


206  GüRl-NG :  KRIMLNALPSYCliOLQGlE 

Aberglauben  wurden  Geständnisse  abgelegt  (167),  und  ergreifende  Ein- 
drücke, wie  ein  Leichenzug  mit  Trauermusik,  der  wälirend  der  Verneh- 
mung vorbeizog   (116).   haben  den  Täter  bewogen,  die  Tat  zuzugeben. 

Wenn  ein  Geständnis  abgelegt  wird,  so  ist  damit  durchaus  noch  nicht 
»esagt,  daß  der  Täter  die  Wahrheit  sagt;  einmal  kann  er  mit  dem  Ge- 
ständnis der  Tat,  aber  mit  Leugnen  von  Nebenumständen  eine  mildere 
Beurteilung  bezwecken,  was  man  bei  Mördern  sehr  oft  sieht,  damit  sie 
wegen  Totschlags  verurteilt  werden.  Anderei-seits  kommt  es  vor,  daß 
Nebensächliches  aus  ganz  unverständlichen  Gründen,  z.  B.  aus  Eitel- 
keit (i3A)  oder  Schamhaftigkeit,  die  beim  Täter  sonst  nicht  bemerkt 
wurden,  geleugnet  wird  (376).  Vielfach  wird  Sexuelles  l^estritten,  wäli- 
rend alles  andere  zugegeben  wird.  Besondiers  oft  findet  man  bei  Ver- 
brechern, che  zum  erstenmal  vor  Gericht  stehen,  hartnäckiges  Leugnen, 
weil  sie  sich  schämen,  ihre  Tat  einzugestehen  oder  auch  sich  ihrer  Lage 
nicht  bewußt  sind;  es  ist  daher  falsch,  die  Strafzumessung  lediglich  auf 
che   Tatsache   des   Gestehens   oder   Leugnens   aufzubauen    (177). 

Es  kommen  auch  vollkommen  falsche  Geständnisse  vor;  meist  sind 
ausgesprochene  Geisteskrankheiten,  wie  Melancholie,  Dementia  praecox 
oder  andere  geistige  Störungen,  vor  allem  hysterischer  Att  mit  Pseudo- 
logia phantastica,  die  Ursache  (436).  Andere  Gründe  sind  sehr  selten  (87). 
Sie  sind  beobachtet  aus  Renommiersudit,  um  ein  Obdach  zu  erlangen, 
um  zum  Tode  verurteilt  zu  werden,  aus  guten  Motiven,  um  andere  zu 
retten,  oder  aus  falschem  Ehrgefühl,  wie  beim  Leutnant  de  la  Ron- 
ciere  (21 4),  endlich  auch  auf  Druck  von  seilen  der  Vernehmenden  (182); 
einen  solchen  Fall  hat  Kroch  beschrieben  (279);  einem  Dienstmädchen 
sagte  ein  Schutzmann,  sie  allein  könne  diesen  Diebstahl  ausgeführt 
haben;  aus  Angst  leugnete  sie  nicht;  später  widerrief  sie  ihr  Geständnis 
nicht,  weil  sie  glaubte,  es  hal>e  doch  keinen  Zweck.  Karmin  (262)  be- 
richtet von  einem  so  intensiven  psychischen  Einfluß  auf  den  Beschul- 
digten, der  mit  der  Drohung,  er  müsse  bei  der  Leiche  schlafen,  seinen 
Höhepunkt  erreichte,  daß  er  schließlich  die  Tat,  die  er  nicht  begangen 
hatte,  zugab.  Jugendliche  sind  in  weit  höherem  Maße  beeinflußbar  als 
Erwachsene  (2/12)  und  sind  auch  über  die  gesetzlichen  Bestimmungen 
nicht  so  genau  unterrichtet,  so  daßi  man  sie  leicht  einschüchtern  kann; 
meist  genügt,  wenn  der  vernehmende  Polizeibeamte  droht,  er  würde  ihn 
nicht  nach  Hause  lassen,  wenn  er  die  Tat  nicht  zugebe,  um  ©in  Ge- 
ständnis zu   erzielen. 

Bei  Beurteilung  der  Aussagen  des  Angeschuldigten  ist  von  großer  W  ich- 
tigkeit  sein  Erinnenmgsvermögen.  Nach  Affektverbrechen  wird  der  Täter 
kaum  eine  einwandfreie  Erinnerung  an  die  Tat  haben ;  in  der  Regel  be- 
steht eine  lückenhafte  Erinnerung  (48o).  Schon  die  Aufmerksamkeit 
ward,  worauf  Pick  hingewiesen  hat  (379),  durch  die  überwertige  Idee  so 
in  Anspruch  genommen  sein,  daß  eine  lückenlose  Erinnerung  nicht  er- 
wartet werden  kann;  es  kann  sogar  zu  einer  förmlichen  Auswahl  des 
zu  Perzipierenden  kommen  und  femer  neben  der  auslöschenden  Wirkung 
nicht  selten  zu  einer  modifizierenden.  Sturm  hat  darauf  aufmerksam 
gemacht  (466),  daß  es  durchaus  nicht  gleichgültig  ist,  über  was  man 
aussagen  soll;    die  Wiedererkennung  z.  B.  von  Personen  ist  leichter  als 


DKH  VEHBHECllEH  NACH  DKH  TAT 207 

ciie  von  Sachen,  selbst  wenn  man  si©  täglich  gebraucht.  Besonders  man- 
j.'elhaft  kann  dio  He{)r<Kluklic)ii  Iwi  psychischon  Störungen  sein.  Bekannt 
ist,  wie  schlecht  oll  IVychojxiÜjt'n  ihre  Erlebnisse  wiedergeben;  es  gibt 
unter  ihnen  solche,  die  selbst  an  ihre  unrichtigen  Aussagen  glauben,  nacli- 
(lem  sie  sie  anderen  mehrfach  eriälilt  haben  (/|0.1j.  MacJi  reichlichem 
Cienuß  von  Alkohol  (271)  und  Gehirnerschütterung  (879,  433)  sind  Ge- 
«lächtnisstörungen    die    Regel. 

Das  äußere  \erhalten  eines  Menschen  läiil  nicht  selten  psycliische  Nor- 
gänge  erkennen.  Kiesel  (2  05)  meint,  die  Mimik'  sei  ausdrucksreicher, 
ausdrucksfähiger,  im  .\blauf  nicht  so  kompliziert,  also  auch  schneller 
als  \\orte  iind  Handlungen;  er  verkennt  aber  nicht,  daß  wegen  des  sub- 
jektiven Einschlags  der  Ausdrucksdculung  immer  die  Gefahr  irriger  Auf- 
fassung bestehe.  Große  \orsicht  ist  zweifellos  am  Platze.  Doch  wird 
man  die  Beurteilung  der  Mimik  deswegen  nicht  vollständig  beiseite  lassen 
dürfen.  Margulies  verlangt  (528)  für  Gerichtsverhandlungen  zwei  Proto- 
kollanten, einen  zur  Registrierung  der  sprachlichen  und  lautlichen,  den 
anderen  zur  Registrierung  der  im  engeren  Sinne  motorischen,  also  vor 
allem  auch  der  mimischen  Ätd^erungen.  Die  Lehre  von  dem  Ausdruck 
der  Gemütsbewegung  hat  einen  bedeutenden  Fortschritt  durch  Darvvin  (67) 
erfahren,  der  drei  Prinzipien  aufstellte,  das  der  zweckmäßigen,  asso- 
ziierten Gewohnheiten,  das  des  Gegensatzes  und  das  der  direkten  Tätigkeit 
des  Nervensystems.  Störend  bei  der  Beurteilung  der  Gesichtszüge  eines 
Menschen  ist  natürlich  der  Einfluß  der  starren  Form,  vor  allem  des 
knöchernen  Gerüstes    (607) . 

Man  muß  unterscheiden  zwischen  Mimik  und  Physiognomik;  mimische 
Ausdrucksbewegungen  können  in  physiognomische  Züge  übergehen  und 
lassen  dann  dauernde  Stimmungen  und  Temperamentlagen  erkennen  (266). 

Skraup  (445)  hat  eine  Anleitung  herausgegeben,  aus  der  man  den 
Charakter  eines  Menschen  aus  seinem  Äuf^ren  erkennen  soll.  Krucken- 
berg  (281)  hat  sie  speziell  für  den  Gesichtsausdruck  verfaßt.  Auch  Groß 
gibt  zahlreiche  Erläuterungen  (i34).  Nun  wird  man  sich  fragen  müssen, 
ob  Angeschuldigte  sich  nicht  oft  regehridrig  benehmen,  ob  sie  in  der 
Lage  sind,  ihre  Gefühle  nach  außen  hin  nicht  zu  zeigen.  Näcke  hat  einen 
derartigen  Fall  beschrieben  (364),  in  dem  eine  zum  Tode  Verurteilte  allet 
ihre  Gefühle  bis  zuletzt  zu  maskieren  verstand.  Kaum  verständlich  ist 
auch  die  Ruhe,  mit  der  Grete  Beier  das  Todesurteil  vernahm  und  zur 
Richtstätte  ging;  Nerlich  hielt  sie  für  echt  (368).  Dasselbe  wurde  bei 
der  Anna  Margarete  Zwanziger  beobachtet  (87).  Groß  meint  (i34)r 
daß  Gesten  viel  seltener  irreführen  als  Worte,  weil,  wie  Kleemann 
sagt  (266),  es  viel  leichter  sei  zu  lügen,  als  die  Mimik,  die  auf  psycho- 
physischen  Gesetzen  beruhe,  künstlich  im  Zaume  zu  halten;  selbst  die 
Wahl  der  Ausdrucksweise  mache  schon  Schwierigkeiten.  Man  muß  aber, 
wenn  man  die  Ausdrucksbewegungen  beim  Verurteilten  verwenden  \rill, 
sie  natürlich  auch  richtig  beurteilen  können.  So  können  Erregungszu- 
stände bei  der  Verhaftung  auftreten,  ohne  daß  der  zu  Verhaftende  der 
Täter  ist  (894);  Kämiän  (252)  hat  z.  B.  von  einem  Manne,  der  eines 
Mordes   verdächtig,    tatsächlich   aber   unschuldig  war,   berichtet,   er   habe 


208  GÖRING:  KRIMINALPSYCHÜLOGIE 

bei    der    Verhaftung    gedroht,    sich    zu    erschießen,    falls    er    mit    den 
Polizisten    über    die    Straße   gehen   müsse;     wahrscheinlich   erfolgte   die 
Drohimg  aus  Scham.    Auch  aus  dem  Erröten  darf  man  nicht  auf  eine 
Beteiligung  an  der  Tat  schließen.   Wer  einer  Straftat  verdächtigt  wird  und 
vorher   mit   dem   Gericht  noch   nichts   zu   tun   gehabt  hat,   wird  sicher 
nicht    gleichgültig    dastehen,    sondern    intensiv    auf     die    ßeschuldigimg 
reagieren,  etwa  mit  einem  Erregungszustand  oder  mit  Erröten,  Erbleichen, 
Zittern   usw.    Wie  schwer  es  ist,  Gesten  richtig  zu  beurteilen,  geht  aus 
folgendem  Beispiel  hervor.    Bei  dem  schon  mehrfach  erwähnten  Prozeß 
gegen   den  Gattenmörder  Rein  wxirdo  ein   Mädchen   vernommen,   welches 
das   Verhältnis   des  Angeklagten  gewesen  imd  vielleicht  an   der  Tat  be- 
teiligt  sein   sollte;     bei    Lbreu*   Vernehmung   war   sie    ruhig,    schaute   im 
Zuhörerraum  umher  und  benahm  sich  so,  als  ob  sie  die  ganze   Sache 
nichts  angehe;    daraus  schloß  der  eine  Sachverständige,  daß  das  Mädchen 
mit  dem  Täter  gar  nicht  in  Beziehung  gestanden  habe,  weil  das  Benehmen 
des  Mädchens  durchaus  ungezwungen  sei;    der  andere  dagegen  hielt  das 
Auftreten  für  dreist  und  frech    und  glaubte  daraus  entnehmen  zu  dürfen, 
daß  das  Mädchen  dadurch  ihr  Verhältnis  zum  Täter  habe  verdecken  wollen. 
Groß  (i3/i)  weist  darauf  hin,  daß  es  besonders  wichtig  sei,  den  Gesichts- 
ausdruck des   Sprechenden  beim  Zuhören  zu  sehen.    Es  gibt  aber  auch 
Menschen,    besonders    Psychopathen,    die    durch    Miene    und    Geste    ihre 
Stimmimg   beeinflussen    können,   die  durch  nachgeahmte   Komplexe  be- 
stimmter äußerer  Momente  innere  Bewegung  wachrufen  können.    Bei  der 
Pseudologia  phantastica  besteht  kein  Gegensatz  zwischen  den  unwahren! 
Angaben    und    den   Gesten,    da   diese   Leute   ja   selbst   glauben,    was   sie 
sagen,  oder  zum  mindesten  sich  derart  hineingeredet  haben,  daß  sie  das., 
was  sie  aussprechen,  miterleben. 

Ein  Zeichen  für  einen  Mangel  an  Reue  ist  das  Bedauern  des  Mißlingens 
einer  Tat  oder  das  Verleumden  und  Verspotten  des  Opfers  (3o6).  Manche 
Verbrecher  zeigen  ihre  Mitschuldigen  an,  obwohl  sie  deren  Namen  ver- 
schweigen könnten,  teils  aus  Neid,  teils  aus  Rache  (i34).  Trotzdem 
darf  man  dem  Verbrecher,  auch  dem  Gewohnheitsverbrecher,  nicht  jedes 
Ehrgefühl  absprechen;  die  meisten  halten  es  für  unehrenhaft,  ihre 
Kameraden  zu  bemogeln  oder  anzuzeigen  (261);  allerdings  glaubt  Lieber- 
mann  v.  Sonnenberg,  daß  das  Nichtverraten  nicht  eine  gute  Regung 
sei,  sondern  Klugheit,  da  sich  sonst  die  Komplizen  vom  Angeklagten 
abwenden;  er  berichtet  sogar  von  einem  Fall,  in  dem  einer  2  Jahre 
Zuchthaus  unschuldig  auf  sich  genommen  hat  (293).  Es  gibt  Ver- 
brecher, die  gekränkt  sind,  wenn  man  sie  auf  Fehler,  die  sie  beim 
Begehen  der  Tat  hätten  vermeiden  können,  aufmerksam  macht  (i34)-  Da- 
gegen ist  für  sie  das  Eingesperrtsein  durchaus  ehrenhaft  (261);  je 
mehr  Jahre  einer  abgesessen  hat,  desto  angesehener  ist  er  (253).  Man 
könnte  diesen  Standpunkt  mit  dem  der  Kriegsgefangenen  vergleichen, 
die  in  den  von  den  Feinden,  besonders  den  Franzosen,  verhängten  Arrest- 
strafen durchaus  nichts  Unehrenhaftes  erblickten;  im  Gegenteil,  man 
hielt  den,  der  noch  nicht  bestraft  war,  für  einen  Menschen  ohne  Rückgrat. 

Unvorsichtigkeiten  treten  nicht  nur  gleich  nach  der  Tat,  sondern 
auch  noch  später  zutage;    schon  manchem  hat  sein  Mitteilungsbedürfnis 


DER  VERBRECHKH  NACH  DER    IM  209 

zur  Strafe  verholfeii.    Gerade  den  Mitgefangenen   wird  zuviel  getraut  (ii, 

Einzelne  An^t'klagtt»  haben  die  Gab*%  während  der  Verhandlung  durch 
Blicke  oder  Fragt-Ji  auf  die  Zeugen  einzuwirken,  sie  einzuschüclitem : 
es  sind  die,  die  auch  Ix-soiulers  geeignet  sind.  Ixn  Betrügereien  die  Leute 
zu   betören. 

Auf  jugendliche  Angeklagte  kann  unter  l  niständen  die  Verhandlung 
ungünstig  wirken:  der  Richter  muß  daher  das  Rtx-ht  halien,  jugendliche 
Übeltäter  zeitweise  aus  dem  \ erhandlungsraume  zu  entfernen,  wenn  er- 
zieherische Rücksichten  es  erfordern  (59). 


14    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  IM. 


V.  DER  VERBRECHER  NACH  DER  VERURTEILUNG 

Immer  mehr  kommt  man  davon  ab,  die  Strafe  als  Sühne  aufzu- 
fassen, wenn  auch  die  alte  Straf  rech  tschiüe  noch  daran  festhält.  Die 
neuere  Richtung  geht  dahin,  zu  strafen,  um  z'u  bessern  oder,  wenn  das 
nicht  möglich  ist,  um  die  Gesellschaft  zu  sichern  (i/j).  Diese  Besserung 
wird  zum  Teil  schon  durch  die  Straf  Vorstellung  erreicht,  zum  Teil 
erst  durch  die  S  traf empf in  düng  (i85).  Es  gibt  aber  eine  ganze  Anzalil 
Verbrecher,  abgesehen  von  Geisteskranken,  die  auch,  der  Strafempfindung, 
selbst  wenn  sie  erhebliche  Grade  erreicht,  nicht  zugänglich  ist.  Die 
Methode  der  Rückfallstatistik  war  lange  falsch;  erst  allmählich  wurde 
sie  verbessert,  nachdem  Köbner  (269)  darauf  hingewiesen  hatte,  daß  als 
Grundlage  die  Rückfallsfähigen  gelten  sollten.  Warum  eine  Strafe  oft 
so  wenig  oder  gar  ungünstig  auf  den  Verbrecher  einwirkt,  hat  verschiedene 
Gründe;  einer  der  wichtigsten  ist  die  Veranlagung  (352);  dazu  kommt 
das  Gefängnismilieu  vmd  das  Milieu,  in  das  der  Verbrecher  nach  der 
Entlassung  kommt.  Groß  (iSg)  hält  den  Rückfall  für  so  häufig, 
weil  die  früher  wirkenden  Kräfte  in  der  Psyche  des  Bestraften  die- 
selben geblieben  und  nicht  durch  Verbüßung  der  Strafe  verdrängt  worden 
sind.  Im  folgenden  wird  auf  die  Gründe  noch  eingegangen  werden. 
Selten  wirkt  aber  nur  ein  Faktor,  wenn  auch  einer  meist  besonders 
hervorsticht. 

Die  W^irkung  einer  Strafe  auf  einen  Verbrecher  zu  erkennen,  ist  oft 
nicht  einfach,  da  er  bei  Unterredungen  entweder  verstockt  ist  oder  un- 
wahre Angaben  macht.  Man  muß  sich  aus  seinem  ganzen  Verhalten  ein 
Bild  zu  machen  versuchen,  und  wird  vor  allem  auch  seine  Briefe,  Notizen, 
Zeichnungen  usw.  (289,  809)  in  Betracht  ziehen  müssen,  worauf  schon 
im  II.  Teil  aufmerksam  gemacht  wurde. 

Die  Freiheitstrafen  bringen  dem  Verbrecher  eine  gänzlich  veränderte 
Lebensweise;  Freiheitsberaubung,  Abgeschlossenheit  von  der  Außenwelt 
und  dem  regelmäßigen  Verkehr  mit  der  Familie,  Schweigegebot,  Ein- 
tönigkeit des  Lebens,  Arbeitszwang  imd  ungewohnte  Arbeitsart  wirken 
auf  die  Psyche  des  Verbrechers  ein,  dazu  die  Gedanken  an  die  Zukunft 
imd  der  Blick  in  die  verbrecherische  Vergangenheit  (17);  das  Bewußtsein 
der  Schuld  kommt  in  der  Freiheit  nicht  so  sehr  zum  Durchbruch  wie 
in  der  Gefangenschaft  (327).  Die  Wirkung  des  Strafvollzuges  ist  natür- 
lich nicht  die  gleiche  für  alle  Gefangenen;  viele  ertragen  Um  stumpf; 
andere  freuen  sich  sogar  ihrer  Sorgenfreiheit  (17).  Waren  die  Stürme 
draußen  besonders  heftig,  so  kann  die  Inhaftierung  Ruhe,  ein  Gefühl 
der  Sicherheit  bringen  (827).  Die  meisten  Gefangenen  passen  sich  an; 
nur  wenige  zeigen  sich  widerspenstig;  unter  diesen  seien  noch  besonders 
die  Queridanten  erwälint,  die  auch  in  der  Haft  nicht  zur  Rulie  kommen 
können.     Ein   großer   Unterschied   besteht   zmschen   der   Gemeinschafts- 


nr.K  \kiuwu:chi:k  nach  dku  vkiu  ktkili  nc 2n 

uaa.d  Einzelhall.  Wor  in  Kric^^ofangcnscliafl  mit  Einzelhaft  bestraft 
wurde,  weilS,  <laü  <lie  ei'sl^Mi  Ta^  (Kt  Ruhe  wegi^n  meist  angenehm 
ejnpfiui<l<Mi  >\ur<ion.  <la(j  dann  alxM-  ein4'  Si'^hiisuchl  nach  don  Kameraden, 
nach  MitleihuipMi  aus  der  lloiniiil,  nach  einer  AiuiS])rache  immer  stärker 
zutap^e  trat,  <lie  schlieüJich  zu  einer  kaum  ertiiighchen  Qual  wurde. 
Ich  kannte  einen  Hauptmajm,  den  in  <ler  Einzelhaft  heftige  Wein- 
krämpfe überfielen.  Die  Reaktion  auf  die  Einsamkeit  ist  natürlich 
individuell  verschieden;  so  erzählt  Colucci  (0.4)  von  einem  Sträfling, 
der  sich  an  <len  Zustand  gewölmt  hatte,  nachdem  er  in  don  Ixnden  ersten 
Tagen  sehr  erregt  gewesen  war;  er  gab  selbst  an,  zimächst  einen  solchen 
Haß  eanpfimden  zu  haben,  daß  er  einen  Menscheji  hätte  zerreißen  können. 
Nach  Radbruch  (89 1)  macht  die  Gemeinschaftshaft  schlechter,  die  Einzel- 
haft sclnvächer;  sie  bessert  angeblich  nur  für  die  Anstalt,  nicht  für  das 
Leb<Mi ;  als  Folgen  der  Einzelhaft  zählt  Ratlbruch  auf:  Gebrochene 
\\illens kraft,  phantastische  Hoffnungen  mit  folgender  Enttäuschung,  Ver- 
zweiflung, neue  Schuld  und  neue  Strafe.  Diese  Ansicht  wird  in  einem 
solchen  Umfange  durchaus  nicht  von  allen  geteilt;  als  gute  Eigenschaften 
der  Einzelhaft  Avird  gerade  der  bessernde  Einfluß  hervorgehoben,  femer 
(Ue  Möglichkeit  der  Gewährung  eines  humaneren  Strafvollzuges  und  des 
Fenihaltens  schädigender  Einflüsse  (288,  385).  Bei  psychopathisch  ver- 
anlagten Individuen  kimn  die  Einzelhaft  allerdings  Psychosen  (4io)  her- 
vorrufen  oder   zu   Selbstmordversuchen   Anlaß  geben    (826). 

Die  Bestrafung  Jugendlicher  macht  ihrer  Beeinflußbarkeit  wegen 
Schwierigkeiten.  Liepmann  meint  (296),  ein  nicht  geringer  Teil  der 
Fürsorgezöglinge  würde  nicht  so  verwahrlost  in  die  Anstalt  konunen, 
wenn  er  nicht  vorher  Gefängnisstrafen  abgesessen  hätte. 

Nicht  ohne  Einfluß  auf  die  Psyche  des  Gefangenen  ist  das  Anstalts- 
milieu, der  Ton,  der  in  der  Anstalt  herrscht,  die  Art,  wie  die  Gefangenen 
von  den  Anstaltsbeamten  behandelt  werden.  Wulffen  (5o2)  sagt,  daß 
<üe  hauptsächliche  Bedeutung  beim  Strafvollzug  der  sogenannten  psycho- 
logischen Behandlung  zukomme,  woran  die  Anstaltsgeistlichen  einen  Haupt- 
anteil hätten.  .Allerdings  lehnen  viele,  besonders  männliche  Gefangene, 
den  Geistlichen  ab,  da  sie,  wenn  sie  überhaupt  Religiosität  haben,  von 
edner  Vermittlung  der  Kirche  nichts  wissen  wollen.  Wulffen  legt  Wert 
darauf,  kirchliche  Äußerlichkeiten,  ästhetische  und  künstlerische  Ein- 
drücke, die  Natur  auf  den  Gefangenen  einwirken  zu  lassen,  und  verspricht 
sich  davon  Günstiges.  Für  die  Gefangenen,  die  nicht  stumpf  und  gleich- 
gültig sind,  trifft  dies  auch  sicher  zu,  weiß  ich  doch  aus  eigener 
Erfahrung,  welch  wehmütiges  Gefühl  wachgerufen  wird,  wenn  man 
nach  Monaten  wieder  einmal  irgendeine  Naturschönheit  sehen  darf.  Auf 
einer  Zitadelle,  auf  der  ich  als  Kriegsgefangener  saß,  konnten  wir  nichts 
anderes  sehen  als  Wall  und  Kasemenhof ;  nur  wenn  man  auf  den  Speicher 
unseres  Pavillons  ging,  war  es  möglich,  in  der  Feme  ein  paar  Bärune 
imd  einen  Streifen  Meer  zu  sehen.  Selbst  die  rauht*sten  Krieger  gingen 
hinauf,  um  den  Blick  in  sich  aufzunehmen  und  sich  an  ihm  zu  erfreuen. 

Inwieweit  der  Unterricht  von  Nutzen  ist,  wird  verschieden  bewertet; 
nach  Lombroso  (3o6)  hat  er  wenig  oder  gar  einen  schlechten  Einfluß 
auf  die  Psyche  des  Verbrechers,  was  Pollitz  einen  grotesken  Standpunkt 

14* 


212  GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


nennt  (385).  Der  Arbeitszwang  an  sich  ist  vielen  verhaßt,  dagegen  scheint 
die  „instruktive  Arbeitsversorgung",  wie  Amerika  sie  in  seinen  „Re- 
jormatories"  kennt  (402),  auf  die  Verbrecher,  und  zwar  in  erster  Linie 
auf  die  jugendlichen,  einen  guten  Einfluß  auszuüben;  dies  ist  eine 
Vereinigung  von  Arbeit  und  Unterricht;  es  wdrd  dem  Verbrecher  dadurch 
ermöglicht,  sich  Kenntnisse,  die  er  bei  seiner  Entlassung  verwerten 
kann,  anzueignen,  um  sich  in  eine  bessere  Klasse  hinaufzuarbeiten  (8o). 
Ein  Teil  der  Verbrecher  wirjd  auch  von  der  besten  Anstaltsbehandlung 
nicht  beeinflußt  werden,  vor  allem  die  gewerbsmäßigen  Eigen timis- 
verbrecher;  die  Zeit,  die  zwischen  iden  einzelnen  Strafen  liegt,  ist  oft 
äußerst  kurz  (i88).  Ferner  kann  man  bei  Landstreichern  fast  stets 
mit  Erfolglosigkeit  rechnen  (435).  Endlich  sind,  was  in  der  Natur 
der  Sache  liegt,  Homosexuelle  durchweg  bezüglich  ihrer  Neigung  un- 
verbesserlich (i4o);  das  ist  nach  den  Ausführungen  im  L  Teil 
selbstvenständlich,  und  weist  von  neuem  auf  die  Frage  hin,  ob  man  es 
nicht  auch  bei  den  anderen  Unver'besserlichen  mit  Störungen  des  inner- 
sekretorischen Systems  zu  tun  hat. 

Daß  antisoziale  Individuen  auch  gute  Regungen  haben  können,  geht 
aus  den  Erfahrungen  von  Groß  hervor  (i43),  die  er  anläßlich  eines 
Brandes  machte;  er  glaubt  allerdings,  daß  die  Strafanstaltsbeamten 
in   geschickter   Weise  es   verstanden  haben,   sie  wachzurufen. 

Von  den  beeinflußbaren  Verbrechern  wird  sicher  durch  die  bedingte 
Verurteilung  und  die  bedingte  Begnadigung  mancher  von  neuen  Straftaten 
abgehalten.  Nach  Dohna  (70)  beträgt  die  Zahl  der  bedingt  Begnadigten, 
welche  ihre  Strafe  nicht  verbüßen,  vier  Fünftel.  Er  fügt  aber  hinzu, 
daß  die  Walirscheinlichkeit  des  Rückfalls  zuninunt,  je  weiter  das  ver- 
urteilende Erkenntnis  zurückliegt.  Rupprecht  (4ii)  glaubt  auch,  daß 
die  guten  Vorsätze  für  längere  Zeit  wirksam  seien;  eine  besondere 
Schwierigkeit  bestehe  für  Mädchen,  die  sich  der  Gewerbsunzucht  er- 
geben hätten;  sie  könnten  selten  dem  Drang  der  erweckten  Sinnlichkeit 
und  dem   Anreiz  des  bec[uemen  Gelderwerbs  dauernd  widerstehen. 

Gute  Einwirkung  auf  die  Psyche  des  Verbrechers  scheint  man  in 
Amerika  mit  der  unbestimmten  Verurteilung  gemacht  zu  haben  (452, 
520),  eine  Forderung,  die  1880  schon  Kraepelin  aufgestellt  hat  (272), 
auf  die  Mayer  wieder  hinweist  (329),  wenn  er  kein  Wählen  der  Zeit- 
größe, sondern  der  Behandlungsart  verlangt,  und  für  die  Sturm  neuer- 
dings eingetreten  ist  (466  a).  Im  amerikanischen  Reformatory,  das  aller- 
dings nach  Pollitz'  Ansicht  (385)  über  G^ühr  gerühmt  wird,  bestimmt 
der  Verbrecher  die  Länge  der  Haft  selbst,  d.  h.  er  kann  sich  allmählich 
heraufarbeiten  und  durch  gutes  Verhalten  eine  bedingte  Entlassung  er- 
wirken, deren  Dauer  auch  nicht  von  vornherein  festgelegt  wird.  Sicher 
gibt  es  unter  den  Verbrechern  viele,  die  auf  diese  Weise  zu  brauchbaren 
Menschen  erzogen  werden  können.  Reagiert  ein  Schwerverbrecher  nicht 
auf  diese  Behandlungsweise,  so  wird  er  durch  sehr  lange  Freiheitstrafen 
unschädlich  gemacht.  Durch  diese  Behandlungsart  wird  ein  gewisser 
Wettbewerb  im  guten  Sinne  hervorgerufen  und  mehr  oder  weniger  die 
ungünstige  Beeinflussung  der  Gefangenen  untereinander  vermieden.  Das 
Drückende   des   Strafvollzuges,    die    Verbitterung,    von    der   Oskar   Wilde 


DKH  XKIUUU.CIIKH  WCll  DKlt  NKHl  H  IKILI  N«  i 213 

spricht  (i56),  wird  hiiitaiigohalteii  (i>5G;.  Das  Gerechtigkeitsgefühl,  das 
bei  vieloii  \  t'rbrivliorn,  wie  aus  Lombrosos  Hcispiclcn  hervorgeht  (3o6), 
gut  ontwicki'lt  ist.  wini  iuhi  Ix'h'bt.  Dit's<'lb<'ii  guten  Krfahrungon,  die 
aus  Amerika  berichten  werden,  hat  Fiiikehil>urg  im  Jugcndgefjüignis  zu 
\\ittlich  gemacht  (89).  Das  Ehr-  und  IMlichlgelühl  wird  geweckt,  das 
solbstäiidige  Streben  imd  die  Betätigung  des  Willens  angespannt.  Sehr 
wichtig  ist.  daß  die  entlassejien  Gefangenen  nicht  olme  jetlen  Halt  ins 
Lt^ben  hinausgestoßen  werden  (276,  i38);  es  kommt  nicht  darauf  an, 
ihnen  ein  paar  Mark  in  die  Hand  zu  drücken,  sondern  ihnen  eine  ge^ 
eignete  .\rbeitstelle  zu  verschaffen;  dann  wird  es  einzelnen  gelingen,  sich 
in  die  Höhe  zu  arbeiten.  Die  Erfolge  unserer  Fürsorgevereine  scheinen 
nicht  groß  m  sein  (5o2),  was  nicht  zu  ver>vundern  ist,  da  es  nicht  leicht 
ist.  die  richtige  Auswahl  zu  treffen ;  ein  von  mir  begutachteter  Schneider, 
dem  eine  Stelle  verschafft  worden  war,  nachdem  er  eine  wegen  Raubes 
zuerteilte  3  jährige  Gefängnisstrafe  verbüßt  hatte,  mußte  nach  10  Tagen 
entlassen  werden,  nach  weiteren  8  Tagen  verübte  er  zwei  Einbruchs- 
diebstähle. 

Von  den  Verbrechern  sehr  gefürchtet  ist  das  Arbeitshaus  (i38);  die 
Scheu  vor  ihm  geht  so  weit,  daß  eine  Selbstanzeige  wegen  Mordes  von 
einem  Insassen  erstattet  wurde,  da  er  lieber  jede  andere  Strafe  auf  sich 
nehmen  wollte  (8). 

Besonders  schwer  haben  es  die  lebenslänglich  Verurteilten.  Többen  hat 
darauf  hingewiesen  (^']i),  daß  sie  durchaus  nicht  immer  zu  den  unver- 
besserlichen gehören ;  das  ist  einleuchtend ;  denn  es  handelt  sich  ja  bei 
ihnen  nicht  um  eine  bestimmte  Kategorie  von  Verbrechern,  sondern  um 
Menschen,  die  ein  schweres  Delikt  begangen  haben  imd  wegen  des  Erfolges, 
nicht  wegen  ihrer  Gesinnung,  nun  dauernd  eingesperrt  bleiben.  Bei 
ihnen  kommen  sehr  viele  Psychosen  vor  (4 10),  und  nicht  selten  schreiten 
sie   2rum    Selbstmord,   wenn    sie    keinen    anderen   Ausweg  sehen    (i83). 

Die  Prügelstrafe  wird  von  den  meisten  verworfen.  Sie  bestand  kurze 
Zeit  in  Dänemark,  wurde  aber  wieder  abgeschafft  (476) ;  sie  ist  neuer- 
dings in  Ungarn  eingeführt  (52 1).  Neben  sehr  großen  Nachteilen  (187) 
bringt  sie  nur  geringe  Vorteile;  Marx  (32  5)  sagt,  daß  das  körperliche 
Schmerzgefühl  nicht  nachhaltig  wirke,  daß  man  aber  bei  den  Menschen, 
die  seelisch  unter  der  Prügelstrafe  litten,  auch  mit  anderen  Strafen  aus- 
kommen mirde.  Havelock  Elhs  (80)  hat  sich  energisch  gegen  die 
englischen  Bestinmiungen  ausgesprochen,  weil  durch  sie  die,  welche  sie 
erdulden,  und  die,  welche  sie  ausführen,  brutalisiert  und  herabgewürdigt 
werden. 

Über  die  Todesstrafe  ist  viel  geschrieben  worden.  Schon  Holtzendorff 
hat  sie  bekämpft  (2o3).  Vor  allem  hat  Liepmann  ein  großes  Gutachten 
darüber  abgegeben  (297),  in  dem  er  sich  energisch  gegen  sie  wendet; 
andere  wieder  treten  für  sie  ein  (290).  Sie  scheint  durchaus  nicht 
immer  die  kriminalitätsmindernde  und  abschreckende  Wirkung  zu  haben, 
die  man  erwarten  sollte  (422).  Nicht  selten  findet  man  gerade  bei  Ver- 
brechern, die  es  mit  dem  Leben  anderer  nicht  genau  nehmen,  daß  sie 
auch  auf  ihr  eigenes  Leben  nicht  viel  Wert  legen  und  bis  zu  ihrem  letzten 
Augenblick  gleichgültig,  ja  sogar  zynisch  bleiben   (3o9).     Sommer  (448) 


214 


GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


kann  der  Todesstrafe  weder  eine  individual-  noch  eine  sozial-pädagogische 

^F!^TstrrfTrt'^''die"uns©r  Strafgesetzbuch  nicht  kennt,  die  Deportation, 
^r^sehr  vtläen  beurteilt  (§.5).  Auf  den  Verbrecher  selbst  schemt 
sie  nach  dem  Bericht  von  Heindl  (i6o)  keinen  günstigen  Einfluß  aus- 
zuüben; die  moralische  Ansteckung  wirkt  zu  zerrüttend.  .  •  ,  , 
Die  Wirkung  der  Geldstrafe  sei  hier  nur  gestreift.  Solange  sie  nicht 
nach  dem  Vermögen  des  Täters  abgestuft  ist,  wird  sie  dem  Reichen 
deich^ltig  sein,  sofern  nicht  die  Bestrafung  an  sich  ihn  druckt;  den 
Armen  der  statt  ihrer  möglicherweise  eine  FreUieitstrafe  alisitzen  niuii, 
wird  sie  verbittern.  Kraepelin  nennt  sie  eine,  eminente  Immorahtät, 
Hentig  eine  eminente  gesetzliche  Torheit  (i85). 


LITERATURVEKZEICHNIS 

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des    Nerven-    und    Seelenlebens,    3g,    Wiesbaden,    igoS. 
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216 GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE ^^ 

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I  ITKIIATLHVKHZKICHMS  21' 


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nach    Monatsschr.    f.    Kriminalpsych..    i.    266,    und    Arch.    f.    Krim.,    i5,    iSa. 

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Krim..    24,    112. 

83.  — .  Die  Mendelschen   Vererbungsgesetze   und   ihre   Bedeutung  für  die  Kriminalistik, 

Arch.    f.    Krim.,    61,    180. 

84.  — .  Ist    der    Alkohol    eine    Ursache    der    Entartung?     Arch.    f.    Krim.,    4i,    3o2. 

85.  — ,  Er\N"erb*arbeit    und    Kriminalität    von    Frauen    und   Kindern    in    den    Vereinigten 

Staaten,  Arch.  f.   Krim.,   49,    196. 

86.  Ferri,    Das    Verbrechen    als    soziale    Erscheinung,    deutsch    von    Kurella,    Leip- 

zig,   1896. 

87.  Feuerbach,    Anselm    Ritter    v.,    Aktenmäßige    Dcirstellung    merkwürdiger  Ver- 

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88.  — ,    nach    Groß,    Kriminalpsychologie    und    Strafpolitik,,   Arch.    f.    Krim.,    26,  67. 

89.  Finkeinburg,     Der     progressive     Strafvollzug     im    Jugendgefängnis    zu  Witt- 

lich,  Arch.    f.    Krim.,    70,   2i5. 

90.  Fischer,    Heb.,    Psychopathologie   des    Eunuchoidismus    und   dessen    Beziehungen 

zur    Epilepsie,    Zeitschr.    f.    d.    ges.    Neurol.    u.    Psychiatrie,    5o,    11. 

91.  — ,  Eunuchoidismus    und    heterosexuelle    Geschlechtsmerkmale,    Zeitschr.  f.  d.  ges. 

Neurol.    u.    Psychiatrie,    62,    117. 

92.  — ,  Zur     Biologie     der     Degenerationszeichenlehre     und     der     Charakterforschung, 

Zeitschr.   f.  d.  ges.  Neurol.   u.  Psychiatrie,  62,  261. 

93.  — ,  Ergebnisse    zur    Epilepsiefrage,    Zeitschr.    f.    d.    ges.    Neurol.    u.    Psychiatrie, 

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95.  Fleischer,    Krankheit    oder    Laster,    Arch.    f.    Krim.,    34,    243. 

96.  Flesch,     Epikritisches     zum     Elberfelder     Sensationsprozeß     Wilden-Nettelbeck, 

Sexualprobleme,    10,    535. 

97.  Fliegenschmidt,    Was   ein    Verbrecher    unter    „Verbrecher"    versteht,    Arch. 

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98.  Florschütz,    Fingierter    Mord    zur    Erlangung    der   Lebensversicherung,    Ärztl. 

Sachverst.-Ztg.,    18,    493. 

99.  Flynt,    Tramping    vrith    tramps,    deutsch    von    Lili    Du    Bois-Reymond,    Berlin, 

1904. 
100.     Forel,    August,    Der    Hypnotismus,    4.    Aufl.,    Stuttgart.     1902. 
loi.     Forcher,  nach   Fehlinger,  Die  Verurteilung  von  Jugendlichen   und   Unmündigen, 

Arch.    f.    Krim.,    32,    i23. 


218  GÖRING :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

I02.     Frankl-Hochwart.    Über    die    Einwirkung    der    Zirbeldrüseozerstörung  auf 

die    Psyche.    Zeitschr.    f.    Psychologie,    69,    298. 
io3.     Frei  mark.     Hans.     Robespierre.     Grenzfragen    des     Nerven-    und     Seelenlehens. 

Wiesbaden,    191 3. 
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io5.     Friedmann.     Psychologie     der     Eifersucht,     Grenzfragen     des     Nerven-     und 

Seelenlebens,    H.    82,    Wiesbaden.    191 1. 

106.  Friedrich.  Julius.  Alkoholismus   und  Strafzumessung.  Monatsschr.  f.  Kriminal- 

psychologie,    9,     23. 

107.  Fuchs,    x\dolf,    Aberglaube    eines    Brandstifters.    Arch.    f.    Krim..  02.    61. 

108.  Funk-Brentano,     Die    berühmten     Giftmischerinnen.     Stuttgart,  ohne    Jahr. 

109.  Fürstenheim,    Die    gerichtsärztliche    Tätigkeit    bei    jugendlichen  Kriminellen. 

Vierteljahrsschr.    f.    gerichtliche    Mediz..     1910,    Suppl.,    S.    i4o. 

110.  Gaedeken,    Paul.    Contribution    statistique    ä    la    reaction    de    l'organisme    sous 

l'influence  physico-chimique  des  agents  meteorologiques,  Arch.  d'anthropol. 
crimin..    2^,    81. 

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112.  — ,  Quelle  Classification  des  criminels  pourrait-on  adopler?  Congres  intern, 
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ii3.  Gaupp.  Robert.  Über  den  heutigen  Stand  der  Lehre  vom  geborenen  Ver- 
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typen,   I.    H.    3,    Berlin,     1914,    mit    einer    Übersicht    über    die    Kasuistik. 

ii5.     Geill.    Alkohol    und    Verbrechen    in    Dänemark.    Der    Alkoholismus,    190A,  200. 

116.  Geller.    Jos.    Peter.    Mordversuch    an    der   Geliebten.    Arch.    f.    Krim.,    36,    147. 

117.  Gerland,     Das     GeA\-issen.     Der     Gerichtssaal.     65,     262      (mit     Literaturang.). 

118.  Gleispach,    Graf    W..    Über    Kindesmord.    Arch.    f.    Krim..    27.    224. 

119.  Glaser,    Grete    Beier,    Der    Pitaval    der    Gegenwart,    5.    209. 

120.  Glos.     Anton,     Ein     Heiratsschwindler,    Arch.    f.    Krim..     42,    335. 

121.  — ,  Ein   Straßenmord,   Arch.   f.    Krim.,   42,  363. 

122.  — ,  Zur    Frage    der    ^'e^teidigungsform    der    Verbrecher,    Arch.    f.    Krim.,    46.  2i3. 

123.  — ,  Ein   Beitrag   zur   Psychologie   des    Raubmörders.   Monatsschr.   f.   Kriminalpsvch., 

3.    554. 
124-     Göhrum,     Ein     Versicherungsschwindler,     Der     Pitaval    der    Gegenwart,     6,  60. 

125.  Göring,    M.    H.,    Ein    hysterischer    Schwindler.    Zeitschr.    f.    d.    ges.    Neurol.   u. 

Psychiatrie,     i,    261. 

126.  — .  Vergleichende   Messungen  der   Alkoholwirkung,   Psychologische   Arbeiten,  6,261. 

127.  — ,  Zuziehung     psychiatrischer     Sachverständiger     bei     Sexualverbrechen,     Arch.  f. 

Krim.,    58.     187. 

128»  — y  Sexualdelikte  Geisleskranker.  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Neurol.  u.  Psychiatrie, 
Ref.,     Bd.     7,     649     (mit     Literaturangabe  i. 

129.     — ,  Die    Gemeingefährlichkeit,    Berlin.    I9i5. 

i3o.  'G  o  1 1  h  o  1  d  ,  Vergleichende  Lntersuchungen  über  die  Tätowierungen  bei  Nor- 
malen, Geisteskranken  und  Kriminellen.  Klin.  f.  psych,  u.  nerv.  Krank- 
heiten.   9    (mit    Literaturangabe'). 

loi.  Grabe.  E.  v..  Prostitution.  Kriminalität  uikI  Psychopathie.  Arch.  f.  Krim.. 
48.    i35. 

i32.     Grenjux.    A    propos    du    Cafard.    Arch.    d'anthropol.    crimin.. 

i33.     Groß,    Hans,    Handbuch    für    den    Lntersuchungsrichter.    2.    Bd.. 

i34.     — ,   Kriminalpsychologie.     Leipzig.     igoS     (mit     Literaturangabe V 

i35.     — ..  Die     Gaunerzinken     der     Freistädter     Handschrift.     Arch.     f. 

106.     — .   Reflexoide    Handlungen    und    Strafrecht.    Arch.    f.    Krim..    2. 

137.     — ,  Kritik    über    ..Der    Konitzer    Mord".    Breslau.    1900.    Arch.    f. 

i38.     — ,   Die    Autobiographie    eines     ,, Rückfälligen",    Arch.    f.    Krim., 

139.     — ,  Kriminalpsychologie    und    Strafpolitik.    Arch.    f.    Krim..    26. 

i4o.     — .  Vorwort    zu    Bruno    Meyers    Homosexualität    und    Strafrecht.    . 
44.    249. 

i4i.     — .  Anm.     zu     Marschall,     Ein     psychologischer    Streifzug    durch 
Beleidigungsklagen.     Arch.     f.     Krim.,     46.     198. 

1.^2.     — .  Letzte    Handbewegung    bei    gewaltsamem    Tode.    Arch.    f.    Krim..    00.     199. 


26.  826. 

München.  1 

[904. 

Krim..     2, 

i4o. 

Krim.,    4. 
9.   86. 
67. 
Arch.    f.    K 

I. 
rim.. 

das    Gebiet 

der 

LITERATURVERZEICHNIS  219 


I 'i'      (>  1  '   lj.    H.iiis.    Anliso/.ialo    Elomoiil»',    Arcli.    f.    Krim..    64.    äi. 

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162.  — ,.  Die    Bedeutung    des    grumus     merdae,    Arch.    f.     Krim.,    23,     r88;     3o,    379. 
i63.     — ,   Mystische     Meineidszeremonien,     Arch.     f.     Krim.,     3o,    38o;     Eid     und    Aber- 
glaube,   Arch.    f.    Krim.,    3i,    97. 

164.     — .  Meineid     als     Freundschaftsdienst,     Arch.     f.     Krim.,    3i.     325. 
i65.     1 — ,  Verschiedene     Stellen    über    Aberglauben    im    Arch.    f.     Krim.,    3i,    3oo;    3i. 
327;     39,    296. 

166.  — ,  Kriminalstatistik     und     Verbrechensmotive,     Arch.     f.     Krim.,    3o,     i85. 

167.  — ,  Wirksamer     Diebszauber.     Arch.     f.     Krim.,     3o,    376. 

168.  — ,   Zur    Kriminalität    und    Charakteristik    der    Zigeuner,    Arch.    f.    Krim.,    3i,  73. 
1G9.     — ,   Beichte   und   Verbrechen,    Arch.    f.    Krim.,  33,    25. 

170.  — ,  \olkskundliches     und     Kriminalpsychologisches     aus     dem     Prozeß     der     Gift- 

mischerin   Gesche    Margarete    Gottfried,    Arch.    f.    Krim.,    lii,    54- 

171.  — ,     Die     Beziehungen     zwischen     Schundliteratur,     Schundfilmen    und    Verbrechen, 

Arch.     f.     Krim.,     5i,     i     (mit    Literaturangabe). 

172.  — ,  Ein    Lourdeswunder    vor    Gericht,    Arch.    f.    Krim.,    61,    99. 

170.  — ,  Der  Beweiswert  von  Mordwerkzeugen,  Arch.  f.  Krim.,  6i,  i65;  Zur 
kriminalistischen    Bedeutung    der    Berufswerkzeuge,    Arch.    f.    Krim.,    62,    392. 

174.  — ,  Erfahrungspsychologie     und     wissenschaftliche    Psychologie.     Arch.     f.     Krim., 

68,    290. 

175.  — ,    Brandstiftung     aus     Aberglauben,     Monatsschr.     f.     Kriminalpsych.,    6,     5oo. 

176.  — ,  Der  Krieg  und  die  Kriminalität  der  Jugendlichen,   Halle,   19 16   (mit  Literatur 

angäbe). 

177.  — ,   G'.'ständnis    und    Leugnen    des    Angeklagten    als   Strafzumessungsgründe    de   lege 

ferenda.    Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,    8.    616. 

178.  — ,  Die    Bedeutung    des    kriminellen    Aberglaubens    für    die    gerichtliche    Medizin 

Berlin,    1919    (mit    Literaturangabe). 

179.  — ,   Die    kriminalpsychologische     Studie    des     Karl-May-Problems.     Stuttgart,     1920 

180.  — ,   Ritual mord    und     Blufaberglaube,     Minden    i.    W.,    ohne    Jahr. 


220  GÖRLNG:  KRIMUSALPSYCHOLOGIE 


i8i.  Hennig,  Hans,  Doppelassoziation  und  Tatbestandsermittlung,  Arch.  f.  Krim., 
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182.  Henschel,  A.,  Der  Gedächtniszwang  und  das  falsche  Geständnis,  Arch.  f, 
Krim.,  56,   10. 

i83.  Hentig,  Hans  v..  Zur  Psychologie  der  Lebenslänglichverurteilten,  Arch.  f, 
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i84.  — ,  Gerichtliche  Verurteilungen  als  Mittel  des  Selbstmordes  und  der  Selbst- 
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LITERATIRVERZEICHNIS  221 


G6. 

i^T- 

Go. 

ro/i. 

.3in. 

:.    Kl 

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Arrli 

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398a.   Liepmann,     Wilhelm.     Psvchologio    der    Frau,     Berlin     und    Wien,     1920. 

399.     Lindau,     nach     Havelock     Ellis,     Verbrecher    und     Vexlirechen,     Leip/.ig,     189  V 

3oo.  Lindenau.  Heinr.,  Beruf  und  Verbrechen,  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Strafrechts- 
wissenschaft,   2^,    38i. 

3oi.  Liszt,  Elsa  v.,  Dje  Berliner  .Tugendgcriohtshilfe  während  des  Krieges,  Zeitschr. 
f.    Kinderschutz    und    Jugendfürsorge,    igiS,    96. 

Soa.  Lisrt.  Franz  v..  Das  Problem  der  Kriminalität  der  Juden.  Festschr.  f.  d. 
juristische    Fakultät    in    Gießen    zum    l  niversitäUsjubiläum,    Gießen,     1907,    36g. 

3o3.  — ,  Der  Krieg  und  die  Kriminalität  der  Jugendlichen,  Zeitschr.  f.  d.  ges. 
Straf  rechts  wissensch..    07,    Agß- 

3ol\.     — .  Lehrbuch    des    deutschen    Strafrechtes,    21.    und    22.  Aufl.,    Berlin    u.    Leipzig, 

1919-  . 

305.  Lohsing,    Ernst,    Das    Geständnis    in    Strafsachen,    Jur.-ps}chiatr.    Grenzfragen,. 

IIL,    H.    1/3    (m.  Literaturang.). 

306.  Lombroso,    Cesare,    Der    Verbrecher,    1.   deutsch   v.    Fränkel,    Hamburg,    1894. 

307.  — ,  Der   Verbrecher,    II,   deutsch    v.   Fränkel,    Hamburg,    1890. 

3oo.     — ,  Neue    Fortsclrritf©   in   den   Verbrecherstudien,   deutsch  von    Merian,   Gera,    189g. 

Sog.     — ,   Kerkerpalimpseste,   deutsch   v.    H.    Kurella,    Hamburg,   189g. 

3io.     — ,  imd    Ferrero,    G.,    Das    Weib   als   Verbrecherin    und    Prostituierte,    übersetzt 

V.    Kurella,    Hamburg,    189^. 
3ii.     Longard.   Job.,   Über    ..Moral   insanity",   Monatsschr.  f.   Kriminalpsych.,   2,  677. 
3i2.     Löwenstimm,    Aug.,    Der    Fanatismus    als    Quelle    der    Verbrechen,    Arch.  f. 

Krim.,    1,    222. 
3i3.     Ludwig,    Karl,    Ein     Fall    wissentlich    unwahrer    Selbstverdächtigung,    Arch.    f. 

Krim.,   65,    3oi. 
3i4.     Lundborg,     H.,     Medizinisch-biologische     Forschungen     innerhalb    eines     22^2- 

köpfigen    Bauemgeschlechtes    in     Schweden,    Jena,     igiS. 
3i5.     Mach,    v..    Ein    Beitrag    zur    Psychologie    der    Zeugenaussagen,    Arch.    f.    Krim., 

5i,   273. 
3i6.     Manolescu,    Georges,   Ein    Fürst  der   Diebe,  Berlin,   o.   J. 
317.     Marro,    M.,    Les    rapports    de    la    puberte    avec    le    crime    et    la    folie,    Congr. 

intern,    d'anthropol.    crimin.,    Genf,     1896,    S.  207. 
3i8.     Marcuse,     Max,     Vom     Inzest,     Jurist.-psychiatr.     Grenzfragen,     10,     H.  3//i. 

Halle,    igiS    (m.    Literaturang.). 
3ig.     — ,  Zur    Psychologie    der    Blutschande,    Arch.    f.    Krim.,    55,    268. 
3iga.  — ,  Die     Fruchtabtreibung     und     das     sittliche     Empfinden    des     Volkes,    Arch.     f. 

Krim..    55,    371. 

320.  — ,  Erhöhte    Kriminalität    der    Kinder    aus    christlich-jüdischen    Ehen?      Arch.    f. 

Krim.,    55,    374. 

321.  — ,  Kinokinder,    .Arch.    f.    Krim.,    55,    376. 

322.  — ,  Die    zerstörende    und    verbrecherische    Gewalt   der    Sexualität,    Arch.    f.    Krim... 

56,    82. 

323.  — ,  Zwei     weitere     Fälle     von     Inzest,     Arch.     f.     Krim.,     67,     76. 

324.  — ,  Zur    Kasuistik    des    Inzestes,    Arch.    f.    Krim.,    67,    232. 

325.  Marx,    Hugo,    Schuld    und    Strafe,    Arch.    f.    Krim.,    !\2,    345. 

326.  — ,  Über    Selbstschädigungen    im    Gefängnis,    Ärztl.    Sach verst. -Ztg..    ig,    353. 

327.  — ,     Die     Psychologie      der     Haft,      Vierteljahrsschr.     f.     gerichtl.     Medizin,     47. 

Suppl.  255. 

328.  Marschall,     J.,     Ein     psychologischer     Streifzug    durch    das     Gebiet    der    Be- 

leidigungsklage.   Arch.    f.    Krim.,    46,    ig3. 

329.  Mayer,     Max     Ernst,     Über    die     Reform    der     Strafzumessung,    Monatsschr.     f.. 

Kriminalpsych.,   3,    Sog. 

330.  Mayr,     Georg     v.,     Kriminalstatistik     vmd     ,, Kriminalätiologie",     Monatsschr.     f. 

Kriminalpsych.,    8,    333;    9,    129. 


224  GÖRHSG:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


33i.     Meier,    Margarete,    Beitrag    zur    Psychologie   des    Kindsmordes,    Arch.    f.    Krim., 

37,  3i3    (m.    Literaturang.). 

332.  Merzbacher,    L..    Ein    raffinierter    Versicherungsschwindler,    Arch.    f.    Krim., 

38,  298. 

333.  Messer,    Aug.,    Das    Problem    der    Willensfreiheit.    Göttingen,    1918. 
33/^.     — ^   Psychologie,     Stuttgart     und     Berlin.     191 /j- 

335.  Meyer,    Schundliteratur    und    Schundfilm,    Arch.    f.   Krim..    53.    175. 

336.  Mezger,    E.,    Der   Jurist    als    Psychologe,   Der    Gerichtssaal.    85.    363. 

337.  — .   Die    abnorme    Charakteranlage,    Arch.    f.    Krim.,    49,    23. 
337a.   — .  Über     Kriminalpsychologie,     Arch.     f.     Krim.,     5i,     63. 

338.  — ,   Der    Determinismus     in    der    Kriminalpsychologie,    Arch.    f.     Krim.,    54,    35 1. 
33o.     — ,  Akute    und    chronische    Affekte,    Arch.    f.    Krim.,    58,    70. 

340.  — .  Kriminalpsychologische  Studien  aus  der  gerichtlichen  Praxis.  Arch.  f.  Krim., 
68,   224. 

o'\i.  Michaelis,  v.,  Erfahrungen  und  Lehren  aus  3 1 jähriger  Straf vollzugspra.xis, 
Arch.   f.    Krim.,   57,    4o. 

SAia.  M  i  1 1  e  r  m  a  i  e  r,  I>er  Einfluß  des  Krieges  auf  Kriminalität  imd  Strafrecht. 
Zeitschr.    f.    angew.    Psvchol.,    i4.    H.    5/6. 

3^2.     Möbius,   P.   J..   Über  den  physiologischen  Schwachsinn  des   Weibes,   Halle,  1901. 

343.  Moll.  Eulenburgs  Realenzyklopädie.  5,  73i  (1908),  nach  Mezger,  Kriminal- 
psychologische   Studien,  Arch.   f.   Krim.,  68,  22A. 

34/i.  Mönkemöller,  Statistische  Beiträge  zur  Naturgeschichte  der  Korrigendinnen, 
Arch.   f.   Krim..   3o,   297. 

345.  — ,   Eine    Vagabundenfamilie.     Monatssclir.     f.     Kriminalpsych..     4,    529. 

346.  — ,  Geistesstörung    und    Verbrechen,    Sammlung    v.    Abhandlungen    aus    d.    Gebiete 

der    pädagogischen    Psychologie    und    Physiologie,    VI,    H.  6,    Berlin.    1903. 

347.  — ,   Zur    Kriminalität    des    Kindesalters.    Arch.    f.    Krim.,    4o,    246. 

348.  — ,  Zur    Psychopathologie    des    Brandstifters,    Arch.    f.    Krim.,    48.    193. 

349.  — .   Der    Exhibitionismus    vor    dem    gerichtlichen    Forum,    Arch.    f.    Krim.,    53,    34. 

350.  Morel,   Des  degenerescences   nach  Ellis,   Verbrecher  und   Verbrechen,   S.  36. 
35i.     — ,  bei     Ferri,     Das     Verbrechen    als     soziale     Erscheinung,     deutsch     v.     Kurella. 

Leipzig,     1896. 

352.  Morel,      Jules,       Die      psychologische     Beschaffenheit     der      rückfälligen      Ver- 

brecher,   Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,    2,    219. 
352a.  Mühsam.    Über    die    Beeinflussung    des    Geschlechtslebens    durch    freie    Hoden- 
überpflanzung,   Deutsche    med.    W'ochenschr.,     46,    823. 

353.  Müller,    Chr.,    Die    Psyche    der    Prostituierten,    Neurol.    Zentralbl.,    1908.    992. 

354.  Münsterberg,     Grundzüge     der     Psychotechnik.     Leipzig,     1914. 

355.  Muralt,    L.    v.,    L'ber   Familienmord,    ^lonatsschr.  f.    Kriminalpsych.,    2.   88. 

356.  Näcke,    Paul,    Bericht  über   den  Verlauf   des    V.    Intemation.    Kriminalanthropd. 

Kongresses    zu    Amsterdam,    Arch.    f.    Krim.,   8,    91. 
356a.  — ,  Über   Rassenmischung,   Arch.   f.    Krim.,    16.  339- 

357.  — ,  Referat  zu  Siefert,  Über  die  unverbesserlichen  Gewohnheitsverbrecher,  Arch.  f. 

Krim.,    22.    287. 

358.  — ,   Rasse  und  Verbrechen,  Arch.  f.   Krim.,  aS,  64- 

359.  — ,  Die     Zeugung     im     Rausch     und     ihre     schädlichen     Folgen     für     die     Nach- 

kommenschaft,   Neurol.    Zentralbl.,    27.    io58. 

360.  — ,   Strafrechtsreform    und    Abtreibung,    Arch.    f.    Krim..    33.    95. 

36i.  — ,  Über  die  sog.  ,,moral  insanity",  Grenzfragen  des  Nenen-  und  Seelenlebens. 
Wiesbaden.  1902;  Lombrosos  Theorien  vom  Verbrecher,  Arch.  f.  Krim.. 
33,    178. 

362.  — .   Zur    Psychologie    der    sadistischen    Messerstecher,    Arch.    f.     Krim.,    35.  343. 

363.  — ,  Über    Kleiderfetischismus.    Arch.    f.    Krim..    37.    160. 

364.  — ,  Kleine   Mitteilungen   im   Arch,    f.    Krim. 

365.  — ,  über    Familienmord    durch    Geisteskranke.    Halle,    1908, 

365a.  Nagel,  nach  Fischer.  Zur  Biologie  der  Degenerationszeichen,  Zeitschr.  f.  d. 
ges.    Neurol.   u.    Psychiatrie.    1920. 

366.  Nägeli,    O.,    Unfalls-    und    Begehrungsneurosen.    Stuttgart,    1917. 
067,     Nerlich.    Der    Lustmörder    Dittrich.    Arch.    f.    Krim..    26.    11. 

368.     — .  EHe    Bür?ermeisterstochter    Grete    Beier    aus   Brand.    Arch.    f.    Krim.,    33,    i45. 


LITEIIATURVERZEICHNIS  225 


069.      N  ü  1  d  o  k  o  ,     tane    interiiaüeMialo     Üiibsbazule,     Dor    Pilaval    der    Gog«iiwarl,   2,    i. 

370.  Obornikor,     /VJfrod,     Slrafrecht     und     Slrafvollxug    im    Licht»    der    deutschen 

Soualdemokralie,    Arch.    1".    Krim.,    3o,    aoi    (m.    Literaturang.). 

371.  Oehlert,     Der     Wein     und     die     Kritninalität,    Monataschr.     f.     Kriminalpsych., 

2,    7o5. 
37a.     Oppenheim,    L.,    Das    Gewissen,    Basel,    1898. 

373.     Papprilz,   Anna,    Einführung   in   das   Studium  der   Proslilutionsfrage,    Leipzig, 

37^.     Passow,     Die     Notwendigkeit     kriminologischer     Einzelbeobachtungen,     Arch.  f. 

Krim.,    i5,    i5i. 
375.     Paul,    Friedr.,    Ein   interessanter   Fall   einer   Urkundenfälschung,   Arch.   f.    Krim., 

a4,    357. 
375a.  Paz,   de   la,    bei    Fischer,    Zur  Biologie   der   Degenerationszeichen,    Zeitschr.  f.  d. 

ges.    Neuro!,    u.    Psychiatrie,    1920. 
375b.  P  e  1  m  a  n  ,    Bemerkungen    zu    dem    Prozesse    des    Prinzen  Prosper  Arenberg,   Mo- 

natsschr.    f.    Kriminalpsych.,    i,    60. 

076.  Peßler.    Ein    Beitrag    zur    Psychologie   der   Mörder,    Arch.    f.    Krim.,    27,  3o8. 

077.  — ,  Vorgetäuschte    Selbstmorde,    Arch.    f.    Krim.,    55,   271. 

378.     Petro,   Mitomänia   e  simulazione   di  reati,   Annali   di   Frenetria,   22,   25i    (1913), 

nach    Näcke,    Falsche    Beschuldigungen,    Arch.    f.   Krim.,    52,    igS. 
079.     Pick,   A.,   Pathologische  Beiträge   zur  Psychologie  der  Aussage,   Arch.   f.   Krim., 

57,    193. 
38o.     Pinkerton,    William,    Amerikanische    Bankräuber,    Arch.    f.    Krim.,     18,  223. 
38oa.  — ,  Amerikanische    Fälscher,    Der    Pitaval    der   Gegenwart,  6,    i. 
38ob.  Pitaval,     Causes    celebres,     Paris,     1734  ff-,    Auswahl    von    Paul    Ernst,    Insel- 
verlag,   19 10. 
38oc.  Pitaval,     der     neue,     und:     Pitaval     der     Gegenwart     (neuere    Sammlungen 

nach    dem    Muster    des    Original-Pitaval). 
38r.     Plempel,    Zur    Frage    des    Geisteszustandes    der   heimlich    Gebärenden,    Viertel- 

jahresschr.    f.    gerichtl.    Medizin,    3.    F.,    37,    2.    Suppl.-Heft,     i63. 

382.  Pollak,    Max,    Ein    Monstreprozeß    gegen    Jugendliche,   Arch.    f.    Krim.,    32,  i. 

383.  Pollitz,    P.,    Die   Psychologie   des   Verbrechers,   Leipzig,    190g. 
384-     — ,  Die  drei  Mörder   Bloemers,   Arch.   f.  Krim.,   27,   209. 

385.  — .  Strafvollzug    und    Einzelhaft,    Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,    8,     166. 
385a.  — ,  Notzuchtsversuch  an  der  eigenen   Mutter,  Arch.  f.   Krim.,   52,   78. 

386.  Pönitz,     Psychologie     und     Psychopathologie     der     Fahnenflucht     im     Kriege, 

Arch.   f.    Krim.,   68,    260. 

387.  Postelberg,    Die    gefälschte    Handschrift,    Der    Pitaval   der    Gegenwart,  3, 269. 

388.  Puppe,  G.,  Zur  Psychologie  imd  Prophylaxe  des  Kindesmordes,  Deutsche  mediz. 

Wochenschr.,    43,    609. 

389.  Radbruch,  Feuerbach  als  Kriminalpsychologe,  Monatsschr.  f.  Kriminalpsych.,  6,  i. 


390 
391 

392 
393 
094 
395 
396 

398 

4oo 
4oi 

402 

4o3 


— ,  Eine   kriminalpsychologische    Parallele,    Arch.   f.    Krim.,   52,    192. 

— ,  Psychologie    der    Gefangenschaft,    Zeitschr.    f.    d.    ges.    Strafrechtawissensch., 

32,   339. 
Rechert,    Emil,    Stephan    Wanyck,    Arch.    f.    Krim.,    46,    269. 
— ,  Eine   Lügnerin   aus    Passion,   Arch.    f.   Krim.,    5o,   3o5. 

Reichel,    Hans,    Befangenheit    als    Verdachtsgrund,    Arch.    f.    Krim.,    34,   120. 
— ,  Die    Eifersucht    im    Zuhältereiprozesse,    Arch.    f.    Krim.,    20,    i42. 
— ,  Renommage    als    Meineidsmotiv,    Arch.    f.    Krim.,    21,    3o5. 
— ,  Dissimulierter    Selbstmordversuch,    Arch.    f.    Krim.,    38,    i53. 
— ,  Ein    Erpressertrick,    Arch.    f.    Krim.,    55,    35o. 

Reichel,    Über   forensische    Psychologie,    Monatsschr.   f.   Kriminalpsych.,    7,118. 
Reiß,    R.    A.,   Einiges    über  Hoteldiebe,   Arch.   f.    Krim.,   37,    122. 
Reukauff,     H.,     Morde     imd     Mörder,     Psychiatr.-neurol.     Wochenschr.,     18, 

27    usw. 
— ,  Motiviertes    Gutachten    über    den    ., Lustmörder"    Max    Dietze,    Arch.    f.    Krim., 

64.    228. 
Ribot,    Psychologie  des   sentiments,   deutsch   von    Unger,    Altenburg,    igoS,   nach 

Mezger,    Akute    und    chronische    Affekte,    Arch.    f.    Krim.,    58,    70. 


15    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


226  GÖRING:  KRIMINALPSYCHOLOGIE 

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psychologie,   6,    193    (m.    Literaturang.). 
/io5.     Rosenberg,  J.,   Familiendegeneration  und  Alkohol,  Zeitschr.  f.  d.  ges.  Neurol. 

u.    Psychiatrie.    22,    11. 
.'io6.     Rosenfeld,     Heb.,     Die     Frage     des     Zusammenhanges     zwischen     Rasse     und 

Verbrechen,    Deutsche    med.    Wochenschr.,    191 2,    12 li. 
.'107.     Roth     und     Ger  lach,     Der     ßanklehrling     Karl     Brunke     aus     Braunschweig, 

Halle,    1909. 
.'io8.     Rouby,   nacli    Birnbaum,    Die   sexuellen    Falschbeschuldigungen  der    Hysterischen, 

Arch.   f.    Krim.,   6/i,    i. 
,'109.     R  ü  d  i  n  ,    Ernst,    Referat    zu    Kovalevsky,    Psychopathologie    legale.    Monatsschr.  f. 

Kriminalpsych.,    i,    26^. 
/(lo.     — ,  Über  die   klinischen    Formen   der   Seelenstörung  bei    zu   lebenslänglicher   Zucht- 
hausstrafe   Verurteilten.    München,    190g. 
411.     Rupprecht,  Karl,  Die  bedingte  Begnadigung  im  Strafverfahren  gegen  Jugetid- 

liche,    Arch.    f.    Krim.,    ^9,    127. 
/112.     Rykere,    R.    de,    Die    Kriminalität    der    Dienstboten,    Monatsschr.    f.    Kriminal- 

psychologie,    8,    785. 
.'ii3.     Sadger,  J.,  Welcher  Wert  kommt  den  Erzählungen  usw.  der  Homosexuellen  zu? 

Arch.   f.   Krim.,    53,    179;    Ketzergedanken  über   Homosexuelle,   Arch.   f.    Krim., 

59,    821. 
!ii!i.     Seh.,    E.,   Brandsliflertrusts   in    Nordamerika,  Arch.   f.    Krim.,    67,    1S9. 
[iib.     Schallmayer,    Willi.,    -Vererbung    und    Auslese    in    ihrer    soziologischen    und 

politischen    Bedeutung,    Jena,    1910. 
/|i6.     Scheffoid     und    Werner,    Der    Aberglaube    im    Rechtsleben,    Jur.-psychialr, 

Grenzfragen,    VIII,    H.  8. 
417.     Schmidt,    Der    falsche    Zisterzienser,    Der   Pitaval    der    Gegenwart,    i,    i. 
J^iS.     Sclimid,     H.,    Zur    Psychologie    des    Brandstifters,    Psychol.    Abhandlungen,    I, 

Leipzig  und   Wien,    igiA- 
^19.     Schneickert,    Hans,    Neue    Gaunertricks,   At-ch.    f.   Krim.,    17,    i5i ;    22,   2o3; 

26,    293. 

420.  — ,  Leichtsinn    und    Leichtgläubigkeil    des    Publikums    und   die    Kriminalität,    Arch. 

f.    Krim.,    18,    193. 

421.  — ,  Der    Denunziant,    Arch.    f.    Krim.,    25,    264- 

422.  — ,  Das   Für  und   Wider   der  Todesstrafe,  Arch.   f.   Krim.,   38,    i34. 

423.  — ,  Zur    Geschichte    der    Kriminalpsychologie,    Arch.    f.    Krim.,    71.    220. 

424.  Scholz,  Ludmg,   Die  Gesche  Gottfried,  Berlin,   1913,  Arch.  f.   Krim.,  56,  382. 

425.  — ,    Eine    irre    Verbrecherin,    Allg.    Zeitschr.    f.    Psychiatrie.    56.    6o3. 

426.  Schrenck-Notzing,     Frhr.     v.,     Gutachten     über     den     Geisteszustand     des 

Herrn  v.   G.,   Arch.   f.   Krim.,  32,   253. 

427.  — ,  Der   Prozeß   der   Bombastuswerke,   Arch.   f.   Krim.,   4o,   55   (m.   Literaturang.). 

428.  — ,  Die  Wachsuggestion  auf  der  öffentlichen   Schaubühne,  Arch.  f.  Krim.,  72,  8t. 

429.  Schultz,    Walter,     Bemerkung    zur    Arbeit    von    Knut    Sand.     Pflügers    Arch. 

f.    d.  jges.    Physiologie,    179,    217. 

430.  Schultze,     Ernst,     Die     Schundliteratur,     Halle    a.    d.     S.,     1909. 

43i.     Schurz,     Karl,     Lebenserinnerungen,     Berlin,     1911,     nach     Reichel,     Falsche 
Scham    als    Verbrechensmotiv,    Arch.    f.    Krim.,    56,    186. 

432.  Schütze.     W.,     Fünfstündige     Abschlachtung     einer     Geisteskranken.    Arch.     f. 

Krim.,    42,    i36. 

433.  — ,    Erinnerungstäuschung     durch     Kopfverletzung,     Arch.     f.     Krim.,     43,      174 

(m.   Literaturang.). 

434.  Seyfarth,    Carly,    Aberglaube    und    Zauberei    in    der    Volksmedizin    Sachsen«, 

Leipzig.    1913,    nach    Hellwig,    Krimineller   Aberglaube   im    Königreich    Sachse«. 
Arch.    f.    Krim.,   61,    112. 

435.  Seige,  Max,   Das  Landstreich ertum,  Arch.  f.  Krim.,   5o,  97. 

436.  Sello,    Erich,    Die    Irrtümer    der    Strafjustiz    und    ihre    Ursachen,    nach    Arch. 

f.    Krim.,    45,    8r. 
407.     Senf,    Max    Rudolf,    Das    Verbrechen    als   strafrechtlich-psychologisches    Problem, 

Hannover,   1912. 
•i38.     — ,  Zur    Psychologie    des     Luslmörders,    Monatsschr.    f.    Kriminalpsvch.,    8,    299. 


LITEIIATURVERZEICHMS  227 


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44o.  S  e  y  1"  a  r  l  Ii,  11.,  Eine  dämonische  FraueiuuiUir,  LK-r  Pilaval  der  Gegt^iwart, 
8.     306. 

.'l4l.  Sichoi.  .Max,  Der  Gci.sleszuilaiul  ilcr  Prosfiluiertfii,  Zcilschr.  f.  il.  ge.s. 
IVeurol.   u.   Psjchialrio,    i^,   /|'|5. 

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260   u.   73,   371. 

.j.'j3.      S  i  g  li  c  1  e  ,     nacli      Lombroso,     Verbreclierstudien,      ,S.    176. 

A't^.  — .  Psychologie  des  Auflaufs  und  der  Masscnverhrochen,  deutsch  v.  Kurella, 
Dresden   und    Leipzig.    1897. 

Ü5.  Skraup,  Karl,  Mimik  und  Gebärdensprache,  Leipzig.  1908,  nach  Klocmanii, 
Mimik  und  Pantomimik,  Arch.  f.  Krim.,  54,  266. 

446.  Sommer,     Robert,     Psycliialrische     Untersuchung     eines     Falles    von     Mord     und 

Selbstmord    mit     Studien    über    Familiengeschiclite    und    Erblichkeil.    Klinik    f. 
psych,    u.    nerv.    Krankh.,    i,    i. 

447.  — .   Familienforschung  und   Vererbungslehre,   Leipzig,    1907. 

448.  — ,   Kriminalpsychologie    und    strafrechtliche    Psychopathologie,    Leipzig,    1904. 

449.  — .   Referat    über    den    gegenwärtigen    Stand    der    Kriminalpsychologie,    Monatsschr. 

f.    Kriminalpsych.,   8,    739. 

450.  — ,  Die    Beziehungen    der    Kriminalwissenschaft    zur    Psychiatrie    und    Psycliologie, 

Katania,    1913. 
45i.     — ,  Krieg    und    Seelenleben,    Leipzig,    1916. 

452.  Stammer,     Georg,     Bemerkungen     über     amerikanische     Strafpolitik,    .\rch.     f. 

Krim.,    47,    79- 

453.  Starke,    Verbrechen    und    Verbrecher    in    Preußen,    Berlin,    i884,    nacIi    Heindl, 

Die  Kriminalität  nach  dem  Kriege,  Arch.  f.  Krim.,  70,  180. 

454.  S  t  e  k  e  1,    W.,    Berufswahl    und    Kriminalität,    Arch.    f.    Krim.,    4i,    268. 
454a.  — .    Onanie    und    Homosexualität,    Wien,    1917. 

455.  'Steinach,     Geschlechtstrieb     und     echte     sekundäre     Geschlechtsmerkmale     als 

Folge   iimersekretorischer    Funktion,    Wien,    1910. 

456.  Stern,     Erich,     über     Schuld    und    Zurechnungsfähigkeit    vom     Standpunkt    der 

Psychologie   der    Wertung,    Arch.    f.    Krim.,   73,    i. 
fib'J.     Stern,   Jaques,    Über   die    Reue,   Arch.  f.    Strafrecht   und    Strafprozeß,    5r,   385. 
458.     Stier,     Ewald,     Fahnenflucht     und     unerlaubte     Entfernung,     Halle,     igoS     (m. 

Literaturang.). 
458a.  Stilling,     nach     Fischer,     Zur     Biologie     der     Degenerationszeichen,     Zeitsclir. 

f.  die  ges.  Neurol.  u.  Psychiatr.,  1920. 
Aögj.     Strafella,     Franz     Georg,     Der     Brief    eines    zum    Tode    Verurteilten,    Arch. 

f.   Krim.,   52,    324. 

460.  — ,  Der  sozial   Primitive,  Arch.  f.   Krim.,  68,    i. 

46 1.  Strasser,     Chfirlot,      Das     Kumulativverbrechen,      Arch.     f.     Krim.,     5i,    2o3 

(m.    Literaturang.). 

462.  — ,  Trotz,    Kleptomanie    und    Neurose,    Arch.    f.    Krim.,    59,    285. 

463.  ßtraßmann.     Über     Familienmord,     Vierteljahrsschr.     f.     gerichtl.     Medizin, 

3.  F.,  35.  Suppl.,  i36;  5i,  54;  61,  i. 

464.  Strauß,     Alice,     Zur     Psychologie     der     pathologischen     Schwindler,     Arch.     f. 

Krim.,    56,    iii    (m.    Literaturang.). 
'i65.     Sturm,    Friedr.,    Richterpsychologie,    Arch.    f.    Krim.,  Co,    206. 

466.  — ,  Über  juristische   Beweisforschung,   Arch.   f.    Krim.,   72,    i46. 

466a.  — ,  Eine    Wissenschaft    vom     Strafmaß,     Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,     n,    77. 

467.  Sury,    Kurt    v..    Die    Unzucht    mit    Tieren,    Arch.    f.    Krim.,    35,    293. 

468.  Svenson,    Frey,    Psychopathische    Verbrecher,    Arch.    f.    Krim.,    45.    197. 
.'169.     S  v  o  r  c  e  k  ,    Heinr.,    Einstimmiger    Schuldspruch    durch    Geschworene    auf    Grund 

von  Indizien,  Arch.  f.   Krim.,  3o,  280. 

470.  Taine.      Hippolyte,      Origines      de      la      France     Contemporaine,     nach      Näcke, 

Zur   Massenpsychologie,    Arch.    f.    Krim.,    53,   367. 

471.  Többen,    Heinr.,    Ein    Beitrag    zur    Psychologie   der    zu    lebenslänglicher    Zucht- 

hausstrafe   verurteilten    oder    begnadigten    Verbrecher,    Monatsschr.    f.    Kriminal- 
psych..   9,    449. 

15* 


228  GÖRIXG :  KRIMINALPSYCHOLOGIE 


^72.     Többen,  Heinr.,    Beiträge   zur   Psychologie   und    Psychopathologie  der  Brandstifter, 

Berlin,    1917  (m.    Literaturang.). 
478.     Travers,   Der   Krieg   und  die   Kriminalität,  Arch.   f.   Krim.,  62,   SgS. 

^^^       ^     Uniformierte    Hoteldiebe,     Der     Pitaval    der    Gegenwart,    i,     3o2. 

^75.     Türkei,    Siegfried,    Der    Einfluß    der    Lektüre    auf    dio    Delikte    phantastischer 

jugendlicher    Psychopathen,    Arch.    f.    Krim.,    42,    228. 

476.  Tybjerg,    Die    Prügelstrafe    in    Dänemark,    Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,    i, 

4i5;    2,    i33;    8,    102. 

477.  Ungewitter,   Zwei   Seelen   wohnen   in  seiner  Brust,  Arch.   f.   Krim.,   42,   SSg. 

478.  V  e  b  a  e  k,    Les    bases    rationelles    d'une    Classification    des    delinquants;    Communi- 

cation    faite    ä    la    Societe    d'anthropologie   des    Bruxelles,    27,    3,    ii;    Arch.    f. 
Krim.,   42,   377. 
47g.     Voß,     Beiträge    zur    Psychologie    des    Gattenmordes    und    Verwandtes,    Arch.    f. 
Krim.,    4i,    281. 

480.  — ,     Zur     forensischen      Kasuistik     des     sog.      neurasthenischen     Irreseins,      Arch. 

f.  Krim.,  49,  i33. 

481.  W  a  gn  e  r  V.  J  a  ureg  g  ,   J.,   Myxödem   und    Kretinismus,   Aschaffenburgs  Hand- 

buch   der    Psychiatrie,    Spez.    Teil,    2.  Abt.,    i.  Hälfte. 

482.  W  a  1  c  h  ,   Hans,   Himmelsbriefe,   Der  Pitaval  der  Gegenwart,    i,  Sg. 

483.  Wallner,    Julius,    Studien    zur    Lehre    der   Verbrechensmotive,    Arch.    f.    Krim., 

59,   84. 

484.  Wassermann,    Rudolf,    Beruf,    Konfession    und    Verbrechen,    Statistische    und 

nationalökonomische  Abhandlungen,  Heft  2,  München,  1907  (m.  Literaturang.); 
Dio  Kriminalität  der  Juden  in  Deutschland  in  den  letzten  2.5  Jahren,  Monats- 
schrift f.  Kriminalpsych.,  6,  60g,  Ist  die  Kriminalität  der  Juden  Rassen- 
kriminalität?  Zeitschr.  f.  Demographie  u.  Statistik  d.  Juden,  7,  36. 

485.  — ,  Begriff  und   Grenzen  der  Kriminalstatistik,  Kritische  Beiträge  zur  Strafrechts- 

reform,  Heft  8,   Leipzig,    1909. 

486.  Weber,     Gustav,     Ein    Verbrecher    aus    Freude    am    Betrug,    Arch.    f.     Krim., 

54.  44. 

487.  Weber,   L.   W.,   Der   Familienmord,  Arch.  f.   Krim.,  67,   26g. 

488.  Weber,   Der  Leipziger   Bankprozeß,   Der   Pitaval  der   Gegemwart,   2,   89. 

489.  Weinberg,    Rieh.,    Psychische    Degeneration,    Kriminalität    und    Rasse,    Monats- 

schrift  f.    Kriminalpsych.,    2,    720. 

490.  Weinberg,    Siegfried,    Über    den    Einfluß    der    Geschlechtsfunktionen    auf    die 

weibliche    Kriminalität,    Jur.-psychiatr.    Grenzfragen,    VI,    H.   i. 

4gi.  Wein  gart,  Kriminaltaktik,  nach  Glos,  Ein  Beitrag  zur  Psychologie  des  Raub- 
mörders.   Monatsschr.   f.    Kriminalpsych.,    3,    554- 

4g2 .  Wertheimer,  Max,  und  Klein,  Julius,  Psychologische  Tatbestandsdiagno- 
stik,  Arch.   f.   Krim.,    i5,   72. 

4g3.  Wetzel,  Albrecht,  Die  allgemeine  Bedeutung  des  Einzelfalles  für  die  Kriminal- 
psychologie, Arch.  f.  Krim.,  55,   loi. 

494.     — ,  Über  Massenmörder,  Berlin,    1920,  mit  einer  Übersicht  über  die  Kasuistik. 

4g5.     Weygandt,  W.,  Beitrag  zur  Lehre  von  den  psychischen  Epidemien,  Halle a.d.S., 

496.  Wilmanns,    Karl,    Zur    Psychopathologie    des    Landstreichers,    Leipzig,    iQoQ. 

497.  — ,    Da.s     Landstreichertum,     seine     AbhiJ^e     und     Bekämpfung,     Monatsschr.     f. 

Kriminalpsych.,    i,    6o5. 

498.  Windelband,  Wilh.,  Über   Willensfreiheit,  V.  Vorlesg.,  Tübingen  und  Leipzig. 
49g.     Wollenberg,    R.,    Die    forensisch-psychiatrische    Bedeutung   des   Menstruations- 
vorganges,   Monatsschr.   f.    Kriminalpsych.,    2,    36. 

5oo.  Wulffen,    Erich,    Weshalb    werden    so   viele    Sittlichkeitsverbrechen    an    Kindern 

begangen?    Gesetz  und  Recht,  8,  3gi. 

5oi.  — ,  Kriminalpsychologic    im    Mordprozeß     Hau,     Gesetz    und    Recht,    8,    3g7. 

502.  — ,  Psychologie    des    Verbrechers,     2   Bde.,    Groß-Lichterfelde,     1908. 

503.  — ,  Zur    Kriminalpsychologie    des    Kindes,    Monatsschr.    f.    Kriminalpsych.,    2,    172. 

504.  — ,  Der    Sexualverbrecher,    Groß-Lichterfelde,    1910. 

505.  — ,  Psychologie    des    Giftmordes,    Wien,    1917. 

506.  — ,  Georges    Manolescu    und    seine    Memoiren,    Berlin,    o.    J. 


LITERATtRVERZElClI.MS  229 


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boS.     Yvcrnes,    Maurice,    L'alcoolisme    et    la    criminalite,    Arch.    d'aiilliropul.    criinin., 

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werkwuges,  Arcli.   f.    Krim.,   52,   a.'jg. 
5iO.     — ,     IhLs     System     der     Verbrechcrtypen,     Arch.     1".     Krim.,     05,      169;      Konträre 

Strebuiigen,    Arch.    f.    Krim.,    62,    71.  • 

öii.     — .  Die    j>*ycliischen    Voraussetzungcji    des    verbrecherischen    Entschlusses,    Arch.  f. 

Krim.,    ö.'i,    54. 
5i2.     Zaitzeff,      Die      strafrechtliche    Zureclmungsfähigkeil      bei     Massenverbrechen, 

Jur.-psycJiiatr.     Grenzfragen,     VIII,     H.     C     (m.     Lileralurang.). 
5i3.     Zangger,     Über     die    Beziehmigen     des     Kindes     zum     Verbrechen,     Jahrb.    d. 

Schweizer    Gesellsch.    f.    Schulgcsundheitspflege,    i3    (1912),    nach    Boas,    Kinder 

als    Verbrecher,    Arch.    f.    Krim.,    53,    33i. 
5i4.      — .    Kriminalität     der     Juden     in     Amsterdam,     Zeitschr.     f.     Demographie     und 

Statistik  der  Juden.   3,    190. 
5i5.     — ,  Cliristian    Holzwart,    Der  neue    Pilaval,   23,    luich    Wetzel,    Über   Massenmörder. 
5i6.     — ,  Der  Prozeß  Riehl   und  Konsorten  in  Wien,  Arch.  f.  Krim.,  27,   i. 

Nachtrag 

517.     F)  i  r  n  b  a  u  m  ,    Karl,    Kriminal-Psychopathologie,    Berlin,    1921. 
5iS.     Brennecke,     Hans,     Psychopathie    und     Revolution,     Deutsche    Strafrechtaztg., 
8,    21. 

519.  Göring,   M.   H.,   Der   Wert  der  neuen   Forschung  auf  dem   Gebiete  der  inneren 

Sekretion  für  die  Kriminalpsychologie,  Ajch.  f.  Krim.,   73,  2^3. 

520.  Heindl,    Das    amerikanische    Probationssystem,    Ajch.    f.    Krim.,    73,    291. 

521.  — ,  Einführung  der   Prügelstrafe   in    Ungarn,  Arch.  f.   Krim.,   73,   298. 

522.  Hentig,    Hans    v.,    und    Viernstein,    Theodor,     Untersuchungen    über    den 

Sitllichkeitsverbrecher,    Zeitsclir.    f.    d.    ges.    Neurol.    u.    Psychiatr.,    70,    33.'». 

523.  Hoffmann,     Walter,     Psychologie     der     straffälligen     Jugend,     Leipzig,     1919, 

nach    Stern,    Psychologie    der    straffälligen    Jugend. 

524.  Hülst,  J.   P.   L.,   Beitrag  zur  Kenntnis  der  Nekrophilie  und  des   Nekrosadismus, 

Arch.    f.    Krim.,    73,    2o5. 
025.     Kahn,     Eugen,     Psychopathen     als     revolutionäre     Führer,    Zeitschr.     f.    d.    ges. 
Neurol.    u.    Psychiatr.,    52,    90. 

526.  Kraepelin,    Emil,    Psychiatrische    Randbemerkungen    zur    Zeitgeschichte,    Süd- 

deutsche Monatshefte,    16,    H.  g. 

527.  Lempp,  Über  Mordversuche  mit  pathogenen  Bakterien,  Arch.  f.  Krim.,  73,  2^7. 

528.  Margulies,  Max.  Über  Ausdruckstätigkeit  und  Erleben,  Arch.  f.  Krim.,  73,  gS. 

529.  Nötzel,     Karl,     Das     Verbrechen     als     soziale     Erscheinung,     München,     1920, 

nach   Ref.   im   Arch.   f.   Krim.,  73,   3ii. 

530.  Stern,    Erich,    Psychologie    der   straffälligen   Jugend,  Zeitschr.    f.   d.   ges.    Straf- 

rechtswissenschaft,   42,    H.   4/5. 
53i.     Wagner      v.     Jauregg,     Vorgetäuschter    Mordversuch    in    der     Posthypnose, 

Deutsche   Straf rechtsztg.,    8,    5i. 
532.     Wittig,   K.,   Der   Einfluß   des   Krieges  imd  der  Revolution   auf  die   Kriminalität 

der  Jugendlichen,   Zeitschr.   f.   Kinderforschung,   26,  8,  nach   Ref.  im   Zentralbl. 

f.    d.    ges.    Neurol.    u.    Psychiatr.,    25,    52i. 


PSYCHOLOGIE  DES  TRAUMES 


VON 
SANTE  DE  SANCTIS 


1.  DIE  PHYSIOLOGISCHEN  BEDINGUNGEN 
DES  TRAUMES 

DeT  Traum  wurde  inid  muß  nach  einer  exakten  wissenschaftlichen 
Methodik  untersucht  werden.  Diese  Methodik  habe  vor  vielen  Jahren 
ich  (89)  und  in  der  Folge  verschiedene  Autoren  erörtert.  Schließlich 
nalmi  ich  den  Gegenstand  selbst  wieder  auf  im  Jahre  191 9  (gS),  und 
darum  verweise  ich  den  Leser  auf  meine  jüngste  Veröffentlichung.  End- 
lich muß  ich  daran  erinnern,  daß  ich  mich  nicht  in  Übereinstimmung 
mit  den  Forschern,  wie  Foucault,  Havelock  Ellis,  L.  Luciani,  befinde  noch 
befand,  welche  ausschließlich  die  subjektive  Methode  verwerten,  die  man 
rückwärtsschauende  Selbstbeobachtung  (auto-intro-retrospektive  Methode) 
nennen  könnte.  Ich  habe  immer  alle  Methoden  verteidigt  und  an- 
gewendet, die  man  in  der  modernen  Psychologie  benützt,  um  die  psychi- 
schen Tatsachen  zu  erforschen,  und  das  ist  nicht  nur  die  Methode  der 
Seibetbeobachtung,  sondern  auch  der  Fremdbeobachtung  (Verhör  und 
Ausfrage  [Enquete  oder  Inquiry]),  der  Psychoanalyse  im  Sinne  Freuds^ 
(welche  darauf  ausgeht,  den  „latenten  Inhalt"  im  Gregensatz  zum  ,, mani- 
festen Inhalt"  des  Traumes  zu  erforschen),  der  äußerlichen  Beobachtung 
<les  Schlafenden  (oder  physiologische  Methode  2),  und  die  vielfältigen 
und  sehr  reichen  experimentellen  Methoden,  nach  welchen  neuerdings 
Mourly  Vold  seine  lang^vierigen  und  mühsamen  Untersuchungen  aus- 
fülirte,  und  welche  ich  in  weitem  Umfange  in  den  vergangenen  Jahren, 
besonders  in  der  letzten    Zeit,   anwendete. 


^  Ich  hab**  von  der  gewöhnlichen  Psychoanalyse  (Heteropsychoanalyse)  eine  Auto- 
psychoanalyse unterschieden  und  Beweisnialerial  dafür  gesammelt,  daß  die  Autopsycho- 
analyse eines  eigenen  Traumes,  die  im  Erwachen  oder  nachts  im  Halbschlaf  oder  dgl. 
stattfindet,  oft  zur  Enthüllung  der  verborgenen  Bedeutung  des  Traumes  selbst  führt.  Der 
Träumer  erkennt  nämlich  spontan,  daß  durch  die  Traumerscheinungen  Ereignisse,  die  vom 
Wachzustand  recht  verschieden  sind,  gewissermaßen  allegorisch  dargestellt  werden.  Wie 
kommt  er  zu  solchem  Erkennen?  Sicherlich  auf  affektivem  Wege;  er  erkennt  die 
.Vhnlichteit  des  Affektzustandes  im  Traume  mit  einem  Affektzustande  des  Wach- 
l)Owußtseins.  der  mit  anderen  Vorstellungsbildein  verknüpft  war,  und  diese  kehren 
nach  Vollzug  jenes  Wiedererkennens  wieder  ins  Be\\'ußtsein  zurück  (assoziative 
Wechselbeziehung  zwischen  Vorstellung  und  GefüM).  Eigentümlicherweise  kann 
man  zuweilen  während  des  Traumes  selbst  zur  Bedeutung  des  Traumes  vordringen 
(Näheres  darüber  im  folgenden),  so  daß  man  zwei  Arten  von  Auto-Psychoanalyse  unter- 
scheiden könnte,  nämlich  die  Auto-Psychoanalyse  während  des  Traumes  {intraottirico) 
und  jene  nach  dem  Traume  {postoniricn);  die  erste  findet  im  Zustand  völligen  Unter- 
bewußtseins (Schlaf zustand)  und  daher  automatisch,  die  zweite  im  Zustand  des  Halb- 
wachens   (schlafähnlicher    Zustand)    halbwillkürlich    statt. 

2  Wie  ich  in  einer  vorangehenden  Arbeit  nachgewiesen  habe,  ist  die  physiologische 
Methode  alt  und  klassisch.  Hier  möchte  ich  hinzufügen,  daß  auch  Pierre  Janet  sie  mit 
Erfolg  bei  neuropathischen  Personen  anwendete,  wie  er  in  einem  neuen  Werk  (36) 
berichtet. 


234  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Diese  methodologische  Vorbemerkung  genügt,  um  dem  Leser  verständlich 
zu  machen,  daß  ich  für  die  >vissenschaftliche  Untersuchung  des  Traumes 
die  Kenntnis  der  Erscheinung:  Schlaf  für  imentbehrlich  halte.  In  der 
wissenschaftlichen  Traumlehre  folge  ich  den  Prinzipien  und  Methoden 
der  zeitgenössischen  Psychologie.  Wie  es  meiner  Meinung  nach  nicht 
zulässig  ist,  eine  wissenschaftliche  Psychologie  ohne  Rücksicht  auf  die 
Lebenserscheinungen  zu  betreiben,  so  scheint  es  mir  auch  nicht  am 
Platze,  bei  der  Untersuchung  des  Traumes  den  schlafenden  Organismus 
zu    vernachlässigen. 

Daher  muß  der  Traum  psycho-physiologisch  aufgefaßt  werden,  indem 
man  ihn  unter  seinen  natürlichen  Bedingungen,  am  lebenden  Organismus 
als  eine  Erscheinung  des  Schlafes,  also  unter  seinen  physiologischen 
Voraussetzungen,  betrachtet. 

Di^er  Gesichtspunkt  ist  nichts  weniger  als  neu.  Schon  Chr.  Wolff  ^ 
legte  besonderen  Wert  auf  die  physiologischen  Bedingungen  des  Gehirns 
während  der  Entstehung  des  Traumes.  Melchior  Gioia  (32,  IL  S.  2o3ff.) 
schloß  sich  ihm  an;  dieser  Philosoph  gab  sogar  eine  vergleichende  Dar- 
stellung der  physischen  Zustände  des  Träumers  und  der  ihnen  im  all- 
gemeinen entsprechenden  Träume.  So  bedeutet  das  Bestehen  einer  ge- 
nauen Übereinstimmung,  daß  die  physiologischen  Bedingungen  sogar  bis- 
weilen dem  individuellen  Faktor  das  Gegengewicht  halten.  So  füllen  wir 
eine  Lücke  aus,  die  sich  bei  einigen  der  jüngsten  Autoren,  insbesondere 
bei  der  Freudschen  Schule,  in  ihrer  Behandlung  des  Traumes  findet. 
Freud  hält  zwar  die  Hypothese  einer  räimiHchen  Auffassung  der  psychi- 
schen Vorgänge  nicht  für  nötig;  er  kann  jedoch  eine  biologische  Auf- 
fassung dieser  Vorgänge  nicht  für  ebenso  unnötig  halten.  Bergson  er- 
klärt, daß  zwischen  dem  Gehirn  und  dem  Gedanken  dieselbe  Wechselbe- 
ziehung besteht  wie  zwischen  einem  Kleid  und  dem  Nagel,  an  den  man 
es  hängt.  Schade,  daß  das  Leben  kein  Nagel  ist!  —  Ich  bin  hingegen 
überzeugt,  daß  man  über  die  Elemente  und  speziell  über  die  Dynamik 
des  Traumes  besonders  klare  Aufschlüsse  erhält,  wenn  man  die  Ver- 
fassung des  Gehirns  des  Schlafenden  imd  im  allgemeinen  den  physio- 
logischen Zustand  des  Schlafes  in  Betracht  zieht.  Ich  trete  entschieden 
den  Versuchen  entgegen,  gewi^e  Probleme  zu  behandeln  und  dabei  der 
Physiologie  die  Türe  vor  der  Nase  zu  verschließen.  Freud  einerseits 
und  Bergson  andererseits  vergessen,  daß  auch  der  Traum  eine  Lebens- 
erscheinung ist.  Die  Psychologen  jedoch  müssen  diesen  Umstand  im 
Gedächtnis  behalten,  sonst  laufen  sie  Gefahr,  hinter  A.  Haller,  Burdach, 
Job.    Müller,    Vierordt,    ja   sogar   hinter   Aristoteles   zurückzubleiben. 

A.ATMUNG,  BLUTKREISLAUF  UND  STOFFWECHSEL  IM  SCHLAFE 

Es  wäre  indessen  ein  Zeitverlust,  sich  bei  den  sogenannten  Theorien  des 
Schlafes  aufzuhalten.  Eine  große  Gruppe  von  Schriftsteilem  hat  sich 
schon  bemüht,  sie  darzulegen  und  zu  kritisieren.     Ich  habe  selbst  davon 

1  PsYchologia  ratlonalis  melhodo  scientifico  pertractata  usw.,  Frankfurt  und  I^ipzig, 
17^0,    S.  201  ff. 


ATMUNG.    ÜLLfkRHSLALF    L'ND    STOFFWKCHSEL    IM    SCHLAF!-:       235 

cetjprochon  i,  und  der  Lcsor  mag,  außer  bei  A.  Mosso,  bei  Luciani  (49,  IV), 
balmon  (83),  Ernst  Trömnier  -  (in,  112)  und  besonders  bei  Pieron  (66) 
nachlesen,  der  den  G^^enstand  erschöpfend  behandelt,  indem  er  eine 
Klassifikation  aller  Theorien  gibt  und  sie  mit  Scharfsinn  und  Objek- 
tivität kj-itisiert,  so  daß  er  jo*len  Schriflj>teller  von  weiteren  Verpflich- 
tungen  entbindet. 

Mir  genügt  es,  einige  Hinweise  in  bezug  auf  die  physiologischen  Voraus- 
setzungen des  Schlafes  zu  geben. 

Dei-  Zustand  des  Atmungsapparates  wäJirend  dos  Schlafes  wurde  von 
verachieilenen  Physiologen  boschrieben,  besonders  von  A.  Mosso  (1878, 
1886  und  später).  Die  Atemfrequenz  ist  geringer,  und  der  Rhythmus 
kann  einen  intermittierenden  oder  auch  periodischen  .Vblauf  annehmen, 
besonders  bei  Kindern  und  Greisen  (Mosso,  Luciani),  das  Einatmen  wird 
verlängert,  das  Ausatmen  verkürzt.  Gleichwohl  sind  die  Dinge  nicht  so 
einfach,  wie  man  glaubt.  Mendicini  (56)  beschäftigte  sich  kürzlich  in 
meinem  Laboratorium  mit  diesem  Gegenstande  (Textfig.  i).    Nach  Mendi- 

^^^vwwvvvvvvvvv\/vvvwv^ 

Fig.  I. 

Thorakales  Pneumogramm  einer  normalen  Sojährigen  Frau,  während  des  Sclilafes 
(21.  Apri!  igiö,  12  Uhr  i5  a.  ni.)  von  A.  Mendicini  mit  dem  Brondgeestschen  Pneumo- 
graphen aufgenommen.  Die  Form  der  Kurve  ist  tatsächlich  für  den  Schlaf  typisch,  weil 
sie  sich,  abgesehen  von  dem  Ausschluß  aller  Fehlerquellen  (vgl.  Marey,  La  methode 
graphique),  in  allen  wälirend  des  Schlafes  aufgenommenen  Pneumogranmien  konstant  er- 
hält, wälirend  sie  in  den  Pneumogrammen  des  Wachzustandes  nicht  vorkommt.  Im 
einen  wie  im  anderen  Falle  ruhte  die  Versuchsperson  stets  in  Rückenlage.  Überdies 
wurden  einige  Schlafkurven  im  unmittelbaren  Anschluß  an  die  Wachkurven  am  gleichen 
Abend  aufgenommen,  ohne  daß  die  geringste  Änderung  in  der  Aufstellung  der  Apparate 

stattgefunden   hätte. 

cini  wird  im  Gegensatz  zu  andern  Beobachtern  die  Atmung  (thorakales 
Pneumogramm)  der  normalen  Frau  im  tiefen  Schlafe  tiefer  und  häufiger. 
Mendicini  fand  im  Schlafe  niemals  die  periodische  oder  remittierende 
oder  intermittierende  Atmung,  die  von  Mosso  und  andern  Physiologen 
verzeichnet  wurde.  In  bezug  auf  den  Atmungsrhythmus  (den  Atmungs- 
quotienten der  übrigen  Autoren)  hatte  Mosso  beobachtet,  daß  im  Schlaf 
eine  Umkehrung  stattfinde;  von  12  Teilen  entfielen  10  auf  die  Eanat- 
mung  und  2  auf  die  Ausatmung.    Nach  Mendicini  bestand  die  gleiche  Um- 


1  89,  Notiz  z.  S.  333,  wo  ich  die  histologische  Theorie  und  die  jüngsten  Varianten 
(i.    J.    1900)    der    vasomotorischeri    Theorie    zurückweise. 

-  Der  Verfasser  erörtert  den  Widerspruch  zwischen  den  zwei  Theorien  des  Blut- 
andranges und  der  Blutleere  des  Gehirns,  stellt  der  Ermüdungstheorie  stichhaltige  Gründe 
entgegen  und  bekämpft  die  Annahme  eines  Schlafzentrumsgehims,  sei  es,  daß  man  es 
in  die  Stimlappen  oder  in  die  Sehhügel  verlegen  wolle. 


Wachzustand 

Schlaf 

quenz       Höhe 

Quotient 

Frequ. 

Höhe 

20               4,7 

0,98 

20               8,2 

0,78 

23 

7'7 

20          5,8 

0'97 

236  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

kchrung  des  Rhythmus,  wie  sie  Mosso  angegeben  hatte,  im  Schlafe  normaler 
Personen;  aber  im  Schlafe  seiner  Melancholikerinnen  fehlte  die  Um- 
kehrung, also  überwog  bei  ihnen  die  Ausatmung.  Bei  einer  Melancho- 
likerin nahm  indessen  der  Quotient  zu,  weil  sie  nach  Aussage  des  Ver- 
fassers lebhaft  träimite. 

Normale  Person  §  ^.,^11./-» 

3o  Jahre  Frequenz       Höhe  Quotient         rrequ.  Höhe  Quot. 

Torakales  Pneumogramm 

i,5o 

Ich  glaube,  daß  die  Abweichungen  z.  T.  durch  den  indi\dduellen 
Faktor,  z.  T.  durch  die  verschiedenen  Phasen  des  Schlafes,  z.  T. 
durch  die  vorhandene  Traumtätigkeit  verursacht  sind.  Mendicini  findet 
beim  Schlafe  seiner  Melancholikerinnen  in  allen  Teilen  der  Pneumo- 
grammkurve  häufige  Pausen  und  zitternde  Schwankimgen.  Dies  läßt 
sich  diu-ch  das  gleichzeitige  Vorhandensein  unlustvoller  Traumeindrücke 
erklären  und  würde  mit  der  „Z  i  1 1  e  r  -  A  t  m  u  n  g"  {tremhlee)  über- 
einstimmen, die  schon  zusammen  mit  andern  Störungen  der  melancho- 
lischen Depression  während  des  Wachens  vermerkt  wurde  (Häufigkeit 
der  Atmungsakte,  Seufzer,  die  sich  einzeln  oder  in  Gruppen  periodisch 
wiederholen,  usw.). 


Fig.  3. 

ITiorakales  Pneum»gramm  einer  Sojährigen  Frau,  wälirend  der  ersten  Stunde  des  Schlafes 
(21.  April  igiS,  12  Uhr  55  a.  m.)  aufgenommen.  Spontanes  Erwachen  gegen  das  Ende 
der  Kurve,  ungefähr  i5  Sekunden,  nachdem  die  Kurve  regelmäßig  geworden  war.  Die 
Versuchsperson  bestätigt  auf  Befragen,  daß  sie  eben  träumte.  Die  Unregelmäßigkeiten  der 
Kurve  sind  vielleicht  zu  erheblich,  als  daß  sie  insgesamt  auf  die  Traumtätigkeit  der 
Schläferill  zurückgeführt  werden  könnten.  Die  Frequenz  (24  Atemzüge  in  der  Minute) 
ist  nicht  gesteigert.  In  dem  Kiu~vent«il,  der  sich  über  die  Abszisse  erhebt,  fallen  drei  ober- 
flächliche Atemzüge  auf,  wie  sie  in  Kurven  vorzukommen  pflegen,  die  während  der 
Bewußtseinslage     der     Erwartung    aufgenommen     werden      (Material     des     Institutes    für 

experimentelle   Psychologie). 

Mendicini  pflegte  seine  Patienten  zu  wecken,  wenn  sich  im  Pneumo- 
gramm bemerkenswerte  Unregelmäßigkeiten  zeigten.  Kaum  erweckt, 
fragte  er  sie,  ob  und  was  sie  im  Augenblick  des  Wiederenvachens  ge- 
träumt hätten.  In  einem  Fall  (normale  Frau)  hatte  er  ein  Resultat,  das 
berichtet  zu  werden  verdient  (Textfig.  2). 

Daß  während  des  Schlafes  der  Blutkreislauf  im  allgemeinen  und  ins- 
besondere im  Gehirn  ge^visse  naturgemäße  Veränderungen  erleidet,  ist 
eine  allgemein  anerkannte  Tatsache  (Mosso,  Fano  imd  viele  andere)  1.    Es 


^  S.   die   alte  Literatur   über  diesen   Gegenstand   bei  Jules   Soviry    (101).      Die  neueren 
Forschungen  finden  sich  bei  Ernst  Weber  (117),  Hans  Berger  (8).  Von  den  phYsiologischen 


ATMUNG.    BLUTKREISLAUF    UND    STOFFWECHSEL    IM    SCHLAFE      237 

scheint  sicher,  daß  Ixn  kleinen  Kiinlem  die  Differenz  der  Ileriwchlägo 
und  de>;  Pulses  im  Wachen  oder  SchUifen  sehr  jj^ering  ist'.  Ms  Lsl  in 
der  Tat  eine  alte  Beobachtung-,  dali  sich  der  PuLs  im  Schlafe  verlang- 
samt (Galen,  Haller);  aber  auch  aus  meinen  zahlnnchen  Beobachtungen 
gehl  hervor,  daß  sich  bei  kleinen  Kin<lem  der  Puls  im  Schlafe  wenig 
verändert,  daß  er  alx^r  selbst  bei  Kindern  und  Ixn  Erwachsenen  bemer- 
kenswerte Änderungen  zugleich  mit  Atmungsänderimgen  zeigt,  wenn  man 
aus  mimischen  /Vnzeichen  das  Vorhandensein  eines  lebhaften  Traumes 
folgern  kann. 

^'on  der  alten  und  wiederbelebten  vasomotorischen  Theorie  des  Schlafes 
fand  die  Theorie  der  Blutleere  des  Gehirns  (Howell,  Mosso)  verschiedene 
Gegner  unter  den  Physiologen  und  Pathologen,  so  daß  die  entgegenge- 
setzte Theorie  Ansehen  gewann  (Blutfülle:  Czemy,  Schleich).  Experi- 
mente und  Kritiken  von  Ferramini,  Rummo,  Morselli,  Tanzi,  de  Sarlo, 
Riebet  und  besonders  von  H.  Berger  ließen  darauf  schließen,  daß  die 
vasomotorischen  Verändenmgen  im  Schlafe,  die  sich  übrigens  durch 
direkte  Beobachtungen  an  Schlafenden  mit  Schädelbrüchen  gut  feststellen 
ließen,  die  Wirkung  und  nicht  die  Ursache  oder  wenigstens  Begleit- 
erscheinungen des  Schlafes  bilden.  Indessen  müßte  man  wissen,  ob  der 
Zu-  oder  Rückfluß  des  Blutes  von  der  Hirnrinde  den  verschiedenen  Schlaf- 
phasen und  der  mehr  oder  weniger  lebhaften  Traum  tätigkeit  des  Schla- 
fenden entspreche  oder  nicht. 

Auch  Varianten  der  vasomotorischen  Theorie  hatten  kein  größeres 
Glück,  wie  z.  B.  der  Vorschlag  von  Pilez  (Blutfülle  des  Hirnstammes  und 
Blutleere  des  Hirnmantels)  und  der  andere  spätere  von  Surbled,  welcher 
das  antagonistische  Spiel  der  beiden  vom  Willisschen  Polygon  ausgehen- 
den Gefäßsysteme  (des  durch  die  Hirnrinde  und  des  durch  die  Basal- 
ganglien    ziehenden)    ins    Treffen    führt. 

Der  organische  (normale  und  pathologische)  Stoffwechsel  im  Schlafe 
^^■urde  von  allen  Physiologen  behandelt  (Pettenkofer  und  Voit,  Lieber- 
meister, Quincke,  Beaunis,  Delsaux  usw.)  und  ist  auch  hier  zu  er- 
wähnen 2. 


Bedingungen  des  Sclüafes  handelt  John  F.  Shepard  (99).  Nachzulesen  ist  besonders 
Pieroo;  dieser  behandelt  ausführlich  die  Herztätigkeit,  den  Blutdruck,  die  Atmung, 
die  Verdauungs-  und  Sekretionserscheinungen,  die  Wärmeerzeugung  und  die  senso- 
motorischen  Erscheinungen  des  Scidafes  und  faßt  die  physiologischen  Erscheinungen  des 
Schlafes  in  Kap.  VI,  S.  i4o  ff.,  zusanunen.  Ohne  die  übrigen  physiologischen  Be- 
dingungen des  Sclüafes  wie  den  Zustand  der  Sekretionstätigkeit  und  der  Wärme- 
erzeugung zu  berücksichtigen,  will  ich  nur  noch  erwähnen,  daß  ich  mich  in  bezug 
auf  die  theoretische  Ansicht  von  Vascliide  über  die  konstant©  Temperatur  im  Schlafe 
völlig  der  von   Pieron  geübten   Kritik   anschließe. 

1  Dr.  Bäculo  (Resoconto  del  Brefotrofio  dell'Annunziata  I  a  clinica  ,,Baliato")  nahm 
den  Herzdruck  bei  Säuglingen  von  wenigen  Tagen  und  Monaten  im  Schlaf  und  im 
Wachen  auf  und  gelangte  sogar  mit  Rücksicht  auf  die  Zalil  der  Pulsschläg«  zu  den 
gleichen  Ergebnissen.  Der  Rliythmus,  der  im  Wachen  unregelmäßig  ist,  bleibt  im 
Schlafe  ebenso  unregelmäßig.  Bei  einem  kleinen  Mädchen  findet  er  Allorhythmie  ent- 
sprechend   den    Atmungsbewegungen:    systolisches    Plateau    mit    und    ohne    Zacken. 

2  In    Italien    schrieb    darüber    schon    vor    vielen    Jahren    Belmondo    (7). 


238 DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Es  scheint  natürlich,  daß  im  Schlafe  zugleich  mit  der  Herabsetzung 
der  Tätigkeit  der  Nervenzontren  die  Stoffwechselprozesse  gleichfalls  ver- 
langsamt und  der  Luftaustausch  und  folglich  auch  die  Sauerstoffversor- 
<mng  der  Gewebe  auf  ein  Mindestmaß  heruntergedrückt  werden  (Verwoni, 
ßaglioni).  Jedoch  muß  man  zur  Klärung  und  Kritik  solcher  Lehren 
wenigstens  2  Punkte  im  Auge  behalten:  i.  daß  die  Herabsetzung  der 
Tätigkeit  der  Nervenzentren  im  Schlaf  ausschließlich  auf  zwei  Faktoren 
zurückgeführt  werden  darf,  auf  die  Erhöhung  der  Reiz-  und  Empfindungs- 
schwelle imd  auf  die  Unbeweglichkeit ;  während  die  psychische  (kortikale) 
Tätigkeit  durchaus  niciit  ausgeschaltet  ist,  wie  die  Verfasser  gewöhnlich 
sagen;  2.  daß  ein  Teil  der  Stoff  Wechseländerungen  während  des  Schlafes 
gerade  von  der  Traimitätigkeit  abhängt.  Daß  diese  Tätigkeit  tatsächlich 
zu  Oxydationsvorgängen  Anlaß  gibt,  haben  die  Physiologen  zwar  nicht 
be\\iesen,  aber  die  Tatsache  ist  nichtsdestoweniger  gewiß,  weil,  wie  ich 
schon  in  meinen  vorangehenden  Veröffentlichungen  über  den  Traum 
zeigte,  eine  Traumermüdung  besteht,  eine  Erscheinung,  die  schon 
Tissie  (109,  iio)  an  der  Hand  von  Beispielen  klargelegt  hatte.  Die  Er- 
müdung läßt  sich  hinreichend  erklären  durch  die  Bewegungen  und  noch 
mehr  durch  die  Muskelkontraktionen,  welche  man  zuweilen  am  Träumen- 
den  beobachten   kann  1. 

Ich  lenke  die  Aufmerksamkeit  auf  zwei  landläufige  wissenschaftliche 
Vorurteile,  nämlich  daß  der  Schlaf  immer  eine  vollkommene  Wiederher- 
stellung der  organischen  Kräfte  bewirke  (Übergewdcht  der  Assimilations- 
prozesse), imd  daß  dementsprechend  die  Traumtätigkeit  ein  psychisches 
Ausruhen  sei,  nämlich  Verminderung  der  psychischen  Spannung.  Das 
trifft  zu,  aber  nur  in  allgemeiner  Hinsicht;  denn  bisweilen  verbraucht 
man  sich  im  Schlaf  eher,  als  daß  man  sich  erholt;  d.  h.  der  Traum 
kann  trotz  der  fehlenden  Wirkimg  der  Außenreize  der  Umgebimg  eine 
dissimilatorische  anstatt  eine  assimilatorische  Phase  des  Stoffwechsels  dar- 
stellen. 

Man    vergleiche   ein    jüngst    aufgenommenes    Protokoll: 

Nachts,    am    ij.    November    1919.     Niederschrift    um   8  Uhr. 

(V.  R.  9  26  J.)  Ich  liabe  geträumt,  daß  M.'s  Schwester  von  M.  einen  Brief  bekam 
(ich  fühle,  daß  der  Brief  etwas  Unangenehmes  für  mich  enthält,  aber  ich  bin  nicht 
sicher,  ob  dies  Gefühl  zum  Traum  oder  zur  Erinnerung  des  Traumes  gehört).  Ich 
weine  leidenschaftlich  und  lange;  allmählich  komme  ich  dazu,  die  Müdigkeit  de» 
Weinens  zu  fühlen  (Muskelschmerzen  in  der  Brust  und  an  den  Schläfen,  Kopf\\ eh, 
Druck  in  der  Kehle).  Ich  wache  für  kurze  Zeit  auf:  Schwere  im  Kopf,  peinlich© 
Empfindung  eines  bleiernen  Schlafes.  Ich  schlafe  wieder  ein  und  träume,  noch  zu 
weinen   wie   zuerst.    Beim   Erwachen   heute   morgen   bin   ich  ruhig,   aber   erschöpft. 

Es    ist    zu    bemerken,    daß    M.'s    Schwester    gestern    abend    wirklich    einen    Brief    von 


^  Niemand  wird  die  Ermüdung  durch  Vorstellungen  bezweifeln  (besonders  durch 
motorische  Vorstellungen).  Das  praktische  Leben  bietet  deutliche  Beispiele.  Jüngst  habe 
ich  folgenden  Fall  beobachtet:  Eine  Dame,  die  dem  Kinostück  ,,Die  zwei  Wachtmeister" 
beiwohnte,  erklärte  mir,  daß  sie  bei  <ler  aufregenden  Schwimmszene  Müdigkeit  der 
Arme  verspürte,  weil  sie  mit  der  Phantasie  die  Bewegungen  des  Schwimmens  verfolgte. 
AJs  dieselbe  Dame  einen  Film  sah,  der  die  italienischen  Truppen  auf  dem  Adamello 
darstellte,  erklärte  sie.  Müdigkeit  in  der  Lendengegend  zu  fühlen,  weil  sie  in  Gedanken 
den    Soldaten    beim    Schleppen    schwerer    Geschütze    half. 


TOXISCHE  UiND  CHEMISCHE  THEORIEN  DES  SCHLAFES 23£ 

M.  mit  einer  iiiiangeiirhiiicii  Millcilung  für  inicli  erhielt.  Ich  hatte  einen  selir  heftigen 
>cliincrzanraJl,  di^stii  ÄuiSorung  ich  gewaltsam  luilerdrückte.  Später  Erschöpfung, 
luhiger  Schmerz,  Schlallosigkeit  oluie  LiiruJie.  Mehrmals  unterdrückte  ich  mit  grofier 
Gewalt   das    Weinen;    aber   dann    legte    ich    mich    nieder  und    scldief. 

B.  TOXISCHE    UiND    CHEMISCHE    THEORIEN    DES    SCHLAFES: 
LOKALISATION    IM    GEHIRN 

Das  Studium  des  Stoffwechsels  im  Wachen  und  im  Schlaf  eröffnet 
den  Zugang  zu  den  toxischen  imd  chemischen  Theorien.  Die  von  Preyer 
erdachte  Theorie  (Erzeugung  von  Ermüdungstoffen  im  Wachzustande) 
fand  starke  Unterstützung  bei  neueren  Physiologen  und  auch  Pathologen, 
z.  B.  Dejerine.  Die  chemische  Tlieorie  wurde  trotz  mancher  Gegner- 
schaft oft  erneuert  und  in  veränderter  Form  auch  von  Dubois  in  Lyon 
(1896)  aufrechterhalten,  so  daß  sie  unter  dem  Namen  „biochemische"  und 
..neurodyn emiische"  Tlieorie  von  den  Zeiten  Purkinjes,  Pflügers  und 
Preyers  zusammen  mit  der  Theorie  Pierons,  von  der  ich  weiter  unten 
sprechen  werde,  bis  heute  das  Feld   behauptet  hat. 

Nach  Salmon  (81,  82)  wäre  der  Schlaf  eine  vegetative  Funktion  innerer 
Sekretion,  die  der  organischen  Wiederherstellung  der  Nervenzentren 
diente;  sie  bestünde  in  der  Erzeugung  einer  Reservesubstanz  —  der 
Substanz  der  Nißlschen  färbbaren  Zellkörper  —  während  des  Schlafes. 
Die  Hypophyse  löse  die  Funktionen  des  Schlafes  aus.  Abgesehen  davon, 
(laß  dieser  Einfluß  der  Hypophyse  durch'aus  nicht  von  ihm  bewiesen 
wurde,  muß  man  Salmon  entgegenhalten,  daß  er  auf  logischem  Weg, 
aber  von  Analogien  aus  zu  seiner  Hypothese  gelangt,  die  alles  andere 
als  berechtigt  sind,  wie  z.  B.  die  Analogie  zwischen  normalem  Schlaf 
einerseits  imd  pathologischem  Schlaf  und  pathologischer  Somnolenz 
(Lethargie)  andererseits.  Daher  erscheint  mir  die  Kritik,  die  Gemelli 
an  der  Hypothese  von  Salmon  übt,  durchaus  überzeugend  1. 

Pieron  (66)  und  Legendre  haben  die  chemisch-toxische  Theorie  des 
Schlafes  mit  zureichenderen  Gründen  verteidigt.  Sie  machten  zahlreiche 
Experimente,  um  sich  über  die  Natur  des  Schlafes  zu  vergewissern,  imd 
konnten  eine  Toxinsubstanz  nachweisen,  das  Hypnotoxin,  welches 
sich  im  Wachzustande  bildet  und  die  sensomotorische  Ermüdung  in  der 
Form  eines  Bedürfnisses  nach  Ruhe  und  Schlaf  hervorruft.  Pieron  meint, 
daß  das  Hypnotoxin  in  denjenigen  Zellgruppen  der  Hirnrinde  wirkt, 
die  zur  Aufrechterhaltung  eines  gewissen  sensomotorischen  Tonus  und 
der  Aufmerksamkeit  notwendig  sind,  indem  es  mehr  oder  weniger  üire 
Funktionen  lähmt  und  ihre  Gestalt  verändert.  Was  die  Frage  der 
Lokalisation  in  der  Hirnrinde  betrifft,  so  zeigt  sich  Pieron  mit  Recht 
zurückhaltend,  doch  neigt  er  dazu,  den  Stimlappen  (beim  Hund  die 
Regio  cruciata   frontalis)  und  in  dieser  Gegend  die  großen   Pyraraiden- 


1  Salmon  ist  auf  den  Gegenstand  im  Jahre  1916  zurückgekommen  (84),  indem  er 
die  „W  interschlafdrüs  e",  welche  ihren  ursprünglichen  Sitz  in  unmittelbarer 
Nähe  der  Thymusdrüse  hat,  bei  den  Winterschläfern  behandelt  und  vermerkt,  daß  dor 
Winterschlaf  derselben  den  nächtlichen  Schlaferscheinungen  der  Tiere  mit  konstanter 
Temperatur  ent-spricht.  Wir  bleiben  aber  immer  bei  Analogien  1  Ähnlichkeit  der  Er- 
scheiniongen    bedeutet   nicht    Identität   des   Wesens. 


240    DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE     DES    TRAUMES 

»elleai  (nach  Shaw  Bolton  die  Vermittler  der  assoziativen  und  will- 
kürlichen Tätigkeit)  oder  die  polymorphen  Zellen  (nach  Shaw  Bolton 
die  Vermittler  der  instinktiven  Tätigkeit)  oder  die  einen  und  die  anderen 
ins  Treffen  zu  führen.  An  die  Frage  des  Angriffspunktes  der  hypnotoxi- 
schen  Wirkung  muß  mit  größter  Zurückhaltung  herangegangen  werden. 

Pighini  (67)  nimmt  vorläufig  die  Hypnotoxinhypothese  von  Pieron 
in  Ermanglung  einer  besseren  an,  aber  im  Grunde  nur  deshalb,  weil 
er  dieser  Hypothese  eine  Ergänzung  beizufügen  hat,  die  für  ihn  von 
Bedeutung  ist.  Diese  Ergänzung  ist  folgende:  Indem  sich  das  Hypnotoxin 
in  den  Nervenzellen  ansammelt,  versetzt  es  sie  in  den  Schlaf  zustand, 
und  wenn  es  aus  diesen  Zellen  ausgezogen  und  bei  Hunden  im  Wach- 
zustand in  die  Höhle  des  vierten  Ventrikels  eingespritzt  wird,  so  setzt 
es  sich  in  den  Nervenzellen  fest  und  versenkt  sie  von  neuem  in  Schlaf- 
zustand. Also  wirkt  das  Hypnotoxin  wie  ein  Narkotikum;  aber  Pighini 
möchte  wissen,  ob  jene  Substanz  wie  die  Nai'kotika  lipoidlöslich 
ist,  imd  ob  ihre  Lösung  die  Oberflächenspannung  des  Wassers  herab- 
setzt, oder  ob  sie  vielmehr  den  Charakter  eines  Ferments  oder  Toxins 
habe  xmd  chemische  Veränderungen  bei  Berührung  mit  dem  Zellplasma 
und  mit  dem  Blut  erfahre;  ob  sie  nicht  einen  Oxydations-  oder  Reduk- 
tionsprozeß durchmachen  müsse,  mn  gebunden  oder  gefällt  zu  werden 
usw.  Pighini  weiß  dies  alles  nicht;  aber  um  bequemer  folgern  zu  können, 
nimmt  er  es  an;  und  indem  er  sich  auf  die  Voraussetzung  stützt, 
daß  das  Hypnotoxin  als  Narkotikum  wirke,  nimmt  er  weiterhin  an, 
daß  das  Narkotikum  entsprechend  seinem  schwachen  Adhäsionsdruck 
aus  dem  wäßrigen  Zustand  in  den  komplexen  Zustand  der  Nerven- 
zellenbestandteile übergehe,  sich  in  den  oberflächlichen  Schichten  dieser 
anhäufe  und  gleichzeitig  deren  Oberflächenspannung  und  das  Berührungs- 
potential usw.  herabsetze.  Und  so  gelingt  es  Pighini,  so  gut  es  geht, 
sowohl  den  Schlaf  als  auch  das  Wiedererwachen  zu  erklären. 

Vor  ganz  kurzem  ist  ein  Arzt,  Dr.  M.  Barbara  (6),  auf  die  Theorien 
des  Schlafes  zurückgekommen.  Die  Gründe,  die  dieser  Autor  anführt, 
um  seine  Hypothese  zu  verteidigen,  sind  einer  Erläuterung  würdig. 
Barbara  bemerkt  ganz  richtig,  daß  die  Aufhebung  der  Beziehungen 
aiwischon  dem  Individuum  und  der  Umgebung  nur  einen  Teil  der 
verschiedenen  Erscheinungen  darstellt,  welche  sich  während  der  nächt- 
lichen Phase  abspielen,  und  daß  der  Schlaf  eine  Funktion  des  Gesamt- 
komplexes alles  Organischen  ist.  Vorausgesetzt,  daß  der  Stoffwechsel 
zwischen  dem  Organismus  und  der  Umgebung,  d.  h.  der  Metabolismus, 
aus  zwei  entgegengesetzten  Prozessen  besteht  (aus  dem  synthetischen  oder 
aufbauenden  oder  anabolischen,  assimilatorischen,  und  aus  dem  analyti- 
schen oder  abbauenden  oder  katabolischen,  dissimilatorischen),  und  daß 
mit  dem  Zyklus  des  Stoffwechsels  der  Energieaus  tausch  innig  verbunden 
ist,  d.  h.  der  energetische  Zyklus  (Spannkraft  oder  potenzielle  Energie 
und  lebendige  Kraft  oder  kinetische  Energie),  behauptet  der  Autor,  daß 
der  Schlaf  der  Ausdruck  der  anabob'schen  (assimilatorischen)  Phase, 
d.  h.  der  Energieaufspeicherung,  ist,  und  daß  das  rhythmische  und 
abwechselnde  Ül>er\viegen  der  anabolischen  (assimilatorischen)  Erschei- 
nungen  bei    Nacht    und   der   katabolischen    (dissimilatorischen)    bei   Tag 


TOXISCHE  UND  CHEMISCHE  TllKüKlEN  DES  SCHLAFES '  241 

nicht  im  entferntesten  die  Folge  des  InaktivitäLs-  oder  AktivitätszusUind«-« 
des  Gehirns,  sondern  unabhän^ij:^  davon  ist.  Er  folgert  auch  daratus, 
dalS  der  Schlaf  eine  aktive  Erscheinung  ist  und  als  solche  die  Kurve 
anderer  Tätigkeiten  wit^<lergelxMi  kann;  dali  er  eine  Erscheinung  ist, 
bei  welcher  idle  zelluläivn  lüeniento  beteiligt  sind,  und  die  dt^shalb 
nicht  einen  auf  dieses  oder  jenes  Organ  beschränkten  Sitz  haben   kaiui. 

Es  kam  jedoch  darauf  an,  den  den  Rhythmus  Schlaf-Wachen  herbei- 
führenden und  regelnden  Mechanismus  ausfindig  zu  machen.  Nun  findet 
der  Autor,  dalS  der  periodische  Wechsel  der  zwei  entgegengesetzten  Phasen 
des  organischen  Stoffweclisels  diu-ch  eine  jjeriodische  und  abwecliselndo 
Sekretion  und  ein  überwiegen  einzelner  antagonistischer  Hormongruppen 
geregelt  wird,  deren  Tätigkeit  sich  nach  einem  periodischen  und  inter- 
mittierenden Rhytlimus  abspielt.  Während  der  Nacht  überwiege  die 
den  Aufbau  erregende  Hormongruppe,  wie  aus  den  Wirkungen  des 
Schlafes  auf  den  Trophismus  und  aus  der  Zunahme  des  Tonus  des 
autonomen  Systems  hervorgeht,  auf  den  die  Hormone  dieser  Gruppe 
eine  spezifische  Reizwirkung  ausüben.  Dieser  Zustand  von  Hypertonie 
des  autonomen  Systems  wäre,  nach  dem  Verfasser,  verantwortlich  für 
die  funktionellen  Änderungen  der  Kreislaufs-,  Atmungs-  und  Verdauungs- 
organo  und  des  Auges.  Während  der  Nacht  wäre  indessen  die  den 
.\bbau  erregende  Hormongruppe  insuffizient,  wie  aus  den  Veränderungen 
des  Chemismus  imd  der  Wärmeerzeugung  hervorgeht,  und  auf  diese 
Insuffizienz  wären  die  Veränderungen  der  verschiedenen  Funktionsarten 
des  Nervensystems  (Mobilität,  Sensibilität,  Reflexe,  Psyche)  ziuückzu- 
führen,  auf  welche  die  Hormone  dieser  Gruppe  eine  wohlbekannte 
aktivierende  Wirkung  ausüben.  Die  Hormone  der  den  Abbau  erregenden 
Gruppe  würden  indessen  mit  einer  gleichzeitigen  Zunahme  des  Tonus 
des  sympathischen   Systems  während  des  Tages   überwiegen. 

Es  ist  kein  Zweifel,  daß  die  Hypothese  von  Barbara  viele  Tatsachen 
erklärt  imd  deshalb  als  Richtlinie  für  das  physiologische  Studium  des 
Schlafes  in  Betracht  kommt,  .andererseits  ist  sie  jedoch  nicht  in  der 
Lage,  alle  Erscheinungen  des  Schlafes  zu  erklären;  sie  ist  schematisch, 
fast  möchte  ich  sagen  —  naiv.  Umgekehrt  läßt  alles  darauf  schließen, 
daß  das  Spiel  des  sympathisch-endokrinen  Systems  viel  komplizierter 
im  Schlafe  sei,  zumindest  mit  Rücksicht  auf  die  verschiedenen  Phasen 
desselben.  Man  muß  die  allzu  allgemeinen  Ansichten  aufgeben,  wenn 
man  die  psychischen  Tatsachen,  die  während  des  Schlafes  vor  sich  gehen, 
aufhellen  will. 

Eine  Spezifizierung  der  Theorien  und  Hypothesen  über  den  Schlaf 
behufs  Erklärung  des  Traumes  ist  neuerdings  von  Eugenio  Rignano 
(77,  78)  versucht  worden.  .\ber  obwohl  dieser  Autor  vom  energetischen 
Zyklus  ausgeht,  gelangt  er  zu  dem  Schlüsse,  daß  eben,  diesem  Zyklus 
zufolge,  während  des  Schlafes  die  gesamte  affektive  Tätigkeit  des  Geistes 
aufgehoben  sein  müßte,  während  die  Verstandestätigkeit  lebhaft  bleibe; 
nun  steht  diese  Anschauimg  nicht  in  Einklang  mit  der  Psychologie  des 
Traumes,  da  die  Behauptung,  die  Träume  seien  im  wesentlichen  nicht 
affektiv,  der  gewöhnlichen  Beobachtung  widerspricht.  Im  Gegenteil, 
es  herrscht  im  Traume  die  Af fektivität ;     die  Anarchie  im   Ideenablaufe 

16    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


242 DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES        

wahrend  des  Traumes  kann  anders  erklärt  werden  als  —  wie  Reg^nano 
will  —  mit  dem  Aufhören  jeder  affektiven  Leitung. 

Wie  wir  erwähnt  haben,  beschäftigten  sich  jedoch  die  Autoren,  welche 
nach  dem  wirksamen  Bestandteil  des  hypnogenen  Toxins  suchten  oder 
ihn  gefunden  zu  haben  vorgaben,  auch  mit  der  Bestimmung  des  Punktes, 
an  dem  das  Toxin  selbst  angreife,  um  den  Schlaf  hervorzurufen.  Wenn 
auch  einige  anerkennen,  daß  im  Schlafe  der  ganze  Organismus  und  nicht 
nur  das  Nervensystem  schläft,  so  war  es  doch  natürlich,  daß  alle  als  An- 
griffspunkt des  Toxins  das  Gehirn  oder  bestimmte  Teile  des  Gehirns  be^ 
zeichneten.  So  kam  es,  daß  einzelne  im  Gehirn  das  Organ  (das  Zentrum) 
des  Schlafes  suchten.  Hatte  nicht  schon  Wundt  es  im  Apperzeptions- 
zentrum lokalisiert?     Diese  Untersuchung  erschien  also  allen  berechtigt. 

Schon  im  Jahre  1890  gelangte  Mauthner  (55),  der  sich  wieder  des 
Kriteriums  der  Analogie  (diesmal  mit  der  Schlafkrankheit)  bediente,  zu 
der  Ansicht,  daß  der  Schlaf  durch  die  Müdigkeit  des  zentralen  Höhlen- 
grau veranlaßt  wird,  welche  eine  Unterbrechung  der  zentripetalen  wie 
der  zentrifugalen  Reizübertragnng  bewirke.  Er  ninmit  daher  ein  Schlaf- 
zentrum im  Mittelhim  an.  Diese  Lokaüsation  kam  gelegentlich  der 
lethargischen  Enzephalitisepidemie  (Italien  191 9)  wieder  zu  Ehren,  welche 
von  vielen  im  wesentlichen  als  eine  Poüomesenzephalitis  betrachtet  Aviu-de. 
Andere    (Oppenheim)    lokalisierten    den    Schlaf   in    die   Sehhügel. 

Dr.  F.  Veronese  (116)  hat  es  vor  einiger  Zeit  für  nötig-  gehalt^i, 
die  Frage  d^  Schlaf  Zentrums  im  Gehirn  nachzuprüfen.  Aber  er  geht 
auf  logischem  Wege  vor,  ein  Weg,  dessen  Gefahren  allgemein  bekannt 
sind.  Er  behauptet  erstens,  daß  der  Schlaf  im  Verschwinden  der  Auf- 
merksamkeit oder  besser,  in  der  Lähmung  des  psychophysiologischen 
Vorgangs  der  Aufmerksamkeit  bestehe.  (Ich  bemerke  nebenbei,  daß  diese 
Behauptung  alt  ist.  Wir  finden  sie  zuerst  bei  Leibniz,  dann  bei  Wundt 
und  vielen  anderen,  bis  zu  Galasso,  Claparede  und  Kahane.)  Veronese 
sucht  zweitens  nach  dem  Sitz  der  Aufmerksamkeit  im  Gehirn  und 
verlegt  ihn,  abweichend  von  Wimdt  und  all  den  anderen  Psychophysiologen, 
nicht  in  die  Hirnrinde,  sondern  in  den  Sehhügel.  Er  beweist  seine 
Behauptung,  indem  er  die  große  Wichtigkeit  dieses  Gehirnteiles  und 
seine  engen  Beziehungen  zu  der  Hirnrinde  anführt,  auf  Grund 
deren  der  Sehhügel  von  Monakow  als  Vermittlimgsorgan  der  Rinde 
aufgefaßt  wird.  Aber  in  dieser  ganzen  logischen  Konstruktion  fehlt 
ein  kleiner  unentbehrlicher  Punkt:  der  Verfasser  hätte  beweisen  müssen, 
daß  nur  der  Sehhügel  und  kein  anderes  Organ,  nicht  einmal  die  Rinde, 
fähig  ist,  die  Fimktion  der  Aufmerksamkeit  auszulösen.  Wenn  er 
dies  aber  nicht  getan  hat,  ist  die  Annahme  gerechtfertigt,  daß  seine 
Hypothese  nicht  ökonomisch  ist;  dann  kann  man  sich  aber  mit  gleichem 
Rechte  der  bestehenden  Meinung  anschließen,  um  so  mehr  als  es  imer- 
klärt  bleibt,  warum  gerade  der  Sehhügel  von  jener  spezifischen  auf  der 
Anhäufung  dissimilatorischer  Produkte  beruhenden  Müdigkeit  betroffen 
werden  soll,  die  dem  Zustand  des  Schlafes  1  entspricht. 

1  über  die  Frage  des  Schlaf  Zentrums  siehe  auch  eine  Arbeit  von  Giannuli  (3i).  Die 
Literatur    über    das    Schlaf  Zentrum    ist    reichhaltig,    bezieht    sich    aber   fast    ausscldießlich 


m.-roLor.iscHE  i  nd  luuiiKiisciiE  Theorie  des  Schlafes       243 

Kurz:  Vl>^'\t^'luMi  von  gcwisstMi  psycliolopiachen,  beeoiidcns  schichten- 
mäßipon  Lokalisationon,  die  Bolton  und  einigen  modernen  Histologen  so 
gefallen,  die  jedodi  erst  einer  Be.stätigung  l)edürfen,  kann  man  nicht 
umlün,  deiij<Mii^'en  ruzustinunen,  welche  biJiaupten,  dafi  die  Uin<le  im 
Schlafe  tief  in  Mitleidenschaft  gezogen  ist.  Das  bringt  jedoch  noch  nicht 
eine  topographisch  aktive  Lokalisation  des  Schlafes  mit  sich.  Vielmehr 
ist  es  "v\alirscheinlich,  <laß  die  hypnogene  Substanz  eine  hemmende  Wirkung 
ausübt  luul  daher  auf  die  Nervenbahnen  in  derscJben  Weise  wirkt  wie 
gewisse»  Mittel,  welche  das  Bewußtsein  nicht  auflieben,  sondern  vielmehr 
wache  Delirien  bewirken. 

C.  HISTOLOGISCHE  UND  BIOLOGISCHE  THEORIE  DES 

SCHLAFES 

Die  Streitfrage  der  Lokalisation  des  Schlafes  fuhrt  jedoch  zu  der 
histologischen  Theorie  des  Schlafes  über,  die  manche  Physiologen  in 
der  Tat  allzu  freudig  begrüßten.  Jene  Theorie  oder  besser:  jene 
phantastische  Hypothese  entwickelte  sich  im  Schatten  anderer  Theorien 
und  phantastischer  Hypothesen,  die  aus  der  Neuronenlehre  ^  geschöpft 
waren.  Die  Beschreibimg  des  Zusammen  zieh  ungs-  und  Erschlaffungs- 
zustandes der  Rindendendriten  im  Schlaf  und  in  anderen  Zuständen, 
die  Demoor,  Querton,  Stefanowska  usw.  gegeben  haben,  sind  schon  wegen 
der  angewandten  Experimentalmethode  zu  verwerfen  (Tötung  von  Tieren 
im  Schlaf  und  im  Wachen).  Die  Beschreibungen  der  (nach  der  Golgi- 
Methode  behandelten)  Zellen  und  Fasern  der  Hirnrinde  von  selten  anderer 
Autoren  kommen  infolge  des  Umstandes,  daß  die  Beobachtungen  an 
Tieren  gemacht  wurden,  die  mit  giftigen  Schlafmitteln  und  Betäubimgs- 
mitteln  behandelt  waren,  ebenfalls  nicht  in  Betracht,  weil  die  angenommene 
Analogie  zwischen  physiologischem  Schlaf  und  künstlicher  Vergiftung 
der  Rindenzellen  durchaus  willkürlich  ist.  Noch  unhaltbarer  erscheinen 
die  histologischen  Beschreibungen,  Folgerungen  und  Hypothesen  von 
Rabl-Rückard,  Matthias  Duval,  Lepine  und  anderen,  wenn  man  bedenkt, 
daß  der  erwartete  Nachweis  amöboider  Bewegungen  der  Nervenzellen  aus- 
blieb ;  sie  begegneten  daher  auch  einer  scharfen  Kritik  von  selten  KöUikers 
und  Ramon  y  Cajals;  doch  brachte,  beeinflußt  durch  die  Hypothese  M. 
Duvals  (1898),  Ramon  y  Cajal  selbst  eine  andere  Hypothese  vor,  die 
der  Grundlagen  nicht  weniger  ermangelte,  und  die  er  selbst  später  iesis 
tan  estranibotica  (,,eine  ziemlich  abenteuerliche  Hypothese")  nannte.  Er 
schreibt  der  Neuroglia  eine  spezifische  Funktion  bei  der  geistigen  Tätig- 
keit zu.  So  glaubte  er,  daß  im  Zustand  der  Ruhe  und  des  Schlafes  die 
Ausläufer  der  Neurogliazellen  erschlafften,  während  sie  im  Wachzustand 
imd  bei  geistiger  Tätigkeit  sich  zusammenzögen,  derart,  daß  sie  im 
ersten  Falle  den  Kontakt  zwischen  den  Ästen  der  Neuronen  imd  den 
Zellkörpem    sowie    den    Durchgang    des    Nervenstroms    verhinderten    und 


auf    Gehirntumoren    (Righetti    1908,    Lugaro    1908,    Franceschi    190/»)    und    lethargische 
Encephalitisepidemien . 

^   Siehe    z.    B.    einen    Artikel    von    Ruiz    Rodriguez    (79). 

16» 


244         DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR,\UMES 

im  zweiten  Fall  ihn  erleichterten.  Durch  diesen  Mechanismus  der  Neu- 
roglia  hielt  es  Cajal  für  möglich,  nicht  nur  den  Übergang  vom  Schlaf 
zum  Wach-en  und  zu  den  Trävunen,  sondern  auch  im  allgemeinen  die 
Idoenassoziation  histologisch  zu  erklären;  aber  neuerdings  hat  der  spani- 
sche Histologe  seine  unbegründete  Hypothese  verworfen  i. 

Seit  imgefähr  i5  Jahren  spricht  man  von  einer  biologischen  Theorie 
des  Schlafes  (H.  Forster  und  G.  Brunelli).  Hier  jedoch  muß  ich  die 
Worte  wieder  anführen,  die  ich  in  meinem  Werke  von  1899  schrieb: 
„Alles  drängt  dazu,  daran  festzuhalten,  daß  der  Schlaf  als  ein  Beispiel 
des  großen  Gesetzes  der  Periodizität  und  des  Rhythmus  betrachtet  werden 
muß,  der  die  kosmischen  und  vitalen  Phänomene  beherrscht."  Ich 
beabsichtige  aber  durchaus  nicht,  die  Priorität  in  Anspruch  zu  nehmen! 
Die  biologische  Betrachtungsweise  des  Schlafes  geht  bis  in  ferne  Zeiten 
zurück,  und  sie  lag  sehr  nahe,  wenn  mian  bedenkt,  daß  alle  Lebens- 
erscheinungen eine  gegenseitige  .\bwechselung  und  Verkettung  von  Tätig- 
keit imd  Ruhe  miteinander  erfordern,  d.  h.  daß  sie  zyklische  Erschei- 
nungen sind.  Wir  finden  die  biologische  Theorie  schon  bei  Cabanis, 
Burdach  (i4)^.  Wundt  (2.  Ausgabe  der  Physiol.  Psychologie),  von 
andern  ganz  zu  schweigen. 

G.  Brunelli  (11,  12,  i3)  vertiefte  das  biologisch©  Problem  des  Schlafes 
im  Jahre  1908.  Für  ihn  ist  der  Schlaf  ein  Anpassungsphänomen,  das 
sich  im  Kampf  ums  Dasein  entwickelt.  Claparede  führte  i.  J.  1906  (i5) 
die  Idee  von  H.  Forster  (1900),  von  Brunelli  und  von  all  jenen  anderen 
Physiologen  weiter  aus,  von  denen  im  folgenden  die  Rede  sein  wird.  Nur 
betrachtete  er  das  Phänomen  von  innen  heraus,  übersetzte  die  Anpassung 
in  psychologische  Ausdrücke  und  nannte  sie  Instinkt  und  Reaktion  der 
Interesselosigkeit.  Für  ihn  wäre  der  Schlaf  verursacht  durch  eine  „reaction 
de  desinteret  pour  Ja  Situation  präsente."  Die  Ansicht  von  Claparede 
wurde  in  Frankreich  und  Italien  gut  aufgenommen,  aber  von  anderen 
abschätzig  beurteilt  (Lugaro)  und  scharfsinnig  kritisiert  (Pieron).  Daß 
der  Schlaf  ein  positives  und  zyklisches,  biologisches  Phänomen  ist,  läßt 
sich  nicht  bezweifeln.  Aber  die  Lehre  von  Claparede  enthält,  wie  so  viele 
Lehren  von  heutzutage,  einen  teleologischen  Gedanken  von  ausgesprochen 
philosophischem  Charakter  und  ist  infolgedessen  mit  den  Methoden  und 
den   Zwecken  der  Erfahrungswissenschaft  wenig  vereinbar. 

Die  Behauptung,  die  G.  Brimelli  schon  i.  J.  1902/08  aufstellte,  daß 
nämlich  jede  Untersuchung  des  Schlafes  und  der  verwandten  Zustände 
zwecklos  sei,  die  nicht  nach   genetischer   Methode  unternommen  würde. 


^  (73),  S.  3i8/3ig.  Der  Autor  nennt  die  Theorie  der  amöboiden  Bewegungen  der 
Neurogliazellen  eine  „osada  conceptwn  ctija  ingenuidad  me  hace  hol  sonreir"  („gewagte 
Vorstellung,    über  deren   Naivität   ich   heute   lächeln    muß"). 

^  Daselbst  eine  Geschichte  der  Schlaf-  und  Traumforschung  und  ein  Literaturnach- 
weis. Bei  diesem  Autor  finden  sich  Stellen  von  großem  Interesse  über  den  periodischen 
Ablauf  der  Lebenserscheinungen  wie  über  den  Schlaf  der  Tiere  und  der  Menschen 
und  seine  Träume.  Schon  damals  betrachtete  er  den  Schlaf  als  ein  periodisches  biolo- 
gisches Phänomen,  durch  welches  der  Schlafende  seinem  embryonalen  Leben  wieder 
angenähert   wird. 


HISTOLOGISCHE  IM)  hfOLOGISCHE  TllHORIE  DES  SCHLAFES  245 

fand  cino  weitroioheiulo  Ikslätigiing  in  tlon  bonicrkenswerton  Arbeiten 
und  l  iitersucluini^eii  lV»liinantis  (68,  08a).  Dieser  Autor  untcTsuchte 
den  l  rsprung  des  Schlafes  bei  den  ticrisclien  (Jaltungen,  die  Faktoren, 
die  ihn  l>e^instigen,  wie  das  Lager,  die  Abwesenheit  von  Reizen  usw., 
oder  welche  ihn  hemmen,  wie  der  Ihmfj:er,  die  Verteidifrunn^  usw.;  er 
untersuchte  seine  Tiefe  uiul  Dauer  in  Ixv.uj,''  auf  die  anderen  bioloj^ischen 
Funktionen,  wie  die  Sexualitiit,  und  <lie  anderen  inneren  und  äuliereii 
Faktoren,  z.  B.  die  Tem|x^ratur.  Nach  Polimanti  ist  der  Schlaf  ein 
biologisches  Phänomen  mit  rhythmischem  Ablauf  wie  alle  biologischen 
Phänomene.  Es  fehlt  bei  den  Seetieren  und  sogar  bei  den  Reptilien,  bei 
denen  man  niu-  die  .Vnfängo  des  Phänomens  beobachtet,  und  zwar  in 
Übereinstimmung  mit  der  schon  gut  eingeleiteten  Entwicklung  des  End- 
himes.  Bei  den  \  ögeln  tritt  der  Schlaf  deutlich  in  Erscheinung;  bei 
den  Säugetieren  nimmt  er  jene  Kennzeichen  der  Dauer,  der  Tiefe  un<l 
der  Verteilung  zwischen  Tag  und  Nacht  an,  welche  wir  schließlich 
beim  Menschen  antreffen. 

Ich  kann  mich  der  Ansicht  Polimantis  nicht  ganz  anschließen,  daß 
der  Schlaf  in  der  zoologischen  Stufenleiter  mit  dem  Auftreten  des  Endhirns 
beginne;  vielleicht  kann  das  zutreffen,  wenn  man  dem  Schlaf  die  bloße 
anthropomorphe  Bedeutung  beilegt;  aber  nicht  im  biologischen  Sinne, 
den  mit  Recht  Polimanti  dem  Schlafe  gibt.  Man  bedenke  indessen, 
daß  das  Schlafbedürfnis  in  seinen  Ursprüngen  in  kürzester  Zeil  befriedigt 
werden  kann  und  auch  tatsächlich  befriedigt  wird,  und  daß  daher  die 
Beobachtung  ein  Seetier  schwerlich  im  Schlaf  zustand  überraschen  kann. 
Dazu  kommt,  daß  meine  eigenen  Beobachtungen  nicht  ganz  für  die 
Auffassung  Polimantis  sprechen.  .\ber,  abgesehen  von  einigen  Vorbehalten 
im  einzelnen,  erscheint  mir  je<le  Kritik  an  der  biologischen  Theorie  des 
Schlafes  unangebracht.  Brunelli,  Polimanti,  Claparede  wie  die  alten 
Physiologen  —  von  Burdach  bis  Forster  —  haben  durchaus  recht.  Nur 
ist  jene  Theorie  unzulänglich  und  bedarf  eines  weiteren  Ausbaues;  über- 
dies wird  man  den  Schlaf  trotz  der  biologischen  Auffassung  nicht  ver- 
stehen lernen,  wenn  man  ihn  nicht  am  Menschen,  nämlich  in  seiner 
höchsten  Ausbildung,  untersucht. 

Ein  erster  unentbehrlicher  Zusatz  zur  biologischen  Definition  des 
Schlafes  muß  sich  auf  die  unmittelbare  Ursache  desselben  beziehen. 
Dabei  scheint  es,  daß  die  Hypnotoxintheorie  Pierons  ernsthaft  in  Betracht 
gezogen  werden  muß,  weil  sie  sich  auf  positive  Untersuchungen  stützt; 
aber  wir  müssen  uns  auch  in  zwei  anderen  I^mkten  an  Pieron  an- 
schließen, und  zwar:  i.  daß  das  Hypnotoxin,  d.  h.  die  Vergiftung, 
nur  mit  dem  unwiderstehlichen  Schlafbedürfnis  in  Verbindung  steht, 
aber  daß  der  Schlaf  nach  dem  Gesetz  der  Periodizität  eintreten  kann, 
ehe  das  Hypnotoxin  ihn  imvermeidlich  macht;  d.  h.,  daß  man  schläft, 
ohne  die  Vergiftung  abzuwarten,  ganz  ebenso,  wie  man  atmet,  ohne  erst 
die  Erstickung,  und  wie  man  ißt,  ohne  den  äußersten  Hungerzustand 
abzuwarten,  und  daß  der  Schlaf  von  anderen  Faktoren,  wae  Dunkelheit, 
Stille,  Körperlage,  Wille,  begünstigt  sein  kann;  2.  daß  in  jedem 
Falle  das  Hypnotoxin  indirekt  als  Reiz  wirkt,  indem  es  einen  Hemmungs- 


245 DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TRAUMES 

reflex    auslöst,    d.    h.    dem    Betreffenden    das    Interesse    für    die    Wirk- 
lichkeit  entzieht,    indem   es,    kurz    g-esagt,    seine   Aufmerksamkeit   lähmt. 
Jedoch  nicht  einmal  unter  diesen   Annahmen   erscheint  das  Phänomen 
des  Schlafes  vollständig-  aufg^eklärt. 

D.  EINSCHLAFEN  UND   ERWACHEN 

Wir  müssen  vielmehr  einsehen,  in  welcher  Art  das  Toxin  oder  die 
biologische  Gesetzmäßigkeit  oder  die  Grew^ohnheit  jenen  hemmenden  Reflex 
hervorruft,  der,  wenn  er  tatsächlich  eintritt,  ,,Sclilaf"  genannt  wird.  In 
psychologischer  Ausdrucksweise:  wir  müssen  die  Arten  der  Entstehung 
des  Traumbewußtseins  (Einschlafen)  imd  diejenigen  der  Wiederkehr 
des  Wachbewußtseins  (Erwachen)   festlegen. 

Es  herrscht  darin  Übereinstimmung,  daß  im  Schlafe  die  sensomotori- 
schen  Funktionen  und  noch  mehr  die  motorische  Reflextätigkeit  spezifisch 
herabgesetzt  sind.  Sicher  sind  während  des  Schlafes  alle  Schwellen 
beträchtlich  erhöht,  imd  je  tiefer  der  SchJaf  ist,  desto  höher  steigen 
die  Reizschwellen  aller  Sinnesgebiete  an,  wenn  schon  in  verschiedenem 
Maße.  Patrizi  (63)  untersuchte  die  vasomotorischen  Reflexe;  während 
im  Wachen  die  Reflexzeit  für  Sinnesreize  am  Arm  ungefähr  3"  und 
am  Bein  5"  beträgt,  ist  sie  im  Schlafe  viel  länger;  aber  die  Pieflex- 
zeit  nimmt  vom  Gehirn  zum  Arm  allmählich  ab  und  ist  in  den  Gefäßen 
der  unteren  Extremität  nicht  mehr  festzustellen.  Die  Rinde  ist  weniger 
empfindlich  gegen  künstliche  Reize,  und  die  Pupillen-,  Hautmuskel- 
und  Sehnenreflexe  nehmen  ab  (Pieron  und  Toulouse). 

Wie  die  Sinne  allmählich  einschlafen  und  die  Reizbeantwortung  nach 
und  nach  erlischt,  ist  eine  ganz  bekannte  Tatsache.  Nach  Abschluß 
unseres  Tagewerks  legen  wir  uns  nieder,  imd  bald  danach  beginnt  das 
Stadium  des  Vorschlafes  (Praedormitium)  oder  die  hypnagoge  oder 
praehypnische  Periode  (von  Baillager,  Maur>,  Claparede,  Trömner, 
Salmon  u.  a.  untersucht).  Über  die  hypnagogen  oder  prähypnischen 
Halluzinationen  gibt  es  bereits  eine  so  umfangreiche  Literatur,  daß  es 
unnötig  ist,  darauf  einzugehen.  Wenn  wir  uns  hingelegt  haben,  kommt 
es  entweder  vor,  daß  die  Vergiftungen  und  Hemmungen,  die  den  Schlaf 
hervorrufen,  erheblich  sind,  und  der  Schlaf  mit  Notwendigkeit  eintritt, 
oder,  wie  es  öfter  geschieht,  wir  selbst  vollbringen  ,,den  Verzicht"  auf 
das  Bewußtsein  des  Wachzustandes  durch  einen  Willensakt:  das  Schlafen- 
wollen. Die  Pforten  des  Wachbewußtseins  schließen  und  die  des  Traum- 
bewußtseins öffnen  sich.  Es  ist  richtig,  daß  der  Schlaf  oft  ein  der 
Selbsthypnose  ganz  ähnlicher  Prozeß  ist.  Wir  können  die  gradweise 
Unterdrückung  der  Außenreize  verfolgen  (wobei  unser  Wille  helfend 
eingreifen  kann),  nämlich  die  fortschreitende  Abstumpfung  imseres 
Empfindungsvermögens  und  unserer  Aufmerksamkeit.  In  einigen  Fällen 
empfand  ich,  wie  nach  und  nach  die  Lähmung  meiner  Aufmerksamkeit 
entstand:  während  ich  mit  dem  Willen  die  Gedanken  auf  einen  Gegen- 
stand richtete,  merkte  ich  das  Eindringen  fremder  Bilder  und  Lücken 
in  meiner  Gedankenreihe,  bis  diese  Bilder  mein  oranzes  Bewußtseinsfeld 
einnahmen  und  die  Gedanken  endgültig  verdrängt  waren. 


EINSCHLAFEN  UND  ERWACHEN 247 

Der  Augenblick  des  EinschiafonÄ  ist  violleicht  unbewußt;  wenigstens 
wird  jener  kurze  Augenblick  nicht  erinnert,  so  daß  dieser  „Sprung" 
ininier  eine  L  iibekannto  bleibt.  Nachdem  der  Augenblick  scheinbaren 
Todes  über>vunden  ist,  sind  wir  in  der  Welt  der  Träume.  Ist  dieser 
Zustand  eingetreten,  so  ist  die  Phantasie  frei,  und  die  Phantasmen 
ei-scheinen ;  innerhalb  der  Trauminhalte  Ix^ginnt  der  Prozeß  der  Um- 
wandlung und  der  Dissoziation.  Das  \\  achl)ewußtsein  verflüchtigt  sich 
nach  und  nach  in  das  Traumbe^^'ußtsein  oder  lx>sser,  es  weicht  dem 
eindringenden  Traumbe\N'ußtsein.  Dieses  herrscht  seinerseits,  solange  der 
Schlaf  dauert,  aber  es  weicht  -wiederum  nach  und  nach  zurück  mit 
der  \\iederkehr  des  Wachbewüßtseins. 

Das  Wiederenvachen  kündigt  sich  durch  den  sogenannten  Zustand 
des  allgemein  als  ,, Halbschlaf"  bezeichneten  ,,  Nachschlaf  es"  (Post- 
dormitium  oder  expergef  actio  [Haller])  an,  das  Traumbewußt- 
sein  verflüchtigt  sich  stufenweise  in  das  Wachbewußtsein.  Man  kann 
jedoch  sagen,  daß  jeder  Traum  sich  in  den  Wachzustand  hinein  ver- 
längert. Im  Postdormitium  (dessen  Dauer  von  Fall  zu  Fall  bei 
den  verschiedenen  Individuen  imd  je  nach  der  Krankheit  variiert:  bei 
den  Epileptikern  ist  sie  länger,  >vie  Neyroz  und  ich  gefunden  haben) 
verharren  die  Spuren  des  Traunibe>\Tiß1seins ;  gerade  dann  treten  alle 
die  Nachtraumerscheinungen  auf.  Schon  Homer  sagt  von  Agamemnon, 
daß  die  Stimme  des  Zeus,  die  er  im  Schlafe  gehört  hatte,  noch  vor 
seinen  Ohren  widerhallte,  als  er  schon  wach  war.  Hier  noch  eine 
persönliche  Beobachtung,  die  ich  meinen  jüngsten  Protokollen  entnehme. 

Protokoll:  Nacht  vom  3o.  Mai  191 4.  Ich  erwache  um  6.3o  Uhr  mit  deutlicher  Er- 
innerung an  folgenden  Traum:  Ich  finde  einen  kleinen  Schatz  in  einem  alten  Hause. 
An  den  kleinen  Goldklumpen  ist  ein  Zettel  geheftet,  der  den  Namen  meines  reichen 
alten  Venvandten  mit  dem  Datum  i357  trägt;  jedoch  ist  der  Name  und  das  Datum 
mit  schöner  Elzeviertvpe  gedruckt.  Während  des  Schlafes  bemerke  ich  den  Widerspruch 
zwischen  dem  Datum  und  dem  Druck ;  aber  dennoch  wrd  der  Widerspruch  von 
mir  hingenommen.  Lm  6,35  Uhr  schreibe  ich  dieses  kleine  Protokoll  nieder  imd 
sehe  dabei  den  Widerspruch  ein,  merke  aber  noch  nicht  dessen  Ungeheuerlichkeit. 
Erst  nachdem  ich  geschrieben  habe  und  den  gehabten  Traum  überdenke,  lächle  ich 
über  die  Seltsamkeit  eines  Elzevierdruckes,  der  das  Datum  i357  trägt! 

Ich  führe  Protokolle  an,  um  die  Erscheinungen  zu  erläutern,  die  im 
Postdormitium  und  auch  nach  dem  vollständigen  Erwachen  auftreten 
können. 

Protokoll:  Nacht  vom  19.  Juni  1914.  Sclmelle  Niederschrift  am  Morgen,  kaum 
erwacht.  Gestern  ein  anstrengender  Tag,  legte  mich  müde  nieder.  Schneller,  leb- 
hafter, klarer,  ergreifender  Traum:  Ein  Mädchen  im  Bett.  Ich  schaue  sie  an;  ich 
kenne  sie  nicht,  aber  ich  bemerke,  daß  sie  sich  unter  meinem  Blick  nach  und  nach 
verändert;  sie  wird  bläulich  im  Gesicht,  sie  erscheint  mir  von  Binden  umwickelt;  ich 
frage:  wer  bist  du?  Ich  erkenne  sie:  es  ist  meine  Frau;  sie  ringt  mit  dem  Tode 
und  ruft  mich  mit  sehr  schwacher  Stimme:  ,,Santuzzo!"  Ich  erwache;  es  ist  nachts 
i,3o  Uhr.  Ich  präge  mir  den  Traum  ein.  Nach  einigen  .Minuten  lege  ich  mich  zurecht, 
um  weiterzuschlafen.  aber  nach  einiger  Zeit  höre  ich,  auf  der  linken  Seite  liegend, 
die  Stimme  meiner  Frau,  die  mich  ruft:  ..Santino!"  Ich  war  gut  wach  (posthvpnische 
Halluzination  des  Gehörs). 

Die  Nachtraumphänomene  sind  selten ;  aber  es  kommen  sogar  physische 
Erscheinungen  mit  Bezug  auf  den   gehabten  Traum  vor,   z.   B.    Zittern, 


248    DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES   

Lähmungen,    Kontrakturen    (die    Fälle    von    P.    Janet)    usw.,    die   ich    in 
meinen   Büchern  erwähnt  habe. 

Die  Ungereimtheit  des  Traumes  erkennt  man  manchmal  nicht  gleich 
nach  dem  Erwachen;    hier  ein   Beispiel: 

Protokoll:  Nacht  vom  26.  April  1916.  Geschrieben  am  Morgen  des  27.,  um  8  Uhr. 
LtLhafter,  vollständiger  Traum  emer  Auferstehung.  Der  Fall  wird  erörtert,  aber  ich 
überzeuge  mich  angesichts  der  Tatsache;  dem  Toten  schlägt  das  Herz;  ich  lasse  es  von 
einer  Ärztiji,  meiner  Assistentin,  feststellen.  Es  war  sogar  eine  vor  vielen  .Tahren  ver- 
storbene bekannte  Persönlichkeit,  vielleicht  eine  historische  Persönlichkeit?  Im  Traume 
denke  ich  an  die  Theorie  der  drei  Todesarten:  Tod  der  Sinne  (die  gewöhnliche),  Tod 
der  Seele;  an  die  dritte  Art  erinnere  ich  mich  nicht.  Mehrmals  in  der  Nacht  erwache 
ich  und  denke  wieder  an  den  Traum  und  verstehe  gut,  daß  es  ein  Traum  war,  aber 
korrigiere  die  Traimiüberzeugung  von  der  Auferstehung  nicht  ganz.  Jetzt  —  8  Uhr  — 
nehme   ich    eine  vollständige    Berichtigung   vor;    ich    verstehe   die    Ungereimtheit. 

Das  bedeutet,  daß  die  Rückkehr  zum  Wachen,  d.  h.  die  Entfernung 
des  Schlafhindernisses,  langsam  imd  unter  Schwankungen  eintritt. 
Hierin  gibt  es  bedeutende  individuelle  Abweichungen,  aber  die  Art  des 
Erwachens  ist  bei  allen  die  gleiche.  Bei  den  Epileptikern  z.  B.  findet 
man  ein  verspätetes  Erwachen  der  Sinne.  Ich  habe  beobachtet,  daß  das 
Erwachen  im  wesentlichen  dadurch  bestimmt  wird,  daß  die  Sinnes- 
organe ihre  Tätigkeit  aufnehmen,  und  wenn  das  Erwachen  dem  Tätig- 
werden  der  Sinne  entspricht,  so  kann  man  folgern,  daß  der  Schlaf  im 
allgemeinen  ihrem  Untätigwerden  entspricht.  Ich  habe  bemerkt,  daß 
sich,  wenn  man  einer  Person,  die  im  Begriffe  ist,  zu  erwachen,  die 
Sinnesreize  entzieht  oder  fernhält,  das  Erwachen  wenigstens  für  eine 
gewisse  Zeit  hemmen,  d.  h.  hinausschieben  läi^t.  Den  beweiskräftigsten 
Versuch  kann  jedermann  bei  sich  selbst  anstellen,  wenn  er  die  Augen- 
lider geschlossen  hält  oder  den  Kopf  unter  die  Decke  steckt.  Das 
Öffnen  der  Augen,  also  das  Sehen,  bestinunt  die  Rückkehr  des  Be^vußt- 
seins,  nämlich  die  Entfernung  des  Schlafhmdernisses.  Nach  dem  Er- 
wachen mit  einem  lebhaften  Traum  im  Sinne  gescliieht  es  mir  zuweilen, 
daß  sich,  wenn  ich  die  Augen  offen  halte,  die  Bilder  und  Überzeugungen 
des  Traumes  schnell  verflüchtigen;  aber  wenn  ich  dann  die  Augen 
selbst  durch  einen  Willensakt  wieder  schließe,  können  sie  andauern,  und 
das  Traumbe\\aißtsein  bleibt  durch  das  Verharren  des  Trauminhaltes 
im  geistigen    Blickfeld  erhalten. 

Es  ist  hier  nicht  am  Platze,  sich  mit  den  Nachtraumbildern,  den 
verlängerten  Gemütsbewegungen  des  Traumes  imd  dem  Eindringen  des 
T^aumbe^A'ußtseins  in  das  Wachbewußtsein  aufzuhalten.  Zuweilen  ver- 
längert sich  das  Tramiibe\A-ußtsein  in  das  Wachbe^vußtsein  hinein  oder 
überschwemmt  es;  d.  h.,  die  Wirklichkeit  des  Trauma  überdeckt  wegen 
der  Lebhaftigkeit  ihrer  Inhalte  die  Wirklichkeit  des  Wachens,  auch 
nachdem  der  Schlafzustand  beendet  ist.  Es  handelt  sich  dabei  um 
pathologische  Fälle,  die  ich  ausführlich  erläutert  habe  („Wachtraum- 
zustände"),  und  für  idie  Dr.  Marro^  (54)  jüngst  ein  schönes  Beispiel 
erbracht  hat. 


1  Man  beachte  wohl :  die  Wachtraumzustände  haben  nichts  zu  tun  mit  den 
Traumdelirien,  die  Regis  besclireibt.  Nebenher  sei  erwähnt,  daß  die  von  Dr.  Marix) 
angestellte   Psychoanalyse  in   seinem    Fall    keinen    Sexualkomplex   enthüllte. 


DIE  TIKFE  DES  SCHLAFES  IM)  DIKTRÄl^ME 249 

Spilta,  Dclboouf  und  noch  später  Foucault  (26)  haben  die  Organi- 
sa tJd  11. sarlx'it  Ix^schriolH'ii,  Nvflcher  der  Traum  unterliegt,  sobald  der  Schlaf 
beendet  ist.  Fouciudl  hat  von  der  Evolution  <les  Traumes  gesprochen, 
die  er  auf  den  Vergleich  seiner  unmittelbaren  Notizen  über  den  Traum 
{notes  immediatcs)  mit  später  niedergeschriebenen  Erinnerungen 
{difjerees)  begründete.  .Nach  Foucault  wäre  somit  der  Traum  das 
Erg<4>nife  einer  doppelten  Arl)eit,  einer  Arbeit  logischer  KonsLniktion, 
welche,  vor  dem  \\  iedererwachen  begonnen,  hauptsächlich  in  der  Peri(xlo 
des  \\  it^lererNvachens  ziLstando  kommt  un<l  dann  fortgesetzt  wird,  und 
einer  automatischen  Arbeit  während  des  Schlafes.  Das  bestätigt  den 
langsamen    Übergang   des   Traumbewoißtseins    in    das    Wachbewußtsein  1.^ 

E.    DIE  TIEFE   DES   SCHLAFES   UND  DIE   TRÄUME 

Vielleicht  die  wichtigste  Frage  ist  die  nach  der  Quantität  des 
Schlafes  bei  den  Individuen  unserer  Himmel  striche,  deren  Leben  und 
Arbeit  sich  nach  modernen  Gewohnheiten  regelt.  Aber  das  Maß  der 
Quantität  war  nur  soweit  von  Wichtigkeit,  als  es  das  Maß  der  Inten- 
sität einschließen  konnte. 

Wenn  im  Schlafe  die  Reizschwelle  erhöht  ist,  so  folgt  daraus,  daß 
seine  Intensität  dadurch  gemessen  werden  kann,  daß  man  die  Stärke  eines 
gegebenen  Reizes  mißt,  den  man  auf  den  Schlafenden  einwirken  läßt. 
Je  intensiver  der  Reiz  ist,  der  angewendet  werden  muß,  um  einen 
Schlafenden  zu  wecken,  desto  tiefer  wird  sein  Schlaf  gewesen  sein. 
Auf  dieses  Prinzip  gründen  sich  die  Methoden,  die  verschiedene  Autoren 
venvenden,  um  die  Tiefe  des  Schlafes  zu  verschiedenen  Stunden  der 
Nacht  zu  messen   und  um   die  Schlafkurve  zu   konstruieren  -. 

Das  Messen  der  Tiefe  oder  der  Intensität  des  Schlafes  war  schon 
in  sehr  früher  Zeit^  ein  Gegenstand  der  Untersuchung,  aber  es  mußten 
noch  genauere  Methoden  zur  Konstruktion  der  Kurve  ausgearbeitet  werden ; 
es  erschien  zweckmäßiger,  die  Versuche  anstatt  an  der  eigenen  Person 
an  fremden  Personen,  wenn  auch  nur  zur  Kontrolle,  anzustellen,  ver- 
schiedene Reize  zu  verwenden,  vielfältige  Erregungen  henorzurufen,  anstatt 
die  Kurve  nur  aus   4   oder  5   Werten   zu   konstruieren. 


1  Der  von  Foucault  beobachteten  Tatsache  könnte  icli  entgegenstellen,  daß  die  Evolution 
bisweilen  im  umgekehrten  Verhältnis  stattfindet.  In  diesem  Fall  wacht  man  mit  dem 
klar  zusammenhängenden  Traum  im  Gedächtnis  auf  (notes  immediates),  und 
sofort  beginnt  er  sich  allmählich  zu  verflüchtigen  und  dunkel  und  dann  unbestimmt  zu 
werden.  Wie  es  auch  sein  mag,  wir  führen  die  logische  Vervollständigung  des  Traumes 
bewußt  durch;  wir  wissen,  daß  wir  unsern  Traum  nur  mit  Schwierigkeit  ausdrücken, 
und  daß  wir  ihn  ergänzen.  Dann  gehört  aber  jener  Moment  nicht  mehr  dem  Traum- 
bewußtsein,   sondern    dem    Wachbewußtsein    an. 

2  Über  die  Methode,  Anhaltspunkte  für  die  Konstruktion  der  Kurve  zu  gewinnen,  siehe 
89,  S.  207  ff.  Dort  findet  sich  auch  die  betreffende  Literatur  und  die  Beschreibung 
der  von  Kohlschütter,  Mönninghoff  und  Piesberger,  Michelson  und  Czemy  tind  be- 
sonders von  Lambranzi  angewandten  Methoden. 

3  Spilta  (102,  S.  3i  ff.).  Der  Verfasser  spricht  dort  über  das  Messen  der  Schlaf- 
intensität.  Er  wendete  die  Methode  des  Enveckens  und  des  Akumeters  (Schall- 
pendels)   an. 


250 


DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE     DES     TRAUMES 


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Gesunde    Schlaf  tief  enkur\e    (nach    Kraepelin,    4o.    I-    S.    289).     ,.Die   Abszissen  geben    die 

Nachtstunden,     die    Ordinate«    Schallstärken     in    Grammzentimetern    an,     wie    sie    durch 

fallende    Stahlku^eln    auf    einer    Elfenbeinunterlaare    erzeugt    werden." 


i'  I  M  h^^ 

«         5          I         3          *  ;         s         T        i 


Fig.  4. 

Kurve  der  Schlaftiefe  nach  F.  Hacker  (a.  a.  O.).  Michelsonsche  Methode.  ,,E>er 
Fallapparat  bestand  aus  einem  Gestell  mit  einem  verschiebbaren  Eisenring,  durch  den 
man  die  Kugel  auf  das  Fallbrett,  das  aus  dickem  Eichenliolze  bestand,  auffallen  lassen 
koimte.  Die  Störung,  die  durch  die  Anwesenheit  des  E.\perimentators  bedingt  war. 
und  die  Michelson  durch  seine  Versuchsanordnung  vermieden  hatte,  konnte  ich  bei 
meinen  Versuchen  nicht  umgehen,  doch  war  sie.  glaube  ich.  nicht  so  groß,  daß  sie 
sehr  in  Betracht  käme.  EHe  Versuche  ^viirden  in  den  Monaten  August  und  Dezember 
1910  und  Januar  191 1  an  3o  einzelnen  Tagen  ausgeführt.  Das  Erwecken  wurde  in  jeder 
Nacht  immer  nur  einmal  herbeigeführt.  Die  gewonnene  Kurve  entspricht  ungefähr 
denen  von  Michelson.  also  den  ausgeprägteren  Morgentypen.  Ich  zeige  auch  selbst  eine 
starke  Morgendisposition.  Ich  bin  in  der  Frühe  besonders  frisch,  dagegen  abends  bald 
müde  und  gehe  zeitig  zu  Bett.  Hervortretend  an  der  Kurve  ist  der  rasche  Anstieg  imd 
die  relative   Höhe,  auf  der  sie  sich  bis  zur  dritten  Stunde  hält." 


Unter  den  Reizen,  die  zum  Erwecken  verwendet  wurden,  wurde  der 
Gehörreiz  bevorzugt  (Kohlschütter,  Michelson,  Kräpelin  [Textfig^.  3], 
Hacker  [Textfig.  4]),  aber  um  ganz  genau  zu  sein,  müßte  man  ver- 
schiedene Reize  anwenden,  daraus  verschiedene  Kurven  und  aus  diesen 
schließlich   eine    Mittelkurve    konstruieren;     denn    die    Schwelle   des    Er- 


PIK  TIKFK  DKS  SCHLAFES  UND  DIE  TRAUME 251^ 

Wachens  wechselt  je  nach  den  verschiedenen  Reizen  in  den  verschiedenen 
Phasen   des   Schlafes. 

Lanil)ranzi  [\i))  stininite  meiner  Kritik  bei  und  suchte  die  Methotle 
zu  verbessern. 

Die  vorschi<Hlenen  Kurven  liaben  alle  einip-e  q-enieinsame  Punkte,  d.  h. 
daß  trotz  der  \erschiedenheit  <ler  Methoden  alle  die  wirklichen  \erhältnisse 
darstelN'ii ;  aber  sie  zeigen  erhebliche  l  ntei-schi<Mle,  die  auf  die  Rechnung 
der  angewandten  MeÜiode  und  mehr  noch  vielleicht  auf  die  der  indi- 
vi<luellen  Verschiedenlieiten,  besonders  des  Geschlechts  und  Alters,  zu 
setzen  sind.  Ich  halte  es  fCu*  überflüssig,  von  allen  Schlafkiu-vcn  zu 
sprechen,  die  bisher  konstruiert  wurden,  und  werde  nur  einiges  über 
the  Kurve  von  Lambranzi  und  die  meine  anführen. 

Lambranzi  fand,  daß  die  Kurve  der  Scldaftiefe  im  Verlauf  von 
8  Stunden  in  der  i.  Stunde  schnell  ansteigt  und  den  Höhepunkt 
in  der  i.  Hälfte  der  2.  Stunde  erreicht,  sodann  anfänglich  sehr 
schnell,  später  langsam  heraibsinkt  und  sich  von  der  2.  bis  5.  Stunde 
auf  einer  geringen,  von  Schwankungen  mehr  oder  weniger  luiter- 
hrcKrhenen  Höhe  hält;  um  die  Mitte  der  6.  Stunde  findet  ein 
neuer  Anstieg  statt,  dem  ein  zuerst  schnelles,  dann  langsames  .Vbsinke«! 
folgt.  Dieser  Verlauf  unterscheidet  sich  nicht  sehr  von  den  anderen 
Kurven,  aber  in  der  Periode,  die  etwa  von  der  Mitte  der  6.  Stunde 
bis  zum  Erwachen  reicht,  beobachtet  man  einen  bemerkenswerten  Unter- 
!K:hied:  die  Kurve  zeigt  oft  ein  Wiederansteigen,  das,  nach  Lambranzi, 
in  den  meisten  Fällen  zur  Traum tätigkeit  in  Beziehung  stehen  soll. 
Der  Schlafende  soll  den  Gehörreiz  wahrnehnnen,  aber  nicht  ganz  er- 
wachen, weil  er  im  Traum  verharrt  und  das  gehörte  Geräusch  in  den- 
selben hineinverarbeitet.  Diese  Annahme  erscheint  mir  durchaus  g^ 
rechtfertigt;  wenn  die  Aufmerksamkeit  des  Schlafenden  im  Traum  be- 
schäftigt ist,  erhöht  sich  in  der  Tat  die  Reizschwelle,  und  das  könnte 
nicht  nur  in  der  6.  Stunde,  sondern  auch  in  allen  anderen  Stunden 
des   Schlafs   vorkommen. 

Die  Kurve  von  De  Sanctis-Neyroz  1  (96)  legt  großes  Gewicht  sowohl 
auf  den  Beginn  des  Erwachens  nach  einem  Reiz  wie  auf  das  vollständige 
Erwachen;  folglich  haben  wir  2  Kurven  konstruiert:  eine  der  be- 
wußten Reaktion  auf  den  Reiz  (vollständiges  Erwachen),  d.  i. 
die  eigentliche  Kurve  der  Schlaftiefe,  und  eine  der  unterbewußten 
Reaktion  (unvollständiges  Erwachen).  Unsere  Versuche  betrafen  auch 
psychopathische  Personen ;  doch  gehört  diese  Frage  mehr  in  das  Gebiet 
der  pathologischen  Individualpsychologie  als  in  die  allgemeine  Psychologie. 

Uns  dagegen  interessiert  an  der  Schlafkurve  am  meisten  der  Umstand, 
daß  im  Grunde  genommen  der  wahre  Schlaf  auf  die  i.  Phase  der 
Kurve  beschränkt  ist  (Textfig.  5).  Der  Mensch  schläft,  mit  Rücksicht 
auf  seine  Gewohnheiten  und  besonders  auf  die  Gewohnheit,  seine  weniger 
dringenden  geringeren  Bedürfnisse  völlig  zu  befriedigen,  viel  mehr,  als 
ihm  nötig  ist,  und,  was  noch  mehr  ins  Gewicht  fällt,  er  gibt  sich  an 
Stelle  der  vom   müden   Organismus   geforderten   Ruhe  einem  von   för- 


1  Ich  gebe  hier  die    Kurven   nicht   wieder,   die  schon  in   89   dargestellt  sind. 


252 


DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\UMES 


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i'ig.   o. 

Kurve  der  Schlaftiefe  (nach  De  Saudis  und  Neyroz,  96.  S.  161/2).  Versuche  mit 
oinem  Griesbachschen  Ästhesiometer  mit  abgestumpften  Spitzen  an  einer  normalen 
mi-nnhchen  Versuchsperson.  Kurve  der  bew-ußten  Reaktionen  (ausgezogene  Linie), 
Kurve  der  unterbewiifSten  Reaktionen  (punktierte  Linie).  Traumkurve  'gestrichelte  Linie). 
Das  Vorhandensein  von  Träumen  wird  durch  die  Erhebungen  der  Kurve  angezeigt. 
Man  beachte  die  Seltenheit  der  Träume  in  der  ersten  Hälfte  des  Schlafes  (Tiefschlaf) 
und  ihre  verhältnismäßige  Häufigkeit  in  der  zweiten  Hälfte  (leichter  Schlaf).  Die 
Zahlen  auf  der  Ordinate  geben  die  Größe  der  Druckreize  nach  den  beiden  überein- 
anderstehenden  Skalen  des  Griesbachschen  Ästhesiometers  an.  Je  höher  die  Kune,  umso 
größer  daher  auch  die   Schlaftiefe. 


dernden  Hilfsmitteln,  ^vie  Dunkelheit,  Stille,  Isolierung,  Ünbeweglichkeit, 
Lager  usw.,  unterstützten  Schlafe  hin!  Nur  die  i.  Phase  des 
Schlafes  entspringt  einem  biologischen  Bedürfnis;  die  anderen  Phasen 
sind  die  des  Luxusschlafes.  Der  Bedürfnisschlaf  ist  instinktiv, 
die  Erscheinung  eine  biologische,  zyklische  und  unabwendliche;  der 
andere  ist  im  Anfang  als  Schlaf  gewollt  und  A\ärd  dann  zm*  Gewohn- 
heit;  so  "wie  der  Schlaf  am  Tage,  der  sich  in  verschiedener  Hinsicht 
von  dem  nächtlichen,  erfrischenderen  und  tieferen  Schlaf  unterscheidet, 
ein  Produkt  der  Gewohnheit  ist  (Vaschide  [11 3]).  Ich  finde  diese 
Bemerkimg  bei  Polimanti,  der  auch  von  diesem  Gesichtspunkt  aus  den 
Schlaf  den  anderen  biologischen  Erscheinungen  annähert.  Ißt  man  wirk- 
lich immer  nur  aus  Hmiger?  Übt  man  den  Geschlechtsverkehr  immer 
nur  aus  sexuellem  Bedürfnis  aus?  Nein:  der  Wille,  die  Sitte,  die 
Gewohnheit  haben  die  Bedürfnisse  ausgedehnt.  Deshalb  wird  der  Schlaf 
zum  Teil  vom  Willen  des  Schlafenden  beherrscht.  Er  kann  nicht  seinen 
Traum  beherrschen  und  ihn  voraussehen,  aber  er  kann  seinen  Schlaf 
beherrschen.  Das  gewollte  Erwachen  ist  eine  bekannte  Tatsache.  Noch 
geAvöhnlicher  ist  der  gewollte  \Mderstand  gegen  den  Schlaf  und  der 
Entschluß,  einzuschlafen.  Lm  jedoch  die  Beziehungen  z\\dschen  Schlaf 
und  Willen  richtig  zu  verstehen,  darf  man  die  Phasen  des  Schlafes 
nicht  vergessen.  Nach  meiner  Erfahrung  sind  der  Tagesschlaf, 
der  nächtliche  Schlaf  (im  eigentlichen  Sinne)  und  der  morgend- 
liche am  leichtesten   zu  beherrschen,  sch-sverer  der  abendliche   (der 


DIE  TIEFE  DES  SCHLAFES  UND  ÜIE  TRvL'ME 253 

erste  Schlaf),  der  zugleich  der  tiefste  ist.  Wer  am  Abeiul  iiiclil  schlafen 
Nvill,  g-eht  iiicIil  ins  lielt.  l  lul  dali  der  Wille  bis  zu  einem  ,ir<'!wissen 
(irado  den  Schlaf  iK^herrschen  kaim,  vei-stehl  man,  wenn  man  l)edenkt,  daß 
tho  absichtliche  Aufmerksamkeit  EinflulS  auf  die  Reizschwelle  und  auf 
den  Muskeltonus  ausüben  kann^. 

Für  tlen  Psychologen  ist  jedoch  die  Phase  des  Luxusschlafes  ebenso 
wichtig  wie  die  dt>s  Ikxlüifnisschlafes,  weil  jene  dem  Zustand  der 
„Träumerei"  näher  konuiit  als  dii«e  und  daher  mehr  von  erinnenmgs- 
fähigen  Träumen  belebt  ist. 

Sicherlich  variieren  die  Träume  je  nach  der  Tiefe  des  Schlafes, 
d.  h.  je  nach  den  verschiedenen  Phasen  der  Kurve.  Bekanntlich  be- 
haupten viele  Autoren,  daß  die  Träume  imr  im  leichtesten  Schlaf,  im 
hvpnagogen  Zustand  und  im  Augenblick  des  Erwachens  auftreten.  Ich 
glaube  es  nicht.  Gewiß  verlangsamen  und  erschweren  angenehme  oder 
interessante  Träume  das  Erwachen.  Zuweilen  hat  man  das  Gefühl, 
als  wolle  majn  den  Traum  hinausziehen.  In  diesem  Fall  ist  der 
Schlaf  nicht  sehr  tief;  hier  nähert  man  sich  dem  Zustand  des  Prä- 
oder Postdormitiums  und  der  ,,  Trau  merei ".  Gerade  in 
diesen  Zuständen  kann  der  Wille  —  in  begrenztem  Maße  —  auf  die 
Phantasie  einwirken.  Die  am  häufigsten  angenommene  Beziehung  zwischen 
den  Träumen  und  der  Tiefe  des  Schlafes  wurde  schon  von  Heerwagen 
ausgesprochen:  je  leichter  der  Schlaf  ist,  desto  mehr  träumt  mau.  Die 
Menge  erinnerungsfähiger  Träume  im  sommerlichen  Tagesschlaf  beweist 
seine  geringe  Tiefe  im  Gegensatz  zum  nächtlichen  Schlaf. 

Der  größte  Teil  der  Veränderungen  im  Ablauf  unserer  Träume  ist 
durch  die  Schwankungen  der  Schlaftiefe  veranlaßt.  Gerade  von  dem 
Grad  der  Tiefe  hängen  die  Wirksamkeit  oder  Unwirksamkeit  des  un- 
mittelbaren Reizes,  die  Abgeschmacktheit  oder  die  Logik  des  Traumes 
imd  nach  Stepanoff  auch  die  Anzeichen  von  Verwunderung  imd  Erstaunen 
ab,  die  der  Träumer  zuweilen  angesichts  gewisser  schneller  Veränderungen 
in  seinem  Tramn  erkennen  läßt. 

Darin  liegt  nichts  Überraschendes.  Je  tiefer  der  Schlaf  ist,  desto 
fester  ist  man  im  Traumbewußtsein  befangen.  Die  Tiefenschwankungen 
vermindern  auch  die  Tiefe  des  Traumlse wußtsei ns  und  folglich  die  An- 
näherung an  das  Wachbewußtsein.  Diese  Beziehungen  zwischen  Traum- 
und Wachbewußtsein,  w^elche  den  Graden  der  Schlaftiefe  parallel  laufen, 
wurden  von  Stepanoff  ausführlich  bestätigt.  Ich  behaupte  noch  mehr: 
Die  logische  Verarbeitung  gewisser  Einzelheiten  des  Traumes  während 
des  Traumes  stammt  aus  kurzen  unvollständigen  Phasen  des  Ei"wachens, 
d.  h.  aus  Phasen  eines  schnellen  und  tiefen  Herabsinkens  der  Schlaf  kurve  '-. 
Claparede  beobachtete,  daß  die  Träume  des  ersten  Einschlafens  mit  der 
wirklichen  Situation  nicht  das  geringste  zu  tun  haben,  als  ob  die  Natur 
jegliches  Hindernis  entfernen  wolle,  das  sich  der  Schlaffunktion  ent- 
gegenstellt.  Ich  kann  diese  Selbstbeobachtung  Claparedes  nicht  aus  eigener 


1  über    die    Beziehungen    des    Willens    zum    Schlafe    über    die    hypnische   Volition  Iiat 
kürzlich    Dr.    Georges    Peyer    Angaben    gemacht    (69.    S.  89  £f.). 

2  Siehe    Kap.    III. 


254  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TR.\LMES  

Erfahrung  bestätigen,  aber  die  Angabe  ist  wahrscheinlich  richtig,  denn 
gerade  in  der  i.  Stunde  erreicht  (wie  alle  Schlaf  kurven  zeigen)  der 
Schlaf  seine  größte  Tiefe. 

All  das  ist  nicht  neu;  es  wurde  von  den  älteren  wie  von  den  neueren 
Forschem  als  Tatsache  hingestellt.  Hier  nur  ein  Beleg;  schon  A.  Piloz  i 
gelangte  im  Jahre  1899,  auf  Selbstbeobachtungen  gestützt,  zu  dem  Ergebnis, 
daß  die  jüngsten  Ereignisse  im  leichten,  die  älteren  im  tieferen  Schlaf 
und  (wenn  man  sich  an  die  experimentellen  Resultate  hält)  besonders 
im  abendlichen  Schlafe  wdeder  auftauchen.  Im  Grunde  wäre  diese  Be- 
trachtungsweise eine  durchaus  wahrscheinliche  Anwendung  des  Gesetzes 
der  mnemischen  Regression  auf  den  Traum.  Je  tiefer  der 
Schlaf  ist,  desto  weniger  dringt  die  schwache  Wirklichkeit  durch,  und 
tun  so  weniger  können  die  Tageserfahrungen  und  die  nächstliegendea 
Erinnerungen  wiedererweckt  werden.  Die  Isolierung  ist  größer,  und  die 
Erinnerungen  sind  entfernter.  Je  weniger  das  Bewußtsein  von  Sinnes- 
eindrücken erfüllt  ist,  desto  göttlicher  scheint  die  Intuition. 

Hacker  (33)  (der  leicht  in  sehr  tiefen  Schlaf  verfiel)  hat  besser 
als  jeder  andere  die  Träume  des  tiefen  Schlafes  untersucht.  In  dieser 
Periode  sind  die  Vorstellungen  fast  alle  visuell,  aber  wenig  lebhaft;  es 
scheint,  daß  die  Wortvorstellungen  sehr  verblassen,  die  affektiven  Zustände 
sind  schwach  und  spärlich,  die  Wünsche  schweigen,  die  jüngsten  Er- 
fahrimgen  treten  in  den  Hintergrund,  und  die  ferner  liegenden  Erfahrun- 
gen werden  neu  belebt  (2.  tmd  3.  Tabelle  von  Hacker);  die  Kritik  ist 
schwach,  obgleich  die  Urteilsfähigkeit  bestehen  bleibt  (Köhler,  39). 
Hacker  hat  femer  beobachtet,  daß  die  Traumbilder  im  Wachen  um  so 
weniger  verharren  und  sich  um  so  weniger  auf  assoziativem  Wege  wäh- 
rend des  W^achens  reprodiizieren  lassen,  je  tiefer  der  Schlaf  ist. 

Ich  bin  in  diesen  letzten  10  Jahren  darauf  bedacht  gewesen,  soviel  wie 
möglich  von  dem  aufzuzeichnen,  an  was  ich  mich  von  meinen  Träumen 
erinnern  konnte,  wann  ich  zufällig  nach  i  oder  i^/g  Stunden  Schlaf  auf- 
geweckt wurde.  (Man  weißi,  daß  die  größte  Tiefe  des  Schlafes  gerade 
in  der  i.  Stunde  des  Schlafes  oder  kurz  danach  eintritt.)  Jedoch 
habe  ich  in  2  Jahren,  191 2  und  191 5,  nur  8  ganz  kurze  Protokolle 
gesammelt  mit  folgenden  Resultaten:  a)  daß  die  Träume  des  tiefen 
Schlafes  sehr  selten  erinnert  werden;  b)  daß  der  Schläfer  zuweilen 
sagen  kann,  ob  er  geträumt  hat  oder  nicht;  c)  daß  in  einigen  —  ge>viß^ 
nicht  in  vielen  —  Fällen  'der  Schläfer  sagt,  „er  habe  das  Gefühl,  sehr 
ferne  und  tiefe  Dinge  geträumt  zu  haben:  es  scheine  ihm,  daß  er  beim 
Erwachen   aus   weiter   Ferne   zurückkehre". 

Die  Vorstellung  einer  ,, Rückkehr  aus  weiter  Feme"  spricht  für  die 
von  einigen  gewichtigen  Beweisen  imterstützte  und  auch  von  Pieron  und 
Vaschide  in  Betracht  gezogene  Hypothese,  daß  die  unterbewußten  Inhalte 
der  tieferen  und  älteren  Schichten  um  so  leichter  emporsteigen,  je  tiefer 
der  Schlaf  ist,  wie  es  bei  der  hysterischen  Regression  der  Fall  ist.  Die 
Tatsache  verdient  genau  in  Erwägung  gezogen  zu  werden;   sie  wäre  das: 


1   Schon   angeführt  in 


l>li:  TILFE  DES  SCHLAFES  UND  DU-:  TKaLj.ME 255 

Analogen  zu   anderen  Tatsachen,  die  von  einigen,   z.    B.   <lc  Rochas,   im 

kÜJisUicluMi  Schlaf  (llvpnose)  iK-obachlel  wunloii.  WcJin  icli  mich  an 
meine  Beobachtungen  halle,  ist  das  Traunibewuljtsein  im  Komazustundo 
(z.  B.  im  urämischen  und  uachapoplektischeji  Koma)  und  im  klassischen 
epileptischeJi  Anfall  am  meisten  heriJ>gesetzt ;  es  ist  wacher  und  tätiger 
im  Chlorofonnschlaf  mul  im  hysterischeu  Anfall,  noch  leblKÜ"ter  im 
leichten    hysterischen    und    epileptischen    Anfall. 

Der  (j<>genstand  war  interessant,  und  ich  habe  daher  im  Jidu^  19^7 
andere  Selbstbeobachtungen  zu  Protokoll  gebracht.  Die  einzige  Tatsache» 
von  einiger  Bedeutmig  jedoch,  die  ich  diesen  Protokollen  entnehme,  ist 
folgende :  wenn  ich  beim  Erwachen  das  Gefühl  habe,  selir  tief  geschlafen 
und  mich  in  meinen  Gedanken  von  meinem  gewöhnlichen  psychischen 
Umkreis  „sehr  weit  entfernt"  zu  haben,  somit  gleichsam  das  Gefühl 
der  Rückkehr  besitze,  so  erinnere  ich  mich  in  diesen  Fällen  ent- 
weder an  nichts  von  dem  Geträumten,  oder  der  summarisch  erinnerte 
Traum  hat  einen  eigentümlich  neuen,  fremden  und  wunderbaren  Charakter 
und  ist  mit  einem  Gefühl  von  Wohlbefinden  verknüpft.  Im  .\nschluß. 
hieran  scheint  mir  ein  Protokoll  meines  .\ssistenten  Dr.  Cohen  (1919) 
interessant,  in  dem  er  sagt,  daß,  wenn  das  Erwachen  nicht  spontan  ein- 
tritt, sondern  künstlich  herbeigeführt  wird,  er  oft  das  Gefühl  habe, 
als  käme  er  von  weit  her,  nämlich  (so  drückt  er  sich  aus)  „aus  wesent- 
lich andersartigen  Lebensbedingimgen".  Dieses  Gefühl  der  Rückkehr 
ist  niemals  von  einem  ausgeprägten  affektiven  Zustande  begleitet,  aber 
es  charakterisiert  sich  jedenfalls  als  ein  eher  unangenehmes  Gefühl. 

.All  dieses  ist  verständlich,  wenn  man  nochmals  die  Bedingungen  des 
Schlafes  betrachtet.  Wenn  das  Schlafen  in  einer  kortikalen  Hemmung' 
infolge  der  Unwirksamkeit  der  Reize  besteht,  so  muß  natürUch  diesem 
Hemmung  durch  das  Zunehmen  der  Schlaftiefe  verstärkt  werden.  In 
diesem  Falle  betrifft  die  Hemmung  vornehmlich  die  jüngsten  nervösen 
Spuren  und  Dispositionen,  während  sie  die  älteren  und  die  ältesten, 
die  sogar  den  subkortikalen  Zentren  angehören,  nicht  erreicht;  diese 
werden  vielmehr  entlastet  imd  folglich  gerade  durch  das  Dazwischen- 
treten der  intrakortikalen  Hemmung  belebt.  Dadurch  erhalten  wir,  wicf 
schon  angedeutet,  Aufschluß  über  die  Wiederbelebung  der  unterbewußten 
Inhalte,  die  aus  dem  Wachzustand,  aus  der  Kindheit  und  aus  den  Erb- 
teilen von  Familie  und  Gattung  stammen  imd  zwangsmäßig  diirch  visuelle 
Bilder  überdeckt  oder  durch  diese  und  andere  Bilder  abgeändert  erschei- 
nen, soweit  ihnen  der  konkrete  Ausdruck  fehlte  oder  ihr  alter  ursprüng- 
licher Ausdruck  sich  nicht  zu  reproduzieren  vermochte. 

In  den  gewagten  Aufstellimgen  von  Durand  de  Gros  finden  wir  dieselbe 
Auffassimg  wieder.  Je  tiefer  man  schläft,  desto  mehr  verlieren  die 
Zentren  der  Persönlichkeit  —  das  primäre  Ich  —  an  Kraft  und  desto 
mehr  erlangen  die  ^»sekundären  Ich",  „Ze.v  .Souffleurs  Caches,  les  sug- 
gesteurs  secrets  de  nos  sentiments,  de  nos  pensees,  de  nos  resolutions" 
(„d ie  verborgenen  Einbläser,  die  geheimen  Anstifter  un- 
serer Gefühle,  unserer  Gedanken,  unserer  Entschlüsse"),, 
das   Übergewicht. 


256  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\UMES 

F  DIE  STELLUNG  DES  SCHLAFENDEN  IM  SCHLAF  UND  DIE 

TRÄUME 

Von  Bedeutung  für  die  Untersuchung  der  Träume,  d.  h.  der  Schwan- 
kungen des  Traumbewußtseins,  sind  aber  nicht  nur  die  Phasen  der 
Schlaftiefe,  sondern  auch  alle  anderen  Zustände  des  Schlafenden,  wie 
die  Zustände  des  viszeralen  und  des  muskulären  Apparates,  Stellung 
des  Körpers  und  des  Kopfes,  die  Öffnung  des  Mimdes,  die  Lage  der 
unteren  Gliedmaßen,  der  Widerstand  gegen  das  Gewicht  der  Decken, 
die  Anpassung  an  die  Beschaffenheit  des  Bettes  usw.  Zu  den  Bemer- 
kungen, die  ich  schon  bei  emderer  Gelegenheit  (89)  über  den  Einfluß 
der  Lage  des  Schlafenden  vorgebracht  habe,  wdll  ich  noch  einige  Punkte 
iiinrufügcn.  Die  Angabe,  daß  der  Körper  im  Schlafe  dazu  neigt,  die 
embryonale  Lage  einzunehmen,  ist  richtig.  Man  beobachtet  diese  Tat- 
sache nicht  so  sehr  bei  den  Säuglingen  als  vielmehr  bei  den  Kindern, 
besonders  wenn  sie  irgendwie  in  der  Entwicklung  des  Pyramidensystems 
zurückgeblieben  sind.  Jene  Stellung  ist  eine  krampfhafte  Beugestellung; 
der  Schlafende  verkürzt  im  Liegen  seinen  Körper  nach  allen  Richtungen. 
Die  genu-pektorale  Stellung  habe  ich  mehrmals  bei  Idioten  beobachtet. 
Es  handelt  sich  hier  allerdings  um  eine  Stellung  von  fötalem  Typus; 
aber  man  muß  sich  darüber  klar  werden,  daß  sie  durch  die  Unterent- 
wicklung des  motorischen  Systems,  d.  h.  durch  die  Hypertonie  der 
Beuger,  bestimmt  ist.  Dies  ist  ein  neuer  Beweis  für  die  Lehre,  nach 
welcher  ein  pathologischer  Umstand  die  phylo-  oder  ontogenetischen, 
morphologischen    imd    funktionellen    Erinnerungen    bestimmt. 

Wenn  man  sich  in  der  medizinischen  Semiotik  mit  der  Art  des  Liegens 
beschäftigt,  so  unterscheidet  man  das  „aktive"  Liegen  des  Gesunden 
von  dem  „passiven"  des  Schwerkranken  und  dem  ,, zwangsmäßi- 
gen" Emderer  Kranker,  die  an  besonderen  K ran kheits formen  leiden.  Man 
kennt  wohl  das  Liegen  der  Rippenfellkranken  und  der  Kranken  mit 
Lungenentzündung,  der  Typhus-  imd  Anginakranken  und  einiger  Nerven- 
leidender, aber  soviel  ich  weiß,  ist  das  Liegen  der  normalen  imd  der  an 
Entwicklungshemmungen  erkrankten  Kinder  noch  nicht  in  Betracht  ge- 
zogen worden.  Und  doch  liegt  hier  eine  Tatsache  vor,  deren  biologische 
Wichtigkeit  nicht  vernachlässigt  werden  darf.  Burdach  verzeichnete  die 
Stellung  einiger  Tiere  im  nächtlichen  Schlafe.  .Alle  suchen  die  Dunkel- 
heit oder  wenigstens  die  Isolierung;  alle  verkleinern  ihre  Körperober- 
fläche in  der  Art,  daß  sie  sich  der  embryo- fötalen  Stellung  annähern. 
Von  allen  Beobachtern  wurde  vermerkt,  daß  die  Vögel  den  Kopf  unter 
dem  Flügel  (meistens  dem  linken)  verbergen,  und  daß  einige  sich  im 
Schlaf  auf  ein  einziges  Bein  stützen.  Ich  habe  viele  Beobachtungen 
über  die  Schlaf  Stellungen  der  Tiere  in  den  zoologischen  Gärten  von  Paris, 
Antwerpen,  Frankfurt  a.  M.,  Köln,  Basel  imd  Rom  gesammelt  und  mich 
überzeugt,  daß  alle  Vögel  den  Hals  einziehen  und  ein  Bein  verbergen. 
Die  Ibisse,  die  Kraniche,  die  Marabus  aus  Indien  und  Senegal  erscheinen 
daher  im  Schlafe  wie  große,  je  nach  der  .Art  graue  oder  rosa,  auf  einen 
schwachen  Stiel  aufgepflanzte  Knäuel.  Auch  die  Papageien  aller  Arten, 
desgleichen  die  Raubvögel  verbergen  ein  Bein.   Nur  ist  zu  beachten,  daß  die 


PIK  STKLUNC;  DES   SCHI.  AKKNDKN   IM  SCHLAF  l  .ND    PIK  THaIMK     257 

Vögel,  Ix'soiulers  (lio  Ilaubvö^ol.  ii  i  c  1»  l  imiiiiT  in  s<jlclier  Stellung 
schlaff'ii.  Diosor  l  iiu»^Uin<l  lälil  miili  \«M-iiuitoii.  dalS  die  SU'sUuiig  der 
IJoiuo  und  die  Nerkür/ung  (U-iS  Halses  (li<'  Slolluiig  des  tiefen  Schlafes 
oder  In^sser  einer   Phase  des   Schlafes  sei. 

Die  Kunst  bietet  keinen  beileuts<iinon  Beitrag  zur  Kenntnis  der  Schlaf- 
stellungen. Ich  besitze  eine  ziendich  reiche  Sammlung  von  photographi- 
schen \\  ie<lergalxMi  und  von  Zeichnungen  schlafender  Personen.  Dio 
ni(xleriien  Künstler  geben  die  Stellungen  vviod<^r,  die  man  in  der  antiken 
Bildhauerei  und  in  der  klassischen  Malerei  findet. 

Im  wirklichen  Leben  läßt  sich  die  Schlafstellung  im  Kalten  (Winter) 
von  derjenigen  im  Warmen  (Sommer)  unterscheiden.  In  der  Kunst 
jedoch  sieht  man  mit  Vorliebe  die  letztere  dargestellt.  Eine  sehr  rea- 
listische Sommerstellung  ist  die  des  Hermaphroditen  (Mliseo  ßorghiaso, 
Rom)  und  die  andere,  sehr  ähnliche  der  Diana  von  Tizian.  Dasselbe 
gilt  von  der  Sommerstellung  im  , .Schlaf  des  Morpheus"  (französisches 
Kunstwerk  des  17.  Jahrhunderts;  Museum  Cluny,  Paris,  Saal  ili).  Die 
Winterstellung  ist  hingegen  in  einer  Marmorstatuette  (nackte  Frau)  aus 
dem  17.  Jahrhundert  ,,Le  sommeil"  festgehalten  (Saal  i3  des  Museums 
Clunv). 

Bei  den  Schlafenden  in  Winterstellung  ist  der  Allgemeinausdruck  oft 
ein  leidender;  bei  den  Schlafenden  in  Sommerstellung  hingegen  bemerken 
wir  einen  .\usdruck  der  Heiterkeit  oder  einer  Entspannung  der  Muskeln 
(wie  im  Tode).  Eine  klassische  Stellung  ist  das  Aufstützen  des  Kopfes 
auf  die  geöffnete  oder  zur  Faust  geballte  Hand  (meistens  die  rechte) 
und  die  ausgestreckte  oder  sitzende  Lagerung  des  Körpers  auf  der  Erde 
oder  einem  Ruhebett.  In  der  antiken  Skulptur  gibt  es  dafür  ein  klassi- 
sches Beispiel:  den  „Schlafenden  Putto"  (Museo  nazionale  delle  Terme, 
Rom).  Wir  sehen  sie  bei  Giottos  ,,Der  heilige  Franziskus  erscheint  Gre- 
gor IX."  und  „Der  Traum  des  heiligen  Franziskus  vom  Palast"  (Chiesa 
super,  di  San  Francesco,  .Assisi).  Wir  sehen  sie  auch  in  der  „Vision 
der  heiligen  Ursula"  von  Carpaccio  (Accademia  di  Belle  Arti,  Venedig). 
Sehr  originell  ist  die  Stellung  des  mit  dem  Gesicht  auf  die  zum  Gebet 
gefalteten  Hände  gestützten  Kopfes  bei  einem  der  Schlafenden  im  Fresko 
,, Jesus  erscheint  der  Magdalena"  (Kapelle  Scrovegni,  Padua).  Diese 
Stellung  kommt  im  täglichen  Leben  (siehe  Textfigur  10)  häufig  vor. 
Aber  die  Wirklichkeit  bietet  auch  einen  außergewöhnlichen  Reich- 
tum an  Stellungen;  nicht  selten  ist  z.  B.  die  genu-pektorale  Stellung, 
dio  sich  in   der  Kunst  nicht  findet  (Textfig.   6 — 11). 

Daß  die  Schlafstellung  für  die  Träume  Bedeutung  besitzt,  vermerkte 
schon  Radestock  (72).  Ich  erinnere  an  die  Angabe  vieler  älterer  Autoren, 
daß  die  Rückenlage  besondere,  meistens  beängstigende  Träume,  ja  sogar 
Albdruck,  hervorrufe.  Im  italienischen  Volk  erzählt  man  auch,  daß  man 
beim  Schlafen  auf  der  linken  Seite  (auf  dem  Herzen)  häßliche  Träume 
habe.  All  das  trifft  wahrscheinlich  zu,  weil  sich  der  Blutkreislauf,  die 
Atmung,  die  Muskel-  und  Gelcnkeinpfindungen  je  nach  der  Lage  des 
Körpers  verändern.  Vermutlich  wird  man  der  Stellung»  während  des 
Schlafes  eine  noch  spezifischere  Bedeutung  beilegen  müssen,  wenn  die 
neuen   Auffassungen  über  die  Funktion  des  sympathischen  Systems  und 

17    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


258 


J^E-^i^I^£Ilh_I^ICHOLOGIEms    TRAUMES 


Fig.  6 


Fig.  n 


-^^. 


DIE  STKLLl  NG  DES  SCHLAI  KNDEN   IM  SCIILAT  l  ND   DIE  TI'.Äl  ME       259 


Fiß-9 


Fig.  lO 


Fig.  II 


Fig.  6— II.  Schlafstellungen.  Unveröffentlichte  Zeichnungen  nach  der  Natur  aus  Rom 
und  der  Campagna  von  Querci,  Prof.  am  Istituto  di  Belle  Arti  zu  Rom,  aus  den  Jahren 
1859—61.  Man  beachte  die  Figur  7,  welche  zwei  kleine  Bauemmädchen  in  genu-pektoraler 

Schlafstellung  zeigt. 


17* 


260      DE    SAN'CTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

der    ,, postural    activity"    („Stellungsaktivität")    von    Sherrington    bei    tk-n 
Physiologen    Zustimmung    findend 

Ich  behandle  jedoch  diesen  Gegenstand  vor  allem  deshalb,  weil  ich 
zwei  Tatsachen  beobachtet  hal>e:  i.  daß  der  Lagewechsel  im  Schlafe 
den  Traum  verändert;  2.  daß  der  Lagewechsel  beim  Erwachen  den  Traum' 
schnell  vergessen  läßt  und  folglich  djie  wahrheitsgemäße  Niederschrift 
des  Traumes  erschwert.  Diese  zwei  Tatsachen  ergaben  sich  mir  aus 
vielen  Erfahrungen.  Im  Traume  sehen  wir  die  Gegenstände  im  geistigen 
Raum  unter  einem  bestimmten,  der  Lage  des  Kopfes  entsprechendi^n 
Gesichtswinkel  derart,  daß  jeder  geträumte  Gegenstand  von  einer  Raum- 
vorstellung begleitet  ist.  Der  Lagewechisel  des  Kopfes  beim  Erwachen 
verschiebt  den  Gegenstand  oder  die  Handlung  aus  ihrer  Szenerie,  und 
so  verliert  man  eine  Möglichkeit,  den  Traum  zurückzurufen,  ein  wesent- 
liches Element,  ihn  zu  erinnern,  nämlich  die  Berührungsassoziation  und 
die  räumliche  Beziehung.  Infolge  der  fortgesetzten  Ver\vandlung  der 
Szene  selbst  und  ihrer  Elemente  verschiebt  sie  sich  aber  durch  di©  Be- 
wegung auch  nicht  im  Ganzen,  wie  dies  im  Wachzustande  der  Fall  ist. 
Die  Veränderung  des  Traumes,  seines  Ablaufs  imd  seines  Ausgangs  im 
Zusammenhang  mit  der  Lageveränderung  ergibt  sich  mir  aus  Beobach- 
tungen über  den  sommerlichen  Tagesschlaf,  die  ich  in  verschiedenen 
Epochen  an  mir  selbst  angestellt  habe.  Die  zweite  Tatsache  ergibt  sich 
mir  aus  den  zahlreichen  Erfahrungen  bei  der  Niederschrift  von  Träu- 
men. Diese  Tatsache  muß  bei  der  Methodologie  in  Betracht  gezogen 
werden    (gS). 

G.    DAS    NERVENSYSTEM  UND  DIE  TRÄUME 

Die  Physiologie  des  Traumes  hat  aber  noch  eine  Hauptaufgabe  zu  lösen. 
Es  steht  fest,  daß  im  Schlaf  eine  Erhöhung  aller  Schwellen  stattfindet, 
daß  infolgedessen  eine  sehr  bedeutsame  zerebrale  Hemmimg  (Lähmung 
der  Aufmerksamkeit)  -  und  daher  die  Entwicklung  einer  Traumaufmerk- 
samkeit eintritt,  die  von  der  gleichzeitigen  Ausbildung  von  Vorstellungen 
meist  halluzinatorischen  Charakters  begleitet  ist.  Nunmehr  fragt  es  sich, 
ob  sich  diese  grundlegende  Tatsache  des  Traumes  in  Ausdrücken  der 
Gehirnphysiologie  darstellen  läßt.     Nach  meiner  Meinung  ist  die  Frage 


1  über  diesen  Punkt  lese  man  besonders  bei  I.  Böke  (10)  (für  den  morphologischen 
Teil)  und  bei  Van  Rynberk  (80)  (für  den  physiologischen  Teil)  nach.  Einen  Überblick 
dieser    Frage   hat   V.    Ducceschi    (19)    gegeben. 

2  Belmondo  hat  behauptet  und  bewiesen,  daß  die  vollständige  Unterdrückung  der 
Reize  den  Schlaf  hervorbringt.  Auch  Boris  Sidis  hat  neuerdings  (100)  betont,  daß  der 
Schlaf  eintritt,  wenn  der  Organismus  nicht  meiir  auf  die  Reize  reagiert.  Abgesehen 
von  der  Beziehung  zwischen  Ursache  und  Wirkung  steht  fest,  daß  der  Traum  als 
eine  Hemmung  betrachtet  werden  muß.  Pawlow  (64)  und  seine  Mitarbeiter  beobachteten 
bei  ihren  Experimenten  über  bedingte  Reflexe,  daß  ein  Hund  von  Schläfrigkeit  ergriffen 
wurde,  besonders  wenn  man  ihn  wiederholt  der  Einwirkung  intensiver  kalter  und  warmer 
Temperaturreize  aussetzte.  Bei  genauer  Untersuchung  zeigte  sich,  daß  das  fortgesetzte 
Einwirken  von  Kalt  und  Warm  auf  denselben  Punkt  der  Haut  das  Aufhören  der  höheren 
nervösen  Funktionen  und  damit  den  Schlaf  erzeugte.  Es  handelte  sich  also  um  einen 
passiven  Reflex,  der  den  Schlaf  hervorrief.  Das  wäre  die  gewöhnliche  all- 
gemeine    Hemmung. 


DAS  NERVENSYSTEM   1  M)  Dil:  TUÄlMi: 261^ 

zu  bK'jahon.  Auf  die  von  einem  (jefülil  der  \\  irklichkeit  (cks  Traumes) 
iK'gleitele  Well  der  Traumbilder  lassen  sich  leicht  diesc|l>en  l'>klärunf,^en 
anwenden   wie  auf  die   Halluzination  im  Wachen   (107,   I.    S.   ^V^ff)- 

Das  Sprechen  im  Traume  kann  durch  die  Anatomie  imd  Physiologie 
diT  Sprache  Erklärung  finden;  darüber  sammidle  Mourly  Vold  (üi) 
interessante  Btxibachlungen.  Schwerer  zu  erklären  ist  das  grofSe  Übex- 
gewicht  der  Gesiciitsbilder  im  Traum  imd  der  visuelle  Symbolismus  von 
Kllis  oder  die  Cbt^rtragung  der  aktuellen  Kmpfindungen  des  Schlafen- 
den in  (lesichtsbilder.  Diese  Tatsache  könnte  zii  der  phylo-  und  onto- 
g«'iietischen  Bedeutung  des  Osichtsinnes,  zu  der  Markhildung  der  opti- 
schen Bahnen  und  des  Fasciculus  longitudinalis  inferior,  die  schon  in 
der  VortraumejK)che  (von  der  Geburt  bis  zum  5.  oder  6.  Monat)  statte 
findet,  imd  zu  der  Vielfältigkeit  der  Verbindungen  zwischen  den  anderen 
Hirnlappen  und  den  Hinterhaviptlapjjen  in  Beziehung  stehen.  Außerdem 
muß  man  sich  daran  erinnern,  daf5  die  ersten  assoziativen  Bahnen,  in 
«lenen  die  Markbildung  erfolgt,  diejenigen  der  Gehör-  und  Gesicht- 
sphäro  (Ti  und  Oo)  sind.  Indessen  müßte  man  noch  wissen,  ob  außer 
«ier  optischen  afferenten  Bahn  auch  die  Bahnen,  welche  die  akustischen, 
faktil-kinäslhetischen  und  gustativ-olfaktorischen  Empfindungs-  und  Ge>- 
«liichtniszentren  mit  den  visuellen  Gedäch Iniszentren  verknüpfen  (Er- 
iniierungsfeld  von  Wilbrand  in  der  äußern  Oberfläche  des  Hinterhaupt- 
la{tj>ens),  zahlreich,  wegsam  und  zu  frühzeitiger  Markbildung  befähigt 
sind. 

Wichtig  ist  es  festzustellen,  ob  das  Nervensystem  (abgesehen  von  der 
bt^prochenen  wenigstens  zeitweisen  Hemmung)  im  Schlafe  nach  dem- 
selben fundamentalen  Gesetz  wie  im  W^achen  zu  funktionieren  fortfährt. 
Es  liegt  in  der  Tat  gar  kein  Grund  zu  der  Annahme  vor,  daß  sich  das 
Schema  des  Reflexes  nicht  auf  die  Traumtätigkeit  ganz  ebenso  wie 
auf  die  psychische  Tätigkeit  im  ^^achen  anwenden  lasse  (91)  ^.  Die 
•  ifipariiio  simulacrorum  (Erscheinung  von  Bildern)  im  Traum 
isl  durch  äußere  (sensitive  oder  sensorische)  und  innere  (Muskel-, 
Gelenk-,  Kreislauf-,  Atmung-,  sexuelle,  koinästhetische  [GemeinempfLn- 
dung])  Reize  bestimmt.  Das  Auftauchen  aller  unterbewußten  vererbten 
oder  aus  der  eigenen  Erfahnmg  des  kindlichen  oder  täglichen  Lebens 
stammenden  Inhalte  muß  also  auf  besondere  Erregungen  unserer  Organe 
und  des  Gehirns  selbst  zurückgeführt  werden.  Die  sog.  ,,psychi- 
schen  Träume"  oder  , ,11  al  lu  zi  n  a  tio  n  s  träume"  fügen  sich 
—  ebenso  wie  die  Illusionsträume  —  dem  Schema  des  Reflexes 
ein.  Deshalb  haben  Psychologen  wie  Patini,  welche  an  den  rein  soma- 
tischen   Ursprung    des    Traumes    glauben,    in    gewisser    Hinsicht    recht. 

1  Mail  beachte  wohl:  mein  Slandpunkt  darf  nicht  mit  anderen,  wie  z.  B.  dem  von 
Kostyleff,  verwechselt  werden.  Ich  halte  auf  psychologischem  Gebiet  an  einem  a  g  n  o- 
stischen  Proportionalismus  fest.  Wenn  ich  daher  behaupte,  daß  die 
geistige  Tätigkeit  wie  diejenige  des  Nervensystems  nach  dem  Schema  des  Reflexes  oder 
besser  des  zyklischen  Reflexes  abläuft,  so  beliaupte  ich  nichts  über  das 
Wesen  und  den  Wirkungszusanuneniiang  der  Tätigkeit  selbst:  ein  Wesen  und  ein 
Wirkungsrusammenhang,  über  den  die  wissenschaftliche  Psychologie  nichts  auszusagen 
vermag. 


262  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Die  ganze  moderne  Bewegung  der  Physiologie  wendet  sich  gegen  die 
sog.  Theorie  des  Automatismus.  Die  Nervenzentren  entwickeln 
Energie  nicht  durch  Explosion,  sondern  durch  Reizwirkung.  In  der- 
selben Art  werden  Handlungen  und  Gedanken  durch  Vorstellungen  hervor- 
gerufen, die  als  innere  (dynamische)  Reize  wirken.  Wenn  das  Gehirn 
während  des  Schlafes  zu  funktionieren  fortfährt,  so  läßt  sich  vermuten, 
daß  die  psychische  Tätigkeit  überhaupt  niemals  aussetzt.  Auch  der 
Schlafende  lebt  nicht  nur,  sondern  denkt;  und  er  träumt,  weil  er  auch 
im  Zustand  des  Schlafes  denkt  und  empfindet.  Die  alte  Frage,  ob  es 
einen  Schlaf  ohne  Träume  gebe,  kann  daber  nach  dem  Vorgang  vieler 
Philosophen  im  allgemeinen  verneinend  beantwortet  werden.  Der  Ein- 
wand, daß  sich  die  Träume  erst  unmittelbair  im  AugenbKck  des  Er- 
wachens entwickeln  (Meunier  Boris  Sidis,  welcher  meint,  daß  der  Traum 
der  Hauptsache  nach  erst  im  hypnoidalen  Zustand,  d.  h.  zwischen  Traum 
und  W^achen,  zustande  komme,  und  andere),  Ist  nicht  auf  die  Erfahrung 
gestützt  1. 

Es  gibt  aber  auch  indirekte  Bewieise  für  die  Kontinuität  der  psychi- 
schen Tätigkeit,  selbst  in  den  Fällen,  wo  der  Schlafende  es  bestreitet, 
geträiunt  zu  haben.  Einer  dieser  Beweise  ist  schon  von  mir  aufgestellt 
und  von  vielen  anderen  bestätigt  worden,  daß  es  nämlich  genügt,  an 
das  Träumen  zu  denken,  um  sofort  die  Erinnerung  an  den  Traum  zu  er- 
wecken und  zu  beleben,  als  ob  eine  Brücke  zwischen  der  Tätigkeit  des 
Traumes  und  des  wachen  Geistes  g^chlagen  würde.  Ein  anderer  Be- 
weis liegt  in  den  auf  die  Traumkunde  angewandten  Ergebnissen  der 
Beobachtungsmethode.  Das  Gebaren  des  Schlafenden  kann  dem  er- 
fahrenen Auge  das  Vorhandensein  eines  Traumes  auch  im  tiefen  Schlaf 
und  in  den  Fällen  offenbaren,  in  denen  der  Schläfer  beim  Erwachen  be- 
hauptet, nicht  zu  wissen,  ob  er  geträumt  hal>e. 

Aber  es  erscheint  auch  augenfällig,  wie  sich  im  Traume  die  Zusammen- 
setzimg und  Anordnung  der  Reflexe  durch  die  Verselbständigung  von 
Gruppen  und  durch  die  Unterbrechung  von  Verbindungen  zwischen  den 
verschiedenen  Serien  der  Reflexketten  verändert.  Der  Traum  könnte 
daher  auch  mit  Kostyleff  als  eine  Dissoziation  von  Gehimreflexen  be- 
trachtet werden;  denn  im  Schlaf  ist  die  Dynamik  der  zerebralen  Zu- 
sammenhänge und  folglich  die  koordinierende  und  integrierende  Fimktion 
des    Nervensystems    erheblich    gestört    (Sherrington)  2, 

1  Jemand  hat  behauptet,  daß  ich  im  Anschluß  an  verschiedene  Psychophyslologeii, 
darunter  an  Wundt,  der  Ansicht  sei,  es  gebe  einen  traumlosen  Schlaf.  Diese  Auslegung 
ist  ungenau.  Ich  habe  nur  behauptet,  daß  kein  Psychologe  mit  Sicherheit  das 
Vorhandensein  eines  Traumes  bei  einem  Schlafenden  feststellen  könne,  wenn  der  Schläfer 
ilm  nicht  nach  dem  Erwachen  bestätigt;  denn  ohne  Selbstbeobachtung  ist  keine  Gewiß- 
heit möglich.  Daher  konnte  Tiedemann  glauben,  daß  die  Ausrufe,  Bewegungen, 
Ausdrucksbewegungen  der  kleinen  Kinder  während  des  Schlafes  kein  Zeichen  des  Traumes, 
sondern  bloß  Reflexhandlungen  auf  Augenblicksreize  seien.  Wenn  jedoch  eine  Bestäti- 
gung des  Schlafenden  nicht  erbracht  werden  kann,  so  läßt  sich  gewiß  auch  die 
physiologische    oder    objektive    Methode    mit    Berechtigung    anwenden. 

2  An  dieser  Stelle  wäre  der  physiologischen  Hypothesen  über  die  Natur  der  Hemmung, 
der  Ermüdung,  imd  andererseits  der  Verbreitung  der  nervösen  Erregungen,  des  Re- 
fraktärstadiums,    der    latenten    Reizsummation,    der    Abwicklung   der   Stoff>vechselprozesse, 


DAS  M:RV1!:.\SY.STLM  L.ND  DIL  TRaLMI: 263 

Auch  die  Erscheinung  der  ,, Entfesselung  des  Unterbewußtseins"  im 
Traum  erklärt  sich  genü^'oiui  durch  die  spezielle  Physiologie  dos  Schla- 
fenden. Der  selbst  nur  toihveisen  Ilenuuung  der  sensorischen  und  psycho- 
motorischen IVozesse  entspricht  der  Knergiezuwachs  anderer  Prozesse, 
deren  Sitz  in  der  Hirnrinde  selbst  und  wahrscheinlich  auch  in  subkorti- 
kalen .\bschnitten  des  Gehirns  gelegen  ist.  I>ie  Neuropathologen  wissen 
sehr  wohl,  daß  ein  gewisser  Antagonisnms  zwischen  den  neuen  und  den 
alten  liewußtseinsinhalten  besieht.  Es  genügt,  daß  die  aktuelle  Energi.^ 
der  Hirnrinde  vermindert,  d.  h.  daß  ihe  j^sychische  Spannung  herabge- 
setzt ist,  damit  im  Bewußtsein  die  alten  Inhalte  übermächtig  aufsteigen. 
Tatsächlich  kehren  im  Zustand  der  Ermüdung  oder  der  Gehirnerschöpfung 
die  Kindheitserinnerungen  mit  Lebhaftigkeit  wieder;  wenn  man  durch 
kortikale  (senile)  Atrophie  das  Gedächtnis  für  die  jüngsten  Ereignisse 
und  die  Fähigkeit  verliert,  die  Erinnerungen  zu  fixieren  und  zu  bewahren, 
zehrt  man  an  alten  Erinnerungen,  und  die  Neigungen,  Gedanken  und  iMei- 
nungen  der  Kindheit  kehren  zurück.  Die  Tuberkulösen  im  letzten  Sta- 
dium, die  Sterbenden  zehren  an  alten  Be>vußtseinsinhalten  und  sprechen 
oft  eine  fremdartige  Sprache,  die  eben  durch  ihre  Beziehungen  zu  tiefen 
und  fernen  Inhalten  den  Anschein  von  Magie  oder  Prophetie  erweckt. 
So  bewahren  die  einfältigen  Seelen  und  alle  Menschen,  die  nur  über 
einen  spärlichen  Besitz  an  äußeren  Erfahrungen  verfügen,  ebenso  die 
Unwissenden,  die  von  der  Außenwelt  abgetrennt  leben,  jene  „intuitive 
Fähigkeit",  von  der  schon  der  heilige  Augustinus  sagt,  daß  sie  im 
Traum  verfeinert  werde,  mit  größter  Lebhaftigkeit.  So  schafft  die 
Entfremdung  von  der  Sinnenwelt  Raum  für  alte  tausendjährige  Vorstellun- 
gen und  Gedanken;  dann  verwandelt  sich  die  Welt  für  den  Betrachter, 
und  alles  scheint  ihm  verändert.  Das  sehen  wir  bei  den  an  Dementia 
paranoides  leidenden  Kranken  wie  bei  den  Somnambulen.  So  gewinnt 
die  Behauptung  einen  klaren  Sinn,  daß  der  Schlaf  in  gewisser  Hinsicht 
an  zurückliegende  Zustände  der  psycho-physischen  Entwicklung  erinnere, 
und  daß  auch,  wie  der  große  Physiologe  Burdach  bemerkte,  der  Schlaf 
eine  .\rt  Rückkehr  zum  embryonalen  Leben  sei,  und  daß  er  vom  psycho- 
logischen Standpunkt  (wie  es  der  Theosoph  Myers  wiederholte)  den  „pri- 
mitiven" Zustand  darstelle,  während  das  Wachen  nur  ein  „sekun- 
därer" Zustand  sei.  Es  schiene  also,  als  ob  der  Zustand  des  Schlafes 
das  Gehirn  in  jene  Zeit  zurückversetze,  in  welcher  der  Prozeß  darr 
, »psychologischen  Synthese"  noch  nicht  oder  infolge  unge- 
nügender oder  fehlender  Entwicklung  der  Markbildung  und  der  inter- 
neuronischen  zerebralen  Verknüpfungen  erst  sehr  unvollständig  einge- 
leitet war.    Auch  die  Behauptung  Stekels,  daß  im  Traum  der  alte  Kampf 

der  Hemmungsphänomene  zu  gedenken.  Die  ganze  Umwandlung  der  Traumbilder  wird 
begleitet  odei-  erklärt  durch  Störungen  der  zentralen  Leitung  und  Übertragung. 
durch  die  ,,posthumen  Entladungen"  Sherringtons  (Reizbeantwortungen. 
weiche  die  Dauer  der  Reizwirkung  überschreiten).  Dies  sind  Phänomene,  welche  in 
deutlicher  Korrelation  zur  Abschwächimg  oder  Ausschaltung  des  Prozesses  der  logischen 
Synthese  un<l  Verkmiiifung,  zu  der  gehinderten  Funktion  des  schlafenden  Ich  und 
gleichzeitig  zu  der  Wiederbelebung  der  Tätigkeit  anderer  Zentren  stehen,  die  im 
Wachzustande  durch  die  überwiegende  Tätigkeit  der  Organe,  der  sensorischen  und 
perzeptorischen   Bahnen   und  Zentren  gehemmt  sind. 


264  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\UMES 

ums  Dasein  Aviederkchre  und  der  Mensch  sich  in  seinen   primitiven    In- 
stinkten  Luft  mache,  erliält  jetzt  ihren  guten   Sinn. 

Wie  man  bei  der  Hysterie  eine  Dissoziation  oder  Verdopplung  (Janet) 
in  den  Systemen  der  viszeralen  Innervation  und  in  andern  nervösen  Syste- 
men annimmt,  um  die  hysterischen  Symptome  zu  erklären,  so  kann  mau 
im  Schlaf  eine  analoge  Dissoziation  annehmen.  Hier  treten  tatsächlich 
Sejunktionen  (im  Sinne  von  \\  ernicke) ,  I  n  n  e  r  v  a  t  i  o  n  s  k  o  m  - 
plexe.  Schizothymien  (Kohnstamm),  die  im  Unterbewußten  ent- 
stehen, Diaschisen  im  Sinne  von:  Monakow  oder  besser  Psycho- 
schisen  im  Sinne  von  Levi-Bianchini  (47)  auf.  Kurz,  es  handelt  sich 
auch  im  Traum  um  ,, Sequester"  von  Assoziationsketten,  die  den  ,, Seque- 
stern" von  zerebralen  Innervationsystemen  entsprechen,  und  die  wir  vor- 
läufig ihrem  Wesen  nach  für  dynamisch  halten  müssen.  Da  der  Prozeß 
der  Spaltung  im  tiefen  Schlaf  intensiver  ist,  so  läßt  sich  denken,  daß 
sich  in  jener  Phase  das  Unterbewußtsein  l>esonders  befreit,  und  daß 
folglich  in  das  Traumbewußtsein  die  jüngste  (abgespaltete)  Erfahrung 
nur  in  geringerem  Maße,  die  aktuellen  (gehemmten)  Sinneseindrücke  da- 
gegen so  gut  wie  gar  nicht  eingehen. 

Wenn  man  bedenkt,  daß  nach  dem  Ausspruch  Ribots  (76)  das  Unter- 
bewußte lein  Akkumulator  von  Energien  ist,  indem  es  einen  Vorrat  auf- 
speichert, aus  dem  das  Bewußtsein  verschwinden  kann,  so  versteht  man 
auch  leicht.  Wie  sich  nach  Verlangsamung  der  kortikalen  Hemmungen 
die  in  den  Organen  des  Unterbewußten  aufgehäufte  potentielle  Energie 
aktualisiert  und  der  Traum,  d.  h.  ein  Ausdruck  des  freieren  Traum- 
bcvAißtseins.  zustande  kommt.  Eine  derartige  energetische  Vorstellung  der 
Traumtätigkeit  legt  sich  nicht  im  geringsten  auf  irgendeine  philosophische 
Doktrin  fest.  Einen  Beweis  dafür  bieten  die  Äußerungen  des  Anti- 
materialisten  Dwelshauvers  (21)  über  das  dynamische  Unbe^vußte,  der 
keine  Schwierigkeit  in  der  Annahme  findet,  daß  dem  dynamischen  Unbe- 
wußten ein   Zustand   der  Spannung  im   Zentralnervensystem  entspricht. 

Der  Versuch,  die  physiologischen  Bedingungen  des  Traumes  noch  ge- 
nauer zu  bestinmien,  wird  daher  kein  eitles  Bemühen  sein,  wenn  man 
sich  die  Nervenorgane  des  aufsteigenden  Unterbe^^^.lßtseins  im  Licht 
unserer   heutigen   Kenntnisse   vorstellt. 

Bei  anderer  Gelegenheit  (91)  hal>e  ich  vom  anatomisch-physiologischen 
Standpunkt  zwei  Entwicklungsgesetze  des  Nervensystems  dargelegt,  die 
eine  Anwendung  des  biogenetischen  Grimdgesetzes  bilden.  Nach  dem 
ersten  Gesetz  bewaliren  die  höheren  Tiere,  w^ährend  sie  neue  nervöse 
Strukturen  und  Funktionen  erwerben,  nicht  nur  die  elementare  Struktur, 
sondern  auch  teihveise  die  groben  Morphologie-  und  die  Funktionsarten 
der  niederen  Tiere.  Daß  sogar  im  menschlichen  Organismus  fortgesetzt 
Tropismen  und  instinktive  Bewegungen  vorkommen,  ist  daher  sehr  be- 
greiflich und  konnte  dem  Polyzoismus  Durand  de  Gros'  einen  Schein 
von  Berechtigung  geben.  Der  Mensch  bewahrt,  wie  man  es  ausdrücken 
könnte,  die  Spur  der  Formen  und  Strukturen  der  unter  ihm  stehenden 
Tiere  in  seinem  Nervensystem  und  zeigt  daher  in  seiner  Tätigkeit  alle 
Bewegungen   und   Handlungen    von   den   einfachsten   bis   zu   den    kompli- 


DAS  NERVENSYSTEM  IND  DIE  TRÄUME 265 

zierteslen.  Nur  lial  or  infolge  clor  luWieren  Entwicklung  seiner  ULm- 
rirule  ganz  s|M/.ielle  luolorisolie  l^iiisleilimgeii  und  die  Sprache  («rworlxm. 
und  ist  inf(t|g<>  seines  rtMclien   lU'silzes  an  S\nib<)l<'n  mit   Vernunri  iK'-gubt. 

Dementsprechend  gibt  es  ein  zweites  Gesetz,  das  sich  folgendermaßen 
ausdrücken  läßt:  die  später  ausgel)il(lel«^n  IIiriij)arlien  erben  auf  phylo- 
genetischem Wege  ilie  ><>n  den  friiher  ausgebildeten  Ilirnparlien  (in  der 
Art,  wie  es  den  IkNÜirfnissen  des  Tieres  angepafSt  ist)  besorgten  höheren 
Funktionen  und  komplizieren  sie  inuner  mehr.  Indessen  verbleibt  doch 
auch  den  früher  ausgebildeten  Gehirnpartien  ein  Rest  der  alten  Funktion, 
der  sich  frei   von  der  Kontrolle  des  Be>\^ißtseins  zu  betätigen  bereit   ist. 

Unter  diesen  Voraussetzungen  wird  die  weitere  Armahme  nicht  allzu 
gewagt  erscheinen,  daß  auch  mit  Rücksicht  auf  das  BcNMifitsein  in  dem 
Nervensegment,  welches  dem  später  ausgebildeten  Segment  seine  eigent- 
liche Funktion  abtritt,  noch  die  Fähigkeit  zu  der  früher  ausgeübten  Funk- 
tion zurückbleibt.  Darum  kann  die  Behauptung  richtig  sein,  daß  auch 
bei  den  höhereu  Tieren  das  Rückenmark  ein  rudimentäres  Bewußtsein 
besitzt  (Luciani),  und  daß  die  Annahme  eines  Bewußtseins  mit  noch 
größerer  Wahrscheinlichkeit  für  das  verlängerte  Rückenmark  zutrifft 
(Job.   Müller,  Longet,   ^ulpian,   Luciani). 

Man  kann  daher  sagen,  daß  das  Unterbe\vußtsein  über  ein  nervöses 
Organ  verfüge,  und  weim  dieses  Organ  für  das  persönliche  Unterbewußt- 
sein in  den  Gedächtniszentren  und  den  Assoziationsbahnen  liegen  soll, 
so  kann  das  ältere  Unterbewufote,  das  im  Wachen  niemals  ülx^r  die 
Schwelle  des  Bewußtseins  tritt,  das  ihm  eigene  Organ  in  andern  Gehim- 
leilen  (dem  Paläenkephalon  Edingers),  z.  B.  nach  Luciani  im  Kleinhirn, 
finden.  Das  Nervensystem  funktioniert  von  seinem  Auftreten  in  der  Onto- 
genese an  immer  wie  es  kann,  und  das  Paläenkepiialon,  dessen  Entwicke- 
lung  der  des  Neenkephalon  auch  in  der  Ontogenese  vorangeht,  funktio- 
niert schon  in   der  fötalen   Epoche  unter  dem  Einfluß   der  Reize. 

Diese  Nerventätigkeit  vor  der  Geburt  bildet  die  erste  Anlage  der  In- 
stinkte und  Intuitionen  (5o) ;  sie  umfaßt  die  vorbewußte  Periode  des 
Individuums.  Die  individuellen  Erfahrungen,  welche  eigentlich  erst  bei 
der  Geburt  beginnen,  geben  den  Anstoß  zur  Entwicklung  des  Nerven- 
systems nach  den  Entwicklungsgesetzen  der  Art  imd  komplizieren  und 
vervollständigen  seine  Funktion.  Mit  der  Komplizierung  der  Funktion 
entwickelt  sich  nach  und  nach  das  Bewußtsein,  so  daß  die  Behauptung 
gerechtfertigt  ist,  das  BeAvußltsein  nehme  seinen  Ursprimg  aus  dem 
Unbe>vußten.  Doch  ist  auch  die  entgegengesetzte  Behauptung  nicht  ganz 
unrichtig,  daß  nämlich  jedes  unterbewußte  Phänomen  einmal  bewußt  war. 

Es  muß  aber  noch  hinzugefügt  werden,  daß  sicherlich  auch  das  sym- 
pathische System  ein  Zentrum  der  imterbe\vußten  Phänomene  ist  (28). 
Infolgedessen  erscheint  die  viel  mißbrauchte  Hypothese  Grassets  über 
das  Zentrum  O  und  das  Polygon  als  Organ  der  niederen  Seelentätigkeit 
und   daher  des    Schlafes   ganz   überflüssig. 


II.  STRUKTUR  UND  DYNAMIK  DES  TRAUMES' 

In  diesem  Kapitel  behandle  icii  zuerst  die  psychologischen  Kompo- 
nenten des  Traumes  oder  die  Bestandteile  des  Traumbewoißtseins  und 
ihren  Ursprung,  dann  ihre  Tätigkeit  oder  den  Prozeß  des  Traumes  und 
die  Kräfte,  die  ihn  bestinunen. 


A.  STRUKTUR  DES  TRAUMBEWUSSTSEINS 

Die  psychischen  Komponenten  der  Traumtätigkeit  weisen  gewiß  sozu- 
sagen quantitative  Unterschiede  auf,  je  nacn  Alter,  Creschlecht,  Rasse. 
Intelligenz,  Phantasie,  Art  und  Weise  des  Arbeitens,  Grad  der  Müdigkeit, 
ferner  nach  den  Umständen,  in  denen  sich  die  Organe  des  vegetativen 
Lebens  befinden,  dem  Krankheitszustand  und  nach  der  Lage  des  Körpers 
des  Schlafenden.  Es  gibt  eine  differenzielle  Psychologie  des 
Traumes  2.  Qualitativ  bleiben  jedoch  die  Komponenten  bei  allen  Indi- 
viduen übereinstimmend.  Ja,  nicht  nur  die  einfachen  Komponenten  des 
Traumes  sind  übereinstimmend,  wie  in  jedem  beliebigen  Bev^aißtseins- 
zustand,  sondern  es  gibt  auch  bekanntlich  ideoaffektive  Traumkombi- 
nationen und  Gruppierungen,  welche  sich  fast  übereinstimmend  bei  allen 
Träumenden  wiederholen,  z.  B.  die  von  S.  Freud  als  typisch  bezeich- 
neten Träume:  Träume  vom  Examen,  vom  Tode  geliebter  Personen,  von 
rasendem   Laufen   usw.,   mehr  noch   die  sog.    Familienträume. 

Beschäftigen  wir  uns  also  mit  dem  Inventar  des  Traumbew^ßtseins. 
Alle  Meinungen  stimmen  darin  überein,  daß  der  Traum  besonders  reich 
an  visuellen  Elementen  (bis  zu  90  Prozent  aller  Vorstellungen)  ist;  ja 
man  kann  sagen,  daß  er  im  wesentlichen  eine  zum  größten  Teil  pano- 
ramische imd  sehr  schnell©  geistige  Vision  ist.  Individuelle  Unterschiede 
gibt  es  nicht  wenige;  aber  im  allgemeinen  k^ann  man  sogar  sagen,  daß 
die  visuellen  Vorstellungen  im  Traume  bei  allen  Leuten  lebhafter  sind 
als  im  Wachen.  Nach  Marie  de  Manaceine  (Sa)  betragen  die 
visuellen  Trämne,  welche  gleichzeitig  akustische  Vorstellungen  enthalten, 
ungefähr  60  Prozent.  Die  rein  akustischen  Träume  kommen  nur  bei 
Musikern  vor.  Auf  35  Prozent  belaufen  sich  diejenigen  visuellen  Träume, 
welche  mit  taktilen,  muskulären  und  thermischen  Empfindungen  kombi- 
niert sind ;  die  Geruchs-  und  Geschmacks  träume  betragen  5  Prozent.  Hacker 
verzeichnete  auf    100  persönliche  Träume  gS   visuelle   Vorstellungen,    78 

1  Aus  meiner  Monographie  (gi).  Hier  gebe  ich  daraus  nur  das  Unentbehrliclie 
wieder.  Dieses  Kapitel  ist  auf  Grund  neuer,  seit  igii  von  mir  gemachter  Erfahrungeo 
verfaßt. 

2  Der  differenziellen  Psychologie  des  Traumes  ist  fast  mein  ganzes,  schon  zitiertes 
Buch   (89)  gewidmet.    In  vorliegender  Arbeit  komme  ich  darauf  nur  gelegentlich   zurück. 


STRIKU  R     DES     TRArMREWl  SSTSKINS ?67 

akustische,  i6  taktile,  i8  kinästhetische,  3  Gcruchs-Geschniacksvorstellungen. 
Diese  Ziffern  eiiUprei^lieii  annäluTiid  den  Ziffern  der  Statistik  von  M.  \\  . 
Calkins.  Auch  die  Be>ve^unf,'sträume  sind  etwas  sehr  Gewöhnliches.  Icli 
habe  oftmals  bei  Schlafenden  und  sogar  bei  Tieren  rudimentäre  Be- 
wegiinfren  der  Glieder  und  des  Kopfes  beobachtet,  welche  Träumen  von 
schnellem  Laufen,  von  Flucht,  Verteidigung  usw.  entsprechen.  Wirklich 
gibt  es  auch  im  Traume  nicht  mir  eine  Menge  von  Bewegungs Vorstellungen 
an  un<l  für  sich,  sontlern  auch  Ansätze  zur  Ausführung  derselben, 
Versuche,  mittels  Körperbewegungen  die  eigenen  Traumvisionen  gewisser- 
maßen ins  Leben  umzusetzen. 

Wir  kommen  nun  zu  den  Wortvorstellungen.  Kraef>elin  (4i).  Meu- 
mann  (58)  und  neuerdings  Hacker  und  Köhler  beschäftigten  sich  mit 
dem  Sprechen,  dem  Lesen  und  dem  Schreiben  im  Traume.  Gestütz! 
auf  meine  allgemeine  Erfahrung  kann  ich  mich  damit  einverstanden 
erklären,  den  Vorgang  des  Schreibens  im  Traum  als  selten  zu  bezeichnen, 
jedoch  nicht  denjenigen  des  Lesens. 

Die  Erscheinung  des  Sprechens  im  Traum  ist  eine  sehr  gewöhnliche: 
ich  zum  Beispiel  spreche  viel  und  begleite  mit  Worten  die  Bilder  und 
die  Ereignisse,  wobei  ich  fast  immer  meine  Stimme  höre.  Es  gibt 
jedoch  Individuen,  welche  versichern,  daß  sie  niemals  im  Traume  geredet 
haben  (Stumpfheit  der  verbomotorischen  Vorstellungstätigkeit),  oder  doch 
zum  mindesten,  daß  sie  niemals  die  eigene  Stimme  im  Traume  gehört 
haben  (Stumpfheit  der  verboakustischen  Vorstellungstätigkeit).  Es  muß 
sicher  große  individuelle  Verschiedenheiten  geben.  Für  mich  hat  sich 
jedoch  gezeigt,  daß  der  Fall  häufiger  ist,  in  welchem  beim  Sprechen 
im  Traume  die  Artikulationsbewegungen  und  die  die  eigene  Rede  be- 
gleitenden Gebärden  wahrgenommen  werden.  Kurz  gesagt:  im  Traume 
gehört  man  eher  dem  verbomotorischen  als  dem  verboakustischen  Typus 
an.  Die  von  Worten  und  Gesten  begleiteten,  also  pantomimischen  Träume 
sind  selten  und  ähneln  dem  Schlafwandeln  (Somnambulismus).  Die 
ausgeübten  Handlungen  werden  niemals  im  Gedächtnisse  behalten,  wenn 
auch  der  Traum  selbst  erinnert  wird.  Im  folgenden  ein  von  mir  be- 
obachteter Fall. 

1915.  Ein  Stubenmädchen,  welches  Kindermädchen  gewesen  war,  träumt,  daß  ihm 
das  Kind  aus  dea  Armen  gefallen  sei,  sich  verwxmdet  und  Blut  vergossen  habo. 
Die  Träumende  steht  aus  dem  Bette  auf,  geht  zum  Wasserkrug  und  wäscht  \viederholt 
die  eigene  Brust,  mit  lauter  Stimme  sprechend:  ,,Ach,  armes  Kind,  wieviel  Blut!" 
Am  Morgen  erzählte  das  Mädchen  seinen  schlimmen  Traum;  von  den  ausgeführten 
Handlungen  wußte  es  nichts. 

Im  Traume  finden  wir  gewölinlich  synthetische,  das  heißt  extensive 
(räumliche)  und  zeitliche  Vorstellungen;  die  ersteren  werden  aus  aktuellen 
Empfindungen  oder  aus  Erinnerungsresten  von  Eindrücken  des  Wachseins, 
sei  es  visuellen,  sei  es  taktilen  und  inneren  Eindrücken  oder  von  vorzugs- 
weise akustischen  Vorstellungen  gebildet.  Aber  die  räumlichen  und  zeit- 
lichen Vorstellungen  unterliegen  im  Traume  so  gründlichen  Umformungen 
im  Vergleich  zu  jenen  des  Wachseins,  daß  darin  eines  der  hervorstechend- 
sten Unterscheidungsmerkmale  zwischen  den  Bestandteilen  des  Traumes 
und  denjenigen  des  Wachseins  besteht.  Eine  richtige  Einteilung  der 
Zeit  ist  jedoch  auch  im  Traum  etwas  Gewöhnliches. 


2G8     DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Protokoll,  ohne  Datum  (E.  G.,  21  Jahre  alt.  Aufgeschrieben  am  Nachmittag  des 
Tages  nach  der  Ps'acht  des  Traumes).  X.  telephoiiierte  mir:  ,, Finde  dich  l>ei  mir 
binnen  einer  Viertelstunde  ein.*"  —  „Aber  ich  komme  doch  nicht  mehr  zurecht?!"  — 
..Doch:  8  Minuten,  um  dich  anzukleiden,  und  7,  um  herzukommen!"  Das  Geräusch 
der    Weckuhr    weckt    micii    auf.     (Vollkommen    richtig.) 

Es  gibt  bekanntlich  Träume,  welche  als  kurz,  und  solche,  welche  als 
sehr  lang  eingeschätzt  werden.  Die  Zeiteinschätzung  im  Traume  \vurde 
von  mehreren  Verfassern  studiert  und  erörtert,  besonders  nach  dem  be^ 
rüJimten  Traum  A.  Maurys  von  der  Guillotine  (Claviere,  Tovolowska, 
Pieron,  Vaschide,  Foucault,  H.  Ellis,  Stepanoff).  Viele  nahmen  an, 
daß  der  Gedanke  eine  enorme  Schnelligkeit  im  Traume  hätte,  und  diese 
würde  dem  Traume  sicherlich  gestatten,  sich  vollständig  im  Augenblicke 
des  Erwachens  abzuwickeln.  Ich  habe  diese  Erklärung  bereits  bekämpft. 
Ich  glaube,  daß  die  Sache  folgendermaßen  zu  erklären  ist:  die  durch 
äußere  Reize  hervorgerufenen  Wahrnehmungen  (Ursache  des  Erwachens) 
werden  mit  den  im  Traume  vorangegangenen  Ereignissen  verknüpft, 
dank  der  Deutung  des  Träumenden  in  dem  Augenblicke,  wo  er  erwacht 
oder  den  Traum  niedersclireibt.  Wir  verfügen  über  so  manches  Beispiel, 
um  sagen  zu  können,  daß  die  Träume  die  Dauer  haben,  welche  dem 
Vorstellungsvorgang  im  Wachen  zukommt.  Die  von  einigen  gegebene 
Erklärung,  daß  die  Schlußwahrnehmung  die  Bilder  des  Traumes,  welche 
ihm  vorangingen,  durch  Assoziation  hervorgerufen  hätte,  entbehrt  meines 
Erachtens   jedweder  Grundlage. 

Hacker  sagt,  daß  im  Traume  die  Möglichkeit,  sich  die  Vergangenheit 
und  die  Zukunft  vorzustellen,  fehlt.  Jaspers  ist  der  gleichen  Ansicht; 
ich  habe  mir  keine  sichere  Meinung  gebildet. 

Sehr  interessant  ist  die  Analyse  des  Raumes  im  Traume.  Alle  Träume 
werden  in  das  bilaterale  Gesichtsfeld  vollkommen  so  projiziert  wie  die 
im  Wachen  gesehenen  Gegenstände.  So  gibt  es  zweifellos  ferne  Visionen, 
weitausgedelmte  Horizonte,  Himmelsräume  und  .Abgründe;  der  gewöhn- 
lichere Fall  ist  aber  der,  daß  sich  das  geträumte  Ereignis  in  einem 
kleinen  Räume  vollzieht,  wie  etwa  einer  Kammer,  einer  Straße,  einem 
Platze.  Es  versteht  sich,  daß  bezüglich  des  Raumes  der  Traum  häufig 
unsinnig  ist.  Aber  wenn  man  genau  zusieht,  findet  sich  diese  unsinnige 
Darstellung  des  Raumes  auch  in  der  Kunst.  Beredte  Beispiele  zeigen 
uns  die  Malerei  und  die  Dichtkunst. 

Der  Traum  ist  voll  von  jenen  Vorstellungsgruppen,  welche  Ziehen 
J.Konstellationen"  nannte.  Die  Ideen  kehren  mit  ihren  gewöhnlichen 
Begleitideen  wieder,  ausgestattet  mit  ihrem  Gefühlston,  und  schließen  sich 
in  festen  Gruppierungen  um  gewisse  den  Kern  bildende  Elemente  zu- 
sammen. 

Sicher  finden  sich  im  Traume  sogar  Urteile  und  Überlegungen  wie 
im  ordentlichen  Bewußtsein,  Es  wäre  unrichtig,  zu  sagen,  daß  im  Traum 
immer,  schon  dem  Begriffe  nach,  die  Logik  fehlt.  Köhler  fand,  daß 
in  seinen  Träumen  die  Urteile  nur  selten  falsch  waren  (nur  k  Prozent). 
Die  Schlußfolgerungen  waren  seltener  als  die  Urteile  und  waren  zu 
I  Prozent  falsch,  während  zu  20  Prozent  mittelbare  und  80  Prozent  un- 
mittelbare Schlußfolgerungen   waren. 


snU  KTüK     DES    TRAl  MIWOWUSSTSEINS 269 

Thompstm '  (io8),  sich  der  .Nh-sinunf,''  von  (ialkiiis  anschlieliend,  bo- 
hauptot  mit'  (inind  konkroter  lUM)lxicliluii^'«'n,  dalS  t  l)erk'^'unjL,'vii,  GtMlanken 
und  Kritik  sich,  wcnti  aucli  .selten,   in  doii    Träimu'ii    t'ind«Mi   köiiiu'n. 

In  dor  Tal  iiahnion  dies  auch  dio  allen  Autoren  an,  jinIocIi  suchten 
sie  <Lie  tlx^rle^ung^en  im  Traum«'  mit  dem  VN  t\-h.s«'ls|)ielo  der  Bilder  zu 
erklären  (Scholastiker).  Nach  meinem  Dafürhalten  kann  diese  Krklärung 
in  einigen  FiUlen  gelten;  in  anderen  aber  nicht.  Wie  später  gesagt 
werden  wird,  ist  das,  was  im  Traum  Urteile  fällt,  das  VVachbovußLsoin ; 
demnach   ist  eine  andere  Erklänuig  überflüssig-. 

Ich  beobachte,  daß  ich  im  Traum  in  den  meisten  Fällen  Ereignisse 
erfinde  \Hid  L  rteile  fälle,  welche  sich  auf  Personen  und  Sachen  beziehen, 
sogar  l  rteile  wissenschaftlicher  Art.  Zuweilen  aber  enthalten  meine 
Träume  unglaubliche  Naivitäten,  welche  ich  nach  dem  Erwachen  all- 
mählich verbessere.  Im  folgenden  Traume  wehrte  sich  das  Traum- 
bewußtsein gegen  eine  Ungereimtheit. 

Protokoll.  39.  November  1919,  nachl.s  (V.  R.,  Studentin).  Ich  träume,  daß  sclir 
schlechtes  Wetter  ist.  Ich  schaue  durch  die  Fensterscheiben  hinaus.  Es  regnet  ia 
Strömen,  dann  sclineit  es.  Ich  bin  höchst  erstaunt;  denke:  Aber  es  ist  warm!  — 
Ich  öffne  die  Feiustcr.  fühle  die  von  draußen  kommende  warme*  Luft  de«  Sciiirokko; 
ich  sage  und  denke:  ...\ber  wie  ist  das  möglich?,  der  Schnee  müßte  auftauen!" 
Lnd    dennoch    überzeuge    ich    mich,    daß   es    schneit. 

In  dem  folgenden  Protokoll  erscheint  der  Traum  in  hohem  Grad 
intellektuell,   übrigens   reich   an   kinästhetischen   Elementen. 

Protokoll.  Naciit  auf  den  20.  Juni  1914  0'.  R.,  Studentin).  Den  Abend  vorher 
studiere  ich  das  logarithmische  Gesetz  von  Fechner;  ich  begreife  es  aber  nicht.  Ich 
schlafe  sofort  ein.  Ich  habe  sehr  lebhafte,  schnelle  Träume  von  Gegenständen  aus 
der  Psychologie  mit  undeutlichen  Bildern  des  Raumes  .  .  .  Was  darin  herrscht,  ist 
das  ,. Eilen  meiner  Gedanken".  Ich  habe  den  Eindruck,  vorwärts  zu  gehen,  vorwärts, 
immer  vorwärts  .  .  .  Ich  habe  außerdem  den  Eindruck,  micli  gegen  jemanden  aufzu- 
lehnen und  großen  Widerstand  zu  finden.  Ich  weiß  nicht,  um  was  es  sich  handelt; 
auf  einmal  rufe  ich:  „Ja,  ja,  ich  begreife  es.  Es  ist  das  logarithmische  Gesetz." 
Ich  schüttle  mich  und  bin  halb  wach;  Gefühl  großer  Müdigkeit.  Es  gelingt  mir 
nicht,  mich  zu  I>ev^egen ;  ich  wiederhole:  ,,Das  logaritlimische,  das  logarithmische!" 
Gefühl  der  Anstrengung  und  der  Ermüdung  im  Kopfe;  immer  wieder  ertönt  das 
NNort.  Endlich,  wie  von  einem  Alpdrucke  erlöst,  wache  ich  vollständig  auf  und 
sehe  das  Licht.  Ich  habe  den  Beweis  des  logarithmischen  Gesetzes  höchst  klar  im 
Kopfe.     Ich    bin    ruhig,    ich    schlafe   wieder    ein. 

Zuweilen  habe  ich  selbst  Träume,  in  welchen  feine  Kritik  und  genaue 
ästhetische  Urteile  vorkommen. 

Protokoll.  Nacht  auf  den  18.  Dezember  191^;  eine  halbe  Stunde  nach  dem 
Envachon  aufgeschrieben.  Ich  habe  geträumt,  meinen  Landhausgarten  mit  einer  Aus- 
schmückung versehen  zu  haben,  welche  bei  joder  Biegung  der  Pfade  angebracht  war. 
Es  ist  ein  großer  Schild  aus  Lederriemen  hergestellt,  welche  ineinander  verflochten 
und  grün  bemalt  waren,  jeder  Riemen  aus  dem  Schilde  heraushängend.  Ich  findo 
jedoch,   daß    verschiedene    Einzelheiten    der   Verzierung  nicht    harmonisch   sind;    ich    tadle 


1  Diese  Schrift  Thompsons  ist  sehr  interessant  bezüglich  der  Fragen  der  Individual- 
Psychologie   des    Traumes. 

2  Aristoteles  in  dem  Werke  ,,Über  die  Träume",  I,  4,  schreibt  folgende  Worte, 
welche  mir  sehr  bedeutungsvoll  erscheinen :  ,.Ich  halte  dafür,  daß  nicht  alles  das,  was 
wir  im  Sclilafe  sehen,  ein  Traumbild  sei  und  daß  wir  mit  Hilfe  der  Vorstellung  vor- 
stellen, was   wir  einsehen." 


270  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\LMES 

deshalb     meinen     Sohn,     welcher    der    Ausführende  meines     Entwurfes     war.      Lebhafte 

Auseinandersetzung.      Ich     mache     eine     Zeichnung,  welche    ich     beim     Erwachen     ganz 
klar    im    Gedächtnis    habe.     Einen    Tag   nach    dem    Traume,    19.    Dezember    191 4,    habe 

ich     die    geträumle     Verzierung     aufgezeichnet    und  einem     Künstler    gezeigt,     mit    der 

Bitte    mir    zu   sagen,    wer,    ich  oder   mein    Sohn,   in  der   geträumten    Auseinandersetzung 

recht    hatte.      Der    Künstler    erkennt    an,    daß    die  Zeicimung    schön    ist    und    daß    in 
der  Auseinandersetzung   ich   vollkommen   recht  hatte. 

Wundl  sagt,  wie  die  Mehrzahl  der  Psychologen,  daß  im  Traume  der 
\Ville  fehlt.  In  gewissem  Sinn  ist  dies  wahr;  der  Wille,  sei  es,  daß 
er  als  Autonomie  des  Individuums,  sei  es,  daß  er  als  Gesamtheit  aller 
Willensvorgänge  aufgefaßt  werde,  ist  im  Traume  nicht  uneingeschränkt 
wiederzufinden,  auch  weil  im  Traxmie  der  Wille  nicht  über  sein  spezifisches 
Organ,  den  Bewegungsapparat,  verfügt.  Auch  die  alten  Philosophen  er- 
klärten mit  Übereifer,  daß  im  Traume  die  Willensfreiheit  aufgehoben, 
tmd  daß  das,  was  gewollt  zu  sein  scheint,  nur  die  Einbildung  einer 
Willensfreiheit  sei.  Dugald  Stewart  1,  welcher  Interessantes  über  den 
Traum  schrieb,  behauptete,  daß  im  Traume  der  Wille  nicht  fehle,  nur 
seien  ihm  die  Organe  nicht  gehorsam,  und  führte  als  Beispiel  den  Alpdruck 
an.  Der  Philosoph  Galuppi  (29),  welcher  Dugald  Stewart  konunentiert, 
setzt  auseinander,  daß  sich  im  Tramne  die  Gefühle  des  Wollens,  al^er 
nicht  das  Wollen  selbst  darstelle.  Wenn  auch  die  Willensakte  im  Traum 
in  ihrer  Entwicklung  von  einem  beliebigen  phantastischen  Bilde  gestört 
sein  können,  und  wenn  auch  eine  Dissoziation  zwischen  Urteil  und 
Wille  eintreten  kann,  so  daß  der  Willensakt  nur  scheinbar  ist,  so  ist 
es  doch  gewiß,  daß  dieser  Fall  zuweilen  nicht  eintritt. 

Das  Vorhandensein  der  „Aufgabe"  und  einer  determinierenden  Tendenz 
im  Traum  im  Sinne  von  Ach  habe  ich  mehrere  Male  erlebt  (abgesehen 
natürlich  von  der  Erinnerungstäuschung). 

Hacker  und  P.  Köhler  untersuchten  auf  Veranlassung  von  0.  Külpe, 
ein  jeder  für  sich,  ob  es  im  Traume  Gedanken  gebe.  Hacker  fand 
in  seinen  Träumen  sehr  oft  die  Dissoziation  zmschen  Gedanken  und  Vor- 
stellungen (Bedeutimgsbewußtsein,  Beziehungsbewoißtsein  usw.),  ebenso 
auch  Köhler  (Bedeutungsbe^^-ußtsein,  Beziehungsbewußtsein,  Regelbe\vußt- 
sein,  Erfindung,  determinierende  Tendenz  usw.)  -. 

Hacker  fand,  daß  gewisse  Worte  von  ihm  im  Traume  nicht  verstanden 
ANTU-den,  während  sie  sofort  nach  dem  Erwachen  verständlich  waren;  das 
war  dadurch  verursacht,  daß  im  Traume  Dissoziation  zwischen  dem  Emp- 
findungsinhalt und  dem  BewTißtsein  von  seiner  Bedeutung  bestand.  Diese 
Tatsache  läßt  sich  bestätigen,  wenn  auch  nicht  so  oft,  wie  Hacker  meint. 
Wie  dem  auch  sei,  schließt  sie  nicht  aus,  daß  in  anderen  Momenten  des 
Traumes  die  Bedeutung  jedes  beliebigen,  auch  abstrakten  Wortes  genau 
wie  im  Wachsein  verstanden  wird. 


^  Dugald  Stewart:  Elements  de  la  Philosophie  de  l'Esprit  humain;  Iraduit  de 
1  anglais.     Tome   second,    Geneve,    1868,    S.   80  ff. 

-'  Hacker  legt  Wert  darauf,  diese  Traumgedanken  zu  unterscheiden  vom 
Unbewußten  im  Sinne  von  Freud,  und  meint,  daß  es  sich  nicht  um  ..Entstellung", 
wohl  aber  um  ..Abweichungen"  vom  Seelenleben  im  Wachzustande  handelt, 
als     eine     Folge    des     besonderen     physiologischen    Zustandes     des     Gehirns     im     Schlafe. 


STRlkTLH    DES    TKAl  MÜLWUSSTSEINS 271 

Bew-ulitseinslagen  (Bewußtheiten  nach  Ach,  atliludes  der  Ame- 
likanerl  boobachtote  auch  Köhler  in  5o  seiner  Träume.  Ich  fand 
dies  alh's  durcl»  meine  jxM-süidiche  Erfahrung  bestätigt.  Meine  später 
als  i(|i'i  aulgcnonunenen  l'ndokolle  Ix^tätigen  es  ebenfalls  (94;-  Es 
versteht  sich  wohl,  dali  icli  niich  zurückhalle  bezüglich  der  .Vuslegung 
ähnlicher  Erfahrungen,  wie  sie  von  Bühler  und  anderen  der  Külpeschen 
Schule   vorgebracht   worden   sind. 

Mit  den  Traumvorstellungcn  sind  affektive  Zustände  verbunden,  welche 
zuweilen   eine  große   Stärke  erreichen. 

Die  intensiv  affektiven  oder  emotionellen  Träume  sind  sehr  häufig, 
ihr  Vorhandensein  wird  nicht  nur  vom  Träumenden  beim  Erwachen  be- 
zeugt, sondern  läßt  sich  auch  objektiv  während  des  Traumes  selbst  er- 
weisen. Wichtig  ist  die  Bemerkung  Hackers,  daß  die  intensiv  affektiven 
Träume  im  tiefen  Schlafe  fehlen.  Seit  1896  bin  ich  (86)  überzeugt,  daß 
der  interessanteste  und  sozusagen  beständigste  Teil  des  Traumes  der  affek- 
tive Zustand  ist,  während  die  Vorstellungen  überaus  flüchtig  und  ver- 
änderlich sind.  Die  affektiven  Zustände  des  Traumes  sind  die  wahre  und 
innere  Stimme,  welche  die  Wünsche  des  Schlafenden  enthüllt;  sie  leiten 
den  Vorstellungsinhalt  in  seinem  Entwicklungsgange.  Es  kommt  im 
Traume  dasselbe  vor  wie  bei  den  Melancholikern,  bei  denen  die  Vor- 
stelltmgen  die  Erklärung  für  ein  bereits  bestehendes  affektives  Bedürfnis 
liefern ;  eine  Auffassung,  welche  sich  so  gut  schon  bei  Griesinger  aus- 
gedrückt findet. 

Frau  von  Manaceine  stellte  fest  (indem  sie  sich  auf  die  5  Jahre 
hindurch  bei  87  Personen  durchgeführten  Beobachtungen  stützte),  daß 
die  Eindrücke,  welche  die  Aufmerksamkeit  während  des  Wachseins  am 
meisten  in  Anspruch  nehmen,  niemals  das  Gewebe  der  Träume  bilden. 
Dasselbe  sagten  andere  Beobachter  vor  und  nach  Frau  von  Manaceine, 
Eine  meiner  Mitarbeiterinnen  teilte  mir  mit:  „Ich  beobachte  seit  beinahe 
einem  Monate  meine  Träume,  gerade  weil  mein  Wachbewußtsein  aus- 
schließlich von  einem  einzigen  Objekte  beherrscht  Avird  und  ich  mir 
Rechenschaft  zu  geben  wünsche,  ob  es  in  meinen  Träumen  wiederkehrt. 
Doch  sind  die  Träume  immer  dürftig,  sehr  verblaßt  und  vor  allem  in- 
different. Nur  sehr  selten  und  auch  dann  nur  flüchtig  kommen  Bruch- 
teile  von   Dingen   vor,   welche  mein   vorherrschendes  Gefühl   betreffen." 

Dies  stimmt  für  Objekte,  welche  gleichzeitig  stark  affektbetonte  Kom- 
})lexe  bilden.  Zweifellos  werden  unsere  Gemütsbewegungen  und  gewohnten 
Gedanken  wieder  hervorgerufen;  jedoch  nicht  die  stärksten  Gemütsbe- 
wegungen und  auch  die  andauerndsten.  Ich  bestätige  die  Tatsache,  daß 
im  Traume  die  Gefühle  der  Spannung,  hingegen  nicht  die  Gefühle 
der  Lösung  wieder  auftreten  (ich  bediene  mich  der  Terminologie  von 
Wundt  in  seiner  dreidimensionalen  Gefühlstheorie).  So  träumt  man  die 
Gemütsbewegungen  des  Zweifels,  der  Erwartung,  des  Wunsches,  des  Er- 
strebens.  Außerdem  ist  der  Traum  in  hohem  Grad  egoistisch.  Wenn 
eine  Tatsache  uns  nichts  angeht,  selbst  wenn  sie  im  Wachsein  vms  eine 
starke  Erregung  erzeugt  hat,  so  erscheint  sie  gewöhnlich  im  Traume 
nicht  wieder. 


272  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TILVUMES 

ßoi  Kindern  ist  die  Wiederholung  der  Tageserregungen,  gleichviel  von 
welcher  Stärke  —  namentlich  vom  vorangegangenen  Tage  —  in  den  Träu- 
men häufiger  als  bei  Erwachsenen.  Dasselbe  kommt  bei  «den  psychasthe- 
nischen  und  melancholischen  Erwachsenen  vor,  bei  denen  es  so  weit  kom- 
men kann,  daß  das  Traumbewußtsein  durch  das  Fortbestehen  der  Inhalte 
des  Wachbe\vußtseins  gehemmt  wird.  Die  von  mir  beobachteten  Fälle 
sind  zahlreich.  Eine  schwer  psychasthenische  Frau  träumte,  nachdem  sie 
ihre  Mutter  verloren  hatte,  während  einer  langen  Reihe  von  Nächten  von 
der  Verstorbenen  und  von  deren  Begräbnisfeier,  wobei  sie  Tag  und  Nacht 
in  trostloser  Weise  litt.  Als  einen  der  neuesten  Fälle  kenne  ich  einen 
60  jährigen  Mann  mit  Gehirnarteriosklerose,  welcher  mit  einer  Zahlen- 
manie behaftet  war.  Dieser  Kranke  also  träumte  viele  Monate  hin- 
durch, nämlich  solange  ich  ihn  unter  Beobachtung  hatte,  unablässig  von 
Zahlen  und  Rechnungen;  so  sehr,  daß  ihti  dieses  im  Schlaf  ermüdete 
und  er  deswegen  von  mir  Erleichterung  verlangte.  Die  Schlafmittel  hatten 
den  Erfolg,  den  Kranken  weniger  träumen  zu  lassen  (wahrscheinlich  Ver- 
tiefung des  Schlafes  mit  verminderter  Erinnerung  an  die  Träume). 

Bei  gesunden  Menschen  kann  man  dieselbe  Tatsache  vorfinden  (Berufs- 
träume) ;  dann  aber  ist  der  Grefühlsfaktor  niedriger  oder  fehlt  geradezu. 
Bei  großen  Seelen  ist  das  Fortdauern  der  vorherrschenden  Ideen  auch  im 
Traume  hochpoetisch.  Wir  finden  z.  B.  bei  Homers  Agamemnon  und 
Achilles  Träume,  welche  die  vorherrschenden  Gredanken  der  Helden  wider- 
spiegeln. 

Ein  affektiver  Zustand,  der  mit  besonderer  Häufigkeit  im  Traume 
wiedererscheint,  ist  die  Furcht.  Man  träumt  das,  was  man  fürchtet, 
insbesondere  das,  was  man  im  geheimen  fürchtet.  Zuweilen  bilden  die 
Befürchtungen  des  Wachseins  das  Gewebe  stereotyper  Träume.  Gewöhn- 
lich werden  auch  die  Liebe,  der  Hunger  und  der  Durst  im  Traume  wieder 
lebendig,  und  oft  wird  im  Traume  der  Wunsch  des  W^achseins  erfüllt. 
Lehrreich  sind  des  Hungerkünstlers  Succi  Träume  vom  Hungern,  welche 
ich  im  Jahre  iSgS  studierte. 

Es  gibt  keinen  Zweifel  darüber,  daß  man  leicht  von  der  Frau  träumt, 
um  welche  man  vergeblich  wirbt,  wie  auch  von  den  Speisen  und  Ge- 
tränken, die  man  sich  zwar  wünscht,  aber  nicht  erhalten  kann.  Aus 
meiner  persönlichen  Erfahrung  ergibt  sich,  daß  im  Traume  der  Wunsch 
wieder  auftritt,  der  unsere  Seele  im  Wachsein  in  Spannung  hält,  oder  der 
unter  sonstigen  affektiven  Zuständen  und  unter  gewöhnlichen  Beschäfti- 
gungen versteckt  im  Unterbew^ußtsein  arbeitet.  Dies  will  jedoch  nicht 
sagen,  daß  im  Traum  unsere  Wünsche  befriedigt  werden.  Die  im  Traum 
erfolgende  Wunscherfüllung  ist  gewiß  eine  gewöhnliche  Tatsache;  aus 
meinen  Beobachtungen  ergibt  sich  aber,  daß  sie  in  Beziehiuig  zu  einer 
eigenartigen  physiologischen  Verfassung  steht.  Es  gibt  Individuen,  die 
vom  G^scldechtstrieb  auch  im  Traume  gequält  werden,  welche  das  Ver- 
langen träumen,  aber  nicht  seine  Erfüllung.  Es  gibt  hingegen  andere, 
bei  denen  das  Verlangen  verwirklicht  wird.  Der  geträumte  Beischlaf 
(ohne  physiologische  Begleiterscheinung)  mit  Befriedigung  ist  etwas  Sel- 
tenes im  Vergleiche  zum  häufigen  Wiederträumen  des  begehrten  Weibes. 
Der  Traum  ist  also  das  Reich  unseres  Sehnens,  unserer  Befürchtungen, 


HERKl  NFT     [)I-S    TRAUMMATERIALES  273 

' ■ 

der  verdrängton  Rt'^'ung«n;  unseres  Stolzes  und  unserer  Wollust,  aber 
nicht  immer  das  glückselig©  Reich  der  Verwirklichung  unserer  Wünsche. 
Meine  lange  Erfaluning  hat  mir  gezeigt,  dali  im  Traum  alle  Gefühle 
ohne  Ausnahme  witxierorzeugt  worden;  mithin  auch  diejenigen,  welche 
als  moralische  oder  ethische  bezeichnet  werden'.  Das  will  besagen,  daü 
im  Traume  die  moralischen  Eigenschaften  des  Träumers  sich  nicht  mehr 
und  nicht  weniger  als  im  Wachsein  enthüllen  können;  mit  anderen  Worten, 
dalS  es  TrauminhalLe  gibt,  welche  im  Traum  als  moralisch  oder  als  un- 
moralisch vom  Träumer  bewertet  werden,  und  dali  in  einem  Traume, 
dessen  Inhalt  als  unmoralisch  erachtet  wird,  vom  Träumenden  Reue  emp- 
funden werden  kann.  Beobachtungen  vom  Jahre  191 4  ab  bestätigen  mir, 
was  ich  bereits  früher  festgestellt  hatte,  nämlich,  daß  ich  bei  Individuen, 
die  nach  meiner  Kenntnis  und  nach  anderweitigem  Zeugnis  mit  feinem 
nwralischen  Empfinden  begabt  und  von  tadellosem  Lebenswandel  waren, 
verbrecherische  Träume  niemals  beobachtet  habe,  die 
bis  zu  Ende  durchgeführt  und  ohne  gleichzeitiges  Ge- 
fühl von  Mißbilligung,  von  Widerstreben  oder  von  Ge- 
wissensbissen im  Traum  erlebt  worden  wären. 

Protokoll  einer  Nacht  von  191 5  (Dr.  Consoni,  Psycholog,  4o  Jahre  alt).  Ich  be- 
finde mich  in  einem  Kaffeehause  und  habe  das  BewTjßtsein,  ein  blutiges  Verbrechen 
begangen  zu  haben.  Ich  überlege:  Ich  bin  also  ein  Mörder,  demnach  wird  man  nach 
mir  fahnden  ...  —  Peinliches  Gefühl  wegen  des  Verbrechens,  echte  Gewissensbisse; 
Angst    vor    der    Gefahr,    verhaftet    zu    werden. 

B.  HERKUNFT  DES  TRAUMMATERIALES  ODER  DER  KOMPO- 
NENTEN DES  TRAUMES 

Es  ist  klar,  daß  das  Material  entweder  «von  außen  kommt  (Empfindun- 
gen von  Reizen,  die  während  des  Schlafes  einwirken)  oder  von  innen  (Er- 
lebnisse, die  im  Wachen  bereits  bewußt  oder  unterbewußt  waren).  Wir 
werden  übrigens  weiter  unten  sehen,  daß  der  Traum  in  der  Weise  die 
Empfindungen  während  des  Schlafes  verarbeitet,  daß  man  von  un- 
mittelbarer und  mittelbarer  psychischer  Herkunft  besser  als 
von  somatischer  2  oder  psychischer  Herkunft  der  Traumkomponenten  reden 
kann. 

Über  die  Herkunft  des  Traummateriales  herrschte  unter  den  Psychologen 
stets  Meinungsverschiedenheit.  Einige  schätzten  den  Einfluß  des  äußeren 
Reizes  gering,  während  andere  den  ganzen  Traum  von  unmittelbaren 
Empfindungen  abhängig  sein  ließen,  insbesondere  aber  von  organischen, 
in  dem  Grade,  daß  sie  erklärten,  die  Träume  wären  nicht  Halluzinationen, 
sondern  eher  Illusionen. 


1  S.  Freud  widmet  diesem  Thema  einige  Seiten  (27,  S.  /j^).  Der  Verfa.s.ser  bet- 
richtet  über  die   Auffassung   verschiedener  Autoren. 

2  Es  ist  ül>erflüssig,  noch  von  einer  somatischen  Theorie,  im  Gegensatz  zu  einer 
psjchogenetischen  Theorie  der  Träume  zu  sprechen.  Freud  neigt  dazu,  den  äußeren 
Ursprung  der  Träume  zu  unterschätzen,  weil  er  einen  bestimmten  Zweck  im  Traume 
annimmt,  derart,  daß  die  unmittelbaren  Empfindungen  von  den  übrigen  psychischen 
Aktualitäten   in   sich  aufgenommen   und   verarbeitet  werden   (27,   S.    170  u.    171  ff.). 

18    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


274  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Mir  scheint,  daß  dieser  Meinungsverschiedenheit  ein  Mißverständnis  zu- 
grunde liegt.  Nach  unseren  Feststellungen  über  die  physiologischen  Be- 
dingungen des  Traumes  kann  man  sich  nicht  vorstellen,  daß  dieser  aus 
der  festgewordenen  Erfahrung  des  Wachseins  oder  aus  den  unterbe- 
wußten Tiefen  ohne  äußeren  Reiz  entspringt.  Deshalb  könnten  in  diesem 
Sinn  alle  Träume  „Illusionen"  genannt  werden,  insoweit,  als  der  Sinnes- 
oder organische  Reiz  irgendeinen  psychischen  Inhalt  wdederer weckte, 
welcher  das  erste,  gewiß  nicht  außerhalb  des  Inhaltes  des  Traumes  selbst 
befindliche  Glied  der  Traumkette  darstellen  vmrde.  Mit  dem  Hinweise 
darauf,  daß  wir  die  Beschaffenheit  der  organischen  Anreize  nicht  kennen, 
wird  die  Gewißheit  dessen  nicht  verringert,  daß  jene  Reize  während  des 
Schlafes  wirken  und  einen  Einfluß  auf  den  Traum  ausüben.  Weil  sich 
aber  die  organischen  Reize  unserer  Kontrolle  entziehen,  während  wir 
uns  von  der  Beschaffenheit  der  Sinnesreize  besser  Rechenschaft  ablegen 
können,  mag  man  inunerhin  die  alte  Unterscheidung  zwischen  1 1 1  u  - 
s i o n s -  und  Halluzinationsträumen  aufrechterhalten, 'indem  man 
den  letzteren  Begriff  auf  die  durch  innere,  unkontrollierbare  Reize 
hervorgerufenen  Träume  einschränkt.  Doch  wird  der  Reiz,  woher  immer 
er  stammen  möge,  von  der  individuellen  Tramnphantasie  verändert  und 
verarbeitet  1. 

Es  ist  klassisches  Wissensgut,  daß  der  Ursprung  der  visuellen  Vorstel- 
lungen im  Traume  zum  großen  Teile  peripherisch  ist  (Hyslop,  Ellis, 
de  Manaceine,  Weigandt  und  viele  andere).  Ladd  (44)  hatte  mit  zahl- 
reichen Einzelheiten  bewiesen,  daß  die  optischen  Elemente  der  Träume 
imd  die  Gesichtsbilder,  die  uns  schon  erscheinen,  wenn  das  Auge  ge- 
schlossen ist,  zum  großen  Teile  dem  physiologischen  Zustande  des  Or- 
ganes  zuzuschreiben  sind:  Erweiterung  der  Blutgefäße  in  der  Hornhaut 
oder  den  Lidern,  Veränderung  des  äußeren  Lichtes,  Lage  im  Bett  usw. 
Die  farbigen  visuellen  Träume  werden  durch  subjektive  Erregungen  des 
Auges  hervorgebracht.  Dies  ist  eine  alte  Beobachtung  von  Johannes 
Müller.  Baldwin  nannte  diese  Erregungen:  unterbewußte  Sug- 
ges  tionen. 

Gewiß  sind  die  durch  augenblickliche  sensorische  Erregungen  hervor- 
gerufenen Träume  sehr  häufig.  Was  die  taktilen  und  muskulären  Kom- 
ponenten betrifft,  sind  die  Beobachtungen  einigermaßen  unstimmig. 
Wundt  (ii8,  S.  366  ff.)  sagt,  daß  im  Traume  die  Bewegungsvorstellungen 
unmittelbar  entstehen,  d.  h.  von  aktuellen  Reizen  hervorgerufen  werden. 
In  der  Hauptsache  ist  das  richtig;  aber  man  kann  die  Möglichkeit  der' 
Reproduktion  von  taktilen  und  muskulären  Eindrücken  des  Wachseins 
nicht  leugnen,  auch  nicht  das  Wiederauftauchen  kinästhetischer  Bilder, 
die  von  den  Vorstellungen  oder  den  Gedanken  dissoziiert  sind,  mit  welchen 
sie   im   Wachsein   verbunden   waren.     Ich    habe   jedoch    im   allgemeinen 

^  Chr.  Wolff  schreibt:  „Omne  somnium  initium  capit  a  sensatione  et  per  phan- 
tasrnalum  successionem  continuatur" ;  aber  in  einem  anderen  Paragraphen  fügt  er 
hinzu:  ,,si  in  duabns  personis  somnium  initium  capit  ab  eadem  sensatione  aebili^ 
somnia  tarnen  diversa  sunt."  Vgl.  Psychologia  empirica  methodo  scientifico  pertractata 
etc.  Autore  Christiane  Wolfio  etc.  Francofiurti  et  Lipsiae,  1732.  Er  spricht  von 
den   Träumen   vtMi  Seite   77   bis   89. 


HERKUNFT    DKS     TKAl  MMATKKIALES  275 


an  der  Aktualität  der  tiiktilen  und  muskulären  Empfindungen  im  Traum 
und  an  der  Ableitung  der  anderen  Traumvorstellungen  aus  ihnen  festge- 
halten. 

Icii  bestätige  die  Einwirkung  der  meteorischen  Verhältnisse  auf  die 
Tramntäligkeit  (meteorische  Sensibilität).  Greise,  Demente  und  Idioten 
sind  diejenigen,  welche  sie  am  deutlichsten  spüren;  aufSerdem  unter- 
liegen den  Einflüssen  derartiger  äußerer  Bedingungen  gewisse  Kranke, 
welche  dem  Weclisel  der  Atmosphäre,  der  Feuchtigkeit,  dem  trockenen 
Wetter,  den  Föhn-  oder  Nordwinden  gegenüber,  auch  während  des  Schla- 
fes, äußerst  empfindlich  sind.  Es  mag  seltsam  erscheinen,  aber  ich 
möchte  sagen,  daß  wir  von  den  atmosphärischen  Kräften  (und  allgemein 
gesagt,  von  unserer  physischen  Umgebung)  am  unabhängigsten  sind,  wenn 
wir  vmser  Bewußtsein  und  unsere  Hemmungsfähigkeilen  voll  beherrschen, 
daß  wir  dagegen  ihrem  Einfluß  in  der  entgegengesetzten  Verfassung  am 
stärksten   unterliegen. 

Von  einer  ganz  besonderen  Wichtigkeit  ist  die  Frage,  ob  die  Sprache 
im  Traume  peripheren  oder  zentralen  Ursprung  hat  (unmittelbare  Er- 
regung der  Sprachzentren  in  der  Rinde).  M.  Vold  imterscheidet  verschie- 
dene Arten,  wie  das  Sprechen  im  Traume  vor  sich  geht;  entweder  bezieht 
es  sich  auf  ein  Gespräch  im  Wachen,  insbesondere  auf  ein  solches  vom 
vorangegangenen  Abend,  ohne  daß  im  Traum  eine  Ursache  für  seine 
Entstehung  nachweisbar  wäre,  oder  es  kann  sich  um  ein  durch  Asso- 
ziation hervorgerufenes  Sprechen  handeln.  Die  Spur  des  Abends  hat 
andere  Spuren  geweckt  und  im  Traum  offenbart  sich  plötzlich  diese 
latente  Energie  durch  das  Auftauchen  desselben  oder  eines  ähnlichen 
Wortes.  In  einigen  Fällen  sind  die  Worte  des  Traumes  dem  Klange  nach 
denen  des  Wachens  ähnlich.  Ein  Wort  kann  sich  einem  anderen  ohne 
irgendein  logisches  Verbindungsglied  anschließen,  weil  zwei  Teile  des 
Sprachzentrums,  diu'ch  je  ein  von  dem  anderen  unabhängiges  Wort  des 
Tages  beeinflußt,  in  demselben  Augenblicke  des  Traumes  in  Tätigkeit 
treten,  so  daß  sich  daraus  als  Synthese  ein  in  seinen  Teilen  nicht  zu- 
sammengehöriges Wort  ergibt.  Ich  bemerke  beiläufig,  daß  wir  dieselbe 
Tatsache  bei  gewissen  Hypophasikern  beobachten.  Eine  andere  Form 
der  unlogischen  Wortverknüpfung  ist  nach  M.  Vold  die  sukzessiv-syn- 
thetische, bei  welcher  ein  in  einem  gewissen  Momente  des  Traumes  auf- 
tretendes Wort  ein  anderes  vermöge  der  Ähnlichkeit  des  Klanges  hervorruft. 

Zuweilen  handelt  es  sich  um  einen  Reim  der  Endsilben,  zuweilen  um 
die  Assonanz  (den  Gleichlaut  der  Anfangsbuchstaben  von  zwei  oder  meh- 
reren Wörtern,  die  aufeinanderfolgen). 

Einer  meiner  Freunde  (Venezianer)  träumte  von  Venedig  (November 
1919).  Er  befand  sich  in  ,,C  a  n  n  areggi  o"  in  Betrachtung  versunken. 
Nach  und  nach  sieht  er,  daß  sich  der  Stadtteil  umgestaltet;  er  war  in 
„Viareggio".     Hier  scheint  mir  die  Klangassoziation  klar  vorzuliegen. 

Die  Wortvorstellungen  im  Traume  können  auch  von  aktuellen  peripheren 
Reizen  erweckt  werden,  natürlich  nicht  immer.  M.  Vold  hat  in  dieser 
Hinsicht  sehr  interessante  Versuche  gemacht  imd  Betrachtungen  angestellt. 
Er  geht  von  der  Beobachtung  aus,  daß  bei  Schlafenden  der  Mund  zumeist 
trocken  ist,  und  zwar  infolge  des   Umstandes,   daß  er  halbgeöffnet  und 


18» 


276  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TRAUMES 

die  Zunge  leicht  hervorgestreckt  gehalten  wird.  I>er  geöffnete  Mund 
erregt  zum  Teil  Vorstellungen  von  Geschmack,  Berührung,  Druck,  Pfeifen, 
Singen,  Lachen;  zum  Teil  ruft  er  das  Traumbild  des  geöffneten  Mundes 
bei  einer  anderen  Person  hervor,  und  schließlich  löst  er  geradezu  Wort- 
vorstellungen aus.  Der  Lautbildungsapparat  ist  im  Traume  von  großer 
Wichtigkeit,  nicht  nur  für  die  Worte,  welche  ausgesprochen,  sondern 
auch  für  die,  welche  vernommen  werden.  Oft  ist  es,  wenn  man  beim 
Erwachen  ein  Gespräch  aus  dem  Traume  wieder  überdenkt,  schwierig,  zu 
sagen,  ob  es  sich  um  motorische  oder  um  akustische  Vorstellungen 
handelt,  ob  um  vernommene  oder  um  selbstgesprochene  Worte.  Vold  ist 
nun  der  Meinung,  daß  die  Stellungen  oder  die  schwachen  Bewegungen 
des  Sprachorganes  che  Ursache  der  im  Traume  vemonamenen  Worte,  wenn 
auch  nicht  immer,  bilden.  Der  halb  geöffnete  Mund  mit  den  etwas 
vorspringenden  Lippen  erzeugt  bestimmte  Laute  (die  labialen) ;  wenn 
die  Zimge  hinter  den  Zähnen  belassen  wird,  ergeben  sich  andere  (die 
dentalen)  usw.  Ich  besitze  keine  Erfahrungen,  durch  welche  diese  Be- 
merkimgen  Volds  bestätigt  würden. 

Zuweilen  wiederum  werden  die  Worte  des  Traumes  im  Sprachapparate 
von  bestimmten  peripheren  Zuständen  der  Haut  und  der  Muskeln  hervor- 
gerufen, weil  das  Sprachzentrum  vom  Zustand©  der  Haut  und  des 
Muskelapparates  beeinflußt  werden  kann.  Natürlich  können  die  von 
den  Muskelerregungen  hervorgerufenen  Worte  ebensowohl  der  Mutter- 
sprache des  Träumenden  als  auch  einer  fremden  Sprache  angehören. 
Ebenso  existieren  solche  Worte  nicht  immer  als  im  Traume  gehört  oder 
ausgesprochen,  sondern  sie  können  auch  als  geschrieben  geistig  geschaut  werden. 

Mourly  Vold  hat  also,  entgegen  der  Meinung  vieler  neuerer  Autoren, 
die  große  allgemeine  Bedeutung  der  Empfindungen  während  des  Schlafes 
als  indirekter  oder  direkter  Erreger  der  verschiedenartigsten  Traum- 
vorstellungen  betont. 

Wie  dem  auch  sei,  gewiß  werden  im  Traume  Wortneubildungen  ge- 
schaffen, wie  Kraepelin  (40,  S.  ^22  f.;  /ii)  und  ich  selbst  wiederholt 
gezeigt  haben;  und  dies  stellt  eine  zweite  Analogie  zwischen  dem  Traum 
und  gemssen  chronischen  Psychosen  wie  der  Dementia  praecox  und  der 
Paranoia  dar.  Die  Wortneubildungen  können  allerdings  peripheren 
Ursprung  haben,  zumeist  aber  entstehen  sie  aus  Verschmelzungen  ge- 
träumter  Worte  (94)-  In  manchen  Fällen  gelingt  es  leicht,  den  Ursprung 
der  Wurzel  cnler  der  ersten  Silbe  zu  erkennen,  während  uns  die  Endung 
oder  die  zweite  Silbe  dunkel  bleibt.  Ich  erinnere  mich  hier  einer  meiner 
Wortneubildungeni  im  Traume:  Grad.  Ich  fand  alsbald,  daß  gra .  .  . 
aus  der  am  Abend  vor  der  Traum^nacht  vorgenommenen  Lektüre  ent- 
sprungen war,  und  zwar  aus  derjenigen  der  Legende  des  heiligen  Grals, 
konnte  aber  nicht  die  Herkunft  des  Endbuchstaben  ,,d"  begreifen. 

Was  die  innerorganischen  und  die  kinästhetischen  Vorstellungen  betrifft, 
so  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  daß  sie  im  Traume  wieder  aufleben  können 
durch  unkontrollierbare  (unmittelbar  aus  den  entsprechenden  Rindenge- 
bieten entspringende?)  Reize,  wie  es  bei  Hypnotisierten  und  bei  Hysteri- 

1  Neubildung   nalürlicli   nur  im  Italienischen. 


HERKl.NFT     DES     THAlMM  ATEHIALKS 277 

sehen  in  der  Phase  der  Ucfres^ion  <k*r  IVrMinlichkcil  (S<>llier)  einzu- 
treten pflcfrt;  iibiT  auch  diese  \on>tellunf'on  leben  gewöhnlich  durch 
die  Einwirkung  {>exipherer  Erri'igvyigen  wieder  auf.  Viele  Psychiater 
nahmen  bei  H)|K»chondern  einen  zentralen  Ursprung  ihrer  Wahnideen 
an,  andüj^  aber  und  ich  M^lbst  verzeichneten  bei  Melancholikern,  l>enienten, 
Paranoiden  und  Senilen  den  Sachverhalt,  daß  die  Wahnideen  von  einer 
psychisciien  Umbildung  durch  \  orändcrungen  der  (lemeingefühle  geschaffen 
werden,  welche  aus  Veränderungen  der  Empfindlichkeit  einiger  innerer 
Organe  entstehen.  Es  ist  bemerkenswert,  tlali  die  kinästhetischen  und 
von  den  inneren  Organen  herrührenden  Empfindungen,  da  sie  von  einem 
unverkennbaren  (iefühlston  begleitet  werden,  eine  besondere  Bedeutung 
im  Traum  annehmen  und  daher  ganz  eigenartige  Träume  verursachen 
können,  z.  B. :  Al|)drücken,  gewisse  lange,  traurige  Träume,  Träume  vom 
Ersticken,   vom   Stürzen   aus  großer  Höhe,   vom   Tode  usw. 

Im  Traum  also  überwiegt  das  Gemeingefühl  über  die  Sinnesempfin- 
dungen, aber  in  den  meisten  Fällen  werden  die  organischen  Empfindungen 
nicht  direkt  zu  Traumvorstellungen,  sondern  werden  zumeist  durch 
.\ssoziation  in  andere  Vorstellungen  übersetzt,  welche  aber  —  imd  das 
ist  von  größter  Bedeutung  —  zuweilen  den  Gefühlston  annehmen,  der 
mit  der  lu^prünglichen  Empfindung  verbunden  war.  Bei  einem  Knaben 
verwandelte  sich  eine  unangenehme  Empfindung  am  Fuß  in  den  Traum 
eines  Spieles  mit  den  eigenen  Genossen  um;  aber  das  geträumte  Spiel 
wurde  von  imangenehmen  Gefühlen  physischer  Ermüdung  und  Ver- 
drießlichkeit begleitet.  Zuweilen  scheint  es,  daß  der  Gefühlston  der 
ursprünglichen  \  iszeralempfindung  vom  Gefühlston  der  sekundären 
Empfindung  überwogen  wird.  So  ist  es  eine  gewöhnliche  Tatsache, 
daß  der  lästige  Zustand  der  starken  Anfüllung  der  Blase  eine  geschlecht- 
liche Erregung  hervorruft  und  diese  wiederum  einen  affektiven  Zustand 
lustvoller  erotischer  Begierde.  Ich  habe  mehrere  Male  bei  jimgen  Mädchen 
die  Tatsache  verzeichnet,  daß  die  Erfüllung  der  erotischen  Begierde 
gerade  mit  dem  Abgänge  von  Urin  während  des  Schlafes  zusammenfällt. 
In  gewissen  Fällen  endlich  tauchen  Bilder  begehrter  Frauen  aus  den 
aufgespeicherten  Erlebnissen  des  Wachseins  im  Augenblick  einer  un- 
angenehmen Empfindung  in  den  inneren  Organen  auf,  und  dann  nimmt 
der  Traum  einen  sehr  seltsamen   Charakter   an. 

Es  ist  bekannt,  daß  kleine,  von  zu  starker  Anfüllung  des  Magens 
(57)  erzeugte  Störungen  der  Herztätigkeit  und  Atmung  in  sekundärer 
Weise  Träume  von  schnellem  Laufen,  schwerer  körperlicher  Arbeit  oder 
auch  von  Schweben  oder  von  Fliegen  zustande  bringen  (L.  Strümpell). 
Deshalb  entspricht  die  Meinung  derjenigen  nicht  den  Tatsachen,  welche 
besondere  Magen-,  Atmungs-  oder  Herzträume  beschrieben.  Es  ist  nicht 
berechtigt,  so  zu  spezifizieren,  weil  das  viszerale  Nervensystem  (sym- 
pathisches System)  selbst  an  alle  anderen  Teile  des  zerebrospinalen 
Nervensystems  angeschlossen  ist,  und  wenn  eine  Erregung  bei  der  Rinde 
anlangt,  können  verschiedene  psychische  Vorgänge  zustande  kommen,  welche 
nicht  von  der  Quelle,  aus  der  die  Err^rung  entsprang,  Kunde  geben. 
Und  von  neuem  stoßen  wir  hier  auf  jenen  Vorgang  der  Umbildung 
im  Traume,   welche  ich  im  nächsten   Paragraphen  behandeln   werde. 


278 DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

C.    INHALTE    DES    WAGHBEWUSSTSEINS,    UNTERBEWUSSTSEIN 
UND  INHALT  DER  TRÄUME. 

Zum  Thema,  welches  wir  behandeln,  gehört  die  viel  erörterte  Frage 
über  den  Einfluß  der  jüngsten  Erlebnisse  des  Wachbevvußtseins  auf 
den  Traum.  Ich  habe  die  Ansicht  vertreten  tuid  vertrete  sie  noch, 
daß  die  jüngsten  Erlebnisse  des  Tages  zu  einem  sehr  hohen  Prozentsatz 
in  unsere  Träume  eindringen,  wenngleich  umgebildet  und  manchmal  nur 
nach   einer   einfachen    AutopsychoanaJyse   erkennbar. 

Protokoll.  Nacht  des  2.  Dezember  191/i.  Niedergeschrieben  sofort  nach  dem  Er- 
wachen. Ich  bin  vor  Gericht,  es  wird  verhandelt,  man  spielt  die  Marseillaise;  ich 
sehe  den  Professor  Dubois  aus  Bern,  aber  viel  jünger;  ich  bleibe  im  G«richtssa] 
mit  einer  jungen,  brünetten  Frau;  ich  verliere  mehrere  Male  den  Hut.  Es  ist  ein 
langer   Traum,    lebhaft,    bis    in   die   Einzelheiten    ausgeführt,   alles   gut    zusammenhängend. 

In  diesem  Traum  erkenne  ich  sofort  die  folgenden  Elemente  aus  dem 
Wachbewußtsein  wdeder: 

Gerichtshof  —  ich  hatte  bei  Gericht  zwei  Tage  vor  der  Nacht  des  Traumes 
ein     Gutachten    abgegeben. 

Marseillaise    —    man    hörte    sie    ununterbrochen    auf    den    Straßen    spielen. 

Professor  Dubois  —  wegen  des  Aufschubes  des  Neurologenkongresses  in  Bern 
hatte    ich    gerade    einen    Tag    zuvor   an    Professor    Dubois    geschrieben. 

Junge,  brünette  Frau  —  ich  verliere  den  Hut  —  ich  finde  nichts 
in  den  vorhergehenden  Tagen;  ich  bemerke  nur,  daß  es  mir  sehr  oft  im  Traume 
vorkommt,  daß  ich  Hut  und  Kleider  verliere,  eine  gewöhnliche  Erscheinung,  welche 
die    Freudianer   kennen   imd   in   ihrer  Weise    erklären. 

Protokoll.  Nacht  des  17.  August  191 7.  Niedergeschrieben  eine  halbe  Stunde  nach 
dem  Aufstehen.  Besuch  einer  unbekannten  Kirche  Roms  in  Begleitung  von  Freunden  .  .  . 
Die  Kirche  ist  ganz  rot  tapeziert  (Papier  oder  Damast?),  drin  sind  zwei  .\ntiquarei, 
welche  die  Zeichnung  an  der  Verkleidung  der  Wände  kopieren:  Es  waren  große  Rosen; 
ich  halte  dem  Sakristan  vor:  ,^Das  ist  doch  eine  Papiertapete  und  nicht  einmal 
antik  .  .  ."  Papier  oder  Damast?  Zweifel  —  schließlich  Entscheidung,  daß  es 
Damast  ist.  Der  Patron  der  Kirche,  ein  Kardinal,  tritt  ein  (ein  kleiner  Greis,  ganz 
rot  gekleidet).  Ich  erfahre,  daß  die  Tapete  nach  Meinung  der  Abzeichnenden  von 
großem  Wert  ist  .  .  .  (Sprung),  Verlassen  der  Kirche  mit  den  Freunden.  Eine 
fremde  Frau  gibt  dem  Sakristan  ein  Trinkgeld.  Nahe  am  Ausgang  befindet  sich  ein 
offener  Glasschrank  mit  vielen  antiken  Gegenständen,  insbesondere  etruskischen  Terra- 
kotten und  anderen  Kuriositäten.  Ich  bewundere  sie  begehrlich;  mir  kommt  der  Ge- 
danke, diesen  oder  jenen  Gegenstand  zu  nehmen,  dann  aber  enthalte  ich  mich  dessen, 
aus  Bedenklichkeit.  Inzwischen  gibt  mir  einer  meiner  Freunde  von  ferne  ein  Zeichen, 
daß  er  eine  Statuette  aus  etruskischer  Terrakotta  gestohlen  habe  .  .  .  Ich  weiß,  daß 
der  Traum  reicher  an  Einzelheiten  war,  aber  ich  erinnere  mich  nicht  an  mehr.  Die 
Elemente  dieses  Traumes  gehörten  alle  zu  den  jüngsten  Erlebnissen  des  Wachbewußtseins: 

Besuch  einer  unbekannten  Kirche  .  .  .  Am  Nachmittage  des  der 
Traumnacht  vorangegangenen  Tages  hatte  ich  in  Begleitung  von  Verwandten  und  des 
jungen  Eigentümers  den  Saal  eines  alten  Schlosses  mit  Gemälden,  Möbeln,  antiken 
Waffen   usw.   besucht. 

Rot  .  .  .  Papier  oder  Damast  .  .  .  Drin  sind  zwei  Antiquare. 
Zwei  oder  drei  Tage  vor  der  Traumnacht  hatte  ich  mich  mit  einem  Antiquar  über 
den  Wert  eines  Stückes  roten  Damastes  mit  Rosen  unterhalten,  welches  ich  dann  er- 
worben  hatte. 

Der  Kardinal  .  .  .  Nichts  Ähnliches  in  den  jüngsten  Erlebnissen  des  Wach- 
seins.    Vielleicht   handelt    es    sich    um  eine    oberflächliche    Assoziation    zu    ,, roter    Farbe". 

Fremde  Frau  .  .  .  Glasschrank  mit  antiken  Gegenständen... 
Ich  hatte  einige  Tage  vor  dem  Traume  einige  ausländische  Kunstliebhaber  beim  Antiquar 
Di  Castro  angetroffen.  Ich  hatte  in  mehreren  Antiquitätengeschäften  kleine  Gegen- 
stände im   Glasschrank   bewundert. 


INHALT  DES  WACHRKWTSSTSEINS.  INTKRBEWUSSTSEIN  U.  TRALMINHALT  279 

Idoo,  wegzunohnion  .  .  .  zurückgedrängt  durch  moralische 
Erwägujigeii.  Bei  dorn  Besuch  im  Saalo  dos  Schlosses  hatte  ich  den  Wunsch 
empfuntlon,  iwoi  oder  drei  GogensUüide  zu  besitzen.  Mein  Wuiwch  wird  im  Diebstahl 
des    Freundes   >-orwirklicht.     EHos   ist  oiii   F\ill    von   Projektion  eines   affektiven    Zustande». 

Gerado  durch  die  intimen  Beziehungen,  welche  zwischen  dem  Traum- 
inhalt und  den  jüngsten  Erlebnissen  des  Wachbewußtseins  bestehen, 
werden  dem  Träumer  die  Allegorien  oft  sehr  klar,  und  er  erklärt  sie 
sogleich  1  nach  dem  Er>vachen  durch  Intuition  wie  in  den  Vorgängen 
des  W'iedererkennens.  Bei  mir  kommt  dies  sehr  oft  vor;  hier  sind 
2  Protokolle  aus  neuester  Zeit: 

Protokoll.  Nacht  vom  2g.  August  1919.  Niedergeschrieben  vier  Tage  später.  In 
der  Naclit  auf  den  29.,  2I/2  Ulir,  envache  icli  durch  starkes  Leibgrimmen  mit  ziem- 
lichen Schmerzen.  Ich  stelle  die  Talsache  fest,  treffe  meine  Vorsichtsmaßregeln,  wt>bei 
ich  zu  mir  selbst  sage:  Was  für  eine  Revolution!  (im  Leibe).  Ich  verändere  meine 
Lage  und  scldafe  sofort  wieder  ein.  Ich  träume  von  einer  Revolution  in  Italien  .  .  . 
Ausschüsse,  Gericlilshof,  Personen  .  .  .  viele  Einzelheiten.  Interessanter  Traum,  nicht 
peinlich.  Ich  erwache  gegen  6  Uhr  morgens,  indem  ich  mich  des  Traumes  gut 
erinnere  und  seine  Ursache  sowie  seine  B^eutung  sofort  verstehe.  In  jenen  Tagen 
las  ich  ein  Bucli  über  den  Bolschewismus.  Bei  einer  derartigen  EHsposition  der 
Phantasie   hatte   das    Leibgrimmen   die    Bilder  einer    Revolution   inszeniert. 

Protokoll.  Nacht  auf  den  5.  September  1919.  In  der  Nacht  auf  den  5.  September 
l»abe  ich  lebhafte  Träume,  aus  welchen  ich  mich  beim  Erwachen  (7  Uhr  morgens)  sehr 
gut  folgender  Bilder  erinnere:  Ich  schlafe  mit  meiner  ganzen  Faunilie  außer  Haus; 
es  ist  spät,  ich  stehe  auf,  mache  allein  mein  Gepäck  so  gut  wie  möglich  zurecht  und 
bin  daran,  auszugehen.  Ich  verirre  mich  im  Hotel Ich  trete  in  ver- 
schiedene Zimmer  ein.  in  denen  andere  Leute  sciilafen.  Beim  Hinausgehen  sehe  ich, 
me  sich  Reisetaschen,  Bündel,  Gegenstände  in  erschreckender  Weise  vermehren  .  .  . 
ein   peinlicher   Traum;    ich    weiß    nicht,   wie   ich    mir   helfen    soll;    ich    habe   niemanden, 

der    mir    Hilfe    leistet,    keine    Transportmöglichkeiton Ich    reise    mit    meinem 

ungeheuren    Gepäck    ab bald   befinde   ich   mich   im   Automobil,   bald   zu!   Pferd . .  ., 

ich  erreiche  niemals  ein  Ziel;  eine  Reise  voller  Mißgeschick  (nicht  mit  der  Eisen- 
bahn) ....  Unter  derartigen  Bildern  und  mit  einem  Gefühl  der  Mutlosigkeit  waclie 
ich  auf.  Ich  denke  gleich  über  meinen  Traum  nach  und  mit  einem  Schlage  wird 
mir  seine  Bedeutxmg  klar  (niedergeschrieben  8  Uhr):  Als  ich  mit  meiner  Tochter 
von  Salsomaggiore,  wo  wir  ims  aufhielten,  abreisen  mußte,  sprach  man  oft  von  Koffern, 
Reisetaschen  und  der  Art,  wie  wir  unser  Gepäck  auf  ein  Mindestmaß  einschränken 
könnten.  Am  Tag  vorher  wartete  ich  auf  die  Anmeldung  zweier  Personen  zu  ärztlichen 
Besuchen   in   ihren    Hotelzimmern. 

Einige  Tage  hindurch,  jedoch  nicht  fortgesetzt,  füllte  ich  im  Winter 
1916  Formulare  wie  folgendes  aus: 


Die  der  Nacht  des  Traumes 
vorangehenden  Tage 

Vorstellungen  im  Traume 

4ter 

3ter 

2ter 

Iter 

1  Vgl.    Kap.  I,    Einleitung    über   die   Traumwassenschaftsmethoden. 


?80 DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TRAUMES 

Aus  den  1 6  ausgefüllten  Bogen  entnehme  ich,  daß  keiner  der  1 6  Träume 
von  den  Emdrücken  des  Wachbevvußtseins  eines  oder  mehrerer  der 
4  vorangegangenen  Tage  frei  ist;  daß  in  12  die  Eindrücke  der  ' 
vorangegangenen  Tage  vorwiegen,  daß  in  allen  entstellte,  ab^kürzte 
oder  erweiterte  Eindrücke  vorhanden  sind,  und  nur  in  zweien  aS  ak 
S«  H  t.f'  /.  vorangegangenen  Tage.  Ich  bemerke  jedoch,  daß^  nur 
das  Hauptthema  des  Traumes  niedergeschrieben  wurde 

Im  Jahre  191 5  und  1916  verteilte  ich  an  einige  Personen  (Studenten 
beiderlei  GescWechts  und  an  meine  Assistentin)  lin  Formular  zur  EiV 
t^s'fZnr^;ZLl:    -^^^-"^^^^>^-^-  Nächten.    Ich  entnahm 

a)   Im  Durchschnitt  bestanden   Träume  in   3o  Prozent  der    dächte- 
T.^  t' J'^T^  ^""^'^^^u  Tatsachen  oder  affektive  Zustände  von  einem 
Tage,  2  oder  3  Tagen  vorher  in  75  Prozent  der  Nächte  zur  Darstellung 

c)  m  den  anderen  Fällen  bezogen  sich  die  Vorstellungen  im  Traum 
auf  Tatsachen  (im  Wachsein  bewußt),  die  der  Träumer  in  meh/^e^ 
w«iiger  weit  bis  ins  Knabenalter  (nicht  in  die  Kindheit)  zurückreichenden 
Jahren  erlebt  hatte,  und  zwar  1 5  Prozent;  "i^Kreicnenaen 

d)  in  einer  Minderzahl  der  Fälle  (10  Prozent)  enthielten  die  Träume 
VorsteUungen  oder  affektive  Zustände,  welchen  im  Augenblick  (es  v^r^e 
^Wen     "^^"    '^"''^*^    ^""'    ^^*^^^^^"    desVachbivuß^ns' 

Im  Traume  werden    demnach    ideoaffektive    Komplexe    von    unmittel- 

^rJT  I^'"""'  '^^''^'  '?"  J^^^^*«^  (^"^  Tage'  des  Traumes)  und 
von  mel^  oder  weniger  weit  zurückliegender  (einige  Tage  vor  dem 
Traum)  Entstehung  verarbeitet.  V       ö      ^«^o«    vor    aem 

Im  übrigen  kann  man  sagen,  daß  im  Traum  ebensowohl  Tatsachen 
teT^r:^"'  ^^"\^''^^^'  geringfügige  Aufmerksamkeit  entgegenbrach- 
heJ^t^n.  ^^^"^ä^^J-hkeiten),   wie  Tatsachen,   die  uns   sehr 

Doch   leben    im   Traum    ausnahmsweise    längst    vergangene  und   ganz 

mXn'^'T  f  l'^^r  "^^^^  ^"^'  "^^^^^  im  Unterbewußtsein  schlSn 
^Zh   :i    Ich    habe   diesen    Gegenstand   früher   einmal    behandelt,    werde 
rmch   daher  kurz   fassen.     Es   kehren   im   Traum    atavistische  EriebnLse 
wieder,    solche    aus    der    Familie,    dem    frühesten    Kindesalter,    diT  ^ 

auch  im  Traum  Inhalte  wieder,  deren  man  sich  aber  im  Wachen  bereits 
wieder  erinnert  ha  te.  Ich  legte  schon  Beweise  für  das  Wiederkehren 
unbewußter  atavistischer  Erlebnisse  vor  (soweit  es  überhaupt  mS 
eni^  •'  ^t^^l  ^''  Beobachtmig  ies  Schlafenden  und  mit  Vr- 
jemgen  seiner  Berichterstattung  beim  Erwachen  Beweise  zu  liefern), 
Ina  .  •  J'^^"^^  T^""™  Schwimmen  der  Neufundländer  Hunde  und  die 
Zt  !l  n"^  l"  ^T"^^  ^f'  ^^^^^"  ^°^  Erwachsenen.  Die  Wieder- 
diirrh  ?  U^terbewußteeins  im  Traume  wird  in  unzweifelhafter  Weise 
^Z^n  A'  r"^^  äf  ^^  PartieUer  Amnesie  behafteten  Personen  be- 
kennen im  V^'""  Wachbewußtsein)  verlorengegangenen  Erinnerungen 
können  im  Traume  wieder  erscheinen,  und  dara7fhiS  werden  die  Ereig- 


IMlAl/rnKSWACilBEWUSSTSKINS.  UM  KUBKWl  >SrSEL\  V.  TRAIJMI.NHALT  2«! 

uisso  borirlilet  (I'ali  df^  Ilociiwünli':!!  Ilaiina,  erläutert  von  SidLs  Im 
Jahre  Kjof),  benihmter  Fall  der  Mili  Beauchainps  von  Morton  Princc 
und  viele  andere  pathologische  Fälle).  Die  Wiederkehr  des  IJnleirbowußton 
aus  der  Kindheit  wird  durcJi  die  allgemeine  Frlahrung  Ix'wicsen.  Es 
ist  gleichwold  von  Nutzen,  daß  icli  ein  pcrsönliche,s  Protokoll  zur 
Kenntnis  bringe,  welchem  ich  besonderen   Wert  zuschreibe: 

Protokoll.  -Nacht  dci  i/|.  Jiuu  i<)i.4;  niiMlorgoschriobon  um  "j  Uhr  morgens;  der 
Tag  (i3.  Juni)  war  ansLr»'iiptiid.  UnunU'rbrfKhoiier  Schlaf,  im  Momente  des  Erwachons 
das  Grefühl.  viel  geträumt  zu  lialnii ;  Kopfsdimerz.  Klare  Erinnerung  an  eine  Einzelheit 
der  gehöhten  Träume:  ein  Beet  mit  zwei  (oder  vier?)  langgestreckten  Erhöhungen  .  .  . 
der  Arbeiter  hat  einen  Spaten  .  .  .  Leichname  sind  dageblieben,  als  andere  wegge- 
schafft wurden.  Nach  einigen  Spatensticlien  erscheinen  in  der  Tat  (zwei  oder  vier) 
aixspej. treckt  liegrude  Skelette.  Sie  bestehen  aber  nicht  alle  nur  aus  Knoclien,  zum 
Teil  sind  »io  von  \\'eichteilon  umhüllt,  genau  so  wie  in  der  ..Aiiferstehung  der  Toten" 
von  Luca  Signorelli  im  Dome  von  Orvieto  (dieser  Vergleich  ist  ein  Bestandteil  des 
Traumes).  Ich  be<trachfe  sie  mit  Neugierde,  aber  ohne  Traurigkeit;  bei  der  Be- 
trachtung bemerke  ich,  daß  sie  mimische  Bewe^ngen  ausführen,  und  lenke  die  Auf- 
merksamkeit der  .\nwesenden  auf  (bese  Tatsache.  .\lle  erkennen  den  Sachvorhalt, 
ohne  sich  jedoch  zu  wiuidem.  Indem  ich  auch  auf  die  Leichname  schaue,  sehe  ich, 
daß  sie  sich  immer  mehr  und  mehr  beleben,  die  Arme  aufheben  und  sich  strecken  .... 
sie  sind  ernst  und  beachten  uns  nicht  ....  ich  bemerke:  der  Tod  ist  nichts  als 
ein  Traum,  und  es  wäre  nur  erforderlich,  ein  Mittel  zu  finden,  um  das  Envachen, 
wann  immer  es  nuch  erfolge,  nicht  zu  verhindern.  Ich  habe  das  Gefühl  —  im 
Traume  — ,  daß  das  Ereignis  dieses  Wiederauflelxms  der  Toten,  dieses  Wieder- 
erwachens, eine  von  mir  sclion  mehrere  Male  beobachtete  und  ganz  sichere  Sache  sei. 
(Ich  bemerke  beiläufig,  daß  Auferstehungsträume  bei  mir  oft  vorkommen.)  Ich  sag«) 
im  Traume:  wie  wunderlich  ist  diese  Art  der  Auferstehung  der  Toten!  Das  Fleisch, 
welches  sich   nach  und    nach   über  den   Knochen   wieder  form,t und  doch   ist  es  so. 

Aufzeichnung  12  Llir  am  i/j.  Juni:  Es  ist  ein  Traum,  welcher  sich  vom  Alltäg- 
lichen entfernt;  in  den  Ereignissen  der  Tage,  die  der  Traumesnacht  vorangegangen 
waren,  finde  ich  nur  politische  Gespräche  und  Gedanken  aus  Anlaß  der  Revolution! 
in  der  Romagna,  außerdem  die  reichliche  Arbeit  des  i3.  Juni.  Dieser  Traum  ist  aus 
Elementen  geoildet,  welche  dem  Kindeealter  angehöreni.  In  der  Tat  hatte  ich  gerade* 
in  meiner  Kindheit  oft  das  Fresko  Signorellis  vor  Augen.  Im  Traum  kehrt  nicht  nur 
die  Erinnerung  an  das  Fresko  wieder,  sondern  auch  der  Glaube,  daß  die  Auf- 
erstehung der  Toten  in  der  Weise  geschehen  müsse,  vrie  sie  Signorelli  vorschwebte. 
In  der  Tat  war  ich  als  Kind  vollkommen  davon  überzeugt,  aber  als  ich  erwachsen  war, 
hat  sich  nvir  diese  Überzeugung  niemals  wieder  bewiißt  aufgedrängt,  nicht  einmal  als 
Erinnerung. 

Es  ist  wahrscheinlich,  daß  viele  Fälle  von  Paramncsie  im  Traume 
(falsche  Erinnerungen  an  Erlebnisse  des  Wachbewußtseins,  die  man 
im  Traume  hat)  nichts  anderes  sind  als  das  Wiedererscheinen  von  Er- 
eignissen oder  Anschauungen  der  Kindheit.  Das  Wiederauferstehen  des 
Unterbewußten  aus  der  Kindheit,  wie  es  sich  im  Traum  ereignet,  kann 
uns  über  einen  großen  Teil  der  wunderbaren  und  von  einigen  Mystikern 
des  Altertums  imd  der  Neuzeit  für  übernatürlich  gehaltenen  Träume 
Aufschluß  geben,  Träume,  welche  gleichwohl  heutzutage  auch  von  deo 
angesehensten  Spiritisten  und  Theosophen  (Steiner)  ziemlich  gering  ge- 
schätzt werden.  Das  Wiedererwachen  der  Inhalte  des  Unterbewußtseins 
erklärt  auch,  warum  der  Traum  als  empfindlichstes  Reagens  zur  Ent- 
hüllung der  normalen  und  anormalen  geschlechtlichen  Triebe  gilt  (P. 
Naocke) ;  weil  sich  im  Traume  das  moralische  Niveau  des  Träumenden 
senkt  und  die  sittlichsten  Personen  im  Traum  unsittlich  werden  können; 
weil    sich    nicht    nur    gewisse    Körperkrankheiten    durch    die    vermehrte 


282  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Empfindlichkeit  der  inneren  Organe  und  durch  das  Übemdegen  des 
Gemeingefühls,  sondern  weil  sich  auch  gewisse  krankhafte  Wahnideen 
infantilen  und  ethnischen  Charakters  usw.  im  Traume  früher  als  im 
Wachsein    kundgeben. 

Daß  also  zu  den  Träumen  Komponenten  gehören,  welche  aus  dem 
Unterbewußtsein  abgeleitet  sind,  gehört  zum  klassischen  Wisseasgute, 
welches  keiner  Bestätigung  bedarf,  insbesondere  wenn  man  bedenkt,  daß 
auch  in  jeder  unserer  psychischen  Tätigkeiten  des  Wachbewußtseins  die 
unterbe\\'ußten  Komponenten  (erbliche,  neugebildete  und  unterbewußte 
aus  der  Kindlieit)  vorhanden  sind  und  eine  große  Bedeutung  besitzen, 
wie  z.  B.  bei  der  Empfindung,  beim  Wiedererkennen,  in  den  Gewohn- 
heilen, dem  Charakter,  in  den  Anlagen,  in  der  Erfindungstätigkeit,  in 
den  krankhaften  Systembildungen  der  Persönlichkeit  usw.  Es  ist  das, 
was  Patini  aktives  latentes  Unbewußtes  (incosciente  latente 
attivo)  und  was  Dwelshauvefs  dynamisches  Unbewußtes  nennt. 
Nur  über  folgende  Punkte  kann  eine  Kontroverse  entstehen:  a)  ob 
nämlich  das  Unterbewußtsein  jene  unbedingte  Vorherrschaft  im 
Traume  besitze,  welche  ihm  von  den  Freudianern  zugeschrieben  wird. 
Das  von  mir  aufgenommene  Inventar  der  Traumelemente  bestätigt 
diese  Meinung  nur  teilweise,  b)  ob  auch  die  Komponenten,  die  unmittel- 
bar aus  dem  Traume  selbst,  und  die  Komponenten,  die  aus  der  Er- 
fahrung des  Wachbewußtseins  stammen,  eine  mehr  oder  weniger  geheim- 
nisvolle Umbildung  durch  das  Unterbewußte  aus  der  Kindheit  und  über- 
haupt durch  die  seit  langer  Zeit  vergessenen,  willkürlich  oder  unwill- 
kürlich verdrängten  Erfahrungen  des  Wachbewußtseins  erleiden.  Diese 
Möglichkeit  wird  im  allgemeinen  nicht  geleugnet.  Es  wird  im  folgenden 
gesagt  werden,  mit  welchen  Einschränkungen  sie  zugegeben  werden  kann. 


D.  DYNAMIK  DES  TRAUMES  i 

In  diesem  Paragraphen  soll  auf  folgende  Fragen  geantwortet  werden: 
Wie  entNvickelt  sich  der  Traumvorgang,  und  welchen  Kräften  gehorcht 
er?  Die  Antwort  der  Freudschen  Lehre  auf  diese  Fragen  ist  bekannt. 
Übrigens  w^rde  ich  im  nächsten  Kapitel  von  ihr  sprechen.  Der  Traum- 
vorgang ist  in  funktioneller  Hinsicht  eine  Metamorphose  i.  Die  Meta- 
morphose betrifft  die  Empfindungen  des  Schlafenden,  die  aus  seiner 
vergangenen  bewußten  Erfahrung  hervorgehenden  (vom  Subjekte  nach 
dem  Erwachen  wiedererkannten)  Erlebnisse  sowie  die  Entwicklung  der 
Trauminhalte  selbst,  woher  sie  auch  ursprünglich  stammen  mögen.  Im 
folgenden  ist  das  von  mir  in  einem  anderen  meiner  Werke  gegebene 
Schema  ersichtlich.  Die  Zusätze  und  Erläuterungen  werde  ich  im  Text 
entwickeln. 


^  Sicul  aspicienti  in  nubibus  in  vi^lando  apparent  similitudines  hominum  et  alionun, 
quae  cito  permutantU|r  a  figura  in  figuram  quando  movetur  successive  post  aliam,  eodem 
modo  est  de  simulacris  quod  quolibet  apparet  post  aliud  et  unum  in  aliud  cito  permutatur. 
So   der   heilige   Thomas    von   Aquino. 


DYNAMIK    DES    TRAUMES  283 


Metamorphose  des  Traumes 
von   einfachen    VorsU'Uung^Mi,    MiUh^rn,   Ereignissen,   wie  sie  bei  gewissen 
Vergiflnngcn    vorkommen: 

I.    Umbildung   im   engeren    Sinne: 

a)  durch  Neboneinanderlagerung:  schnelle  Aufeinandorfolgo  zweier 
Bilder  mit  oder  ohne  ,,I*erscveration"  des  vorhergehenden  Bildes.  Beispiel: 
doppeldeutiger  Traum  (sogno  bi fronte); 

b)  durch  Übereinandorle^ng,  unbewegliche  oder  beweg- 
liche; feste  Übereinanderlegimg,  wie  in  zusammengesetzten  Photo- 
graphien ;    bewegliche  Übereinanderlegung,  wie  in  den  sog.  Wandelbildem : 

c)  durch  Kontrast  der  Vorstellungen   oder  Affekte. 

2.  Verschmelzung: 
von   Silben  oder   Wörtern,   von  einfachen   Vorstellungen,   Bildern,   Ereig- 
nissen, Zeil  und  Baum  usw. 

3.    Übersetzung   ins    Optische: 

a)  Umbildung  aktueller  Empfindungen  in  Gesichtsvorslellungen 
(Wundl,  Lipps,  EUis,  Mourly  Vold  usw.),  daher  der  ,, Symbolismus" 
des  Traumes; 

b)  Personifikationen  und  geistige   Ikonographie  im  Traume. 

/(.    Dissoziation   (Autonomie) : 

a)  zwischen  Empfindung  und  Gefühlston,  zwischen  Idee  und  ent- 
sprechendem affektiven  Zustande.  Das  ist  der  Vorgang  der  affektiven 
,, Verschiebung"    oder   der   affektiven   Übertragung    (,, Transitivismus") ; 

b)  zwischen  den  höheren  Verknüpfungen,  z.  B.  zwischen  Urteil  und 
VVillensdetermination,  zwischen  den  einzelnen  Elementen  des  Urteiles  usw\ 

Vor  allem  muß  festgestellt  werden,  daß  im  Traum  eine  Umbildung 
der  Vorstellungen  stattfindet,  seien  diese  nun  von  unmittelbarer  Herkunft, 
seien  sie  Erinnerungen  usw.  Man  vergegenwärtige  sich  den  berühmten 
Traum  Irmas,  bei  Freud,  wo  das  Angesicht  einer  Person  sich  in  das- 
jenige einer  anderen  venvandelt;  man  erinnere  sich  ferner  an  die  Ver- 
wandlungen   bei    Homer  1. 

Protokoll.  Nacht  des  i.  März  1916  (Frl.  Z.,  28  JaJire  alb).  Ich  befinde  niicli 
vor  dem  rSemi-See;  ich  betrachte  die  Landschaft  in  ihren  kleinsten  Einzelheiten.  Die 
Zweige  der  Bäume  sind  in  zitternder,  gleichsam  eine  verhaltene  Kraft  ausdrückender 
Bewegimg.  Ich  habe  zur  Linken  den  Herrn  P.,  zwischen  uns  beiden  befindet  sich 
jemand,  der  bald  G.,  bald  C.  ist,  bald  ich  selbst.  Wenn  nicht  ich  es  bin,  die  sibli 
dazwisclienschiebt,  so  fühle  ich  mich  durch  ihn  angezogen,  aber  durch  wen?  .  .  Ich 
entdecke,  daß  es  nicht  mehr  G.  ist,  nicht  C.,  noch  einer  der  anderen;  es  ist  ein© 
unbekannte  Person;  ich  spreche  mit  P.  über  die  Schönheit  der  Natur,  aber  ich  fühle 
mich  innerlich  sehr  bewegt,  fühle  in  mir  den  Kampf  von  Gefühlen.  Ich  leide;  endlich 
weine  ich  viel;  darauf  beruhige  ich  mich  und  fühle  mich  sehr  erschöpft.  Nun  fühle 
ich  mich  allein;  rasch  aber  werde  ich  gewahr,  daß  ich  selbst  die  ,, zitternden  Bäume" 
bin,  daß  ich  die  Kraft  bin,  welche  sie  zittern  macht.  Ich  fühle  mich  mit  der  Umwelt 
vollkommen  verwachsen;  ich  spreche  mit  dem  Herrn  P.;  ich  sage  ihm,  daß  icli 
Ungeheueres  genieße,  aber  er  versteht  mich  nicht.  Verzweiflung.  Es  schnürt  mir 
die  Kehle   tu.    Ich  erwache  schluchzend. 


1  Vgl.    Ninck,   Die    Bedeutung  des   Wassers  im   Kult  und   Leben   der   Alten,   Philologus, 
Suppl.    XIV.    I,    192 1. 


284  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUM£S 

Autopsychoanalyse:  Ich  finde  die  Komponenten  des  Traumes  in  folgenden  Tal- 
sachen: I.  Gestern  war  ich  in  der  Vorlesung.  Auf  dem  Rückweg  sprach  P.  mit  mir 
in  CToßer  Besorgnis  von  seinem  Sohne,  den  ich  nicht  kenne.  2.  Den  Tag  vorher 
halle  ich  viel  an  das  ästhetische  Gefühl  gedacht  und  hatte  den  Schluß  gezogen,  daß 
der  höchste  Grad  dieses  Gefüliles  das  Bewußtsein  des  Verschmelzens  der  eigenen  Seele 
mit  der  beseelten  Umgebung  sei.  3.  Drei  Tage  vorher  eine  Unterhaltimg  mit  meiner 
Mutter  über  Naturgenuß  und  Mystizismus.  4.  Den  Nemi-See  hatte  ich  drei  Jahre 
vorher  nur  flüchtig  gesehen.  5.  Ich  gebe  mir  darüber  Rechenschaft,  daß  ich  von 
einem  großen  Liebesbedürfnis  erfüllt  bin,  es  jedoch  streng  und  bewußt  unterdrücke. 
Der   Traum   zeigt   meine   Natur,   wie  auch   die  Verdrängung. 

Dennoch  ist  die  Tatsache  der  Umbildung  nicht  allein  dem  Traum 
eigentümlich,  vielmehr  muß  man  annehmen,  daß  sie  ein  allgemeines 
psychologisches  Gesetz  darstellt;  die  geistigen  Inhalte  sind  in  unab- 
lässiger Tätigkeit  und  lösen  einander  ohne  Unterlaß  ab,  immer,  wenn 
die  physiopsychologische  Spannung  sich  nicht  auf  einer  gewissen 
Höhe  hält.  Eine  Beständigkeit,  eine  wahre  Kristallisation  der  Inhalte 
gibt  es  nur  in  einigen  pathologischen  geistigen  Zuständen.  Die  Bilder 
werden  umgestaltet,  assoziieren  und  dissoziieren  sich  auch  im  Wach- 
bewußtsein, was  der  experimentellen  Psychologie  wohlbekannt  ist  (Taine, 
Ribot,  Janet,  Peillaube  usw.). 

P.  Janet  sagt  ganz  richtig,  daß  die  früheren  Bewußtseinszustände 
dahin  drängen,  sich  wieder  zu  erzeugen,  soweit  es  der  Zustand  des 
augenblicklichen  Bewußtseins  zuläßt.  Die  Assoziationsgesetze  des  Ari- 
stoteles, Hamiltons  (Reinlegration),  Shadworth  Hodgsons  (Interesse)  er- 
klären (wenigstens  bis  zu  einem  gewissen  Grade)  solche  Umbildungen. 

Der  Umbilduugsvorgang  wird  im  Traum  und  in  der  Träumerei 
(reverie)  übertrieben,  weil  er  auf  keine  Hemmungen  stößt.  Man  kann 
dies  auch  experimentell,  z.  B.  mit  Hilfe  der  „cristal-vision"  beweisen. 
Galton  gab  schon  einige  Experimente  an.  Jeder  beliebige  Reiz  kann 
angewendet  werden,  um  über  die  Umbildung  Versuche  anzustellen. 
Interessant  ist  der  Versuch,  den  man  machen  kann,  indem  man  sich  auf 
ein  Wort  konzentriert  imd  es  in  der  Stille  viele  Male  wiederholt;  nach 
imd  nach  verliert  das  Wort  seine  Bedeutung,  empfängt  einen  anderen 
Klang  und  Sinn,  tind  wenn  man  mit  dem  Versuche  fortfährt,  hört 
man  im  Geist  andere  Worte,  welche  in  keiner  Weise  mit  dem  ersten 
assoziiert  zu  sein  scheinen;  und  schließlich  stellen  sich  auch  Personi- 
fikationen ein  (geistige  Ikonographie). 

Ganz  richtig  ist  von  mehreren  Verfassern  angegeben  worden,  daß 
der  Traiun  der  wahre  Typus  der  „wechselnden  Halluzinationen"  ist, 
welche  bei  Vergiftungen  vorkommen.  (Sully,  Maury.)  Delboeuf  verglich 
die  Metamorphose  im  Traume  mit  den  „zerfließenden  Bildern". 
Es  ist  ISO,  wie  wenn  man  auf  dieselbe  Bildfläche  und  dieselbe  Stelle 
mittels  zweier  Latema  magicas  zwei  Bilder  projizieren  und  das  eine 
erleuchten,  während  man  das  andere  auslöschen  wollte.  Es  gehören 
zum  Vorgange  der  Umbildung  auch  die  Neben-  und  Übereinanderlegung 
zweier  Traumbilder. 

Dem  sehr  seltenen  Phänomen,  daß  der  Träumende  die  Übereinander- 
lagenmg  erkennt,  gleichwohl  aber  die  übereinandergelagerten  Geschehnisse 
des   Traumes   wohl    unterschieden   empfindet,    so,    als    wären    sie   neben- 


DYNAMIK    DES    TR.\UMES 285 

oinandorgola^rt,  gab  ich  den  Namen :  doppeldeutiger  Traum 
(sogno  bifrontr).  In  diesem  Fall  erkennt  der  Träuiu(Mide  in  einem 
einzigen  Bild  otler  einer  Aufeinanderfolge  von  Bildern  nicht  eine,  sondern 
zwei  verschiedene  Handlungen.  Es  ist,  um  es  genau  zu  sagen,  nicht 
das  Bild,  welduv;  sich  umgestalt<'*t,  (>s  ist  <ler  Zust.md  des  Träumenden, 
der  die  Bedeutiuig  der  Handlung  spaltet,  und  hierl)ei  erscheint  den 
ganztMi  Traum  hindurch  die  Handlung  wirklich  doppell  (eigene  Proto- 
kolle). Es  ereignet  sich  aber  auch  zuweilen,  dali  der  Träumende  —  im 
Schlafe  —  die  Bedeutung  seines  Traumes  durch  die  phantastische  Sym- 
bolik hindurch  erfaßt.  Den  Vorgang,  durch  welchen  der  Träumer  zu 
diesem  Ergebnisse  gelangt,  habe  ich  „im  Traume  durchgeführte 
Au  to  psy  c  hoan  a  1  yse"  fautopsicoanalisi  intraoiiiriai)  benannt.  Hier 
ist  die  Sache  anders,  sofern  eine  reine  Intuition,  nicht  aber  eine  dopi)elte 
Traumerscheinung  vorliegt. 

Es  ist  wunderbar,  daß  auch  der  doppeldeutige  Traum  ein  voll- 
kommenes Gegenstück  in  der  Erfahrung  des  Wachbewußtseins  findet, 
d.  h.  daß  es  im  Leben  ganz  ähnliche  Lagen  gibt.  Ein  Beispiel:  Zwei 
Gruppen  von  Freunden  und  Freundinnen  spielen  Tennis.  Während  der 
Eifer  des  Spieles  zimimmt  und  vielleicht  Ermüdung  hinzutritt,  wird 
der  scheinbare  Kampf  für  einen  Spieler,  der  in  eine  der  Spielgenossinnen 
verUebt  ist,  zu  einer  Allegorie.  Das  Tennis  ist  das  Wirkungsfeld  zur 
Eroberung  der  Liebe.  Der  nicht  verliebte  Spieler  hingegen  sieht  oder 
empfindet  in  der  Partie  die  Allegorie  des  Kampfes  um  die  Vorherrschaft 
im  Leben.  Diese  Zustände  des  Bewußtseins  werden  nicht  selten  in  der 
Kunst   dargestellt. 

Die  Umbildung  im  Traume  wird  oft  von  außen  her  vollzogen.  Eine 
aktuelle  Empfindiing  während  des  Schlafes  verwandelt  die  Personen  des 
Traumes  und  ihr  Handeln  wie  auch  ihre  Gefühle,  weil  der  Gefühlston 
der  Empfindung  auf  die  Personen  übergeht.  Beispiel:  Ein  Traum 
hat  einen  regelmäßigen  Verlauf  in  bezug  auf  Personen  und  Geschehnisse; 
in  einem  gewissen  Moment  tritt  das  Bedürfnis  des  Urinierens  ein  oder 
eine  Erektion,  und  dann  werden  die  Personen  und  Geschehnisse  andere: 
das  Urinieren  verwandelt  sich  in  Empfindungen  und  Bedürfnisse,  welche 
wir  oder  andere  Personen  haben;  die  Erektion  gibt  dem  ganzen  Traume 
den  erotischen  Verlauf. 

Der  Vorgang  der  Verschmelzung  ist  einer  der  wichtigsten  Spezialfälle 
des  allgemeinen  Vorganges  der  Umbildung.  In  den  meisten  Fällen  werden 
die  Wortneubildungen  des  Traumes  durch  eine  Verschmelzung  mehrerer 
Wörter  in  eines  hervorgebracht.  (M.  Vold,  De  Sanctis.)  Ich  berichtete 
schon,  daß  bei  3o  Prozent  meiner  Träume  die  Personen  die 
physiognomische  und  moralische  Verschmelzung  von  zwei  oder  melireren 
Personen  darstellen,  welche  der  Erfahrung  des  Wachbewußtseins  ange- 
hören. Eine  kurze  beim  Erwachen  vorgenommene  Überlegung  hat  mich 
davon  so  manches  Mal  überzeugt.  Aber  die  Verschmelzung  bezieht  sicli 
auch  auf  die  im  Wachsein  erlebten  Ereignisse. 

Die  Verschmelzung  ist  also  nichts  anderes  als  eine  Verdichtung.  In 
der  Tat  faßt  Schubert  sie  so  auf.  Nach  diesem  Forscher  scheint  dem 
Traume,    der   in    wenigen    Bildern    die    Geschichte   eines    ganzen    Lebens 


286  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TRAUMES 

zusammenfaßt,  eine  schwindelnde  Schnelligkeit  eigen  zu  sein.  (So 
Schubert,  welcher  über  einen  mehligen  Fall  von  Moritz  berichtet.)  Die 
Verdichtung  vollzieht  sich  mit  Hilfe  einer  allegorischen  vmd  zusammen- 
fassenden hieroglyphischen,  geistigen  Sprache,  sagt  Schubert,  die  nicht 
an  grammatische  und  assoziative  Regeln  gebunden  ist,  einer  Sprache, 
welche  aus  dem  Gefühl  und  dem  Herzen  hervorquillt  (Sprache  dos 
Herzens)  und  von  allen  ohne  Unterschied  der  Rasse  oder  der  gesprochenen 
Sprache   (Wortsprache)    verstanden   wird. 

Zweifellos  erscheint  der  Traum,  wenn  er  gut  analysiert  wird,  oft  wie 
eine  Zusammenfassung  (wenn  er  nicht  eine  Übereinanderlagerung  ist) 
von  verschiedenen  Dingen  und  Ereignissen  i. 

Wahrscheinlich  sind  die  Verwandlimgen  von  Ort  und  Zeit  im  Traum 
als  Vorgänge  der  Verschmelzung  zu  betrachten.  Es  ist  hier  am  Platz, 
auf  eine  andere  Erscheinung  der  Metamorphose  des  Traumes  hinzu- 
weisen. Es  kommt  zuweilen  vor,  daß  wir  im  Verlaufe  des  Traumes 
dieselbe  Persönlichkeit  des  Traumspieles  an  verschiedenen  Örtlichkeiten 
gleichzeitig  auftreten  sehen.  Dies  ^^^l^de  auch  von  Dugald  Stewart  ^ 
beobachtet.  Vielleicht  behaupten  diejenigen,  welche  die  Anwesenheit  einer 
Person,  z.  B.  eines  Heiligen,  an  verschiedenen  Orten  zur  gleichen  Zeit 
bezeugten,  etwas  Ähnliches. 

Im  Traume  verkürzt  sich  die  Zeit,  der  Raum  verengert  sich;  sogar 
das,  was  sich  in  einer  gewissen  Aufeinanderfolge  ereignen  sollte,  wird 
zuweilen  in  einen  einzigen  Augenblick  zusammengefaßt.  Dies  ist  die 
Verdichtimg  der  Zeit,  besser  gesagt:  die  zeitliche  Verschmelzung.  Das- 
selbe gilt  für  den  Raum;  die  Raumbilder  erscheinen  überein  ander- 
gelagert.  Das,  was  den  Träumenden  am  meisten  interessiert,  wird  unter 
Mißachtung  der  Logik  in  den  Vordergrund  versetzt.  Der  Traum  zeigt 
daher  dieselbe  Eigenart  wie  das  Kunstwerk:  der  Gefühlswert  über- 
trifft den  Verstau  des  wert.  Die  Reise  Dantes  zum  Mittelpunkte  der  Erde 
(Inferno)  dauert  nur  24  Stunden;  das  ist  irrationell,  aber  es  ist  künstle- 
risch gerechtfertigt,  väe  es  ein  ganz  gewöhnliches  Geschehnis  im  Traume 
wäre.  Weder  im  Traume  noch  in  der  Kunst  sind  ungenutzte  Stimden 
und  leere  Räume  erlaubt.  Die  Handlung  gibt  den  Ausschlag,  das  Gefühl 
beherrscht  jede  Logik.  Das  Heimweh  beschleunigt  z.  B.  die  Zeit  und 
verkürzt  die  Entfernung  an  einer  bestimmten  Stelle  des  Rolandliedes 
(Chanson  de  Rolland).  Zeit  und  Raum  haben,  wie  in  der  Kunst,  so 
auch  im  Traume,  nicht  dieselbe  Ausdehnung  wie  in  der  Wirklich- 
keit,   noch    auch    ein    gleichbleibendes    Maß,    wie    Fraccaroli    (i4)    sagt. 


1  In  Wirkliclikeit  versteht  S.  Freud  unter  ,,  Verdichtung"  das,  was  >vir  Ver- 
schmelzung nennen;  wenn  er  sagt,  daß  jedes  Element  des  Trauminhaltes  über- 
determiniert ist,  so  will  er  darunter  gerade  die  Verschmelzung  mehrerer  Traum- 
gedanken in  ein  einziges  Element  verstanden  wissen.  Es  ist  übrigens  klar,  daß  sich 
bei  Freud  der  Begriff  ..Verdichtung"  auf  die  Traumgedanken  bezieht  und  deshalb 
wolü  vmterschieden  werden  muß  vom  Verschmelzungsvorgange,  welcher  den  manifesten 
Trauminhalt  betrifft.  Über  den  Prozeß  der  Verdichtung  schrieb  mit  Berichten  über 
Traumbeobachtungen    E.    R.    Thompson    (io8). 

2  A.    a.    O.    S.    100. 


DYNAMIK     DES    TRAUMES 287 

Zeit  und   Kaum  empfangen   die  Gesetze   von   iiuem    Inhalt  eher,   als   daß 
sie  diesem   ein   Gej>etz   vorsclireiben. 

Die  Umbildung  der  aktuellen  Traumemplindungen  in  Vorstellungen 
anderer  Art  —  wovon  ich  weiter  oben  sprach  —  bildet  einen  klas- 
sischen Besitz  der  Traurakun<le  (A.  Maury,  Wundt.  Scherner,  Strüm- 
pell, 11.  Ellis,  M.  Volil  usw.).  Es  gibt  nach  Vold  eine  halluzinatorische 
Gleichwertigkeit  der  Empfindungen  (sensorielle  Äcjuivaleriz).  Die  Traum- 
bilder (wie  auch  die  Halluzinationen)  können  Folgen  von  verschied )nen 
und  insbesomlen^  kut-anoomotorischen  Sinneserregungen  sein.  Die  Um- 
bildung scheint  tiefer  zu  greifen,  wenn  es  sich  um  organische  Empfin- 
dungen des  Körpers  handelt,  wie  schon  Jastrow  (87)  bemerkte;  aber 
auch  die  akustischen  Empfindungen  werden  erheblich  lungcbildet,  wie 
die  neuen  Versuche  Stepanoffs  (io5)  und  eine  sehr  große  Menge  alter 
Beobachtungen  zeigen.  Hanunond  und  v.  a.  beschreiben  einige  Träume, 
welche  von  der  Umbildung  unmittelbarer  Geruchsempfindungen  hervor- 
gebrach t    >\Tirden , 

Aber  der  wichtigste  Vorgang  der  Metamorphose  des  Traumes  ist 
zweifellos  derjenige,  den  ich  die  Übersetzung  in  optische 
Bilder  {traduzione  ri.sica)  nennen  will.  H.  Ellis  (22)  sagt,  daß 
die  Gesichtsbilder,  aus  denen  sich  der  Traum  zusammensetzt,  das 
Symbol  für  Empfindimgen  verschiedener  Ordnung  sind.  Es  soll,  auch 
nach  Ellis,  im  Traum  eine  .-irt  von  sensorischem  Symbolis- 
mus ^  herrschen.  Man  kann  sagen,  daß  fast  alle  Empfindungen  im 
Traum  in  Gesichtsbilder  venvandelt  werden.  Der  Vorgang  der  Über- 
setzung wurde  von  allen  Beobachtern  gut  beschrieben,  welche  sich  mit 
Träumen  beschäftigten.  Aber  die  Tatsache  erhielt  einen  unwiderruf- 
lichen Beweis  durch  die  experimentelle  Methode.  Schon  Hildebrandt 
(1875)  bemerkte  in  Versuchen  an  sich  selbst,  daß  derselbe  akustische 
Reiz  sehr  verschiedenen  Träumen  Entstehung  gab,  in  welchen  die  Um- 
wandlung der  Bilder  ganz  zweifellos  war.  Ich  selbst  hatte  schon  in 
meinem  Buche  von  1899  geschrieben,  daß  dieselben  Reize  niemals  voll- 
kommen gleiche  Träume  hervorrufen,  nicht  einmal  bei  denselben  Indi- 
viduen. Über  Art  und  Weise  dieser  Übersetzung  und  ihre  Einwirkung 
auf  die  Entwicklung  und  die  Lösung  des  Traumspieles  sind  unsere 
Kenntnisse  dagegen   nicht  gleich  sicher. 

Es  scheint,  daß  sich  ein  wahrer  Kampf  zwischen  den  von  außen 
eingeführten  Elementen  und  dem  autogenetischen  Traum  entwickelt; 
ein  Kampf,  der  sich  im  Traume  deutlich  widerspiegelt,  Avie  Stepanoff 
gezeigt  hat.  Bald  siegt  der  aktuelle  Eindruck,  bald  unterliegt  er  so  weit, 
daß  er  im  Traume  gar  nicht  erscheint,  zumeist  paßt  er  sich  dem  Thema 
des  Traumes  an,  welches  sich  eben  entwickelt.  Ich  vertrete  die  An- 
sicht, daß  diese  Ergebnisse  aus  der  Summation  und  der  Interferenz 
von  Gefühlskräften  hervorgehen,  welche  mit  dem  Eindrucke  selbst  ver- 
knüpft   sind,    weil,    wie    ich    später    darlegen    werde,    die    Dissoziation 


^   Eine  Kritik  des  Symbolismus  (im  Sinne  von  Freudj  im  Traume  hat  A.   Kronfeld  (^a) 
gegeben . 


288 DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

zwischen  Vorstellung  und  Gefühlston  nicht  die  Regel,  sondern  die  Aus- 
nahme bildet  1. 

Solche  Konflikte  sind  übrigens  keineswegs  dem  Traum  eigentüm- 
lich, wie  Stepanoff  zu  glauben  scheint.  Ich  wiederhole  es  noch  ein- 
mal: das  VViderstreiten  und  das  Sichanpassen  sind  Erscheinungen 
allgemeiner  psychologischer  Gesetze.  Wohlbekannt  sind  solche  Konflikte 
z.    B.   den   Improvisatoren  von  Reden   und   Versen,   sowie  den   Dichtem. 

Es  wären  noch  verschiedene  andere  Fälle  zu  berücksichtigen,  welche 
aus  meinen  Protokollen  hervorgehen.  Es  handelt  sich  z.  B.  zuweilen 
nicht  um  Umbildungen  einer  Vorstellung,  sondern  um  eine  vrirkliche 
allegorische  Übersetzung  der  während  des  Schlafes  erlebten  Empfindung. 
Diese  Tatsache  ist  sehr  häufig.  Man  könnte  sie  phantastischen  Symbolis- 
mus nennen.  Friert  man  im  Schlafe,  ruft  diese  Empfindung  eine  Gruppe 
von  Vorstellungen  hervor:  winterliches  Feld,  Schnee,  der  Träumende 
befindet  sich  nackt  im  Freien  .  .  . 

Außer  anderen  Fällen  scheint  mir  vorzugsweise  eine  Beobachtung 
interessant.  Ich  bin  zur  Überzeugung  gekommen,  daß  es  zwei  Arten 
visueller  Symbolismen  gibt.  Der  erste  entsteht  aus  der  Umwandlung 
der  während  des  Schlafes  erlebten  Empfindungen  in  Gesichtsbilder, 
der  andere  rührt  vom  (visuellen)  Überdenken  des  Traumes  nach  dem 
Erwachen  her.  Aber  auch  diese  Symbolismen  sind  nicht  imstande,  uns 
die  Erklärung  für  die  erhebliche  Vorherrschaft  der  Gesichtsbilder  im 
Traume  zu  geben.  Noch  ein  dritter  Fall  ist  in  Betracht  zu  ziehen: 
Es  werden  nicht  nur  die  unmittelbaren  Empfindungen  irgendwelcher 
Art,  sondern  auch  die  affektiven  Zustände  und  die  Eindrücke  des 
Wachbewußtseins  in  Gesichtsbilder  umgewandelt.  Man  muß  deshalb  neben 
dem  extraonirischen  visuellen  Symbolismus  —  außerhalb  des  Trauma  — 
(entstehend  aus  dem  Vorgange  der  Rekonstruktion  oder  des  Überdenkens 
des  Traumes)  zwei  intraonirische  visuelle  Symbolismen  —  innerhalb 
des  Traumes  —  unterscheiden :  den  illusorischen,  den  ich  als 
ersten  erwähnte,  und  den  halluzinatorischen,  welcher  im  dritten 
Falle  zum   Ausdruck  kommt. 

Ich  gehe  nun  zu  der  vierten  Art  der  Metamorphose  des  Traumes  über, 
nämlich  zur  Dissoziation  oder  Autonomie.  Die  Dissoziation  beruht 
auf  der  Möglichkeit,  daß  die  aus  Vorstellungen,  Affekten  und  kin- 
ästhetischen  Empfindungen  zusammengesetzten  Komplexe  sich  mehr  oder 
minder  vorübergehend  in  ihre  Komponenten  auflösen.  Ich  habe  die 
verschiedenen  Phänomene  der  Dissoziation  zwischen  der  Vorstellung  und 
ihrem  Gefühlston  oder  ihren  begleitenden  affektiven  Zuständen  seiner- 
zeit ausführlich  behandelt.  Hier  muß  ich  auf  Grund  neuerer  Er- 
fahiungen    die    ganz    verschiedenen    Arten    der    Verschiebung   oder    Sub- 

1  Meine  Bemerkung  scheint  mir  am  Platze,  weil  Stepanoff  sagt,  daß  der  Inhalt  des 
vorhergeh endeji  Traumes  die  Art  und  Weise  bestimmt,  wie  der  äußere  Reiz  wahr- 
genommen wird,  und  dadurch  eine  Illusion  entstehen  läßt,  welche  der  Verfasser  h  y  p  - 
nische  Illusion  (illusfone  ipnica)  nennt.  Es  ist  aber  ganz  klar,  daß  das 
Traumbewußtsein  (ich  wende  meine  Bezeichnungsweise  an,  nicht  die  von  Stepanoff) 
nicht  irgendeiner  Illusion  unterworfen  ist,  weil  es  in  seiner  Natur  liegt,  seine  Nahrung 
nicht    aus    derselben    Wirklichkeit    zu    ziehen    wie    das    Wachbewiißtsein. 


DYNANUK    DES    TILVL.MES 289 

stitution  boslätig«n,  die  ich  schon  in  luwnon  frühoren  Büchern  und 
Monographien  bescliriebcn  hal>i\  Ich  l)estätige  auch  noch  die  IxÄonders 
wichtige  Tatsache,  daß  ein  physischer  Schmerz  im  Traume  durch  einen 
seehschon  Schmerz  und  imigekehrt  ers^'tzt  wird,  sei  es,  daß  der  Träumer 
selbst  oder  eine  andere  Person  des  Traumes  (Objektivierung)  den  ge- 
träumten  Schmerz  erleidet. 

Die  Dissoziation  tritt  in  vielerlei  Erscheinungen  auf.  Im  folgenden 
einige  Beispiele.  Ein  Ereignis  otler  eine  Person  aus  dem  wirklichen 
Leben  wird  im  Tramno  durch  Ereignisse  oder  Personen  ersetzt,  wobei 
dennoch  im  Träumenden  die  vom  Ereignis  oder  von  der  Person  des 
wirklichen  Lebens  eingeflößten  Gefühle  genau  dieselben  bleiben.  Oder 
dieselbe  Person,  z.  B.  eine  Frau,  erscheint  unverändert  im  Traum, 
aber  während  sich  im  Wachsein  an  sie  ein  Gefühl  des  Widerwillens 
knüpfte,   erscheint   sie  im   Traume  begehrenswert   und   umgekehrt. 

Es  ist  bekannt,  daß  eine  gleichgültige  Empfindung  beim  Träumen- 
den zu  einer  sehr  schmerzlichen  (mehr  oder  weniger  umgebildeten) 
Vorstellung  werden  kann.  Andererseits  kann  die  Empfindung  wenig- 
stens annähernd  unverändert  bleiben,  während  sich  der  begleitende  Gre- 
fühlston  vollständig  ändert.  Ich  erinnere  mich  eines  Protokolles  von 
1902,  in  welchem  sich  eine  wohlriechende  Blume,  an  die  Nase  eines 
schlafenden  Knaben  gehalten,  in  die  Vorstellung  eines  verzauberten 
Gartens,  voll  von  giftigen  Blumen  mit  einem  ekelerregenden  Geruch 
umwandelte.  So  könnte  sich  der  Freudsche  Vorgang  der  „Verschi^Ming" 
zum   Teil    dem   allgemeinen    Dissoziationsvorgang   unterordnen  1. 

Es  können  Fälle  einer  nur  scheinbaren  Verschiebung  im  Traume  vor- 
kommen. Im  Zusammenhang  mit  einem  schönen  Fall  affektiver  Polari- 
sation, den  ich  in  einer  meiner  (85)  früheren  Monographien  (über  die 
psychischen  Kontraste)  anführte,  berichtete  ich,  daß  eine  Person  zwei- 
mal den  affektiven  Zustand  des  Zahnziehens  im  Traum  als  angenehm 
erlebte,  also  mit  einem  der  Angst  entgegengesetzten  Affektzustand,  wie 
sie  ihn  in  den  ersten  Tagen  empfunden,  nachdem  sie  sich  zum  Zahn- 
ziehen entschlossen  hatte.  Man  kann  nicht  sagen,  daß  es  sich  um 
einen  Traum  mit  Affektverschiebung  handelte,  weil  die  Tatsache  der 
Polarisation  bei  jener  Person  auch  dem  Wachbewußtsein  angehörte. 
Der  Traum  zeigt  nur,  daß  entweder  die  affektive  Polarisation  auch  in 
das  Unterbewußtsein  eingedrungen  war,  oder  daß  der  Traum  die  affek- 
tive Situation  des  Wachbewußtseins  wiedergab  und  nicht  das  Unter- 
bewußtsein betraf  2.  Der  Vorgang  der  Dissoziation  zwischen  Vorstel- 
hmgsbildern  und  deren  begleitenden  Affekten  ist  dem  Traume  gleich- 
falls   keineswegs    eigentümlich.     Das    Transfert    oder    die    affektive 

1  Für  Freud  aber  besteht  die  Verschiebung  im  Traume  darin,  daß  die 
, .psychische  Intensität"  sich  vom  latenten  Inhalt  auf  den  manifesten  verschiebt  und 
umgekehrt.  EHe  Verschiebung  ist  eines  der  hauptsächlichsten  Mittel,  dessen  sich  die 
,,endops)chische    Zensur"    für   die    Entstellung   bedient. 

2  Gerade  mit  Rücksicht  auf  die  EHssoziation  hat  der  Traum  manchmal  an- 
scheinend alle  die«  Merkmale  de«  Denkens,  welches  Bleuler  autistisch 
(im  Gegensatz  zum  logischen  Denken)  nennt.  Dieser  Umstand  gibt  uns  eine  Erklärung 
für  die  Annäherung,  welche  einige  moderne  Psychopathologen  zwischen  dem  Traume 
und    der    schizophrenen    Mentalität    herstellen. 

19    Kafka,  Vergleicliende  Psyctiologie  III. 


290  DE     SANCTiS:     PSYCII0L(3GIE    DES     TRAUMES 

Übcrlragung  (Transitivismus)  ist  sogar  eine  gewöhnliche  Tatsache 
auch  im  alltäghchen  psychischen  Leben.  Wir  sehen  z.  B.,  wie  bei  dem- 
selljcn  Individuum  dieselben  Leidenschaften  abwechselnd  an  ganz  ver- 
schiedene politische  oder  philosophische  Ideen  gebunden  sind,  wie  sich 
bei  den  Bekehrten  und  bei  den  Heiligen  die  passio  erotica  in  die 
charilas  umwandelt;  und  wir  sehen  auch,  wie  sich  das  Umgekehrte 
ereignet. 

Ich  verhehle  mir  nicht,  wie  schwer  es  ist,  die  Tatsache  der  Ver- 
schiebung oder  der  affektiven  Übertragung  zu  erklären,  die  im  Grund 
eines  der  wichtigsten  Phänomene  der  Traumtätigkeit  und  insbesondere 
einen  der  Stützpunkte  der  Freudschen  Theorie  darstellt.  Gewiß  kann 
man  die  Tatsache  sehr  wohl  mit  Hilfe  der  energetischen  Hypothese 
verstehen:  aber  es  muß  ein  für  allemal  gesagt  werden,  daß  wir  nicht 
wissen,  was  psychische  Energie  heißen  soll,  sobald  wir  sie  als  ver- 
schieden von  der  nervösen  Energie  ansehen  wollen.  In  die  moderne 
wissenschaftliche  Psychologie  dürfen  neue  Mythen  nicht  eindringen,  ob 
man  von  einer  psychischen  Energie  im  Sinne  von  Ostwald  oder  im 
spiritualistischen  Sinne  redet.  Eher  können  wir  uns  über  die  ideo- 
affektiven  Dissoziationen  Rechenschaft  ablegen,  indem  wir  uns  an  die 
Psychophysiologie  wenden,  diese  liefert  uns  Beweise  dafür,  daß  wir 
an  eine  genetische  Unabhängigkeit  von  Erkenntnis  und  Affekt  denken 
dürfen,  indem  jene  den  zerebrospinalen  Strang,  dieser  das  sympathisch- 
endokrine  System   zum   Organ   hat. 

Aus  solchen  Gründen  versteht  man  ohne  weiteres,  warum  man  nicht 
mit  Sicherheit  behaupten  kann,  daß  die  Richtung  der  Verschiebung 
diu'ch  die  Richtung  der  Assoziation  bestimmt  werde.  Dazu  sei  bemerkt, 
daß  in  der  Freudschen  Lehre  die  Assoziation  allmächtig  herrscht,  aber 
die  heutige  Psychologie  kann  diese  angebliche  Allmacht  nicht  ohne  Kritik 
anerkennen. 

Es  ist  deshalb  notwendig,  sich  mehr  an  die  Tatsachen  als  an  die  Theorien 
zu  halten. 

Die  Erklärung  der  Dissoziationsphänomene  berührt  die  Lehre  vom 
affektiven  Gedächtnis,  die  von  Ribot  aufgestellt  worden  ist  und  so  viel 
Gegnerschaft  bei  den  Psychologen  von  Fouillee  bis  zu  Titchener  und  bis 
zu  Külpe  usw.  gefunden  hat.  Über  die  Deutung  könnte  man  streiten, 
aber  die  Tatsachen  bestehen. 

Ich  bringe  hier  in  Erinnerung,  was  Dante  sagt: 

„Qual    e    colui   che    sommiando   vede 

E   dopo  Jl  sogno  la  passdone  impressa 

Rimane  e  1'   altro   alla  mente  non  riede.'" 

(„Wie  einer  Dinge  sieht  im  Traumgesicht 

Und  nach  dem  Traumgefühl,  das  er   empfunden, 

Zurückbleibt  und  vom  ander«  weiß  er  nichts.") 

(Übers,    von    Gildemeiister.) 

Ich  muß  mich  hier  auf  die  Erklärung  der  Phänomene  des  affektiven 
Gedächtnisses  berufen,  welche  ich  mehrere  Male  in  meinen  Vorlesungen 
und  Schriften  gab,  weil  ich  dieselbe  Erklänmg  auf  den  Traum  anwende. 
Die  Vorstellung  scheint  entschwunden   zu  sein,   während   ihr  Gefühlston 


DYNAMIK    DES    TRAUMES  291 


fortbci^toht,  aber  in  U'irklichkcil  ist  sie  nicht  verlorengegangen,  sondern 
einfach  utitergoLaucht,  d.  h.  für  den  Aug«'nblick  vergessen.  Mithin 
ist  die  Dissoziation  vorübergehend.  lieini  Erwachen  dauert  das  Vergessen 
an  —  i\er  von  I)aiit<'  gescliihlerte  und  von  mir,  gelegentlich  der  Be- 
sprechung der  NachtrauniphäMdineno,  ausi'ührlich  behandelte  Fall  — - 
otler  die  \orslellung  wird  durch  Psychoanalvsc  wieder  in  Erinnerung 
gebracht.  Eine  andere  Erklärung  nun,  um  die  affektive  Verschiebung 
als  Tatsache  anzunehmen,  ist  folgende:  daß  es  eine  mittelbare 
Assoziation  gebe,  deren  Element  unter  der  Schwelle  entwtxler  des  VVach- 
l/ewulitseans  o<ler  des  Traumbewulilseins  bleibt.  Dieser  Sachverhalt  ist 
in  der  Psvchopathologie  etwas  Gewöhnliches.  Es  gibt  traurige  und 
schweigsame  kranke,  bei  denen  auf  das  Ausfragen  eine  intellektuello 
Motivierung  folgt,  welche  sofort  als  eine  scheinbare  erkannt  wird;  in 
diesem  Fall  le^t  das  Bewußtsein  des  Kranken  schlechtes  Zeugnis  ab, 
und  es  besteht  eine  offensichtliche  Dissoziation  zwischen  Vorstellung 
und  Affekt.  Wenn  daher  das  Bewußtsein  nicht  in  seinem  ganzen 
1  mfang  und  seiner  ganzen  Geschichte  betrachtet  wird,  gelangt  man 
zu   keinem  Ergebnis. 

Aber  die  Phänomene  der  Traumdissoziation  sind  die  denkbar  ver- 
schiedensten. Ein  lehrreiches  Beispiel  ist  die  Projektion  unseres  Ange- 
sichtes auf  irgendeine  Person  des  Traumspieles,  die  LTbertragung  irgend- 
eines unserer  persönlichen  Merkmale  oder  geradezu  unserer  ganzen  Persön- 
lichkeit auf  ein  anderes  Individuimi  (Tatsachen  der  Identifizierung  oder 
Objektivierung.) 

Ein  jungei*  Mann,  2^  Jahre  all,  an  Herzklopfen  leidend,  hat  in  der  Zeit  der  Anfälle 
Itvängs-tigende  Träume  von  Bedrückung,  erwacht  stets  mit  Schrecken,  weil  er  im  Traume 
L*ute  sieht,  welche  jemanden  seiner  Familienangehörigen  würgen.  In  einer  Nacht 
träumte    er,    daß   in    das    Haus    eingedrungene    Diebe    sein^i    Bruder   erwürgten. 

M.  Vold  spricht  von  der  Objektivierung  des  Trautmes,  d.  h. 
iler  Tatsache,  daß  gewisse  Ereignisse  des  Traumes  vom  Subjekte  nicht 
auf  sich  selbst,  sondern  auf  jemand  anderen  bezogen  werden,  und  erklärt 
sie  durch   die   Vorherrschaft  des  Gesichtsinnes  im  Leben   des  Menschen. 

Ein  anderes  Beispiel  ist  der  ziemlich  häufige  Fall,  daß  man  im 
Traum  ein  Wort  oder  einen  Satz  ausspricht,  während  man  einen  ganz 
anderen  Gedanken  hat,  als  ihn  das  Wort  oder  der  Satz  auszudrücken 
oder  nahezulegen  vermöchte.  Ich  habe  bereits  im  Anfange  dieses  Ab- 
schnittes ein  Phänomen  beschrieben,  welches  sich  augenscheinlich  auf 
eine  Dissoziation  beziehen  und  ein  „vielfältiger  Traum  mit 
parallelen  Szenen"  (sogno  multiplo  a  scene  parallele)  genannt 
werden  könnte,  ein  Traum,  welcher,  nach  Foucault,  nach  dem 
Erwachen  vereinheitlicht  würde.  Es  scheint  dies  ein  Zustand  der  Ver- 
doppelung der  Persönlichkeit  zu  sein,  der  nach  meiner  Theorie  durch 
das  schnelle  und  vorübergehende  Zusammentreffen  von  Inhalten  des 
Wachbewiißtseins  (das  die  aktuellen  Reize  wahrnimmt)  mit  Inhalten 
des  in  der  Entwicklung  begriffenen  Traumes  erklärlich  wird^.  .\ber  ein 
solches   Phänomen   verstärkt  sich  in   gewissen   Fällen   erheblich,   nämlich 

1   Vgl.    Kap.    III. 
19* 


292     DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

im  „Traume  mit  doppelter  Bedeutung"  (sogno  a  doppio 
significato).  Hier  hat  man  einen  Inhalt  von  unmittelharer  Herkunft 
aus  aktuellen,  nur  wenig  lungebildeten  oder  symbolisierten  Reizen  und 
einen  Inhalt  von  alter  Herkunft  (Unterbewußtsein),  welcher  bereits  alle- 
gorisierl  und  symbolisiert  ist,  als  wenn  er  ein  Mythus  wäre.  Die  beiden 
Inhalte  begegnen  sich,  vielleicht  durch  die  'Ab-  und  Zunahme  der  Schlaf- 
tiefe, und  anstatt  sich  beim  Erwachen  (in  der  Erinnerung  an  den  Traum) 
zu  verbinden,  vermischen  sie  sich  in  der  Weise,  daß  der  eine 
als  Allegorie  des  anderen  erscheint  und  sich  auf  diese  Art  ihre  Bedeutung 
verdoppelt. 

Diese  Traumphänomene  (Übereinanderlagerung  von  zwei  oder  mehre- 
ren Begriffen)  finden  in  der  Kunst  ein  klares  Gregenstück.  Das  Symbol 
beherrscht  die  Kirnst.  Das  Dantesche  „velame  de  li  .versi  strani" 
(„Schleier  der  seltsamen  Verse")  weist  klar  auf  die  Allegorie  hin,  aber 
es  gibt  —  wie  es  im  Traume  vorkommt  —  auch  in  der  Kunst  niemals 
einen  strengen  Parallelismus  zwischen  der  buchstäblichen  und  der  alle- 
gorischen Bedeutung.  Die  Allegorie  wechselt  immer,  einmal  vereinigt 
sie  siph  mit  dem  wörtlichen  Sinne,  das  andere  Mal  entfernt  sie  sich 
weit  von  ihm.  Man  denke  an  den  ersten  Gesang  der  „Göttlichen  Komödie". 
Hier  halt  Dante  die  beiden  Bedeutungen,  die  wörtliche  und  die  bild- 
liche, nicht  recht  auseinander  i.  I>eshalb  ist  die  Dichtkunst,  wie  der 
Traum,  den  seltsamsten  Auslegungen  zugänglich.  Man  denke  an  die 
Homerischen  Gedichte  imd  an  Dante.  Grimm  sagt,  daß  jede  wahre  Poesie 
der  verschiedenartigsten  Auslegimg  fähig  ist,  weil  sie,  dem  Leben  ent- 
sprossen, zu  ihm  auch  immer  wieder  zurückkehrt;  sie  trifft  ims  wie 
das  Licht  der  Sonne,  in  welchem  Ort  auch  immer  wir  uns  befinden. 
Die  Analogie  zwischen  Dichtkunst  und  Traum  findet  sich  bei  Dante 
selbst;  z.  B.  in  den  drei  im  Fegefeuer  zugebrachten  Nächten  hatte 
Dante  drei  Träume,  alle  drei  waren  allegorisch.  Das  Gedicht  Goethes 
,,An  Schwager  Kronos"  wurde  nach  der  Angabe  Ben.  Croces  (17), 
der  es  übersetzt  und  erläutert  hat:  „auf  der  Reise  ersonnen,  während 
der  Dichter  im  schweren  Postwagen  eine  bergige  Landschaft  durch- 
fuhr, im  Wechsel  zwischen  schnellem  Bergab-  und  langsamem  und 
mühevollem  Bergauffahren.  Dem  Gefühl  und  der  Phantasie  des  reisenden 
und  träumenden  Dichters  verwandelt  sich  bald  der  Wagenführer  zu 
Kronos,  den  Gott  der  Zeit,  die  Reise  zur  Reise  des  Lebens,  die 
flotte  Abwärjsfahrt  zmn  jugendlichen  Lauf  in  das  Getümmel  der  Welt, 
die  ermüdende  Aufwärtsfahrt  zu  den  mühseligen  Kämpfen,  welche  das 
Lebenswerk  des  Menschen  erfordert,  die  Aussicht,  welche  sich  von 
der  Höhe  eröffnet,  zu  den  Freuden  der  Kunst  und  der  Gedankenwelt, 
der  erfrischende  Trunk,  den  ihm  die  Jungfrau  auf  der  Schwelle  dar- 
reicht, zu  Liebe  und  Lebenslust.  Und  dann  vergleicht  er  wieder  die  Fahrt 
talwärts  bei  Sonnenuntergang,  dem  Bestimmungsort  entgegen,  mit  dem 
Lebenslauf  dem  Tode  zu,  jenem  sehnlichst  erwünschten  Tod  ohne 
Greisenalter  und  Kräfteverfall,  in  voller  Glut  und  Trunkenheit, 
welche    den    Sprung    in    den   düsteren    Strudel    freiwillig    ertragen    und 

1  Vgl.    26,    Kap.    12. 


|)\\\Mlk     DES    TRAl.MES 293 

vollziehen,  <len  Gang  zum  Orkus  nicht  peinlich,  nicht  widerwärtig  er- 
scheinen liilil,  weil  <üese  Tat.  freilicli  die  letzte,  noch  immer  eine  Tat 
des  LelxMis,  einen  notwendigen  ,\lxs<"hnitt,  den  Abschluß,  zugleich  aber 
die  Erfüllung  (Jes  Lebens  bildet,  ohne  welche  das  vorangegangene 
Ti-^iben    weder    Bedeutung    noch    Anlaß    besäße." 

Es  ist  die  .Allegorie,  welche  jedem  Traum  und  vielen  Dichtungen 
gemeinsam  ist.  Wie  e;s  [)oetische  Allegorien  genialer  Individuen  gibt, 
so    gibt   es    alltägliche   Allegorien    der   gewöhnlichen    Menschen. 

Protokoll.  Nacht  des  i.'i.  Dezember  igi^.  Sofort  nach  dem  Erwachen  niederge- 
*cl>ricl>oji.  Am  NacJimittage  des  i3.  xinlorhalto  ich  mich  sehr  bei  einem  Konzerte  von 
Wcijcf  im  .\ugu.steum.  In  der  folgenden  ISacht  habe  ich  lange,  erotische  Träume, 
aber  ohne  jede  Geilheit.  Mädchen  werden  von  Jünglingen  unter  lauten  Freuden- 
gefangen  verfolgt;  aber  der  Lauf  ist  rhythmisch,  vollzieht  sich  in  einem  lichtvollen, 
lebhaft    gefärbten    Räume   ....    die    Vexfolgung,    die    Reigen,    die    Umarmungen    tragen 

rein    musikalischen    CKarakter im    Schlafe    begreife    ich,    daß    alles    dies    nichts 

anderes  ist,  als  ein  Geigenspiel ich  fühle  mich  von  einem  Schauer  durch- 
rieselt   und    empfinde    und    sage    zu    mir    selbst,    daß    das    Leben    selig    ist ich] 

erwache   in   bester    Laune. 

Der  Vorgang  der  Dissoziation  würde  allein  hinreichen,  uns  die  Ursache 
für  die  Zusammenhang! osigkeit  oder  für  die  Symbolik  des  Traumes 
anzugeben.  Während  die  affektiven  Zustande,  die  Instinkte  und  die 
Leidenschaften  des  Schlafenden  mit  ihren  organischen  und  besonders 
mit  ihren  motorischen  Begleiterscheimmgen  wie  eine  Symphonie  ohne 
Worte  im  Schlaf  andauern,  lagern  sich  die  unmittelbaren  Empfindungen 
(imig^ildet  oder  nicht)  imd  die  in  der  Erinnerung  behaltenen  und 
vergessenen  Dinge  über  die  Musik;  wir  könnten  auch  sagen,  daß  sie 
auf  dem  affektiven  Kanevas  gestickt  werden.  Der  Affektzustand  ist,  kurz 
gesagt,  imstande,  aus  ein  und  demselben  Stoff  entweder  eine  Traum- 
posse oder  eine  Traum tragödie  zu  gestalten.  Die  affektiven  Zustände 
und  ihre  kinästhetischen  Elemente  senken  ihre  Wurzeln  in  unser  Dasein 
ein  und  haben  dadurch  größere  Beständigkeit  als  die  Vorstellungen.  Dies 
hat  Ribot  (76)  trefflich  aufgeklärt. 

Und  nun  ist  es  Zeit,  daß  wir  uns  folgende  Fragen  vorlegen:  Wie  ist 
die  Kraft  beschaffen,  welche  das  Traumbewußtsein  beherrscht?  Welcher 
ist  der  Motor  des  Traumes? 

In  der  Freudschen  Lehre  ist  alles  Energie  mit  immanenter  Logik.  Der 
Mensch  schafft  in  derselben  Weise  wie  die  Natur  aus  dem  Unbewußten. 
Der  Traum  ist  für  Freud  ein  psychischer  Vorgang  in  dem  Sinne,  daß 
er  logisch  ist  und  einem  Ziele  zustrebt.  Er  beschreibt  den  Weg  des 
affektiven  Denkens  (affektive  Logik  oder  Logik  der  Werte,  von  welcher 
auch  Ribot  spricht),  welcher  unter  dem  konstellierenden  Einflüsse  detef- 
minierender  unbewußter  Elemente  zurückgelegt  wird.  Die  Vorstellungen 
sind  im  freien  Zustand  in  der  Tat  miteinander  „konstelliert" ;  sie  sind 
verbunden  durch  vermittelte  Assoziationen,  durch  unbewußte  Beziehun- 
gen, einer  Analogie  zufolge,  welche  sich  durch  die  richtunggebende  Tätig- 
keit des  vorherrschenden  „Komplexes"  regelnd  einstellt.  Solcher  Kom- 
plexe, d.  h.  ideoaffektiv-motorischer  psychischer  Systeme  besitzen  wir 
alle  mehrere,  aber  der  eine  ist  dem  anderen  untergeordnet.  Den  Traum 
beherrschen   indessen   die   Komplexe  sexuellen    Ursprungs.     I>er   Instinkt 


294  DK     SAiNCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

der  Fortpflanzung  ist  der  herrschende,  nachdem  der  Instinkt  der  Er- 
nährung unter  dem  Einfluß  der  Einrichtungen  des  sozialen  Lebens  usw. 
an  Kraft  verloren  hat.  So  begreift  man,  daß  für  Freud  die  Sexualität 
nicht  nur  den  Traum,  sondern  sogar  die  Kunst  und  Religion  beherrscht. 
Andere  Psychologen  (sogar  Freudianer)  gestehen  freilich  der  Libido 
nicht  die  Leitung  im  Traume  zu;  so  gibt  nach  Adler  der  ,, Wille  zur 
Macht",  nach  Stekel  der  Haß,  nach  James  und  Janet  die  Furcht  dem 
Traume  seine  Richtung.  Andere  Psychologen  beschränken  sich  darauf, 
als  Triebkraft  der  Träume  den  affektiven  Zustand  zu  erklären,  so  unter 
den    neuesten    Dwelshauvers. 

Meine  Ansicht  über  die  Frage  sei  hier  in  wenigen  Sätzen  zusammen- 
gefaßt: Der  Motor  des  Traumes  ist  der  affektive  Zustand,  dessen 
Triebkraft  die  Äußerung  der  affektiven  Energie  ist.  In  der  Psychologie 
ist  die  affektive  Energie  besser  verstanden  als  die  intellektuelle.  Abef 
der  affektive  Zustand  im  Traum  ist  ein  freier,  er  wird  nämlich  durch 
den  Schlaf  von  der  Kette  der  Überlegungen  und  von  den  Forderungen 
der  Wirklichkeit  unabhängig.  Aber  die  affektive  Freiheit  im  Traum  er- 
reicht, je  nach  den  Phasen  des  Schlafes,  verschiedene  Grade,  weil  die 
Annäherung  an  das  Wachbewiißtsein  oder  das  Abrücken  von  ihm  (wie 
im  III.  Kapitel  gesagt  werden  wird)  die  verschiedenen  Grade  dieser  Frei- 
heit bestimmt.  So  lassen  sich  gewisse  Zusammenhanglosigkeiten  im 
Traum  erklären. 

Dieser  Geidanke  bringt  den  Traum  in  Annäherung  an  die  Kunst,  ohne 
ihn  mit  ihr  zusammenfallen  zu  lassen.  Der  Traum  ist  das  Reich  dies 
wilden  Dionysos,  während  die  Dichtkunst  das  Reich  Apollos  ist,  könnte 
man  mit  Nietzsche  sagen. 

Man  würde  das  Reich  des  Traumes  künstlich  beschränken  oder  aus- 
dehnen, wenn  man  behaupten  woUte,  daß  er  die  Libido  oder  die  Liebe 
oder  der  „elan  rital"  oder  der  Hochmut  oder  der  Haß  sei.  Es  ist 
richtiger,  zu  sagen,  daß  er  das  befreite  Individuum  ist,  befreit 
sowohl  von  Sokrates  als  auch  von  Apollo. 

Man  muß  im  übrigen  dessen  eingedenk  sein,  daß  diese  Betrachtungs- 
weise eine  sehr  allgemeine  ist.  In  jedem  besonderen  Traume  findet  man 
fem  er  gelegentliche  Züge,  welche  von  automatischen  Assoziationen,  von 
Interferenzen  aktueller  Empfindungen  und  von  augenblicklichen  und  teil- 
weisen Einflüssen  der  Überlegung  und  Kritik  stammen,  soweit  diese  mit 
den  Schwankungen  der  Schlaftiefe  vereinbar  sind. 

Von  dieser  Eventualität  soll  im  folgenden  Kapitel  ausführlich  gesprochen 
werden. 


III.  THEORIEN   DES  TRAUMES 

Daß  der  Traum  oiiie  j^^roßc  Rolle  in  <lor  (^^schiclite  aller  Völker  gespielt, 
dalj  er  groISon  Einfluli  auf  die  Ausbildung  von  IMiüosophien  und  Reli- 
gionen ausgeübt  hat,  daß  er  immer  eine  Lebensquelle  für  die  Kunst  ge- 
>ve>en  ist,  das  ist  bereits  eine  so  bekannte  Tatsache,  daß  es  nicht  der 
Mühe  wert  ist.  sie  in  einer  kurzen  Zusammenfassung  eines  so  ausge- 
d»'hnlen  Themas  wie  der  Traumpsychologie  in  Erinnerung  zu  bringen'. 
Soll  man  wenigstens  von  den  philosophischen  und  wissenschaftlichen 
Anschauungen  sprechen,  welche  die  angesehensten  Psychologen  über  die 
iSatur  und  die  Redeutung  des  Traumes  hatten  oder  haben? 

In  einer  wissenschaftlichen  ^Vbhandlung  über  den  Traum  könnte  das 
Kapitel  über  die  Theorien  freilich  fehlen.  Eine  Darstellung  der  alten 
und  der  heutigen  Theorien  des  Traumes  verliert  schon  deshalb  an  Wert, 
weil  sich  eine  solche  schon  in  mehreren  bereits  veröffentlichten  Werken 
findet.  Ich  zitiere  z.  R.  die  großen  Enzyklopädien  -  und  die  Werke  von 
Dugald  Stewart  3,  von  Melchiorre  Gioia  (32),  von  Radestock  (72)  und 
vielen  anderen. 

Immerhin  könnte  die  vorliegende  Monographie,  ohne  das  Kapitel  über 
die  Theorien  zu  berühren,  als  unvollständig  bezeichnet  werden;  für  man- 
chen könnte  es  sogar  eine  Verzichtleistung  oder  Neutralitätserklärung 
gegenüber  dem  schwierigen  psychologisch-philosophischen  Probleme  des 
Traumes  bedeuten,  dessen  Fragestellung  ganz  modern  ist.  Femer  würde 
ich,  wenn  ich  von  den  Theorien  zu  sprechen  unterließe,  die  Erwartung 
vieler  Psychologen  und  Philosophen  enttäuschen,  welche  auch  heutzutage 
weiterhin  die  Meinung  vertreten,  daß  die  allgemeinen  Fragen,  die  sich 
bei  der  Rehandlung  eines  jeden  wissenschaftlichen  Themas  aufdrängen, 
gerade  die  interessantesten  sind. 

Ich  werde  also  von  den  Theorien  des  Traumes  reden;  aber  die  Leser 
mögen  aus  den  oben  angeführten  Gründen  nur  eine  kurze  Abhandlung 
erwarten.  Die  Literatur  über  den  Traum  ist  sehr  reichhaltig,  und  sie 
können  jederzeit  ihre  Wißbegierde  leicht  befriedigen,  wenn  sie  irgend- 
eines der  in  meinem  alten  Ruch  oder  die  in  der  vorliegenden  Mono- 
graphie angeführten  Werke  zu  Rate  ziehen. 


^  Vgl.  88,  89.  Ich  mache  die  Leser  darauf  aufmerksam,  daß  ich  in  diesem  Kapitel 
fast  gar  nichts  von  dem  wieder  vorbringen  werde,  was  sich  in  meinem  Buche 
vom  Jahre  1899 — 1901  und  den  ansclilipßenden  Aufsätzen  findet,  so  daß  das  Kapitel 
fast   gänzlich  neu   ist. 

2  So  bee.  Ersch  und  Gruber,  Allgemeine  Enzyklopädie  der  Wissenschaften  und  Künste, 
Leipzig,    i8i8,ff.,    unter    den    Stichworten    ,, Traum",    ,, Schlaf"    usw. 

'  Elements    of    the    philosophy    of    the    human    mind,    Eldinburgh,     1792 — 1827. 


296  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

A.    ÄLTERE  UND  NEUERE  THEORIEN 

Vor  allem  haben  vnr  die  Theorien  zu  betrachten,  welche  die  Bedeutung 
des  Traumes  leugnen  oder  abschätzig  behandeln;  dies  sind  präjudizierte 
Tlieorien,  wie  man  mit  einem  juristischen  Ausdrucke  sagen  könnte.  Es 
»ibt  deren  mehrere.  Für  einige  ist  der  Traum  nichts  als  eine  im  wachen 
Zustande  stattfindende  Rekonstruktion  aus  Empfindungen  und  zusammen- 
hanglosen Erinnerungen,  die  im  Schlaf  erlebt  wurden.  Dementsprechend 
wären  die  Traumbilder  von  mechanischer,  zufälliger  Bildung,  der  Träumer 
selbst  wäre  es,  der  nach  dem  Er>vachen,  je  nach  seinen  Tendenzen  xmd 
augenblicklichen  Dispositionen,  ihnen  einen  Zusammenhang  und  eine  Be- 
deutung verliehe.  Foucault  (2  5)  (auch  Jankelevitch)  stehen  dieser  An- 
schauung nahe.  Ähnlich  ist  die  Meinung  derjenigen,  welche  den  Traum 
für  nichts  anderes  halten  als  ein  sehr  schnelles  Spiel  der  Phantasie  im 
Augenblicke  des  Erwachens. 

Diesen  Meinungen  steht  das  Ergebnis  der  Beobachtungen  an  Schlafen- 
den entgegen,  die  sprechen  und  den  eigenen  Traum  mit  Gebärden  be- 
gleiten ;  jenen  Meinungen  entg^;en  stehen  auch  die  durch  Erwachen  unter- 
brochenen und  dann  fortgesetzten  Träume  usw.  Es  ist  nicht  verständ- 
lich, wie  Bergson  in  seiner  berühmten  Rede  von  1901  die  oben  erwähnte 
Meinung  aufrechterhalten  konnte. 

Andere  wieder  haben  ausschließlicli  die  physiologische  Seite  des  Traumes 
in  Betracht  gezogen  und  Theorien  vorgebracht,  deren  Schwäche  oder 
auch  Nutzlosigkeit  selbst  dem  oberflächlichen  Beobachter  in  die  Augeo 
springt.  Nur  ein  Beispiel:  die  Kurzschluß-Theorie  von  H.  Henning  (35). 
Der  Verfasser  wendet  sich  gegen  Freud,  aber  er  hat  sehr  unrecht,  dem 
Traume  jedwede  Bedeutung  abzusprechen,  indem  er  ihn  zu  einem  zu- 
fälligen, von  Kurzschlüssen  im  Nervensystem  hervorgerufenen  Phänomen 
herabsetzt,  davon  ganz  zu  schweigen,  daß  der  Kurzschluß  eine  Metapher 
ist,  die  letzten  Endes  nichts  erklärt. 

Von  iieueren  Schriftstellern  gab  bereits  S.  Freud  (27)  eine  Einteilung 
und  Übersicht  über  die  berühmtesten  Theorien  (von  Binz,  Burdach,  Wundt, 
Strümpell,  Delboeuf,  Lipps  usw^),  und  es  erscheint  mir  überflüssig,  sie 
anzuführen  oder  zu  kommentieren.  Es  möge  genügen,  darauf  hinzuweisen, 
daß  dieser  Autor  berechtigte  Einwände  gegen  diejenigen  Theorien  vor- 
bringt, welche  er  in  wenig  genauer  Weise  „zerebrale"  nennt.  Viel  we^ 
niger  überzeugend  sind  einige  der  vielen  Einwände,  welche  er  selbst  gegen 
diejenigen  Theorien  erhebt,  die  (wie  die  Delboeuf  sehe)  annehmen,  daß 
die  psychische  Tätigkeit  des  Wachseins  im  Zustande  des  Traumes  fortbe- 
stehe, freilich  unter  anderen  Verhältnissen.  Scharfsinnig  ist  dagegen  die 
Kritik  Freuds  an  den  Theorien,  welche  aus  dem  Traum  eine  Art  Zustand 
der  Verrücktheit  oder  Verwirrtheit  und  des  Schwachsinns  machen  möchten. 

Hier  \vill  ich  nur  einiges  über  die  Theorien  von  Autoren  vorbringen, 
die  ich  in  dem  klassischen   Buche  S.   Freuds  nicht  finde. 

Es  gab  immer  und  es  gibt  noch  heute  Tlieorien  des  Traumes  von  rein 
poetischem  und  hterarischem  Wert  (auch  S.  Freud  spricht  von  solchen), 
z.  B.  jene,  die  man  wie  folgt  zusammenfassen  kann:  der  Traum  ist 
der  freieste  Flug  der  von  den   Banden  des  Körpers  befreiten  Seele.    An 


ALTERE  IND  NEIERE  THEORIKN  DES  TRAl.MES 297 

(li«»  hun<lerl  S<*hrifUtollor  dor  alU'n  iirul  noiien  Zeit  Ix'gniigon  sicli  mit 
dit^t^iT  billigten  IWiauptiing,  <iio  schon  Priszian  und  'IVrtullian  verkündeten, 
und  die  in  der  neueren  Zeit  von  vielen  Philt>s<»plien,  unter  ihnen  Schelling, 
in  niaßj?elH^nd<^r  \\'eise  erhiutert  wurde.  Kin  anderes  Beispiel:  <ler 
Traum  ist  die  hiUlliche  Erscheinung  und  die  IJerichlerstattung  aus  einer 
fernen  Weit,  (he  der  Geist  erkennt,  wenn  er  für  kurze  Zeit  den  ini 
Schlaf  vexfallenen  Körper  verläßt.  Das  ist  eine  Theorie,  die  sich  bis 
in  das  fernste  ,\llertum  zurückverfolgen  läl^t,  aber  auch  mit  Wärme  von 
allen  theosophischen  Schulen,  annähernd  auch  von  dem  durch  seine 
Subliminaltluxme  sehr  bekannten  amerikanischen  Schriftsteller  Myers 
wieder  erneuert  und  aufrechterhalten  wurde.  Ich  sage  annähernd,  weil 
Mvers  mehrere  Ausnahmen  und  Abweichungen  von  der  erwähnten  Grund- 
idee macht. 

In  den  Jahren  1900  und  1901,  auch  später  noch  einige  Male,  hatt© 
ich  Gelegenheit,  mich  mit  einigen  Meistern  der  Theosophie  zu  unterhalten 
und  auseinanderzusetzen  (A.  Bcsant,  Leadbeater,  Oakley,  Blech),  und  in 
der  Folge  habe  ich  die  Werke  Steiners  gelesen.  Alle  versicherten,  daß 
während  des  Schlafes  unser  „Doppel wesen"  entweicht,  um  in  die  Astral- 
ebene  überzutreten,  wo  es  mit  anderen  zusammentreffen  kann,  so  daß 
eine  Traumerinnerung  so  viel  bedeuten  vmrde,  wie  daß  das  physische 
Gehirn  beim  Erwachen  weiß,  was  uns  in  der  Astralebene  zugestoßen  ist. 
Dabei  unterscheiden  jene  Theosophen  im  Einklänge  mit  ihrer  Philo- 
sophie einen  automatischen  Traum  (Tätigkeit  des  physischen  Ge- 
hirns) imd  einen  luziden  (Erzeugnis  des  astralen).  Einige  aber,  die 
gebildeteren,  identifizieren  das  „Doppelwesen"  mit  dem  Unterbewußtsein 
(Theorie   des    „Subliminal"   von    Myers). 

Die  Theosophen  imd  Okkultisten  sprechen  auch  von  realen  Träumen, 
welche  in  den  Erfahrungen  des  höheren  Ego  oder  Seif  oder  Ich  (das 
höhere  Marias  der  Inder)  bestünde;  aber  sie  erklärten,  daß  es  sich  nicht 
um  Träume  handelt,  sondern  um  echte  und  eigentliche  ,, Visionen"  ^.  In 
der  Tat  ist  für  die  Okkultisten  der  Traum  eine  Bewegung  oder  ein  Zu- 
stand der  Phantasietatigkeit  des  primitiven  Bewußtseins;  er  weicht  von 
ihr  nur  insofern  ab,  als  sie  durch  die  Gegenwart  des  weiterentwickelten 
Ich  abgeändert  wird.  So  Steiner  (io3),  welcher  der  gebildetste  und 
ernsteste  von  allen  zeitgenössischen  Theosophen  ist.  Jedenfalls  kann, 
da  die  Tätigkeit  des  Ich  unbewußt  ist,  keine  Traumerfahrung  die  Kennt- 
nis einer  übersinnlichen  Welt  vermitteln.  Vielmehr  treten  die  Spuren 
der  Phantasietätigkeit  des  primitiven  Bewußtseins  nicht  eher  in  Aktion, 
bevor  das  Ich  nicht  ausgeschaltet  ist.  Hieraus  schließt  Steiner,  daß  die 
Träume   keine  okkultistische   Bedeutung   haben. 

Wir  werden  die  Vorläufer  der  modernen  Theosophen  bei  den  alten 
Griechen  finden,  besonders  in  Pythagoras  und  den  Pythagoräern.  Nach 
jenem  Philosophen  ist  die  Luft  voller  Geister,  und  von  diesen  werden 
den  Menschen  die  Träume  und  die  Vorahnungen  von  Krankheit  und  Ge- 
sundheit  zugesandt.     Hier  wird  die  Transzendenz   des  Traumes  unzwei- 


^   Beireffend  die  theosophischen  Theorien  vgl.  Blavatsky  (9)  und  C.  W.  Leadbeater  (46). 


298  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TUVUMES 

deutig  ausgesprochen.  Übrigens  war  bei  den  Antiken  die  Mehrzahl  der 
Meinung,  daß  der  Traum  den  Menschen  von  außen  her  gegeben  würde. 
Heraklit,  welcher  glaubte,  daß  die  Vernunft  nicht  im  Menschen,  son- 
dern in  seiner  Umwelt  (jtepiexov)  liege  und  mittels  der  Atmung  durch 
die  Poren  und  die  Sinne  in  jeden  Menschen  eindringe,  sagte:  da  während 
des  Schlafes  die  Wege  der  Sinne  fast  verstopft  seien,  sei  unser  Greist 
von  den  Verbindungen  mit  der  Umwelt  abgeschnitten  und  mit  ihr  nur 
durch  das  Mittel  der  Atmung  gleichsam  wie  durch  eine  gemeinsame 
Wurzel  verbunden;  in  solcher  Weise  abgetrennt,  verliere  der  Geist  die 
Gedächtniskraft,  die  er  vorher  besessen  habe.  Wenn  nun  der  Geist 
beim  Erwachen  von  neuem  vor  die  Sinne,  vor  seine  Fenster,  tritt,  ver- 
einige er  sich  dadurch  mit  der  Umwelt  und  werde  von  neuem  mit  Er- 
kenntniskraft ausgerüstet.  Demgemäß  bemerkt  Sextus  Empiricus,  daß 
wir  nach  Heraklit  nur  im  Wachsein  vernünftig  (voepoi)  im  Schlafe  da- 
gegen erinnerungslos  seien  (XrjQ'aioi).  So  wie  sich  die  Kohlen  durch  die 
Veränderung  ihrer  Natur  entzünden,  wenn  sie  an  das  Feuer  herange- 
bracht, und  verlöschen,  wenn  sie  vom  Feuer  hinweggenommen  werden, 
so  ist  derjenige  Teil  der  Umwelt,  welcher  in  unseren  Körpern  beherbergt 
wird,  vernunftlos,  soweit  er  abgetrennt  ist,  gleicht  sich  aber  dem  Ganzen 
an,  soweit  er  mit  dem  Ganzen  durch  eine  sehr  große  Zahl  von  Wegen 
in   Verbindung  steht. 

Demokrit  nähert  sich  mehr  den  modernen  Anschauungen,  aber  auch 
er  sagt  sich  nicht  von  der  Annahme  eines  entscheidenden,  von  außen  her 
konmienden  Einflusses  los.  Er  glaubt  in  der  Tat,  daß  sich  die  „Bilder" 
(eibcoXa)  von  den  äußeren  Körpern  ablösen,  in  uns  eindringen,  und  daß 
so  in  uns  die  Empfindung  imd  die  geistige  Tätigkeit  hervorgebracht 
werden.  Weil  nun  die  Bewegung  der  Bilder  auch  während  des  Schlafes 
andauert,  so  entstehen  auf  diese  Weise  die  Träume. 

Die  Theorien  der  indischen  Philosopliie,  z.  B.  die  der  Synkretisten 
Pracastapäda  und  Kegava-Micra  ^,  entbehren  nicht  des  Interesses;  etwas 
Gemeinschaftliches  mit  unserem  Gedanken  bietet  insbesondere  der  Be- 
griff des  Schlafes,  der  im  Texte  zwei  verschiedene  Namen  führt,  näm- 
lich: Niclra  und  Sushupti,  wobei  unter  dem  zweiten  Worte  der 
tiefe   Schlaf  ohne  Traum  verstanden   wird. 

Mit  Aristoteles  2  beginnt  sozusagen  die  moderne  Betrachtungsweise  des 
Traumes.  Wie  so  viele  andere  Lehren  des  Aristoteles,  so  ist  auch  seine 
Lehre  vom  Traum  erstaunlich  modern.  Für  den  großen  Philosophen 
ist  der  Traum  im  wesentlichen  ein  Werk  der  Einbildungskraft  bzw.  des 
Empfindungsvermögens.  Aristoteles  entwarf  auch  eine  ,,Individuar"- 
Psychologie  des  Traumes,  und  seine  Beobachtungen  sind  zutreffend. 
Er  bekämpfte  den  Gedanken  des  Eingreifens  der  Götter  und  der  Genien 
in  die  Träume  (wobei  er  gleichwohl  die  Möglichkeit  gottgesandter  Träume 

^  Wiedergegeben  \on  Luigi  Sauli  (97).  Die  Theorie  des  Schlafes  und  des  Traumes, 
die  in  diesem  Buche  entwickelt  wird,  ist  mit  denjenigen  des  Vedänta  und  das 
Sämkhya    verknüpft. 

^  In  den  Parva  naturalia,  besonders  in  dem  Abschnitt  de  insomniis  findet  sich  die 
Lehre   des   Aristoteles   über  die  Träume  recht  klar  dargestellt. 


Äl.TF.RK  r.ND  NKl  ERi:  TUKORILN   DES  TIUIMKS 299 

zugab)   lind  verwarf  auch  das  Wahrsagen  aus  Träumen  und  die  prophe- 
tischen   Träume'. 

Cicero  behandelU^  meisterhatl  (1;ls  l'roblem  der  Träume  und  VValir- 
sagnngon.  Seiner  Anschauung,  die  übrigens  die  gleiche  war  wie  die 
der  Philostiphen  des  Altertums,  schlössen  sich  alle  fast  ohne  Wider- 
spruch an.  \):i>  gilt  auch  für  Petrarca,  der  seinem  Freunde  Giovanni 
d'  Andna  aus  Bologna  auf  die  Frage  nach  seiner  Meinung  über  dio 
Träume  folgendes  schrieb-:  „Affe  che  a  chi  conoxce  le  dottrine  degli 
antichi  non puö  rispanuiarsi  V  acctisa  di  curioxitä  se  chiede  ancora  la  mia... 
Sappi  che  come  in  molte  nitre  coxe,  cosi  pure  in  questa  io  la  penso 
€4il  mio  M.  TuIIio."  (,, Wahrhaftig,  wer  die  Lehren  der  Alten  kennt, 
dem  kann  der  Vorwurf  der  Neugierde  nicht  erspart  werden,  wenn  er 
auch  noch  meine  fordert  .  .  .  Wisse,  daß  ich,  wie  in  vielen  anderen 
Fragen,  gerade  auch  in  dieser  so  wie  mein  M.  Tullius  denke.")  Und 
ganz  in  Übereinstimmung  mit  Cicero  leugnet  Petrarca  in  jenem  Brief 
alles  Übernatürliche  selbst  in  einem  wirklich  außerordentlichen,  tele- 
pathischen Traume  (wie  tnan  heutzutage  sagen  würde),  den  er  hatte,  und 
von  dem  er  eine  so  natürliche  und  wissenschaftliche  Erklärung  gibt,  daß 
wir  weiter  unten  darauf  zuriickkommen  werden  müssen. 

Die  gute  Hälfte  der  sog.  Theorien  des  Traumes,  welche  die  neuzeit- 
lichen Autoren  von  wissenschaftlicher  Bedeutung  am  Schluß  ihrer  Mono- 
graphien über  den  Traum  aufstellen,  sind  nur  Varianten  eines  einzigen 
Grundgedankens,  nämlich,  daß  der  Traum  die  Geschichte  des  Träumen- 
den ist,  oft  ihm  selbst  unbewußt;  eine  Geschichte,  welche  sich  mittels 
d^-s  Mechanismus  der  Ideenassoziationen  in  einem  der  Gedankenfreiheit 
günstigen  Moment  abspielt,  wenn  sich  nämlich  der  Organismus  im  Schlafe 
befindet,  durch  die  Gegenwart  fast  ungestört  und  nicht  im  Besitze 
der  höheren  geistigen  Fähigkeiten,  wie  z.   B.   des  Willens. 

Man  könnte  sagen,  daß  die  Gelehrten,  überdrüssig,  bei  den  Alten  zu 
lesen,  daß  der  Traum  die  Zukunft  sei  (Warnungen,  Ein>virkung  fremder 
Kräfte  auf  den  Schlafenden),  sich  vorgenommen  hätten,  zu  beweisen,  daß 
er  im  Gegenteil  die  Vergangenheit  darstelle.  Nun  aber  haben  sich,  wie 
wir  berichteten,  die  Gelehrten  neuerer  Zeit  bemüht,  zu  beweisen,  daß  der 
Traum  vielmehr  die  aktuelle  Gegenwart  des  Träumers,  d.  h.  ein  auto- 
matisches Erzeugnis  des  Zustandes  der  Sinnes-  und  der  inneren  Organe 
sei  (Vaschide  et  Pieron  [ii5]  und  alle,  die  sich  mit  den  Träumen  der 
gewöhnlichen   Kranken   und   der   Irren   beschäftigen)    und   aus   der  Lage 


^  Im  Mittelalter  folgt  Thomas  v.  Aquino.  rler  christliche  Übermitller  fler  Aristo- 
telischen Philosophie,  dem  Meister  und  somit  ist  auch  für  ihn  die  (aktuelle)  passio 
sensus  externi  beim  Traume  .nicht  von  Wichtigkeit,  vielmehr  definiert  er  diesen 
als  apparitio  simulacrorum  in  somno.  EHe  Behandlung  des  Gi^gpustandes  boi 
Thomas  ist  meisterhaft,  besonders  in  den  Erklärungen,  warum  im  Traume  die  Bilder 
die  vorherrschende  Rolle  spielen,  femer  woher  es  komme,  daß  zuweilen  der  Schlafende- 
sich   dessen   bewußt   sei,   daß  er   träume  u.   a.   m. 

2  I>elle  cose  familiari,  V.  Buch,  7.  Brief  vom  37.  XII.  i343  aus  Parma,  mitgeteilt 
von  Ronchini,  La  dimora  di  Petrarca  in  Parma,  Modena,  187A.  Ich  sagte  schon  einiepes 
über  diesen    Brief  des   Dichters    in   meinem    Buche    von    1899.  ^&^-    ^-    382. 


DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 


300 

der  Körperorgane  während  des   Schlafes  und  im  allgemeinen   aus  orga- 
nischen Empfindungen  hervorgehe  i. 

Mit  mehr  oder  weniger  persönlichen,  mehr  oder  weniger  beachtens- 
werten Theorien  ist  die  Literatur  des  Traumes  angefüllt;  im  allgemeinen 
wollen  jedoch  die  Autoren  mit  ihrer  Theorie  des  Traumes  die  eigenen 
philosophischen  Anschauungen  zur  Geltung  bringen,  oder  sie  versuchen, 
aus  einer  oder  wenigen  persönlichen  Beobachtungen  weitgehende  Schlüsse 
zu  ziehen,  und  verfallen  somit  in  den  Fehler  der  Verallgemeinerung,  die 
unter  den  Gelehrten,  insbesondere  wenn  sie  die  induktive  Methode  mit 
geringer  Vorsicht  handhaben,  so  weit  verbreitet  ist. 

Den  negativen  Theorien,  von  welchen  wir  im  Anfange  gesprochen 
haben,  folgten  andere  verwandte  Theorien,  die  in  Wirklichkeit  nichts 
erklären.  Viel  Glück  hatte  vor  5o  oder  70  Jahren  die  pathologische 
Theorie.  Beachtung  wurde  ihr  durch  Moreau  de  Tours  (60)  zuteil,  der 
dartun  zu  können  glaubte,  daß  der  Traum  nichts  anderes  als  eine  geistige 
Störung  sei.  EHese  Theorie  erhielt  sich,  allerdings  unter  gewissen  Ab- 
schwächungen,  bis  in  die  neueste  Zeit  hinein;  die  Irrenärzte  bestanden 
auf  der  Analogie  zvdschen  Traum  und  Wahnsinn,  füllten  aber  die  Lücken 
mit  keiner  ernst  zu  nehmenden  Theorie  aus.  Mit  Recht  wurde  die  patho- 
logische Theorie  von  Freud,  von  N.  Vaschide  und  R.  Meoinier  (ii4) 
bekämpft.  Gleichwohl  kehren  von  Zeit  zu  Zeit  die  pathologischen  Theo- 
rien wieder;  neuerdings  tauchten  sie  unter  dem  Namen  „toxische Theorien" 
auf  (57). 

Andere  lassen  den  Traum  in  einer  Lähmung  der  Aufmerksamkeit  oder 
des  Willens  bestehen  usw. ;  aber  auch  hier  liegt  die  Einseitigkeit  auf 
der  Hand.  Schwerlich  können  diese  Auffassungen  auf  die  Bezeichnung 
oder  den  Rang  von  Theorien  Anspruch  erheben.  Indessen  gibt  es  deren 
andere,  und  zwar  bedeutendere. 

Vaschide  (ii3)  behauptet,  daß  der  Traum  das  Reich  der  Emotiyitat 
und  die  „Vergeistigung"  der  Bilder  genannt  werden  könne,  d.  h.  daß 
sich  das  Traumbild,  das  stets  emotiv  sei,  aus  einer  abstrakten  Synthese 
von  tausend  im  Wachbewußtsein  getrennten  und  dissoziierten  Vorgängen 
zusammensetze.  Abstraktion  und  Emotivität  seien  die  Merkmale  des 
Traumcss .  Diese  Anschauung  krankt  einerseits  an  Unbestimmtheit,  ander- 
seits an  Einseitigkeit.  Wenn  die  Theorie  von  Vaschide  (und  von  R.  Meu- 
nier)  in  der  mißbrauchten  Phrase  zusammengefaßt  werden  soll,  daß 
der  Traum  von  der  Logik  des  Gefühls  regiert  wird,  dann  verliert  sie 
jedwede  Originalität,  weil  man  ja,  wie  schon  gesagt  wurde,  S.  Freud 
die  allgemeine  Verbreitung  dieser  Anschauung  verdankt. 

^  übrigens  glauben  selbstverständlich  diejenigen  eher  im  Rechte  zu  sein,  welche 
zwischen  Wahrnehmungsträumen  {presentation  dreams)  und  Vorstellungsträumen  {repre- 
sentation  dreams  der  Mary  Calkins,  Havelock  Ellis  u.  a.)  oder,  wie  sich  viele 
Psychologen,  z.  B.  Wundt,  auszudrücken  vorziehen,  zwischen  Illusions-  und  Halluzi- 
natjonsträumen  unterscheiden  und  daraus  den  Schluß  ziehen,  daß  der  Traum  igledcbi- 
zeitig  der  Zeuge  für  die  Vergangenheit  und  die  Gegenwart  des  Träumers  sei;  und  noch 
mehr  diejenigen,  welche  zwar  der  bequemeren  Analyse  wegen  die  genannte  Unter- 
scheidung annehmen,  im  übrigen  aber  mit  A.  Maury  behaupten,  daß  die  Träume 
ftcts  Vorslellungsträume  seien,  indem  die  aktuellen  Empfindungen  stets  vom  Träumer 
entstellt   und   umgeformt   werden. 


vl.lKfU:  l  NT)  NKIEKKTUKOKIEN    DK-J  TRAUMES 301 

Ich  wende  micli  nunmehr  einer  Abhandlung  G.  L.  IXiprals  (20) 
zu,  die  ich  in  mancher  Hinsicht  für  bedeutsam  halte.  Für  diesen  Psycho- 
logen ist  der  Traum  ein  Zustand  geistiger  Regression.  Eis  gibt  leichte 
Grade  der  Regression,  wie  den  llalbschlaf,  die  hypnagogischen  Zu- 
stände, in  welchen  der  Symbolismus  der  Sprache  noch  bewahrt  Ist,  ob- 
gleich Zusammenhanglosigkeit  vorherrscht;  aber  es  gibt  auch  extreme 
Zustände  der  Regression  (im  tiefen  Schlafe).  Somit  erscheint  der  Schlaf 
als  Folge  einer  Rückbildung  des  normalen  Ich.  Die  geistige  Tätigkeit 
im  Traimi  ist  also,  kurz  gesagt,  eine  primitive,  d.  h.  auf  vor- 
logischer Stufe  stehende  geistige  Tätigkeit.  Hieraus  folgt,  daß  der 
Träumer,  auf  sein  ursprüngliches  Ich  zurückgeführt,  zu  dem  primi- 
tiven \erfahren  der  bildlichen  Darstellung  (imagerie)  greift,  um  eine 
geistige  Arbeil  zu  verrichten,  für  die  im  Wachen  geeignetere  und 
ökonomischere  Mittel  zur  Verfü^ng  stehen.  In  einem  gewissen  Sinn 
ist  der  Traum  der  in  Empfindungen  übergeführte  Gedanke;  und  Träumen 
heißt,  an  Stelle  der  Wortbilder  die  Tatsachen,  welche  das  Wort  synthetisch 
ausdrücken  sollte,  selbst  setzen. 

Die  Theorie  von  Duprat  steht  nicht  im  Einklänge  mit  den  langen  und 
mühsamen  Beobachtungen  über  die  Träume  der  großen  Masse  der  Träu- 
menden. Daß  es  in  gewissen  Träumen  eine  psychische  Tätigkeit  von 
vorlogischem  Typus  gibt,  ist  gewiß,  aber  darin  liegt  nicht  das  Charak- 
teristische des  Traumes.  Ich  werde  darauf  weiter  unten  Im  gleichen 
Kapitel  zurückkommen. 

Auch  Morton  Prince  (70)  hat  eine  Theorie  des  Traumes  aufgestellt, 
welche  aus  seinen  psychopathologischen  Beobachtungen  entstanden  ist, 
besonders  aus  Beobachtungen  an  der  berühmten  Miß  Beauchamp. 

Ich  wollte  einige  der  zahlreichen  neueren  Theorien  streifen,  um  die 
Änderung  in  der  Richtung  zu  zeigen,  welche  sich  in  diesen  letzten  Jahren 
in  der  Traumlehre  vollzogen  hat.  Die  von  physiologischen  Gesichtspunkten 
und  Begriffen  aus  gebildeten  Theorien  sind  nach  und  nach  durch  rein 
psychologische  Theorien  abgelöst  worden,  welche  auf  Grund  der  Itegriffe 
des  Unterbewußten  und  des  Unbewußten  gebildet  wTirden  und  zum  Teil 
eine  Auferstehung  der  Theorien  Schuberts,  Scherners  und  Volkelts  be- 
deuten. 

Eine  Ausnahme  bildet  die  Theorie  von  E.  Rignano,  welche  ich  in  dem 
I.  Kapitel  1  erwähnt  habe.  Der  Autor  setzt  voraus,  daß  die  beiden 
Arten  von  affektiver  Tätigkeit  während  des  Wachens  unausgesetzt  wirksam 
sind;  da  also  die  Erholung  derselben  zu  dieser  Zeit  nicht  stattfinden  kann, 
so  vollzieht  sie  sich  während  des  Schlafes.    Aus  diesen  Voraussetzungen 

^  E.  Rignano  hat  seine  Ideen  in  seinem  bereits  zitierten  großen  Werke  zusammen- 
gefaßt und  sie  dadurch  der  breiten  Öffentlichkeit  zugänglich  gemacht  (gleichzeitig  auch 
in  französischer  Sprache  erschienen).  Der  Autor  unterscheidet  eine  primäre  und 
eine  sekundäre  Affektivität.  Die  primäre  bestünde  aus  Interessen,  die  sekundäre  aus 
dem  Wunsche,  keine  Fehler  _?u  machen,  aus  der  Furcht,  nicht  in  der  wirksamsten 
Weise  zu  handeln  usw. ;  während  die  primäre  Affektivität  zur  Tat  treibt,  wird  sie  von 
der  sekundären  gehemmt,  welche  auf  diese  Weise  den  Zustand  der  Aufmerksamkeit 
henorruft,  mit  dessen  Hilfe  die  Tat  selbst  vollbracht  wird  vmd  von  dem  ihre  größere 
oder   geringere    Wirksamkeit   abhängt. 


302  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR-\UMES 

ist  CS  Rignano  ein  leichtes,  zu  folgern,  daß  eines  der  ursprünglichsten  und 
hervorstechendsten  Merkmale  des  Traumes  die  Eigenschaft  sei,  anaffektiv 
zu  sein.  Der  Verfasser  drückt  sich  folgendermaßen  aus:  „/  sognl  sono  il 
resultato  di  im  assopimento  affettivo,  non  accompacjnato  da  un  corrinpon- 
denfe  asxopimento  inteMettivo ;  e,  in  altre  parole,  essi  sono  un'  anarchia 
ideatica  per  essere  remito  a  cesmre  ogni  gorerno  affettivo."  („Die 
Träume  sind  das  Resultat  des  Einschlummerns  der  Affekte  ohne  entspre- 
chendes Einschlunmiern  der  Gedankenwelt;  in  anderen  Worten:  es 
!)errschl  in  ihnen  Anarcliie  der  Ideen,  da  jede  affektive  Leitung  auf- 
gehört hat.") 

B.   DIE  THEORIE   EREUDS   UND  SEINER   SCHULE 

Den  genialen  Anstoß  zu  der  früher  erwähnten  Auferstehung  hat,  \>ie 
schon  wiederholt  in  den  vorhergehenden  Kapiteln  ausgesprochen  wurde, 
Sigmund  Freud  gegeben,  so  daß  eine  Besprechung  der  Lehre  Freuds 
mit  einer  Besprechung  aller  seiner  Vorläufer  und  Epigonen  gleich- 
bedeiitend  ist.  Übrigens  beabsichtige  ich  nicht,  in  diesem  Kapitel  das 
bereits  in  den  anderen  Gresagte  zu  wiederholen,  zumal  ja  die  Freudsche 
Traumtlieorie  sehr  bekannt  ist  ^,  sondern  vielmehr  auf  einige  Teile  der 
Freudschen  Traumtheorie  einzugehen,  welche  mir  am  meisten  anfechti.ar 
erscheinen. 

Die  duich  die  äußerst  interessanten  Untersuchungen,  und  mehr  noch 
durch  die  kühnen  Deutungen  und  Theorien  Freuds  und  seiner  .Vnhänger 
eingeleitete  Bewegung  war  und  ist  vielleicht  noch  jetzt  eine  der  um- 
fassendsten, welche  Psychologie  und  Geistes^^issenschaft  in  der  Kultur 
der  Gegenwart  zu  verzeichnen  haben. 

Wie  schon  gesagt  (Kapitel  II),  ist  für  Freud  der  Traum  weder  ein 
physiologischer  automatischer  Vorgang  noch  ein  Gemenge  von  zufälligen 
Assoziationen  oder  von  körperlichen  Empfindungen  während  des  Schlafes, 
wofüj'  er  zu  allen  Zeiten  von  vielen  gehalten  Avurde,  und  wofür  er  noch 
jetzt  bei  mehreren  Gelehrten  gilt.  Er  ist  ein  selbständiges  und  sinnvolles 
Erzeugnis  der  geistigen  Tätigkeit.  Die  Empfindungen  sind  nicht  Ursache 
des  Traumes,  sondern  sie  Liefern  nur  das  Material  für  die  psychische 
Arbeit.  Der  Traum  ist,  wie  jedes  komplizierte  psychische  Produkt,  ein 
Werk,  welches  seine  Motive,  seine  vorhergehenden  assoziativen  Verket- 
tungen hat  und  wie  eine  wohlüberlegte  Handlung  von  einer  Logik  geleitet 
wird;  er  ergibt  sich  aus  dem  Wettkampf  und  dem  Sieg  einer  Tendenz 
des  Individuums  über  eine  andere.  Der  Mangel  an  Zusammenhang  und 
die  Dunkelheit  der  Träume  ist  nur  scheinbar;  jeder  Traum  hat  einen 
bedeutungsvollen  „latenten  Inhalt",  weil  er  mit  dem  ganzen  Leben  des   In- 


1  Ich  könnte  wahrhaftig  die  Darslellung  der  S.  Freudschen  Traumtheorie  ohne  weiteres 
überspringen,  so  bekannt  ist  sie  heutzutage  in  den  Ländern  der  deutschen,  wie  in 
denjenigen  der  englischen  und  französischen  Sprache.  Auch  in  Italien  fand  sie 
kritische  Darsteller  und  Kommentatoren:  .Assaggioli,  Ferrari,  Levi-Biancliiiii,  Patini, 
Sciuti,  außer  dem  Verfasser  der  vorliegenden  Monographie.  Siehe  insbesondere  unter 
den  neuesten  Veröffentlichungen  die  Artikel  und  Referate  von  R,  Assaggioli  (3),  S.  De 
SancÜs  (92).  Aber  Freud  selbst  (28)  hat  ein  neues  Büchlein  geschrieben,  welches  ein 
Auszug  des   größeren  Werkes   (27)   ist. 


nii:  TUKoHiK  frkids  indskineh  sciui.e 303 

(lividuuins  \crknri{)ft  ist.  IXt  Traiiin  wärt'  doinnach  in  seinem  ..mani- 
IVsten  Iiiliallo"  nur  die  unlM'wiiljIc  rhcrtraf^iin;,''  psychischer  I^reii^Tiiss:', 
die  sich  im  l  nbewuliten  absjiiclcn,  d.  h.  latenter  Vorstellungx'n  und 
Getianken. 

\her  warum  bop«'f?net  uns  im  scheinbaren  Traume  der  „Traump'edank  ■'" 
in  symb<^»hscher  I>inkloi<hing?  Der  Grund  he^l  in  einem  metaphorisch 
als  „Zensur"  be/eichneten  Vorpanj^e,  der  die  l'^inkleidung  besorgt:  und 
der  Vorgang  ist  dem  l  mstiinde  zu  verdanken,  dali  die  Gedanken  (dev 
latente  Inhalt)  durch  große  Widerstände  verhindert  werden,  ins  Be- 
wußtsein einzutreten ;  ja,  die  individuellen  InterCvSsen  des  Träumenden 
gestatten  kaum,  daß  sie  sich  mittels  Symbolen  kundgeben. 

Um  den  Begriff  der  latenten  Gedanken  noch  weiter  zu  klären, 
will  ich  die  Freudsche  Theorie  in  folgende  Formel  zusammenfassen: 
Der  Traum  ist  die  maskierte  Erfüllung  eines  im  frühen 
Kindesalter  verdrängten  unbewußten  Wunsches  sexu- 
eller Natur  (Verdrängung  oder  refoulenicnt).  Diese  Formel  enthält 
Vltes  und  Neues,  Wahres  und  Falsches;  jedenfalls  liegen  in  ihr  die  Keime 
zu    endlosen    und   leidenschaftlichen    Kritiken    und    Auseinandersetzungen. 

Indessen  lege  ich  Wert  auf  die  Feststellung,  daß  man  durch  die  Auf- 
stellung des  Gnmdbegriffes  des  latenten  Inhaltes  dazu  neigt,  den  Be- 
griff des  manifesten  Inhaltes  zu  unterschätzen,  mit  dem  sich  die 
Psychologie  bis  jetzt  fast  ausschließlich  beschäftigt  hat.  Eine  solche 
Lnterschätzung  wäre  jedoch  ein  arger  Mißgriff:  der  manifeste  Inhalt 
ist  die  Tatsache;  er  bestimmt  das  Verhalten  des  Träumenden,  und. 
deshalb  muß  man  ihm  einen  inneren  Wert  ersten  Ranges  zusprechen. 
Der  latente  Inhalt,  mit  welchem  sich  die  Freudsche  oder  psychoanalytische 
Methode  ausschließlich  beschäftigt,  hat  gleichwohl  l)eträchtlichen  Wert 
(vorausgesetzt,  daß  es  uns  gelingt,  ihn  mittels  wissenschaftlicher  Methode 
zu  bestätigen),  besonders  in  der  Psychopathologie,  in  der  Psychotherapie 
und  zur  Erklärung  der  Bedeutung  des  Traumes. 

Im  Mittelpunkte  der  Diskussion  stand  und  steht  der  (bewußte  oder 
unbewußte?)  Wunsch  ^  seine  sexuelle  Natur,  die  willkürliche  oder  un- 
willkürliche Verdrängung,  sein  infantiler  Ursprung  usw.  Und  natürlich 
erweitert  sich  die  Diskussion,  wenn  man  auf  die  von  Freud  angewandte 
Methode  der  Untersuchung  und  die  Erklärung  eingeht,  und  wenn  man 
seine  Lehre  vom  Unbewußten  prüft,  welche  die  theoretische  Grundlage 
der  Psychoanalyse  als  Methode  wie  als  Theorie  bildet.  Die  Psychoanalyse 
hat  eben  die  Aufgabe,  die  den  manifesten  Inhalt  bildenden  Teile,  ohne 
jede  Rücksicht   auf  die  manifeste   Bedeutung,   in   ihre  Elemente   zu  zer- 


1  Freud  behauptet,  daß  ein  bewußter  Wunsch  nur  dann  zum  Traumerreger  wird,  wenn 
es  ihm  gi^'lingl.  einen  gleichlautenden  unbewußten  und  zwar  infantilen  Wunsch  zu 
wecken,  durcli  den  er  verstärkt  wird.  Man  weiß  übrigens,  daß  der  Freudsclie  Gedanke 
nach  und  nach  so  maiiche  Abänderung  erfuhr.  Nacli  Freud  stammt  der  Wunsch  im 
latenten  Inhalte  des  Traumes  der  Erwaclisenen  aus  dem  Unbewußten,  während  jener 
Iwi  den  Kindom  aus  dem  wr.chen  Zustande  stammt,  weil  beim  Kinde  noch  nicht 
die  Zensur  zwischen  Vorl>ewußtem  und  LInbewußlem  besteht.  Man  vergleich©  den 
Beilrag  von  T.  H.  Pear  zur  Kritik  der  Freudschen  Theorie  über  den  infantilen 
Wunschtraum. 


304        DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

spähen,  und  sie  hat  die  andere  Aufgabe,  den  Assoziationen  zu  folgen,  die 
sich  aus  jedem  dieser  Elemente  entwickeln.  Auf  diese  Weise  dringt  man 
in  die  Ide<!  oder  den  Gedanken  (latenten  Inhalt)  des  Traumes  ein,  d.  h. 
in  die  Sphäre  der  unbefriedigten  Wünsche,  welche  gerade  im  Traum 
ihre  halluzinatorische  Erfüllung  finden. 

Es  wäre  noch  zu  untersuchen,  ob  die  Methode  der  freien  /Vssoziationen, 
im  rückläufigen  Sinn  angewandt,  geeignet  ist,  den  Psychoanalytiker 
bis  in  das  Greheinmis  der  Ursprünge  einzuführen.  Sicher  gelangt  man 
nicht  immer  so  weit,  wenn  man  nicht  etwa  um  jeden  Preis  so  weit  ge- 
langen  will. 

Die  Freudsche  Lehre  wimmelt  von  philosophischen  Begriffen.  Unter 
ihnen  herrscht  z.  B.  die  Finalität  des  Traumes  vor.  Nach  Freud  hätte 
der  Traum  eine  Funktion  der  Verteidigung  oder  auch  der  Beschützung 
des  Schlafes.  Der  Schlaf  würde  eben  gegen  die  im  Wachzustand  unbe- 
friedigt geblid)enen  psychischen  Komponenten,  d.  h.  gegen  die  unbe- 
wußten Wünsche,  verteidigt  werden,  welche  den  Schlafenden  in  dem 
MafSe  beunruhigen,  daß,  wenn  ein  Kampf  zwischen  Zensur  und  Traum- 
gedanken entsteht,  „der  Fluß  aus  den  Ufern  tritt"  und  den  Schlafenden 
weckt.  Aus  dieser  Quelle  stammen  die  Angstträume.  Diese  Anschauung 
Freuds  wurde  von  mehreren  aufgenommen.  Einige  schlössen  sich  ihr 
einfach  an  i,  während  andere  sie  erörterten,  weiterentwickelten  oder  be- 
richtigten. 

Zu  den  (eigentlich  wenig  disziplinierten)  Schülern  Freuds  zählt  Jung  2, 
der  einige  Gedanken  des  Meisters,  besonders  über  die  ,, Libido"  (sexuelle 
Natur  der  verdrängten  Gedanken),  modifiziert,  vor  allen  Dingen  aber  die 
Dynamik  des  Traumes,  im  Freudschen  Sinne,  mit  Feinheit  erläutert  hat. 
Jeder  unserer  geistigen  Zustände  hängt  von  unserer  Geschichte  ab.  In 
unserer  Vergangenheit  gibt  es  Elemente  von  verschiedenem  Werte,  welche 
die  psychische  Konstellation  (ich  glaube,  daß  das  Wort  von  Ziehen 
stammt)  bestimmen.  Die  großen  Leidenschaften  und  die  Haupterlebnisse 
bilden  starke  und  dauerhafte  Komplexe  (Jung  und  Bleuler)  von 
Assoziationen.  Der  Komplex  entfaltet  eine  große  ,,konstellierende' 
Kraft,  und  die  Erzeugnisse  der  psychischen  Tätigkeit  hängen  vor  allem 
von   den  stärksten   „konstellierenden"   Einflüssen  ab. 

Jung  sagt,  daß  in  den  Komplexen  mit  starkem  emotionel- 
len Koeffizienten  inrnier  Wünsche  und  Widerstände  eine  RoUa 
spielen.  Das  ganze  Leben  zielt  auf  eine  Verwirklichung  unserer  Be- 
strebungen ab,  und  diese  Verwirklichimg  tritt  im  Traum  ein.  Nur  daß 
die  Wünsche,  welche  die  Gedanken  des  Traumes  bilden  (Freuds  latenter 
Inhalt),  uneingestandene,  verdrängte,  von  der  Überlegung  wegen  ihrer 
Peinlichkeit  ausgeschlossene  Wünsche  sind,  die  im  Traume  mannig- 
fach verkleidet  (Freuds  manifester  Inhalt),  also  in  symbolischem 
Gewände,   wieder   auferstehen.    Der  Träumer   kennt   den   latenten   Inhalt 


1  Michele    Sciuti    (98)   bemerkt   kurz,    daß,    wie   der    Schlaf   den   Organismus,    so   auch 
der   Traum   den    Schlaf   beschützt. 

-  Jung   (38)   gab   ein©   treffliche   Zusammenfassung  seiner   Ideen   in   seinem   Aufsatze 
über  die   Aiialyse   der   Träume. 


Din  TUKOUIK  FHKl  PS  IM)  SRI.NEU  SCHULE 305 

solnes  'Irauni«"«  nicht,  da  die  Iloimuiin«^  (Zensur  Freuds)  dein  (j<'dankcn 
das  Aultrolen  nur  in  synibolischoin  (lewande  gestattet.  Hieraus  lolgt,  dali 
es  nötig  ist,  den  geheimen  und  wirklichen  Gedanken  <lc8  Traumes  mittels 
der  Assoziationen  (Jung),  durch  Nachforschungen  über  das  Leben  des 
Träumenden,  d.  h.  mittels  der  psychoanalytischen  Methode  Freuds',  auf- 
zudecken,  um   die  Theorien    Freuds   zu   bestätigen    und   zu   beweisen. 

Ein  anderer,  teilweise  von  ihm  unabiiängiger  Ausleger  der  Lehre 
Freuds  ist  Adler  (i)  in  Wien.  Dieser  hält  den  Traum,  wie  alle  psychi- 
schen Erscheinungen,  für  das  Erzeugnis  der  gesamten  Kräfte  des  Träu- 
menden. Er  ist  ein  Schwingen  unserer  Gedanken  in  der  vom  Charakter 
eingeschlagenen  llichtung.  Im  Traume  wird  der  unbewußte  Zweck  offen- 
bar; der  Wille  triumpliiert,  während  er  im  Wachsein  durch  die  bewußten 
Inhalte  unterdrückt  war.  Der  Traum  ist  aber  voll  von  Symbolen  und 
^erschrobenheiten.  Die  Ursache  von  so  großer  Dunkelheit  biTuht  darauf, 
daß  der  Traum  ein  Spiel  von  Kräften  widerspiegelt.  Der  Traum  hat  eine 
prophetische  und  vorbereitende  Funktion,  sagt  Adler  bereits  im  Jahre 
1908.  Der  Sinn  des  Traumes,  wenn  er  einmal  verstanden  ist,  enthüllt 
gewiß  nicht  die  Zukunft,  aber  zeigt  ihren  Weg  an.  Der  Traum  ist  wie 
der  Rauch  —  er  zeigt  die  Richtung  des  Windes  an.  Der  Traum  stellt 
die  Meilensteine  in  der  Gedankenwelt  des  Träumers  dar,  der  Gedanken, 
welche  die  Zukunft  mittels  der  persönlichen  Erfahrungen  des  Menschen 
zu  erkennen  versuchen.  Der  Traum  sagt  nicht  die  Handlungen  voraus, 
sondern  reflektiert,  wie  in  einem  Spiegel,  die  Ereignisse  und  die  Ein- 
stellungen,  welche   in   enger   Beziehung   zu   unseren    Handlungen   stehen. 

Mäder  (5i)  geht  davon  aus,  daß  die  wesentliche  Funktion  des  Traumes 
nach  Freud  darin  besteht,  den  Schlaf  zu  beschützen,  indem  der  Schlafende, 
anstatt  durch  seine  Wünsche  oder  seine  Bedürfnisse  aufgeweckt  zu 
werden,  im  Schlaf  von  ihrer  Verwirklichung  träumt  und  somit  friedlich 
schlummert.  Indessen  hat  nach  Mäder  der  Traum  zwei  Nebenfunktionen, 
welche  ihn  dem  Spiel  und  der  Tagträumerei  {j'everie)  annähern,  und  zwar 
einerseits  eine  vorbereitende  Funktion :  sie  bereitet  die  Lösung 
moralischer  Konflikte  vor;  sie  ist  insofern  eine  vorbereitende  Übung, 
als  die  Träume  die  Tendenzen  und  Einstellungen  verraten,  die  später 
in  dem  Verhalten  imd  den  Gedanken  der  Person  erscheinen  werden. 
Er  hat  ferner  eine  kathartische  Funktion:  gewisse  Träume  dienen 
Befürchtungen  oder  Wünschen  zum  Ventil,  welche  mit  den  Erforder- 
nissen des  Lebens  unvereinbar  sind,  wie  gewisse  atavistische  Instinkte 
im  Spiel  oder  in  der  Phantasie  befriedigt  oder  erschöpft  werden  (Kanali- 
sation der  sozialen  Instinkte  bei  Claparede).  Somit  stellt  der  Traum 
eine  Art  Ersatz  des  kindlichen  Spieles  dar  und  erscheint  als  die  Äußerung 
einer   und    derselben    Funktion:    der    Funktion    des    Spielens. 


1  Ich  erinnere  daran,  daß  diese  Methode  im  Verhören  über  die  wichtigsten  Einzel- 
heiten des  Traumes  besteht,  wobei  man  die  Person  dazu  anhält,  sich  jeder  Kritik  (Zensur) 
zu  entJialten,  die  willkürliche  Aufmerksamkeit  aufzugeben  und  alles  zu  sagen,  was  ihr 
einfällt  (Zustand  der  Passivität  oder  hypnoider  Zustand).  Man  muß  sie  über  die 
dunkelsten  Punkte  der  7\nalyse  befragen  und  soll  vor  den  durch  „Hemmungen"  erzeugten 
Redepausen  der  Person  nicht  haltmachen,  weil  ja  diese  Pausen  höchst  bezeichnend 
sind:      Zeichen    von    Widerstand! 

20    Kafka,  Vergleicheade  Psychologie  III. 


306      DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Von  Freud  zu  Stekel  (lo/j)  —  von  den  Dolomiten  zur  Sächsischen 
Schweiz,  wie  Hellpach  so  treffend  sagt  (34)-  Stekel,  der  kühne  Populari- 
sator  der  Freudschcn  Theorie,  wandte  sie  auf  die  Erklärung  der  Neurose 
und  auf  die  Traumdeutung  in  so  grober  Weise  an,  daß  er  weder  bei 
ernsten  Psychologen  noch  bei  erfahrenen  Ärzten  Beifall  finden  konnte. 
Die  sexuelle  Symbolik  des  Traumes  nach  Stekel  ist  einfach  ein  schlechter 
Witz.  Indessen  ist  Freud  selbst  von  der  Symbolik  des  Traumes,  ins- 
besondere der  erotischen,  überzeugt.  Er  sagt  in  der  Tat,  daß  die  Symbole 
(manifester  Inhalt)  der  sexuellen  Komplexe  bei  den  Träumern  verschie- 
dener Sprachen  universell  sind,  was  einen  ungemein  großen  Wert  für 
die  Technik  der  Traumdeutung  besitzt.  Er  gelangt  zu  dem  Schlüsse, 
daß  wir  uns  dadurch  dem  Volksideal  einer  Übersetzung  des  Traumes 
nähern  und  uns  unsererseits  an  die  hermeneu  tische  Technik  der  Völker 
des    Altertums    wieder    anschließen. 

C.    KRITIK    DER    FREUDSCHEN    LEHRE 

Es  ist  nicht  meine  Absicht,  mich  weiterhin  mit  der  Kritik  aufzuhalten  i. 
Hier  werde  ich  in  aller  Kürze  nur  folgende  Punkte  der  Freudschen  Lehre 
kritisch  behandeln:  den  Finalismiis  des  Traumes,  das  Unbewußte,  die 
Dynamik  des  Traumes,  den  Wunschtraum   und   den   Pansexualismus. 

I.    Finalismus 

Für  Freud  ist  der  Traum  der  Beschützer,  der  „Wächter"  des  Schlafes. 
Für  Adler  ein  affektiver  Regulator,  für  Mäder  hat  der  Traum  außer  der 
Funktion  des  Schutzes  zwei  andere  Nebenfunktionen,  eine  ,,  vorbereiten  de" 
und  eine  ,,kathartische".  Nun  aber  steht  das  alles  im  Einklänge  mit 
anderen  teleologischen  Anschauimgen,  welche  in  der  Biologie  und  be- 
sonders in  der  Psychologie  und  Medizin  gang  und  gäbe  sind.  Bereits  bei 
Kant  finden  wir  den  Gedanken  der  beschützenden  Funktion  des  Traumes. 
Der  Traum  sei  geradezu  ein  von  der  Natur  zur  Wiedererweckung  der  zu- 
weilen abgestumpften  Lebenskraft  vorgesehenes  Mittel  sowie  ein  Mittel 
zur  Vermeidung  von  Gefahren,  die  unser  Leben  selbst  bedrohen.  So 
dienen  z.  B.  beim  Alpdruck  die  erschreckenden  Bilder  dazu,  uns  zu 
heftigen  Bewegungen  zu  veranlassen  und  dadurch  den  Kreislauf  des 
Blutes  wieder  zu  beleben,  der  sonst  Gefahr  liefe,  ins  Stocken  zu  geraten. 
Auch  die  Theorie  der  „Katharsis"  von  Breuer  glänzt  zwar  nicht  durch 
Neuheit,  verstößt  aber  nicht  gegen  irgendeinen  wissenschaftlichen  Grund- 
satz.   Dieser  Theorie  begegnet  man  bereits  in  der  Ästhetik   des  Aristo- 


^  Zahllos  sind  die  von  Philosophen  und  Psychologen  an  S.  Freud  und  seiner 
Lehre  geübten  Kritiken.  Einige  sind  richtig,  andere  aber  lassen  mich  sehr  gleichgültig, 
z.  B.  die  von  Regis  und  Hesnard  {']^),  welche  zeigen  will,  daß  Freud  von  Bergson, 
von  Morton  Prince  (S.  827  ff.)  abhängig  ist,  und  daß  die  Psychoanalyse  nur 
ein  Versuch  der  Systematisierung  der  Ergebnisse  der  französischen  psychologischen 
Analyse  (S.  33i)  ist.  Es  dürfte  vm-klich  nicht  vergessen  werden,  daß  Freud  seine 
Lehre  vor  mehr  als  20  Jahren  aufgestellt  hat.  Gewiß  kamen  ihm  P.  Janet  und 
Charcot  mit  ihrer  Theorie  der  „Souvenirs  traumatiques"  zuvor,  aber  Freud  ist  weit 
darüber  hinausgegangen.  Wie  dem  auch  sei,  es  ist  vninderlich,  daß  jene  Verfasser 
vergessen    haben,    daß    zu    den    Vorläufern   Freuds    Schopenhauer    gehörte. 


KRITIK  DER  FREIDSCHEN  LKURK 307 

(elcs.  Da>^  Trauorspiol  sucht  <hirch  I'urrlil  und  Mitleid  die  Kallrirsis 
jener  Affekle  zu  erreichen.  Das  Wt^en  der  tragischen  Katharsis  bestellt 
demnach  für  Aristoteles  nicht  in  der  Ausschaltung  (Kenosis)  jener  I)eiden 
Affekle,  sondern  in  der  Mäßigung,  welche  auf  sie  durch  die  ästhclischo 
Wirkung  des  Trauerspiels  ausgeübt  wird.  Später  hat  die  Heilkunde  der 
lMük)sophie  Wort  und  liegritl'  der  Katharsis  entlehnt  (kathartische  lleil- 
niiltel),  aber  mit  Breuer  Ix'giiuil  man  die  Katharsis  der  Philosophie  oder 
wenigstens  der  normalen  und  pathologischen  Psychologie    zurückzugehen. 

Nun  ist  es  aber  zweifellos,  dali  der  TekH)iogismas  auf  dem  Felde  des 
Wissens  cum  grano  salis  zu  nehmen  ist,  weil,  je  nach  dem  philo- 
sophischen Standpunkte  des  Beobachters,  auf  dieselben  Geschehnisse  und 
dieselbe  Funktion  ganz  verschiedene  finalistische  Betrachtungsweisen  an- 
wendbar sind.  So  wird  für  den  Physiologen  (G.  Riebet)  der  Schmerz 
der  Beschützer,  die  Schildwache  des  Lebens  sein,  während  er  für  die 
religiösen  Gemüter  als  Beschützer  des  Glaubens  auftreten  wird,  da  er 
von  den  irdischen  Dingen  ablenkt.  Wissenschaftlich  gesprochen,  ist  je- 
doch die  Annahme  eines  Finalismus  des  Traumes  nichts  als  eine  Hypo- 
these, welche  nicht  einmal  auf  die  Rolle  einer  Arbeitshypothese  An- 
spruch erheben  kann.  Sie  ist  als  ein  allgemein-biologischer  Gesichtspunkt 
zu  betrachten,  logisch  zxilässig,  vor  allem  poetisch  und  deshalb  von  an- 
regendem Wert,  einer  jener  Gesichtspunkte,  in  denen  sich  der  Lyrismus 
der  Männer  der  Wissenschaft  offenbart.  Die  finalistische  Hypothese 
ist  mithin  annehmbar,  jedoch  mit  der  Einschränkung,  daß  sowohl  die 
immanente  These  (im  strengen  philosophischen  Sinne  verstanden)  vvie 
die  transzendentale  These  (Traumtheorien  der  voraristotelischen  Zeiten) 
die   Grenzen   der   Wissenschaft  überschreiten. 

Nützlicher  scheint  mir  ein  anderer  Gesichtspunkt  des  Freudschen  Fi- 
nalismus zu  sein.  Freud  hat  den  Traum  auf  die  Gresetze  der  allgemeinen 
Psychologie  zurückgeführt  und  ihm  dadurch  eine  Bedeutung  und  einen 
Wert  gegeben.  Dies  will  besagen,  daß  auch  der  Traum,  weil  er  ein 
psychischer  Vorgang  ist,  einem  Ziele  zustrebt.  Freud  hat  den  Verlauf 
der  Überlegung  (der  affektiven  Logik  oder  Logik  der  Werte,  würde  Ribot 
sagen)  beschreiben  wollen,  welcher  unter  dem  „konstellierenden"  Ein- 
flüsse bestimmter  unbewußter  Elemente  vor  sich  geht.  Nun  ist  ein 
solcher  psychologischer  Finalismus  von  der  Wirklichkeit  weniger  ent- 
fernt (76)  und  annehmbar,  wenn  man  ihn  nur  von  jedweder  philosophi- 
schen Idee  befreit.  Gleichwohl  verändert  sich  die  Sachlage,  wenn  man  zu 
den  einzelnen  Äußerungen  des  angenommenen  Finalismus  übergeht.  Dann 
kann  die  wissenschaftliche  Forschung  der  Logik  gegenüber  einigen  ^Vid?^- 
spruch  erheben.  Nach  der  Freudschen  psychogene  tischen  Theorie  geht 
der  Finalismus  so  weit,  daß  der  Tramn  unter  den  Sinnesreizen,  welche 
auf  den  Schlafenden  einwirken,  mit  Rücksicht  darauf  eine  Auswahl 
trifft,  ob  sie  seinem  Zweck  gemäß  anzunehmen,  zu  verarbeiten  oder  aber 
zurückzuweisen  seien.  Hingegen  könnte  eine  ökonomischere,  auf  die 
Erfahrung  begründete,  aber  deswegen  noch  keineswegs  mechanistische 
Theorie  annehmen,  daß  der  äußere  Reiz  je  nach  der  Tiefe  des  Schlafes 
aufgenommen  oder  zurückgewiesen,  und  daß  er  je  nach  der  (ideativen 
oder  affektiven)   Verwandtschaft  zwischen  ihm  und  den  im  Augenblicke 

20« 


308 DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

des   Traumes   sich  entwickelnden   Vorstellungen   mehr   oder   weniger   um- 
gestaltet   wird. 

Die  äußeren  Assoziationen  des  Traumes  sind  nicht  wegzuleugnen; 
sie  bilden  eine  der  Ursachen  der  scheinbaren  Zusammenhanglosigkeit 
des  Traumes.  Zugegeben  auch,  daß  die  oberflächliche  Assoziation,  dio 
hauptsächlich  durch  äußere  Reize  hervorgerufen  wird,  vom  Traume  für 
seine  angenommenen  Zwecke  verwendet  werde,  so  scheint  mir  doch  diese 
Verwendung  sicherlich  immer  durch  den  Reiz  bedingt  zu  sein,  weil  sie 
nur  nach  der  Einwirkung  des  Reizes  und  dem  Eintritte  <ler  oberfläch- 
lichen Assoziation  erfolgten  könnte.  In  der  Tat  zeigen  die  Ergebnisse 
der  Versuchs  träume  bei  Kindern  und /Erwachsenen,  daß  der  Reiz  wirklich 
den  ganzen  Traum  hervorrufen,  zum  mindesten  aber  I>eeinflussen  oder 
seine  Lösung  beschleunigen  kann.  Im  Falle  starker  Reize  fällt  diese 
Tatsache  fast  immer  in  die  Augen.  Zusammenfassend  läßt  sich  der 
Regriff  des  Finalismus  des  Traumes  in  einem  sehr  allgemeinen  Sinn 
anerkennen;  dennoch  kann  die  finalistische  Auffassung  nicht  als  Grund- 
lage für  die  Deutung  der  einzelnen  Träume  dienen. 

2.  Das  Unbewußte 

Uns  interessiert  die  Vorstellung  wenig,  welche  sich  Freud  von  der 
psychischen  Tätigkeit  im  allgemeinen  macht.  Die  psychische  Dynamik, 
wie  sie  Freud  ^  sich  vorstellt,  ist  eine  der  so  vielen  Schema  tischen  Vor- 
stellungen, deren  sich  die  Psychologen  bedienen,  um  der  von  ihnen  bevor- 
zugten Erklärung  des  untersuchten  Phänomens  freie  Bahn  zu  schaffen. 
Der  Begriff  der  psychischen  Energie  bei  Freud  bietet  schon  deshalb  der 
Kritik  sehr  viele  Angriffspunkte,  weil  er  bereits  eine  Philosopliie  in 
sich  schließt.  Ich  verweise  bezüglich  dieser  Frage  auf  die  interessante 
Kritik  von  Kronfeld  (/ja)  und  von  Janet^.  V^enn  ferner  Freud  behauptet, 
daß  ein  Teil  des  Unbewußten  seiner  Natur  nach  niemals  bewußt  werden 
kann,  während  hingegen  ein  anderer  Teil,  das  Vorbewußte,  in  Be- 
ziehung zum  Bewnißtsein  steht,  aber  viel  weniger  inhaltsreich  ist  als  das 
Unbewußte,  so  macht  er  einen  einigermaßen  willkürlichen  Unterschied. 
Der  Gelehrte  hat  Interesse  daran,  den  Zusammenhang  mit  der  Psychologie 
und  der  Wissenschaft  zu  bewahren;  deshalb  fahre  ich  fort,  mich  des 
Ausdrucks  ,,U  n  t  e  r  b  e  w  u  ß  t  s  e  i  n"  zu  bedienen,  unter  welchem  man 
alles  dasjenige  versteht,  was  bewußt  war,  sein  wird  und  werden  kann, 
während  man  den  Ausdruck  „das  Unbewußte"  auf  die  übrigen,  d.  h. 
die  rein  physiologischen  Erscheinungen,  beschränkt.  Weiter  wirkt  die 
„Zensur"  (im  Sinne  Freuds)  im  Unterbewußtsein,  und  dieses  ist  aus 
dynamischen,  d.  h.  potentielle  und  aktuelle  Energie  besitzenden  ideo- 
affektiven  Konstellationen  oder  Komplexen  zusammengesetzt^. 


1  S.    Freud    (27),    Paragraph    „Regression". 

2  P.  Janet  (36),   Band  2,   Seite  2i4  u.  ff. 

3  Mein  Begriff  vom  Unbewnaßten  und  Unterbewußte«  ist  vielen  Psychologen  ge- 
meinsam. Ein  Beispiel:  Das  Unbewußte  im  Sinne  von  Ardigö  besteht  nicht  eigentlich 
darin,  daß  es  nicht  ein  Bewußtes  ist,  sondern  nur  in  der  Abnahme  der  Stärke  und! 
der    Lebendigkeit    des    Bewußten.     Das    Fortbestehen    des    Bewußtseins    im    Unbewußten 


klUTlK  DER  FREUDSCHEN  LEHRE 309 

Aber  wissen  vielleicht  die  Bioloo^e  und  die  Psychologie.  \on  welcher 
Nahir  die  Energie  ist?  Wis8<Mi  sie.  ob  die  unterlx'wiiljleii  Inhalte,  (he  irn 
Traume  befreit  hervorbrechen,  Oifenbaruiigen  einer  blinden  kraft  dar- 
stellen, welche  in  uns  wirkt?  W  issen  sie,  ob  sie  nach  anderen  Gesetzen 
hervorbrechen  als  nach  denjenigen,  welche  den  biologischen  und  psycho- 
logischen Haushalt  des  Träumenden  regieren?  Ich  glaube  nicht.  Das 
sind  Probleme,  welche  das  Gebiet  der  Psychologie  und  der  Wissenschaft 
überhaupt    überschreiten,    wie    z.  B.    das    Problem    vom    Wesen    des  Ich. 

Nur  Tatsachen  fallen  ins  Gewicht!  Ohne  Zweifel  sind  alle  über  das 
Interbewußte  und  seine  unabhängigen  Systembildungen  in  den  Fällen 
von  Geisteskrankheiten  oder  Hysterie  einig  (niemand  kann  z.  B.  die  Be- 
obachtungen von  P.  Janet  anfechten).  Hier  handelt  es  sich  dagegen  um 
eine  andere  Frage,  nämlich,  ob  bei  den  gesunden  Personen  die  unter- 
bewußten psychischen  Gruppen  systematisiert,  unabhängig  und  tätig  sind. 
Freud  ist  dieser  Meinung,  ebenso  Morton  Prince  (70,  71),  der,  um  diesen 
Begriff  der  Unabhängigkeit  und  der  Verstandestätigkeit  der  unterbewußten 
oder  dissoziierten  Gruppen  auch  bei  normalen  Personen  auszudrücken, 
das  Wort  M  i  tbe  wu  f5  tsei  n  (co-consciousness)  prägte;  dieses  Mit- 
bewußtsein wäre  ein  tatsächlicher  (dem  Be>vußtsein  des  Incüviduums 
freilich  nicht  bekannter)  psychischer  Vorgang,  für  dessen  physiologische 
Begleiterscheinungen  man  den  Namen  (zerebrales)  Unbewußtes  gebraucht. 

In  all  dem  lieg^  sicherlich  etwas  Wahres.  Schon  Lipps  erklärte  im 
Jahre  1897,  ^^^  ^^^^  °^^  ^^"^  Unterbewußtsein  der  Psychologie  ein  sehr 
weites  Forschungsgebiet  eröffnet  hat;  aber  gleichwohl  meine  ich,  daß 
im  allgemeinen  die  Rolle  des  Unterbewußten  im  normalen  Individuum 
etwas  übertrieben  worden  ist.  Was  femer  die  Intelligenz  der  unter- 
bewußten psychischen  Gruppen  und  ihre  psychische  Energie  betrifft,  so 
sind  dies  zwei  Begriffe,  welche  die  Erfahrung  überschreiten. 

Wie  dem  auch  sei,  vergessen  wir  nicht,  daß  im  Traume  dem  Bewußten 
und  dem  Unterbewußten  der  jüngeren  Schichten  wahrscheinlich  größere 
Energie  beizumessen  ist  als  dem  Unbewußten.  Die  Träume,  sowohl  der 
Kinder  als  der  Erwachsenen,  erzeugen  meistens  nicht  nur  die  „imagini 
del  di  guaste  e  corotte"  (Guarini:  ,,die  verdorbenen  und  entstellten  Bilder 
des  Tages")  wieder,  die  nach  Freud  als  bloße  Elemente  des  manifesten 
Inhaltes  gedeutet  werden  könnten,  sondern  auch  die  Bestrebungen,  die 
\\  ünsche,  die  bestinunten  Bedürfnisse  des  Tages;  d.  h.  die  Gedanken 
(latenter  Inhalt)  des  Traumes  rühren  meistens  von  Unterbevvußtseins- 
schichten  neuerer  Bildung  und  von  Vorstellungen  her,  welche  im  Wach- 
sein  vorherrschten. 

Daß  es  im  Traum  eine  Symbolik  gibt  (Metapher,  Allegorie  usw.), 
ist  zweifellos;   alle  Schriftsteller,  die  sich  mit  dem  Traum  beschäftigten. 


ist  seine,  wenn  auch  abgeschwächte  Fortsetzung.  ..IVasoostamente  iridescenli  persistono 
indcfinilivamento  nell'  Inconscio  le  sensarioni  e  i  complessi  rogitativi  iina  volta  costella- 
tivisi"  (Ardigo).  ,,Im  \-erborgenen  schimmernd  bleiben  undefinierbare  Empfindungen  und 
Gfdankenkomplexe  im  Unbewußten  bestehen,  wenn  sie  sich  einmal  dort  joisammen- 
gruppiert  haben."  Ich  habe  diese  Stelle  des  alten  italienischen  Philosophen  zitiert, 
aber  ich  hätte  hundert  ähnliche  zitieren  können.  Wegen  der  Bedeutung  des  Unbe- 
wußten   und    Unterbewußten    s.    Dwelshauvers,   loc.   cit. 


3,0    DE  SANCTIS:  PSYCHOLOGIE  DES  TRAUMES 

liatten  dies  schon  vor  Freud  bemerkt;  man  irrt  nicht,  wenn  man  sagt, 
daß  die  Symbolik  den  Traum,  die  Kunst  und  alle  Äußerungen  unseres 
Lebens  einkleidet,  es  ist  aber  unwahrscheinlich,  daß  die  Traumsymbole 
eher  aus  den  Tiefen  des  (ererbten,  völkischen,  mythischen,  kindlichen) 
Unbewußten  als  aus  dem  Wachbewußtsein  abzuleiten  seien.  Das  Traum- 
bewußtsein ist  allerdings  ausgedehnter  als  das  Wachbewußt- 
sein,  weil  es  ja  zugleich  das  ganze  unterbevvTißte  psychische  System  mit- 
umfaßl,  welches  während  des  Wachens  zwar  auch  besteht,  aber  wegen 
der  fortwährenden  Einwirkung  der  Außenwelt  durch  die  Sinnespforten 
hindurch  und,  sagen  wir,  wegen  der  willkürlichen  oder  automatischen 
oder  halbautomatischen  Hemmungen  (Freudsche  Zensur)  nicht  so  leicht 
erregt  wird  ^  Daß  das  Traumbewußtsein  ausgedehnter  ist,  wird  klar 
durch  die  Beobachtungen  über  die  Hypnose,  über  die  rerene,  über  die 
mystischen  Erfahnmgen,  über  die  Halluzinationen  und  über  die  soge- 
nannten Traumzustände  (Onirismen  von  Regis),  von  denen  in  der  Psychia- 
trie die  Rede  ist,  bewiesen.  Aber  daß  dieses  psychische  System  aus 
dem  (hypothetisch  imd  metaphorisch  gemeinten)  Kampf  um  die  Ver- 
mrklichung  im  Traume  zumeist  siegreich  hervorgehe,  dies  scheint  mir 
theoretisch  sehr  zweifelhaft  und  in  Anbetracht  der  Ergebnisse  der  Er- 
fahrung sicherlich  unwahr. 

In  der  Psychopathologie  wenigstens  werden  Fälle  beobachtet,  welche 
meiner  Kritik  eine  Stütze  leihen.  Bei  allen  Kranken,  ausgenommen  einige 
Fälle  von  Hysterie,  beziehen  sich  die  Inhalte,  die  sich  in  den  chaotischen 
Delirien,  im  Schlafwandeln,  in  Zuständen,  bei  denen  das  Bewußtsein  die 
Herrschaft  verloren  hat,  offenbaren,  auf  mehr  oder  weniger  neue  Ein- 
drücke des  Wachseins;  man  kann  sagen,  daß  das  Wiederauftreten  von 
Inhalten,  die  Erlebnissen  aus  der  Kindheit  angehören,  niemals  oder  fast 
niemals  beobachtet  wird.  So  bezieht  sich  in  der  lethargischen  Enzepha- 
litis das  Deliriimi  auf  den  Beruf;  im  urämischen  Delirium^  in  der  senilen 
und  paralytischen  Demenz  betreffen  die  Deliriumsinhalte  ausschließlich 
mehr  oder  weniger  neue,  jedenfalls  immer  dem  erwachsenen  Alter  an- 
gehörende  Eindrücke. 

3.     Dynamik   des   Traumes 

Freud  bringt  sein  Schema  der  psychischen  Tätigkeit  ungefähr  mit 
folgenden  Worten  zur  Darstellung:  Die  Spuren  der  Wahrnehmungen 
bleiben  im  psychischen  Apparate  zum  großen  Teil  unbewußt,  haben 
aber  einen  großen  Einfluß  auf  das  psychische  Leben;  und  wenn  sie 
im  Wachsein  bewußt  werden,  nehmen  sie  die  Eigenschaft  der  Erinne- 
rungen an.  Die  Gedanken,  die  im  Traum  onirische  genannt  werden 
sollen    und    sich    in    den    Speichern    des    Unbewußten    befinden,    werden 


^  Wir  wiederholen,  daß  das  Unterbewußtsein  eines  Individuums  sowohl  diejenigen 
Bestandteile  enthalfen  kann,  die  nicht  gerade  im  gegebenen  Augenblicke  in  das  Feld 
des  Bewußtseins  eintreten,  als  auch  diejenigen,  welche  überhaupt  nur  in  a  u  ß  3  r  - 
gewöhnlichen  Augenblicken,  und  schließlich  auch  diejenigen,  die  niemals 
in  jenes  eintreten,  aber  die  Fähigkeit  dazu  besitzen. 


KKink  DKU  FItKl  DSCHKN  LKflKK 311 

während  des  Tages  durch  die  Zensur  verliindert.  /.um  Vorbewuliten   und 
zum   Ik'wußten  vorzudringen. 

Uähreiul  <les  ScIdalV.s  alx'r  xcrhäll  t«  sich  anders:  nunmehr  erreiclien 
diu  (onirisclienj  (icdanktMi  das  Hewulitsein.  .\l)er  wie?  Gewili  nicht 
auf  dein  gewöhnUchen  Wege,  sonst  liätto  der  Traum  nicht  halluzina- 
torischen Cliarakter,  sondern  nur  den  einer  normalen  Erinnerung;  die 
Erregung  schlägt  hingegen  einen  rückläufigen  Weg  ein,  sie  hreiUH 
sich  nämlich  gegen  das  System  der  Wahrnehmung  hin  aus.  Hierdurch 
hat  der  Traum  regredienten   Charakter. 

Diese  Dynamik  ist,  um  es  gleich  zu  sagen,  keine  Eigentümlichkeit  des 
Tiaunies.  Auch  das  willkürliche  Wiedererinnern  im  Wachsein  geht 
in  Wirklichkeit  einen  retrograden  Weg,  denn  die  Erregung  läuft  vom  Un- 
bewußten aus  nach  vorne  zu;  aber  im  Wachsein  gibt  es  nur  eine  normale 
Erinnerung,  nämlich  die  Wiederbelebung  dos  Bildes,  ohne  Veränderung 
des  Realitätsinnes,  d.  h.  der  erlebnistreuen  (,, geschichtlichen")  Wahr- 
nehmung. Im  Traume  hingegen  kehrt  der  unbewoißte  Gedanke  zu  seinem 
Ursprünge  zurück,  regredierend  wird  er  förmlich  wieder  zur  Wahrneh- 
mung. Nun  fragt  man  sich:  erklärt  die  regressive  Dynamik  zur  Genüge 
das  Warum  der  neuen  Wirklichkeit,  die  man  im  Traum  erlebt? 

Niemand  wird  mir  bestreiten  wollen,  daß  (abgesehen  vom  bereits  kriti- 
sierten Begriffe  des  Unbewußten)  diese  Freudsche  psychische  Dynamik 
zu  den  allergewöhnlichsten  Vorstellungen  gehört.  Freud  hatte  Geist 
genug,  einige  Worte  von  Hobbes  zu  zitieren,  die  seinem  Schema  wahrhaftig 
jedwede  Neuheit  nehmen:  ,Jn  aum"  —  sagt  Hobbes  —  „our  dreams  are 
the  rever.se  of  our  waking  imaginations,  the  motiori,  when  we  are  awake, 
heginning  at  one  end,  and  when  we  dream,  at  another/'  („Nach  all  dena 
sind  unsere  Träumte  die  Umkehrung  unserer  wachen  Vorstellungen,  indem 
die  Bewegung,  wenn  wir  wach  sind,  an  dem  einen  und,  wenn  wir  träumen, 
am  anderen  Ende  anfängt.")  Es  ist  aber  gar  nicht  nötig,  auf  Hobbes 
zurückzugreifen,  geschweige  denn  auf  Albertus  Magnus.  Die  Theorie 
der  Halluzinationen  ist  die  gleiche.  In  Italien  hat  sie  E.  Tanzi  (107) 
seit  1901  entwickelt:  es  ist  die  Theorie  der  Umkehr  des  nervösen  Stromes, 
welche  Tanzi  unter  Berufung  auf  Hypothesen  und  Beobachtungen  von 
Ramon   y   Cajal   auch   anatomisch  erklärte. 

Die  Schwierigkeit  lag  anderswo,  nämlich  darin:  warum  und  wie 
solches  im  Traume  (bzw.  in  der  Halluzination)  geschehen  und  den  Stem- 
pel der  Wirklichkeit  tragen  könne.  Nun  ist  Freud  durchaus  nicht  klar 
in  seinem  Bemühen,  die  Ursache  dieser  Umkehr  im  Traume  zu  erklären. 
Er  sagt:  ,,So  wird  man  auch  für  den  Traum  die  Wahrscheinlichkeit 
nicht  abweisen,  daß  die  Verwandlung  von  Gedanken  in  visuelle  Bilder 
mit  die  Folge  der  Anziehung  sein  möge,  welche  die  nach  Neube- 
lebung strebende  visuell  dargestellte  Erinnerung  auf  den  nach  Ausdruck 
ringenden,  vom  Bewußtsein  abgeschnittenen  Gedanken  ausübt";  und 
andererseits  erscheint  die  Regression  als  die  Wirkung  eines  Widerstandes, 
der  sich  der  Ausbreitung  des  Gedankens  auf  dem  normalen  Wege  des 
Bewoißtwerdens  widersetzt.  Jedermann  wird  zugeben,  daß  dies  keine  Er- 
klärung ist,   wir  stehen  vor  dem  gewohnten   Lyrismus  der  Gelehrten! 

Der  Sinn  für  die  Wirklichkeit  im  Traume  steht  meines  Erachtens  nicht 


312  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\UMES 

in  Beziehung  zur  Regression,  sondern  zum  Zustande  des  Schlafes.  Dieser 
ist  es,  der  die  „geschichtliche"  Wirklichkeit  aufhebt  und  das  Auftreten 
einer  anderen,  der  Traumwirklichkeit,  erleichtert.  Wenn  der  Traum  der 
Halluzination  ähnlich  ist,  so  ist  er  es  eben  insofern,  als  die  Krankheit 
dem  Schlaf  ähnlich  ist.  Das  gleiche  gilt  für  die  Zensur  (die  nicht  dem 
Begriffe,  sondern  nur  dem  Worte  nach  neu  ist).  Abgesehen  von  der 
Personifikation,  die  Freud  der  Zensur  zuteil  werden  läßt,  versteht  er 
offenbar  unter  ihr  einen  Widerstand,  eine  Hemmung.  Aber  Freud  hätte 
uns  auch  darüber  aufklären  müssen,  weshalb  die  Zensur  im  Wachsein 
so  wohlwollend  sei,  mit  großer  Leichtigkeit  und  Häufigkeit  in  unserem 
Geist  Ereignisse,  Gefühle,  Wünsche  usw.  auftauchen  zu  lassen,  die  von 
uns  aus  Gründen  der  psychischen  Verteidigung  (weil  sie  schmerzlich  sind) 
oder  aus  moralischen  Gründen  abgelehnt  werden;  warum  sie  hing^en 
im  Traume  so  gescheit  werde,  daß  sie  den  Wünschen,  sofern  sie  ver- 
kleidet  auftreten,   einen  bedingten   Passierschein   ausstellt. 

li.     Der    Wunschtraum 

Die  Theorie  des  Wunschtraumes  findet  man  schon  in  der  Philosophie 
Schopenhauers.  Dem  Traum  wird  in  ihr  der  Wert  einer  Erscheinimg 
der  Erscheinung,  eines  Phänomens  des  Phänomens  zugesprochen;  er  wäre 
geradezu  die  Erfüllung  der  ursprünglichen  Sehnsucht  nach  der  Erschei- 
nung. Aber  ein  näheres  Eingehen  auf  die  Theorien  der  Philosophen  würde 
uns  zu  weit  führen.  Gehen  wir  zu  den  Dichtern  über.  Petrarca  beschließt 
(am  angeführten  Orte)  die  Analyse  zweier  seiner  Träume,  welche  etwas 
Wunderbares  an  sich  hatten,  mit  der  Erklärung,  daß  im  einen  und  im 
andern  „quel  che  io  desiderava  e  quel  che  temeva  mi  venne  veduto"  (das, 
was  ich  ersehnte,  und  das,  was  ich  befürchtete,  mir  zu  Gesichte  kam .  .  .). 
Die  Lehre  des  ebenso  berühmten  als  absonderlichen,  sogar  psychopathischen 
Mailänder  Arztes  Geronimo  Cardano  weicht  von  den  antiken  Vor- 
bildern ab.  Er  glaubt  an  die  Träume  wie  das  abergläubische  Volk;  aber 
gleichwohl  enthält  seine  Lehre,  weil  er  darin  seit  Jahrhunderten  ein 
Vorläufer  des  Freudschen  Gedankens  des  Wunschtraumes  und  der  Kathar- 
sis war,  Bemerkungen,  sei  es  über  die  beschützende  Funktion  des  Traumes, 
sei  es  in  bezug  auf  die  Traumsymbolik,  die  auch  noch  für  moderne 
Psychologen  von  Interesse  sind.  Cesare  Lombroso  (^8),  der  Darsteller 
und  Erklärer  der  Gedanken  Cardanos  über  den  Traum,  drückt  sich  wie 
folgt  aus:  bei  Cardano  tritt  ,, jenes  Gesetz  klar  zutage,  welches,  indem 
es  den  Traum  zum  überschwenglichen  Ausdruck  des  Wunsches  macht, 
als  Sicherheitsventil  dient,  durch  welches  allzu  aufregende  Leiden- 
schaften von  ihrer  verhängnisvollen  Heftigkeit  etwas  verlieren  können, 
so  daß  sozusagen  die  erschütterte  Maschine  für  einige  Zeit  ins  Gleich- 
gewicht gebracht  wird  .  .  ."  Lombroso  stützt  in  dem  zitierten  Aufsatze 
seine  Meinung  über  den  Wunschtraum  mit  Belegen  aus  verschiedenen 
Schriftstellern,  z.  B.  Baillager,  Morel  und  anderen  französischen  Irren- 
ärzteni. 


^  Audi    Lombroso    sieht,    wie    melirere    seiner   Zeitgenossen,    im    Traume   das    Wieder- 
aufleben   des     instinktiven     und     ehemaligen     Menschen     (UnbewTißtes).      Übrigens     hatte 


KHlTIk  DKH  FUKIDSCHKN  LKHIU. 313 

Kurz,  es  gibt  kein  Buch  üIkt  den  Traum,  in  dem  nicht  von  den  Traumon 
als  der  goträuniton  Krfiillunf:  dor  mehr  <Kler  weniger  bewußten  \\  ünsche 
des  Träumenden  die  Heile  wäre.  Auch  die  Kunst  ist  von  dickem  Ci<xlanken 
erfüllt.  Sind  <leiui  in  der  Tal  Mythus,  Dichtkunst,  Musik  nicitt  die 
Erfüllung  der  lilx^rmächtigen  Wünsche?  Also  haben  >\ir  es  hier  mit 
einer  alten  Theorie  zu  tun,  welche  die  Leser  leicht  auch  in  meinen 
fniheron  Schriflt^n  finden  werden.  .\ußerdem  alx^r  habe  ich  selbst  den 
Standpunkt  vortreten,  daß  alle  Äußerungen  der  psychischen  Tätigkeit, 
besonders  im  Kindheitsalter,  Erfüllungen  oder  Versuche  zur  Erfüllung 
der  Wünsche  sind.  Goethe  sagte  mit  Recht,  daß  jeder  Vater  für  seine 
Kindex  dasjenige  »-ünscht,  was  ihm  zu  erlangen  nicht  vergönnt  gewesen, 
so  daß  die  Väter,  die  für  die  Kinder  arbeiten,  eigentlich  ihre  eigenen 
Wünsche  erfüllen  usw.  Also  ist  das  ganze  Leben  geschaffen,  um  die 
W  ünsche  des  I.,ebenden  und  des  Arbeitenden  zu  erfüllen ;  der  Traum 
ist   eine  dex  .\nwendungen  des   Gesetzes   von   der  Wunscherfüllung. 

.\ber  erschöpft  all  dies  den  Traum?  Nein.  Vor  allem  müssen  wir 
—  mit  Freud  —  den  Begriff  des  Wunsches  auf  den  Begriff  der  Be- 
fürchtung ausdehnen.  Und  selbst  das  genügt  noch  nicht.  Wir  müssen 
den  Begriff  ,, Wunsch-Furcht"  bis  dahin  erweitem,  daß  wir  ihn  zum 
SynonyTn  des  Bedürfnisses  machen  Damit  >vird  uns  aber  der  Traum 
wiederum  zu  dem,  wofür  er  von  allen  gehalten  >Mirde,  nämlich  zu  einer 
Befriedigung  der  Instinkte.  Ferner  bietet  dieser  Gedanke  nichts  dem 
Traum  Eigentümliches,  weil  ja  auch  die  Poesie,  wie  ich  vorher  erwähnte, 
die  Erfüllung  mehr  oder  weniger  bewoißter  Bedürfnisse  des  Dichters  ist; 
und  die  Lebensführung  jedes  Individuums  ist  ja  ebenfalls  die  fort- 
gesetzte Befriedigung  von  Instinkten,  Bedürfnissen  und  Wünschen. 

Nun  lehrt  uns  aber  die  Erfahnmg  noch  anderes.  Die  Theorie  des 
Wunsch-Bedürfnis-Traumes  enthält  sicher  noch  nicht  die  ganze 
Wahrheit.  Der  Traum  ist  nicht  nur  die  Erfüllung  bewußter  oder  unter- 
bewoißter  Wünsche  oder  Bedürfnisse.  Er  stellt  die  Erfüllung  aller 
be>\'ußten  oder  unterbe\A"ußten  Gedanken  des  Wachbewußtseins  dar.  So 
vollendet  der  Traum  die  Schöpfungen  der  Phantasie  oder  des  Verstandes, 
die  im  Wachbewußtsein  begonnen  wurden,  und  umkleidet  mit  Bildern 
die  Gedanken  im  eigentlichen  Sinne  des  Wortes,  indem  er  sie  vollendet. 
Der  Traum  wie  die  Dichtkunst  erfüllen  alles  Unerfüllte.  In  ihm  kehren 
entfernte  Personen  wieder,  auch  wenn  sie  weder  gefürchtet  noch  herl>ei- 
ge\\-ünscht  w^u-den;  die  Toten  stehen  auf.  Der  Traum  ist  der  große 
Er  fü  1 1er. 

Das  ist  kein  Wunder,  denn  die  Phantasie  des  Wachbewußtseins  hat 
die  gleiche  Aufgabe!  Es  gibt  keine  Schranke  und  kein  Hindernis 
für  die  Phantasie.  Sie  hat  im  Traume  die  gleiche  Freiheit,  weil  das 
Hindernis  des  Schlafes  die  Wahrnehmung  des  Wirklichen  aufhebt.  Die- 
selbe Tatsache  finden  wir  im  pathologischen  Bewußtsein,  z.  B.  in 
demjenigen  der  chronischen  Deliranten,  bei  denen  auf  Grund  der  Krank- 


Alfred  Maury  (53),  einer  der  Begründer  der  modernen  Traumpsychologie,  schon  aus- 
gesprochen, daß  im  Traume  der  Instinktmensch  und  die  bereits  im  Unterbewußtsein 
begrabenen    oder    verschleierten    Ideen   enthüllt   werden. 


314  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

heit  (welche  die  Rolle  des  Schlafes  spielt)  das  Verständnis  für  das 
wirklich  erfolgte  Geschehen  gestört  ist.  Dieselbe  Erfüllungstendenz  lebt 
im  Grunde  der  Hysterie  (Wunschhysteri©  von  Binswanger,  Strümpell, 
Lewandowsky  usw.).  Wenn  nämlich  der  Hysterische  Willensakte  nicht 
vollbringen  kann,  weil  der  Wunsch  oder  die  Erfüllungstendenz  die 
psychischen  Inhalte  nach  einer  anderen  Richtung  hindrängt,  so  geht  der 
Traum  in  derselben  Weise  vor.  Im  Wachsein  ist  die  gleiche  Erfüllungs- 
tendenz tätig,  sie  wird  aber  durch  den  Willen  gehenmit,  Willensakte 
auszuführen.    Das  Individuum  will  wollen. 

Diese  Theorie  der  Erfüllungstendenz  ist  zwar  richtig,  wenn  auch 
etwas  spitzfindig,  hat  aber  schließlich  wenig  Nutzen,  weil  sie  zu  allgemein 
ist.  In  der  Tat  sind  die  Zwecktheorien  auf  der  Grundlage  der  Schutz- 
und  Wunschzwecke  in  der  ganzen  Psychopathologie  überreichlich  vor- 
handen. Auch  ist  die  Erfüllungstendenz  jedem  psychischen  Inhalt  eigen, 
sobald  die  Hemmungen  nachlassen  oder  aussetzen.  Man  muß  jedoch 
vom  Allgemeinen  —  das  von  allen  zugegeben  wird  —  zum  Besonderen 
hinabsteigen,  um  festzustellen,  wieweit  —  alle  Theorie  beiseite  —  die 
Wünsche  des  Wachseins  im  Traum  erfüllt  werden.  In  den  von  mir 
gesammelten  Protokollen  finde  ich  Tatsachen,  die  beweisen,  daß  nicht 
immer  der  Traum  als  die  Erfüllung  des  Wunsches  erscheint.  Hier 
ist  ein  Beispiel: 

Protokoll.  Nacht  auf  den  22.  November  igiA  (87  Jahre  alt).  ,,Der  Doktor  sagt  mir, 
daß  ich  an  psychischer  Impotenz  leide.  Dies  währt  seit  20  Monaten  und  ich  bin  dadurch 
etwas  beängstigt.  Ich  suche  einmal  wöchentlich  ein  Weib  auf,  aber  ich  ejakuliere 
stets  mit  schlaffem  Gliede.  Diese  Nacht  hatte  ich  einen  Traum,  den  ich  schon, 
zu  anderen  Malen  hatte:  ich  träumte,  bei  einem  Weibe  zu  liegen,  mir  war  das  Glied 
schlaff  wie  gewöhnlich,  aber  dies  verminderte  mir  den  Genuß  nicht.  Ich  habe  auch 
diesmal  im  Traume  mit  schlaffem  Gliede  ejakidiert.  Ich  schreibe  dies,  weil  es  den 
Prof.  Do  Sanctis  zu  interessieren  scheint." 

Man  muß  auf  Theorien  hypothetischer  Unterscheidungen  und  eventuell 
auf  die  Theorie  des  Kontrastes  zurückgreifen,  um  diesen  Traum  als 
eine  Wunscherfüllung  zu  deuten!  Die  Wahrheit  offenbart  sich  mit 
einer  überzeugenden  Einfachheit:  mein  impotenter  Patient  träumt  die 
Tagesereignisse  wieder  und  nichts  anderes. 


•  5.    Der  Pansexualismus 

Schließlich  noch  ein  Wort  über  die  Sexualität  im  Traume.  Ich  be- 
streite die  „pansexualistische"  (Bleuler)  Theorie  nicht  aus  ethischen, 
sondern  aus  empirischen  Gründen.  Der  Kritik,  welche  die  Psychiater 
(wie  Aschaffenbiirg  [2],  P.  Janet  [36],  Ladame  [43],  Oppenheim, 
Kraepelin,  Wagner  v.  Jauregg,  L.  Bianchi  usw.)  in  diesem  Punkt  an 
Freud  geübt  haben,  stimme  ich  fast  durchgehen ds  zu.  Selbst  Freud  und 
die  ernsteren  Freudianer  lehnen  implizite  gewisse  übertriebene  Anschau- 
ungen ab.  wenn  sie  der  „Libido"  eine  zu  weite  Bedeutung  geben  wollen 
(die  Libido  bei  Freud  =  auch  die  zarten  und  liebevollen  Regungen  und 
Libido  bei  Jung  =  elan  vitat).     Ich  muß  aber  zur  Verteidigung  der   Pan- 


KRITIK  DEH  FHKUDSCHEX  LKHIU: 315 

sexualisten  bemerken,  tlal.'»  dio  allzu  allgemeinen  Gesichtspunkte  ganz 
unnütz    sind    oder    höchstens    einen    rein    philosophischen    Wert    hal>cn '. 

Als  Beispiel  diene  die  neue  Theorie  Mc^nakows  (öq),  welche  Anspruch 
darauf  erhebt,  Freuds  Lehre  von  der  ,, Libido"  zu  korrig^ieren,  indem  sie 
eine  ursprüngliche  ,,Horme  als  Mutter  aller  Instinkte"  annimmt,  deren 
Dvnamisierung  nicht  nur  die  Hysterie,  sondern  alle  Psychosen  hervor- 
rufen soll.  Viel  mehr  Wert  für  das  Verständnis  der  Fälle,  auf  welche 
sie  anwendbar  ist,  hat  die  Sexualtheorie  im  engeren  Sinne  des  Wortes. 
ISur  ist  es  der  Fehler  gewisser  Freudianer  gewesen,  in  der  Verallgemeine- 
rung zu  weit  zu  gehen,  während  die  Sexualtheorie,  und  zwar  in  sehr 
weitgehendem  Maß,  auf  psychopathologischem  Gebiete  brauchbar  er- 
scheint und  insbesondere  auf  die  weibliche  Hystero-Psychasthenie  an- 
wendbar ist  -. 

Gegen  die  infantile  Sexualität,  die  eine  der  Grundlagen  der  Freudschen 
Theorie  bildet,  sind  von  vielen  ernste  Einwände  vorgebracht  worden. 
V.  a.  berief  sich  P.  Courbon  (i6)  auch  auf  die  Psychopathologie,  um 
gegen  die  Freudsche  Theorie  Stellung  zu  nehmen.  Meinerseits  muß  ich 
erklären,  daß  die  Erfahrung  fast  alle  Ansichten  dieses  Schriftstellers 
über  das  sexuelle  Leben  des  Kindes  bestätigt.  Ich  glaube,  daß  jedes 
Alter  seine  besondere  Intelligenz  (Logik)  und  seine  eigene  Moral, 
ebenso  gewiß  aber  auch  sein  eigenes  sexuelles  Leben  besitzt.  Wie  das 
Kind  in  bezug  auf  die  gültige  Moral  prämoralisch  ^  ist,  so  ist  es  in 
bezug  auf  die  Sexualität  des  Erwachsenen  präsexuell  und  besitzt 
die  Bisexualität  und  die  Inzestbegierde,  die  Freud  ihm  zuschreibt; 
nur  daß  man  auch  hier  nicht  in  übertriebener  Weise  verallgemeinern 
darf;  wenn  sich  Auswüchse  und  Verirrungen  auch  in  der  Sexualität 
der  Kinder  finden,  so  ist  sie  doch  in  den  meisten  Fällen  noch  kaum 
angedeutet. 

Durch  diese  meine  Bedenken  erhalten  die  Anschauungen  Adlers  und 
Stekels  eine  große  Wahrscheinlichkeit.  Für  Adler  ist  der  unbewußte 
leitende  Gedanke,  der  am  besten  die  Neurose  und  die  Träume  erklärt, 
der  Gedanke  des  —  von  uns  allen  erstrebten  —  Zweckes  der  Herrschaft 
und  der   Überlegenheit   (Wille  zur  Macht).    Das   Kind  neige  nicht  zum 


1  Ich  habe  niemals  verstanden,  welchen  Wert  der  Nachweis  des  Vorhandenseins 
sexueller  Vorstellungen  in  allen  menschlichen  Äußerungen  haben  könne.  An  der  Tatsache 
selbst  ist  nichts  ^vunderbares ;  denn  ganz  ebenso,  wie  im  Traume,  kann  sich  auch  in 
der  Kunst  der  Sexualkomplex  der  Persönlichkeit  deutlich  enthüllen.  Man  kann 
leicht  feststellen,  daß  es  ja  auch  in  der  Architektur  Paläste,  Denkmäler,  Türen  und 
Fenster  von  männlicher,  weiblicher  oder  kindlicher  Physiognomie,  ja  sogar  von  ge- 
schlechtlicher Bedeutung  gibt.  Im  ganzen  Leben  eines  jeden  von  uns  kommen  die 
gleichen  Enthüllungen  vor:  die  Gesten,  der  Ausdruck  der  Augen,  die  Handschrift, 
die  Stimme  —  alles  enthält  derartige  Enthüllungen.  Aber  was  soll  das  bedeuten? 
Doch  nichts  anderes,  als  daß  sich  der  Instinktmensch  auch  in  seiner  Sensibilität  und 
in  seinen  geistigen  Produkten  wiederfindet! 

-  Ich  habe  neuerdings  wieder  Beweise  zugunsten  dieser  Theorie  gesammelt;  aber 
ich  lege  Wert  darauf,  sogleich  hinzuzufügen,  daß  in  einigen  Fällen,  auch  solchen 
von  weiblicher  Hystero-Psychasthenie,  die  sexuelle  Deutung  keine  Anwendung  findet; 
ferner    stammt    das    sexuelle    Trauma    nicht    immer    aus    dem    Kindheitsalter. 

^  Ich  halie  diese  Ansicht  in  mehreren  meiner  Schriften  vertreten.  Vgl.  mein 
neuestes   Buch   (gS). 


316  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TR.\UMES 

Inzest,  es  neige  vielmehr  dazu,  die  eigene  Mutter  zu  beherrschend  Für 
Slekel  ist  die  leitende  Tendenz  hingegen  der  Haß.  Also  merklicher  Bruder- 
zwist im  Hause  Habsburg!  Übrigens  scheint  es  mir  wohl  annehmbar, 
daß,  wie  die  Liebe,  auch  der  Haß  (ihr  Gegenteil)  und  der  Hochmut 
die   Leitung   vieler  Träume  übernehmen    können. 

Kurz  gesagt:  die  stärksten  Instinkte  und  Tendenzen  des  Träumers 
bestimmen  den  Traum,  Tendenzen,  welche  im  Grund  immer  die  gleichen 
sind:  imperium,  lihido,  panis  (auri  sacra  fames);  aber  sie  wech- 
seln an  Stärke  je  nach  den  Rassen,  Individuen,  Zeiten  und  Gegenden 
und  können  in  den  Konflikten  des  Traumes  von  anderen  höheren 
Kräften  auch  besiegt  oder  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden^. 


D.  THEORIE  DES  VERFASSERS 

Ich  Avill  das  Kapitel  damit  schließen,  daß  ich  meine  eigene  theoretische 
Auffassung  des  Traumes  darlege.  Ich  messe  diesen  Darlegungen  keinen 
anderen  Wert  bei  als  allen  anderen  Theorien  und  Hypothesen,  die  zum 
Verständnisse  der  Tatsachen  nicht  nötig  sind,  und  die  von  den  Tat- 
sachen nicht  notwendig  und  klar  bewiesen  werden. 

Wenn  man  von  den  philosophischen  und  den  auf  die  allgemeinste 
Natur  und  Art  der  psychischen  Tätigkeit  bezc^enen  Begriffen  absieht, 
so  scheint  mir  die  gegenwärtige  Psychologie  in  der  Lage,  den  Gedanken 
Freuds  über  die  Funktionen  des  Unterbewußtseins  im  Traume  zu  korri- 
gieren und  zu  vervollständigen.  Ich  möchte  sagen,  daß  der  Traum  ein 
psychophysiologischer  Vorgang  ist,  innerhalb  dessen  der  Träumer  die 
eigenen  aktuellen,  jüngeren  oder  älteren  Erlebnisse  unter  dem  Antrieb 
mächtiger  affektiver  Zustände  in  Form  von  Fabel,  Legende  und  Symbolik 
erzählt,  als  ob  es  sich  um  eine  „historische"  Wirklichkeit  handelte. 

Wenn  aber  der  Traum  ein  psychischer  Vorgang  ist  —  was  ich 
niemals  bezweifelt  habe  — ,  muß  angenommen  werden,  daß  er  den 
Teil  eines  Ganzen  darstellt,  das  im  Leben  des  Individuums  eine  Identität 
und  eine  Kontinuität  ausmacht;  andernfalls  wäre  er  anstatt  eines  psy- 
chischen Vorganges  eine  bloß  zufällige  Äußerung  der  psychischen  Tätig- 
keit. Jenem  Ganzen  gab  ich  seit  1896  die  Benennung  Traumbe- 
w^ußtsein3.  Dieses  ist  kein  veränderlicher  Automatismus,  sondern  die 
Quelle  und  die  Ursache  der  psychischen  Vorgänge  im  Traume,  welche 
deshalb,   weil   sie    das   ganze   Leben   hindurch   in    einem   und   demselben 


1  Im  Folklore  findet  sich  der  Gedanke,  daß  der  Instinkt  des  Willens  zur  Macht 
stärker  ist  als  der  geschlechtliche.  Wir  haben  ein  Sprichwort,  das  mir  in  den  Marken 
(einer    italienischen    Provinz)    aulgefallen    ist:     „Bella    COSa    e    lo  SCOpä    (USare  il  COlto), 

ma  piu  bella  e  il  comandä  (comandare)". 

-  Vgl.    das    Ende    des    Kapitels  II. 

'•  Ich  habe  schon  über  das  Traumbewußfsein  geschrieben  mid  werde  mich  möglichst 
wenig  wiederholen.  Ich  verweise  betreffs  der  Unterscheidungsmerkmale  von  Traum- 
be\'iTaßtsein  und  Wachbewußtsein  und  bezüglich  anderer  verwandter  Fragen  auf 
meine    Bücher    und    vor    allem    auf    meine    schon    zitierte    Monographie    (94). 


TUKOIUK  l)i;s  \  KHF  \ SS KRS 317 

Liidividiium  und  in  oinor  und  dcrscllx'ti  Situation  cntsl«'lit'n  und  sich 
vorwirklichen,  dio  liodoutung  bowuliler  Inhallo  haben'.  Übrigens  hatten 
schon  viele  Philosophen  diese  Wahrheit  erkannt,  z.   H.  G.  Th.   Fechner -. 

Stopanoff  folp^t  im  zweiten  Teil  seiner  Arlx'it,  wenn  auch  unter  Hei- 
lx?haltung  st^'iiier  Terminologie,  <lio  ich  nicht  annelimon  kann,  durchaus 
meiner  Auffassung  über  das  TraumbewuliLsein  im  Gegensätze  zum  Wach- 
bewußlsein.  Sein  ,,hypnisches  Unterbewußtsein"  ist  tatsächlich  nichts 
anderes  als  mein  WachbewufStsein.  Was  Stepanoff  hinzufügt,  halte 
ich  je<loch  nicht  für  treffend,  dafi  nämlich  das  hypnische  Unterlx'- 
wußtsein,  als  schlafendes  Bewußtsein,  mit  dorn  Wachbewußlsein  nicht 
gänzlich  identisch  sei.  Vielmehr  ist  nach  unserer  Auffassung  das  Be- 
wußtsein nicht  eingeschläfert,  sondern  wach.  Es  wird  nur  durch  den 
Schlaf  des  Gehirns  gehenimt. 

Die  Berechtigung  der  Benennung  „TraumJbewußtsein"  gründet  sich 
auf  dio  Tatsache,  daß  im  Traume  das  allen  Menschen  gemeinsame 
Verständnis  für  die  geschehene  Wirklichkeit  aufgehoben  und  durch  ein 
Verständnis  für  eine  ganz  individuelle  Wirklichkeit  ersetzt  wird,  so  daß 
im  Traume  jeder  Träumer,  wie  schon  Heraklit  gesagt  hatte,  eine  neue 
Wirklichkeit  besitzt.  Die  Inhalte  sind  außerdem  verschieden  und  sogar 
zuweilen  entgegengesetzt  und  widerstreitend.  Man  denke  nur  an  die 
Vorherrschaft,  welche  im  Wachsein  das  sensorische  Ich  und  im  Traume 
das  Ich  der  inneren  Organe  und  des  Gemeingefühles  ausüben,  und  an 
den  Unterschied  in  den  Vorstellungen  von  Zeit  und  Raum.  Die  relative 
Selbständigkeit  des  Traumich  scheint  mir  schlagend  durch  folgende  Tat- 
sachen bewiesen:  durch  die  Unterbrechung  der  Tätigkeit  des  wachen  Ich, 
das  infolgedessen  nicht  mehr  Herr  der  psychologischen  Situation  ist, 
durch  das  Träumen,  daß  man  träume,  durch  die  Kontinuität  des  Traum- 
bewußtseins im  Falle  der  vom  Erwachen  unterbrochenen  Träume,  die 
dann  im  neuen  Schlafe  fortgesetzt  werden,  durch  die  Tatsache  der 
Erinnerung  an  Träume  im  Traume,  wie  selten  auch  diese  Tatsache  sein 
möge,  schließlich  durch  das  Bestehen  stereotyper  oder  sich  von  Zeit 
zu  Zeit  wiederholender  Träume. 

Nach  diesen  Vorbemerkungen  will  ich  gleich  hinzufügen,  daß  der 
Ausdruck  „Traumbewußtsein"  seine  Bedeutung  nur  durch  den  Gegen- 
satz zum  Wachbewnßtsein  des  Individuums  erhält.  Es  ist  nichts  von 
diesem  wesentlich  Verschiedenes,  weil  ja  im  Grund  unseres  Wesens  und 
also  an  der  Wurzel  der  beiden  Wirklichkeiten  —  derjenigen  des  Wachens 
und  der  des  Traumes  —  eine  einzige  Wirklichkeit  (die  individuelle  Seele), 
eine  Art  von  (musikalischer?)  Disposition  besteht,  aus  der  sowohl  das 
Wachsein  wie  der  Traum  ihre  Lebenselemente  gewinnen.  Auch  wenn 
man  das  Traumbewußtsein  als  den  Zustand  einer  zweiten  Persönlichkeit 
ansehen   wollte,  so  wäre  es  nur  eine  Erscheinungsform  des  individuellen 


^  Treffend  wird  im  Dictionary  of  Psychology  von  I.  M.  Baldwin  der  Traum  so 
definiert:  ein  ..bewußter  Vorgang  während  des  Schlafes"  (conscious  process  duritlg 
sUep"). 

2  Zit.  io6,  S.  i6ff. 


3J8  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES     TIL\UMES 

Wachbewußtseins  und  nichts  mehr.  In  der  Tat  ist  die  Wirklichkeit 
des  Traumes,  wie  schon  oft  genug  wiederholt  wurde,  dieselbe  Wirk- 
lichkeit, welche  die  Phantasie  des  Künstlers  im  Zustande  der  Inspiration 
erfüllt.  Seinen  eigentümlichen  Charakter  holt  sich  das  Traumbewußtsein 
aus  der  besonderen  organischen  Verfassung  des  Träumers.  Denn  wenn 
sich  die  Verfassung  verändert  (Schlaf),  so  ändert  sich  auch  das  Bewußt- 
sein selbst,  d.  h.  die  individuelle  psychische  Tätigkeit;  sie  bleibt  jedoch 
ihrem  Wesen  nach  die  gleiche.  Es  tritt  im  Traume  dasselbe  ein 
wie  in  der  Geisteskrankheit:  hier  sprechen  wir  vom  Verluste,  von  der 
Verdoppelung,  von  Substitution  der  Persönlichkeit;  aber  alle  diese  neuen 
Zustände  des  BeAvußtseins  werden  von  der  Veränderung  der  Gehim- 
zustände  ,, verursacht",  und  anzunehmen,  daß  es  wirkliche  und  eigent- 
liche Persönlichkeiten  seien,  welche  aus  einer  entfernten  W^elt  konrmien 
oder   wiederkehren,   heißt:     ein  Glaubensbekenntnis   ablegen. 

Das  Traumbewußtsein  wäre  also  nichts  anderes  als  das  durch  den 
Schlaf  gehemmte  Wachbewußtsein.  Das  Ich  des  Schlafenden  ist  das- 
selbe wie  im  wachen  Individuum,  aber  die  mehr  oder  weniger  starke 
Hemmung,  die  der  Zustand  des  Schlafes  bewirkt,  hat  zur  Folge,  daß 
das  individuelle  Bewußtsein  veränderliche  Inhalte  aufnimmt,  die  zuweilen 
höchst  originell,  zuweilen  unlogisch,  jedenfalls  aber  von  denjenigen 
des  W^achbewußtseins  verschieden  sind.  Das  ist  begreiflich;  die  logischen 
Inhalte  kommen  zustande,  wenn  der  Schlaf  zustand  den  Traum  Vorstel- 
lungen nicht  gestattet,  durch  ihr  Dazwischentreten  den  natürlichen  logi- 
schen Gedanken  verlauf  zu  stören.  Die  wertvollen,  originellen  Inhalte 
kommen  dagegen  zustande,  wenn,  infolge  des  Schlafes,  keine  Vorstel- 
lungen und  Gedanken  dazwischentreten,  welche  die  spontanen  Erzeug- 
nisse des  Geistes  zu  korrigieren  oder  zu  hemmen  geeignet  sind.  Der 
Schlaf  seinerseits  ist  imstande,  durch  den  Umstand,  daß  er  die  (außer- 
halb der  Person  befindliche)  Wirklichkeit  verhindert,  dem  Bewußtsein 
Nahrung  zuzuführen,  so  große  Veränderungen  zu  bewirken,  daß  die 
psychophysiologische  Spannung  sinkt,  weil  die  Sinneserregungen  nahezu 
unterdrückt  sind  und  dadurch  der  nervöse  Chemismus  abgeändert  wird^. 


1  Eine  Erörterung  der  Frage,  weshalb  die  Traumphantasmen  uns  als  wirklich 
erscheinen,  ist  hier  nicht  am  Platze.  Man  findet  sie  in  jedem  Buche  über  Psychologie 
und  über  Philosophie  behandelt.  Ich  beziehe  mich  auf  die  schon  zitierte  Monographie  (9^^. 
Kant  (Proleg.  i.  Teil.  Anm.  II)  sagt:  „Der  Unterschied  aber  zwischen  Wahrheit 
und  Traum  wird  nicht  durch  die  Beschaffenheit  der  Vorstellungen,  die  auf  Gegen- 
stände bezogen  werden,  ausgemacht,  denn  sie  sind  in  beiden  einerlei,  sondern  durch 
die  Verknüpfung  derselben,  nach  denen  Regeln,  welche  den  Zusammenhang  der  Vor- 
stellungen in  dem  Begriffe  eines  Objektes  bestimmen  und  wiefern  sie  in  einer 
Erfahrung  beisammenstehen  können  oder  nicht."  Hier  möchte  ich  an  die  Ansicht  Dugald 
Stewarts  (im  angeführten  Werke,  S.  lo/j)  erinnern.  Der  Verfasser  sagt,  daß  die 
Träume  ims  als  Wirklichkeit  erscheinen,  sofeme  uns  als  Wirklichkeit  dasjenige  gilt, 
was  nach  unserer  Überzeugung  nicht  von  unserem  Willen  abhängt.  Im  Wachsein  ge- 
langen wir  nicht  zu  der  Überzeugung,  daß  die  Außenwelt  von  unserem  Willen  abhängt, 
weil  die  unaufhörlichen  sinnlichen  Wahrnehmungen  jede  Befestigung  jener  Überzeugung 
verhindern.  Die  Frage  der  Unterscheidung  zwischen  Wirklichkeit  und  Traum  be- 
handeln alle  Metaphysiker.  Vgl.  G.  Folchieri  (2A),  wo  die  Ansicht  von  Giovanni 
GCTitile    dargestellt    und    kritisiert    wird. 


THEORIE  DKS  VEKFASSERS 319 

l  rsache  (K*r  Trauinhafligkoit  ist  sicher  der  Mangel  an  sinnlicher 
Nahrung  für  die  Autopsvche.  <lie  deswegen  erlischt.  lX»r  gleiche  \  organg 
jdlegte  sich  bei  dem  berüliinlen  lO  jährigen  Knaben  StrünijK'lls  zu  er- 
eignen wie  in  aiulenMi  l-älien  (Sollier),  in  abgeschwächter  Weise  auch 
bei  den  Einsiedlern  und  .Mystikern,  bei  denen  die  Erinnerungen  und  ganz 
ebenso  selbst  die  Wünsche  synibohsiert  wie<ler  auferstehen,  weil  sie 
in  die  Welt  der  Phantasie  fallen.  Der  Träuniendo  ist  der  außerhalb 
der  Wirklichkeit  stehende  Mensch,  genau  so  wie  der  Verzückte,  der 
Dichter,  der  Held  und  wie  gewisse  Greisleskranke  im  Höhepunkte  der 
Erregung,  die  alle  den  Träumern  ähneln.  Daher  stimimt  der  verbreitete 
Glaube  an  tlie  Analogie  zwischen  Traum  und  Kunst  sowie  zwischen 
Traum    und    \\  ahnsinn  i. 

Im  pathologischen  (z.  B.  im  hysterischen)  oder  im  experimentellen 
(durch  Vergiftungen  erzeugten)  Schlaf  und  sogar  im  Zustande  der 
recerie  erscheint  das  Bewußtsein  des  Schlafenden  ganz  ähnlich  wie 
im  natürlicheji  Schlafe  verändert.  Eerner  gibt  es  zum  Unterschied  vom 
Traumbewußtsein  das  träum  artige  (oniroide)  Bewußtsein  der  Genies, 
der  Künstler,  der  Irren,  der  Neuropathen,  Potatoren,  Morphinisten  usw. 
Während  jedoch  die  Geisteskrankheit  und  bis  zu  einem  gewissen  Grad 
auch  die  traumartigen  (oniroiden)  Zustände  des  Wachseins  als  krank- 
haft, d.  h.  als  Ausnahmezustände  für  die  Gattung  und  das  Individuum 
anzusehen  sind,  ist  der  Traum,  d.  h.  der  onirische  Zustand,  für  die 
Gattung  und  das  Individuum  als  normal  und  natürlich  zu  betrachten. 
Andererseits  bleibt  es  dabei,  daß  er,  wie  die  Geisteskrankheit,  ein  durch 
die  physiologischen  Verhältnisse  „verursachter"  Zustand  ist.  Er  wäre 
demnach  ein  normaler,  jedoch  dem  Anormalen  analoger  Zustand. 

Das  Traumbewußtsein  hat  eigene  Merkmale,  die  sich  jedermann  leicht 
vergegenwärtigt.  Das  hauptsächlichste  Merkmal  ist  der  Besitz  einer 
Willensdetermination-,  die  jedoch  nicht  wie  im  Wachzustand  ausführ- 
bar ist.  Es  hat  Beziehungen  zum  Wachbewußtsein,  die  im  leichten 
Schlafe  deutlich  (in  der  reverie  und  im  hypnagogen  Zustande  noch 
deutlicher)  erkennbar  sind  und  so  weit  reichen,  daß  es  dessen  offenbarem 
Einfluß  unterworfen  ist,  wie  in  jenen  Fällen,  in  denen  der  Träumer 
erkennt,  daß  er  träumt  usw. 

Sehr  \vichtig  ist  die  Untersuchung  der  Beziehungen  zwischen  beiden 
Bewußtseinsarten  3.      So    rühren    die    unterbewußten    Empfindungen    und 

1  Diese  Analogie  wurde  ausführlich  von  mir  in  mehreren  Veröffentlichungen  be- 
handelt (87).  Kant  sagt:  Der  Verrückte  ist  ein  Träumer  im  Wachen,  und  Moreau 
de  Tours  wiederholte  im  Jahre  i8/t5:  „La  foUe  est  le  reve  de  Vhomme  cveille". 
Schopenhauer  nennt  den  Traum  einen  kurzen  Wahnsinn  und  den  Walmsin« 
einen  langen  Traum.  Immerhin  hat  Kraepelin  gelegentlich  der  Dementia  praecox 
recht,  gewisse  Analogien  gering  zu  bewerten,  die  im  Grunde  nichts  erklären. 

-  Ich  habe  mich  schon  im  zweiten  Kapitel  über  den  Willen  im  Traume  geäußert. 
Hier  wiederhol«  ich,  daß  die  Bedeutung  dessen,  was  mehrere  Philosophen,  r.  ß.  die 
Leibnizianer,  Fichte  und  Maine  de  Birein  annahmen,  daß  nämlich  im  Traume  der  Wille 
fehlt,  richtig   zu   verstehen  ist.     Es  fehlt  der  Wille  des   Wachbewußtseins. 

3  Interessant    sind    in    dieser    Hinsicht   einige    Bemerkungen    Stepanoffs   a.    a.    0. 


320  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Wahrnehmungen  äußerer  Reize  seitens  des  Träumenden  von  Verstärkungen 
des  Wachbevvußtscins  her,  welche,  wie  bereits  erwähnt,  in  Beziehung 
zur  Verminderung  der  Schlaftiefe  stehen.  Es  gibt  sicher,  wie  ich  bereits 
zugegeben  habe,  eine  Vorstellung  von  Willenshandlungen  im  Traume 
(intraonirischer  Wille) ;  aber  bisweilen  ist  das  „Ich  will"  des  Traumes 
ein  extraonirisches  Erzeugnis,  und  dann  ist  es  nicht  das  Bild  des  Wollens; 
es  ist  das  Wollen  selbst,  nämlich  das  Aufblitzen  des  wachen  Willens. 
Ein  klassisches  Beispiel  dafür  ist  der  Fall,  daß  man  im  Schlafe  sagt: 
es  ist  ein  Traum,  ich  will  fortfahren  zu  träumen^.  Dies  kommt  nach 
meinen  Beobachtungen  immer  knapp  vor  dem  Erwachen  (im  leichtesten 
Schlafe),  besonders  im  Tagesschlafe  vor,  der  eine  sehr  große  Ähn- 
lichkeit mit  der  reverie  hat.  Diese  Unterscheidung  wurde  weder  von 
den  Psychologen  noch  von  den  Dichtern  klar  gesehen.  Das  Traum- 
bewußtsein    unterliegt  somit  vielen  graduellen   Schwankungen. 

Man   muß   sich  das   Niveau   der  beiden    BevmßtseLnsarten   zufolge  der 
fortwährenden    Veränderungen   in   der   Dichte   des    Hindernisses    (Schlaf) 


"er'  "*  ■  ~"5 ' 

Fig.   12. 
Traumbewußtsein  (ausgezogene  Linie)    —  Wachbewußtsein  (punktierte  Linie) 

als  fortwährend  veränderlich  vorstellen.  Dadurch  hebt  jede  Verminderung 
des  Hindernisses  das  Niveau  des  Wachbewußtseins,  während  sie  das 
Niveau  des  Traumbewußtseins  senkt;  und  ihre  Annäherung  kann  bis 
zu  einer  Vereinigung  fortschreiten,  die  dem  ersten  Augenblicke  des 
Erwachens  entspricht,  während  das  Erlöschen  des  Traumbewußtseins 
dem  vollständigen  Erwachen  entspricht.  Wenn  wir  uns  die  beiden  Be- 
wußtseinsarten als  zw^i  Sinuskurven  vorstellen,  können  wir  uns  von  ihren 
Beziehungen  Rechenschaft  ablegen,  indem  wir  uns  femer  vorstellen, 
daß  die  Berge  der  Sinuskurve  des  Traumbewußtseins  den  Tälern  der 
Sinuskurve  des  Wachbewußtseins  entsprechen  und  umgekehrt  (Text- 
fig.    12). 


^  Dieses  Erlebnis  ist  bei  Dante  in  folgender  wunderbaren  Terzine  (Hölle,  XXX.  Gesang, 
i36 — 138)   ausgedrückt: 

E    quäl©   e    quei   che  suo   danna^gio  sogna 

Che    sognando    desidera    sognare, 

Si     che     quel     ch'e,     come     non     fosse,     agogna. 

(Und  dem   gleich,   den   ein   Alpdruck   hält    in    Banden, 

Daß    er    im    Traum    zu    träumen    wünscht,    ersehnend 

Was    wirklich    ist,    als    wär's    nicht   schon    vorhanden.) 

(Übers,   von  Zooimann.) 


IMEOKIK  DES  VEKFASSERS 321 

Dio  U'rciLs  »'nväliiito  TaLsatlic  clor  \<'r\\('n<liinfr  <l«'r  Kiuj»fiii<Juiif,'<'ii  im 
Trauino  iuaclil  man  hich  doiitlicli  klar,  womi  man  sich  <lic  beiden 
li«wuljLst»insarUMi  und  domgemälS  die  beiden  Aufmerksamkeiten  vergegen- 
wärtigt. l>ie  (dem  Wachlx'wulSLsein  angehörige)  primäre  Aufmerksam- 
keit wirtl  vom  Schlafe  gelH'niint,  nWr  nicht  vernichtet.  Sie  sammelt 
das  extraonirische  Mati'rial.  Die  sekundäre  Aufnierks.imkeit  (des  Traum- 
bevNuISLseins)  verarbeitet  es,  ohne  je<loch  seine  Herkunft  zu  erkennen. 
Die  sekundäre  oder  die  Aufmerksamkeit  im  Traum  ist  es,  welche  den 
\erlauf  des  Traumes  im  Auge  behält.  Dies  erklärt  die  (besonders  im 
leichten  Schlafe)  sehr  gewöhnliche  Tatsache,  daß  wir  von  weit  her  und 
dunkel  äuliere  Reize,  auch  komplexer  Natur  (z.  ß.  Geschrei  einer 
Menschenmenge),  in  uns  aufnehmen,  während  wir  unseren  Traum  fort- 
setzen. In  tliesem  Falle  verwendet  die  Traumaufmerksamkeit,  weil  sie 
an  dem  Traum  Anteil  nimmt,  das  von  der  primären  Aufmerksamkeit 
gesanunelte  Material  nicht,  ist  aber  andererseits  nicht  stark 
^enug,  um  allein  zu  herrschen  und  die  im  Hintergründe  wachende 
primäre  Aufmerksamkeit  selbst  auszulöschen.  In  solchen  Fällen  haben 
wir  im  Traxun  eine  vollkommene  Analogie  mit  gewissen  pathologischen 
Verdopplungen  der  Persönlichkeit  i.  Es  mögen  hier  zwei  eigene  Protokolle 
folgen,  die  mir  als  wirksame  Erläutenmg  für  die  Auffassung  der  beiden 
Bewußtseinsarten  erscheinen: 

Protokoll.  In  Mailand  am  Nachmittag«  des  2^.  August  1919,  unmittelbar  nach  dem 
Firwach«!  geschrieben.  Mittagsschlaf  von  2  Uhr  bis  31/2  Uhr.  Leichter  .Schlaf;  denn 
«■bgieicii   ich  schlief,  hörte  ich  alle  Viertelstunden  die   Uhr  des  Gasthauses  schlagen.     Ich 

träumte,     die     Entgegnungen     auf    gewisse    Einwände    vorzubereiten Ich    hielt 

eine     Vorlesung (oder     eine     Rede?).      Ehe    Antworten     formulierte     ich     (ich 

erinnere  mich  nicht  des  Inhaltes  der  Antworten)  in  strenger  (logischer  und  chrono- 
logischer) Ordnung;  eine  offene  und  klare  Antwort  fiel  mit  je  einem  Schlage  der  Uhr 
zusammen,  und  hin  jedem  Scidage  gab  ich  eine  Antwort,  einfach  und  wirksam,  wie  das 
Schlagen    der    Viertelstunde 

Ich  envachte  um  3  Uhr  3o  mit  dem  Bewußtsein,  wenig  lief  geschlafen  zu  haben; 
und  sofort  habe  ich  das  Gefühl,  daß  der  Traum  von  den  Antworten  nach  den  Scldäge« 
der    Uhr  geformt   worden   war,   und  daß   die   Antworten  dem   in   den   Nachmittagsstunden 

in    der    Stadt    abzuwickelnden    Programm    entsprachen Zuerst   dies    tun,    darauf 

jenes   ajidere   und   so   fort Jeder  Schlag  eine    Sache  und   eine   Antwort   auf  die 

Einwände.  Ich  begreife  klar  und  sofort  die  Übereinstimmung.  Ich  bleibe  ein  wenig 
im    Bette  ausgestreckt,   jedoch   wach. 

Naclischrift  um  5  Uhr  nachmittags:  Jetzt  verstehe  ich:  mein  .Schlaf  war  ober- 
flächlich, der  Traum  war  vielleicht  eine  reverie.  Seltsam,  wie  der  Rlijlhmus  meiner 
Gedanken    den    .Schlägen    der    Uhr    folgte! 

Protokoll.  Nacht  auf  den  23.  September  1919;  der  Traum  wird  nachts  1V2  Uhr 
üufgescluieben;  leichter  Schlaf  zwischen  11 1/2  und  ii/o  Uhr,  durch  das  Geräusch  der 
Trambahne»)  und  Wagen  auf  der  Straße  einigermaßen  unterbrochen.  Unterbewulite 
Walimehmung   dieser    Geräusche,   Traum    aber    fortgesetzt,    wenn    auch    entsprechend    der 

Wahrnehmung  der   einzelnen   Geräusche Mein   Traum  ist   rhythmisch,   gleichsam 

musikalisch;  es  sind  aber  Erinnerungen  an  ein  oder  zwei  Tage  zuvor  geschehene  Dinge 
(welche?).  Ich  kann  sie  nicht  nennen,  sie  sind  verschwommen,  ich  weiß  aber,  daß  ich 
sie  kenne. 

Nachschrift  um  7 1/2  Uhr  morgens  nach  dem  Aufstehen.  Die  aktuellen  Eindrücke 
während    des    Schlafes    laufen    parallel    mit    dem    Traum    ab;     doch    sind    die    äußeren 


'   Vgl.    den    Fall    der    Miß    Beauchamp    von    Morton    Prince. 
21    Kafka,  Vergleichende  PsychoIoRie  III. 


322  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

Geräuicho  t'ut  von  den  Traumvorstellungen  unterscIiieUen ;  unterschieden,  aber  nicht  ohne 
Zusaninjenliang.  Sie  sind  vielmehr  koordiniert,  wie  zwei  Ansichten  eines  und  desselben 
Gegenstandes,    vs-ie    zwei    parallele    Linien,   die  zu   gleicher   Zeit   gezogen    werden 

Es  ist  auch  von  Interesse,  auf  die  Unterschiede  zwischen  Traum- 
und  Wachbewiißtseiii  einzugehen,  ganz  abgesehen  davon,  daß  es  sich 
um  zwei  verschiedene  Inhalte  und  Wirklichkeiten  handelt.  Man  kommt 
damit  auf  all  das,  was  die  Autoren  von  den  „psychologischen  Mängeln" 
des  Traumes  sagen.  Der  eine  sagt,  daß  im  Traume  die  Logik,  andere 
wieder,  daß  die  Kritik,  die  persönliche  Synthese,  der  Gedanke,  der 
Wille  usw.  fehle.  Sicher  mangelt  ganz  allgemein  das  Hemmungsver- 
raögen,  das  sich  im  moralischen  und  sozialen  Bewußtsein  ausdrückt, 
nämlich  die  Überlegimg.  Aber  tatsächlich  braucht  auch  in  gemssen 
Augenblicken  des  Traumes  nichts  zu  fehlen  (man  stelle  sich  gleichsam 
eine  Berührung  der  Punkte  b  und  b '  in  beiden  Kurven  vor  [vgl. 
Fig.  12]).  Was  hingegen  stets  fehlt,  sind  nicht  die  einzelnen  psychischen 
Elemente,  sondern  ihre  Verknüpfung,  d.  h.  es  fehlt  die  psychische 
Kontinuität  und  infolgedessen  die  persönliche  Autonomie. 

Die  Frage,  was  in  den  Punkten  des  größten  Abstandes  zwischen  den 
beiden  Kurven  (a  und  a ')  vor  sich  geht,  ist  schwer  zu  beantworten. 
Wahrscheinlich  befindet  sich  das  Traumbewußtsein,  von  der  Kontrolle 
des  Wachbewußtseins  fast  gänzlich  befreit,  in  einem  wahrhaft  schöpferi- 
schen Moment  (wie  es  in  gewissen  Phasen  der  mystischen  Verzückung 
vorkommt),  d.  h.  in  der  Welt  des  Mythus,  der  reinen  Intuitionen,  des 
Instinktes  imd  des  Strebens  (Ribot),  dort,  wo  der  Gedanke  keine  Bilder 
mehr  antrifft,  um  sich  sinnlich  wahrnehmbar,  also  mitteilbar  darzustellen. 
Leider  wissen  wir  hierüber  nichts,  weil  begreiflicherweise  die  Phantasie- 
welt des  Schlafes  in  seiner  größten  Tiefe  nicht  bis  in  das  Gedächtnis 
des  Schlafenden  gelangt,  wenn  er  erwacht  ist,  und  andererseits  die  von 
den  künstlich  in  der  tiefsten  Phase  des  Schlafes  (Ende  der  ersten  Stunde) 
auferweckten  Subjekten  medergegebenen  Träume  als  Traumgesichte  erklärt 
werden  können,  die  im  Augenblicke  des  Eintrittes  des  weckenden  Reizes 
entstanden  und  sich  von  jenem  Augenblicke  bis  zu  demjenigen  des  voll- 
ständigen Erwachens  oder,  richtiger  gesagt,  dem  des  mündlichen  oder 
schriftlichen  Festlegens  des  Traumes  entwickelten.  Und,  was  noch  mehr 
wiegt,  wir  werden  nie  ausschließen  können,  daß  der  mündliche  Bericht 
des  Träumers  in  dem  Maße  symbolisch  sei,  daß  er  uns  den  wahren 
Inhalt  des  erlebten  Traumes  ganz  verberge. 

Man  wird  leicht  verstehen,  daß  das  Traumbewußtsein,  gleich  dem 
des  Wachseins,  eine  individuelle  Psychologie  hat.  Starken  Einfluß  üben 
Rasse,  Geschlecht,  Grad  der  Intelligenz  und  der  Kultur,  Charakter,  Beruf, 
Erfahrung,  Vergangenheit  usw.  aus.  Femer  gibt  es  individuelle  Unter- 
schiede, deren  Ursachen  genau  anzugeben  uns  schwer  gelingt.  Der 
Traum  ist  der  echteste  Bericht  vom  Wesen  des  Individuums,  von  seinen 
gewohnten  Gedanken  und  Wünschen,  von  den  mehr  oder  weniger  be- 
wußten Zielen  seines  Strebens.  Die  Individualisierung  des  Traumes  wurde 
von  allen  anerkannt,  von  Heraklit  wie  von  Kant  und  Fichte;  auch  andere 
Psychologen  und  Physiologen  —  bis  zu  A.  Maury  imd  Maudsley  —   be- 


THEORIE  DES  VERFASSERS 323 

kannleii  sich  zu  tleinsclben  Giitlankcii.  Pfaff  (65)  schrieb:  „Erzähle 
mir  eine  Zeitlang  deine  Träume,  und  ich  will  dir  sagen,  wie  es  um  dein 
Inneres  sieht."  Ich  habe  mich  in  meinem  Ruche  von  1899  in  folgenden 
Worten  ausgedrückt:  Sage  mir  deine  Träume,  und  ich  werde  dir  sagen, 
wer  du  bist. 

Einfach  ist  der  Inhalt  des  Traumbewußtseins  bei  den  Einfältigen  im 
Geist  und  bei  den  Leuten  von  ruhigem  Temperament  (3o),  verwickelt 
ist  er  bei  den  Intelligenten  und  den  Unruhigen.  Bei  manchen  Individuen 
witnlerholt  sich  das  Leben  des  Tages  als  verblichenes  Bild  im  Traume. 
Bei  anderen  jedoch  ist  das  Traumhe>vußtsein  reicli  an  stürmischen  und 
bizarren  Inhalten.  Ich  habe  folgende  Regel  aufgestellt:  ,,Das  Wach- 
bcw^ßtsein  unterscheidet  sich  um  so  mehr  vom  Traumbewußtsein,  je 
größer  die  Differenzierung  ist,  welche  Erziehung  und  Erfahrung  in  der 
Persönlichkeit  bewirkt  haben,  je  komplexer  sich  also  diese  ausgebildet 
hat."  Es  gibt  Ausnahmen,  z.  B.  nach  Gualino  den  erotischen  Traum; 
al>er  die  Regel  bleibt  bestehen.  Beim  Weibe,  besonders  beim  heran- 
wachsenden, springt,  wie  aus  einer  von  mir  angestellten  Rundfrage  hervor- 
geht, der  Unterschied  zwischen  Traum-  und  Wachbewußtsein  oft  mehr  in 
die  Augen  als  beim  Manne,  was  hauptsächlich  von  der  vorgreifenden 
Fähigkeit  des  Traumes,  besonders  mit  Rücksicht  auf  die  Geschlechtstriebe, 
herrührt.  Bei  manchen  Personen  verhalten  sich  die  beiden  Bewußtseins- 
arien sehr  verschieden.  Bei  begabten  Kindern  ist  das  Phantasieleben  der 
Nacht  ganz  verschieden  von  dem  des  Tages.  Bei  anderen  hingegen  neigen 
die  beiden  Bewußtseinsarten  dazu,  inhaltlich  gleichförmig  zu  werden, 
sich  zu  verschmelzen,  z.  B.  bei  manchen  Neurasthenikern,  bei  den 
Melancholikern  und  Hypochondern.  Die  Dichter  und  die  Künstler  z.  B., 
die  Präraffaeliten,  die  Symbolisten,  aber  ^uch  die  Potatoren,  Morphi- 
nisten usw.  erreichen  nicht  selten  die  Verschmelzung,  d.  h.  die  Identität 
beider  Bewußtseinsarten,  ja  sie  streben  ihr  sogar  zu. 

Schließlich  bemerke  ich  die  Tatsache,  daß  das  Traumbewußtsein  seine 
Ontogenese,  seinen  Anfang,  seine  ersten  Ansätze,  seine  volle  Ausbildung 
und  sein  Ende  hat.  Das  Gedächtnis  (Aussage  des  Träumers)  ist  —  um 
es  noch  einmal  zu  wiederholen  —  das  Kriterium,  dessen  wir  uns  haupt- 
sächlich bedienen,  um  die  Entwicklungslinien  des  Traumbewußtseins  nach- 
zuzeichnen, aber  das  objektive  Kriterium,  nämlich  die  Beobachtung  des 
Schlafenden,  weist  darauf  hin,  daß  schon  die  Neugeborenen  und  die 
Tiere  eine  Traumtätigkeit  besitzen.  Allerdings  Avird  die  Autonomie  des 
Traumbewußtseins  nur  erreicht,  wenn  das  Selbstbewußtsein,  die  Unter- 
scheidung des  Ich  vom  Nichtich,  genügend  ent^vickelt  ist;  und  deshalb 
ist  der  Beginn  der  vom  Subjekte  bezeugten  Traumtätigkeit  als  das  sichere 
Zeichen  des  Beginnes  jener  Unterscheidung  anzusehen,  welche  der  Aus- 
bildung des  Selbstbewußtseins  entspricht. 

Das  Traumbewußtsein  bildet  sich,  me  ich  vor  vielen  Jahren  aus  meinen 
Rundfragen  und  unmittelbaren  Beobachtungen  sicher  feststellen  konnte, 
und  wie  es  neuerdings  durch  Untersuchungen  meiner  Schülerinnen  Doglia 
und  Bianchieri  (4,  5,  18)  bestätigt  Avurde,  schon  im  Alter  von  3  Jahren 
aus.     Ich  kenne  einige  Fälle  von  Träumen  mit  2  Jahren  oder  ein  wenig 

21* 


324  DE    SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUM£S 

darüber;  es  muß  aber  bemerkt  werden,  daß  individuelle  Unterschiede  be- 
stehen; je  höher  die  Intelligenz  entwickelt  ist,  in  desto  früherem  Alter 
beginnt  die  relative  Autonomie  des  Traumbewußtseins.  Ihre  vollere  Ent- 
faltung steht  natürlich  in  Wechselbeziehung  zu  dem  lebendigeren  Wuchern 
des  Wachbewußtseins  und  besonders  der  Lebhaftigkeit  der  Phantasie  mid 
der  affektiven  Erregbarkeit.  Sie  erlischt  schließlich  im  Greisenalter; 
die  Greise  träumen  nur  wenig,  d.  h.  sie  berichten  von  Träumen  viel 
woniger  als  die  Jugend. 

Mit  der  Erläuterung  des  Begriffes  des  Traumbewußtseins  glaube  ich  die 
Definition  des  Traumes  zur  Genüge  erörtert  zu  haben.  Immerhin  erscheint 
es  mir  erforderlich,  zwei  andere  Begriffe  zu  erläutern,  welche  die  Defi- 
nition einschließt,  und  zwar  zuerst  den  Begriff,  der  mit  den  Worten  „unter 
dem  Antrieb  mächtiger   affektiver  Zustände"   ausgedrückt   ist. 

Nachdem  den  unterbewußten  Komplexen  die  Intelligenz  aberkannt 
worden  ist,  bleibt  zu  erklären,  warum  gewisse  Gedanken  Form  annehmen 
und-gewisse  andere  nicht,  und,  allgemein  gesagt,  warum  in  den  Träumen 
gewisse  Erlebnisse  wieder  aufleben  und  andere  nicht.  Man  hat  von  einem 
Kampf  um  die  Verwirklichung  im  Traume  gesprochen;  aber  das  ist 
wiederum  eines  jener  teleologischen  Trugbilder,  vor  denen  sich  der  Psycho- 
log nach  Kräften  hüten  muß.  Vielleicht  wäre  es  verständlicher  und  ge- 
nauer, zu  sagen,  daß  sich,  nachdem  sich  die  psychische  oder  psychodyna- 
mische Spannung  infolge  des  Schlafzustandes  verringert  oder  verschoben 
hat,  die  Erinnerungen  und  überhaupt  die  unterbewußten  Elemente  gemäß 
den  ererbten  oder  den  infantilen  Tendenzen  des  Träumenden,  die  mit 
s-einen  früheren  oder  gegenwärtigen  Leidenschaften  oder  Gremütsbewe- 
gungen  verknüpft  sind,  befreien  und  vorübergehende  psychische  Verbin- 
dungen bilden. 

Die  neue  Verbindung  erlangt  sofort  eine  neue,  gerade  wegen  der  An- 
wesenheit des  Gefühlstones  und  der  kinästhetischen  Elemente,  die  sie 
enthält,  beträchtliche  psychodynamische  Spannung,  und  durch  das  Be- 
stehen einer  solchen  Spannung  verwirklicht  sich  jene  Verbindung  im 
Traumbewußlsein  in  der  von  mir  angegebenen  Weise. 

Die  Feststellung  möge  genügen,  daß  die  im  Traume  wieder  auflebenden 
Eindrücke  aus  ideoaffektiv-motorischen  „Komplexen"  oder  (unterbewußten 
oder  vordem  im  Wachen  bewußten)  „Konstellationen"  hervorgehen,  welche 
sich  mit  den  augenblicklich  (während  des  Schlafes)  entstandenen  und, 
kraft  der  Assoziation,  nach  mancherlei  Richtungen  entwickelten  Traum- 
bildern begegnen  und  dadurch  von  diesen  mehr  oder  weniger  (je  nach 
den  einzelnen  Träumen)  umgeformt  werden.  Daher  die  sog.  von 
H.  Ellis  (22)  geschilderte  „Traumsymbolik". 

Es  bleibt  noch  der  andere  Begriff  zu  beleuchten,  der  in  der  Definition 
enthalten  ist:  ,,.  .  .innerhalb  dessen  der  Träumer  die  eigenen  Erlebnisse .  .  . 
in  Form  von  Fabel,  Legende  und  Symbolik  erzählt."  Woher  stammt  eine 
so  ungebräuchliche  Form  des  Berichtes  durch  Symbole?  Die  Tatsache 
kann  man  auf  mancherlei  Weise  erklären;  es  gibt  aber  auch  eine  öko- 
nomische Art  der  Erklärung,  welche  ich  in  folgendem  kurz  wiederholen 
^vlll.    Ein  guter  Teil  der  dem  Wachsein  angehörenden  unterbewußten  oder 


THEORIK  DES  VKRFASSKKS 325 

bewußten  Krfahrung  des  Träumendon  ist  nioinals  in  eine  zum  Ausdruck 
goci^net(\  wodor  in  eine  sprachliche  noch  in  eine  visuelle  Form  gekleidet 
worden:  <lie  nicht  formulierten  Gedanken,  die  Morgenröte  des  Gedankens, 
die  Intuitionen,  die  in  der  Phantasie  der  Persönlichkeit  niemals  verwirk- 
licht »nirden. 

Ein  anderer  Teil  der  Erfahrung  ist  zwar  einmal  in  eine  zum  Ausdruck 
und  zur  Mitteilung  geeignete  Form  gekleidet  worden,  mit  der  Zeit  abor 
wurde  die  Form  selbst,  wie  bei  der  Legcndcnbildung,  im  l  nterbev^Tjßtsein 
tiefgreifenden  Umbildungen  imterworfen  (Abnützungen,  Vervollständi- 
gungen. Verstümmelungen.  Dissoziationen).  Endlich  gibt  es  einen  anderen 
großen  Teil  der  Erfahrung  des  Träumenden,  welcher  im  Unterbewußtsein 
lebendig  und  durch  Bilder  gut  gestützt  ist;  er  kann  sich  aber  im  Traume 
nicht  in  seinem  gewöhnlichen  Kleide  zeigen,  weil  er  im  Augenblicke  des 
Wiederauflebens  im  Traum  in  eine  vom  (leichten)  Schlafe  sehr  abge^ 
änderte  psychische  Umgebung  gerät:  diese  Umgebung  wird  von  zahl- 
reichen (bx^sonders  visuellen)  Bildern  i  geradezu  beherrscht,  welche  durch 
aktuelle  Reize  entstehen  und  aus  der  Sinnessphäre  stammen,  und  deren 
Einwirkung  sie  sich  in  keiner  Weise  entziehen  kann.  Auch  die  auf- 
tauchende unterbewußte  Erfahrung,  sei  sie  mitteilbar  oder  nicht,  muß  sich, 
um  im  Traumbewußtsein  aufzuleben,  notgedrungen  der  ungewohnten  Um- 
gebung anpassen,  sich  wenigstens  des  öfteren  maskieren,  sich  ihrer  Natur 
entäußern,  sogar  mit  Hilfe  von  Symbolen,  die  den  aktuellen  oder  den 
mit  ihnen  durch  Berührungs-  oder  Ähnlichkeitsassoziation  verknüpften 
Bildern  entlehnt  sind. 

Diese  Vorstellung  bedarf  einer  Erläuterung  nur  mit  Rücksicht  auf  die 
nicht  formulierten  Gedanken.  Wie  den  Psychologen,  besonders  den  deut- 
schen (Ach,  Külpesche  Schule),  bekannt  ist,  gibt  es  ein  sogenanntes  ,, nicht 
formuliertes  Denken",  das  wir  mittels  psychologischer  Experimente  zum 
Teil  kennenzulernen  vermochten  -.  Eine  solche  Form  des  Gedankens 
(die  zum  Teil  dem  vorlogischen  Denken  von  Löwy-Brühl  entspricht)  be- 
herrscht sicherlich  den  Geist  des  Kindes  und  den  der  höheren  Tiere.  Ich 
glaube,  daß  während  des  Traumes  gerade  das  nicht  formulierte  Denken, 
welches  in  Beziehung  zu  den  innersten  und  tiefsten  biologischen  Forde- 
rungen (Wünschen.  Bedürfnissen,  Impulsen,  Tendenzen)  steht,  und  welches 
während  der  Tätigkeit  des  Wachbewußtseins  vom  mitteilbaren  Denken 
unterdrückt  oder  beherrscht  ist,  während  des  Schlafes,  also  während  eigene 
imd  fremde  Sprachäußerungen  verstummen,  zur  Gestaltung  str^t.    Damit 


^  Man  denke  an  die  Traumbilder  des  hypnagogen  Zustandes  (Praedormitium  und  Post- 
dormitium)  und  an  die  Tatsache,  daß  die  Träume,  die  vom  Träumer  am  besten  wieder- 
gegebe..a  werden  können,  gerade  diejenigen  sind,  die  in  der  Anfangs-  und  Endphase  des 
Schlaf  zustandes  liegen.  Es  ist  nicht  unwahrscheinlich,  daß  die  Träume  des  tiefste« 
Schlafes  —  gesetzt  den  Fall,  der  Träumer  könnte  sie  wiedergeben  —  in  einer  anderen 
Form  (manifester  Inhalf),  oder  (was  wahrscheinlicher  ist)  überhaupt  nicht  auszudrücken 
wären. 

2  Betreffs  der  Psychologie  des  Denkens  nach  der  Schule  von  Marbe  und  der 
Schule   von    Külpe.     Vgl.    außer  der  wohlbekannten    Literatur   auch   S.    De    .Sanctis    (90). 


326  DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

nähert  sich  der  Traimi  der  Dichtung  ^  Um  dieses  Streben  zur  Erfüllung 
zu  bringen,  bedient  sich  das  nichtformulierte  Denken  der  Vorstellungen, 
welche  das  Trauiiibewußtsein  im  Überflusse  besitzt,  weil  der  Vorratspeicher 
auch  während  des  Schlafes  offen  bleibt  (besonders  der  Vorratspeicher  der 
visuellen   und  der   kinästhetischen    Vorstellungen). 

Wenn  nun  die  nicht  formulierten  Gedanken  des  Wachseins  oft  in  sym- 
bolischei"  und  unverständlicher  Einkleidung  im  Traume  zur  Wirklichkeit 
werden,  so  ist  es  doch  auch  wahr,  daß  sie  zuweilen  in  einer  dem  Aus- 
drucke angepaßten  Einkleidung  (Schöpfung  und  Erfindung)  im  Traume 
zur  Wirklichkeit  werden  und  zuweilen  sogar,  auch  im  Traum,  ohne 
irgendeine  Einkleidung  erscheinen,  gerade  in  der  natürlichen  Form  nicht- 
fonnuUerter  Gedanken;  diese  Gedanken  werden  nachträglich  entweder 
unbe>vußl  und  unvollständig  in  der  Wiedergabe  des  Traumes  formuliert, 
oder  sie  bleiben  in  statu  nascendi  stecken. 

Mir  scheint  hiermit  das  so  gewöhnliche  Fehlen  des  formalen  Zusammen- 
hanges in  den  Träumen,  das  Spielen  der  Assoziationen  im  Traume  zu- 
reichend erklärt  zu  sein,  ohne  daß  man  zu  der  unnötigen  Allegorie  einer 
„Zensur"  seine  Zuflucht  nehmen  müßte,  welche  den  Traumgedanken  den 
Eintritt  nur  erlauben  will,  wenn  sie  genügend  verkleidet  und  unkenntlich 
seien.  Damit  könnte  es  scheinen,  als  würden  wir  auf  die  dynamische 
Auffassung  des  Traumes  verzichten.  Dem  ist  aber  nicht  so;  dynamisch 
und  finalistisch  ist  zweierlei.  Wir  wollen  nur  die  Freudsche  finalistische 
Betrachtungsweise  aus  der  Psychologie  ausschalten,  ohne  übrigens  ihre 
eventuelle  philosophische  T^ag^veite  und  ihren  lyrischen  Gehalt  zu  ver- 
kennen; aber  >vir  schließen  ge>viß  nicht  die  dynamische  Betrachtungsweise 
aus.  Von  unserem  Standpimkt  aus  bleibt  vielmehr  die  Einsicht  in  die 
Bedeutung  und  den  Wert  des  Traumes  als  eines  psychischen  Vorganges 
grundsätzlich   an   eine  dynamische  Auffassung  geknüpft. 


'  Nietzsche  eriimert   in  der   „Greburt  der   Tragödie"   an  die   Worte  von   Hans   Sachs   in 
den   „Meistersingern": 

Mein  Freund,  das  grad  ist  Dichters  Werk, 

Daß  er  sein   Träumen  deut'  und  merk'. 

Glaubt   mir,    des    Menschen    wahrster    Wahn 

Wird   ihm   im   Traume  aufgetan: 

Air   Dichtkunst  imd  Poeterei 

Ist  nichts  als  Wahrtraum-Deuterei. 
Und  an  einer  anderen  Stelle  (Kap.  2)  äußert  er  den  Gedanken,  daß  die  Griechen,  von 
dionysischem!  imd  apollinischem  Triebe  erfüllt,  auch  in  ihren  Träumen  von  einer 
„logischen  Kausalität  der  Linien  und  Umrisse,  Farben  und  Gruppen  einer  ihren  besten 
Reliefs  ähnelnden  Folge  von  Szenen"  geleitet  worden  seien.  Und  Nietzsche  fühlte  sich 
beinahe  berechtigt,  ,,die  träumenden  Griechen  als  Homere  und  Homer  als  einen  träumen- 
den  Griechen"    zu  bezeichnen. 


LITERATURVERZEICHNIS 

I.     Adler,  A.,  Traum  und  Traumdeutung,  Zeniralbl.  f.  Psychoanal.,   iQiG. 
a.     Aschaffonburg,   G.,   Die   Bciiehujigen   des    sexuellen  Lebens   zur  Entstehung 
von    Nenen-   und   Geisteskrankheiten,    Mediz.   Wochenschr.,  München,    1906. 

3.  Assaggioli,   R.,  Artikel  und  Referate  in  ,,Psiche",  März — April   igia,  Oktober 

bis    Dezember    igi^,    Oktober — Dezember    igiö. 

4.  Banchieri,  F.,   Sui  sogni  dei  bambini  di  tro  e  di  cinque  anni,  Contrib.  psicol. 

del    Lab.    di    Psicol.    Sperim.    di    Roma,    II,    1912/13. 

5.  — ,  I    sogni   dei    bambini    di   cinque    anni,    Riv.    di    Psicol.,    VIII,    191 2. 

6.  Darbära,   M.,   II   problema   della  genesi  del   sonno,   Mitteilung  in  der   R.   Accad. 

delle   scienze    mediche,    Palermo,    1920. 

7.  Belmondo,    E.,    Contiibuto    critico   e   sperimentale  allo   studio   dei    rapporti    tra 

le  funzioni  cerebrali  e  il   ricambio,   Rivista  sperim.   di   Freniatria,    1896. 

8.  Borger,    H.,   Über  die   körperlichen  Äußerungen   psychischer   Zustände,    190^/07, 

mit  Atlas. 

9.  Blavatskv,  H.,   Transact.  of  the   Blavatsky  lodge  of  the  theosoph.  soc.,   1890, 

I.  App.     '  ' 

10.  Boeke,    J.,    Die   doppelte    (motorische    und    sympatliisclie)    afferente    Innervation 

der    quergestreiften    Muskelfasern,    Anat.    Anz.,    igiS. 

11.  Brunelli,    G.,   Intorno  alla   fisiogenia   del    letargo  dei   mammiferi,    Riv.  Ital.  di 

scienze  nat.   XXII,    1902. 

12.  — ,  II  letargo  dei  mamnüferi  e  il  sogno  dei  fachiri,  ibid.   XXIII,    1908. 

i3.      — ,  Sulla  origine  della  letargia   nei  mammiferi,   Monitore   zoolog.  ital.   XVII,   1906. 
i4-     Burdach,    K.    F.,    Die    Physiologie    als    Erfahrungswissenschaft,    Leipzig,    1826 

bis    i84o,    Bd.    V.    Geschichte   der    Unters,    über   den    Schlaf   und   die   Träume, 

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i5.     Claparede,  E.,  Esquisse  d'une  theorie  biologique  du  sommeil,  .iVxch.  de  psychol. 

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(EHe   Erläuterung  auf   S.  90,   das   Gedicht  in   Übersetzung  auf  S.   179). 
i8.     Doglia,    S.,    und    Banchieri,    F.,    Sogni    dei    bambini    di    tre   anni,    Contrib. 
psicol.   del    Lab.   di    Psicol.    Sperim.    di    Roma,    I,    1910/11. 

19.  Ducceschi,     V.,     Azione    del     simpatico    cerviccJe     sulla     tonicitä    dei     muscoli 

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20.  Du  p  rat,    G.    L.,   Le    r^ve   et   la    pensee    conceptuelle,    Revue   philos.,    72,    191 1. 

21.  Dwelhauwers,    G.,    L'inconscient,    Paris,    1916. 

22.  Ellis,    H.,    The    world    of   dreams,    Boston,    191 1. 

23.  Ferrari,  G.  C,  Le  emozioni  e  la  vita  del  subcosciente,  Riv.  di  psicol.,  VIII,  1912. 

24.  P'olchieri,    G.,    Legge    e    libertä,    Riv.    di    filosofia,     igiS. 

25.  Foucault,   M.,    Le   räve,    Paris,    1906. 

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27.  Freud,    S.,    Die    Traumdeutung,    4-  Aufl.,    Wien,    1914. 

28.  — ,  Über    den    Traum,     2.     Aufl.,     Wiesbaden,      1911     (Grenzfr.    d.     Nerven-    u. 

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30.  (Giachelti,   C,   Garatteristiche  e  natura  del  sogno,   Riv.  di  psicol.  appl.,    1908. 
3i.     Giannuli,   F.,    Sul   lobo  temporale,   Riv.  di  patol.  nerv,  e  ment.,    igi5. 

32.  Gioia,    M.,    Ideologia,    Lugano,     i836. 

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f.    d.    ges.    Psychol.,    XXI,    191 1. 


328 DE     SANCTIS:     PSYCHOLOGIE    DES    TRAUMES 

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35.  Henning,     H.,     Der    Traum,     ein    assoziativer     Kurzschluß,     Wiesbaden,     1914. 
30.     Janet,     P.,     Les    medications     psychologiques,     Paris,     1919. 

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xxni,  1912. 

40.  Kraepelin,    E.,    Psychiatrie,    8.  Aufl.,    Leipzig,    1909 — 15. 
4i,     — ,   Über    Sprachstörungen    im    Traume,    Leipzig,     1906. 

42.  Kronfeld,    A.,     Über    die    psychologischen    Theorien    Freuds    und     verwandte 

Anschauungen,   Arch.   f.   d.   ges.    Psychol.,  XXII,    191 1- 

43.  Ladame,    P.,    Nevrose    et    sexualite,    L'Encephale,    1913 
44-     Ladd,    F.,    The   psychology    of   visual   dreams,    Mind,    1892. 

45.     Lambranzi,    R.,    Sulla   profonditä   del   sonno,   Riv.    di   scienze   biolog.,  II,  1900. 
4Ö.     Leadbeater,  C.  W.,  Dreams,  what  they  are  and  how  they  are  caused,  London, 
The  theosoph.   publ.   soc. 

47.  Levi-Bianchini,     M.,      L'    isterismo    dallo    antiche    alle    moderne    dottrine, 

Padova,    1913. 

48.  Lombroso,   C,    Sulla   pazzia  di   Cardano,  Gaz.   medica   ital.,    i855. 

49.  Luciani,    L.,    Fisiologia    d^l'    uomo,    4-    Aufl.,    4-    Bd.    (I    fenomeni    psicofisici 

della    veglia    e   del    sonno). 

50.  Lugaro,    E.,    La    base    anatomica    dell'    intuizione,    Riv.    filos.,    1908. 

5i.     Maeder,    A.,    Über   die    Funktion   des   Traumes,    Jahrb.    f.    psychoanal.    Forsch., 

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52.  Manaceine,    M.   de,    Sleep,    London,    1897. 

53.  M  .1  u  r  y  ,  A.,   Le  sommeil  et  les  reves,   Paris,    1878. 

54.  Marro,   G.,    Stato   sognante    ,,vero"   da  esaurimento   acuto,   Archivio   di   antropol. 

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UTEHATrRVLHZKlCHiMS 


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191.'». 

Pjris.    191  '1, 
>h\     l(.    ht. 


19U«). 

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PSYCHOLOGIE  DES 
GESCHLECHTSLEBENS 


VON 
RUDOLF  ALLERS 


EINLEITUNG 

Warum  und  in  welchem  Sinne  eine  Darstellung  der  Psychologie  des 
Geschlechtslebens  in  diesem  Handbuche  Platz  findet,  hat  die  Einleitung 
des  Herausgebers  bereits  auseinandergesetzt.   Es  bleibt  nichts  hinzuzufügen. 

Über  die  Gliederung  des  Stoffes  sind  einige  wenige  Worte  erforder- 
lich. Eine  Sexual psychologie  wird  vernünftigerweise  ihren  Gegenstand 
vor  allem  nach  zwei  Richtungen  zu  betrachten  haben.  Sie  wird  ein- 
mal versuchen  müssen,  eine  Beschreibung  sexualen  Erlebens  in  seinen 
verschiedenen  Formen  zu  geben,  zweitens  den  Entwicklungsgang  dieser 
Erlebnisphasen  im  individuellen  Leben  zu  kennzeichnen.  Beide  Be- 
trachtungsweisen, die  genetische  und  die  deskriptive,  lassen  sich  natür- 
iich  nicht  restlos  trennen.  Genetische  Darstellung  ist  ja  doch  nur 
möglich,  wenn  ihr  eine  Deskription  des  sexualen  Erlebens  in  den  ein^ 
zelnen  Stadien  der  Entwicklung  zugrunde  gelegt  wird,  wenn  also  etwa 
das  Sexualleben  des  Kindes,  das  der  Pubertätsperiode,  das  des  voll- 
entwickelten Individuums  und  vielleicht  auch  noch  das  im  Stadium 
der  Rückbildung  geschildert  werden.  Wenn  nun  auch  kein  Zweifel 
darüber  obwalten  kann,  daß  schon  in  der  präpuberalen  Periode  als 
sicher  sexual  zu  bezeichnende  Regungen  auftreten  oder  zumindest  auf- 
treten können,  so  dürfte  es  sich  doch  empfehlen,  die  Darstellung  des 
Sexuallebens  bei  dem  vollentwickelten  Individuum  zum  Ausgangspunkt 
zu  machen,  die  Erscheinimgen  der  Kindheit  und  die  Umwandlungen 
zui*  Zeil  der  Geschlechtsreifung  im  Hinblick  auf  dieses  Ziel  zu  be- 
schreiben. 

Neben  diese  Aufgabe  träte  die,  auch  den  kulturellen  und  sozialen 
Differenzen  Rechnung  zu  tragen.  Eine  Phylogenie  der  Psychosexualität 
zu  geben,  dürfte  wohl  eine  kaum  lösbare  Aufgabe  sein.  Es  mag  ge- 
lingen, gewisse  psychische  Funktionen,  solche  vor  allem,  die  sich  in 
Reaktionen  gegen  die  Umwelt  darstellen,  also  z.  B.  intellektualer  Art. 
phylogenetisch-vergleichend  zu  betrachten,  zu  zeigen,  wie  sich  die  An- 
passung an  die  Umwelt,  deren  Beherrschung  allmählich  aus  Tropismen 
und  Instinkten  über  erst  niedere,  dann  inrnier  komplexere  Vorgänge 
des  Denkens  und  Überlegens  in  der  Tierreihe  entfalten.  Affektive  Ver- 
haltungsweisen entziehen  sich  aber,  wie  mir  scheint,  weitgehend  der- 
artiger Betrachtung.  Eher  dürfte  es  möglich  sein,  innerhalb  der  Mensch- 
heit gewisse  Stufen  und  Differenzen  aufzuzeigen,  die  mit  kulturellen 
und  sozialen  Momenten  zusammenhängen.  Allerdings  ist  das  Tatsachen- 
material in  dieser  Hinsicht  nicht  gerade  reichlich.  Über  die  äußeren 
Formen,  unter  denen  das  sexuale  Leben  sich  vollzieht,  sind  wir  zwar 
einigermaßen  unterrichtet;  wir  wissen  von  den  Formen  der  Ehe,  Arten 
der  Liebesbeziehung  u.  dgl.  Wie  aber  in  der  Seele  etwa  des  Austrainegers, 
des  Bewohners  der  Andamanen,  ja  des  Arabers  sexuales  Erleben  abläuft, 


334  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

erfahren  wir  kaum.  Äußere  Formen  und  —  auf  höheren  Kulturstufen  — 
künstlerische  Darstellungen,  Liebeslieder  und  Erzählungen  lehren  uns 
freilich  einiges;  aber  die  daraus  zu  ziehenden  Schlüsse  sind  doch  'wohl 
mit  größter  Vorsicht  aufzunehmen.  Ja,  man  darf  vielleicht  sagen,  daß 
wir  von  diesem  Erleben  gelbst  bei  den  Angehörigen  unserer  eigenen  Kultur, 
soweit  sie  nicht  unserer  Gesellschaftsklasse  entstammen,  nur  höchst  man- 
gelhafte Vorstellungen  haben.  Auch  dichterische  Schilderungen,  welche 
etwa  sich  mit  dem  Liebesleben  von  Angehörigen  der  Arbeiterklasse,  des 
Bauernstandes  befassen,  müssen  mehr  weniger  die  mißtrauische  Vermu- 
tung erwecken,  daß  sie  doch  nur  nach  dem  Muster  von  des  Dichter» 
eigenem   Erleben   und   nicht  nach    der   Wahrheit   gestaltet   wurden. 

Es  vrird  sich   also  über  diese  Dinge   kaum   viel   sagen   lassen. 

Im  Zusammenhange  mit  der  Deskription  vrird  auch  der  Abartungen 
des  sexualen  Erlebens,  dessen,  was  man  Perversionen  nennt,  zu  gedenken 
sein.  Wenn  diese  nicht  in  aller  Ausführlichkeit  behandelt  werden,  so 
geschieht  dies  jdeshalb,  weil  ich  nicht  glaube,  daß  es  sich  hier  um  Unter- 
schiede des  Wesens  der  Liebes-  oder  Sexualregimg  handelt.  Wie  später 
noch  ausführlicher  darzulegen  sein  wird,  ist  auch  der  abnorme  Ge- 
schlechtstrieb gewissermaßen  seiner  Idee  nach  auf  das  andere  Geschlecht 
gerichtet  und  nur  die  Art  seiner  Darstellung  und  Einkleidung  weicht 
vom   breiten   Typus   ab. 

Eine  weitere  Aufgabe  erwächst  aus  dem  Umstände,  daß  das  geschlecht- 
liche Erleben  mit  den  mannigfaltigsten  anderen  Erlebenssphären  innige 
Verflechtungen  eingeht.  Nicht  nur  als  Gegenstand,  auch  als  treibendes 
Motiv  des  künstlerischen  Erlebens  und  Gestaltens  spielt  das  Geschlechts- 
leben eine  große,  wohl  immer  anerkannte,  in  ihren  Einzelheiten  und 
ihrem  Wesen  aber  vielleicht  nicht  immer  richtig  erfaßte  Rolle.  Es 
ist  in  mancher  Hinsicht  bestinrniend  für  die  Formen  und  die  Entwick- 
lung gesellschaftlicher  Erscheinungen  und  Strukturen;  es  können  sexuale 
Momente  für  die  Lebensform  einer  ganzen  Klasse  ausschlaggebend  sein. 
Man  denke  etwa  an  den  Frauendienst  des  Mittelalters,  überhaupt  an  die 
Stellung  und  Wertschätzung  der  Frau  zu  verschiedenen  Zeiten,  wodurch 
auch  für  die  geltende  Rechtsordnung  sexuale  Motive  wirksam  werden, 
an  die  Galanterie  des  Ancien  regime  und  vieles  andere.  Beziehungen 
bestehen  zur  Religion,  da  sich  religiöse  Gebräuche  vielfach  mit  sexualen 
Sitten  dirrchkreuzen,  religiöse  Erlebnisse  vielfach  in  erotischer  Aus- 
drucksweise darstellen.  Endlich  ist  der  Beziehungen  zur  Pathologie  zu 
gedenken,  womit  nun  nicht  jene  schon  zuvor  zu  beschreibenden  ,, per- 
versen" Abartungen  geschlechtlichen  Verhaltens  gemeint  werden,  sondern 
die  krankheitssetzende  Bedeutung  des  Geschlechtslebens  und  die  Stellung, 
die  es   im   Erleben  Geisteskranker  einninmit. 

Wenn  ich  einen  eigenen  Abschnitt  über  die  Liebe  eingeschaltet  habe, 
so  deshalb,  weil  mir  scheinen  will,  als  sei  Liebe  in  höherem  Sinne, 
auch  wo  sie  als  Geschlechtsliebe  oder  auf  der  Grundlage  dieser  auftritt, 
doch  mehr  als  eine  Steigenmg  von  Zügen,  die  der  Sexualität  an  sich 
schon  zukommen  würden,  was  ja  dort  eingehender  darzulegen  sein  wird. 

Ein  letzter  Abschnitt  soll  den,  freilich  nur  als  vorläufig  zu  betrachten- 
den Versuch  unternehmen,  das  Wesen  der  Geschlechtlichkeit,  soweit  sich 


EINLEITUNG  335 


dieses  im  SoelLschoii  darstellt,  zu  kciinzeichnon,  dio  Bczi(^hunj^on,  die 
zwischen  dieser  Erlebcnssphäro  uiid  anderen  im  letzten  Grunde  herrschen, 
die  Stellung,  die  ihr  innerhalb  der  Totalität  des  Seelenlebens  zukommt. 
Alle  (ües(^  Abschnitte  sollen  sich  mögliclist  auf  reine  Beschreibung 
beschränken  und  erklärenden  Konstruktionen  nur  soweit  die  Aufmerk- 
samkeit zuwenden,  als  dies  durch  den  Zusammenhang  geboten  erscheint. 
Dies  ist  notwendig,  weil  alle  Versuche,  Zusammenhänge  —  seien  sie  nun 
sinnhafter  oder  kausaler  Natur  —  aufzuzeigen,  schon  irgendwie  ein 
über  die  reine  Deskription  hinausgehendes,  auf  Konstruktion  und  Er- 
klärung abgestelltes  :Verhallen  implizieren.  Ich  hoffe  nur,  daß  es 
mir  gelingen  möge,  wenigstens  deutlich  (auseinander  zu  halten,  was 
Feststellung  eines  Tatbestandes  und  was  theoretisierendo  Interpretation 
eines  solchen  ist. 

Fragen  aber,  welche  über  die  sich  im  individuellen  Leben  spiegelnde 
Geschlechthchkeit  hinausgehen,  sollen  hier  keine  Erörterung  finden.  So- 
ziale Zusammenhänge  müssen  gelegentlich  zur  Sprache  kommen,  weil 
sie  für  das  Erleben  der  Einzelseele  bestimmend  sind.  Welchem  Ende 
aber  letztlich  die  Sexualität  diene,  wie  sich  die  Richtung  auf  Greschlechts- 
genuß  und  die  Richtung  auf  Erhaltung  der  Art  als  Triebe,  nicht 
als  bewußte  Erlebnisse,  zueinander  verhalten,  alles,  was  in  die  „Meta- 
physik der  Geschlechtsliebe"  einschlägt,  bleibe  außerhalb  des  Rahmens 
dieser  Ausführungen.  Trotzdem  werden  hie  und  da  Anklänge  an  eine 
metaphysische  Betrachtungsweise  nicht    vermieden    werden    können. 

Auch  in  anderer  Hinsicht  werden  ge>visse  Grenzüberschreitungen,  so- 
wohl innerhalb  des  psychologischen  Gebietes,  als  auch  über  dieses  hinaus 
nicht  inuner  zu  vermeiden  isein.  Die  ersteren,  weil  Sexualität  sich  nach 
allen  Richtungen  mit  anderen  Sphären  seelischen  Geschehens  verflicht, 
ihre  Phänomene  färbt,  begleitet,  vielleicht  auch  manchmal  fundiert;  imd 
wenn  es  auch  keineswegs  in  der  Absicht  dieser  Darstellung  gelegen  sein 
kann,  dem  sexualen  Moment  etwa  in  Kunst  und  Religion,  im  Sozialen 
nachzugehen,  so  müssen  doch  manche  dieser  Verflechtungen  zumindest 
aufgezeigt,  imd,  soweit  sie  unverkennbar  dem  sexualen  Erleben  angehören, 
auch  besprochen  werden.  Wenn  es  richtig  ist  —  darüber  zu  reden  wird 
später  der  Ort  sein  — ,  daß  treuisformierte,  „sublimierte"  Triebe  ge- 
schlechtUcher  Natur  konstitutiv  in  (iie  Sphäre  des  religiösen  imd  ästhe- 
tischen Erlebens  eingehen,  so  gehört  ihre  Besprechung,  streng  genommen, 
mcht  mehr  hierher.  Solange  sie  aber  ihre  sexuale  Natur  beibehalten, 
solange  sie  dem  unmittelbaren  Erleben  oder  der  Reflexion  als  der  Sexua- 
lität zugehörig  bemerkbar  werden,  müssen  sie  auch  hier  Beachtung  finden. 

Über  die  Psychologie  hinaus  weist  aber  eine  Auseinandersetzimg  über 
das  zu  behandelnde  Thema  deshalb,  weil  offensichtlich  zwischen  Ge- 
schlechtlichkeit und  Liebe  übelligiupt,  nicht  niu*  Geschlechtsliebe,  Be- 
ziehungen obwalten,  zimächst  noch  unbestimmter  Art,  zweifellos  aber 
recht  innige.  Mag  man  nun  jede  liebende  Zuwendung  als  letzten  Endes 
im  Sexualen  gründend,  aus  demselben  durch  Umgestaltung  entwickelt 
ansehen,  oder  umgekehrt  in  der  Geschlechtsliebe  eine  besondere 
Form  liebenden  Verhaltens  überhaupt  erblicken  oder  eine  Verschmelzung 
zweier  Sphären,  oder  sonst  sich  eine  Meinung  darüber  bilden  —  immer 


336  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

wird  dieser  Zusammenhang  sich  aufdrängen.  Und  so  wird  doch  gelegent- 
lich wenigstens  auf  die  Berührungspunkte  der  psychologischen  mit  jener 
anderen  Problematik,  mag  man  sie  nun  metaphysisch  heißen  oder  nicht, 
lunzuweisen    sein. 

Wiewohl  es  also  nicht  im  Plane  dieser  Darstellung  gelegen  ist,  die 
physiologischen  Ausdrucksformen,  Begleiterscheinungen  usw.  der  sexua- 
len Erlebnisse  zu  erörtern,  so  muß  doch  mit  ein  paar  Worten  darauf 
liingewiesen  werden.  Es  ist  die  Meinung  anscheinend  recht  verbreitet, 
daß  der  Sexualaffekt  überhaupt  nur  auf  der  Basis  von  oder  zumindest 
gleichzeitig  mit  seinen  körperlichen  Äußerungen  auftreten  könne,  daß 
diese  zumindest  anklingen  müssen,  um  jenen  entstehen  zu  lassen.  So 
meint  Ribot  (98),  wenn  man,  eine  nach  der  anderen,  alle  physiologischen 
Erscheinungen  in  Gedanken  unterdrücke,  so  bleibe  nicht  einmal  das  Be- 
wußtsein einer  unbestimmten  Anziehung,  >veil  auch  diese  eine  tatsäch- 
liche oder  naszierende  Bewegung  verlange.  Vorsichtiger  äußert  sich 
Janet  (61),  der  anläßlich  der  Beobachtung  einer  Kranken,  bei  der 
„Familiengefühle,  Affekte,  Schamhafti^keit  zugleich  mit  der  Sensibilität 
der  Geschlechtsteile  auftraten  und  verschwanden",  nicht  zu  entscheiden 
wagt,  welcher  Vorgang  der  primäre  sei. 

Zweifellos  schließt  sich  der  Sexualaffekt  außerordentlich  häufig  an  die 
Erregung  der  Sexualwerkzeuge  an,  zweifellos  ist  er  in  der  überwiegenden 
Mehrzahl  der  Fälle  von  ihr  begleitet.  Aber  es  liegen  doch  Beobachtungen 
vor,  welche  das  zwangsmäßige  dieser  Verknüpfung  fraglich  erscheinen 
lassen.  Daß  Kastraten  erotomanische  W^ahnideen  produzieren  können, 
wie  eine  Beobachtung  von  A.  Marie  an  einem  paralytischen  Eunuchen 
zeigt,  würde  noch  wenig  beweisen.  SpätJcastraten,  d.  h.  solche,  bei 
welchen  die  Entfernung  der  Keimdrüsen  nach  eingetretener  Pubertät  vor- 
genommen wurde,  mögen  wohl  solche  Wahnideen  und  Phantasien  haben, 
wie  etwa  der  Erblindete  in  Gesichtsbildern  träumen  kann.  Fälle,  die  das 
zu  beweisen  scheinen,  haben  z.  B.  Moebius  (82)  und  vor  ihm 
Tournes  mitgeteilt,  daher  auch  ersterer  der  Keimdrüse  nicht  die  Auf- 
gaben zuschreiben  \Nill,  den  Geschlechtstrieb  „zu  machen",  sondern  nur 
ihn    „anzuregen"!. 

Ferner  lehren  uns  Tierversuche,  daß  nach  Entfernung  selbst  großer 
Abschnitte  des  Rückenmarkes,  bei  offenbar  vollständiger  Aufhebung  der 
sensiblen  Leitung  vom  Geschlechtsapparat  an  die  höheren  Zentren  dennoch 
ausgesprochene  sexuale  Erregungszustände  auftreten  können  (L.  R. 
Müller) , 

Andere  Versuche,  die  Baglioni  sowie  Araantea  angestellt  haben, 
zeigen,  daß   die  eingetretene  somatische  sexuelle   Erregung  unterbrochen 

*  VgL   das,    was    Shakespeare   den   EunucheaL* Mardian    sagen    läßt: 

Cleop.:     Hast  thou   affections?  ■ 

Mard.:      Yes,   gracious   madam. 

Cleop.:     Indeed! 

Mard.:     Not    in    deed.    madam;    for    I    can    do    notliing, 

Bul    what    indeed    is    honest    to    be    done; 

Yet   have  I  fierce    affections.    and    tliink 

What    Venus    did    w-ith     ^Lirs. 

(Anlony    and    Cleopatra,    Akt  L    Sccne  V.) 


KI  N  LEITUNG  337 


\vertl»ii  kann,  wenn  ilas  p'riplioro  rezeptorische  Feld  unenipriiidlich  go- 
maclil  wird.  Als  j)t>ri|)lu'ro  Uozeptoreii  fassoii  di«  Autoren  wohl  mit 
RtM^ht  ^tnvisso  j)a[»illan'  Hiidiiiitreii  am  männlichen  (leschiecht.slei!  auf; 
ihre  Ausschaltung?  tlurch  Lokalanästhesie  (Kokain.  Novokainj  verhindert 
<las  AuflTotcn  der  Sexualerre^unj^  beim  Hunde;  nimmt  man  jeiloch  die 
Anästhesie  nach  dem  Auftreten  der  Erregung-  vor,  so  verschwinden  zwar 
di»*  Anzeichen  der  körperlichen  Sexualität  (l*]rektion),  der  psychosexuale 
Zustand    aber,    der    Sexualaffekl,    besieht    fort. 

Im  gleichen  Sinne  sprechen  die  Krfalirungen,  welche  E.  Steinach 
an  seinen  ,,maskulierten"  bzw.  „feminiertcn"  Ratten  machen  konnte. 
Entfernt  man  einem  jugendlichen,  noch  nicht  geschlechtsreifen  Tier  seine 
Keimdrüsen,  und  bringt  die  Keimdrüsen  des  anderen  Geschlechtes  zur 
Eiidieilung,  so  entwickelt  sich  das  Tier  in  mancher  Hinsicht  nach  dem 
Typus,  welcher  der  implantierten  Keimdrüse  entspricht,  d.  h.  es  akquiriert 
das  ursprünglich  als  ^^'eibchen  geborene  Tier  den  äußeren  Habitus  des  Männ- 
chens, sein  Haarkleid,  seine  Kopfform  usw.,  aber  auch  sein  psychosexnales 
Verhalten,  es  wird  von  weiblichen  Tieren  erregt,  stellt  ihnen  nach,  während 
sich  das  feminierte  Männchen  als  Weibchen  geriert.  Da  nun  natürlich  eine 
Entwicklung  der  Geschlechtsteile  des  anderen  Geschlechtes  nicht  oder  zu- 
mindest nur  sehr  angedeutet  ( Pen isbü düng)  zustande  kommt,  scheint  auch 
hier  ein  Sexualaffekt  ohne  entsprechende  somatische  Begleiterscheinungen 
vorzubegen . 

\^ährend  diese  Erscheinungen  w^ohl  zugunsten  einer  relativen  Unab- 
hängigkeit von  somatischer  und  psychischer  Sexualerregung  sprechen, 
scheint  es  mir  zweifelhaft,  ob  der  umgekehrte  Tatbestand,  nämlich  das 
Auftreten  der  körperlichen  Phänomene  ohne  begleitenden  oder  durch  sie 
hervorgerufenen   Sexualaffekt  in  diesem   Sinne  verwertet  werden   kann. 

Dieses  isolierte  Auftreten  der  somatischen  Vorgänge  stellt  zunächst 
eine  zwar  nicht  regelmäßig,  aber  doch  häufig  zu  beobachtende  Diu'ch- 
gangsphase  in  der  Sexualentwicklung  des  Kindes  dar,  wovon  später  noch 
die  Rede  sein  wird.  Sie  fehlt  aber  auch  beim  Vollreifen  Individuum 
nicht.  Ganz  abgesehen  von  krankhaften  Erregxmgszuständen  der  Sexual- 
sphäre, die  einfach  als  quälende  körperliche  Erscheinungen  empfunden 
werden,  ohne  jede  Beimengung  eines  Sexualaffektes,  kommen  auch  ge- 
legentlich bei  Gesunden  solche  vor,  denen  ein  psychisches,  spezifisches 
Erleben  weder  vorangeht,  noch  folgt,  noch  sie  begleitet. 

Denn  daß  ein  körperlicher  Symptomenkomplex  eintreten  kann,  ohne 
die  ihm  sonst  zugeordneten  psychischen  Abläufe  hervorzurufen  oder  von 
ihnen  begleitet  zu  sein,  ist  auch  bei  Annahme  einer  Bedingtheit  dieser 
durch  jenen  durchaus  denkbar.  Können  wir  doch  erröten,  ohne  uns  zu 
schämen,  ja,  solche  Röte  des  Gesichts  und  der  oberen  Rumpfgegenden 
durch   Einatmung  gewisser   Substanzen   (Amylnitrit)    auslösen. 

Es  würde  aus  diesen  Talsachen  also  m.  E.  nicht  gefolgert  werden  dürfen, 
daß  die  psychische  Seite  von  der  mit  ihr  normalerweise  so  innig  ver- 
schränkten somatischen  des  Sexualerlebnisses  eine  grundsätzliche  oder 
relative  Unabhängigkeit  besitze,  während  die  zuerst  aufgeführten  Erfah- 
rungen wohl  als  Beweis  dafür  angesehen  werden  dürfen. 

22    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


338        ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

Es  scheint  also,  daß  die  Theorie  von  James-Lange,  welche  in  den 
peripheren,  somatischen  Prozessen  nicht  nur  den  Anlaß,  sondern  auch 
das  Wesen  des  betreffenden  emotiven  oder  affektiven  Ablaufes  erblicken 
will,  sich  in  der  Sexualsphäre  ebensowenig  wird  halten  lassen,  wie  sie 
sich  trotz  immer  wiederholter  Verteidigung  auf  anderen  Gebieten  be- 
währt hat. 

Daraus  folgt  übrigens,  daß  die  vielfach  gemachte  Annahme,  es  seien 
Sexualität,  nämlich  körperliche  Sexualbetätigung,  und  Lustgefühl  von 
vorneherein  zwangsläufig  aneinander  gebunden,  irrig  sein  muß.  Wenn  die 
somatische  Sexualerregung  auch  ohne  entsprechenden  Affekt  ablaufen 
kann,  so  ist  nicht  nur  eine  hinsichtlich  der  Lustbetonung  indifferente, 
sondern  sogar  eine  ausgesprochen  unlustbetonte  Sexualbetätigung  denkbar. 

Es  darf  hier  an  den  Ausspruch  erinnert  werden,  nach  dem  schon  F.  J. 
Gall  (47)  diese  Beziehungen  gekennzeichnet  hat:  „L'instinct  de  la 
reproduction  est  une  fonction  du  cerveau  et  nappartient  nullement  aux 
parties  sexuelles." 

Etwas  ganz  anderes  ist  es  natürlich,  daß  die  Entwicklung  der  psychi- 
schen wie  der  physischen  Geschlechtscharaktere  an  die  Anwesenheit  spezi- 
fisch funktionierender  Anteile  der  Keimdrüsen  geknüpft  ist,  daß  das 
Männchen  zum  Männchen  durch  die  Wirksamkeit  des  innersekretorischen 
Anteiles  des  Hodens  wird,  das  Weibchen  zum  Weibchen  durch  die  ent- 
sprechenden   Zellkomplexe    des    Eierstockes  1. 

Vielleicht  darf  man  die  hier  obwaltenden  Beziehungen  dahin  formu- 
lieren, daß  zwar  der  Sexualaffekt  oder  das  Sexualleben  überhaupt  in  den 
somatischen  Sexualfunktionen  im  allgemeinen  gründe,  daß  aber  das  einzelne 
sexuale  Erlebnis  als  solches  nicht  an  die  körperlichen  Manifestationen 
gebunden  sei,  nicht  einmal  an  eine  Andeutung,  eine  Skizze,  wenn  man 
will,  solcher.  Nur  daß  in  der  Begel  ein  solches  Auseinanderfallen  nicht 
vorkommt.  Vielmehr  gilt  wohl,  daß  in  der  Sphäre  des  Sexuallebens 
körperliches  und  seelisches  Geschehen  inniger  verhaftet  ist,  als  sonst 
meist  im   Affektleben,   vielleicht  am   allerinnigsten   überhaupt. 

Was  die  Formen  der  körperlichen  Äußerungen  des  Geschlechtstriebes 
anlangt  und  die  verschiedenen  Weisen,  in  welchen  der  Mensch  di^em 
Triebe  Befriedigung  verschafft  oder  zu  schaffen  versucht,  so  fällt  deren 
Erörterung  außerhalb  der  Her  gesteckten  Grenzen.  Es  ist  für  die  psy- 
chologische Betrachtung  grundsätzlich  belanglos,  ob  das  Erlebnis  der 
Entspannung  des  Sexualaffektes  durch  den  normalen  Geschlechtsver- 
kehr oder  irgendeine  seiner  Varianten,  durch  homosexuale,  sodomitische, 
autoerotische  usw.  Praktiken  herbeigeführt  wird,  soferne  es  sich  dabei 
allemal  um  das  gleiche  Erlebnis  der  Befriedigung  handelt.  Und  ebenso 
sind  alle   diese  Varianten  irrelevant,   wenn   sie  als  unbefriedigend  erlebt 

^  In  diesem  Zusammenhange  ist  die  Hypothese  zu  erwähnen,  welche  die  homo- 
sexuale Abartung  au(f  Funktionsanomalien,  ja  geradezu  auf  die  Anwesenheit  von 
Zellelementen  des  anderen  Geschlechtstypiis  in  den  Keimdrüsen  des  Betreffenden 
beziehen  will.  Man  wird  sich  wohl,  einerseits  mit  Rücksicht  auf  die  klinische  Er- 
fahrung, die  nicht  gerade  zugunsten  der  konstitutionellen  Inversion  spricht,  andere-r- 
seits  mit  Rücksicht  auf  die  Schvwerigkeit  der  morphologischen  Differenzierung,  dieser 
Annahme  gegenüber  —  zmnindest  vorderhand  —  skeptisch  verhalten  müssen. 
Vgl.    S.    177. 


EINLEITUNG  339 


worden,  sei  es,  weil  sie  die  Sexiiah'nlspannunf:  iii<hl  zu  l)ewirkon  im- 
stande sind,  sei  os,  weil  sich  luil  ilmon  l\eue,  Vorwürfe,  BewußUciii 
der  Sünde,  der  Charakterschwäche  n.  dfrl.  verknüpfen.  Da  und  dort 
sU'lll  die  konkrete  Form  der  S<'xualbelätin;iinn^  nur  den  poriy)heren 
/Vnhuh  für  das  seelisclio  Geschehen  dar.  tli'ssen  Jiesonderheit  w<jhl  durchwegs 
von  <len    Ik'sonderheiten  jener  unal)hänpg  fr*'<h»chl  werden   darf. 

Bevor  nun  in  die  Erörtenmg:  der  einzehien,  oben  flüchtig  gekenn- 
zeichneten Spezialkapitel  eingegangen  werden  kann,  bedürfen  zwei  Fragen 
noch  einer  einigermaßen   ausführlichen   Erörterung. 

Dil'  erste  ist  diese:  Welche  Regungen  des  Seelenlebens  dürfen  wir 
überhaupt  als  sexuale  ansehen?  Diese  Frage  auf  zuwerfen  ist  so  müßig 
nicht,  wie  es  etwa  im  ersten  Augenblick  den  Anschein  haben  mag.  Denn 
wir  haben  einerseits  gesehen,  daß  zweifellos  psychosexuale  Erregungszu- 
stände unabhängig  von  den  sie  in  der  Regel  begleitenden  oder  mit  ihnen 
verknüpften  somatischen  Erscheinungen  vorkommen  können.  Ist  es  dabei 
schon  nicht  zweifelhaft,  daß  wir  es  mit  sexualen  Erlebnissen  zu  tun 
haben,  wenn  z.  B.  die  seelische  Erregung  fortdauert,  während  die  soma- 
tischen Phänomene  durch  periphere  Anästhesierung  unterbrochen  wurden, 
so  wäre  doch  die  Möglichkeit  nicht  von  der  Hand  zu  weLsen,  daß  psycho- 
sexuale ^'orgänge  überhaupt  ohne  jede  Beziehung  zu  körperlichen  ab- 
laufen könnten.  Nun  wird  bekanntlich  von  der  psychoanalytischen  Schule 
behauptet,  daß  durch  Verdrängung  und  Verschiebimg  Bewußtseinsphä- 
nomene ihres  bewußt-sexualen  Charakters  entkleidet  werden,  ohne  jedes 
Be^^-ußtsein  einer  Beziehung  auf  Sexuelles  erlebt  werden,  und  dennoch 
sexuale  Inhalte  darstellen  können.  Auch  der  Prozeß  der  Sublimierung, 
welcher  in  dem  gleichen  Lehrgebäude  eine  Rolle  spielt,  aber  auch  sonst 
vor  und  nach  dem  Auftreten  Freuds  in  verschiedener  Darstellung 
behauptet  wurde,  käme  hier  in  Betracht. 

Ja,  die  Frage  ist  noch  komplizierter.  Nicht  nur,  daß  sexual  nicht 
gefärbte  Erlebnisse  oder  die  ziunindest  nicht  als  solche  augenblicklich 
erlebt  werden,  vorkommen  können,  es  ist  auch  vielleicht  nicht  einmal 
zulässig,  alle  Erlebnisse,  die  mit  peripheren  oder  psychischen,  ausge- 
sprochen erotischen  Momenten  vergesellschaftet  auftreten,  ohne  weiteres 
als  der  geschlechtlichen  Sphäre  angehörend  aufzufassen.  Diese  Mög- 
lichkeit ist  insbesondere  angesichts  der  freihch  sehr  oft  ausgesprochen 
sexuell  gefärbten  Ausdrucks  weise  der  Mystiker  in  Erwägimg  zu  ziehen. 
Man  hat  sich  durch  diese  Erscheinung  dazu  verleiten  lassen,  die  mystische 
Ekstase  —  zumindest  vieler  Personen  —  ohne  weiteres  mit  sexualen 
Erregungen  zu  identifizieren.  Gewiß  könnte  jemand  höchstgradige 
sexuelle  Zustände  auch  nicht  anders  beschreiben  als  die  hl.  Therese 
von  Avila,  Heinrich  Seuse,  die  hl.  Mechthildis  von  Magdeburg  oder 
Rujsbroek  —  um  nur  einige  Namen  zu  nennen  —  ihre  Vereinigung 
mit  Gott  schildern.  Folgt  aber  daraus,  daß  die  mystische  Ekstase  ein 
sexuelles  Erlebnis  sei,  oder  auch  nur,  daß  sie  mit  der  Sexualsphäre  irgend- 
wie genetisch  zusammenhängt?  Das  ist  natürlich  schwer  zu  entscheiden. 
Ich    allerdings    möchte    mit    Scheler^    der   Ansicht    zuneigen,    daß   die 


1   Vgl.    den    Abschnitt    über    die    Liebe    w.    u. 
22« 


340  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Beantwortung  eher  verneinend  auszufallen  habe.  Nach  allem,  was  wir 
aus  den  Berichten  der  Mystiker  wissen,  ist  die  Ekstase  das  Erlebnis  der 
innigsten  und  vollkommensten  Vereinigung  eines  Ich  mit  einem  Du, 
des  Individuums  mit  Gott.  (Ob  es  dabei  tatsächlich,  wie  vielfach  an- 
genommen wird,  zu  einer  Aufhebung  des  Ich,  einer  Vernichtung,  einem 
,,Entwerden"  der  Individualität  kommt  oder  nicht,  ist  hier  nicht  zu 
erörtern.)  Der  Mensch  kennt  aber  in  seinem  gewöhnlichen  Erdendasein 
kein  Erlebnis,  das  an  dieses  der  mystischen  Ekstase  heranreichen  Avürde 
oder  ihm  auch  nur  qualitativ  nahe  stünde,  wenn  es  nicht  die  Vereinigung 
der  Geschlechter  im  sexualen  Liebesakt  ist.  Nichts  ist  daher  verständ- 
licher, als  daß  der  Versuch,  das  Unaussprechliche  der  „Vergottimg" 
doch  irgendwie  in  Menschenworte  zu  fassen,  in  eine  überschwengliche 
Verwendung  der  erotischen  Ausdrucksweise  auslaufen  mußte.  Und  an 
dieser  Auffassung  ändert  auch  die  Tatsache  nichts,  daß  der  eine  oder 
der  andere  unter  den  Mystikern  effektive  körperliche  sexuelle  Erregun- 
gen verspürte.  Schließlich  ist  nicht  nur  das  Wort  Ausdrucksmittel,  und 
dienen  nicht  nur  die  Sprechwerkzeuge  der  Konkretisierung  des  Erlebens, 
sondern  der  ganze  körperliche  Mensch  bildet  sozusagen  in  den  ihm 
eigenen  Möglichkeiten  die  seelischen  Vorgänge  ab.  So  scheint  mir  auch 
die  geschlechtliche  Erregung  des  Mystikers  nur  ein  Ausdrucks  mittel  für 
die  empfundene  Entzückung  zu  sein,  nicht  deren  Wesen  oder  deren 
Ursprung   irgendwie    zu    kennzeichnen. 

Abel'  auch  im  Bereiche  des  alltäglichen  Lebens  vermag  man  Beispiele 
dafür  zu  finden,  daß  gewisse  Erlebnisse  von  sexuellen  Begungen  imd 
Erregungen  begleitet  sein  können,  ohne  darum  selbst  sexueller  Natur 
oder  sexueller  Genese  zu  sein.  Einer  Kollegin  ist  aufgefallen,  daß  das 
Verhalten  vieler  junger  Menschen  bei  telepathischen  und  hypnotischen 
Schaustellungen  erotische  Züge  erkennen  lasse,  wodurch  sie  zu  der  An- 
nahme veranlaßt  wurde,  die  —  nicht  näher  zu  beschreibende,  aber  be- 
kannte —  eigentümliche  Stimmung,  Spannung  des  Auditoriums  bei  solchen 
Seancen  als  unmittelbar  der  Sexualsphäre  angehörend  zu  deuten.  Auch 
hier  glafube  ich,  daß  das  ein  voreiliger  Schluß  ist,  der  erst  durch 
irgendeinen  Beweis  erhärtet  werden  müßte. 

Wie  aber  diesen  Beweis  führen?  Phänomenologische  Analyse  reicht 
offenbar  hierzu  nicht  aus.  In  vielen  Fällen  mag  es  allerdings  gelingen, 
das  ursprüngliche  Phänomen  als  nicht  erotischer  Natur  von  der  sekundär 
hinzugetretenen  Sexualerregung  zu  sondern,  in  vielen  aber  auch  nicht. 
Bislang  wird  uns  nur  ein  einziger  Weg  als  gangbar  und  sicher  zum  Ziele 
führend  gepriesen,  das  ist  die  Psychoanalyse.  Ohne  im  mindesten  die 
bedeutsamen  Einsichten  in  Zusammenhänge  imd  Verlaufsweisen  zu  ver- 
kennen, welche  tms  durch  Freud  eröffnet  worden  sind,  scheint  mir 
dennoch  die  psychoanalytische  Methode  keineswegs  geeignet,  hier  weiter- 
zuhelfen. Erstens  deshalb,  weil  ich  —  was  ich  anderen  Ortes  ausführlich 
begründet  habe  —  gerade  gegen  die  Methode  eine  Beihe  grundsätzlicher 
Einwendungen  zu  erheben  mich  berechtigt  glaube  und  auch  der  Meinung 
bin,  daß  jene  wertvollen  Einsichten  gar  nicht  mit  Hilfe  dieser  Methode 
erlangt  wurden,  zweitens  aber,  weil  —  selbst  die  Berechtigung  unidi 
Leistvmgsfähigkeit  des   psychoanalytischen   Verfahrens    zugegeben   —   auf 


EINLEITUNG  341 


tlicsem  Wege  doch  mir  kausale  Abliäii^igkeiten  aufgedockt  werden  kön- 
nen, wir  abi'r  nicht  inslanti  ^'e>el/.l  werden,  über  die  Malur  eines  Erleb- 
nisses an    und   l'ür  sicli  etwas  auszusagen.- 

Ich  glauU  nicht.  dalS  es  möglich  ist,  in  jedem  konkreten  Falle  die  auf- 
geworfene Frage  zu  beantworten.  Wollen  wir  Sexualpsychologie  treiben, 
so  werden  wir  uns  zunächst  an  alle  jene  Vorkonmmisse  halten  müssen, 
dei-en  direkte  Beziehung  und  Zugehörigkeit  zur  Si'xuaisphäre  unmittel- 
bar fe*;tsteht.  Wir  werden  jene  Erlebnisse,  die  mit  sexuellen  Phänomenen 
vergesellschaftet  auftreten,  amnerken  und  als  mögliche  Gegenstände 
der  Sexualpsychologic  behandeln  dürfen,  wohl  aber  uns  eines  abschließen- 
den Urteils  über  ihre  sexuale  iSatur  und  Entstehungs weise  vorderhand 
enthalten  müssen.  Von  dieser  Stellungnahme,  glaube  ich,  können  uns 
mit  noch  so  großer  Sicherheit  vorgetragene  gegenteilige  Äußerungen 
nicht  abbringen.  Wenn  etwa  Novalis  den  Ausspruch  tat,  es  fließe 
die  mystische  Erotik  aus  Religion,  Wollust  und  Grausamkeit  zusammen, 
so  würde  das  erstens  noch  gar  nicht  besagen,  daß  er  damit  jegliche 
Mystik  schlechthin  charakterisieren  wollte,  wie  das  Eulenburg  (3/j)  an- 
zunehmen scheint,  und  zweitens  gründen  sich  vielfach  solche  Urteile  bei 
Dichtern,  Philosophen,  Psychologen,  Sexualforschern  auf  die  bloße  Kon- 
statierung des  Nebeneinander-  oder  MiteinanderAorkommens.  Keineswegs 
aber  auf -eine,  möglicherweise  gar  nicht  erreichbare  Einsicht  in  wesent- 
liche   Abhängigkeiten. 

Für  die  hier  geforderte  vorsichtige  Urteilsenthaltung  scheint  mir  noch 
ein  Moment  zu  sprechen.  Es  gibt  Individuen  oder  im  Leben  einzelner 
Individuen  ge\\isse  Perioden,  wo  nahezu  alles  eine  erotische  Tinktion 
annimmt.  Naturgenuß  und  Stillung  des  Hungers,  körperliche  Bewegung 
und  ästhetische  Erlebnisse  —  alles  ist  von  einer  erotischen  Nuance  durch- 
setzt. Soll  man  nun  wirklich  annehmen,  daß  alle  diese  Erlebnisse  tat- 
sächlich der  Sexualsphäre  angehören  oder  zumindest  mit  ihr  in  beson- 
ders intimer  W'eise  verknüpft  sind?  Oder  wäre  es  nicht  näherliegend, 
zu  sagen,  daß  die  Sexualsphäre  bei  solchen  Individuen  eben  besonders 
ansprechbar  sei  und  miterregt  werde,  wenn  irgendwo  und  irgendwie  Erleb- 
nisse ablaufen,  die  an  und  für  sich  nichts  mit  Sexualität  zu  tun 
haben?  Entschließt  man  sich  zu  der  ersten  .\imahme,  so  muß  die  Tat- 
sache, daß  die  gleichen  Erlebnisse  bei  anderen  Individuen  oder  bei  dem- 
selben zu  anderen  Zeiten  ohne  solche  sexuale  Tinktion  aufzutreten  ver- 
mögen, dazu  führen,  in  diesen  Fällen  eine  vollkonunenere  Umgestaltung 
des  ursprünglich  Sexualen  zu  der  betreffenden  Erlebnisart  zu  postulieren. 
Man  gelangt  dann  dazu,  letzten  Endes  alle  Triebe  und  Regungen  mit  dem 
Sexualen  zu  identifizieren,  etwa  im  Sinne  der  Libido-Theorie  von  G.  C. 
Jung  (62),  der  neuerdings  auch  Freud  selbst  zuzuneigen  scheint.  Damit 
verliert  aber  die  Sexualsphäre  ihr  Sonderdasein,  ihre  Regungen  werden 
gleichwertig  allen  suideren,  vielmehr,  um  die  tatsächlich  bestehenden, 
unmittelbar  einsichtigen  und  durch  keine  theoretische  Konstruktion  weg- 
zudisputierenden Unterschiede  aufrecht  zu  erhalten,  muß  die  Trennung  in 
einer  anderen  Ebene,  jenseits  der  Aufgabelung  des  Urtriebes  Libido 
in  seine  verschiedenen  Manifestationsweisen  vollzogen  werden.  Die  Theorie 
der  universalen   Libido  verliert  aber  dadurch   jeden   Erklärungswert  und 


342       ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

jeden  Werl  als  Grundlage  einer  Klassifikation;  sie  ist  nur  ein,  vielleicht 
gewisse  systematisierende,  theoretische  Bedürfnisse  befriedigender  letzter 
Beziehungspunkt,  nicht  aber  ein  Phänomenologie  und  Analyse  orien- 
tierendes  Prinzip. 

Eine  Einschränkung  ist  vielleicht  am  Platze.  Es  könnte  nämlich  sein, 
daß  in  der  Erinnerung  manche  Erlebnisse  sich  ihres  sexuellen  Charakters 
entledigen  und,  trotzdem  sie  ursprünglich  der  Sexualsphäre  entstammten 
oder  ihr  angehören,  der  Reflexion  als  ganz  fernestehend  imponieren.  In 
manchen  Fällen  wird  gewissenhafte  Introspektion  einen  solchen  Zusammen- 
hang aufzudecken  imstande  sein.  Dann  ist  natürlich  der  Zweifel  durch- 
aus zulässig,  ob  nicht  auch  andere,  dem  Bewußtsein  als  asexual  er- 
scheinende Vorkommnisse  nicht  doch  letzten  Endes  und  ihrem  tiefsten 
Wesen  nach  sexuale  Momente  enthalten  oder  in  der  Sexualität  gründen 
könnten.  Daß  dem  so  sei,  behauptet  ja  die  Psychoanalyse.  Nur  scheint 
mir  wiederum  kein  Weg  zur  Entscheidung  zu  führen.  Es  muß  aber 
diese  Möglichkeit  hervorgehoben  werden,  damit  klar  sei,  daß  der  Zweifel, 
die  Unmöglichkeit  der  Entscheidung  sich  nicht  nur  auf  den  angeblich 
sexuellen  Charakter  von  Erlebnissen  erstreckt,  bei  welchen  uns  ein  solcher 
Zusammenhang  nicht  unmittelbar  durchsichtig  wird,  sondern  ebenso  auf 
den  nicht  sexuellen  von  solchen,  die  von  uns  als  der  Sexualsphäre  ferne- 
stehend   unmittelbar  erlebt  werden. 

In  diesem  Zusanmienhange  ist  die  Frage  nach  den  Quellen  einer  Sexual- 
psychologie auf  zuwerfen.  Wie  jede  psychologische  Betrachtung,  orientiert 
sie  sich  vor  allem  an  introspektiven  Daten.  Sie  ergänzt  sie  aus  der 
Fremdbeobachtung,  zu  der  natürlich  dann  literarische  Produkte,  ethno- 
logisches und  kulturhistorisches  Material,  die  Erfahrungen  der  Psycho- 
pathologie hinzutreten.  Über  alle  diese  Dinge  sind  keine  Worte  zu  ver- 
lieren, mit  Ausnahme  der  Fremdbeobachtung,  insofeme  sie  es  nicht  mit 
Aussagen  dritter  Personen,  sondern  wirklich  nur  mit  der  Beobachtung 
des  Verhaltens   derselben  zu  tun  hat. 

Zweifellos  gibt  es  Verhaltungsweisen,  die  den  Schluß  auf  ihren  Zu- 
sammenhang mit  der  Sexualität  rechtfertigen.  Zwei  sich  küssende  junge 
Menschen  werden  allemal  erotischer  Beziehung  verdächtig  erscheinen 
dürfen,  wenn  wir  von  den  Fällen  von  Geschwisterzärtlichkeit  oder  der 
Formalität  etwa  des  Osterkusses  absehen.  Wobei  man  überdies  noch  die 
Frage  aufwerfen  könnte,  inwieweit  auffallende  Zärtlichkeit  zwischen 
Geschwistern  nicht  doch  einen  erotischen  Zug  besitze.  Dasselbe  gilt  von 
sichtlichen  Zeichen  der  Aufregung,  Freude  des  einen  beim  unerwarteten 
Anblick  des  anderen.  „Omnis  consuevit  amans  in  coamantis  aspectii 
pallescere",  sagt  der  um  1170  oder  1180  verfaßte  Liebeskodex  des 
Magisters  Andreas,  den  Stendhal  (no)  zitiert.  Es  sind  aber  doch 
eigentlich  in  diesen  wie  so  vielen  anderen,  leicht  auszumalenden  Fällen 
die  äußeren  Umstände,  welche  die  Affektäui^ning  zur  spezifischen,  als 
erotisch  zu  erkennenden  stigmatisieren.  An  und  für  sich  sind  es  Zeichen 
der  Aufregung,  des  Affektes  überhaupt,  die  erst  durch  die  besonderen 
Bedingungen  des  Auftretens  ihre  besondere  Bedeutung  erlangen.  Es  er- 
scheint fraglich,  ob  es  —  von  den  auf  die  Genitalzone  beschränkten 
Flrscheinungen     abgesehen     —     eindeutige     Ausdruckserscheinungen      des 


EINLEITUNG  343 


psychosoxuellen  ZusUuules  g^ibt.  Schliolilich  spricht  ja  auch  nur  eiiie 
gewisse  Wahrscheinlichkeit  dafür,  dalS  das  Verhalten  eines  Menschen, 
der  seufzt,  Sehnsucht  äußert,  traurig  oder  verzweifelt  usw.  ist,  Liebes- 
kummer Ix^leulet  —  anderer  Kummer,  anderes  Leiden  können  sich  gewiß 
in  gleicher    Weise  kundgeben. 

Man  muß  sich  angesichts  dieser  Schmerigkeit,  schon  beim  Erwachsenen, 
dessen  Seelenleben  uns  doch  viel  unmittelbarer  verständlich  und  zugäng- 
lich ist,  wundern,  mit  welcher  Sicherheit  manche  Autoren  kindliche 
Äußonmgen  als  solche  der  sexualen  Erregung  oder  Lust  auffassen.  Den 
Lehren  der  Psychoanalytiker  zufolge  ist  der  Ausdruck  eines  schnullenden 
Kindes  z.  B.  ohne  weiteres  dem  des  erotisch  genießenden  Erwachsenen 
gleichzusetzen.  Und  so  werden  eine  Reihe  anderer  kindlicher  Verhaltungs- 
wTeisen,  etwa  das  Hin-  und  Herschaukeln  des  Oberkörpers,  als  Akte  der 
infantilen  Sexualbetätigung  angesehen  —  Schlüsse,  die  mir  aus  den 
angeführten  Gründen  nichts  weniger  als  zwingend  erscheinen,  wovon 
noch  ausführlicher  die  Rede  sein  solL 

Elbensowenig  bin  ich  von  der  oft  gehörten  Behauptung  überzeugt,  daß 
(ho  hl.  Therese  des  Bernini  einfach  den  Zustand  erotischer  Hin- 
gabe darstelle.  Man  wird  die  äufJere  Ähnlichkeit,  ja  Identität  des  Aus- 
druckes zugeben  können,  ohne  darum  gezwomgen  zu  sein,  jene  Aufstel- 
lung zu  akzeptieren.  Außerdem  gilt  ja  auch  hier  die  oben  angestellte 
Überlegung:  gesetzt  den  Fall,  es  handle  sich  um  die  Darstellung  rein 
erotischer  Verzückung,  so  brauchte  deshalb  noch  immer  nicht,  weder 
in  Wirklichkeit,  noch  im  Geiste  des  schaffenden  Künstlers,  ein  Zusammen- 
fallen der  beiden  Ekstasen  stattgefunden  zu  haben.  Und  der  Pfeil,  mit 
dem  der  hinter  der  Gestalt  der  Heiligen  befindliche  Engel  gegen  ihr  Herz 
zielt  und  der  dem  Psychoanalytiker  die  sexuale  Interpretation  des  Kunst- 
werkes so  ungemein  erleichtert,  mag  schließlich  nichts  anderes  als  die 
Verkörperung  eines  Gleichnisses  sein,  das  nicht  mehr  sexuale  Bedeutung 
zu  haben  braucht  als  das,  welches  im  Stabat  mater  von  dem  das  Herz 
Marias   durchbohrenden    Schwerte   spricht. 

Die  zweite  Frage  ist  die  nach  den  Elementen,  aus  denen  die  Psycho- 
soxualität  sich  aufbaut  —  soweit  es  überhaupt  statthaft  ist,  von  Elementen 
im  Seelischen  zu  sprechen  —  und  von  der  Stellung  der  sexualen  Erleb- 
nisse in  der  Gesamtheit  des  Psychischen. 

Moll  (83)  hat  den  Geschlechtstrieb  in  zwei,  zwar  miteinander  meist  ver- 
gesellschaftete, aber  nicht  mit  zwingender  Notwendigkeit  verbundene 
Triebregungen  zerlegt.  Von  diesen  beiden  Trieben  nennt  er  den  einen 
Detumeszenztrieb,  jenen,  welcher  auf  die  Entledigung  des  Geschlechts- 
produktes drängt,  mid  den  anderen  Kontrektationstrieb,  dessen  Ziel  die 
innige  Berührung  mit  dem  Sexualobjekt  bildet.  Dieser  zunächst  biolo- 
gischen Zerlegung  sollen  auch  zwei  Momente  der  psychosexualen  Abläufe 
entsprechen.  Man  wird  dem  Detumeszenztrieb  eine  gewisse  nach  Lösung 
drängende  Spannung,  dem  Kontrektationstrieb  den  Wunsch  nach  An- 
näherung an,  Vereinigung  mit  dem  Sexualobjekt  an  die  Seite  stellen  dürfen. 
Eine  eingehendere  psychologische  Charakterisierung  soll  späterhin  ver- 
sucht werden. 


344  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Es  ist  indes  notwendig,  sich  schon  an  dieser  Stelle  mit  einer  anderen 
Lehre  vom  Aufbau  der  Sexualität  auseinanderzusetzen,  das  ist  die  wiederum 
von  Freud  (43)  inaugiu-ierte  Anschauung  von  den  den  eigentlichen  und 
endgültigen  Sexualtrieb  aufbauenden  „Partialtrieben".  Es  ist  diese  Er- 
örtenmg  um  so  notwendiger,  als  es  sich  bei  dieser  Lehre  nicht  um 
eine  biologische,  sondern  ausgesprochen  um  eine  psychologische  han- 
delt. Man  muß  sich  fragen,  welche  Gründe  für  die  Anerkenniuig  solcher 
Partialtriebe  als  real  vorkommender  Erlebnisse  oder  Seiten  von  Erleb- 
nissen sprechen,  ob  diese  Zerfällung  der  Sexualität  in  und  ihre  Entwick- 
lung aas  solchen  Partialtrieben  mehr  sei  als  eine  Andeutung,  eine  Fik- 
tion, und  wenn  das  nicht  der  Fall  sein  sollte,  welcher  der  heuristische 
und  Erklärungswert    dieser   Fiktion   etwa   sei. 

Als  derartige  Partialtriebe  bezeichnet  Freud  in  seinen  „Drei  Abhand- 
lungen zm*  Sexualtheorie":  den  Trieb  der  Schaulust  und  der  Exhibition 
und  den  aktiv  und  passiv  ausgebildeten  Trieb  zur  Grausamkeit  (a.  a.  O. 
S.  20).  Auch  diese  Partialtriebe  sollen  nichts  Primäres  sein,  sondern 
eine  weitere  Zerlegung  zulassen.  Man  wird  ohne  weiteres  zugeben,  daß 
die  genannten  Triebe  auch  im  normalen  Sexualleben  angetroffen  werden, 
daß  demselben  etwa  eine  bald  mehr,  bald  weniger  ausgesprochene  Aggres- 
sionstendenz eignet,  und  daß  die  Lust  am  Schmerze,  angetanem  und  er- 
littenem, durchaus  in  die  Breite  des  Normalen  fällt;  man  denke  etwa 
an  'die  genauen  Vorschriften  des  Kamasutram  hinsichtlich  des  Gebrauches 
der  Zähne  und  der  Nägel.  Ebenso  ist  ein  gewisser  exhibitionistischer 
Zug  anzuerkennen  (s.  w.  u.  über  die  Entkleidungsphantasien)  und  sicher- 
lich eine,  meist  sogar  deutliche  Schaulust.  Es  fragt  sich  aber,  ob  man 
berechtigt  ist,  diese  Momente  normaler  Sexualität  deshalb,  weil  sie  in 
manchen  Fällen  —  Perversionen,  Neurosen  —  manifest  oder  vielleicht 
maskiert  das  Übergewicht  erlangen,  das  Bild  der  Sexualität  beherrschen 
können,  als  „Partialtriebe"  anzusehen,  was  doch  schlechterdings  nichts 
anderes  besagen  kann,  als  daß  ihnen  eine  relative  Selbständigkeit  zuer- 
kannt w'erden  soll  und  daß  sie  daher  als  an  und  für  sich  relativ  un- 
abhängige Konstituentien  in  den  Gesamtsexualtrieb  eingehen.  Metho- 
dologisch ist  hierzu  anzumerken,  daß  diese  Lehre  aus  der  Beobachtung 
des  Abnormen  stammt,  hergeleitet  ist  aus  der  analytischen  Betrachtung 
der  Perversionen  einerseits,  der  Psychoneurosen  anderseits.  Wiewohl  nun 
niemand  bezweifeln  wird,  daß  die  Psychopathologie  außerordentlich  be- 
deutsame Aufklärungen  für  die  Erkenntnis  der  normalen  Seelenvorgänge 
liefern  kann  und  geliefert  hat,  so  darf  sie  doch  nicht  alleinige  Erkenntnis- 
quelle und  vielleicht  auch  nicht  Ausgangspunkt  sein.  Man  wird  m.  E. 
Scheler  (i6i)  recht  geben  müssen,  wenn  er  grundsätzlich  der  Psycho- 
analyse zum  Vorwurf  macht,  daß  sie  ihre  aus  der  Beobachtung  von 
pathologischem  oder  zumindest  abgeartetem  Material  her  abgeleiteten  Er- 
fahrungen und  Anschauungen  ohne  weiteres  auf  die  Verhältnisse  beim  Nor- 
maleai  glaubt  übertragen  zu  können.  Auf  alle  Fälle  müßten  derart  ge- 
wonnene Theoreme  den  Nachweis  ihrer  Gültigkeit  für  das  normale  Sexual- 
leben erbringen.  Die  Psychoanalyse  hat  diesen  Versuch  zwar  unternommen; 
aber  nicht,  indem  sie  durch  eine  Analyse  des  Gesimden  den  Bestand  gleicher 
Mechanismen,  Triebe  usw.  für  dessen  Sexualität  nachvries,  sondern    indem 


EINLEITUNG  345 


sie  gewisse,  sich  solcher  Krkläriuig  hieloiide  J:^rschoiiiuiigen  einlach 
auf  Grund  der  Krlahrun^-ii  am  I'athologiselien  inlerpretierle.  Icli  kann 
an  dies^'r  Stelle  uiunöglieli  auf  eine  Kritik  psychoanalytischer  MeÜiodik 
eingelien.  wiewohl  es  ei^'enlUch  erforderlich  wäre,  da  (he  nKxlerne  Sexual- 
forschun^  sich  vielfach  dej-selhen  Ix^lient,  und  gar  manche  Behauptung 
nur  durch  diese  Crt'iu'se  verstämllich  wird.  Einiges  wird  zwar  arüälilich 
der  Erörterung  über  die  etwaigen  Umgestaltungen  des  Sexualtriebes  und 
an  andcTtai  Stellen  noch  nachgetragen  werden  können,  doch  wird  auch 
dies  schlechterdings  fragmentarisch  bleiben  müssen,  \iellcicht  darf  hier 
auf  meine  anderen  Ortes  gegebene  Würdigung  psychoanalytischer  Melho- 
dou  und  Theorien  verwiesen  werden. 

Die  L*hre  von  den  Partial trieben  läßt  sich  also  vielleicht  in  Kürze 
folgendermafSen  formulieren.  Während  die  Sexualität  des  normalen  Er- 
wachsenen beherrscht  wird  von  der  spezifischen  Geschlechtsempfindung 
und  dem  mit  ihr  verquickten,  auf  sie  aufgebauten  Sexualaffekt,  sehen 
wir  beim  Kinde  nicht  nur  die  verschiedensten  Körperregionen  zu  Quellen 
sexualer  Lust  werden,  sondern  daneben  auch  eine  gewisse  Richtung  auf 
andere  Personen,  die  aber  natürlich  nicht  auf  das  normale  Sexualziel 
gehe»  kann,  sondern  sich  in  Gestalt  der  Schau-  und  Zeigelust  sowie  der 
Grausamkeil  äußert.  Von  diesen  Trieben  nun  heißt  es,  daß  sie  ,,in  ihre 
innigen  Beziehungen  zum  Sexualleben  erst  später  eintreten,  aber  schon  in 
den  Kinderjahren  als  zunächst  von  der  erogenen  Sexualtätigkeit  ge- 
sonderte, selbständige  Strebungen  bemerkbar  werden";  aber  auch,  „daß 
der  Schautrieb  beim  Kinde  als  spontane  Sexualäußerung  aufzutreten  ver- 
mag". Dagegen  soll  die  Entwicklung  der  ,, Grausamkeitskomponente  des 
Sexualtriebes"  eine  weit  größere  Unabhängigkeit  von  der  sonstigen,  an 
erogene  Zonen  gebundenen  Sexualbetätigung  erkennen  lassen,  wenn  auch 
hier  vorzeitige  Verschmelzungen  vorkämen.  Die  Sexualität  des  Erwachsenen 
faßt  nun  diese  relativ  unabhängigen  „Partialtriebe"  oder  „Kompo- 
nenten", die  genitalen  oder  erogenen  i.  e.  S.,  den  Schau-  bzw.  Zeige- 
trieb und  die  Grausamkeit  in  ein  einheitliches  Gebilde  zusammen, 
das  also  erst  aus  der  Verschmelzung  dieser  Komponenten  entsteht,  und 
innerhalb  dessen  diese,  je  nach  der  individuellen  Beschaffenheit,  am  deut- 
lichsten bei  den  Perversen,  mehr  oder  weniger  hervortreten. 

Sehen  wir  von  den  oben  angedeuteten  methodischen  Bedenken  ab,  und 
nehmen  wir  an, es  ließe  sich  das  beim  pathologischen  Materiale  aufzufindende 
Tatsächliche  auch  beim  normalen  aufzeigen,  so  bleibt  noch  immer  die  Frage 
nach  der  Berechtigung  der  Interpretation.  Deskriptiv  läßt  sich  doch  zunächst 
nur  feststellen,  daß  die  gegensätzlichen  Triebpaare  vorkommen  und  je  nach- 
dem das  Gesamtbild  der  psychosexualen  Beschaffenheit  eines  Individumns 
nuancieren.  Jede  Behauptung  von  ihrer  Sonderexistenz  und  konstitutiven 
Bedeutung  geht  natürlich  über  das  TaLsächliche  hinaus  und  ist  Theorem. 
Sie  kann  Anspruch  auf  Anerkennung  nur  dann  erheben,  wenn  sie 
in  sich  logisch  gerechtfertigt  ist  und  das  Tatsächliche  in  widerspruchs- 
freier und  für  weitere  Erkenntnis  brauchbarer  Weise  zu  ordnen  vermag, 
d.  h.  sie  muß  der  immanenten  Kritik  ebenso  wie  der  Konfrontierung 
mit  den  phänomenologischen  Tatsachen  standhalten.  Ich  glaube  nicht,  daß 
dies  der  Fall  ist.  Zunächst  wird  bei  dieser  Aufstellung  nämlich  die  grund- 


346  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

sätzlicho  Annahme  gemacht,  daß  der  Sexualtrieb  irgendwie  additiv  aus 
Einzelteilen  entstehen  könne;  daß  mit  dieser  Annahme  gewisse  prinzipielle 
Bedenken  wachgerufen  werden,  scheint  A.  Adler  (2)  bemerkt  zu  haben, 
da  or  sich  bewogen  sah,  für  das  Zusammentreten  der  Partialtriebe  zu 
dem  Ganzen  des  vollendeten  Sexualtriebes  den  Begriff  der  „Triebver- 
schränkung"  zu  schaffen,  um  offenbar  dadurch  eine  über  die  bloße 
Summation  nach  Analogie  des  Zusammenwirkens  physikalischer  Kräfte 
hinausgehende,  spezifische  und  Spezifisches  erzeugende  Verknüpfungs- 
art anzudeuten.  Die  Aufstellung  der  Lehre  von  den  Partialtrieben  gründet 
anscheinend  in  der  das  ganze  psychoanalytische  Theoriengebäude  durch- 
setzenden Grundannahme,  daß  das  Seelenleben  in  seiner  Gesetzlichkeit 
nach  Art  naturwissenschaftlicher  Erkenntnisweisen  erfaßt  werden  könne, 
daß  man  berechtigt  sei,  auch  hier  von  Kräften  zu  sprechen,  die  sich  zu- 
einander addieren  oder  voneinander  subtrahieren  lassen,  von  Mechanismen 
und  dergleichen,  die  gewissermaßen  isoliert,  herausgelöst  aus  der  Totalität 
des  Seelischen,  einer  Betrachtung  unterworfen  werden  können,  sowie 
etwa  die  Bewegungen  zweier  Massen,  so  sehr  sie  letzten  Endes  jeden  Augen- 
blick vom  Gesamtzustand©  des  Kosmos  determiniert  werden,  für  sich 
behandelt  werden  können.  G«wiß  wird  jede  wissenschaftliche  Psychologie 
den  jeweils  sie  interessierenden  Aspekt  seelischen  Geschehens  isolieren 
und  für  sich  betrachten;  daraus  folgt  aber  keineswegs,  daß  allemal  die 
MögKchkeit  additiver  Zusammensetzung  zum  Ganzen  angenommen  werden 
müßte.  Mit  solchen  Fragen  rührt  man,  ^vie  einzusehen,  an  die  letzten  Grund- 
lagen psychologischer  Forschung  überhaupt,  die  nicht  mehr  der  Psycho- 
logie, sondern  der  Theorie  der  Psychologie,  ihrer  Wissenschaftslehre, 
der  Erkenntnistheorie,  angehören,  und  eben  darum  hier  auch  nicht  zur 
Diskussion  stehen  können.  Es  sollte  nur  auf  diese  Gnmdannaiime 
hingewiesen  werden  und  auf  die  Notwendigkeit,  sie  vor  dem  Forulm 
der  Erkenntnistheorie  zu  rechtfertigen,  darauf,  daß  sie  nicht  ohne 
weiteres    Gültigkeit    beanspruchen    darf. 

Dagegen  ist  es  an  dieser  Stelle  wohl  gestattet,  die  Frage  nach  den  Be- 
ziehungen der  Lehre  von  den  Partialtrieben  zu  den  psychologischen  Tat- 
sachen aufzuwerfen.  Es  scheint  zweifellos  das  sexuale  Erleben  als  solches 
eine  Zerlegung  in  konstituierende  Faktoren  nicht  zuzulassen.  Die  ver- 
schiedenen Nuancen,  in  welchen  es  bei  verschiedenen  oder  auch  bei  ein 
und  demselben  Individuum  auftritt,  imponieren  eben  nur  als  Nuancen, 
als  qualitative  Varianten  einer  an  sich  stets  identischen  und  als  identisch 
stets  unmittelbar  erkannten  Tendenz,  nicht  aber  als  ein  Mehr  oder  Weniger 
von  dieser  oder  jener  Komponente.  Man  vrird  sogar  zweifeln  dürfen,  ob 
diese  Nuancierung  überhaupt  den  Kern  des  sexualen  Erlebens  selbst  trifft. 
Es  hat  den  Anschein  —  wovon  später  noch  mehr  zu  sagen  sein  wird  — , 
daß  die  Inhalte  dieses  Erlebens  zwar  die  verschiedensten  Gestalten  annehmen 
können,  daß,  in  der  sehr  treffenden  Terminologie  Freuds,  Sexualziel 
und  Sexualobjekt  weitgehend  wechseln  können,  daß  aber  jene  Momente, 
welche  dem  Erleben  die  Signatur  eben  des  Sexuellen  aufprägen,  sich 
allemal  gleichbleiben.  Erst  durch  die  ,, Verschränkung"  der  Schaulust, 
Schmerzlust  usw.  mit  diesem  in  sich  unveränderlichen  Sexualtrieb  er- 
langen die  genannten  Triebe  eine   Beziehung  zu  Sexuellem.   Sie  können 


EINLEITUNG  347 


also  für  sich  keine  Partialtriebe  der  Sexualität  sein;  denn,  um  diese 
Funktion  zu  erfüllen,  inüljte  ihnen,  unahhänjj^if^  von  ihrem  Zusammen- 
tix'ten  mit  dem  sexualen  Gruntltrieh,  eine  Beziehung  zur  Sexualsphäre 
innewohnen. 

Warum  letzten  Endes  diese  Partialtriebe  gerade  befähigt  sind,  Kompo- 
nenten des  schlielilifhen  Geschlechlstriebas  abzugehen,  wird,  soviel  ich 
sehen  kaim,  von  der  psychoanalytischen  'llieorie  nicht  ersichtlich  gemacht. 
Nur  eine  —  im  Abschnitte  über  die  Ontogenie  der  Sexualität  in  extenso 
aufzuführende  —  Stelle  in  den  Abhandlungen  Freuds  über  infantile 
Sexualtheorien  weist  darauf  hin,  daß  Freud  offenbar  der  erogenen 
Sexualtätigkeit  von  vorneherein  ein  Moment  der  Aggression  (das  Kind 
empfinde  einen  unbestinunten  Drang  zu  allerlei  aggressiven  Handlungen, 
so  auch  „ein  Loch  aufzureißen)  zuschreiben  will. 

Nimmt  man  nun  an,  es  sei  tatsächlich  solch  eine  Synthese  aus  Partial- 
trieben  in  irgendeiner  Weise  vorstellbar,  wogegen  ja  eben  schwere  Be- 
denken auftauchten,  so  mrd  man  immer  fragen  müssen,  ob  denn  mit 
der  Aufstellung  dieser  ,, Partialtriebe"  wirklich  etwas  gewonnen  ist,  vor 
allem,  ob  damit  ein  für  die  Sexualsphäre  irgend  charakteristisches  Merk- 
mal aufgefunden  sein  könnte,  das  sie  vor  sonstigen  Bereichen  seelischen 
Geschehens  auszeichnen,  abzusondern  gestatten  würde. 

Gerade  das  scheint  mir  aber  nicht  der  Fall  zu  sein.  So  bestechend  diese 
ganze  Theorie  zunächst  klingt,  so  gering  deucht  mich  bei  näherem 
Zusehen  ihr  Erklärungswert.  Geht  man  von  der  vollentwickelten  Sexuali- 
tät aus,  so  besagt  die  Lehre,  daß  Schau-  bzw.  Zeigelust  und  Aggressions- 
trieb bzw.  dessen  Negativ  in  den  Dienst  der  sexualen  Lustgewdnnung  ge- 
stellt werden.  Diese  Lustgewinnung  kann  normalerweise  nur  verwirklicht 
werden  durch  die  Inbezieh ungsetzung  mit  einem  zweiten  Individuum. 
Hat  es  nicht  den  .\nschein,  als  sei  die  Aufzählung  jener  konstituierenden 
Partialtriebe  mit  dem  eben  ausgesprochenen  Satz  durchaus  gleichbe- 
deutend? Denn  es  kann  doch  wohl  eine  Beziehung  zwischen  zwei  Indi- 
viduen kaum  anders  hergestellt  werden,  denn  durch  wechselseitige  Be- 
trachtung, wechselseitige  Berührung  und  Bewältigung.  Überhaupt  zu 
keinem  Gegenstande  der  Außenwelt  ist  auf  andere  Weise  eine  Beziehung 
zu  verwirklichen.  Es  heißt  dann  diese  ganze  Lehre  doch  nichts  anderes, 
als  daß  alle  jene  Verhaltungsweisen,  durch  die  sich  das  Individuum  der 
Welt  überhaupt  bemächtigt,  ihm  auch  bei  der  Bemächtigung  eines  zweiten 
Individuums  dienstbar  werden,  selbstverständlich  werden  müssen,  weil 
andere   Mittel   gar   nicht   zu    Gebote   stehen. 

Und  wenn  wir  hören,  daß  mit  der  Herstellung  des  P^jmates  der 
Genitalzone  diese  ,, Partialtriebe"  nunmehr  synthetisch  mit  dem  spezifisch 
erogenen  Triebe  verschmelzen,  so  kann  auch  diese  Behauptung  nur  den 
Sinn  haben,  daß  eine  neu  sich  geltend  machende  Richtung  der  Be- 
mächtigung in  vorhandenen,  früher  aber  natürlich  in  diesem  Sinne  noch 
nicht  verwerteten  —  denn  es  fehlte  das  Bezugszentrum  —  Verhaltungs- 
weisen gegenüber  der  Welt  im  allgemeinen  auch  diesem  neuen,  zumindest 
in  seiner  Eindeutigkeit  und  Stärke  neuen.  Triebe  zur  Verfügung  gestellt 
wird.     Letzten    Endes    scheint    also    die    Lehre    von     den    Parlial trieben 


348  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

nicht  mehr  zu  besagen  als  dieses:  daß  die  Bemächtigung  des  Welt- 
bestandteiles „^Vnderes  Individuum"  nach  dem  gleichen  Schema  versucht 
wird    vne  die  der  anderen  Weltbestandteile  auch. 

Vielleicht  klären  sich  diese  komplizierten  Verhältnisse  einigermaßen  —  ob- 
wohl sie  kaum  je,  sicherlich  nicht  auf  Grund  unserer  heutigen  Ein- 
sichten völlig  durchsichtig  werden  mögen  — ,  wenn  man  den  Sexual- 
trieb wirklich  phänomenologisch  so  gut  es  geht  zu  erfassen  tfachtet. 
Es  scheint  mir  hier  eine  Unterscheidung  möglich  zu  sein,  welche 
Stransky  (112)  einmal  in  bezug  auf  die  Angst  getroffen  hat. 
Stransky  nämlich  führt  aus,  daß  man  eine  „Angstempfindung"  unter- 
scheiden könne  von  dem  „Angstaffekt".  „Erstere  stellt  eine,  bzw.  besser 
gesagt,  eine  Gruppe  verwandter,  in  das  große  Gebiet  der  sogenannten 
Gemeinempfindungen,  speziell  zu  der  als  Organempfindungen  bezeich- 
neten Unterklasse  dieser  letzteren  gehöriger  Empfindungen  dar,  welche 
eine  charakteristische  spezifische  Färbung  besitzen."  Es  wdrd  darauf 
verwiesen,  daß  französische  Autoren,  so  vor  allem  Brissaud,  strenge 
„angoisse"  und  „anxiete"  auseinanderhalten,  femer,  daß  die  gleiche 
Scheidung  von  mehr  weniger  elementaren  Empfindungen  und  den  auf 
ihnen  sich  aufbauenden  affektiven  Zuständen  auch  anderweits  aufzeigbar 
sei,    so    beim    Schmerz,    beim    Ekel,    beim    Schwindel. 

Anal(^  dürfte  wohl  auch  innerhalb  der  Sphäre  sexualen  Erlebens 
zwischen  der  Geschlechtsempfindung  und  der  komplexen,  ihr  super- 
ponierten,  in  ihr  gründenden  Gesamtlage  psychischer  Sexualerregung 
unterschieden  werden  können.  Die  Sexualempfindung  braucht  dabei  übri- 
gens keineswegs  allein  als  Wahrnehmung  spezifisch  genitaler  Vorgänge 
angesehen  zu  werden,  wenn  auch  diese  —  selbstverständlich  —  in  der 
Regel  ausschlaggebend  sind. 

Wendet  man  diese,  nicht  rein  begriffliche,  sondern  m.  E.  im  Phäno- 
menalen unmittelbar  als  tatsächlich  zu  konstatierende  Scheidung  auf  die 
oben  beregte  Frage  nach  den  etwaigen  konstituierenden  Faktoren  der 
Sexualität  an,  so  scheint  sich  folgendes  sagen  zu  lassen.  Für  die  Ge- 
schlechtsempfindungen sind  Parüaltriebe,  welche  sie  konstituieren  sollen, 
wohl  nicht  denkbar.  Auch  die  Mollsche  Auseinanderlegung  in  Kon- 
trektations-  und  Detumeszenztrieb  kann  hier  nicht  gelten.  I)enn  offen- 
bar ist  die  Geschlechtsempfindung  diu'ch  diese  Triebe  nur  ausgelöst,  sie 
gehen  aber  —  glaube  ich  —  nicht  in  dieselbe  als  Erlebnis  ein.  Ja, 
im  Lichte  dieser  Gegenüberstellung:  Geschlechtsempfindimg  —  Geschlechts- 
affekt erscheinen  die  zwei  Grundtriebe  Molls  als  gar  nicht  ein  imd 
derselben  Sphäre  angehörend.  Denn  die  Organempfindungen,  welche  zur 
Detumeszenz  drängen,  sind  doch  wx)hl  nicht  mit  jenen  Neigungen  auf 
eine  Stufe  zu  stellen,  die  sich  als  Kontrektations-,  als  Berührungs trieb 
äußern.  Man  wäre  versucht  zu  sagen,  jene  tragen  zur  Geschlechtsempfin- 
dung, diese  zum  Sexualaffekt  l^i.  Die  Mollsche  Scheidung  ist  eben, 
wie  oben  schon  bemerkt,  wesentlich  eine  biologische,  keine  psychologische, 
d.  h.  es  entsprechen  ihr  zwar  differente  seelische  Abläufe,  aber  deren 
Unterscheidung  wird  durch  die  beiden  genannten  Begriffe  nicht  er- 
schöpfend und  nicht   in  ihrem   Wesen   getroffen. 


EINLEITUNG  349 


-Nur  ii)  (ItMi  Si'xualafIVkl  kiwiiilcn  solch»*  l^artiallriclx»  (Hii;2:('h»Mi.  Sio 
köiiiH'ii  sich  nicht  zu  ilini  v«M>cliräiikeii,  sondern  hck-hstens  mit  ihm, 
denn  er  ist.  wie  pesa^t,  die  Voraussetzung,  damit  die  Partialtrit»!x^  ühx'r- 
haupt  erst  eine  lieziehun^  auf  Se\uah\s  erlangen.  Nun  aber  scheint  mir 
die  Lehre  von  den  Partialtrieben  nichts  anderes  zu  sein,  als  eine  Aus- 
deutung des  TatlK^standcN.  dalS  Afi'ektziistände  weile  mid  wechselnde 
Bereiche  seelischen  Geschehens  sozusagen  an  sich  ziehen  und  durch- 
driniriMi  könncMi.  Also,  daß  die  Existenz  solcher  Nuancierungen  der 
Affeklauswirkung  keineswegs  eine  Eigentümlich  keil  des  Sexualaffektes 
sei.  Der  Ausdruck:  Auswirkung  wolle  nicht  mifiverstanden  werden.  Es 
ist  nicht  damit  die  Menge  der  konsekutiven  Phänomene  gemeint,  die» 
sich  an  einen  manifesten  Sexualaffekt  anschließen  oder  durch  ihn  be- 
dingt werden,  sondern  etwa  dieses:  der  sich  im  Laufe  des  Lebens  oder 
in  einem  einzelnen  Zeilpunkt  desselben  —  chronisch  oder  akut  sozu- 
sagen —  entfaltende  Sexualaffekt  zieht,  je  nach  Konstitution  und  Kon- 
stellation oder  Kondition  verschiedene  Bereiche  in  seine  Kreise,  durch- 
dringt sie  und  bedient  sich  ihrer  gewissermaßen,  um  sich  zu  verkörpern, 
natürlich  in  metaphorischem  Sinne'.  Die  Parlialtriebe  können  dem  Sexual- 
affekl  nur  das  Material  liefern,  in  dem  und  an  dem  er  sich  betätigen  und 
gestalten  soll,  nicht  aber  ihn  selbst  konstituieren. 

Ich  will  gerne  gestehen,  daß  diese  Frage  noch  weiterer  Vertiefung 
bedarf,  glaube  aber  nicht,  daß  unsere  tatsächlichen  Kenntnisse  dazu 
heute  ausreichen,  und  eine  daher  notwendigerweise  mehr  apriorische 
und  spekulative  Betrachtung  dürfte  hier  nicht  angezeigt  sein.  Wie  noch 
an  vielen  Punkten  muß  auch  hier  die  Diskussion  sich  mit  einem  nega- 
tiven Ergebnis  einstweilen  zufrieden  geben.  Übrigens  kommen  wir  darauf 
noch  zurück. 

Im  Anschluß  an  die  eben  gepflogenen  Erörterungen  ist  nun  noch  die 
letzte  Frage,  mit  der  sich  dieser  einleitende  Abschnitt  zu  befassen  hat, 
kurz  zu  erörtern,  die  Frage  nach  der  Stellung  der  Psychosexualität  inner- 
halb der  Gesamtheit  seelischen  Lebens.  Eben  wurde  angeführt,  daß 
die  Phänomene  der  Sexualität  sich  nach  zwei  Richtungen  scheiden  lassen, 
daß  man  /Vnlaß  hat,  eine  Sexualempfindung  neben  einem  komplexen 
psychischen  Gesamtzustand  anzunehmen,  welchen  man  wohl  ohne  weiteres 
als  Sexualaffekt  bezeichnen  darf.  Die  Sexualempfindung  ist  genetisch 
jedenfalls  an  gewisse  Organreize  gebunden,  an  Spontan  Veränderungen 
der  Organe,  wie  die  durch  die  Ansammlung  des  Keimdrüsensekretes 
gesetzt  werden  mögen,  und  an  Reize,  >vie  sie  durch  Berührungen  der 
erogenen  Zonen  bewirkt  werden.  Sicherlich  ist  aber  dieser  Weg  von 
der  Peripherie  zum  Zentrum  nicht  der  einzige,  auf  welchem  die  Sexual- 


1  Ich  möchte  nicht  unterlassen,  auf  eine  Verwandtschaft  dieses  Gedankenganges  mit 
solchen  der  Psychoanalyse  hinzuweisen;  man  könnte  hier  nämlich  an  die  ,, Traumarbeit" 
denken,  und  meinen,  sowie  dort  der  latente  Trauminhalt  das  Material  für  seine  mani- 
feste Gestaltung  wo  immer  herbezieht  (,,Tagesresle"),  so  werde  hier  einem  an  sich 
noch  gestaltlosen  Affekt  oder  Trieb  eine  Wirkung  ähnlicher  Art  zugeschrieben.  Ich 
glaube,  die  Analogie  ist  mehr  äußerlich.  Jedenfalls  will  es  hier  ein  ungefähre«  Bild, 
dort   eine   adäcpiate    Darstellung   konkreter    Vorgänge    sein. 


ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 


350 

ernnfindung  zustande  kommen  kann,  da  die  alltägliche  Erfahrung  lehrt, 
dafS  auch  die  umgekehrte  Richtung  durchaus  gangbar  ist,  daß  Vor- 
slelhmgcn  Phantasien,  sowie  Reize  anderer  Sinnesgebiete  die  Sexual- 
,'.„,,, findung  enUstchen  lassen  -  allerdings  offenbar  auf  dem  Umwege 
üIk'i-  die  peripheren  Mechanismen.  Man  ^^d^d  also  vielleicht  sagen  dürfen, 
dali  (li<'  Sexualempfindung  wesentlich  an  gewisse  somatische  Veränderungen 
geknüpft  sei,  welche  ihrerseits  teils  durch  periphere  Reize,  teils  durch 
psychische  Momente  hervorgerufen  werden  können.  Ob  es  Halluzina- 
tionen auf  diesem  Gebiete  gibt,  ist  schwer  zu  entscheiden.  Es  müßte 
ülHTiiaupt  erst  die  Vorfrage  Reantwortung  finden,  ob  halluzinatorische 
Ziisländc  dieser  Art  —  also  z.  R.  eine  halluzinatorische  Angstempfin- 
duiiij  —  vorkommen;  es  wäre  ja  denkbar,  daß  sich  bei  Fällen,  für  welche 
niaif  solches  anzunehmen  geneigt  wäre,  immer  vvieder  die  periphere 
Veränderung  nachweisen  oder  zumindest  wahrscheinlich  machen  ließe, 
bei  der  Angst  Veränderungen  des  Zirkulationsapparates  (vgl.  Rraun, 
Herz  und  Psyche),  bei  der  Sexualempfindung  Erregungen  der  genitalen 
und  der  ihr  funktional  angeordneten  Zonen.  Freilich  dürfte  sich  die 
Reweisführung  in  diesem  Punkte  recht  schwierig  gestalten.  Man  trifft 
zwar,  und  nicht  selten,  auf  Geisteskranke,  welche  über  absonderliche 
Sensationen  im  Rereiche  der  Geschlechtsorgane  klagen;  bekanntlich  sind 
solche  Äußerungen  von  Schizophrenen  häufig  zu  vernehmen.  Ich  ent- 
sinne mich  eines  solchen  Kranken,  welcher  während  der  körperlichen 
Untersuchung  angab,  jetzt  eben  werde  ilim  —  durch  einen  komplizierten 
Reeinflussungsapparat  seiner  Feinde,  mit  Hilfe  von  Strahlen  geheim- 
nisvoller Art  —  das  Glied  „verstört";  eine  sichtbare  Veränderung  am 
Genitale,  etwa  angedeutete  Erektion,  war  nicht  wahrzunehmen.  .Aber 
von  diesem  negativen  Refimde  bis  zur  Annahme  einer  Halluzination  ist 
doch  noch  ein  weiter  Weg. 

Was  nun  den  Sexualaffekt  anlangt,  so  ist  ja  seine  psychologische  Um- 
grenzung und  Reschreibung  Aufgabe  eines  besonderen  Abschnittes  der 
folgender.  Darstellung.  Hier  nur  soviel:  ohne  uns  auf  Regriffsbestim- 
mungeii  einzulassen,  ist  wohl  klar,  daß  dieser  Zustand  der  emotiven 
Sphäre  angehört  und  Affekt  genannt  werden  darf.  Er  teilt  mit  den 
sonstigen  Affekten  die  Eigentümlichkeit,  bei  einer  ge>vissen  Ausprägung 
sozusagen  die  Hegemonie  innerhalb  der  Seele  an  sich  zu  reißen,  alles 
andere,  was  inhaltlich  anderweitig  bestimmt  daneben  noch  etwa  abläuft, 
zu  durchdringen  und  zu  färben.  Mehr  als  irgendein  anderer  Affekt 
vermag  er  in  jenen  chronischen  Zustand  überzugehen,  den  man  Leiden- 
schaft nennt.  Es  rechtfertigt  sich  aber  die  besondere  Rehandlung  gerade 
dieses  einen  Affektes,  an  Stelle  einer  Einfügung  desselben  in  eine  Psycho- 
logie des  Affektlebens  überhaupt,  eben  dadurch,  daß  er  mehr  als  sonst 
einei'  sekundäre  affektive  Prozesse  hervorzurufen  vermag;  kaum  je  wird 
ein  anderes  affektives  Verhalten  Weiterungen  zeugen,  wie  es  die  Eifer- 
sucht, die  Leidenschaft  des  Dienens  u.  dgl.  sind;  kaum  je  auch  wird 
ein  anderer  Affekt  so  umgestaltend  auf  die  Gesamtpsyche  einwirken 
können,  wie  es  die  Geschlechtsliebe  tut.  Gewiß  kommt  das  vor:  Religion, 
Vaterlandsliebe,  poKtische  Überzeugungen  —  aber  wie  sehr  uns  die 
Affekte  der  Sexualität  als  Prototyp  imd  eigentliches  Gebiet  solcher  Ver- 


EINLEITUNG  351 


haltung>i weisen  erscheinen,  lehrt  doch  der  Umstand,  daß  wir  in  jenen 
anderen  Fällen  eben  von  „Läebe"  sprechen:  Liebe  zu  Gott,  zum  \ater- 
land,  zur  Sache. 

In  dieser  Einleitung  sei  noch  ein  Wort  über  die  gewälilte  Darstellung,  vornehmlich 
über  die  Verwertung  der  Literatur  angefügt.  Eine  wirkliche  Psychologie  der  Sexualität 
ist  kaum  zu  finden;  das  Beste  hat  wohl  Stendhal  (iio)  gesagt  in  seiner  aphori- 
stischen Weise.  EHe  wissenschaftliche  Literatur  ist  arm  an  brauchbaren  zusammen- 
fassenden und  Einzeldarstellungen.  Was  aus  der  Literatur  stammt  in  den  folgenden 
Ausführungen,  wird  der  Kundige  leicht  bemerken.  Unaufhörlich  Autoren  zu  zitieren, 
habe  ich  für  überflüssig  und  den  Gang  der  Darstellung  störend  erachtet.  Das  Literatur- 
verzeichnis ist  weit  davon  entfernt,  eine  Bibliographie  der  Sexualpsychologie,  ge- 
schweige der  Sexuologie  überhaupt  sein  zu  wollen.  Es  sind  Hinweise  auf  die  benützte 
Literatur  und  auf  jene  Arbeiten,  von  denen  aus  man  zu  weiterer  Orientierung  ge- 
langen kann.  Insbesondere  fehlt  die  sexualpathologische  Literatur  fast  völlig  —  aus 
Gründen,  die  sich  aus  den  späteren  Darlegungen  ergeben  werden  —  sowie  alles 
ethnologische  Material,  das,  interessant  an  sich,  zwar  über  Sitten  und  Gebräuche, 
nicht   aber    über    Seelisches   Aufschluß    gibt. 


DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSREIFEN 

Die  Geschlechtsempfindung,  d.  h.  die  Summe  aller  jener 
Sensationen,  welche  die  ausg-ebildete  oder  abortive  geschlechtliche  Er- 
regung mit  sich  bringt,  ist  nicht  zu  beschreiben.  Es  lassen  sich  einzelne 
Momente  an  ihr  wohl  angeben,  das  G«samterlebnis  aber  kann  nur  aufge- 
wiesen, nicht  beschrieben  werden.  Überdies  sind  die  dazu  vorliegenden 
Angaben  außerordentlich  mangelhaft  und  unpräzise.  Die  Betrachtung 
der  Sexualempfindimg  muß  deren  Anstieg,  Kulmination  und  Abklingen 
berücksichtigen.  In  allen  Stadien  findet  man  in  der  Geschlechtsempfin- 
dung neben  den  spezifisch  an  die  Geschlechtsorgane  gebundenen  Sensa- 
tionen eine  Reihe  weiterer,  die  doch  wohl  eine  gewisse  Scheidung  in 
primäre  und  sekundäre  auch  unmittelbar  für  das  Bewußtsein  des  Er- 
lebenden zulassen.  Sekundär  sind  z.  B.  die  Beschleunigung  der  Herz- 
tätigkeit,  eine   gewisse   muskuläre    Unruhe   u.    dgl. 

Die  spezifische  Organempfindung  kann  in  ilirem  Beginne  und  Anstiege 
am  ehesten  als  eine  Spannungsempfindung  gekennzeichnet  werden  von 
eigen tümKcher  Art.  Ihr  Zustandekommen  verlangt  nicht  imbedingt  die 
manifeste  Organveränderung  (Erektion),  indem  sie  zweifellos  derselben 
vorangehen  kann.  Wir  wissen,  daß  normalerweise  von  xmseren  Organen 
in  das  Zentrum  einströmende  Reize  nicht  zu  deutlich  unterschiedenen, 
wenn  überhaupt  zu  Empfindungen  "Anlaß  geben.  Die  „Organgefühle'" 
entstehen  erst  durch  —  normale  oder  pathologische  —  Zustandsänderungen 
oder  gelegentlich  durch  besondere  Hinwendung  der  Aufmerksamkeit  auf 
das  betreffende  Organ.  Sowohl  letztere  Einstellung  als  auch  mechanische 
Reizung,  Druck,  Berührung  erzeugen  irgendwelche  spezifische  Empfin- 
dungen an  den  Geschlechtsteilen.  Es  wäre  interessant  zu  wissen,  ob 
die  Spannungsempfindimg  bzw.  der  durch  sie  als  hervorstechendstes 
Merkmal  gekennzeichnete  Empfindungskomplex  der  beginnenden  .und 
ansteigenden  Sexualerregung  mit  diesen  Organempfindungen  irgendwie 
weeensverwandt  ist  oder  aus  ihnen  hervorgeht.  Dies  zu  entscheiden, 
bin  ich  indes  außerstande.  Wohl  niemals  erreicht  diese  Empfindung 
nennenswertere  Ausprägung,  ohne  von  den  spezifischen  Organveränderungen 
begleitet  zu  werben.  Mit  diesen  verbindet  sich  ein  Drang  nacsh  Lösung, 
nach  dem  Sexualziel,  der  aber  keineswegs  immer  zur  Krise  führen  muß. 

Was  den  Gefühlswert  dieser  Empfindungen  anlangt,  so  ist  zu  sagen, 
daß  die  Spannung  selbst  bereits  lustbebont  ist,  nicht  erst  deren  Lösung, 
daher  sie  auch  von  Individuen  aufgesucht  wird,  welche  sicherlich  von 
der  Unmöglichkeit  wdssen,  in  einer  gegebenen  Situation  die  Lösung  herbei- 
zuführen. Es  gibt  sogar  Menschen,  welcho  den  Lustwert  der  bloßen 
Erregung  über  den  der  Befriedigung  stellen.  Indes  verdient  angemerkt 
zu  werden,  daß  somatische  Erregungszustände  der  Genitalsphäre  —  aller- 
dings wohl  nur  in  pathologischen  Zuständen  —  vorkommen,  welche  ganz 


DIE  SEXUALITÄT  DKH   (iKSCHlJ-lCHT.SRKIFEN 353 

ohne  Luslf^^fühle,  ja  mit  ausgevsprocheiieri  (]uäliMi(lon  LnliLstf^erüliIiMi 
einhorf^M>luMi  (^l*ri;i|)i:>inu.s).  \  on  (liosen  Ausnahinrii  alxM*  al)geseh(Mi,  kr>niioii 
sich  l  iilusL'uionioule  aiicli  ilein  ErleJjcn  der  iiormahui  Scxualern^^'^uiig 
boiniischen.  Sokundäror  Natur,  wenn  es  sich  uni  Reaktionen  auf  die 
Erregung,  Gefühl  der  Schukl,  der  Sünde,  des  Inreinon  u.  dgl.  handelt, 
auch  dann,  wenn  die  Erregung  als  störend  eni[)fuiideti  wird,  als  Ah- 
lenkung  von  anderen  Erlebnissen;  primärer  Natur,  wenn  die  Spanining 
einen  gewissen  Grad,  ohne  die  Aussioht  auf  eine  Befriedigungsmöglich- 
keil, eiTeichl  hat,  obwohl  dadurch  die  Auswirkung  zumeist  nicht  auf- 
gehoben erscheint.  Darüber  hinaus  sdheint  es  aber,  dafS  eine  gewisse 
Unlustkomponente,  zumindest  bei  manchen  Menschen,  von  vorneherein 
mitgegeben  sei;  es  ist  ein  zugleich  lust-  und  unlustbetonter  Komplex, 
eine  luslvolle  Unlust,  unlustvolle  Lust.  Eine  Sonderung  ist  wohl  nicht 
möglich.  Die  Bedeutung  der  Unlustkomponente  für  den  Sexualaffekt 
konimt  noch  zur  Sprache.  Für  Forster  ist  die  Sexualspannung 
überhaupt  wesentlich  beunruhigend,  schmerzlich,  unlustbringend.  Ob 
zwischen  der  Geschlechtsempfindung  beim  Manne  und  bei  der  Frau  Unter- 
schiede bestehen,  ist  kaum  zu  sagen.  Man  wird  solche  wohl  schon  mit 
Rücksicht  auf  die  anatomischen  Verschiedenheiten  der  Organe  annehmen 
dürfen,  aber  kaum  irgendwie  präzisieren  können.  Eher  möglich  scheint 
es,  im  Bereiche  der  nicht  an  die  Grenitalsphäre  gebundenen  Empfindungen 
etwas    über    solche    geschlechtsbedingte    Differenzen    auszumachen. 

Diese  Be^leitphänomene  sind,  weil  sie  ohne  scharfe  Grenze  in  das  dunkle 
Chaos  der  „Gemeinempfindungen"  übergehen,  ebenfalls  schwer  zu  fassen, 
aul^rdem  an  keinen  anatomisch  definiten  Ort  gebunden.  Vielleicht  läßt 
sich  ein  eigenartiges  Haut-  und  möglicherweise  auch  Muskelgefühl  heraus- 
heben. Das  Hautgefühl  mag  mit  Blutverschiebungen  zusammenhängen, 
die  zmii  Teil  und  gelegentlich  in  Rötung  der  Gesichtshaut  deuthch  werden. 
Über  diese  Phänomene,  die  ja  an  und  für  sich  experimenteller  Analyse 
zugänglich  wären,  fehlen  begreiflicherwieise  genauere  Daten. 

Auch  die  Krisis,  die  Lösung  der  Sexualspannung,  ist  ein  spezifisch  ge- 
färbter Empfindungskomplex,  in  den  nicht  allein  lokal  ausgelöste,  sondern 
auch  den  ganzen  Körper  beteiligende  Sensationen  eingehen.  Hier  ist 
eine  genauere  Analyse  schon  darum  undurchführbar,  weil  in  diesem 
Augenblicke  eine  Selbstbeobachtung  wohl  ausgeschlossen,  aber  auch  die 
nachträgliche  Erinnerung  eine  nur  mangelhafte  ist.  Es  scheint  nicht,  daß 
im  Nachhinein  eine  wirkliche  Vergegenwärtigung  dieses  Erlebnisses  ge- 
länge; was  erinnert  wird,  ist  die  allgemeine  Quahtät,  wovon  beim  Sexual- 
affekt zu  handeln  sein  wird,  nicht  aber  deskriptiv  zu  fassende  Einzelheiten. 
Was  hier  etwa  gesagt  werden  könnte,  von  Dauer  des  Anstieges  und  des. 
Paroxysmus  usw.  gehört  mehr  der  Sexualphysiologie  an  als  dem  hier 
zu  erörternden  Themenkreise. 

Psychologisch  interessant,  aber  darum  nicht  minder  unverständlich  ist 
die  Tatsache  der  willensmäßigen  Beeinflußbarkeit,  der  Hemmung  nämUch 
der  eingetretenen  oder  im  Eintreten  begriffenen  Sexualerrogung.  Die- 
selbe gelingt  wohl  nur  in  noch  nicht  weitgehend  entwickelten  Stadien. 
In  der  Mehrzahl  der  Fälle  dürfte  sie  nach  dem  Schema  der  „Ablenkung" 
vollzogen    werden,    der    Hinwendung    an    andere    Gegenstände.     Es    gibt 

23    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


354  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

aber  auch  eine  in  ihrem  Mechanismus  ganz  unklai«,  direkte  wesentliche 
Unterdrückung.  Daß  andere  Affekte  von  hinlänglicher  Heftigkeit  die 
Sexualerregung  hemmen,  nicht  aufkommen  lassen  oder  koupieren,  ist 
mehr    weniger    selbstverständlich. 

Die  Anlässe  für  das  Auftreten  der  peripheren  Sexualerregung  und 
mit  ihr  der  Geschlechtsempfindung  sind  zweierlei.  Sie  sind  organische 
innere  und  äußere  —  nämlich  in  bezug  auf  die  somatische  Genital- 
sphäre betrachtet.  Innere  Anlässe  sind  die  im  Organ  selbst  sich  ab- 
spielenden Veränderungen,  also  Sekretansanunlung,  die  den  „Detumeszenz- 
trieb"  erwachen  läßt.  Äußere  Anlässe  in  diesem  Sinne  sind  alle  Sinnes- 
wahrnehmungen und  Phantasien,  welche  die  Sexualerregung  herbeiführen 
können,  ferner  die  Reizung  der  „erogenen  Zonen".  Unter  diesem  Begriff 
versteht  Freud  (/j3)  jede  Körperregion,  deren  Reizung  imstande  ist, 
die  Sexualerregung  aiiszulösen,  und  zwar  handelt  es  sich  dabei  eigentlich 
nur  um  taktile  Reize.  Denn  schließlich  ist  der  Anblick  etwa  einer 
„galanten"  Darstellung  auch  eine  Reizimg,  des  Auges,  wenn  man  will, 
oder  über  das  Auge  des  Gehirnes,  imd  man  müßte  also  auch  diese  Organe 
den  erogenen   Zonen  beizählen. 

Beim  Erwachsenen  fungieren  als  erogene  Zonen  vor  allem  die  Haut- 
und  Schleimhautpartien  der  Genitalorgane  selbst;  daneben  aber  eine 
Reihe  anderer  Hautpartien,  denen  teils  eine  ursprüngliche  besondere  Eig- 
nung in  dieser  Hinsicht  zugeschrieben  wird  oder  die  aus  individueller 
Veranlagung  oder  infolge  individueller  Erfahrung  diese  Eigenschaft  akqui- 
riert  haben.  Wir  kommen  auf  diese  Frage  anläßlich  der  Besprechung 
der  Ontogenie  der  Sexualität  noch  zurück,  wde  ^die  psychischen  Anlässe 
im  Abschnitte  über  Sexualaffekt  bzw.  über  erotische  Phantasien  zur 
Sprache  kommen  sollen. 

Die  durch  die  Reizung  der  erogenen  Zonen  erregte  Lustempfindung, 
welche  die  Phase  bis  zur  erreichten  Befriedigung  beherrscht,  bezeichnet 
Freud  als  „Vorlust"  im  Gegensatze  zu  der  eigentlichen  sexuellen  „Lust", 
welche  der  Krisis  entspringt. 

Die  Auslösung  der  sexualen  Erregung  kann  übrigens  auch  durch 
Muskeltätigkeit  erfolgen,  was  die  verschiedenen  erotischen  Tanzsitten  be- 
weisen. Alle  diese  Dinge  gehören  aber  schon  nicht  mehr  der  Psychologie 
an.  Ebenso  ist  hier  nicht  von  der  Art  der  erogenen  Reize  zu  sprechen 
—  Berührungen,  rhythmische,  streichelnde,  kitzelnde;  die  Bedeutung  der 
Schmerzreize  wird  später  zu   würdigen  sein. 

Die  Geschlechtsempfindung  endet  entweder  kritisch  oder  allmählich 
verklingend  ly tisch.  Letzteres  ist  der  Fall,  wenn  es  nicht  zur  Befriedi- 
gung gekommen  ist.  Es  bestehen  auch  hier  Unterschiede  zwischen  den 
beiden  Geschlechtern,  indem  anscheinend  auch  die  erreichte  Befriedigung 
bei  der  Frau  nicht  ein  völliges,  fast  momentanes  Sch\vinden  wde  beim 
Mann  mit  sich  bringen  muß. 

Über  die  Anspreclibarkeit  des  Erregungsmechanismus  der  spezifischen 
Geschlechtsempfindung  bei  Mann  und  Frau  gehen  die  Ansichten  noch 
inruner  auseinander.  \A'ährend  vom  Manne  die  leichte  Auslösbarkeit  der 
Erregung  bekannt  und  anerkannt  ist,  sehen  die  einen  Autoren  in  der 
Frau    ein    ebenso    oder    sogar    noch    leichter    erregbares    Wesen,    andere 


DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSREIFEN 355 

dagegeji  sdireiben  ihr  im  allgemeinen  eine  gelegentlich  bis  zur  ünerreg- 
barkeil,  Frigidität,  gesteigerte  Unlerein|»fiiitllichkeit  zu.  Für  die  Periode 
vor  dem  Eintreten  positiver  Sexualerfalirungen  scheint  es  richtig  zu  sein, 
dali  die  Genitalerregung  bei  der  Frau  eine  mehr  untergeordnete  Rolle 
spielt;  womit  keineswegrs  ihre  Asexualität  behauptet  wird.  Es  scheint 
weiter,  daß  viele  Frauen  die  Fähigkeit  zu  dieser  spezifischen  Erregung 
und  der  daraus  zu  gewinnenden  Lust  oder  Befriedigung  erst  allmählich 
nach  dem  ersten  Geschlechtsverkehr  akquirieren. 

Es  ist  aber  bei  der  zweifellos  sehr  verschiedenen  psychosexualen  Artung 
der  beiden  Geschlechter  schwer  zu  sagen,  ob  das  eine  oder  das  andere 
,, sinnlicher"  sei,  umsomehr,  als  ein  Kriterium  der  Bemessung  abgeht.  Man 
kann  die  Ansprechbarkeit  zugrunde  legen,  oder  aber  die  Leichtigkeit  der 
Befriedigung  oder  die  ^Viderstandsfähigkeit  bei  schon  aufgetretener  Sexual- 
erregung —  immer  wird  man  je  nach  der  Beurteilungsgrundlage  zu 
anderen  Elrgebnissen  gelangen.  Man  könnte  auch  von  der  Rolle,  welche 
die  Sexualität  im  Gesamtleben  des  Individuums  spielt,  ausgehen.  Aller- 
dings darf  man  sich  dabei  nicht  allein  auf  die  Geschlechtsempfindung 
beziehen,  sondern  auf  alle  damit  verbundenen  Phänomene,  den  Sexual- 
affekt und  die  Erotik,  daher  darüber  im  folgenden  erst  die  Rede  sein  soll. 

.\ls  Sexualaffekt  bezeichnen  wir  den  komplexen,  auf  der  Ge- 
schlechtsempfindung oder  dem  ihr  zugrunde  liegenden  zentralen  Er- 
regimgsprozesse  (vgl.  Einleitung)  aufgebauten  Zustand.  Er  ist  Ausdruck 
einer  Bereitschaft  zu  diesen  Verändenmgen  der  Seele  und  des  Körpers, 
dispositioneller  Grundlagen,  die  im  Kindesalter  angelegt  oder  sogar  schon 
wirksam,  ihre  volle  Bedeutung  erst  nach  der  Geschlechtsreife  erhalten. 
Diese  Dispositionen  klingen  auch  an,  ohne  daß  ein  ausgesprochener  Sexual- 
affekt i.  e.  S.  zustande  käme.  Vielleicht  darf  man  für  dies  An- 
klingen ohne  deutliche  Greschlechtsempfindung,  insbesondere  ohne  un- 
mittelbare Richtung  auf  die  Geschlechtsbefriedigung  im  Sexualakt  den 
Ausdruck  ,, Erotik"  reservieren,  wenn  er  auch  vielfach  und  so  auch  ge- 
legentlich von  uns  im  weiteren  Sinne  gebraucht  wird.  Die  Gesamtheit 
aller  Reaktionen  und  Reaktionsbereitschaften,  welche  mit  sexualen  Mo- 
menten in  Zusammenhang  stehen,  und  die  daraus  erwachsenden  Erleb- 
nisse bezeichnen  wir  als  Psychosexualität.  Auch  der  Sexualaffekt  zeigt 
ein  Stadium  des  Anwachsens,  eine  Kulmination  und  eine  Phase  des  Ver- 
klingens. 

Was  zunächst  die  Anlässe  für  das  Auftreten  des  Sexualaffektes  an- 
langt, so  gilt  hier  das  schon  oben  für  die  Geschlechtsempfindung  Ange- 
merkte. Es  kann  die  affektive  Seite  des  Gesamterlebens  zuerst  im  Vorder- 
gnmde  stehen  und  sich  daran  die  Entwicklung  der  somatischen  Erregung 
und  der  Sexualempfindung  schließen;  vielleicht  allerdings  liegt  es  so, 
daß  den  psychischen  Erscheinungen  fast  immer  eine  gewisse  somatische 
Komponente  zugeordnet  ist,  die  nur  unbemerkt  bleiben  kann  (s.  indes  das 
über  Kastraten  vorhin  Gesagte),  oder  aber  die  somatischen  Phänomene 
ziehen  die  psychisch-affektiven  nach  sich.  Im  allgemeinen  werden  wohl 
beide  Reihen  ziemlich  parallel  gehen. 

Sämtliche  Sinnesgebiete  können  Anlässe  für  den  Sexualaffekt  beistellen. 
Der  Anblick  des  Geschlechtspartners,  gewisser  Körperteile  desselben,  ge- 

23* 


356  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

wisser  Ausdruckserscheinungen  spielt  natürlich  die  Hauptrolle.  Daneben 
der  Anblick  von  Bildwerken,  die  mehr  oder  weniger  deutlich  auf  erotische 
Inhalte  hiowcisen,  Darstellungen  des  Nackten,  erotischer  Szenen  usw.  Der 
Mechanismus  ist  indes  in  diesen  beiden  Fällen  nicht  ganz  der  gleiche. 
Dor  Anblick  des  Sexualobjektes  —  ein  Ausdruck  Freuds  —  selbst 
wirkt  erregend  und  erzeugt  in  der  Regel  eine  auf  das  wahrgenommene 
Objekt  selbst  gerichtete  Begierde.  Nur  in  Ausnahmefällen,  wenn  die 
Psychosexualität  im  vornherein  schon  auf  ein  bestimmtes  Sexualobjekt 
eingestellt  ist,  kann  der  Anblick  eines  beliebigen  Objektes  ganz  oder  zu- 
mindest überwiegend  eine  auf  jenes  Objekt  gerichtete  Erregung  erzeugen. 
Dann  nähert  sich  dieser  Mechanismus  dem  im  zweiten  Falle  typisch 
wirksamen.  Denn  hier  kann  natürlich  die  sexuale  Erregung  sich  kaum 
auf  den  wahrgenommenen  Gegenstand  richten;  schwerlich  wird  die 
bildlich  dargestellte  Frau  als  solche  begehrt.  Es  gibt  allerdings  Ab- 
arluiigen  der  Sexualität,  welche  solches  möglich  machen,  etwa  Liebe 
zu  Statuen.  Insbesondere  in  den  Entwicklungsphasen  noch  ungerichteter 
Sexualität  (s.  w.  u.)  kann  solches  vorkommen  (vgl.  z.  B.  Heines 
Floren tinische  Nächte).  Die  Regel  dürfte  es  wohl  sein,  daß  der  Anblick 
solcher  Darstellungen  erst  durch  die  Verarbeitung,  Vorstellungsproduktion, 
Erzeugung  von  Phantasien  insbesondere,  durch  das  Sich-in-die-Situation- 
Hinein versetzen  erregend  wirkt  i.  Durch  die  Umsetzung  in  anschau- 
liche phantastische  Szenen   wirkt  auch  die  Lektüre  erotischer  Schriften. 

Gehörseindrücke  spielen  schon  eioe  weniger  bedeutsame  Rolle.  Es  gibt 
zwar  Menschen,  für  welche  der  Klang  einer  Stimme  unmittelbar  erotische 
Werte  besitzen  kann.  Daß  die  Stinmie  des  Geliebten  erregend  wirkt, 
ist  selbstverständlich  und  wohl  wesentlich  assoziativ  bedingt.  Nicht 
eigentlich  als  Gehörseindruck,  sondern  durch  den  akustisch  vermittelten 
und  in  der  Phantasie  des  Zuhörers  anschaulich  gestalteten  Inhalt  wirken 
Erzählungen  erotischer  Tendenz,  Zoten  u.  dgl.  Wiederum  inniger  ist 
die  Verknüpfung  zwischen  Geruch  und  Sexualität,  der  Hagen  (50) 
eine  eigene  Studie  gemdmet  hat.  Es  ist  bekannt,  daß  verschiedene  Ge- 
rüche des  menschlichen  Körpers  erregend  zu  wirken  vermögen.  Die  hier 
obwaltenden  individuellen  Differenzen  sind  beträchtliche.  Liepmann 
(78)  meint,  daß  das  Dekollete  der  Frauen  zumindest  teilweise  die  Be- 
deutung habe,  einem  Schornstein  gleich  die  Körpergerüche  zu  sammeln 
und  zu  leiten.  Neben  der  von  der  Haut  und  den  Schleimhäuten  pro- 
duzierten Riechstoffen  können  auch  andere,  teils  unmittelbar,  teils  assoziativ 
erotisch  erregend  wirken.  Damit  hängt  die  Verwendung  von  Parfüms 
zusammen.  Manchen  Pflanzengerüchen  wird  eine  spezifische  Wirkung 
in  diesem  Sinne  zugeschrieben  (eine  Bemerkung  dieser  Art  findet  sich 
z.  B.  in  O.  Mirbeaus  „Le  Jardin  des  supplices").  Assoziativ  vrirken 
natürlich  Gerüche,  die  eine  Erinnerung  an  irgendwelche  erotische  Szenen 
oder  Erlebnisse,  an  bestimmte  Personen  hervorrufen,  an  Zeiten  ge- 
steigerter  SexuaKtät  überhaupt. 

Auch  vom  Geschmack  läßt  sich  Ähnliches  aussagen.  Manche  Autoren 
glauben    in    der  erogenen   Wirkung    des   Kusses    oder    mancher    seiner 

'  So  wohl  auch  der  Anblick  des  Sexualverkehrs  dritter  Personen  untereinander. 


Dir:  SEXl  ALITÄT  DKR    C.KSCHLKCIITSHEIFKN 357 

Fomion  (Ziin^M'nku(i)  oin<*  pistalix^  KomjKtiK'iitr  annehinon  zu  sollen. 
Gewisse,  gelo^tMJÜich  vorkonmiende  (icpflo^^eiüieitcn,  etwa  wenn  der 
Mann  den  Wein  im  Kusse  aus  dem  Mundo  der  Gfliebten  schlürft, 
scheinen  in  der  Tat  dafür  zu  sprechen. 

Kinv  fjanz  boiontlere  Hedeulung  kommt  den  UiktiJen  Reizen  zu.  Von 
tier  biolSt'ii  li<>rülirung  bis  zur  innigen  Vereinigung  im  Geschlechtsakt 
sind  laklilo  lU'ize  \>irksam.  Wie  schon  bemerkt,  gibt  es  gewisse  Prä- 
iliJüktionsstelien  —  erogene  Zonen  — ,  in  erster  Linie  Haut  und  Schleim- 
haut der  Geschlechtsorgane,  die  Lippenschleimhaut,  die  Brustwarzen  usw. 
Mag  es  sich  hierbei  zum  Teil  um  physiologische  Be<linglheiten  handeln, 
so  spielen  doch  sicherlich  assoziative  Momente  daneben  eine  große 
Rolle.  Vor  allem  dieses:  die  Berührung  sonst  nicht  exponierter  Haut- 
partien durch  den  Geschlechtspartner  wirkt  als  eine  teilweise  Preisgabe 
des  Körpers  imd  so  als  Symbol  oder  Vorbild,  Vorspiel  der  Vereinigung 
erregend.  Daß  etwa  dem  KulS  auf  die  Handfläche  eine  größere  erotische 
Bedeutsamkeit  zugeschrieben  wird  als  dem  gemeinhin  üblichen  Hand- 
kuß mag  damit  zusammenhängen;  vielleicht  aber  auch  psychogenetische 
^^  urzeln  haben,  indem  die  Hohlhand  gegen  die  Außenwelt  relativ  ge- 
schützter ist  als  der  Handrücken.  Die  Art  der  Tastreize,  welche  er- 
regend wirken,  ist  sehr  verschieden.  Alle  erdenklichen  Formen  augen- 
blicklicher oder  wiederholter  oder  dauernder  Berührung  kommen  in  Be- 
tracht. Man  kann  sich  aus  dem  Kamasutiam  (io3)  einen  Katalog  zu- 
sammenstellen. Psychologisch  bieten  sie  kein  Interesse.  Höchstens  des 
Kitzels  wäre  zu  gedenken,  wenn  man  zu  einer  Deskription  des  dadurch 
be^^i^kten  Zustandes  vordringen  könnte,  die  mehr  aussagen  würde  als 
nur  die  Mischung  von  Unlust  und  Lust.  Auch  die  reizauslösenden  Ob- 
jekte sind  mannigfach.  Berührungen  mit  der  Hand,  den  Lippen,  größeren 
Hautpartien,  aber  auch  von  manchen  Stoffen,  Fellen  u.  dgl.  wirken 
erregend. 

Selbstverständlich  kommt  das  Hauptgewicht  dem  Vorstellungsleben  zu. 
!Nur  der  mehr  weniger  naiv  dahinlebende  Mensch  oder  jener,  der  seine 
Gedanken  absichtlich  von  der  Sexualsphäre  wegwendet,  wird  von  der 
somatogenen  Erregung  allein  überfallen  und  überrascht.  Schon  in  die 
erregende  Wirkung  der  Sinnesreize,  selbst  der  rein  körperlichen  Vorgängen 
so  nahestehenden  der  taktilen  Reihe,  mischen  sich,  wie  eben  ausgeführt, 
vorstellungsmäßige  Elemente.  Sie  herrschen  souverän  überall  dort,  wo 
Lektüre,  Erinnerung,  Phantasie  (vgl.  den  betr.  Abschnitt  w.  u.)  die  Er- 
regung herbeiführen. 

Die  Mannigfaltigkeit  der  Vorstellungen,  die  derart  wirksam  werden 
können,  ist  natürlich  nicht  auszuschöpfen.  Nicht  einmal  eine  Gruppierung 
erscheint  durchführbar.  Tatsächlich  kann  durch  assoziative  Verknüpfungen 
jede  Vorstellung  gelegentlich  für  diesen  oder  jenen  erogene  Bedeutung 
annehmen.  Es  seien  nur  zwei  Beispiele  größerer  Wichtigkeit  heraus- 
gegriffen. 

Allgemein  wird  anerkannt,  daß  der  Schönheit  eine  besondere  erogene 
Wirksamkeit  zukomme.  Nun  wechseln  die  Vorstellungen,  die  man  sich 
von  Schönheit  macht,  ungeheuerlich.  Was  gestern  als  schön  galt,  Avird 
heute  mißfallen;    was  bei  einem  Volke,  in  einem   Klima,  Avährend  einer 


358  \LLEIIS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Kulturepocho  gefiel,  findet  anderswo,  zu  anderen  Zeiten  keine  oder  nur 
absprechende  Beachtung.  Das  orientalische  weibliche  Schönheitsideal, 
wie  es  in  den  Versen  arabischer  Dichter,  in  Erzählungen  und  Märchen 
tausendfach  geschildert  wird,  stößt  uns  eher  ab.  Die  „Verschönerungen" 
des  Körpers,  in  denen  manche  Negerstämme  sich  gefallen,  sind  uns 
widerlich.  Auch  von  Mensch  zu  Mensch  wechselt  die  Meinung  über 
Schönheit.  Zwar  sind  wir  vorsichtig  geworden;  es  gibt  gewisse  Formen, 
die  wir  uns  schön  zu  nennen  gewöhnt  haben:  die  Formen  der  Antike, 
der  Renaissance.  So  pflegt  man  zu  hören:  Ja,  diese  Frauengestalt,  etwa 
die  mediceische  Venus,  ist  schön,  aber  nicht  mein  Fall.  Und  so  ist 
der  „Fall"  des  einen  schlank  und  knochig,  des  anderen  dicklich  und 
rund,  klein  oder  groß,  blond  oder  schwarz  usw.  Da  muß  man  denn 
fragen:  Ist  die  Schönheit  irgend  etwas  primär  dem  Objekte  Zugehöriges 
—  es  ist  immer  nur  von  Schönheit  als  erogener  Qualität  die  Rede  — 
oder  nennt  nicht  jeder  die  Gestalt  schön,  welche  ihn  sexual  zu  erregen 
vermag?  Diese  Anschauung  hat  viele  Vertreter  gefunden.  Insbesondere 
hat  man  wieder  einmal  auf  jenen  dunklen  „Genius  der  Art"  rekurriert, 
der  die  für  die  Fortpflanzung  tauglichsten  Partner  auf  dem  Umwege  des 
Gefallens  zusammenführe.  Es  dürfte  schwer  fallen,  hier  eine  Ent- 
scheidung zu  treffen.  Für  den  Erlebenden  jedenfalls  ist  dieser  Zusammen- 
hang nicht  gegeben.  Oftmals  fallen  auch  ästhetisches  Schönheitsideal  und 
erotischer  Erregungswert  auseinander.  Nicht  nur,  daß  gelegentlich  ein 
Sexualobjekt  auch  von  dem  Begehrenden  als  objektiv  häßlich,  aber 
begehrenswert  bezeichnet  wird,  es  gibt  auch  Menschen,  welche  ganz  kon- 
krete Einzelzüge  als  erotisch  für  sie  maßgebend  anzuführen  wissen, 
deren  Fehlen  die  auch  für  sie  schöne  Gestalt  eben  nur  als  schön  und 
nicht  als  mögliches  Sexualobjekt  erscheinen  läßt.  Dort  wo  Schönheit 
und  erogene  Qualität  sich  decken,  wird  die  Schönheit  als  auslösendes 
Moment  erlebt,  nicht  aber  so,  als  ob  sie  einer  gewissen  vorbereiteten 
Richtung  auf  bestimmt  geartete  Objekte  die  Erfüllung  brächte,  was 
doch  der  Fall  sein  müßte,  wenn  das  Subjekt  die  erogene  Qualität  als 
den  Schönheitseindruck  fundierend  erlebte.  Solcher  Zusammenhang  mag 
bestehen,  mag  stammesgeschichtlich  eine  Rolle  spielen  oder  gespielt  haben, 
aber  in  einer  außerbe wußten  Sphäre. 

Das  zweite  Moment,  das  zu  erwähnen  ist,  betrifft  das  Wissen  um  die 
fremde  Sexualerregung.  Dieses  Wissen  oder  diese  Wahrnehmung  be- 
inhaltet an  und  für  sich  für  viele  Menschen  einen  Lustwert.  Zum  TeU 
gründet  sich  darauf  Flirt  und  Koketterie  (s.  w.  u.).  Das  Faktum,  daß  man 
auf  einen  anderen  Menschen  erotisch  erregend  einwirke,  ist  geeignet,  die 
eigene  Erregimg  auszulösen.  Es  kann  aus  dieser  Art  der  Lustgewinnung 
eine  Abarlung  der  Sexualität  entstehen,  die  in  dem  betreffenden  Kapitel 
gewürdigt  werden  soll.  Daß  aber  auch  die  fremde  Erregung  abstoßend 
wirken  kann,  wenn  dem  betreffenden  Individuum  sonstige  erogene 
Qualitäten  abgehen  oder  es  sogar  negative  solche  an  sich  trägt,  bedarf 
nicht  erst  der  Hervorhebung.  Der  Mechanismus  dieser  erogenen  Wirkung 
ist  zumindest  in  manchen  Fällen  kein  ganz  einfacher.  Es  scheint  dabei 
wesentlich  ein  phantasiemäßiges  Einfühlen  vorzuliegen;  man  versetzt 
sich   in    die   Situation   des    Erregten  und   empfindet  seine  Erregung  mit 


DIE  SEXUALITÄT  DER   (lESCHLRCHTSREIFEX 359 

—  ein  Vorpaii^'.  dor  auch  sonst  bei  orolLschen  Phanta.sien  t  ino  Koll«'» 
spielt.  Hierin  drückt  sich  eine  gleich  genauer  zu  würdigende  jxdare 
Struktur  der  Sexualität  aus. 

Hierher  gehört  ferner  auch  die  assoziativ  l>edingte  erogene  Wirkung 
gewisser  (Jegonstände;  der  Liebende  trachtet  nach  dem  Handschuh, 
Haarband,  Taschenluch,  Strumpfband  der  Geliebten.  Man  hat  die  diesen 
(lOgenständen  anhaftende  erogene  Qualität  m.  E.  zu  Unrecht  mit  der  als 
Fetischismus  bezeichneten  sexualen  Abartung  in  Zusammenhang  gebracht. 
Alle  diese  Gegenstände  haben  für  den  Normalen  eine  symbolische  Bedeu- 
tung, aber  keinen  erotischen  Eigenwert.  Sexualobjekt  und  Sexualziel 
werden  an  ihrer  Hand,  aber  als  das  was  sie  sind,  vergegenwärtigt,  phanta- 
siert, während  —  wie  noch  auszuführen  sein  wird  —  für  den  Fetischisten 
sein  Fetisch  letztes  Sexualobjekt  ist^. 

Es  wäre  vielleicht  hier  am  Platze,  von  Kleidung,  Mode,  Schmuck  u.  dgl. 
zu  handeln.  Der  Hauptsache  nach  gehört  dieser  Punkt  wohl  mehr  in 
die  Ethnologie  und  Völkerpsychologie  als  hierher.  Darum  nur  einige 
wenige  Worte.  Es  ist  wohl  heute  als  sichergestellt  anzusehen,  daß  der 
primäre  Zweck  der  Kleidung  nicht  die  Verhüllung  der  erotisch  durch 
iliren  Anblick  erregenden  Körperpartien  war,  sondern  —  soweit  eine  Be- 
ziehung besteht  —  deren  Hervorhebung.  Einen  ausgesprochen  erotischen 
Wert  akquirierl  die  Kleidung  erst  dann,  wenn  die  Verhüllung  des 
Körpers  und  seiner  Formen  die  Regel  geworden  ist,  gleichgültig,  ob  aus 
klimatischer  Notwendigkeit  oder  aus  anderen  Gründen.  Dann  wirkt  die 
partieüe  Enthüllung,  indem  sie  der  Phantasie  Anhaltspunkte  gibt,  erregend. 
Nur  dadurch,  daß  sie  bald  mehr,  bald  weniger  vom  Körper  der  Frau 
preisgibt,  erlangt  die  Mode  erotische  Bedeutung.  Es  drückt  sich  übrigens 
auch  auf  diesem  Gebiete  der  noch  genauer  darzustellende  Unterschied 
in  der  Psychosexualität  der  beiden  (Jeschlechter  aus.  Nur  die  Mode 
der  Frau  zeigt  so  auffallende  Schwankungen.  Was  Mode  des  Mannes  ist, 
bedeutet  demgegenüber  recht  wenig.  Solche  Unterschiede,  wie  etwa  die 
Länge  der  weiblichen  Kleidung  von  gestern  und  heute,  wie  in  der  Tief© 
des  Dekolletes,  in  der  Betonung  der  Formen  oder  deren  Verschleierung 
durch  weite  und  enge  Kleider,  durch  hoch  gebundene  Gürtel  oder  losen 
Faltenwurf  usw.  gibt  es  dort  wohl  nicht.  Das  liegt  daran,  daß  die  Er- 
scheinung der  Frau  in  ihren  Einzelheiten  für  den  Mann  als  erogenes  Mo- 
ment mehr  bedeutet  als  die  Erscheinung  des  Mannes  für  die  Frau.  Auf  die 
spezielle  Psychologie  der  Mode  kann  natürlich  nicht  eingegangen  werden; 
vieles  Treffende  in  diesem  Punkte  hat  übrigens  G.  Simmel  (io6)  beige- 
bracht. .\ls  erogenes  Moment  kommt,  trotz  aller  dahingehenden  Behaup- 
tungen, nicht  in  Betracht  der  Fortpflanzungswille.  An  die  Erhaltung 
der  Art  denken  die  geschlechtlich  erregten  Menschen  doch  wohl  nicht. 
Ein  Fortpflanzungstrieb  als  Bewußtselnselement  gehört,  wie  das  schon 
Nietzsche  (91)  trefflich  ausgeführt,  in  den  Bereich  der  Mythologie.  Gewiß 
streben    oft    genug    Menschen    die    geschlechtliche    Vereinigung    an,    um 


1  Dies«    Verwechslung    findet    man    vielfach  bei    Freud.    R.    Müller.    Meisel-Heß   und 
vielen    anderen. 


360  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Kinder  zu  zeugen;  aber  das  einmal  zu  gebärende  Kind,  der  Gedanke 
daran,  ist  als  solcher  kein  erogen  wirksames  Moment. 

Man  muß  zwischen  einer  gerichteten  imd  einer  diffusen  Psychosexualität 
unterscheiden.  Die  eine  ist  auf  ein  bestimmtes  Sexualobjekt  oder  Zu- 
mindest doch  auf  einen  engen  Kreis  bestimmt  gearteter  Sexualobjekte 
eingestellt,  die  andere  strebt  nach  und  knüpft  sich  an  beliebige  Sexual- 
objekle.  Damit  die  gerichtete  Psychosexualität  bestehe,  ist  Liebe  in 
höherem  Sinne  keineswegs  notwendig.  Auch  durchaus  in  der  Sphäre 
des  Vitalen,  um  mit  Scheler  zu  reden  i,  verbleibende  Beziehungen  können 
einsinnig  gerichtet  sein.  Die  Richtung,  Einstellung,  ist  im  allgemeinen 
ein  Phänomen  späterer  Entwicklungsphasen  der  Sexualität;  diese  ist  in 
der  präpuberalen  Periode  und  den  unmittelbar  anschließenden  Jahren 
diffus,  sie  geht  auf  die  Gesamtheit  der  möglichen  Sexualobjekte  über- 
haupt. Diese  Unterscheidung,  die  mis  noch  mehrfach  beschäftigen  soll, 
wird  damit  auch  eine  Vertiefimg  erfahren. 

Hier  ist  zu  sagen,  daß  je  nach  Gerichtetsein  oder  Nicht-Gerichtetsein 
der  Sexualität  die  Anlässe  verschiedene  erogene  Wertigkeit  besitzen.  Für 
Cherubin  ist  jede  Frau  erregend.  Diese  Scheidung  deckt  sich  nicht  ganz  mit 
einer  Einteilung  nach  der  Intensität  der  Erregbarkeit,  deren  begriffliche 
Schwierigkeiten  schon  oben  gekennzeichnet  wurden.  Auf  diese,  sowie  die 
andere  hier  sich  aufdrängende  Frage  nach  etwaigen  Differenzen  zwischen 
Mann  und  Weib  in  der  Bewertung  der  erogenen  Motive  kann  erst  nach  Dar- 
stellung weiterer  Tatsachen  eine  —  gewiß  nur  versuchsweise  —  Antwort 
erteilt  werden. 

Der  durch  die  gekennzeichneten  Anlässe  ausgelöste  Sexualaffekt  stellt 
sich  dar,  einmal  als  ein  —  wie  die  Geschlechtsempfindung  —  lust-un- 
lustbetonter  Erregungszustand  von  Spannungscharakter,  der  nach  Lösung 
durch  bestimmte  Handlungen  drängt.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um 
bloße  Ausdrucks-  oder,  wenn  man  will,  Entladeerscheinungen,  wie  sie 
sonst  bei  vielerlei  Erregungen  vorkommen,  bei  Freude,  bei  Zorn.  Sondern 
die  Erfüllung  der  auf  Handlungen  drängenden  Tendenz  kann  nur  durch 
solche  eben  der  Sexualsphäre  geschehen.  Darin  liegt  das  Triebhafte. 
Vielleicht  ist  das  überhaupt  das  Wesen  des  Triebes  —  deskriptiv  gesehen  — , 
daß  er  eine  nur  durch  Handlungen  eines  bestimmten  Bereiches  zu  lösende 
Spannung  erzeugt.  Damit  ist  noch  keineswegs  gesagt,  daß  zugleich  auch 
schon  ein  Wissen  mn  die  Art  der  erfüllenden  Handlungen  bestehen  muß. 
Es  kann  in  der  individuellen  Entwicklung  schon  zum  Auftreten  ausge- 
sprochenen Sexualaffektes  kommen,  ohne  daß  das  Individuum  mit  dem- 
selben sozusagen  etwas  anzufangen  weiß;  es  wird  vielmehr  dadurch  nur 
beunruhigt,  gequält. 

Die  charakteristische  Spannung,  die  nach  Lösung  und  auf  Hand- 
lungen drängt,  kann,  muß  aber  nicht  als  Weiterbildung  und  Überbau 
der  Geschlechtsempfindung  erscheinen.  Sie  erschöpft  das  Wesen  des 
Sexualaffektes  nicht.  Zunächst  ist  der  Bereich  der  erfüllenden  Hand- 
lungen näher  zu  umschreiben.  Sie  umfaßt  nicht  nur  den  Sexualakt  i.  e.  S., 
sondern  auch  alles  das,  was  als  „Zärtlichkeit"  begriffen  wird.  U.  zw.  handelt 

1    Siehe  das  Kapitel   über  die  Liebe. 


DIE  SEXUAIJTvT  DER   r.[:SCHLJ:CHTSRKIFEN 36] 

es  sich  sowohl  um  ZärÜiclikeit,  wek'lio  onvicson,  wie  um  sohhc,  welche 
enipfan^'n  werden  will.  Es  tritt  darin  eine  auch  sonst  der  Sexualität 
eigentümliche  Bipolarität  zutage.  VVenii  auch  in  derselben  der  Drang 
nach  eii^Mier  B<^frie<iiguiig.  wenigstens  soweit  es  sich  um  den  eigentlichen 
G<^chkx'htsakt  handelt,  durchaus  im  Vordergrund  steht,  so  düri'te  ein 
danebt'ii  bestehender,  nach  Gtnvährung  d<'r  Befrie<ligung  an  den  Ge- 
schUxrhtspartner,  zumindest  der  Intention  nach,  kaum  mangeln.  Wo  es 
sich  nicht  mehr  ausschließlich  um  den  bloßen  Koitus  handcJt,  wo  mehr 
angestrebt  wird,  ist  diese  zwiefache  Richtung  allemal  deutlich  wahrzu- 
neiimon.  Ob  man  sie  nun  als  den  Ausdruck  eines  ursprünglichen  und 
korustitutiven  ,.Kontrektationstriebes"  auffaßt  oder  nicht,  ist  psychologisch 
ziemlich   irrelevant. 

Auch  an  dieser  Seite  des  Sexualaffektes  macht  sich  die  eigentümliche 
Lust-Unlust-Natur  aller  Sexualphänomene  bemerkbar.  Nicht  nur,  daß 
dem  Affekt  als  solchem  eine  derartige  ,, Ambivalenz"  (ein  Ausdruck 
Bleulers)  zukommt,  daß  je  nach  determinierenden  Momenten  bei  Abläufen 
derselben  Art  bald  die  Unlust-,  bald  die  Lustseite  mehr  heraustreten 
können,  sondern  es  werden  über  das  hinaus  sonst  ohne  weiteres  als 
unlusterregend  zu  wertende  Erlebnisse  aufgesucht:  Schmerz.  Es  besteht 
zwischen  Schmerz  und  Wollust  ein  intimer  Zusammenhang.  Dieses 
Aufsuchen  des  Schmerzes  im  Sexualaffekt,  die  erogene  W^irkung  und 
Bedeutung  der  Schmerzreize  zeigt  die  gleiche,  oben  charakterisierte  Bi- 
polarität. Denn  es  liegt  ein  erogener  Wert  ebensowohl  ini  Zufügen  wie 
im  Erdulden  der  Schmerzen,  woraus  die  als  Sadismus  und  Masochismus, 
aktive  und  passive  Algolagnie  bezeichneten  Abartungen  erwachsen.  Es 
ist  bemerkenswert,  daß  beide  Richtungen,  die  aktive  imd  die  passive, 
wie  in  den  abgearteten  Fällen  so  auch  beim  Normalen,  regelmäßig  in 
einem   Individuum   nebeneinander    angetroffen   werden. 

Es  wäre  zur  Not  verständlich,  oder  es  böte  sich  wenigstens  eine  Er- 
klärung dar,  wenn  das  aktive  Verhalten  Prärogativ  des  Mannes,  das  passive 
das  der  Frau  wäre.  Man  würde  dann  auf  die  —  auch  in  der  Phylogenese 
im  allgemeinen  bestehende  —  aggressive  Rolle  des  Mannes,  die  Über- 
wältigung der  Frau,  deren  Verletzung  beim  ersten  Geschlechtsverkehr 
einerseits,  auf  die  passive  Rolle  der  Frau,  deren  physiologische  ..Vulnera- 
bilität" (Liepmann  [78])  in  der  Menstruation,  beim  Koitus,  liei  der  Geburt 
andererseits  hinweisen  können.  Abgesehen  davon,  daß  solche  biologisch- 
stammesgeschichtliche  Erwägungen  einen  Einblick  in  die  hier  offenbar  be- 
stehenden wesenhaften  Zusammenhänge  zwischen  Sexuallust  und  Schmerz 
nicht  verschaffen  können,  sondern  nur  mehr  oder  weniger  befriedigende 
Konstruktionen  zur  genetischen  Erklärung  beizustellen  vermögen,  stimmt 
die  Voraussetzung  gar  nicht.  Es  ist  keineswegs  so,  daß  dem  Manne  eine 
überwiegende  Freude  am  Zufügen,  der  Frau  am  Erdulden  von  Schmerzen 
zukommen  würde.  Mag  noch  ersteres  vielfach  zutreffen,  so  ist  das 
zweite  sicherlich  falsch  —  übrigens  auch  phylogenetisch  nicht  zu  be- 
gründen, denn  auch  die  W^eibchen  beißen  die  Männchen  oder  fressen 
sie  gelegentlich  auch  ganz  auf.  Man  braucht  gar  nicht  sich  in  die 
Regionen  der  pathologischen  oder,  wie  ich  lieber  sagen  will,  abgearteten 


362  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Sexualität  zu  verirren,  um  sich  davon  zu  überzeugen.  (Vgl.  die  im 
Kapitel  über  die  Abartungen  angeführten  Stellen  aus  dem  Kamasutram.) 

Letzten  Endes  scheint  mir  hier  nichts  übrig  zu  bleiben,  als  die  Tat- 
sache dieser  Verknüpfung  schlicht  hinzunehmen  und  auf  ein  v^eiteres 
Verständnis  zu  verzichten.  Versuche,  hier  tiefer  zu  dringen,  führen  m.  E. 
auf  metaphysische  Fragestellungen,  zu  den  Problemen  des  Zusammen- 
hanges von  Sexualität  und  Tod,  Lust  und  Leiden  überhaupt,  die  zu 
erörtern   hier   offenbar   unangebracht   wäre. 

Zweifellos  bedeutet,  trotz  aller  Lust,  die  der  Sexualerregung  als  solcher 
anhaftet,  die  Hinausschiebimg  der  Befriedigung  neben  dem  Gewinn  an 
,  Vorlust"  auch  eine  Unlust.  Man  könnte  annehmen,  es  werde  diese  mit 
in  Kauf  genommen  der  zu  gewinnenden  Vorlust  wegen.  Es  ist  aber 
doch  nicht  so  einfach.  Erstens  kann  man  sich  kaum  denken,  daß 
sozusagen  eine  Lustbilanz  aufgestellt,  die  Unlust  gegen  die  Lust  abge- 
wogen, von  ihr  abgezogen  und  hingenommen  werde,  solange  noch  ein 
merkliches  Quantum  Lust  übrig  bleibe.  Diese  quantifizierende  Betrach- 
tungsweise, die  u.  a.  der  ganzen  psychoanalytischen  Theorie  zugrunde 
liegt,  ist  m.  E.  vollkommen  unzulässig.  Zweitens  aber  straft  die  phäno- 
menologische Analyse  diese  Behauptung  Lügen.  Es  gibt  natürlich  im 
Leben  Fälle  genug,  in  welchen  eine  Unlust  einer  Lust  zuliebe  hingenommen 
wird,  sei  es  eine  vorübergehende  um  der  zu  erwartenden  Lust  wUlen, 
sei  es  eine  gleichzeitig  bestehende,  mit  dem  lustbringenden  Erlebnis  innig 
verknüpfte,  etwa,  um  ein  ganz  triviales  Beispiel  zu  bringen,  wenn  beim 
Genuß  von  Gefrorenem  die  unangenehme,  oft  schmerzhafte  Kälte  um 
des  Wohlgeschmackes  willen  ertragen  wird.  Solche  Erlebnisse  sind  aber 
ganz  deutlich  von  dem  hier  in  Rede  stehenden  unterschieden.  Von  einem 
In-Kauf-Nehmen,  einem  Abwägen,  ist  hier  nichts  zu  merken.  Die  Unlust 
selbst  ist  —  man  kann  es  nicht  anders  ausdrücken,  so  paradox  es  auch 
klingen  mag   —  irgendwie  lustbringend. 

Es  durchzieht  diese  eigentümliche  Beschaffenheit  die  ganze  Sphäre 
sexualen  Erlebens  und  ist  vielleicht  ihr  allein  eigentümlich.  Es  scheint 
nicht,  daß  andere  Erlebensbereiche  eine  ähnliche  Struktur  aufzuweisen 
hätten.  Was  Bleuler  die  Ambivalenz  der  Affekte,  Erlebnisse  überhaupt 
nennt,  ist  eigentlich  eine  Möglichkeit;  jedes  Erlebnis  kann  positiven 
oder  negativen  Gefühlston  akquirieren.  Die  sexualen  Erlebnisse  sind, 
scheint  mir,  dadurch  ausgezeichnet,  das  in  ihnen  als  Erlebnissen,  konstitutiv, 
zugleich  Lust  und  Unlust  in  jener  eigenartigen  gegenseitigen  Durchdrin- 
gung vorkommen,  so  daß  die  Lust  unlustbringend,  die  Unlust  lustbringend 
ist,  ohne  daß  darum  die  eine  ihren  Charakter  als  Lust,  die  andere  den 
als  Unlust  verlöre.  Wir  stehen  hier  vor  letzten  phänomenalen  Tatbe- 
ständen, die  eine  weitere  Zergliederung  nicht  mehr  zuzulassen   scheinen. 

Man  gewinnt  so  den  Eindruck,  als  hebe  sich  die  Sexualität  aus  den 
übrigen  Erlebensbereichen  durch  eine  zweifache  Eigentümlichkeit  heraus, 
einmal  die  Bipolarität  des  aktiv-passiven  Verhaltens,  das 
andere  Mal  durch  die  Ambivalenz  des  Lust-Unlust-Cha- 
rakters. 

Noch  einmal  möchte  ich  hervorheben,  daß  es  mir  ganz  ferne  liegt 
und  ich  es  für  einen  argen  Irrtum  halte,  diese  wechselseitigen  Beziehungen 


DIE  SKXÜALITÄT  DER  GESCffl.KrilTSREIFEN 363 

irgeudwie  quantiUitiv  zu  inlorpnHiereii,  auch  wenn  mir  in  weilerer  Bo- 
handJuiig  dieser  Dinge  golegenüich  derarlige  Ausdrücke  enLschlüpien 
wertlen.  Ks  läßt  sich  dies  leider  so  wenig  umgehen,  wie  die  Benülzuiig 
räunilicluT  Ausdrücke  in  der  Beschreibung  des  Seelischen,  das  doch 
mit   Uüiimlichkeit   und  räumlichen   Größen  gewiß  nichts  gemein  hat. 

Zum  Begrit't'e  der  Ambivalenz  noch  eine  Erläuterung:  Für  IMeuler 
und  seine  iNachfolger  —  und  dazu  gehört  so  ziemlich  die  ganze  psycho- 
analytische Schule  —  bedeutet  Ambivalenz  die  Möglichkeit  der  Sexualität 
oder  der  mit  ihr  zusammenhängenden  Erlebnisse,  sowohl  mit  positivem 
als  mit  negativem  Vorzeichen  aufzutreten  i.  Etwa:  eine  bestimmte  Ver- 
bal tu  ngs  weise,  die  uns  an  gleichgültigen  Personen  auch  gleichgültig  läßt, 
höchstens  unangenehm  berührt,  erregt  an  der  geliebten  Person  geradezu 
Haß;  es  schlägt  sozusagen  die  Liebe  für  den  Augenblick  in  Haß  um. 
Man  pflegt  wohl  diese  Reaktion  rational  zu  begründen,  indem  man  sagt, 
gerade  von  der  geliebten  Person  hätte  man  ein  solches  Verhalten  am 
allerwenigsten  erwartet,  müsse  daher  um  so  enttäuschter,  um  so  ge- 
troffener sein.  Diese  Motivierung  ist  aber  doch  nur  eine  nachträgliche 
und  unstichhaltige,  wie  alle  Motivierungen  in  der  Liebessphäre  (s.  unten 
Abschnitt  über  Liebe).  Zunächst  ist  die  negative  Einstellung,  der  Haß 
da,  dem  dann  rationale  Motive  recht  unzulänglicher  Art  unterschoben 
werden.  Die  Möglichkeit  zu  solch  einer  Umkehrung  des  Vorzeichens  der 
Grefühlsbetonung  ist  eben  von  vornherein  mit  und  in  dem  ursprünghchen 
Erlebnis  gegeben.  Ich  verwende  indes  hier  den  Begriff  der  .\mbivalenz 
in  einem  etwas  weiteren  Sinne,  inso ferne  ich  nicht  nur  damit  eine  dyna- 
mische Möghchkeit,  sondern  einen  konkret  erlebbaren  Aspekt  der  Psycho- 
sexualität  bezeichnen  will.  Es  will  mir  nämlich  scheinen,  als  olj  in 
dem  psychosexualen  Erleben  selbst  die  beiden  Gefühlsrichtimgen  von 
entgegengesetztem  Vorzeichen  nebeneinander  herliefen,  als  ob  sozusagen 
der  Liebe  eine  gewisse  Menge  Haß  beigemengt  wäre,  oder  zumindest 
als  ob  man  immer  vmßte,  wissen  könnte,  wenn  man  nur  wollte,  daß 
die  Einstellung  gegen  die  geliebte  Person  auch  den  entgegengesetzten 
Gefühlston  annehmen  könnte.  Den  Unterschied  der  beiden  Begriffs- 
fassungen  zu  präzisieren,  mag  man  vielleicht  sagen,  daß  die  ßleulersche 
Fassung  das  transzendente,  dispositionelle  Moment  in  den  Vordergrund 
stellt,  während  hier  ein  erlebensimmanenter  Charakter  gemeint  wird. 

Man  kann  m.  E.  gar  nicht  daran  zweifeln,  daß  in  der  Tat  im  Erleben 
selbst  beide  Gefühlsrichtung'en  zu  koexistieren  vermögen,  daß  ein  Indi- 
viduum von  einem  anderen  zugleich  abgestoßen  und  angezogen  sein  kann, 
es  zugleich  lieben  und  hassen  —  eigenartige  affektive  Zwitterbildungen, 
welche  die  schöne  Literatur  weit  mehr  beschäftigt  haben  als  die 
Wissenschaft. 


1  Nicht  uninteressant  ist  es,  bei  La  Rochefoucauld  (69)  zu  lesen:  „Plus  Oft 
aime  une  maitresse,  plus  on  est  pres  de  la  häire.'^''  Und  bei  Nietzsche  (92): 
„Jede  große  Liebe  bringt  den  grausamen  Gedanken  mit  sich,  den  Gegenstand  der 
Liebe  zu  töten,  damit  er  ein  für  allemal  dem  frevelhaften  Spiele  des  Wechsels  ent;- 
rückt  sei:  denn  vor  dem  Wechsel  graut  der  Liebe  melir  als  vor  der  Vernichtung."  Mit 
der  Motivierung  wird  man  vielleicht  nicht  ganz  einverstanden  sein  können.  O,.  Wilde: 
„And  euch  man  kills  the  thing  he  loves  .  .  .  The  brave  man  does  U  with  the  sword,  the 
coward  with  a  kiss."    (C.  33.) 


354  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Zur  Psychologie  dieser  Gefühlszustände  ist  noch  anzumerken,  daß  auch 
hier  die  Rationalisierung  entstellend  einzugreifen  pflegt.  Ein  in  sich 
so  widerspruchsvolles  und  der  Logik  gemeinen  Denkens  widerstreitendes 
Erlebnis  wirkt  beunruhigend.  Der  Mensch  sucht  sich  „darüber  klar 
zu  werden",  d.  h.  das  Erlebnis  nach  Art  eines  Vorganges  der  Außenwelt 
in  einzelne  Momente  zu  zerlegen.  Dann  kommen  Gedankengänge  zu- 
stande, >vie  etwa  dieser:  ich  liebe  sie  dieser  oder  jener  Eigenschaften 
wegen,  obzwar  sie  andere,  mir  höchst  widerwärtige  an  sich  hat,  die 
mich  abstoßen.  Es  scheint  mir  dies  eine  ganz  falsche,  wenn  auch  natür- 
liche, in  unserem  ganzen  Denkhabitus  begründete  Auffassimg  zu  sein. 
Die  Zerteilung  einer  Individualität  in  Einzelzüge  ist  an  sich  eine  Unmög- 
lichkeit; sie  kann  so  wenig  zerlegt  werden,  als  sie  aus  Einzelteilen  additiv 
aufgebaut  werden  kann.  Aber  selbst  davon  abgesehen,  ist  der  Sachverhalt 
in  obiger  Aussage  durchaus  unrichtig  wiedergegeben.  Zuneigung  und  Ab- 
neigung richten  sich  nämlich  wesenhaft  gar  nicht  auf  einzelne,  bestimmte 
Eigenschaften,  sondern  auf  das  Ganze  der  Person.  Dieses  Ganze  wird 
zugleich  Gegenstand  der   Zuneigung  und  der  Abneigung. 

Ich  glaube,  daß  dies  ganz  allgemein  gültig  ist.  Auch  dann,  wenn 
ein  Mensch  sich  in  einen  ganz  bestimmten  Zug,  ein  bestimmtes  Merkmal 
einer  Person  verliebt,  oder  wenn  für  ihn  nur  Träger  eines  solchen  Merk- 
males überhaupt  als  Sexualobjekte  in  Betracht  kommen.  In  der  Literatur 
wird  als  extremer  Fall  dieser  Art  von  einem  Manne  berichtet,  dem  nur 
Frauen  mit  einem  Bein  begehrenswert  erschienen.  (Wiederum:  es  ist 
falsch,  diese  einseitige  Determiniertheit  der  Objektwahl  mit  dem  Feti- 
schismus zu  identifizieren,  aus  dem  oben  schon  angeführten  Grunde.) 
Deijn  auch  in  diesen  Fällen  geht  doch  das  Begehren  nicht  auf  das 
isolierte  Merkmal,  sondern  durch  dasselbe  hindiu'ch  auf  dessen  Träger. 

Im  Zusammenhange  mit  dieser  zweifachen  Dimensionierung  der  Sexuali- 
tät: Bipolarität  und  Ambivalenz  wäre  noch  einer  dritten  Dimension  zu 
gedenken,  nämlich  der  Bisexualität,  d.  h.  der  simultanen  Richtimg  sowohl 
auf  Objekte  des  anderen  wie  des  gleichen  Geschlechtes.  Da  indes  diese 
Frage  bei  der  Erörterung  der  Ontogenie  der  Sexualität  ausführlich  mrd 
behandelt  werden  müssen,  sei  hier,  um  Wiederholungen  zu  vermeiden, 
von  einem  weiteren  Eingehen  Abstand  genommen. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  der  Psychologie  der  sexualen  Krise, 
der  Spannungslösung  in  der  Sexualbefriedigung  zu,  so  stehen  wir,  wie 
natürlich,  vor  den  gleichen  Schwierigkeiten,  die  uns  schon  anläßlich  der 
Besprechung  der  Geschlechtsempfindung  begegneten.  In  ihrer  prägnan- 
testen Ausbildung  wird  man  den  Bewußtseinszustand  der  Krise  wohl  als 
eine  Art  Bewußtseinstrübung  oder  Bewußtseinsaufhebung  kennzeichnen 
können.  Nicht  umsonst  spricht  man  von  sexuellen  Ekstasen.  Wenn  über 
diesen  Augenblick  nicht  mehr  ausgesagt  werden  kann,  als  daß  er  von 
einem  höchst  intensiven,  spezifischen  Lustgefühl  ausgefüllt  werde,  so 
hegt  dies  kaum  an  einer  etwa  sich  geltend  machenden  Amnesie,  wie  sie 
ge\>-issen  pathologischen  Be\\-ußtseinstrübungen  zukommt,  sondern  vielmehr 
daran,  daß  dieses  Erlebnis  einer  begrifflichen  Erfassung,  einer  Heraus- 
hebung von  Einzelmomenten  essentiell  unzugänglich  ist.  Es  ist  ein 
Letztes,  das,  wie  etwa  die  Qualität  einer  Empfindimg,  das  Rotsein  einer 


DIE  SEXUALITÄT  DER   GESCHLECHTSREIFEN  365 


Farbe,  einer  weiteren  Analyse  sich  entzieht.  So  viel  ind<>s  scheint  sich 
sagen  zu  lassen,  daß  es  zu  einer  Aufhebung  de^  Ichbewufilseins  dabei 
nicht  kommt  ^  Gelegentlich  dahinzielende  Äuljerung<?n  dürften  mehr 
mela[)horisch    gemeint    sein. 

G€wiß  gibt  es  alle  Abstufungen  von  der  durchaus  bewußt  erlebt<iu 
Sexualbefriedigung  bis  zur  Ekstase.  Ganz  so,  wie  etwa  das  Caslillo  intcrior 
der  hl.  Therese  sieben  Stadien  (,, Wohnungen")  der  religiösen  I']ntwicklung 
kennt-.  Hier  wie  dort  wird  als  höchste  Beglückung  in  der  Kegel  wohl 
nur  die  wirkliche  Ekstase  empfunden.  Obwohl  es  Menschen  gii>t,  welche 
gegenteiliger  Ansicht  sind,  welche  dem  , »bewußten  GenielSen"  einen 
höheren  Beglückungswert  beimessen  als  dem  naiven  Sichhingeben  an 
den  Affekt.  Es  sind  das,  man  möchte  beinahe  sagen,  Weltanschauungs- 
fragen, grundsätzlich  differente  Stellungnahmen  dem  Leben  überhaupt 
gegenüber,  deren  Berechtigung  hier  gewiß  nicht  und  deren  Psychologie 
wohl  auch  nicht  zm*  Diskussion  stehen  kann. 

Soferne  es  zulässig  ist,  aus  diesen  Stadien  auf  dem  Wege  zur  Ekstase 
Schlüsse  auf  das  Erleben  in  dieser  selbst  zu  ziehen,  möchte  man  meinen, 
daß  die  oben  herausgestellten  Eigentümlichkeiten  der  Bipolarität  und 
Ambivalenz  auch  hier  noch  das  Erleben  durchsetzen.  Es  ist  aber  dieser 
Schluß  kein  sicherer.  Trotz  des  Bildes  der  Stufen,  die  zur  Ekstase 
hinanführen,  ist  diese  doch  etwas  essentiell  Neues;  und  es  ist  mehr  als 
fraglich,  ob  eine  Übertragung  von  Einsichten,  gewonnen  aus  jenen,  auf 
diese  zulässig  sei.  Vielleicht  liegt  gerade  darin  das  Beglückende,  daß 
die  Zwiespältigkeit  der  Sexualsituation  in  der  Ekstase  endlich  vollkommen 
aufgehoben  erscheint. 

Da  das  Vordringen  des  Sexualaffektes  wie  überhaupt  seine  zeitlichen 
Verhältnisse  bei  beiden  Geschlechtern  wesentliche  Unterschiede  aufzu- 
weisen scheinen,  dürfte  es  zweckmäßig  sein,  hier  eine  Erörterung  der 
psychosexualen  Differenzen  einzuschalten.  Es  ist  dies  jedoch 
nicht  möglich,  ohne  zuvor  den  Begriff  und  Tatsachenbereich  der  Erotik 
einer  Betrachtung  unterzogen  zu  haben. 

Der  Gebrauch  des  Wortes  Erotik  bei  den  Autoren  ist  ein  sehr  schwan- 
kender. Für  manche  ist  er  weiter  als  alle  anderen  und  umfaßt  alle 
Beziehungen  der  Geschlechter  überhaupt.  Andere  scheiden  aus  seinem 
Umfange  gerade  das  sexucde  Moment  aus.  So  Löwenfeld;  die  sexuelle 
Liebe  setzt  sich  ihm  zufolge  ,,auch  in  ihren  höchst  entwickelten  Formen 
nur  aus  drei  wesentlichen  Elementen  zusammen"  (als  ob  Liebe  sich 
überhaupt  ,, zusammensetzen"  würde;  vgl.  den  betreffenden  Abschnitt 
w.   u.)    und  zwar  aus: 


1  Ich  möchte  nicht  unterlassen  anzumerken,  daß  ich  auch  für  die  religiöse  Ekstasa 
das  Verschwinden  des  zentralen  Icherlebens  für  durchaus  unbewiesen  halte.  Die 
dahingehende  Auslegung  der  einschlägigen  Stellen  bei  den  verschiedenen  Mystikern  ist 
keineswegs  die  einzig  mögliche,  und  es  finden  sich  genug  solche,  welche  deutlich  im 
Sinne   meiner   Auffassung  sprechen. 

*  Mit  dieser  Parallelisierung  soll  selbstverständlich  der  m.  E.  sehr  oberflächlichen 
Identifizierung     von    Religion    und    Sexualität    in    keiner    Weise    Vorschub    geleistet    sein. 


366  ALLEKS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECiiTSLEBENS 

,,i.    Von  der  Sexualsphäre   aus  angeregten   (sinnlichen)   Triebelementen. 

2.  Gefühlen    der    Zuneigxing    für   das    Objekt    (Sympathiegefühlen    im 
Sinne  Forels). 

3.  Gefühlen   der   Achtung,   die  bis   zur   Verehrung,    Bewundenmg   und 
selbst   Vergötterung   sich   steigern   können"  i. 

,,Was  man  sonst  noch  in  dem  Gefühlskomplex  der  Liebe  gefunden 
haben  will,  hält  einer  strengen  Kritik  nicht  stand," 

Als  Erotik  stellt  nun  Löwenfeld  die  beiden  letzten  Elemente  der 
sinnlichen  Komponente  gegenüber.  Eine  Deutung  dieser  Erotik  als 
Subhjnierungsprodukt  der  Libido  sexualis  im  Sinne  der  psychoanalyti- 
schen Schule  lehnt  er  ab.  Die  Erotik  kann  „eine  selbständige  Existenz 
führen,  ohne  dabei  ihren  Zusammenhang  mit  der  Sexualität  zu  ver- 
leugnen". Ich  gestehe,  daß  mir  nicht  klar  geworden  ist,  wieso  diese 
Erotik  etwas  von  anderen  Sympathie-  und  Achtungsgefühlen  Unterschie- 
denes sein  soll.  Werden  diese  Erlebnisse  zur  Erotik  durch  die,  etwa 
zufällige  Verschmelzung  mit  der  SexuaUtät,  oder  sind  es  von  vornherein 
besondere  sexualnahe  Gefühle  —  dies  geht  nicht  klar  aus  Lövvenfelds 
Darstellung  hervor.  Nur  dies  ist  zu  entnehmen,  daß  für  ihn  die  Erotik 
keinen   unmittelbaren   Grund   in   der   Sexualsphäxe  zu   haben  scheint. 

Dagegen  ist  für  andere,  z.B.  für  M.  v.  Kemnitz  (63  a),  Erotik  gleichbe- 
deutend mit  einer  „Vergeistigung  der  Sexualität",  würde  also  gewisser- 
maßen zwischen  dem  reinen  sexualen  Begehren  und  seiner  Befriedigung 
und  den  Phänomenen  stehen,  die  wir  als  Liebe  in  höherem  Sinne  be- 
greifen   (s.    u.). 

Sieht  man  genauer  zu,  so  scheinen  alle  die  verschiedenen  Verwendungen 
des  Wortes  „Erotik"  doch  auf  eine  gemeinsame  Wm^zel  zurückzugehen. 
Erotik  heißen  offenbar  alle  jene  der  Sexualsphäre  angehörenden  oder 
ihr  irgendwie  zugeordneten  Verhaltungsweisen,  die  sich  durch  folgende 
Merkmale  kennzeichnen  lassen :  die  somatische  Sexualerregung  bleibt  unter 
einer  gewissen  Schwelle  und  die  damit  zusammenhängende  Be>vußtseins- 
trübung  im  Sexualaffekt  fehlt;  dadurch  ist  die  Möglichkeit  eines  be- 
wußten Genießens  der  Situation  geschaffen.  Nicht  nur  dieses,  sondern 
die  —  zumindest  zeitweise,  vorübergehende,  oder  aber  auch  dauernde  — 
Weg\Nendung  von  der  Ekstase  und  der  Suche  nach  ihr  läßt  eine  reichere 
Nüancierung  zu,  ein  Spiel  in  Halbtönen,  ein  Ruhen  in  Durchgangs- 
situationen. 

Diese  Attitüde  ist  jenem  erreichbarer,  dem  die  Sexualität  nicht  episoden- 
haft, und  darum  oft  vielleicht  um  so  zwingender,  in  sein  Alltagsleben  ein- 
bricht. Und  trotz  aller  individuellen  Varianten  und  aller  Übergänge, 
die   bei   beiden    Geschlechtern    angetroffen    werden  2,    ist    die    Erotik  die 

^  Als  außer  dem  Thema  liegejid  will  ich  die  Behauptung,  Achtungsgefühle  ver- 
möchten sich  bis  zur  Vergötterung  zu  steigern,  unerörtert  lassen,  aber  nicht  unwider- 
sprochen.    Achtung  und  Vergötterung  gehören  phänomenologisch  differen"ten  Sphären  an. 

2  Für  die  Frage,  inwieweit  die  psychosexualen  Geschlechtsdifferenzen  wirklich 
konstitutive  Merkmale  der  Geschlechter  überhaupt  darstellen  oder  inwieweit  sie  Pro- 
dukte des  jeweiligen  Kulturzustandes  sind,  scheinen  die  Untersuchungen  von  M.  Vaer- 
ting  (112  b)  von  großem  Belange  zu  sein.  Es  wird  in  dieser  Arbeit  die  These  ver- 
treten,   daß    ein    Vergleich    der    Psychologie    der    Geschlechter    nur    dann    statthaft    sei. 


DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSREIFEN 367 

Grundposition  dor  Frau.  Gewiß  ist  auch  die  weibliche  Natur  der  Eruption 
der  Si'xualitäl  fähig  oder  untorvvorlen.  AL>er  diese  Eruptionen  .sind  die 
eines  \  ulkans  in  einem  immer  glülienden  See  von  LkIvh;  die  des  Mannes 
durchbreclien  die  kalte  Granitkruste,  um  nach  beendetem  Auswurf  auf 
Zeiten   wieder   zu   versiesgen. 

Es  wäre  m.  E.  falscli,  wemi  man  —  was  so  oft  geschah  —  das  Wesen 
der  Frau  in  die  Sexualsphäre  derart  verlegen  würde,  gewissernialien 
als  sei  sie  von  einem  aulier  ihr  Stehenden,  dem  Sexuellen,  mehr  tlurch- 
tränkt.  Dem  Ursprung  dieses  eigentlich  doch  seltsamen  Gedankens, 
als  ob  Sexualität  und  Persönlichkeit  zweierlei  wären  und  diese  an  jener 
größeren  oder  geringeren  Anteil  haben  könnte,  wollen  wir  nicht  weiter 
nachhängen.  Noch  weniger  der  Überlegung,  ob  die  psychosexualen  Dif- 
ferenzen und  wie  sie  etwa  mit  biologischen  Eigentümlich  keilen  zu- 
sammenhängen, was  die  Phylogenese  uns  dazu  lehren  könnte,  welche  Be- 
deutung die  passive  Rolle  der  Frau  haben  mag  oder  die  von  Liep- 
mann  (78)  in  den  Vordergrund  gestellte  „Vulnerabilität",  die  sich  in  der 
A'erletzung  der  Eizelle  beim  Eindringen  der  Spermatozoen,  in  der  Blutung 
bei  der  Ablösung  des  Eies  aus  dem  Ovarium,  in  der  Laesion  des  Hymens 
beim  ersten  Geschlechtsverkehr,  den  Schmerzen  und  Schädigungen  der 
Geburl  ausdrücken  soll.  Alle  solche  Betrachtungen  biologischer  Art, 
die  in  der  Sexualpsychologie  in  dieser  oder  jener  Gestall  immer  wieder- 
kehren, können  doch  für  die  psychologische  Einsicht  wenig  beisteuern; 
sie  lehren  uns,  daß  zwischen  dem  somatischen  Schicksal  und  der  seelischen 
Entfaltung  irgendwelche,  zuweilen  recht  grobe  und  äußerlich  anmutende 
Parallelismen  oder  Zuordnungen  obwalten,  sie  lassen  uns  nicht  das 
Mindeste  der  seelischen  Strukturen  verstehen  und  erlauben  ims  auch 
eine  genetische  Erklärung  nur  dann,  wenn  wir  uns  auf  irgendeine  be- 
stimmte Form  der  Abhängigkeit  vorher  dogmatisch  festgelegt  haben.  Was 
die  Sexualpsychologie  braucht,  ist  Beschreibung  des  Geschehens  beim 
Manne  und  bei  der  Frau.  Und  gerade  hiermit  ist  es  nicht  gut  bestellt; 
nicht  nur  deshalb,  weil  Schamhaftigkeit  dem  Aussprechen  eine  Schranke 
setzt  und  weil  es  immer  noch  ein  geringeres  Opfer  scheint,  historisch 
sozusagen  eine  Ent^vicklung  zu  beschreiben,  als  über  das  Erleben  selbst 
eingehendere  Auskunft  zu  geben.  Daher  sind  alle  Selbstbekenntnisse 
beinahe  biographisch  und  nicht  phänomenologisch  orientiert.  Es  hat 
dies  aber  noch  den  Grund,  daß  jedem  Menschen  von  vornherein  sein 
Erleben  als  das  Erleben  schlechthin  gUt,  er  gar  nicht  auf  den  Gedanken 
verfällt,  es  möchte  ein  anderer  unter  dem  gleichen  Worte  etwas  anderes 
verstehen,  in  der  gleichen  Situation  anders  empfinden.  Gilt  dies  schon 
für  die  Psychologie  überhaupt  —  ich  erinnere  daran,  daß  z.  B.  S.  Stricker 

wenn  gleiche  oder  äquivalente  soziale  Zustände  zugrunde  gelegt  würden.  Man  könne 
also  nur  vergleichen  die  herrschende  Frau  —  im  Frauenstaat  —  mit  dem  herrschenden 
Manne  —  im  Männerstaat,  dem  heutzutage  nahezu  alle  staatlichen  Bildungen  ange- 
hören — ,  umgekelirt  die  jeweils  hörigen  Geschlechter.  Das  ,, schwache"  Geschlecht 
zu  sein,  sei  nicht  konstitutive  Eigentümlichkeit  der  Frau  schlechthin,  sondern  Ausdruck 
ihrer  Hörigkeit,  denn  im  Frauenstaat  kämen  dem  Manne  die  entsprechenden  Merk- 
male zu  (übrigens  auch  körperliche,  nicht  nur  seelische).  Hält  —  was  zu  beurteilen 
nicht  Sache  des  Psychologen  sein  kann  —  das  historische  und  ethnologisclie  Material 
der    Kritik    stand,    so    wäre    allerdings    ein    sehr    bedeutsamer    Gesichtspunkt    gewonnen  _ 


368  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

aus  der  Selbsterfahrung  heraus  ohne  weiteres  annahm,  es  seien  die 
Sprachvorstellungen,  nicht  nur  seine,  schlechthin  motorische  Phänomene — , 
gilt  es  um  so  mehr  für  die  Sexualsphäre,  deren  Erlebnisse  ihrer  Mehr- 
heit nach  sich  einer  besonderen  Ichnäh©  erfreuen,  und  daher  gar  nicht 
für  die  Reflexion  Gegenstand  werden  im  Ursinne  des  Wortes:  sie  stehen 
dem   Ich   nicht   gegenüber,  sondern   in  ihm   darin. 

Zu  solchen  allgemein  psychologischen  Gründen,  welche  eine  Schil- 
derung der  psych osexualen  Geschlechtsdifferenzen  immer  mehr  weniger 
an  der  Oberfläche  tasten  lassen,  tritt  noch  der  Umstand,  daß  unsere 
Wertmaßstäbe  und  damit  die  Gesichtspunkte,  unter  denen  wir  an  die 
Beurteilung  dieser  Fragen  herantreten,  von  vornherein  nach  dem  Schema 
des  männlichen  Prinzips  gewonnen  sind.  (Vgl.  Simmel  [io6],  der 
diese  Besonderheit  unserer  Gesamtmentalität  scharf  herausgearbeitet  hat, 
übrigens  mit  das  Entscheidendste  zum  Problem  der  psychischen  Ge- 
schlechtsunterscliiede  beibringt.) 

Die  psychosexualen  Differenzeni  machen  sich  in  zwei  Hauptrich- 
tungen geltend,  in  der  Art  des  sexualen  Erlebens  selbst  tmd  in  der 
Stellung,  die  das  Individmmi  zu  seinen  sexualen  Erlebnissen  imd  der 
Sexualität  überhaupt  einnimmt;  welche  zwei  Richtmigen  freilich  nicht 
von  einander  zu  sondern  sind.  Was  das  erstere  anlangt,  so  besteht 
hier  zunächst  ein,  jedenfalls  in  physiologischen  Mechanismen  gegrün- 
deter, Unterschied  in  der  Axt  des  Auftretens  sexueller  Regungen.  Es 
handelt  sich  nicht  um  die  Ontogenie  bis  zur  Pubertät,  der  der  folgende 
Abschnitt  gewidmet  ist,  sondern  um  das  Verhalten  der  Sexualität  nach 
erlangter  Geschlechtsreife.  Da  scheint  es  denn,  als  ob  bei  Mädchen, 
welchen  äußere  Momente  —  Verführung  u.  dgl.  —  keinen  Anstoß  zum 
Erwachen  spezifisch  sexualer  Regungen  gegeben  haben,  in  der  Tat  die 
Sexuahtäl  i.  e.  S.,  sohin  auch  die  Geschlechtsempfindimg  fehlen  könne. 
Erst  das  konkrete  sexuale  Erlebnis  läßt  akut  oder  chronisch  die  eigentliche 
Sexualität  erstehen.  Bis  dahin  ist  das  Mädchen  freilich  nicht  geschlechts- 
los; aber  ihre  Sexualität  tritt  nicht  als  solche  in  das  Bewoißtsein;  sie  lebt 
in  einer,  allerdings  der  Sexualsphäre  angehörenden  Erotik  ohne  spezi- 
fische Sexualerfahrung.  Dies  kann  bei  aller  , .Aufklärung"  der  Fall  sein; 
das  theoretische  Wissen  trägt  zur  Entfaltung  des  spezifischen  .Sexuallebens 
nicht  unbedingt  bei.  G^wiß  ist  dieser  Verlauf  ein  Grenzfall,  aber  anschei- 
nend kein  so  selten  verwirklichter.  An  dieser  Entwicklungsweise  hängt 
offenbar,  daß  der  erste  Geschlechtsverkehr,  die  Brautnacht,  so  oft  als 
schweres   Trauma    wdrken   kann. 

Das  schließt  nicht  nur  nicht  aus,  daß  die  Frau  der  Geschlechtlich- 
keit im  Grunde  tiefer  verschwistert  ist  als  der  Mann,  sondern  es  ist 
sogar  in  gevrissem  Sinne  davon  ein  Ausdruck.  Für  den  Mann  sind 
—  zumindest  der  großen  Mehrheit  der  Fälle  nach  —  die  sexualen  Er- 
lebnisse relativ,  sie  sind  Beziehungen  zum  anderen  Geschlecht  und  da- 
durch bestimmt,  daher  auch  mehr  episodischen  Charakters  und  ichferner. 
„Der  Mann  kann  durch  Erlebnisse  des  erotischen  Gebietes  zur  Raserei 
oder   zum    Selbstmord   gebracht   werden,   er   fühlt    dennoch,   daß  sie  ihn 

1  VgL   auch   Lipmann   (7/i). 


DIL   Si:\L  ALITÄT  DER    (.KSCHLKCHTSREIFEN  369 


im  tiolsUMi  uichb  uiigvlion  -  soweit  solche  Üinge,  die  ihre  Beweislast 
nicht  tragen  können,  ausgesprochen  werden  dürfen."  (Simmel  [io6J.) 
Für  <lie  Frau  wird  (üe  liezieluing  der  Geschlechter  zueinander  ,,zum 
Al)t^)lulen,    iür    sich    SiMenden    ihixis    Wesens".       Sie    giht    sicii  hier 

hat  Sinunel  sehr  richtig  gesehen  —  niemals  ganz  liin  oder 
aus,  sie  bleibt  irgendwie  und  irgendwo  immer  in  sich  selbst  be- 
schlossen, auch  wo  die  vollkommenste,  letzte  Hingabe  zu  walten  scheint. 
Ihre  Sexualität  genügt  überhaupt  sich  selbst  in  einer  freilich  nicht 
angt?bbaren,  letzten  Sphäre,  und  genügt  sich  daher  auch  dort,  wo  sie  der 
im  eigentlichen  Siime  sexuell  zu  nennenden  Manifestationen  und  Er- 
lebnisse noch  gar  nicht  teilhaftig  geworden  ist;  sie  bedarf  dieser 
gar  nicht,   sie   kann   trotzdem   ihre   Sinnerfüllung   finden. 

Ausdrücklich  möchte  ich  darauf  hinweisen,  daß  gar  kein  Grund  vor- 
liegt, dieses  differente  Verhalten  im  Sexualen  irgendwie  zu  einem  pri- 
mären Moment  für  die  sonstigen  psychischen  Geschlechtsunterschiede 
zu  machen.  Es  ist  eine  petitio  principii,  wenn  man  die  Sexualität 
als  das  Urphänomen  erst  aufstellt  und  nachher  beweist,  daß  die  sonstigen 
psychischen  Strukturen  die  hier  gefundenen  Eigentümlichkeiten  wieder- 
spiegeln. Älir  scheint  die  Sache  vielmehr  so  zu  stehen  —  und  ich  glaube, 
dies  ist  auch  die  Meinung  Simmeis,  ferner  die  von  A.  Adler  (28)  und 
anderen  — ,  daß  sich  in  der  Sphäre  der  Sexualität  ebenso  wie  in  allen 
Bereichen  seelischen  Geschehens  gewisse  Eigenartigkeiten  eines  zentralen 
Ich  abbilden,  dessen  wir  als  solchen  gar  nicht  habhaft  werden  und  das 
nur  aus  der  Identität  jener  strukturalen  Prinzipien  in  einer  Art  Projektion 
erfaßt  werden  kanni. 

Mit  alledem  ist  natürlich  keineswegs  gesagt,  daß  nicht  auch  für 
die  Frau  das  sexuale  Erleben  relativen  und  episodischen  Charakter  an- 
nehmen kann,  daß  nicht  auch  in  der  Entvricklung  ganz  andere  Typen 
sich  geltend  machen.  Aber  daß  dieser  oben  skizzierte  Grenzfall  über- 
haupt möglich  ist,  beweist  den  wesentlich  anderen  Aufbau  der  Sexualität 
bei  den   beiden   Greschlechtem. 

Damit  mögen  noch  weitere  Unterschiede  zusammenhängen,  so  der 
sich  in  der  oft  diskutierten  Frage  nach  der  polygamen  oder  monogamen 
Veranlagung  ausdrückende.  Im  allgemeinen  geht  die  Meinung  dahin, 
daß  der  Mann  polygam,  die  Frau  mehr  monogam  veranlagt  sei.  Das 
wird  in  gewissem  Ausmaße  auch  zutreffen.  Gerade  die  In-sich-Ge- 
schlossenheit  der  Frau  mag  ihr  die  Möglichkeit  geben,  bei  einem  IManne 
das  Auslangen  und  Ausharren  zu  finden.  Anderseits  scheint  daraus 
auch  verständlich,  warum  bei  nicht  wenigen  Frauen  die  Hingabe  an  mehrere 
Männer  —  nacheinander,  zugleich  —  ihren  tiefsten  Wert  gar  nicht  zu 
treffen  scheint;  es  bleibt  der  Partner  immer  nur  zufälliger  Anlaß  einer 
doch  nicht  letzten  Entäußerung.  Nicht  selten  erscheint  —  offenbar  aus 
den  gleichen  Strukturen  heraus  —  der  Frau  die  Hingabe  an  den  Mann 
als  eine  mehr  nebensächliche  Äußerlichkeit  in  der  Gesamtheit  der  ero- 
tischen Beziehungen,  selbst  dann  noch,  wenn  sie  diese  aus  physiolo- 
gischem  Drange  nach  sexualer   Befriedigung  selbst  begehrt;    oft   genug 


1    Weiteres   siehe   den   Schlußabschnitt. 
24    Kafka.  Vergleichende  Psychologie  III. 


370       ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

„gewährt  die  Frau  diese  letzte  Gunst",  wie  die  Redensart  geht,  wirklich 
nur  als  Gunst,  als  etwas,  das  sie  dem  Geliebten  zuliebe  tut  luid  nicht 
um  des  Aktes  und  mn  ihrer  selbst  willen.  Man  könnte  sag^en:  für 
die  Frau  ist  die  Sexualität  als  solche  von  Wichtigkeit,  die  Gestalt,  in 
der  sie  jeweils  erlebt  wird,  mehr  nebensächlich.  Für  den  Mann  ist 
das  konkrete  Sexualerlebnis  das  Wichtige  und  Erstrebenswerte.  Der 
Mann  begeht  daher  auch  in  seinen  eigenen  Augen  Untreue  oder  Ehe- 
bruch, wenn  er  mit  einer  anderen  Frau  den  Geschlechtsverkehr  pflegt, 
oder  ,,sie  ansieht,  ihrer  zu  begehren";  was  er  auch  immer  G^egen teiliges 
sagen  mag,  sind  Ausreden  eines,  vielleicht  nicht  einmal  vor  sich  selbst 
eingestandenen,  schlechten  Gewissens.  Für  die  Frau  kann  unter  Um- 
ständen —  wenn  sie  von  sozialen  und  ethischen  Anschauungen  absieht  — 
auch  der  Ehebruch  etwas  sozusagen  Irrelevantes  bleiben,  weil  sie  da 
und   dort   nicht   sich   selbst,   ihr   Letztes   hingibt  i. 

Auch  hier  wiederum  ist  zu  sagen:  es  handelt  sich  um  extreme  Typen, 
die  nicht  zur  Allgemeincharakteristik  der  Frau  schlechthin  dienen  soÜen, 
sondern  nur  strukturale  Grundprinzipien  gewissermaßen  in  Reindar- 
stellung  aufweisen. 

Denn  aus  den  gleichen  Bedingungen  kann  auch  die  oft  hervorge- 
hobene, von  Dichtem  besungene  größere  Treue  der  Frau  stanmien,  die 
gerade  nur  in  einem  Manne  die  Möglichkeit  der  Sinneserfüllung  ihrer  Ge- 
schlechtlichkeit erblickt.  Es  ist  doch  eigentlich  eine  bemerkenswerte 
Tatsache,  daß  die  Literaturen  aller  Zeiten  und  aller  Völker  ebensooft 
die  Frau  als  untreu  und  wankelmütig  wie  als  das  Paragon  des  treuen 
Ausharrens  bis  über  den  Tod  des  Geliebten  hinaus  hingestellt  haben. 
Ob  das  daran  liegt,  daß  die  Frauen  untreu  all  jenen  sind,  die  ihnen 
letztlich  doch  nicht  genügen,  nicht  ihren  Sinn,  wenn  man  so  sagen 
darf,  erfüllen  —  ähnlich  wie  man  dies  von  der  Frigidität  der  Frauen 
behauptet  —  und  treu  mu-  jenem,  der  dieser  Forderung  genügt,  kann  wohl 
gefragt,   schwerlich   aber  entschieden   werden. 

Aus  der  größeren  Ichnähe  der  Sexualität  einerseits  und  der  relativen 
Irrelevanz  der  jeweiligen  Manifestationen  anderseits,  welche  der  Frau  zu- 
zuschreiben ist,  erwächst  die  oben  angeführte  größere  Rolle  der  Erotik 
bei  der  Frau.  Nicht  daß  die  Sexualtriebe  zur  Erotik  „vergeistigt"  werden, 
ist  der  springende  Punkt,  sondern  daß  die  Sexualität  in  den  erotischen 
Manifestationen  sich  ebensowohl  durchsetzen  kann  wie  in  spezifischen 
Sexualakten. 

Wenn  hier  stets  von  Unterschieden  in  der  PsychosexuaUtät  der 
beiden  Geschlechter  die  Rede  war,  so  muß  bemerkt  werden,  daß  damit 
über  die  Natur  des  eigentlichen  Sexualerlebnisses  bei  Mann  und  Frau 
noch  nichts  ausgemacht  ist.  Es  könnte,  wie  schon  oben  angedeutet, 
der  Sexualaffekt,  es  könnte  auch  die  Geschlechtsempfindung  hier  und 
dort  grundsätzlich  verschieden  sein.  Bei  der  außerordentlichen  Schwie- 
rigkeit, solche   Zustände  zu  beschreiben   —  vielleicht  ist  dies  überhaupt 

1  So  meint  auch  Keyserling  (Reisetagebuch  eines  Philosophen,  S.  lo):  „Frauen 
rechneu  mit  ihrer  grundsätzlichen  VerfüKrbarkeit  als  mit  einem  Tatbestande,  der  sich 
von  selbst  versteht." 


DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSREIFEN 37] 

uiiiDö^licIi  —  lälSl  sirli  kaum  eine  KnUclK'idiiii^'  tI\^^l■en.  Dali  die  Ab- 
läufe im  Cianzen,  mit  ilin'r  lliu  kwirkiiii^'  .lul  die  ül)rif;<'ii  Spliän'U  der 
PersiVnlichkcit,  iii  iliivr  Anteilnahme  an  solchen  Sphären  Ixü  den  ixüdeii 
Geschkviitern  sehr  verschieden  sind,  geht,  wie  ich  meine,  aus  den  bis- 
herigen Ausführungx'n  hervor.  Dies  möchte  ich,  im  Gegensatz  von 
Duboc  (aa),  <ler  auf  (Inrnd  m.  E.  wenig  eindringender  Analyse  für  die 
gTuiulsiil/liche  Identität  <k's  psychoscxualen  Erlebens  von  Mann  und  Frau 
eintritt,    ausdrücklich    betonen. 

Weiterhin  hängt  an  diesen  Unterschieden  der  prinzipiellen  Attitüde 
auch  <^iie  Differenz  der  Reaktion  auf  die  Sexualerlebnisse.  Wenn  auch 
jener  alte  Spruch:  omnc  (ininud  post  coituni  triste  rxccptis  midiere 
el  (jallo,  so  allgemein  nicht  richtig  sein  mag,  so  hebt  er  doch  eine 
oft  zutreffende  Tatsache  hervor.  Der  Episodencharakter  der  Sexualität 
des  Mannes  bringt  es  mit  sich,  daß  nach  Verebben  des  Affektsturmes 
dieser  als  eine  Überwältigung  des  Ich,  ein  Abdrängen  von  der  gewohnten 
Lebenshaltung  empfunden  wird.  Für  die  Frau  aber  bleibt  auch  der 
befriitligendste  Sexualakt  doch  noch  ein  mehr  weniger  peripheres  Er- 
lebnis, das  sie  aus  ihrer  Zentrierung,  ihrer  dauernden  Bezogenheit 
auf   ihr   tiefstes   Wesen   nicht   herauszuschleudern   imstande   ist. 

Wie  die  psychische  Scheidung  und  zum  Teil  auch  die  rein  körperliche 
z\\ischen  Mann  und  Frau  keine  restlose  und  vollkommene  ist,  wie  es 
Mischtypen  zu  geben  scheint  —  mag  man  sie  nun  mit  einer  anatomisch 
begründeten  bisexualen  Anlage  in  Zusammenhang  bringen  oder  nicht  — , 
so  sind  auch  die  aufgezeigten  Strukturdifferenzen  keineswegs  immer, 
ja  vielleicht  nur  in  einer  sehr  kleinen  Minderheit  von  Fällen  rein  vor- 
handen. Vielfach  bleiben  sie  als  letzte  bestimmende  Faktoren  zwar  in 
der  Tiefe  wirksam;  in  den  Manifestationen  der  Sexualität  aber  erscheinen 
sie  verwaschen,  mit  Zügen  des  anderen  Typus  vermengt,  sozusagen  ver- 
unreinigt. Daher  kommt  es,  daß  gewisse  mehr  weniger  typische  ero- 
tische Charaktere  bei  beiden  Geschlechtern  angetroffen  werden:  etwa 
die  Prüden,  die  Mucker  u.  dgl.  Das  Volksempfinden  merkt  aber  die 
Abweichung  vom  reinen  Geschlechts wesen  recht  wohl  und  drückt  es 
in  der  Sprache  aus,  wie  in  dem  Werturteil  über  solche  Personen.  Was 
hierüber  zu  sagen  wäre,  kann  erst  bei  Besprechung  der  sogenannten 
sekundären  Phänomene  gebracht  werden.  Nur  zur  Verdeutlichung  sei 
z.  B.  auf  die  abfällige  Beurteil img  männlicher  Koketterie  oder  etwa 
auf  die  Bezeichnung  „altes  Weib"  für  einen  prüden,  muckerischen  Mann 
u.    dgl.    verwiesen. 

Gewisse  Unterschiede  bestehen  auch  im  Verhalten  der  Lebensalter. 
Der  Sexualität  der  Kindheit  und  der  präpuberalen  Jahre  ist  der  folgende 
Abschnitt  gewidmet.  Es  wären  hier  nur  ein  paar  Worte  über  das 
psycho  sexuale  Erleben  des  Alters  zu  sagen .  Daß  hier  Ver- 
änderungen gegenüber  dem  vollkräftigen  Alter  vorkommen  können,  ist 
bekannt;  sie  müssen  aber  nicht  auftreten.  Oft  genug  behält  die  Sexualität 
ihren  Charakter  bei;  selbst  bei  wesentlich  herabgesetzter  sexualer,  soma- 
tischer Begierde  können  Anlässe  und  Verhaltungs weisen,  zumindest  beim 
Manne,  sich  gleichbleiben.  Die  bemerkten  Veränderungen  beziehen 
sich   großenteils    auf   die   Anlässe;    nur   gewisse    Erscheinungen,    Kinder, 

?4» 


372  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Ju'^endliche,  bestimmte  Typen  wirken  noch  erogen,  so  daß  auch  eigent- 
liche Abartungen  zustande  kommen  können.  Bei  mangelnder  soma tisch- 
spezifischer Erregung  wird  der  Lustgewinn  in  Berührungen  usw.  gesucht: 
in  Molls  Terminologie  könnte  man  sagen,  der  Kontrektationstrieb  sei 
noch  lebendig,  während  der  Detumeszenztrieb  schon  erloschen  sei. 
Inwieweit  andere  Züge,  die  zuweilen  auftreten,  eine  Tendenz  zur  Grau- 
samkeit oder  zur  Süßlichkeit  usw.  selbständig,  inwieweit  sie  von  den 
allgemeinen  senilen  Veränderungen  abhängig  sind,  wäre  erst  zu  unter- 
suchen. Eine  ausführlichere  Darstellung  der  Sexualität  des  späteren 
Alters  scheint  nicht  zu  existieren.  Bekannt  ist,  daß  mancher  Mann 
den  Schein  des  Erotikers  auch  dann  noch  aufrechtzuerhalten  strebt, 
wenn  in  ihm  gar  nichts  mehr  von  Sexualität  lebendig  ist;  alte  Gecken 
nennen  wdr  diese  Männer.  Sie  sind  Komödianten  der  Erotik,  meist 
recht  schlechte. 

Besondere  Aufmerksamkeit  möchte  die  klimakterische  Krise 
der  Frau  erfordern,  der  ja  manche  Autorein  eine  analoge  des  Mannes 
an  die  Seite  stellen  wollen.  Die  klimakterischen  Umwandlungen  sind! 
nicht  leicht  zu  analysieren.  Sie  setzen  sich  aus  mehreren  Komponenten 
Izusammen,    die   eHwa    folgen dennaßen    gekennzeichnet   werden    dürfen. 

An  erster  Stelle  stehen  natürlich  die  organischen  Veränderimgen  und. 
deren  unmittelbare  Rückwirkung  auf  die  seelischen  Abläufe.  Die  repro- 
duktiven Funktionen  des  weiblichen  Geschlechtapparates  hören  auf.  Da- 
mit geht  in  der  Regel  auch  ein  Schwinden  der  sexualen  Erregbarkeit 
und  Begehrlichkeit  einher,  nicht  selten  nach  einer  Periode  der  Steigenmg 
(,, gefährliches  Mter"),  die  unter  Umständen  zu  einem  sogar  wahllosen 
Verlangen  nach  Sexualbefriedigung  v^laß  geben  kann.  Es  muß  aber 
weder  zu  einem  Erlöschen  der  Erregbarkeit,  noch,  wenn  dieses  statthat, 
zu  einem  Aufhören  aller  Neigung  zu  erotischem  Lustg^ewinn  kommen. 
Vielleicht  seltener  als  beim  Manne,  aber  noch  häufig  genug,  bleibt  der 
Kontrektationstrieb,  bleibt  die  Sehnsucht  nach  erotischer  Zärtlichkeit 
erhalten. 

Gerade  dieser  Umstand  kann  zum  Ursprung  weiterer  Veränderungen 
werden,  indem  das  Bewußtsein  des  Begehrens  zusammen  mit  dem  des 
Nichl-mehr-begehrt-Werdens,  eventuell  auch  nur  des  Glaubens,  der  Be- 
fürchtung dieses,  einen  schweren  Konflikt  setzt.  Dazu  kommt,  daß 
—  aus  der  oben  gezeichneten  Sexualeinstellimg  der  Frau  heraus  verständ- 
lich —  viele  Frauen  im  Schwinden  der  Sexualfimktionen  an  und  für 
sich  eine  Minderung  ihres  Wertes  empfinden  oder  wenigstens  emp- 
finden zu  müssen  glauben.  Es  dürfte  kaum  zweifelhaft  sein,  daß  die 
Häufigkeit  depressiver  Erkrankung  in  dieser  Lebensepoche  teilweise  hier- 
mit zusammenhängt,  wodurch  übrigens  den  somatischen  Involutions- 
vorgängen keineswegs  die  pathogenetische  Bedeutung  abgesprochen  wer- 
den soll. 

Dieses  Bewußtsein  der  Wertminderung  geht  in  zweifache  Richtung. 
Einmal  auf  die  Stellung  als  Geschlechtswesen  neben  und  imter  anderen. 
Dies  ist  meist  jenes  Moment,  dessen  die  alternde  Frau  sich  bewußt 
ist,  dies  ihre  Klage,  ihr  Unglück,  über  das  so  manche  schwer,  viele 
gar    nicht   hinwegkonunen.      Zweitens    auf   den    persönlichen,    vom   Ver- 


DIE  SEXl  ALITÄT  DKR   r.ESCIlLECHTSKElFEN 373 

gleich   mil  anderen   unabhängigen  Eigenworl,   welches  der  tiefere  Grund, 
alx^r   vielleichl  eben   tlaruin   <ier  weit   selUMior    Ix'wulito    ist. 

Die  geringtiTO  \ernociiLenheit  niit  <ler  Si'xualität  bewirkt,  daiS  die 
IN'rsönl ichkeil  des  Mannes  weniger  von  analogen  Unnwandlungen  be- 
Lroiten  wird,  außer  dort,  wo  die  ganze  l']xistenz  sozusagen  auf  das 
Mrotische  gestellt  wurde.  Dies  führt  dann  zu  den  oben  schon  er- 
wähn len  Entgleisungen . 

Es  wäre  von  Interesse,  zu  erfahren,  ob  die  klimakterischen  Verände- 
nuigen  bei  der  erwerbenden,  intellektuellen  Frau  sich  anders  als  beim 
Durchschnitt  verhalten.     Doch  ist  mir  hierüber  nichts   bekannt. 

W  as  die  Objekt  wähl  anlangt,  so  sind  die  letzten  bestimmenden 
Momente  wohl  in  Dunkel  gehüllt.  Man  kann  sich  natürlich  auf  einen 
Instinkt  berufen,  der,  im  Dienste  der  Rassenerhaltung  stehend,  zwei  Men- 
schen zusammenführe;  damit  ist  aber  psychologisch  nichts  gewonnen, 
abgesehen  davon,  daß  dieser  Instinkt  ja  nicht  mehr  als  eine  fiktive 
Umschreibung  des  gegebenen  Tatbestandes  ist.  Anderseits  sind  die  Mo- 
tive, welche  von  den  Wählenden  gelegentlich  angeführt  werden,  entweder 
durchaus  unzulängliche  oder  selbst  wdeder  in  ganz  unbestimmte  Formen 
gefaßt,  wie  Sympathie  u.  dgl.  Es  steht  hiermit  nicht  anders,  wie  mit 
den  rationalisierenden  Versuchen,  das  Entstehen  von  Liebe  in  höherem 
Sinne  zu  begründen,  wovon  unten  noch  die  Rede  sein  wird.  Daß  es 
nebenbei  Fälle  genu^  gibt,  in  welchen  die  Wahl  aus  rationalen  Erwä- 
gungen heraus  erfolgt,  ist  selbst^'e^ständlich.  Der  Wunsch  nach  ein«m 
eigenen  Herd,  nach  Kindern,  nach  Perpetuierung  des  Stammes,  nach 
Versorgung,  die  Wahl  der  Frau  lals  einer  Wirtschafterin  usw.  spielen 
gewiß  oft  die  ausschla^ggebende  Rolle,  vor  allem,  wenn  es  sich  nicht 
um  die  W  ahl  des  Gesclilechtspartners,  sondern  um  die  des  Ehegesponsen 
handelt.  Montaigne  (87)  u.  a.  war  sogar  der  Meinung,  bei  der  Ehe- 
schließimg  hätten  nur  diese  Momente  den  Ausschlag  zu  geben,  Leiden- 
schaft irnd  Neigung  aber  nicht  mitzusprechen. 

Ein<i  Sexualpsychologie  muß  aber  gerade  darnach  fragen,  was  denn 
das  eine  Individuum  als  Sexualpartner  begehrenswerter  mache  als  das 
andere,  das  ihm  vielleicht  in  mancher  Hinsicht  überlegen  sein  kann, 
an  Schönheit  usw.  Eine  Antwort  auf  diese  Frage  will  die  psychoanalytische 
Theorie  geben  mit  dem  Hinweis  auf  das  Fortwirken  determinierender 
Tendenzen  im  Unbewußten,  deren  Grund  in  den  Kindheitserlebnissen  zu 
suchen  wäre.  In  dem  folgenden  Abschnitte  über  die  Ontogenie  wird 
daher  ausführlicher  davon  zu  reden  sein. 

In  der  Objektwahl  drückt  sich  die  Gerichtetheit  oder  Ungerichtetheit 
der  Sexualität  deutlich  aus.  Dem  einen  ist  jede  Frau  schlechthin  Objekt, 
dem  anderen  nur  Frau  eines  bestimmten  Typus,  dem  dritten  nur 
eine  ganz  bestinunte  individuelle  Frau.  Wie  schon  erwähnt,  ist  die 
erstgenannte  Form  anscheinend  unter  den  Männern  stärker  vertreten 
als  imter  den  Frauen,  deren  Frigidität  offenbar  häufig  nur  eine  relative, 
für  den  zufällig  vorhandenen  Mann  bestehende  ist  und  dem  Repräsen- 
tanten des  adäquaten  Typus  gegenüber  normalem  Sexualempfinden  imd 
Sexualgenuß  Platz  macht. 


374  ALLEKS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Mehr  noch  als  jeder  andere  affektive  Ablauf  beherrscht  der  Sexual- 
affekt, sobald  er  einmal  aufgetreten  ist,  das  Ganze  des  Seelenlebens. 
Nicht  nur,  daß  alles,  was  irgend  zur  Sexualsphäre  Bezug  hat,  sub  specie 
der  jeweils  herrschenden  affektiven  Einstellung  gesehen  und  gewertet 
wird,  es  kann  —  wie  sattsam  bekannt  —  gegenüber  diesem  Affekt  alles 
und  jedes  völlig  in  den  Hintergrund  treten,  die  Lebensführung  voll- 
kommen geändert,  was  sonst  wichtig  erscheinen  mag,  beiseite  geschoben, 
moralische  Bedenken  überwunden,  physischen  Gefahren  getrotzt,  Ver- 
brechen begangen  werden.  Es  ordnet  sich  alles  in  den  Dienst  des 
Sexualaffektes,  so  daß  das  alte  , »ordentliche"  Verhalten  zerstört  wird. 
Amor  ordinem  nescit,  bemerkt  schon  St.  Hieronymus  ^.  Diese  Art  Be- 
sessenheil durch  den  ,, Dämon  Amor",  von  welchem  irgendein  roman- 
tisches Märchen  zu  erzählen  weiß,  gleicht  in  den  Grundzügen  ihrer 
Struktur"  dem,  was  wir  in  der  Sphäre  der  Liebe  im  höheren  Sinne 
wiederum  antreffen,  ist  offenbar  die  Substruktion  dieser  Liebesbesessen- 
heit (vgl.  indes  den  betreffenden  Abschnitt).  Deskriptiv  ist  hierübetr 
nicht  viel  auszusagen.  Es  liegt  ein  übermächtiges  Interesse  vor,  eine 
Einspannung  aller  seelischer  Tendenzen  in  eine  und  nur  eine  Richtung 
—  man  hat  den  Zustand  ja  auch  mit  der  ,,  über  wertigen  Idee"  der  Psycho- 
pathologie verglichen  —  die  solange  aufrecht  bleibt,  als  der  Affekt  vor- 
herrscht. Unter  Umständen  kann  mit  der  Erreichung  des  Zieles  diese 
ganze  Struktur  in  sich  zusammenbrechen.  Rein  auf  das  Sexuale  im 
engeren  Sinne  beschränkt,  scheint  dieser  Zustand  wiederum  bei  Männern 
häufiger  vorzukonunen,  was  wohl  aus  den  oben  skizzierten,  psycho- 
sexualen  Geschlechtsunterschieden  verständlich  ist.  Natürlich  mangelt 
er  nicht  vollkommen  bei  Frauen. 

Zwischen  dieser  Besessenheit  imd  dem  sozusagen  Nebenhererleben  des 
Sexualaffektes  gibt  es  alle  Übergänge  und  Grade.  Deren  Ausprägung 
und  die  Einstellung,  die  das  Imlividuimi  seinem  Sexualaffekt  gegenüber 
findet,  schafft  die  Verschiedenheit  der  erotischen  Typen,  die  noch,  wenn 
auch  nur  flüchtig  imd  bruchstückhaft,  zur  Sprache  kommen   werden. 

In  dem  Zusammenhang  mit  dem  hier  angeschnittenen  Thema  der  Typen- 
bildung wäre  einer  Frage  nicht  mehr  reüi  psychologischer  Natur  noch 
kurz  zu  gedenken,  nämlich  nach  der  Ausdrucksweise  des  Sexua- 
len bzw.  Erotischen,  der  sexualen  Mimik  u.  dgl.  Wie  es  überhaupt 
fast  unmöglich  ist,  in  Worten  die  Merkmale  anzugeben,  an  denen  ein 
bestimmter  mimischer  Ausdruck  häjigt,  so  auch  hier.  Mancher  Mensch 
trägt  in  seinem  Gesicht  die  Stigmata  der  Güte,  der  Unaufrichtigkeit, 
Grausamkeit  oder  auch  des  ,, Sinnlichen".  Wie  die  Liebe,  so  sieht  jede 
andere  Seelenregung  dem  Menschen  aus  den  Augen,  sagt  einmal  Mark 
Aurel.  Es  ist  wohl  kaum  fraglich,  daß  wir  in  der  Tat  die  Seele  un- 
mittelbar im  Körper  und  dessen  Ausdrucksweisen  anschauen,  ich  glaube, 
ohne  irgendwie  erst  Einfühlung,  innere  Nachahmung,  Analogieschlüsse 
in  uns  zu  vollziehen.  Worin  aber  sich  uns  der  jeweils  wahrgenommene 
Charakterzug  ausdrückt,  vermögen  wir  nicht  oder  in  den  allerseltensten 
Fällen   nm-  anzugeben.     Und  selbst  wenn  wir  glauben,   das  maßgebende 

^  Ad    Chromatium. 


DIE  SEXUALITÄT  DER  GESCHLECHTSREIFEN 375 

Morkmal  horausf^efunden  zu  haben,  so  hallet  doch  dieser  Aussage  immer 
etwas  l  nbt'l'ritHiip'iuli'8  an;  wir  spüren,  <lalj  wir  mehr  weniger  willkür- 
lich ein  Kleinem  Isolieren,  wo  doch  nur  die  unaut'lösbare  Totalität  Träger 
tles  Sinne.s  ist  und  sein  kann. 

Es  erscheint  daher  wenig  sinnvoll,  etwa  eine  Schilderung  des  ,, sinn- 
lichen Mundes"  zu  versuchen  oder  den  „lüsternen  Blick"  zu  beschreiben 
und  was  dergleichen  Dingo  mehr  sind.  Es  gibt  Männer,  welche  die 
■Sei^nig  haben,  bekleidete  Frauen  in  Gedanken  vorstellungsmäßig  zu 
entkleiden,  mid  es  gibt  Frauen,  welche  das  ,, spüren".  Woran,  wie, 
wissen  sie  selbst  nicht.  Gewiß  gibt  es  einzelne  Anhaltspunkte.  Eine 
besonders  auffallend  aufmerksame  Betrachtung  jener  KörjKirregionen, 
welche  das  Prärogativ  sexualer  Bedeutsamkeit  besitzen,  mag  diesen  Schluß 
ermöglichen.  Es  bedarf  dieser  besonderen  Beobachtung  aber  unter  Um- 
ständen gar  nicht,  um  der  Frau  über  das  Verhalten  des  Mannes  Klar^ 
heit  zu  geben.  Ebensowenig  läßt  sich  m.  E.  sagen,  woran  genau  zwei  Men- 
schen, die  sich  nicht  einmal  zu  sprechen,  ja  nicht  einmal  überhaupt  je  ge- 
sprochen zu  haben  brauchen,  wissen,  daß  sie  einander  begehren.  Eß 
ist  das  etwas  anderes  als  die,  möglicherweise  auf  Selbsttäuschung  be- 
ruhende Überzeug^ung  von  Gegenliebe  bei  der  ,, Liebe  auf  den  ersten 
Blick".  Es  ist  gar  nicht  anders  möglich,  sie  muß  mich  wieder  li^)en, 
weil  ich  sie  so  liebe,  lautet  etwa  der  Gedankengang,  dessen  Wurzeln 
vielleicht  nicht  allein  im  Wunsche  zu  suchen  sind,  vielmehr  in  eine 
tiefere,  unausgesprochene,  auch  gar  nicht  klar  bewußte  Überzeugung  von 
einem  notwendigen,  schicksalhaften  Zusaminengehören  des  Liebenden 
und  der  Geliebten  hinab  reichen .  Hier  heißt  es:  sie  liebt  mich,  muß 
mich  lieben,  auch  wenn  sie  es  nicht  zeigt;  hier  wird  nach  Bestätigungen 
dieser  primären  Überzeugimg  gesucht.  In  dem  Falle  des  ,, Ansehens" 
wechselseitigen  Begehrens  aber  ist  sozusagen  die  Bestätigung  das  primäre 
Moment:  so  sieht  sie  aus,  also  begehrt  sie  mich,  wie  ich  sie  begehre. 
(Nicht  als  ob  solche  Gedankengänge  klar  und  geordnet,  als  ob  Schluß- 
folgerungen irgendwelcher  Art  abliefen.  Diese  Sätze  bedeuten  selbst- 
verständlich schon  ein  Herausdrehen  des  Erlebens  aus  der  Ebene  der 
Unmittelbarkeit   in  die  der  rationalen  Formung.) 

Im  Zusammenhange  damit  wäre  die  Psychologie  der  Liebeswer- 
bung abzuhandeln.  Zimi  Teil  werden  hier'hergehörende  Erscheinungen, 
wie  die  Schamhaftigkeit  und  Schüchternheit,  die  der  offenen  Werbung 
im  Wege  stehen,  oder  die  Koketterie,  welche  ihr  dient,  unter  den  sekun- 
dären Phänomenen  besprochen. 

Die  Liebeswerbung  ist  stammesgeschichtlich  relativ  frühzeitig  aufzu- 
weisen. Psychologischen  Erklärungswert  besitzen  alle  diese  Beobach- 
tungen an  Tieren  keinen.  Sie  lehren  nur,  daß  der  Gewinnung  des  Sexual- 
affektes imd  der  Erreichung  des  Sexualzieles  schon  bei  relativ  nieder 
organisierten  Lebewesen  einleitende  Akte  vorangehen.  Welchen  Zweck 
solche  haben,  wissen  wir  nicht.  Wohl  aber  läßt  sich  auch  für  den 
Menschen  die  Liebesworbung  nach  den  gleichen  zwei  Gesichtspunkten 
betrachten ;  einmal  handelt  es  sich  darum,  die  Neigung  des  Sexual- 
objektes bzw.  bei  ihm  die  sexuale  Erregung  herbeizuführen,  das  andere 
Mal,   es   zum   Sexualakt   zu  veranlassen. 


376  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Demgemäß  bezweckt  das  werbende  Verhalten,  die  Aufmerksamkeit  des 
angestrebten  Partners  auf  die  dgene  Person,  ihre  Vorzüge  zu  lenken, 
oder  aber  eine  zum  Sexualakt  führende  Gesamthaltung  zu  bewirken. 
Die  Liebes  Werbung  kann  eine  naive  oder  eine  bewußte  sein,  gewisser- 
maßen instinktiv  oder  unter  Anwendung  einer  bestimmten  Technik  er- 
folgen. Welch  letzleres  Sache  vor  allem  des  Verführers,  fast  möchte 
man  sagen,  des  berufsmäßigen,  professionellen  Verführers,  des  Don  Juan 
oder  Casanova  ist,  aber  auch  im  Dienste  einer  einmaligen  Liebe  stehen 
kann.  Liebe  macht  erfinderisch,  sagt  ein  Sprichwort;  nicht  nur  in  der 
Überwindung  von  Hindernissen,  sondern  auch  im  Entdecken  geeigneter 
Verbal tungs weisen,  um  das  angestrebte  Ziel  zu  erreichen.  Oftmals  aber 
versagt  diese  Erfindungsgabe  durchaus;  es  ist  dieses  wie  das  andere 
oft  genug  Gegenstand  künstlerischer  Schilderung  geworden,  der  „blöde 
Jüngling"  ebensosehr  wde  der,  welcher  es  versteht,  die  entsprechenden 
Saiten  in  der  Seele  der  Geliebten  erklingen   zu   lassen. 

Das  werbende  Verhalten  kann  ein  sehr  verschiedenartiges  sein.  Zwischen 
dem  „zarten  Entgegenkommen"  und  der  mehr  weniger  brutalen  Aggression, 
dem  ,, Bezwingen  der  Figur  durch  die  männliche  Elementarkraft",  gibt 
es  ungezählte  Nuancen.  Welche  Haltung  die  angemessenere,  erfolg-r 
versprechendere  ist,  darüber  mögen  die  Lehrer  der  Ars  amandi  sich  ver- 
breiten. 

Offensichtliche  Werbung  ist  Aufgabe  des  Mannes.  Die  Frau  wird 
umworben.  Ihre  von  vornherein  gar  nicht  so  sehr  auf  den  Sexualpartner 
angewiesene  Sexualität  bedarf  erst  einer  Art  Weckung.  Es  darf  ange- 
merkt werden,  daß  manche  erfolgreiche  Werbung  aber  gar  nicht  bis 
zu  diesem  Ziele  gelangt.  Es  unterliegt  der  Wille  der  Frau  unter  Um- 
ständen früher,  als  ihre  Sinnlichkeit  elementar  beteiligt  ist.  Dies  ist 
vielfach  die  Technik  des  Professionals  der  Verführung.  Es  braucht 
nicht  hervorgehoben  zu  werden,  daß  zuweilen  auch  die  Frau  aktiv 
werbend  auftritt.  Sehr  häufig  innerhalb  einer  schon  bestehenden  sexualen 
Beziehung,  wenn  es  sich  um  das  Sexualziel  handelt  (etwa  eine  Szene 
bei  d'  Annunzio  im  ,,Trionfo  della  morte"  und  vielen  anderen).  Aber 
auch,  wenn  die  Erlangung  eines  Sexualobjektes  auf  dem  Spiele  steht. 
Entweder,  getrieben  durch  die  Intensität  des  Begehrens,  unter  Hintan- 
setzung der  sonst  der  Frau  von  Natur  oder  Sitte  auferlegten  Schranken, 
oder  aus  individueller  Veranlagung  zu  aktiverem  Verhalten  heraus.  Die 
Gegenüberstellung  eines  Typus  Mann  und  eines  Typus  Frau  ist  natürlich 
mehr  schematisch. 

Die  Werbung  wird  eine  andere  sein,  je  nachdem  ^  sich  um  die  bloße 
Erreichung  des  Sexualzieles,  um  die  nur  sexuale  Beteiligung  der  Frau 
handelt,  oder  echte  Liebe  dabei  im  Spiele  ist.  In  allen  Fällen 
bedeutet  die  Werbung  eine  gewisse  Preisgabe  der  eigenen  Person.  Diese 
in  das  günstigste  Licht  zu  setzen,  müssen  —  wenn  es  sich  um  ein 
aufrichtiges  Verhalten  und  nicht  xaa  eine  Pose,  eine  bloß  gespielte  Rolle 
handelt  —  in  der  Tiefe  wirkende  Kräfte  ans  Licht  treten.  Darum  ist 
aucli  die  Abweisung  demütigend  und  kränkend.  Abgesehen  davon,  daß 
natürlich  —  und  das  ist  bei  dem  Falle  der  Pose  allein  das  Avirksame 
Moment   —  die   Eitelkeit  des  Mannes   eine    Kränkung   erfährt.     Es   wird 


DIE  SEXUALITÄT  DER   GESCHLECHTSREIFEN 377 

aus  (litM:m  Vorhai t<Mi  horaiis  versläiullicli,  warum  der  Verschmähte  unter 
Urustäiuk'ii  die  clx'U  n<xh  linworbcuo  nicht  nur  niit  seinem  Hasse 
verfolgt,  sondern  sogar  sie  zu  \'ornichten  Ix'strebt  ist.  Daneben  spielen, 
wie  nicht  anders  nuM^lich,  noch  viele  andere  Motive  mit,  etwa  dafS 
die    lietreftendc  einem   Dritten   nicht  gegönnt  wird   u.    a.    m. 

iX'r  LielK>i5Worbiuig  dienen  /um  Teil  äußerliche  .Mittel,  wie  die  Kleidung; 
dicftie  wirkt  U.nls  aj»  sich  ästhetisch,  teils  aber  and  überwiegend  als 
Symbol,  sei  es  für  die  Angehörigkeit  zu  einem  Ix-stinnuten  Stand  (Offiziere), 
sei  es  für  die  ,, Eleganz",  damit  dem  Zugehören  zu  sozial  höheren 
Schichten.  Anderstnts  kann  auch  gerade  eine  gewisse  Nichtbeachtung 
solcher  Äulierlichkeit,  die  selbst  sehr  äußerlich  sein  kann,  der  VVeckung 
des  Interesses  dienen.  Für  die  Schaustellung  köqx^rlicher  \'orzüge,  welche 
bei  anderen  Völkern  und  zu  anderen  Zeiten  eine  große  Rolle  spielt, 
ist  unsere  Tracht  wenig  geeignet.  Immerhin  kommen  solche,  wenn  auch 
nur  in  großen  Zügen,  zur  Geltung:  Körpergröße,  breite  Brust  usw. 
Nach  wie  vor  haben  athletische  Gestalten,  hochgewachsene  Männer  usw. 
eine  gewisse  Chance  anderen  voraus.  Wer  dies  bezweifeln  wollte,  der 
sehe  sich  in  der  Belletristik  minderer  Qualität,  darum  aber  nicht  min- 
deren  Erfolges,  um,  etwa  in  den   Romanen   der   Gourths-Mahler. 

Deutlicher  als  die  männliche,  dient  die  weibliche  Kleidung  der  Werbung, 
bekanntlich  weniger  durch  das,  was  sie  zeigt,  als  durch  das,  was  sie 
verhüllt  und  erraten  läßt.  Es  sind  das  so  oft  gemachte  und  triviale 
Beobachtungen,  daß  sich  eine  weitere  Ausführung  wohl  erübrigen  dürfte. 
Daß  das  Verhüllte  erregender  zu  wdrken  vermag,  als  das  offen  zur 
Schau  Getragene,  mag  auf  mehreren  Gründen  beruhen.  Der  eine,  haupt- 
sächliche, ist  offenbar,  daß  durch  die  Verhüllung  und  die  phantasier 
mäßige  Enthüllung  oder  die  Aussicht  auf  die  Enthüllung  jene  Lust 
erweckt  wird,  die  Freud  (/13)  als  ,,V^orlust"  bezeichnet  hat.  Dann  dürfte 
die  Durchbrechung  der  Schranken,  welche  Scham  und  Sitte  errichten, 
ebenfalls  eine  erregende  Wirkung  haben.  Über  weibliche  werbende  Ver- 
haltungsweisen wird  übrigens  bei  Erörterung  der  Koketterie  noch  etwelches 
nachzutragen  sein. 

Neben  den  äußeren  Momenten  kommen  als  Mittel  der  Bewerbung 
die  Schaustellung  der  Persönlichkeit,  ihrer  sozialen  Geltung,  ihrer  seeli- 
schen Eigenschaften  —  Verstand,  Mut,  Charakter  usw.  —  in  Frage. 
Eine  besondere  Rolle  spielt  das  erotische  Renommee.  Der  Ruf  des 
Siegers  in  Eroticis  ist  an  sich  schon  eine  halbe  Gewähr  des  Sieges 
—  vielleicht  nur  beim  Durchschnitt  der  Frauen,  vielleicht  bei  sehr  viel 
mehr.  Und  umgekehrt  ist  der  Ruf  der  Vielgeliebten  ein  Anlaß,  sie  zu 
lieben.  Wenn  Ninon  de  l'Enclos  nicht  die  gefeierte  Schönheit  ge- 
wesen wäre,  der  bloße  Ruf,  die  Kunde,  daß  so  und  so  viele  sie  —  glück- 
lich oder  unglücklich  —  geliebt  haben,  hätte  für  einen  hinlänglich 
großen  Kreis  von  Anbetern  gesorgt.  Nicht  nur  die  Zahl,  auch  wer 
sie  geliebt,  macht  in  der  erotischen  Einschätzung  der  Frau  etwas  aus. 
V'ielen  ist  die  Geliebte  eines  großen  Herrn  eben  dadurch  schon  be- 
gehrenswert. Anderseits  ist,  wie  bekannt,  gerade  die  Unberührtheit, 
sogar  die  sexuale  Unwissenheit  —  wirkliche  oder  gespielte  —  ein  wer- 
bender   Faktor. 


378  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

In  der  Liebesworbiing-  tritt  zuweilen  die  Ambivalenz  des  psychosexualen 
Affektes  scharf  hervor.  Nicht  nur,  daß  das  Mädchen  die  Annäherung 
des  Mannes  ebenso  wünscht  wie  scheut;  und  zwar  scheut  es  nicht 
einen  Aspekt  tund  wünscht  einen  anderen,  so  daß  zwei  Haltung-en  neben- 
einander oder  abAvechselnd  bestünden,  sondern  in  ein  und  derselben 
Attitüde  ist  zugleich  Furcht  und  Wunsch,  es  ist  ein  fürchtendes  Wünschen. 
So  auch  der  unerfahrene  Jüngling.  Aber  neben  dieser  Manifestation 
der  Ambivalenz  gibt  es  noch  eine  zweite,  die  man  als  S  e  x  u  a  1  h  a  ß  be- 
zeichnet hat.  Zwischen  den  Geschlechtern  herrscht  nicht  nur  An- 
ziehung, sondern  auch  Abstoßung.  Diese  ist  wohl  zum  Teil  beteiligt 
an  der  im  allgemeinen  minder  achtenden  Haltung  des  Mannes  gegen 
die  Frau.  Aber  auch  den  Frauen  ist  eine  solche  absprechende  Haltung 
nicht  fremd;  Frauen  imter  sich  können  in  vieler  Beziehung  verächtlich 
von  Männern  im  allgemeinen  sprechen  —  diese  verstehen  und  können 
ihrer  Ansicht  nach  eine  Menge  von  Dingen  nicht:  in  gewissen  wich- 
tigen innerlichen  Fragen  weiß  die  Frau  sich  dem  Manne  überlegen. 
Man  wird  ebensowenig  sagen  können,  es  sei  diese  wechselseitig  ge- 
fühlte Überlegenheit  Ursache,  wie  sie  sei  Folge  des  Sexualhasses.  Nebenbei 
bemerkt,  haben  beide  Seiten  recht;  luu-  daß  hier  und  dort  verschie- 
denes als  Wert  und  als  erstrebenswürdig  aufgestellt  wird. 

Ist  das  mehr  eine  periphere  Ausstrahlung,  so  kann  der  Sexualhaß 
auch  in  ganz  eigentlichen  Haßregungen  manifest  werden.  Man  hat 
gemeint,  ihn  in  der  Reaktion  auf  den  Geschlechtsakt  wieder  finden 
zu  sollen.  Vielleicht  allerdings  weniger  in  der  unmittelbaren,  als  in 
der  weiteren.  In  das  Wesen  Ider  Frau  geschah  ein  Einbruch,  dessen 
sie  ihrem  innersten,  noch  jenseits  des  eigentlich  Sexualen  stehenden 
Sein  nach  nicht  bedurfte.  Die  Frau  wirft  sich,  außer  dort,  wo  echte, 
höchste  Liebe  besteht,  immer  irgendwie  fort;  und  das  verargt  sie  dem 
Manne.  Natürlich  liegt  es  nicht  so,  daß  aus  der  individuellen  Er- 
fahrung jeweils  in  der  einzelnen  Frau  durch  solche  Überlegung  —  die 
auch  nicht  als  rational,  sondern  höchstens  emotiv  gedacht  werden  darf  — 
der  Haß  entsteht.  Es  setzt  diese  Reaktion  eine  wesensmäßig  gegebene 
Haßbereitschaft,  den  Gegenpol  eben  der  Liebesbereitschaft  voraus.  Der 
Mann  wirft  sich  zwar  nicht  weg,  weil  für  ihn  die  Sexualrelation  immer 
Relation  bleibt,  nicht  im  zentralen  Sein  verankert  ist;  aber  er  gibt  sich 
her,  gibt  sich   preis    —   und   verargt   es  der   Frau. 

Es  ist  dieses  Verhalten  nur  die  häufigste  Erscheinungsweise  des  Sexual- 
hasses. Er  kennt  deren  noch  mehr.  Vielleicht  ist  die  Sage  von  den 
Amazonen  ein  mythischer  Ausdruck  für  diese  Tatsache,  die  übrigens 
in   Kleists  Penthesilea  deutlich  mitschwingt. 

W.  James  (60),  der  Begriff  und  Tatsache  der  Ambivalenz  noch  nicht 
kennt,  macht  für  den  Sexualhaß  einen  eigenen  „antisexaal-inslinct, 
the  instinct  of  personal  Isolation"  verantwortlich,  das  Widerstreben  gegen 
intimeren  körperlichen  Kontakt  mit  den  meisten  Menschen  unserer  Um- 
gebung. Er  sieht  darin  eine  wesentliche  Hemmung  für  die  Entfaltung 
der  Geschlechtsliebe,  so  daß  diese  , »stärkste  aller  Leidenschaften  die 
größten    Schwierigkeiten    schaffe,    ihr   freien    Lauf    zu    lassen".     Es    sei 


DIE  SEXIALIT-VT  DKR   ni-SCHLRClITSREIFEN 379 

(lit'Mir  IsolitMiiiip^iiislinkl  am  ausp;<^>rä^'U>stni  IxMirt  Manno  gegenübor 
soiiuMi   (it^cliloi-liLs^Miosscn,  bei   der   Frau  gof^ciiübor  dem    Manne. 

fhrigiuis  hat  James  das  Vorkommen  ambivalenter  Neigungen  nicht 
v(>llig  ülHM-sehen.  da  er  einmal  IxMnerkl:  ,,77/f  fKission  of  lovr  (die  er 
eine  Monomanie  nennt,  welche  auch  den  Gesündesten  befallen  könne) 
am   coexist   irith  coutempt  and  crcn   irith   hatrcd  for  lltc   .ohjecl'." 

Ein<;  besondeix'»  Ikxleulung  scheint  der  Sexuallialj  in  der  Phänomeno- 
logie des  ersten  geschlechtlichen  Verkehrs,  namentlich  der  Frau,  an- 
nehmen zu  können.  Über  die  ,, Psychologie  der  Defloration"^  wissen 
wir  herzlich  wenig.  Die  Psychologie  der  Hochzoilsnacht  ist  erst  zu 
erfoi>chen.  Sclw^u  vor  dem  l  nbt>kannten,  eine,  man  möchte  sagen, 
instJnktive  Abwehr,  die  erwachende  Bebende  imd  anderes  verschränken 
sich  zu  einem  höchst  komplexen  Zustand.  Auch  die  schöne  Literatur 
ist  m.  W.  arm  an  plausiblen  Schilderungen.  Vielleicht  enthalten 
A.  Zweigs  ,, Novellen  um  Claudia"  noch  die  beste.  Selbstverständlich  wird 
man    auch   hier   die   größten    Verschiedenheiten    antreffen. 

Man  würde  in  einer  Sexualpsychologie  vielleicht  einen  Abschnitt  über 
die  Psychologie  der  Ehe  erwarten.  Wenn  ich  mich  indes  entschlossen 
habt\  davon  Abstand  zu  nehmen,  so  geschah  es,  weil  die  Ehe  nicht 
allein  durch  die  sexualen  Beziehungen  bestimmt  wird.  Es  sprechen  hier 
so  viele  andere  Momente  mit  —  Gewohnheit,  das  Faktum  des  Zu- 
sammenlebens an  und  für  sich,  die  Gemeinsamkeit  der  Sorgen  für 
den  Unterhalt,  für  die  Kinder  usw.  — ,  daß  der  hier  gesteckte  Rahmen 
allzuoft  und  allzuweit  hätte  ül)erschritten  werden  müssen.  Dazu  kommt, 
daß  insbesondere  Ehen  längerer  Dauer  die  sexualen  Probleme  mehr 
oder  weniger  in   den   Hintergrund  treten  lassen. 


^  Auch    Rohleders    (99)    so    überschriebenes    Kapitel    bringt    keine    Aufklärung. 


DIE  ONTOaENIE  DER  SEXUALITÄT 

Man  ist  heute  von  dem  lange  Zeit  herrschenden  Dogma,  daß  die 
Sexualität  erst  mit  und  nach  der  Pubertät  im  Leben  der  Menschen 
auftrete,  gründlich  abgekommen.  Es  gehört  nicht  zu  den  geringsten 
Verdiensten  S.  Freuds  (43,  46 )>  die  Aufmerksamkeit  auf  die  prä- 
puberalen  und  infantilen  Äußerungen  der  Sexualität  gelenkt  zu  haben; 
und  dies  Verdienst  bleibt  auch  dann  ungeschmälert,  wenn  es  sich  zeigen 
sollte,  daß  manche  Dinge  anders  Hegen,  als  er  sie  gesehen  hat. 

Es  kann  hier  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  physiologischen  Sexual- 
phänomene, die  schon  in  den  Kindbeits jähren  beobachtet  werden  können, 
im  einzelnen  zu  beschreiben.  Es  genügt  der  Hinweis,  daß  Erektionen 
usw.  bei  männlichen  Säugbngen  zweifellos  vorkommen.  Das  einschlägige 
Material  findet  man  z.  B.  bei  Moll.  Nur  ein  methodisch  wichtiger 
Punkt  bedarf  auch  hier  der  Erörterung.  Wenn  nämlich  auf  der  einen 
Seite  zweifellose  somatische  Sexualvorgänge  festgestellt  sind,  so  besteht 
anderseits  bei  manchen  Autoren,  vornehmlich  der  psychoanalytischen 
Richtung,  die  Neigung,  eine  ganze  Reihe  anderer  Lebensäußerungen 
als  sexualer  Natur  aufzufassen.  Dabei  werden  zwei  Argumentations- 
weisen bemerklich.  Einmal  wird  aus  den  Affektäußerungen  auf  die 
sexuale  Natur  imd  Crenese  des  betreffenden  Phänomens  geschlossen. 
In  dieser  Richtung  ist  Freud  vorang^angen.  Es  heißt  bei  ihm:  „Das 
Ludein  oder  Lutschen  besteht  in  einer  rhythmisch  wiederholten  saugenden 
Berührung  mit  dem  Munde  (den  Lippen),  wobei  der  Zweck  der  Nahrungs- 
aufnahme ausgeschlossen  ist.  Ein  dabei  auftretender  Greiftrieb  äußert 
sich  etwa  dm^ch  gleichzeitiges,  rhythmisches  Zupfen  am  Ohrläppchen,  tmd 
kann  sich  eines  Teiles  einer  anderen  Person  (meist  ihres  Ohres)  zu 
gleichem  Zwecke  bemächtigen.  Das  Wonnesaugen  ist  mit  voller  Auf- 
zehrung der  Aufmerksamkeit  verbunden,  führt  entweder  zum  Einschlafen 
oder  selbst  zu  einer  motorischen  Reaktion  in  einer  Art  Orgasmus  .  .  . 
An  der  sexuellen  Natur  dieses  Tuns  hat  noch  kein  Beobachter  gezweifelt", 
imd  weiter:  ,, Anfangs  war  wohl  die  Befriedigung  der  erogenen  Zone 
mit  der  Befriedigung  des  Nahrungsbedürfnisses  vergesellschaftet.  Wer 
ein  Kind  gesättigt  von  der  Brust  zurücksinken  sieht,  mit  geröteten 
Wangen  und  seligem  Lächeln  in  Schlaf  verfallen,  der  wird  sich  sagen 
müssen,  daß  dieses  Bild  auch  für  den  Ausdruck  der  sexuellen  Be- 
friedigung im   späteren   Leben   maßgebend   bleibt." 

Eine  Anmerkung  zu  dem  Absatz  über  das  Lutschen  sagt  noch,  es 
erweise  sich  ,,hier  bereits,  was  fürs  ganze  Leben  Gültigkeit  hat,  daß 
sexuelle  Befriedigung  das  beste  Schlafmittel  ist". 

Sehen  wir  davon  ab,  daß  „noch  kein  Beobachter  gezweifelt  hat"  — 
der  consensus  omnium  ist  ein  schlechtes  Argument  —  und  fragen  wir: 
Woraus  folgt  die  sexuelle  Natur  der  beim  Trinken  an  der   Brust  oder 


DIE  ONTOGENIE   DKR   SEXUALITÄT 381 

beim  LuUchoii,  das  ja  >vohl  >virklich  mit  dem  Trinken  irgendwie  zu- 
sammenhängt, zu  lx>obachten(len  Bt'friedigimg?  Wir  hören  nur,  daß 
der  Säughng  ,,mit  geröteten  Wangon,  seiig<Mn  Lächohi  in  Schhif  sinkt". 
Denn,  dali  dieser  Ausdruck  einer  Befriedigung  l'ür  die  Sexualbefriedigung 
de.s  späteren  Ixbens  maßgebend  sei,  kann  d<)ch  erst  aus  dem  Nach- 
weis der  sexualen  Natur  jener  folgen.  Alles,  was  sich  sagen  läfit,  ist: 
tier  Aufdruck  der  Bcfriedigumg  hier  und  dort  ist  der  gleiche.  Man  muß 
schon  sehr  von  der  sexualen  Natur  der  meisten  triebhaften  I-<ebens- 
äußerimgen  durchdrungen  sein,  um  sich  mit  solcher  Begründung  zu- 
frieden zu  geben.  l>enn  genau  genommen,  kann  man  aus  dieser,  dabei 
vielleicht  nicht  einmal  so  durchgreifenden  Ähnlichkeit,  ja  sogar 
aus  einer  etwa  erweisbaren  Identität  des  Ausdruckes  nur  schließen: 
es  kann  sich  um  den  gleichen  Affekt  handeln,  nicht  aber:  es  liege 
unbedingt  der  gleiche  Affekt  vor.  Dieser  Schluß  hat  etwa  die  gleiche 
Dignitäl  wie  folgender:  hier  liegt  ein  Schlafender;  ganz  so  sehen  die 
Menschen  aus,  wenn  sie  Veronal  genommen  haben;  also  hat  dieser 
Mann  Veronal  genommen.  Natürlich  kann  er  ganz  ohne  Hypnotika 
schlafen,  oder  er  kann  sich  betrunken  haben,  oder  in  Schlaf  nach 
Trional,  Chloral  usw.  verfallen  sein.  Es  ist  nur  möglich,  daß  er  Veronal 
genonamen  hat.  Es  ist  nur  möghch,  daß  die  Befriedigung  beim  Trinken 
und  Lutschen  mit  der  sexualen  -wesensgleich  ist. 

Eine  Stütze  scheint  Freud  dieser  seiner  Auffassimg  durch  folgenden, 
im  obigen  Zitat  ausgelassenen,  Passus  geben  zu  wollen:  „Nicht  selten 
kombiniert  sich  mit  dem  Wonnesaugen  die  reibende  Berührung  empfind- 
licher Körperstellen,  der  Brust,  der  äußeren  Genitalien.  Auf  diesem 
W^ege  gelangen  viele  Kinder  vom  Ludein  zur  Masturbation."  Dieses 
,,nicht  seltene"  Vorkonunnis  beweist  aber  auch  nichts.  Denn  es  besagt 
nichts  anderes,  als  daß  zugleich  mit  der  Befriedigung  des  Lutschens 
auch  die  durch  solche  autoerotische  Akte  gesucht  wird.  Man  könnte 
im  Ge-genteil  auf  die  Vermutung  verfallen,  daß  auch  diese  mastur- 
ba torischen  Handlungen  gar  keine  Sexualbefriedigung  bedeuten  müßten, 
daß  vielmehr  eine  undifferenzierte  Körperlust  erreicht  werde,  ein  Auto- 
hedonismus,  wenn  man  will,  der  sozusagen  noch  jenseits  der  Trennung 
in   Sexuales  und   Nichtsexuales  stehe,   völlig   neutral,   undifferenziert  sei. 

Eis  wird  also  hier,  um  dies  klarzustellen,  keineswegs  behauptet,  daß 
all  diese  auf  eine  Befriedigung  abgestellten  Handlungsweisen  des  Säug- 
lings oder  kleinen  Kindes  nicht  sexualer  Natur  seien  oder  sein  könnten, 
sondern  nur,  daß  die  Beweisführung  eine  unzureichende  sei.  Wie  gesagt, 
sie  kann  nur  genügen,  wo  die  Lehre  von  der  Universalität  des  Sexualen, 
seinem  letztlichen  Zusammenfallen  mit  dem  Triebhaften  überhaupt,  schon 
feststeht.  Es  ist  dies  eine  der  nicht  wenigen  Diallelen,  mit  denen  die 
psychoanalytische  Theorie  behaftet  ist. 

Noch  mehr  tritt  diese  Denkweise  dort  hervor,  wo  ganz  heterogene 
Dinge,  mit  der  Sexualität  in  Zusammenhang  gebracht,  als  deren  Mani- 
festationen angesehen  werden.  So  allerlei  Arten  von  Körperbewegung, 
von  den  schaukelnden  Bewegungen  mancher  kleiner  Kinder  angefangen 
bis  zu  sportlichen  Betätigungen.  Wenn  ein  Kind  so  lange  seinen  Ober- 
körper  hin    und   her   schaukelt,    bis   es  einschläft,    werden   die    Psycho- 


382  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

aralytikcr  natürlich  —  mit  Rücksicht  auf  die  oben  erwähnte  hypnotische 
Wirkung  der  Sexualbefriedigung  —  folgern,  daß  es  sich  um  einen 
sexualen  Vorgang  handle,  die  dabei  erreichte  Lust  sexualer  Natur  sei. 
So  wird  auch  sportliche  Betätigung,  jede  Art  körperlicher  Lustge>vinnung 
überhaupt  letzten  Endes  in  die  Sexualsphäre  einbezogen,  als  Äußerung 
der  Libido  aufgefaßt.  Wozu  natürlich  so  lange  kein  Grund  vorliegt, 
als  man  nicht  von  der  Identität  aller  Lust  oder  zumindest  aller  somato- 
genen  Lust  mit  der  Libido  überzeugt  ist.  Ein  induktiver  Beweis  für 
diese  These  ist  aus  den  aufgeführten  Tatsachen  nicht  zu  führen.  Postu- 
liert man  diese  Identität,  so  kommt  man  entweder  dazu,  alle  die  frag- 
lichen Erscheinungen  als  sexual  anzusehen,  oder  zu  einer  Verdünnung 
luid  Erweiterung  des  Libido-Begriffes,  der  dann  mit  Vitalität  schlechthin 
zusammenfällt.  Der  erste  Standpunkt  ist,  wie  gesagt,  nicht  zu  beweisen. 
Den  zweiten  kann  man  einnehmen  und  eine  letzte  Einheit  aller  vitalen 
Regungen  postulieren,  sie  auch  Libido  nennen.  Das  Problem  des  Zu- 
sammenhanges z^vischen  eindeutig  sexuellen  Vorgängen  und  anderen  wird 
aber  damit  nicht  gelöst,  sondern  nur  verschoben;  es  erhebt  sich  eben 
innerhalb  des   Bereiches   dieser  universellen   Libido   von   neuem. 

Mit  dieser  Einschränkung  \vird  man  zunächst  das  Vorkommen  sexualer 
Regungen  im  frühesten  Rindesalter  ohne  weiteres  zugeben  müssen.  Ee 
scheint  auch,  daß  schon  in  dieser  Periode  eine  typische  Geschlechtsemp- 
findung zustande  kommen  kann.  Es  scheint  weiterhin,  daß  die  Be- 
friedigung spezifischer  Art  beim  Kinde  häufiger  im  Anschluß  an  rein 
somatische  Prozesse  erscheint  als  beim  Erwachsenen,  oder,  wie  dies 
Moll  (84)  ausdrückt,  „daß  beim  Kinde  verhältnismäßig  häufiger  Wollust- 
akme  vmd  Befriedigungsgefühl  imabhängig  von  den  Kontrektationsvor- 
gängen  auftreten."  Genaueres  über  die  seelischen  Abläufe  in  dieser 
Zeit  ist  selbstverständlich  nicht  zu  erfahren. 

Die  ersten  Lebensjahre  sind  oft  reich  an  sexuellen  Erlebnissen.  Ganz 
abgesehen  von  Fällen  abnorm  frühzeitiger  Geschlechtsreife,  welche  wohl 
zumeist  in  ge\\"iss€n  körperlichen  Krankheitsprozessen  ihren  Ursprung 
haben  i,  finden  wir  in  Autobiographien  und  Selbstbekenntnissen  sowie 
in  der  Beobachtung  der  Kinder  reichlich  Anhaltspunkte,  die  diese  Tat- 
sache erweisen.  Es  bleibt  dabei  auch  keineswegs  bei  autoerotischen 
Erscheinungen;  häufig  kommt  es  vielmehr  zu  wechselseitigem  Spiele 
mit  den  Geschlechtsteilen.  Da  die  Erinnerung  an  diese  Jahre  bei  vielen 
Personen  eine  recht  lebhafte  ist,  scheint  die  Annahme  gerechtfertigt, 
daß  die  dabei  empfimdene  Lust  qualitativ  durchaus  der  Sexuallust  des 
Erwachsenen  gleicht.  Auch  die  objektive  Beobachtung  lehrt,  daß  die 
körperlichen  Begleiterscheinungen  die  gleichen  sind;  durch  die  auto- 
anamnestischen  Angaben  erhält  diese  Beobachtung  Beweiskraft.  Daß  übri- 
gens diese  Angaben  nicht  auf  Erinnerungsfälschungen,  nachträglichen 
irrigen  Identifizienmgen,  gewissermaßen  einer  Einlegung  des  Erlebens 
der  Erwachsenen  in  ihre  eigene  Kindheit  beruhen,  wird  durch  die  große 
Übereinstimmung  im  Tenor  dieser  Aussagen   mehr  als  Avahrscheinlich. 

1  So  bewirkt  die  Entartiing  der  im  Gehirn  gelegenen  Epiphyse  —  Zirbeldrüse  — 
eine  Pubertas  praecox,  anscheinend  durch  den  Wegfall  hemmender  innersekretorischer 
Einflüsse    auf    die    Keimdrüsen. 


DIE  ONTOGENIE   DER   SEXl'AMTÄT 383 

Allel)  der  eigonllkho  S<'xualal't"ekt  mit  dt'ii  ihn  beglcilcndcri  sekundären 
Phänomenen  —  Schain,  Eifersucht  z.  B.  —  braucht  nicht  zu  fehlen.  Ja 
es  kommen  sogar  ausgesprochene  Re^ngen  wahrer  Liebe  vor,  wenn  sie 
sich  auch,  dem  noch  wenig  entwickelten  Seelenleben  des  Kindes  ent- 
spnx'hend.  sozusagen  in  einorr  relativ  niexleren  l-lbene  bewegen.  Ich 
erinnere  an  die  B<v.ieluingen  des  jungen  Goethe  zur  Schwester  des 
Dorsenne,   an   eine  bekannte   Stelle   aus   der  Jugendgeschichtc   Hebbels. 

Indes  ist  hier  anzumerken,  dali  —  so  häufig  diese  Erscheinungen 
sind  —  sie  keines\\tigs  allgemein  vorkominen.  Es  gibt  zweifellos  Kinder, 
bei  welchen  ein  sexuelles  Leben  bus  gegen  die  Pubertät  nicht  oder  kaum 
merkbar  wird  und  auch  bei  eindringender  Durchforschung  nicht  aus 
der  Erinnerung  nachgewiesen  werden  kann.  Der  Behauptung,  daß  die 
psychoanalytische  Methode  im  Kindheitserleben  aller  Menschen  sexuale 
Elemente  und  Erlebnisse  aufzudecken  gestatte,  kann  ich  keine  Beweis- 
kraft zuerkennen,  weil  ich  an  der  Berechtigung  dieser  Methode  als 
Forschungsprinzip,  wie  mir  scheint,  aus  sehr  guten  Gründen,  zweifeln  muß. 

Zui  Charakteristik  dieser  Kindersexualität  gehört  weiterhin,  daß  sie 
häufig  eine  indifferenzierte  ist,  worauf  m.  W.  zuerst  Dessoir  hingewiesen 
hat.  Diese  memgelhafte  Differenziertheit  gilt  sowohl  hinsichtlich  des 
Sexualobjektes   als   hinsichtlich   des   Sexualzieles. 

Was  das  erstere  anlangt,  so  beherrscht  bei  vielen  Menschen  in  diesen 
Jahren  eine  bisexuale  Einstellung  das  Geschlechtsleben,  eine  Ein- 
stellung, die  auch  in  späteren  Jahren  mehr  oder  weniger  ausgeprägt  im 
Sexualleben  auch  des  Normalen  vielfach  nachweisbar  bleibt  und  deren 
„Fixierung"  auf  das  andere  oder  das  gleiche  Geschlecht  für  die  Ent- 
wicklung des  hetero-  oder  homosexuellen  Typus  maßgebend  sein  soll. 
Wie  schon  einmal  bemerkt,  ist  es  für  die  Psychologie  belanglos,  ob  man 
für  diese  psychische  Bisexualität  physiologische  oder  anatomisch-entwick- 
lungsgeschichtliche Parallelen  beibringen  kann  oder  nicht.  Derartige 
Tatsachen  ikönnen  nur  als  ,, übrigens  auch"  vorhanden  neben  den  psycho- 
logischen Interesse  haben,  sie  können  aber  nicht,  wo  eine  immanent- 
psychologische Entscheidung  nicht  gelingt,  in  der  einen  oder  anderen 
Richtung  bestimmend  werden.  Eher  wäre  schon  das  Faktum  bisexualer 
Neigung  auch  jugendlicher  Tiere  anzuziehen,  die  in  ihren,  deutlich  als 
Vorbild  oder  Skizze  künftiger  Sexualbetätigung  imponierenden  Spielen 
bald  (die  Rolle  des  einen,  bald  die  des  anderen  Geschlechtes  übernehmen. 

Es  bedarf  aber  gar  nicht  all  dieser  Stützen.  Wiederum  lehren  uns 
Selbstbekenntnisse  iund  Beobachtung  ganz  überzeugend,  daß  vielfach  sich 
ebenso  zwischen  Kindern  gleichen  wie  verschiedenen  Geschlechtes  ero- 
tische Beziehungen  entspinnen  können,  daß  ein  und  dasselbe  Individuum 
mit  Angehörigen  beider  Geschlechter  solche  pflegen  kann.  Für  die  Be- 
vorzugung des  einen  oder  anderen  Geschlechtes  sind  dabei  vielfach 
zufällige  Momente  ausschlaggebend;  der  gerade  vorhandene  Partner  des 
Spieles   wird   auch   das   Objekt   der  erotischen   Vergnügungen. 

Vielen  Kindern  ist  es  wirklich  gleichgültig,  welchem  Geschlecht  der 
Partner  angehört.  Dasselbe  Mädchen,  das  eben  noch  mit  einem  Knaben 
Beziehungen  unterhielt,  wendet  sich  eine  Woche  später,  aus  Laime,  nach 
eineim   Streit,    infolge   /Vbreise   des    Genossens    usw.   einem   Mädchen   zu. 


384       ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

mit  der  gleichen   Intensität,  dem  gleichen   Lustgewinn  und  sehr  oft  dena 
gleichen    Mangel    an    Beharrlichkeit. 

Flüchtig,  >vie  auch  sonst  in  vielen  seiner  Verhaltungsweisen,  >vechselt 
das  Kind  den  Gegenstand  seiner  Neigung,  auch  darin  eine  Art  Indifferen- 
ziertheit  seiner  Sexualität  ausdrückend,  dEe  freilich  bei  vielen  Menschen 
lange  über  die  Kindheit  hinaus,  ja  ein  Leben  lang  fortbestehen,  sich 
niemals  zu  gerichteter  Sexualität  entfalten  kann.  Wie  anderseits  nicht 
zu  verkennen  ist,  daß  viele  Kinder  dauernder  und  tiefgreifender  ero- 
tischer Zuneigung  fähig  sind,  deren  völlige  oder  zumindest  an  den  Er- 
folf^en  der  Erwachsenen  gemessene  Resultatlosigkeit  unter  Umständen 
eine  schwere  und  nachhaltige  seelische  Erschütterung  bedeuten  kann. 
Denn  unter  den  Sexualobjekten  der  Kinder  erscheinen  nicht  nur  Gre- 
spielen  und  Altersgenossen,  sondern  in  hervorragendem  Maße  die  Er- 
wachsenen, zumeist  die  der  näheren  Umgebung,  gelegentlich  auch  nur 
^  orübergehend  gesehene,  durch  irgendeinen  Umstand  auffällig  und  be- 
deutsam gewordene  Personen.  Derlei  Eindrücke  können  für  idie  Richtung 
der  Objektwahl  während  des  ganzen  Lebens  bestimmend  werden  i. 

Hier  ist  nun  der  psychoanalytischen  Lehre  der  inzestuösen  Neigungen 
des  Kindes,  ja  beinalie  des  Säuglinges,  der  Lehre  vom  ,, Ödipuskomplex" 
zu  gedenken.  Sie  besagt,  daß  sich  die  Libido  des  kleinen  Kindes  natur- 
geonäßerweise  auf  die  Personen  der  Umgebung,  daher  auf  die  Eltern 
richte,  bzw.  auf  solche,  welche  Elternstatt  an  ihm  vertreten:  Ammen, 
ältere  Geschwister  usw.  Der  Ödipuskomplex  des  Erwachsenen  entstehe 
durch  die  Verdrängung  nicht  nur  der  inzestuösen  Neigungen  des  Sohnes 
zur  Mutter,  der  Tochter  zum  Vater,  sondern  auch  der  damit  verbundenen 
Haßreaktionen  gegen  den  begünstigten  Nebenbuhler,  des  Todes  Wunsches, 
den  der  Sohn  gegen  den  Vater,  die  Tochter  gegen  die  Mutter  hege. 
Diese  Einstellimg  sei  typisch,  sie  finde  sich  allgemein,  sie  wirke  zeugend 
im  Leben  des  Individuums  wie  der  Menschheit,  aus  ihr  gebäre  sich  das 
Kunstwerk  wie  die  Neurose,  das   Ritual  wde  die  Sage. 

Dafi  in  der  Tat  die  Beziehungen  zwischen  Kindern  und  Eltern  eine 
sexuak«  Note  tragen  können,  ist  nicht  zu  bezweifeln.  Viele  Menschen 
wissen  —  auch  ohne  jede  Psychoanalyse  —  sich  derartiger  Nuancen  «u 
erinnern,  sie  mit  den  Sexualregungen  des  reifen  Lebens  zu  identifizieren. 
Natürlich  ist  es  die  Frage,  wieweit  in  die  frühesten  Jahre  solches  zurück- 
reichen kann.  Hier  bestellen  wohl  auch  große  individuelle  Unterschiede. 
Übrigens  ist  diese  spezielle  Frage  wohl  nicht  einmal  so  besonders  bedeut- 
sam. Wichtiger  ist  es,  zu  vsdssen,  ob  tatsächlich  alle  zwischen  Mutter 
und  Kind  z.B.  sich  spinnenden  emotiven  Beziehungen  erotischer  Qualität 
oder  wenigstens  mit  einer  erotischen  Nuance  behaftet  sind.  Freud 
meint:  ,,eine  genauere  psychologische  Untersuchung  werde  diese  Identität 
(sc.  von  Wertschätzung  des  Kindes  für  seine  Pflegepersonen  und  ge>- 
schlechtlicher  Liebe)  über  jeden  Zweifel  hinaus  feststellen  können." 
Das  ist  doch  wohl  nur  dann  möglich,  wenn  die  Erinnerung  die  phäno- 
menologische Identität  des  Erlebens  damals  und  heute  aufzudecken  erlaubt. 


1  VgL    dazu:     Kant,    Beobachtungen    über    das    Gefühl    des    Schönen    und    Erhabenen. 
Königsberg    1764,    pag.    68. 


DIE   OMi^GKNIl-:    l)i:n    sex»  AMTaT 385 

W  »Min  ahor  iiuii  im  Laufe  der  Psychoanalyse  „sexuelle  Szenen"  auftauchen, 
dio  ii!  der  Kindheit  sich  abspielton,  so  beweist  dies  noch  lanj^^o  nicht, 
daß  sie  für  das  Kind  auch  eine  sexuale  Bedeutun«^  hallen.  Nur  für  den- 
jenigen wiederum  ist  dieser  Nachweis  erbracht,  der  von  vorneh<5rein  sich 
auf  jene   Meinung   von   der   infantilen   Sexualität   festgelegt  hat. 

IVxSsermngeachtel  ist  auch  hier  dasselbe  zu  wiederholen  wie  schon 
oben.  Mag  es  eine  Überspannung  bedeuten  und  mag  die  bisher  beige- 
brachte ArgumenUition  die  Boweishisl  nicht  tragen  können,  so  bleibt  doch 
die  Tatsache  bestehen,  daß  Freud  ganz  recht  gesehen  und  einen  unschätz- 
baren Fortschritt  inauguriert  hat,  wenn  er  die  sexuale  Natur  der  Kind- 
heitsbeziehimgen  und  die  inzestuösen  daraus  entspringenden  Kegungen 
herausgestellt  hat.  Inwieweit  solches  generelle  Gültigkeit  habe,  bleibt 
zu  prüfen  übrig,  freilich  nur  mit  einer  die  petitio  principii,  welche  aller- 
orten  in   der   Psychoanalyse   herumspukt,   vermeidenden    Methode. 

W  ie  schon  bemerkt,  erhalten  sich  bisexuale  Tendenzen  vielfach  auch 
im  Geschlechtsleben  der  reifen  Jahre.  Manche  Individuen  sind  wohl 
ganz  frei  davon,  bei  anderen  bleiben  sie  bewußt  oder  werden  zumindest 
bei  eindringonderer  Selbsterforschung  dem  Bewußtsein  zugänglich;  wieder 
andere  entwickeln,  durch  irgendwelche  Einflüsse  bestimmt,  nur  die  gleich- 
geschlechtliche Seite  und  werden  zu  Homosexuellen.  Grundsätzlich  aber 
dürfte  es  wohl  richtig  sein,  wenn  man  der  Sexualität  überhaupt  als 
Wesenszug  die  —  zumindest  mögliche  — -  bisexuale  Einstellung  zuschreibt. 

Bemerkenswert  ist  immerhin,  daß  trotz  der  Indifferenziertheit  bzw. 
der  Bisexualität  doch  schon  friihzeitig  eine  Bevorzugung  des  einen  oder 
anderen  Geschlechtes  hervortritt,  der  Tochter  für  den  Vater,  Bruder, 
männliche  Gespielen,  des  Sohnes  für  die  Mutter  usw.  Es  ist  aber  dabei 
zu  erwägen,  daß  es  sich  möglicherweise  nicht  um  rein  spontane,  son- 
dern auch  um  reaktive  Einstellungen  handeln  kann.  Die  ausgeprägtere 
Zuneigung  des  Vaters  zur  Tochter  kann  deren  Einstellung  erst  hervor- 
rufen. Inwieweit  hierbei  von  der  einen  oder  der  anderen  Seite  erotische 
Tendenzen  im  Spiele  sind  bzw.  —  da  solche  sicher  vorkommen  —  im 
Spiele  sein  müssen,  bleibe  dahingestellt. 

Es  scheint  mir  die  Bisexualität  eine  dritte  polare  Rich- 
tung innerhalb  der  G^chlechtssphäre  neben  den  oben  gekennzeichneten 
der  Bipolarität  und  Ambivalenz  darzustellen,  die  mit  den  beiden  anderen 
nicht  zusammenfällt.  Dies  ist  für  die  Ambivalenz  ohne  weiteres  klar. 
Man  könnte  aber  auf  den  Gedanken  verfallen,  jenes  aktiv-passive  Ver- 
halten, das  als  Bipolarität  bezeichnet  wurde,  sei  im  Grunde  mit  der 
Bisexualität  identisch.  Tatsächlich  findet  sich  bei  Freud  ^  folgende  Be- 
merktmg  (a.  a.  O.  S.  i/i4):  ,,Ein  durchaus  analoger  Vorgang  (nämlich 
zur  Erkennbarkeit  der  bisexuellen  Anlage  des  Menschen  bei  den  Psycho- 
nem-otikern  und  zur  bisexuellen  Bedeutung  hysterischer  Symptome)  aus 
dem  nämlichen  Gebiete  ist  es,  wenn  der  Masturbant  in  seinen  bewußten 
Phantasien  sich  sowohl  in  den  Mann  als  auch  in  das  Weib  der  vorge- 
stellten  Situation  einzufühlen   versucht,    und    weitere  Gegenstücke  zeigen 


^    Hvsterisclie    Phantasien    und    ihre    Beziehungon    zur    Bisexualität.    Zeitschr.    f.    Soxual- 
wissensch.    i.     1908    und   (46)    II.    1909,    S.    i38. 

25    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


386  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

gewisse  hysterische  Anfälle,  in  denen  die  Kranke  gleichzeitig  beide  Rollen 
der  zugrunde  liegenden  sexuellen  Phantasie  spielt,  also  z.  B.:  mit  der 
einen  Hand  das  Gewand  an  den  Leib  preßt  (als  Weib),  mit  der  anderen 
es  abzureißen  sucht  (als  Mann)."  So  bestechend  diese  Auffassung  nun 
auch  zmiächst  klingt  und  so  gut  Sie  zu  der  traditionellen  Charakterisierung 
des  männlichen  sexualen  Verhaltens  als  eines  aktiven,  des  weiblichen  alsl 
eines  passiven  zu  passen  scheint,  so  glaube  ich  dennoch  nicht,  dies© 
Identifizierung  vollziehen  zu  sollen.  Vor  allem  deshalb,  weil  sich  die 
aktiv-passive  Dimensionierung  auch  bei  solchen  Individuen  findet,  in 
deren  manifestem  Sexualerleben  von  Bisexualität  nichts  angetroffen  wird. 
Auch  der  männlichste  Mann  bat  ein  Bedürfnis,  ebensowohl  Zärtlichkeiten 
zu  empfangen,  wie  sie  zu  erweisen.  Hier  eine  Identifikation  vornehmen, 
heißt  das  zu  Beweisende  voraussetzen. 

Daß  nämlich  auch  bei  solchen  Individuen  mit  Hilfe  der  Psychoanalyse 
schließlich  sich  bisexuale  »Momente,  die  in  der  Kindheit  wirksam  und 
bewußt  waren,  nachweisen  lassen,  beweist  nichts  für  deren  tatsächliche 
Bedeutung  im  psychosexualen  Leben  des  Erwachsenen  —  außer  man 
gibt  von  vorneherein  die  Position  der  Psychoanalyse  zu,  daß  alles  über- 
haupt je  Erlebte,  ob  es  nun  bewußt  sei  oder  nicht,  eruierbar  oder  nicht, 
vom  Unbewußten  her  die  Abläufe  des  Bewußten  dynamisch  gestalte, 
determiniere.  Den  faktischen  Verhältnissen  scheint  mir  vorderhand  die 
—  jedenfalls  vorsichtigere  —  Annahme  einer  mehrfachen  Dimensionierung 
angemessener   zu   sein. 

Die  Sexualität  des  Kindesalters  unterscheidet  sich  aber  von  der  der 
geschlechtsreifen  Periode,  ja  schon  von  der  der  unmittelbar  präpuberalen 
Phase  noch  in  anderer  Hinsicht,  nämlich  in  der  des  Sexualzieles.  Dies 
hat  natürlich  zunächst  seinen  Grund  in  physiologischer  Unmöglichkeit, 
nicht  nur  das  normale  Sexualziel  tatsächlich  zu  realisieren,  sondern  auch 
nur  es  phantasiemäßig  zu  erleben,  vorzustellen.  Auch  hier  kann  man 
von  einer  Undifferenziertheit  sprechen,  insofern  die  Genitalzone  nicht 
die  alleinige  oder  auch  nur  exquisit  überwiegende  Quelle  der  Lustgewin- 
nung darstellt.  Nach  Freud  besitzt  das  Kind  viele  „erogene  Zonen",  deren 
Erregung  ihm  sexuale  Lust  verschaffen  kann:  etwa  die  Lippenschleim- 
haut, die  Analschleimhaut,  die  Harnröhre,  viele  Hautpartien  ^.  Der  Be- 
weis freilich,  daß  es  sich  in  der  von  diesen  Körperstellen  aus  zu  ge- 
winnenden Lust  wirklich  um  Sexuallust  handelt,  steht  auf  schwachen 
Füßen.  Ihn  treffen  alle  jene  Einwände,  die  oben  bei  Erörterung  des 
Lutschens  geltend  gemacht  werden  mußten.  Eines  ist  selbstverständlich 
richtig:  daß  das  Kind  mangels  der  Fähigkeit,  mit  Beihilfe  eines  Ge- 
schlechtspartners oder  an  einem  Isolchen  Sexuallust  zu  gewinnen,  auf 
den  eigenen  Körper,  auf  die  autoerotische  Befriedigung  verwiesen  ist. 
Die  Umwälzung  in  der  Pubertät  bewirkt  ein  Zurücktreten  der  meisten 
erogenen    Zonen,    vieler   bis    zur    Bedeutungslosigkeit,    anderer    zu    einer 

^  Auf  die  an  diese  These  und  an  Psychoanalysen  neurotischer  Individuen  sich 
knüpfende  Lehre  von  der  Analerotik  usw.  soll  weder  hier  noch  -später  eingeg-angen 
werden.  Ihre  Kritik  würde  ein  zu  ausführliches  Eingehen  auf  die  Grundpositionen 
der   Psychoanalyse   notwendig    machen. 


DIE  OMXlGEMi:   DKll   SEXIAI.ITaT 387 

»uiltTgtHtrdnoleron  Holle,  und  schafft  den  Primat  der  Genitalzone,  wie 
Freud  sagt.  Ik'vor  jtxloch  diese  l'mgestaltungen  besprochen  werden 
sollen,  sei  noch  von  einer  anderen  interessanten,  ebenfalls  erst  durch 
Freuds  Forschungen   ins  Licht  gerückten   Frage  die  Rede. 

Fs  handelt  sich  um  die  Stellung,  welche  Kinder  zu  den  Prob- 
lemen der  Sexualität  einnehmen  und  um  die  Gedankensysteme, 
welche  sie  daran  knüpfen,  die  infantilen  S  e  x  u  a  1 1  h  e o  r  i  o  n. 
frotzdem  Freud  und  seine  Schüler  zu  diesem  Gegenstand  beträchtliches 
Material  beigebracht  haben,  ist  unsere  Kenntnis  noch  eine  relativ  geringe. 
Solche  Dinge  gehören  zu  den  von  Kindern  zumeist  sorgfältig  geheimge- 
haltenen Angelegenheiten,  teils  aus  einer  natürlichen  Scheu,  lebhaft  inter- 
essierende Fragen  preiszugeben,  teils  aus  anerzogener  Schamhaftigkeit 
heraus,  grof^nteils  aber  weg^en  des  den  meisten  Kindern  aus  Erfahrmig 
bekannt  gewordenen  Unverständnisses  der  Erwachsenen,  die  glauben,  mit 
ein  paar  ausweichenden  Redensarten  das  Kind  von  seinem  Interesse 
abbringen  und  es  vorderhand  zufriedenstellen  zu  können.  Dennoch  sind 
diese  Interessen  der  Kinder  sehr  wichtig.  Eine  vernünftige  sexuelle 
Aufklärung  wird  überhaupt  nur  dann  möglich  sein,  wenn  man  weiß, 
was  die  Kinder  von  all  diesen  Dingen  denken  und  was  sie  sich  selbst 
für  Lösungen  zurechtlegen.  Auch  in  dem  beharrlichen  Nachdenken  und 
Nachforschen  über  sexuelle  Probleme  zeigt  sich  die  ^^'irksamkeit  der 
Sexualität  im   Kindesalter. 

Ganz  mit  Recht  bemerkt  Freud,  ^  daß  die  ,, Storchfabel"  nicht  zu  den 
infantilen  Sexual theorien  gehöre.  Kinder,  welcbe  diese  Fabel  glauben 
oder  zu  glauben  scheinen,  tun  dies  oft  eigentlich  den  Erwachsenen  zu- 
liebe, weil  sie  den  Eindruck  haben,  diese  legten  darauf  Wert.  Es  ist 
dies  ja  eine  Attitüde,  die  man  bei  Kindern  auch  sonst  nicht  gar  so  selten 
antrifft,  die  zuweilen  die  etwas  grotesk  anmutende,  im  Grunde  aber  tra- 
gische Form  ge\>-innt,  als  bemitleideten  die  Kinder  eigentlich  die  ,, Großen" 
vmd  täten  ihnen  nur  den  Gefallen,  so  zu  scheinen,  wie  jene  sich  Kinder 
denken.  Inwieweit  die  Beobachtung  der  Tiere  das  Gegenteil  bevNirkt, 
geradezu  mit  ein  ,\nlaß  zur  Suche  nach  einer  Sexualtheorie  Avird,  wie 
das  Freud  annimmt,  möchte  ich  dahingestellt  sein  lassen.  Denn  Sexual- 
theorien ent^v^ckeln  auch  Kinder,  denen  eine  Gelegenheit  zur  Beobachtung 
des  Geschlechtsverkehres  und  des  Trächtigwerdens  der  Tiere  sich  nicht 
bietet. 

Freud  gruppiert  die  ihm  bekannten  Typen  infantiler  Sexualtheorien 
folgendermaßen,  wobei  er  sich  wesentlich  auf  Beobachtungen  und  Anam- 
nesen (bzw.  Psychoanalysen)  männlicher  Individuen  stützt:  „Die  erste 
Theorie  knüpft  an  die  Vernachlässigung  der  Geschlechts  unterschiede  an" 
(welche  dem  kindlichen  Denken  eigentümlich  ist)  und  „besteht  darin, 
allen  Menschen,  auch  den  weiblichen  Personen,  einen  Penis  zuzusprechen". 
Diese  Anschauung  löst  aber  für  das  Kind  das  so  hauptsächlich  beschäfti- 
gende Problem,  woher  denn  die  Kinder  kämen,  nicht.  Daß  das  Genitale 
auch  des  Mannes  an  der  Erzeugung  des  Kindes  beteiligt  sei,  beweist  dem 
Kinde,  meint  Freud,  die  Miterregung  des  Organes  bei  all  dieser  Gedanken- 

^  über    infantile    Sexualtheorien,    Sexualprobleme    /|.     1908    u.    (JS)    II. 
25* 


388  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

arbeit.  (Ob  über  diese  Miterregung  irgendwelche  Angaben  der  Betreffen- 
den vorliegen  oder  ob  sie  nur  erschlossen  wurde,  geht  aus  der  angezogenen 
Stelle  nicht  hervor.)  Es  seien  weiterhin  „mit  cheser  Erregung  Antrieb© 
verbunden,  die  das  Kind  sich  nicht  ru  deuten  weiß,  dunkle  Impulse  zu 
gewaltsamem  Tun,  zimi  Eindringen,  zum  Zerschlagen,  irgendwo  ein  Loch 
aufzureißen".  Im  Verfolge  dieser  organbedingten  Hinweise  könnte  eine 
korrekte  Anschauung  vom  Geschlechtsverkehr  tmd  dem  Wesen  der  Kinder- 
erzeugung erlangt  werden,  wenn  dieser  nicht  die  Unkenntnis  der  ana- 
tomischen Geschlechtsunterschiede  im  Wege  stünde.  Auch  das  Mädchen 
teilt  nach  Freuds  Ansicht  die  Wertschätzung  des  Penis,  beneidet  den 
Bruder  darum,  wie  dieser  das  weibliche  Genitale  nur  als  ein,  sei  es  noch 
klein   gebliebenes,   sei  es   verkümmertes   männliches  auffaßt. 

Auch  die  zweite  der  infantilen  Sexual theorien  gründet  in  der  Unkenntnis 
des  weiblichen  G^nitalapparates.  Das  Kind  wächst  im  Leibe  der  Mutter 
und  wird  aus  ihr  geboren,  diese  empirische  Tatsache  fordert  eine  Er- 
klärung. Mangels  jener  Einsicht  entsteht  die  Theorie,  das  Kind  werde 
wie  die  Fäkalien  entleert.  Diese  Fassung  gehört  den  ersten  Kindheits- 
jahren an.  Sie  verfällt  später,  in  dem  Maße,  als  die  Funktion  der 
Stuhlentleerung  entgegen  den  Gepflogenheiten  der  Kleinkinderstube  den 
Charakter  des  Anstößigen  akquiriert,  der  Vergessenheit.  An  ihre  Stelle 
treten  Annahmen,  wie  etwa  die,  das  Kind  werde  aus  dem  Nabel  der 
Mutter  geboren,  der  Mutter  werde  der  Bauch  aufgeschnitten,  wozu  etwa 
die  Anwesenheit  des  Arztes  bei  der  Geburt  den  Anknüpfungspunkt  abgibt. 
Solche  Äußerungen  bekommt  m.an  von  Kindern  oft  zu  hören.  Freud 
meint,  die  Theorie  werde  frei  ausgesprochen,  weil  sie  nichts  Anstößiges 
mehr  enthalte;  daher  werde  sie  auch  in  späteren  Jahren  frei  erinnert, 
während  die  frühere  vom  Kinde  verheimlicht,  im  Laufe  der  Jahre  ver- 
drängt werde.  Folgerichtig  wird  die  Möglichkeit  des  Kindergebärens 
auch  dem  Manne  zugeschrieben. 

Die  dritte  Theorie  kann  sich  entwickeln,  wenn  das  Kind  zufälliger- 
weise in  der  Lage  war,  den  Geschlechtsverkehr  der  Eltern  zu  belauschen. 
Dann  entsteht  die  ,, sadistische  Theorie  des  Koitus",  die  Auffassung  des- 
selben als  eines  Kampfes.  Freud  bemerkt,  daß  seiner  Erfahrung  nach 
offenbar  gerade  diese  Deutung  des  Geschlechtsverkehres  als  einer  Gewalttat 
dem  Kinde  es  unmöglich  macht,  darin  die  Lösung  der  Frage  nach  der 
Herkunft  der  Kinder  zu  erblicken. 

Neben  diesen  Haupttypen  gibt  es  noch  andere  Theorien,  so  die,  daß 
Kinder  durch  einen  Kuß  entstehen  könnten,  welche  nach  der  Erfahrung 
Freuds  ausschließlich  feminin  ist.  Auf  alle  diese  Einzelheiten  einzugehen, 
würde  doch  wohl  zu  weit  führen. 

Nicht  ohne  Interesse  ist  die  Reaktion  der  Kinder  auf  die  ,, Aufklärung", 
welche  allerdings  meist  erst  in  Jahren  eintritt,  von  denen  hier  nicht  die 
Rede  war,  deren  Besprechung  aber  sich  zwanglos  hier  anfügen  läßt. 
Zumeist  handelt  es  sich  nicht  um  eine  zielbewaißte  Aufklärung  durch 
Eltern,  Erzieher,  sondern  um  eine  zufällige  durch  Altersgenossen  oder 
etwas  ältere  Genossen;  es  fallen  daher  auch  die  Mitteilungen,  dem  eben- 
falls noch  mangelhaften  Wissen  dieser  Instruktoren  gemäß,  mivollständig 


DIE   OMOGENir:   DHU    SEXIAMTaT 389 

aus;  sie  sind  reichlich  niil  falschen  Elcnicnten  durchsel/t,  die  z.  T.  aus 
den  infantilen  SexualÜieoricn  stammen.  Je  nach  <ler  Art  der  Aufklärung 
trestaltet  sich  die  (Liran  sich  knüpfende  CletlankiMiarbeit,  die  an  und  für 
sich  kein  weiteres  Interesse  bietet.  Die  affektiv«*  Reaktion  ist  im  allge- 
meinen eine  unluslbetonte,  allerdings  keine  einheitliche,  da  in  ihn  einer- 
seits die  teilweise  ixler  vielleicht  auch  für  den  Augenblick  ganz  befricdigto 
Neugierde,  tue  ert)tische  Erregung,  das  Bewulitsein,  den  Erwachsenen 
in  iliesem  lange  angestrebten  Wissen  zu  gleichen,  das  Gefühl  der  über- 
legenl)eit  über  den  noch  nicht  so  weit  vorgeschrittenen  Altersgenossen 
(dessen  Unwissenheit  bei  dem  eben  erst  Initiierten  die  bedauern d-über- 
legene  Bemerkung:  ,,bist  du  aber  dumm"  ]>rovoziert)  sich  mit  dem  Ge- 
fühl des  Peinlichen,  Unerwarteten,  eigentlich  Abzulehnenden  und  zugleich 
<lem  des  Wissens  um  Verbotenes  eigenartig  vermengen.  Dieser  Misch- 
zustand  scheint  ein  ziemlich  typischer  zu  sein,  da  er  in  den  verschie- 
densten Selbstbekenntnissen  wiederkehrt,  wie  sie  z.  B.  bei  Liepmann  (73), 
in  dem  ,, Tagebuch  eines  halbwüchsigen  Mädchens",  da  mid  dort  bei 
Moll  (83,  84),  H.  Ellis  (26,  29)  u.  a.  zu  finden  sind.  Oft  auch  begegnet 
die  Aufklärung,  insbesondere  über  den  Geschlechtsakt  selbst,  ausgesproche- 
nem Unglauben  und  erregt  den  W^unsch,  das  Unglaubliche  irgendwie  be- 
stätigt zu  sehen,  sei  es  durch  Beobachtung  etwa  der  Eltern,  sei  es  durch 
Selbsterfahrung.  Eine  andere  Reaktionsweise  ist  die  glatte  Ablehnung, 
wie  sie  Freud  von  einem  Knaben  berichtet,  der  auf  die  Mitteilungen  eines 
Kameraden  mit  der  Bemerkung  antwortete:  ,, Möglich,  daß  dein  Vater 
so  etwas  tut,  meiner  tut  es  sicher  nicbt."  In  der  weiteren  Verarbeitung, 
in  der  ganzen  späteren  Einstellung  drücken  sich  vielleicht  diese  ■ursprüng- 
lichen Reaktionsweisen  noch  teilweise  aus,  je  nachdem  die  Unlust  über- 
wTmden,  eine  Auseinandersetzung  mit  diesen  Fragen  gelungen  ist  oder 
nicht.  Zu  untersuchen,  inwieweit  hier  pathogenetisch  bedeutsame  Mo- 
mente liegen,  ist  nicht  unsere  Aufgabe. 

Eine  weitere  sehr  bemerkenswerte  Tatsache  ist  ebenfalls  durch  die 
Forschungen  Freuds  erst  ins  Licht  gerückt  worden,  wiewohl  sie  aufzu- 
finden nicht  schwer  gewesen  wäre  und  offenbar  nur  durch  die  Nicht- 
beachtung kindlichen  Sexuallebens  überhaupt  verhindert  Avurde.  Das  ist 
das  Auftreten  von  Perioden  sexueller  Latenz,  in  welchen  die 
sexualen,  in  vorangegangenen  Jahren  etwa  schon  vorhandenen  Regungen 
und  Äußerungen  wiederum  in  den  Hintergrund  geschoben  werden.  Dieses 
Zurücktreten  ist  wohl  nicht  allein  das  Werk  der  Erziehung,  des  Ver- 
botes, der  Heranbildung  des  Schamgefühles,  der  Anweisungen  morali- 
schen und  ästhetischen  Inhaltes,  sondern  irgendwie  in  der  Gesetzlichkeit 
der  Sexualontogenie  begründet  und  durch  jene  Einwirkungen  nur  ge- 
fördert. Freud  nimmt  an,  daß  hier  der  Prozeß  der  ,,Sublimierung" 
am  Werke  sei,  durch  den  die  in  der  Sexualität  sich  auswirkenden 
Kräft<?  teilweise  diesem  Bereiche  entzogen  und  zur  Schaffung  anderer 
Leistungen  nutzbar  gemacht  werden  sollen.  Auf  die  Kritik  dieses  Be- 
griffes, der  nicht  nur  in  der  Sexualpsychologie  des  Kindes,  sondern 
auch  dort  eine  große  Rolle  spielt,  wo  es  sich  um  Zusammenhänge 
zwischen  sexualem  und  sonstigem  Verhalten  des  Individuums  sowie 
imi    gewisse    völkerpsychologische    Fragen    handelt,    wird    in    dem    Ab- 


390  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

schnitlo  über  Üm^eötaltung-en  und  Auswirkungen  der  Sexualität  näher 
eingegang^en  werden. 

Die  Ausprägung  dieser  Latenzphasen  ist  offensichtlich  individuell  eine 
sehr  verschiedene.  Bei  manchen  Menschen  scheint  in  der  Tat  die  Sexualität, 
sowohl  als  Regung  wie  als  Gegenstand  des  Interesses,  zeitweise  völlig 
ausgeschaltet  zu  sein.  In  anderen  Fällen  treten  zwar,  wie  sich  nach- 
träglich aus  der  Erinnerung  feststellen  läßt,  erotische  Regungen  auf, 
sie  werden  aber  nicht  als  solche  erkannt  oder  anerkannt  und  können 
daher  auch  einem  Nachforschen  nach  sexualen  Dingen  nicht  zum  Aus- 
gangspunkte werden.  Gelegentlich  kommt  es  auch  zu  vorübergehenden 
oder  dauernden  Durchbrüchen  der  Sexualität  mit  Einsicht  in  deren 
Nalur,  d.  h.  das  Kind  erkennt  diese  Erregungen  als  identisch  mit 
frülieren   Erlebnissen,   soweit  '■es   sich   derselben   zu   erinnern    vermag. 

Denn  diese  Erinnerung  ist  vielfach,  auch  beim  Erwachsenen,  eine 
merkwürdig  mangelhafte.  Große  Erlebniskomplexe  verfallen  einer 
Amnesie,  die  wiederum  Freud  aufgedeckt  hat,  und  deren  Zustandekommen 
doch  noch  der  Aufklärung  harrt,  zumindest  wenn  man  die  Theoreme 
der  Psychoanalyse  nicht  ohne  weiteres  akzeptieren  zu  können  glaubt. 
Es  verdient  indes  angemerkt  zu  werden,  daß  diese  Amnesie  oftmals 
eine  nur  relative  ist,  d.  h.  daß  der  Mensch  sich  vieler  dieser  angeblich 
nicht  gewußten  Dinge,  sobald  er  will,  doch  recht  wohl  zu  erinnern 
vermag. 

In  dem  Maße,  als  sich  das  Individuum  der  Periode  der  Geschlechts- 
reife nähert,  beginnen  jene  Umgestaltungen  Platz  zu  greifen,  die  dann 
in  der  Pubertätskrise  kulminieren.  Der  Hauptgegensatz  zwischen 
der  Sexualität  des  frühen  Kindesalters  und  der  nach  erlangter  Ge- 
schlechtsreife darf  wohl  darin  erblickt  werden,  daß  jene  vorwiegend 
autoerotischen  Charakter  trägt,  diese  aber  mit  der  Aufgabe  der  Objekt- 
findung  belastet,  von  dem  Einzelich  weg  auf  ein  Du  gerichtet  erscheint. 
Allerdings  ist  auch  die  kindliche  Sexualität  trotz  des  Autoerotismus, 
trotz  der  Unmöglichkeit,  ein  Sexualziel  realiter  oder  phantasiemäßig 
zu  erreichen,  keineswegs  jeglicher  Richtung  auf  ein  Objekt  bar.  Es 
wurde  davon  schon  gesprochen;  die  „inzestuc^n"  Neigungen,  die  Be- 
ziehung zwischen  Tochter  und  Vater  u.  dgl.  wären,  soweit  in  ihnen 
erotische  Momente  mitschwingen,  ohne  eine  solche  über  das  Ich  hinaus- 
weisende  Richtung  unmöglich. 

Freud  sieht  einen  weiteren  Grundzug  darin,  daß  die  erotische  Lust- 
gewinnung sich  von  den  verschiedenen  über  den  ganzen  Körper  ver- 
breiteten erogenen  Zonen  abwende  mid  auf  den  Geschlechtsapparat  kon- 
zentriere; es  entwickelt  sich,  wie  er  sagt,  der  Primat  der  Genitalzone. 
Eine  gewisse  Prädominanz  dieser  Zone  bestand  ja,  auch  nach  Freuds 
Lehren,  schon  in  den  präpuberalen  Epochen,  drückt  sich  etwa  in  der 
Säuglingsmasturbation  imd  den  masturbatorischen  Akten  auch  späterer 
Jahre,  in  dem  Interesse  der  Kinder  für  ihre  Geschlechtsteile  aus.  Die 
Ursache  hierfür  sieht  Freud  hauptsächlich  in  spezifischen  Erregungen, 
Organempfindungen,  die  vom  Genitale  herstammen,  teils  spontan  ent- 
standen, teils  durch  zufällige  Einflüsse,  mechanische  Reizung  beim 
Reinigen,   Verführung   u.    dgl.   begünstigt   oder   ausgelöst. 


DIE  ONTOGENIE  DER  SEXUALITÄT Ml 

Ich  muß  hier  noch  eiiunal  auf  die  kritischen  Iicmork>inf,'en  über  di» 
ßoobachtun^  infantiler  Soxualäulierungen,  mit  welchen  ich  diesen  .Vb- 
scluiitt  einleilole,  zurückgreifen.  Man  könnte  nämlich,  zumindest  für 
die  Säuglinp-szeit,  noch  weitergehen  und  auch  das  Zustandekommen 
echter  spezifischer  G<?niLalempfindungen  überhaupt  in  Frage  stellen,  trotz. 
der  B<?obachtung,  <laij  der  Säugling  mit  seinem  Penis  spielt,  und  trotz 
der  Talsache,  daß  hin  und  Nvieder,  oder  sogar  oft,  Erektionen  gesehen 
werden  können.  Es  wurde  schon  einmal  angemerkt,  daß  auch  beim 
Erwachsenen  Erektionen  ohne  spezifische  Geschlechtsempfindung  in  patlio- 
logischen  Zuständen  vorkommon  können.  Das  Faktum  der  Erektion 
müßte  also  nicht  unbedingt  etwas  für  das  tatsächliche  sexuale  Erleben 
beweisen.  Daß  der  Säugling  mit  seinem  Penis  spielt,  ist,  genau  ge- 
nommen, nicht  wunderbarer,  als  daß  er  an  seinem  Ohr  zupft,  sich 
in  die  Haare  fährt  und  daran  zieht,  mit  seinen  Fingern  oder  Zehen 
spielt,  sehr  bald  jeden  erreichbaren  Zipfel  von  Stoffen  oder  was  sonst 
benutzt,  um  daran  herumzuzerren.  Und  wer  will  sagen,  daß  die  Ursache 
von  alledem  gerade  gesucht  werden  müsse  in  dem  Lustgewinn  aus  dem 
Spiel  mit  dem  Genitale?  Auch  die  Behauptung,  es  werde  dieses  Spiel 
ebenso  wie  jedes  andere  betrieben,  und  es  biete  sich  nur  durch  Form 
und  Lage  dieses  Körperteils  als  besonders  günstig  dar,  ließe  sich  ver- 
treten. Daß  die  Psychoanalyse  sotche  Auffassung  als  höchst  ober- 
flächlich ablehnen  wird  und  muß,  ist  selbstverständlich.  Darum  ist 
sie  an  sich  nicht  minder  möglich. 

Wie  dem  auch  sei,  ob  nun  der  Primat  der  Genitalzone  so  oder  so 
zustande  komme,  dieses  ist  zweifellos,  daß  die  Pubertät  die  somatischen 
Sexualvorgänge,  damit  das  Interesse  an  ihnen  und  allem,  was  damit 
zusammenhängt,  auftreten  läljt.  Zugleich  vollziehen  sich  mannigfache 
andere  Umwälzungen  im  Körper  und  in  der  Seele.  Es  ist  natürlich 
naheliegend,  die  seelischen  Neugestaltungen  kausal  mit  den  Vorgängen 
in  der  Sexualsphäre  in  Zusammenhang  zu  bringen,  um  so  mehr,  als 
wir  ja  bei  Frühkastraten  (d.  h.  solchen  Individuen,  denen  vor  Erlangung 
der  Geschlechtsreife  die  Keimdrüsen  entfernt  werden)  manche  dieser 
Neugestaltungen  ausbleiben  sehen,  geradeso  wie  auch  ihr  körperlicher 
Habitus  von  dem  des  gleichaltrigen  normalen  Individuums  abweicht. 
Aber  so  wenig  Körper  und  Seele  des  Kastraten  durchaus  auf  infantiler 
Stufe  verharren,  sondern  doch  eine  Umwandlung  erkennen  lassen,  so 
wenig  kann  man  ohne  weiteres  die  sexualen  Prozesse  der  Pubertät  als 
das  allein  ausschlaggebende  Moment  ansehen.  Ich  möchte  fast  die  Be- 
hauptung wagen,  daß  es  bei  Vorgängen,  die,  durch  innere  Faktoren 
veranlaßt,  sich  in  einem  Organismus  abspielen,  überhaupt  ein  primäres 
Moment,  eine  Ursache  im  physikalischen  Sinne  gar  nicht  geben  könne. 
Auch  in  der  somatischen  Pathologie  können  wir  von  primären  Noxen 
eigentlich  nur  dort  sprechen,  wo  eine  äußere  Einwirkung  vorliegt.  Tritt 
etwa  nach  einer  Knochenfraktur  eine  Fettembolie,  damit  ein  Lungen- 
infarkt, ein  Erguß  in  die  Pleurahöhle  usw.  auf,  so  haben  wir  in  dem 
Trauma  das  primäre  Moment,  in  dem  frakturierten  Knochen  seinen 
Angriffspunkt  gegeben.  So  auch  bei  einer  Infektionskrankheit,  etwa 
der    Ansiediung    von    Typhusbazillen    im    Darme    usw.     Entwickelt    sich 


392  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

abor  „endogen"  ein  Prozeß,  so  ist  es  unmöglich  und  m.  E.  auch 
unrichtig,  ein  primäres  Moment  statuieren  zu  wollen.  Was  \vir  fest- 
stellen können,  ist  niu-  das  mehr  oder  weniger  ausgeprägte  Ergriffensein 
dieses  oder  jenes  Organsystems.  Wenn  z.  B.  eine  Himkrankheit  wie 
die  Epilepsie  außer  den  zentralen  Symptomen  noch  solche  von  Seiten 
des  Stoffwechsels,  der  innersekretorischen  Apparate  aufweist,  so  ist  es 
m.  E.  fast  müßig,  dariiber  zu  streiten,  was  denn  das  ,, Primäre"  daran 
sei.  Denn  ein  Organismus  ist  eben  ein  Gebilde,  das  durch  keine  andere 
Bestimmung  gekennzeichnet  werden  kann,  als  die:  es  bedingen  seine 
Teile  einander  wechselseitig  in  ihrem  Sein  imd  Leisten,  wie  das  ja  Kant 
an  einer  klassischen  Stelle  der  Kritik  der  Urteilskraft  ausführt.  So 
scheint  es  mir  auch  irrig,  für  die  puberalen  Umgestaltungen  schlechthin 
die  sich  in  der  Genitalsphäre  abspielenden  Vorgänge  verantwortlich  zu 
machen  und  die  Unterschiede  in  seelischen  Abläufen  zwischen  dem  prä- 
und  postpuberalen  Lebensabschnitt  kausal  aus  der  Entwicklimg  der  Psycho- 
sexualitäl   deduzieren   zu   wollen. 

Dieser  Exkurs  schien  mir  für  die  Darstellung  der  Pubertätspsycho- 
logic  von  Belang.  Es  kann  übrigens  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  allen 
psychischen  Umgestaltungen  dieser  Phase  nachzugehen,  da  gar  manche 
derselben  nicht  Gegenstand  einer  Sexualpsychologie  i.  e.  S.  sind,  vielmehr 
von  einer  Darstellung  der  Ontogenie  seelischen  Lebens  überhaupt  zu 
behandeln    wären. 

Die  Psychologie  der  Pubertät  ist  wiederholt  ausführlich  monographisch 
behandelt  worden,  am  eingehendsten  wohl  von  Marro  (79,  80),  der  auch 
den  physiologischen  Umgestaltungen,  Verhältnissen  des  Wachstums,  des 
Stoffwechsels  u.  a.  seine  Aufmerksamkeit  zugewendet  hat. 

Die  auffallendsten  psychischen  Veränderungen  treten  in  der  emotiven 
Sphäre  zutage.  Eine  eigenartige  Unruhe,  eine  innere  Unsicherheit,  ein 
Drang  nach  unbekannten  Zielen,  ein  unbestimmtes  Wünschen,  Sehnen 
kennzeichnen  die  durchschnittliche  Affektlage,  ein  Zustand,  der  ja  zu 
unzähligen  Malen  in  der  schönen  Literatur  Verwertung  und  Schilderung 
gefunden  hat.  (Mit  zu  den  besten  dieser  Art  gehören  vielleicht  manche 
Stellen  in  Zolas  ,,Un  reve".)  Damit  geht  eine  stärkere  Betonung  des 
Eigenwertes  einher,  die  aber  gleichermaßen  positiver  wie  negativer  Art 
sein  kann.  Eine  Neigung  zur  Hervorhebung  der  eigenen  Person,  sei 
es  durch  Auftreten  und  Gehaben,  sei  es  durch  Körperpflege  und  Schmuck, 
durch  alles,  was  man  Eitelkeit  nennt,  ist  davon  ebenso  die  Folge,  wie 
eine  besonders  leichte  Verletzlichkeit,  die  Neigung,  sich  hintangesetzt 
zu  sehen,  nicht  als  voll  genommen  zu  werden.  Die  Reaktion  gegen 
diese  Befürchtung  führt  wiederum  zu  einem  Umschlagen  in  das  Gegen- 
teil; in  dem  Widerstreben  gegen  dieses  Gefühl  des  Unterschätztwerdens  und 
zugleich  auch  durch  das  Wissen,  daß  man  doch  nicht  oder  noch  nicht 
das  ist,  was  man  so  gerne  schiene,  \vird  das  selbstbewußte  Auftreten 
utriert,  ein  aggressives  Verhalten,  eine  Trotzeinstellung  eingenommen. 
Hier  findet  sich  das  Adlersche  (2)  Schema  der  Überkompensation  von 
Minderwertigkeitsgefühlen  voll  und  ganz   verwirklicht. 

Die  Unbestimmtheit  der  Wünsche  weicht  einer  schärferen  Definition, 
einer   Zentrierung  um  das   Sexualproblem.    Aber  auch  in   dieser  Sphäre 


DIE  ONKXJEMK   OKR   SEXIALITÄT  393 


machen  sich  die  cIhmi  aiuloutuiigswoiso  gekoniizcichneten  Verhallunps- 
utiscn  gfllond.  Zuf^doicli  slollt  sicli  oiners4nLs  dor  Konflikt  mit  den  ü\yer- 
iionimon<Mi  nioralisolion  Tendenzen  ein,  andersi'iUs  jener  zwischen  dem 
Dianp  nadi  s^'xiudem  Erhöhen  und  der  Furcht  vor  den  neuen  Erlebnissen, 
die  ge^jhnt,  aber  nicht  erkannt  werden.  Auf  der  einen  Seite  wenleii 
alle  jene  Reize,  welche  der  Auslösuiifj  sexualer  Erregungen  (ücncn  können, 
aufgesucht,  man  fahndet  nach  erotischer  Lektüre  usw.;  auf  der  anderen 
Seite  haftet  dieser  ganzen  neuen  Sphäre  etwas  l  nheimliches  an,  nicht 
nur  infolge  der  Inwissenheit,  sondern  aus  einer  Art  Vorahnung  heraus, 
daß  hier  Mächte  im  Spiele  sind,  die  das  geruhige  Leben  der  Kindheit 
auf  immer  zu  zerstören,  seine  relative  Einfachheil  zu  vernichten,  go- 
fährlicher  als  alle  äußere  Autorität  in  die  Willensbestimmungen  einzu- 
greifen berufen  sein  möchten. 

In  dieser  Stimmung  erscheint  es  begreiflich,  wenn  Abwehrreaktionen 
versucht  werden :  wenn  das  Individuimi  wenigstens  teilweise,  wenigstens 
nach  außen  hin,  die  Existenz  dieser  noch  mehr  weniger  von  ferne 
drohenden  Kräfte  abzuleugnen  bestrebt  ist.  So  kommt  es  zu  der  Negierung 
des  anderen  Geschlechtes,  zumindest  vor  anderen,  oft  genug  auch  vor 
sich  selbst,  eine  ISegienmg,  die  freilich  auf  die  Dauer  nicht  aufrecht- 
erhalten werden  kann.  Die  jugendliche  Spröde,  das  herb  ablehnende 
Mädchen,  der  Frauenverächter  von  fünfzehn  Jahren  sind  bekannte  Typen. 
Die  ihres  eigentlich  vorbestimmten  Ausweges  beraubte,  noch  so  wenig 
zielbeA>aißte  Unruhe  sucht  sozusagen  ein  anderes  Ventil:  Flegeljahre, 
Religiosität   der    Pubertätszeit  usw. 

Der  unbestimmte  Drang  nach  dem  erfüllenden  Du,  zusammen  mit 
der  reaktiven  .\bwendung  gerade  von  den  für  diese  Erfüllung  bestimmten 
Wesen  des  anderen  Geschlechtes,  führt  zu  einer  Verstärkung  des  An- 
schlusses an  Kameraden  und  Kameradinnen.  Die  Pubertätsperiode  legt 
vielfach  den  Grund  auch  zu  dauernden  Freundschaften,  wenn  auch  viele, 
vielleicht  die  Mehrzahl,  nur  Surrogatcharakter  tragen,  was  man  bekanntlich 
insbesondere  den  Mädchenfreundschaften  nachzusagen  pflegt;  obwohl  ich 
mich  eigentlich  nicht  davon  überzeugen  kann,  daß  die  Unbeständigkeit 
solcher  Freundschaften  beim  weiblichen  Geschlecht  sehr  viel  beträchtlicher 
wäre  als  beim  männlichen.  Es  soll  übrigens  mit  der  Betonung  des 
Surrogatcharakters  keineswegs  behauptet  werden,  daß  diese  Freund- 
schaften allemal  eine  erotische  Grundlage  in  dem  Sinne  hätten,  daß  in 
die  wechselseitige  Zuneigung  sexuale  Momente  als  konstitutiv  eingingen. 
Daß  das  vorkommt,  ist  selbstverständlich.  Noch  einmal  werden  die 
bisexualen  Möglichkeiten  ausgenützt,  bevor  sie  —  zumindest  für  das 
bewußte  Erleben  —  mehr  weniger  endgültig  in  den  Hintergrund  ge- 
schoben werden.  Auch  das  kommt  natürlich  vor,  daß  in  den  späteren 
Phasen  der  Pubertät,  insbesondere  nach  ihrer  Vollendung,  bei  mangelnder 
Gelegenheit  zu  normaler  Sexualbefriedigung  eine  Sexualbetätigung  am 
gleichen  Geschlecht  angestrebt  und  erreicht  wird,  neben  den  autoero tischen. 
Maßnahmen.  Die  Hemmungen  können  dabei  äußerer  oder  innerer  Art 
sein ;  das  Leben  in  Internaten  ist  in  dieser  Hinsicht  berüchtigt,  vielleicht 
zu  Unrecht.  Innere  Hemmungen  sind  Angst  und  Unsicherheit,  moralische 
Bedenken  aller  Art  usw.    Diese  ,, fakultative  Homosexualität"  gehört  aber 


394  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

schon  der  postpxiberalen  Periode  an,  wird  auch  ziuneist  wohl  nicht  mehr 
unter  dem  Einflüsse  eines  imbestimmten  Dranges,  sondern  in  mehr 
weniger  klarer   Einsicht  und   bewußt   betätigt. 

So  groß  die  Unterschiede  im  Verhallen  und  Seelenleben  von  Knaben 
und  Mädchen  in  den  präpuberalen  Jahren  auch  sein  mögen,  die  eigent- 
liche trennende  Kluft  reiJBt  erst  mit  der  Pubertät  auf.  Hier  tritt  der 
Gegensatz  von  aktivem  imd  passivem  Verhalten  auf  das  schärfste,  schärfer 
vielleicht  als  in  späteren  Jahren  hervor.  Der  Tätigkeitsdrang,  die  Leb- 
haftigkeit, Wildheit  des  Knaben  scheint  zu  wachsen;  rebellisch  gegen 
jegliche  Autorität,  versucht  er,  irgendwie  seine  eigenen  Wege  zu  gehen, 
unter  Umständen  auch  solche,  die  ihm  mißfallen,  nur  darum,  weil 
es  der  eigene,  der  Autorität  nicht  behagende  Weg  ist.  Während  dagegen 
das  Mädchen  an  Tätigkeitsdrang  einbüßt  und  beginnt,  sich  auf  sich  und 
in  sich  zmiickzuziehen,  jene  in  sich  beschlossene  Attitüde  zu  gewinnen, 
welche  uns  für  die  Psychosexualität  der  Frau  als  letztes  Merkzeichen 
erschienen  ist.  Das  Tragen  der  langen  Röcke  ist  hierfür  nur  das  Symbol. 
Es  bedarf  wohl  nicht  der  Hervorhebung,  daß  es  sich  hier  um  Typen 
handelt,  von  denen  in  Wirklichkeit  alle  Abweichungen  und  Übergänge 
vorkommen. 

Zugleich  akquiriert  das  Mädchen  alle  jene  Fähigkeiten,  die  es  in  der 
Entfaltung  erotischer  Bezieiiungen  späterhin  auszunützen  verstehen  wird. 
Die  Kunst  der  Koketterie,  der  spezifisch  weiblichen  Liebenswürdigkeit 
des  Erratenlassens,  halben  Entgegenkommens,  ohne  doch  einen  merk- 
lichen Schritt  zu  tim,  und.  die  Fähigkeit,  im  Manne  als  Geschlechts- 
wesen zu  lesen,  seine  Begierden  zu  erraten,  ja  deren  Dasein  zu  erraten, 
eigentlich  bevor  sie  selbst  noch  recht  weiß,  worauf  genau  diese  Be- 
gierden gehen,  zugleich  mit  der  Reserve,  Kühle,  welche  die  Frau  —  außer 
im  Banne  überwältigender  Leidenschaft   —   im  allgemeinen  auszeichnet. 


DIE  SEKUNDÄRP]N   PHÄNOMENE 

Als  sekundäre  Phänomene  werden  hier  Abläufe  und  Verhaltungsweisen 
begriffen,  welche  zwar  zur  Sexualsphäre  in  engerer  oder  weiterer  Be- 
ziehung stehen,  dennoch  aber  nicht  mehr  als  unmittelbare  Äußerungen 
derselben   angesehen    werden   können. 

Das  Schamgefühl  ist  nach  der  wohl  begründeten  Überzeugung 
der  Autoren  nicht  als  eine  ursprüngliche  Verhaltungsweise  aufzufassen. 
Die  Psychologie  der  ersten  Kindheitsjahre  ebenso  wie  die  Ethnologie 
tun  überzeugend  dar,  daß  das  Schamgefühl  vollkommen  fehlen  kann, 
auch  dauernd  zu  vermissen  ist,  bzw.  daß  es  sich  je  nach  Kulturzustand 
und  Sitte  auf  ganz  verschiedene  Dinge  beziehen  kann.  Da  es  hier  nicht 
unsere  .Vufgabe  ist,  Sexualsitten  zu  beschreiben,  seien  nur  zwei  Beispiele 
aufgeführt.  Die  Fellachin,  die  sich  schämt,  ihr  Gesicht  zu  zeigen,  und 
den  Körper  entblößt,  es  zu  verhüllen,  die  naiv-schamlosen  Eingeborenen 
Zentralbrasiliens,  wie  sie  K.  von  den  Steinen  geschildert  hat,  sind  typisch 
für  den  Mangel   und  die  Wandelbarkeit  des  Schamgefühles. 

Auch  in  der  individuellen  Ent\Wcklung  des  Kulturmenschen  scheint 
das  Schamgefühl  anerzogen  zu  sein.  Man  weiß  freilich  nicht,  wie  sich 
ein  Individuum  verhalten  würde,  das  ganz  ohne  Anleitung,  wie  sie  den 
Kindern  so  bald  nach  den  ersten  Jahren  zuteil  vnrd,  bis  in  das  Alter 
der  Geschlechtsreife  gelangt  wäre.  Aber  alles  spricht  dafür,  daß  das 
schamhafte  Verhalten  eine  erlernte,  nicht  eine  originäre  Attitüde  sei, 
wie  es  denn  auch  unter  der  Herrschaft  der  Psychose  in  vielen  Fällen 
zu   verschwinden   pflegt. 

Ob  sich  für  diese  Reaktion  eine  phylogenetische  Wurzel  aufzeigen 
läßt,  ob  in  der  Tat,  wie  H.  Ellis  (29)  meint,  es  sich  auf  der  Sexual- 
abwehr des  weiblichen  Tieres  aufbaut,  dem  der  Sexualverkehr  aus  bio- 
logischen Gründen  unerwünscht  ist,  muß  dahingestellt  bleiben.  Es  könnte 
eine  solche  starmnesgeschichtliche  Ableitung  höchstens  erklären,  wieso 
auch  der  Mensch  die  Fähigkeit  habe,  die  Reaktionsweisen  des  Scham- 
gefühles zu  erwerben,  schwerlich,  wieso  es  zum  Auftreten  dieser  Re- 
aktionsweisen kommt.  Sicherlich  hat  mit  der  G«nese  des  Schamgefühles, 
wie  schon  oft  bemerkt  wurde,  die  somatische  Verknüpfung  der  genitalen 
und  exkrementiellen  Fimktionen  etwas  zu  tun.  Alles  dieses  aber  führt 
m.  E.  noch  nicht  auf  den  eigentlichen  Grund,  aus  dem  dieses  Verhalten 
erwächst.  Es  ist  bemerkenswert,  daß  Schamgefühl,  von  einer  gewissen 
Kulturhöhe  angefangen,  aller  Orten  angetroffen  wird,  mag  es  sich  noch 
so  verschiedenartig  äul^rn.  Auch  innerhalb  der  abendländischen  Mensch- 
heit, ja  in  gar  nicht  so  fernen  Epochen,  haben  die  Meinungen  über  das, 
wessen  man  sich  zu  schämen  habe,   vielfache  Wandlungen  erfahren,   die 


ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 


396 

z.  T.  in  den  Klcidungssitten  ihren  Ausdruck  fanden  ^  Trotzdem  finden 
wir  eben  immer  irgend>vie  ein  Schamgefühl.  Bei  einzelnen  Menschen 
mancher  als  besonders  frei  von  Scham  in  unserem  Sinne  bekannter 
Epochen  begegnen  ^^^^  Äußerungen,  die  sich  mit  den  strengsten  An- 
forderun<^en  in  dieser  Hinsicht  messen  können.  Es  muß  also  wohl 
irgendein  recht  tief  liegendes  Motiv  die  treibende  Kraft  für  die  Ent- 
wicklung  solchen    Verhaltens    abgegeben    haben. 

Soviel  ich  sehe,  kommen  zwei  Wurzeln  in  Betracht,  eine  soziale 
und  eine  psychologische.  Das  soziale  Motiv  ist  gegeben,  sobald  die 
Komplikation  der  Lebensverhältnisse  einen  unbeschränkt  freien  Ge- 
schlechtsverkehr unmöglich  oder  imtunUch  macht  und  zugleich  auch 
die  Möglichkeit  der  Bewahrung  geschlechtlicher  Beziehungen  vor  fremden 
Eingriffen  erschwert.  Flagitii  principium  est  nudare  inter  cives  Corpora 
(Ennius  bei  Cicero).  Diesen  Zusammenhängen  haben  wir  hier  weiter 
nicht  nachzugehen. 

Das  psychologische  Motiv  scheint  mir  das  ausschlaggebende  und  darin 
gelegen  zu  sein,  daß  in  der  Sexualität,  bzw.  in  ihren  Betätigungen  auch 
schon  in  den  niederen  Formen,  eine  gewisse  Preisgabe  des  ich  statthat; 
wenn  man  will,  eine  Art  .\bdanken  der  souveränen  Herrschaft  über  die 
Lebensführung  und  zugleich  eine,  wenn  auch  noch  so  flüchtige  Ver-, 
schmelzimg  mit  einer  zweiten  Individualität.  Damit  kommt  es  zu  einem 
Verlust  der  sonst  so  sorgfältig  gewahrten  Stellung  des  einzelnen  -  in 
der  und  gegen  die  Gesamtheit,  weil  die  erotische  Beziehung  zugleich  die 
äußerste  Anerkennung  des  Verpflichtetseins  an  die  oder  den  anderen 
beinhaltet.  Daß  diese  Einstellung  niemals  be^vußt  wird,  braucht  wohl 
ebensowenig  erst  ausgesprochen  zu  werden,  wie  daß  es  sich  hier  um 
eine  Konstruktion  handelt,  die  sich  nur  allerdings  aus  dem  Wesen  des 
Erotischen  zwanglos  abzuleiten  scheint. 

Diesem  letzten  Grunde  gegenüber  scheinen  mir  alle  anderen  Motive 
nur  sekundäre  Bedeutung  zu  haben.  Etwa  die  Schüchternheit  und  die 
Angst  vor  dem  LIngewohnten,  auf  welche  manche  Autoren,  so  Forel,  das 
Hauptgewicht  legen.  Schon  der  Umstand,  daß  auch  Erfahrung  und 
Gewöhnung  das  Schamgefühl  nicht  völlig  aufzuheben  vermögen,  dürfte 
gegen   eine   ausschlaggebende    Bedeutung   dieses    Momentes   sprechen. 

Zur  Deskription  ist  zu  sagen,  daß  das  Schamgefühl  ein  recht  komplexes 
Erlebnis  ist.  Es  scheint  mir  vor  allem  dadurch  ausgezeichnet  zu  sein, 
daß  es  eine  Reaktion  auf  ein  mögliches  Verhalten  darstellt.  Es  ist 
ein  Hemmtmgsapparat,  eine  Schranke,  welche  aufgerichtet  wird.  Ich 
glaube  nicht,  daß  dort  ein  Schamgefühl  sich  entwickeln  kann,  wo  die 
Möglichkeit  der  Handlungen,  gegen  die  es  sich  richtet,  von  vorneherein, 
grundsätzlich  sozusagen  ausgeschlossen  erscheint.     Daraus  resultiert  viel- 

^  Agl.  etwa  Montaignes  (8-)  Frage:  „.4  qaoi  faire  la  monstre  que  nous  faisons  ä  cette 
heure  de  nos  pieces  en  fnrme  soubs  nos  ^feines-  et  souvent,  qui  pis  est,  oultre  leur 
grandeur  naturelle,  par  faulsete  et  imposture?"'    Essais,  Livre  III,  chap.  V. 

2  Vgl.  W.  James  (6o)  Jnstinct  of  personal  Isolation"  und  Lou  Andreas-Salomes 
Bemerkungen    (5),    S.    i8. 


PIK  SEKlNPAlUiN    l'IKNOMKNE 397 

loicht  die  relativ  gering«,  bei  vielen  iMonschen  sogar  völlig  fehlende  Aus- 
präfrung   gogcinübor    Angt'horigon    tlessolboii    ricschhx-htcs. 

Wenn  als*)  im  SciiänuMi  einerseits  Neigung  zu  einer  inögliclicn  und 
ilireni  Wesen  nach  luäLbringenden,  und  zwar  Sexuallust  bringenden  Hand- 
lung, anderseits  die  lleniinung  die,ser  Neigung  /usanunennösscn,  wäro 
es  erklärlich,  warum  in  die-s<Mn  Erlebnis  neben  den  |M:'inIichen  Momenten 
doch  auch  irgendwie  eine  {K)silive  (lefühlsbetoiuiiig  merkbar  werden  kann. 
Allerdings  sind  die  lienimungon  vielfach  so  stark,  dafS  c^  auch  nur  zum 
Anklingen  einer   Lustkomponente  gar   nicht  kommt. 

Man  wird  zwischen  der  dauernden  Disposition,  der  Schamhaftigkeit, 
und  den  jeweiligen  ÄuISerungen  derselben,  dem  Schämen,  bzw.  der  Hintan- 
haltimg  alles  dessen,  was  zum  Auftreten  solcher  Reaktion  Anlafj  werden 
könnte,  unterscheiden  müssen.  Als  Disposition  ist  die  erstere  niemals 
bewußtes  Erlebnis,  >vird  es  erst  in  dem  Augenblicke,  als  aus  ihr  eine 
aktuelle  Verbal tungs weise  erfließt. 

Die  Verletzung  der  Schamhaftigkeit  durch  Dritte  ist  wiederum  etwas 
anderes,  als  die  eigene  Überschreitung  der  darin  gesetzten  Grenzen. 
Erstere  erzeugt  neben  dem  spezifischen,  wie  mir  scheinen  will,  weiterer 
Zerlegung  nicht  recht  'zugänglichen  Erlebnis  eine  Reaktion  vom  Charakter 
der  Empörung  oder  der  Minderung  des  Eigenwertes,  je  nachdem  also 
eine  aktive  Reaktion,  die  sogar  zur  Rache,  jedenfalls  zum  Bedürfnis 
nach  Sühne  führen  kann,  oder  aber  zu  einem  Gefühl  unverdienten  Un- 
wertes, das  sich  bis  zu  dem  des  Ausgestoßenseins  zu  steigern  vermag. 
Es  scheint  mir,  daß  nicht  selten  diese  Reaktion  dadurch  zustande  kommt, 
daß  die  erduldete  Verletzung  der  Schamhaftigkeit  nicht  ohne  eigene 
Mitwirkung,  sohin  nicht  ohne  eigene  Schuld  erfolgen  konnte^.  Damit 
nähert  sich  dieser  Fall  dem  zweiten,  der  selbsttätigen  Verletzung  oder 
Aufgabe  der  Schamhaftigkeit,  welche  —  von  ganz  bestimmten  Ausnali- 
men  abgesehen  —  zu  einer  Reaktion  vom  Typus  der  Reue  führt  und 
daher  ebenfalls  zu  einer  Minderung  des  Eigenwertes.  Die  gedachten 
Ausnahmen  treten  dann  ein,  wenn  idie  Aufgabe  der  Schamhaftigkeit  Opfer 
der  Liebe  in  irgendwelchem  Sinn  und  Grad  ist.  (Über  den  Opfercharakter 
des  Liebesverhaltens  s.  w.   u.) 

Im  allgemeinen  eignet  den  Frauen  schamhaftes  Verhalten  mehr  als 
den  Männern.  Anderseits  ist  vielfach  behauptet  worden,  die  Frau  sei, 
wenn  sie  einmal  die  Hemmungen  überwunden  habe,  ,, schamloser"  als 
der  Mann.  Das  ist  wohl  möglich  und  auch  zu  verstehen,  wenn  ich  auch 
nicht  von  der  generellen  Richtigkeit  dieser  Behauptung  überzeugt  bin, 
trotzdem  manche  Beobachtung,  u.  a.  die  geisteskranker  Frauen,  dafür 
herangezogen  werden  kann.  Da  nämlich  die  Frau,  wie  oben  des  längeren 
ausgeführt  wurde,  sich  auch  in  der  letzten  imd  anscheinend  vollkom- 
mensten Hingabo  doch  nicht  restlos  hingibt,  fällt  für  sie  dort,  wo  die 
Wahrung  der  äußeren  Form  schamliaften  Verhaltens  nicht  mehr  ge- 
boten ist,  jenes  tiefliegende  Motiv  weg;  sie  gibt  sich  auch  dann  nicht 
auf  als  einzelnes  und   restlos  hin  an  den   anderen. 


1    In   gewisser    Hinsicht  mag-   hier   an  das    bekannte    Urteil   des   Sancho   Pansa   erinnert 
werden,    sowie    an   die   oben    angeführte   Bemerkung    Keyserlings. 


398 


ALLEKS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


Wie  komplex  die  Reaktionsarten  der  Schamhaf  tigkeit  sind,  wie  wenig  man 
es  hier  mit  einem  einfachen  Trieb  oder  dergleichen  zu  tun  hat,  lehrt 
auch  die  Betrachtung  der  Abwehr  gegen  etwa  mögliche  ^  arletzimgen. 
Darin  findet  sich  nämlich  einmal  Angst  vor  dem  Sichschämenmüssen, 
vor  dem  quälenden,  peinlichen  Schamerlebnis  selbst,  dann  aber  eine  Angst 
oder  Flucht  nicht  vor  diesem  Affekt,  sondern  vor  der  betreffenden  Hand- 
lung    Entblößung  z.   B.  —  selbst.     Es  gilt  das  insbesondere  auch  von 

Aussprachen  über  Dinge,  welche  die  Schamhaftigkeit  tangieren.  Man 
kann  ofl  von  Menschen,  welche  angeben,  irgend  etwas  nicht  sagen  zu 
können,  hören,  so  peinlich  ihnen  das  Gefühl  des  Schämens  sei,  so  würden 
sie  dieses  doch  ube^^vinden  können,  aber  es  sei  ihnen  dennoch  unmög- 
lich, die  Dinge  auszusprechen.  (Es  deckt  sich,  was  zu  bemerken  nicht 
überflüssig  sein  mag,  dieses  Widerstreben  nicht  mit  dem  „Widerstand" 
der  Psychoanalyse;  denn  dieser  richtet  sich  gegen  annoch  unbe\vußtes, 
zmn  Auftauchen  in  das  Be>vußtsein  bereites  Material,  während  hier  es 
sich   um   ganz  bewußte   Dinge  handelt.) 

Nebenher  spielen  bei  den  Reaktionen  der  Scham  noch  andere  Momente 
mit.  Im  allgemeinen  wird  eine  schöne  Frau  sich  leichter  zur  Entblößung 
verstehen  bzw.  bei  derselben  weniger  Scham  empfinden  als  eine  häßliche. 
Forel  (Sg)  behauptet,  daß  alte  Frauen  darum  schamhafter  seien  als  junge. 
Offenbar  liegt  ein  Bestreben  zugrunde,  das  Prestige  als  Geschlechtswesen, 
Objekt   möglicher    Begehrungen,    zu    wahren. 

Eine,  wohl  nur  durch  konventionelle  Motive  bewirkte  Verschärfung 
der  Schamhaftigkeit  stellt  die  Prüderie  dar,  die  allerdings  sehr  oft 
kein  echtes,  sondern  nur  ein  gespieltes  Verhalten  ist,  eine  Anpassung 
an  herrschende  Tendenzen  und  Sitten,  insoferne  auch  zu  weiteren  Be- 
merkimgen  kaum  Anlaß  gibt.  (Vgl.  im  folgenden  Abschnitt  über  den 
jJMucker".) 

Das  Wesen  der  Prüderie  ist  die  Kompensation  einer  versteckten  und 
—  aus  inneren  oder  konventionellen  Motiven  —  bekämpften  erotischen 
Neugierde.  Sie  paart  sich  daher  oft  mit  Lüsternheit.  Schleier- 
macher hat  sie  geradezu  als  einen  Mangel  an  Schamgefühl  aufgefaßt. 
Im  Prüden  liegt  die  Sexualität  sozusagen  stets  auf  der  Lauer;  wo  sie  nur 
den  leisesten  Anlaß  wahrnimmt,  wdrd  sie  rege.  Und  da  sie  sich  nicht 
laut  äußern  darf,  bewirkt  sie  alle  die  bekannten  Reaktionen  der  Ent- 
rüstung. Außerdem  steckt  vielleicht  ein  Teil  Neid  in  der  Attitüde  des 
prüden  Menschen. 

Etwas  anders  steht  es  mit  der  ebenfalls  zur  Schamhaftigkeit  in  Be- 
ziehung zu  setzenden  Keuschheit.  Ihr  Begriff  ist  einigermaßen 
schwankend.  Man  spricht  einmal  von  Keuschheit,  wenn  überhaupt  sexuale 
Regungen  fehlen  oder  zumindest  ihnen  in  keiner  Weise  stattgegeben 
wird.  Das  ist  das  religiöse  Keuschheitsideal,  um  das  die  Heiligen  im 
Kampfe  mit  dem  Versucher  rangen,  dem  getreu  zu  bleiben  der  hl,  Gallus 
sich  in  die  Dornen  und  Nesseln  warf,  oder  Heinrich  Suso  (Seuse)  sich  die 
ungeheuerlichsten  Martern  auferlegte.  Man  verwendet  den  Ausdruck  aber 
auch  als  gleichbedeutend  beinahe  mit  Schamliaftigkeit,  insbesondere  dann, 
wenn  ein  Individuum  erotisch  nur  von  einem,  ihm  legitim  verbundenen 
anderen   erregbar   erscheint.     Daß    es    sich    vielfach    um    Pseudokeusch- 


PIK   SKKl  \D\IU:N    PIIANOMKNK 399 

ht'it  luuHlolt.  mehr  \im  die  Kunst,  „das  Gesicht  zu  walircn",  als  um 
eine  innerliche  Kinstollun^,  ist  iiiolu-  als  selbstverständlich'.  „Zwischon 
Keuschheit  und  Sinnlicldveit  gibt  es  keinen  notwendigen  Gegensatz,  je<le 
gute  Ehe,  jede  eigentliche  Herzensliebschaft  ist  über  diesen  (le^ensatz 
hinaus"  (Nietzsche  [91])-  Übrigens  findet  sich  dieser  Gedanke  schon 
bei  Balzac  (7).  James  (60)  sieht  in  dem  Instinkt  der  Isolierung  (vgl.  o.) 
eine  wesentliche  ^^  urzel  der  Keuschlieit. 

Einige  Beachtung  verlangt  die  Wertschätzung  der  Keuschheit,  Unbe- 
rührtheit,  der  Jungfräulichkeit.  Ob  die  Forderung  nach  solchem  Zu- 
stande hygienisch  oder  ethisch  zu  begrüßen  sei,  ist  für  die  Psychologie 
irrelevant.  Sie  konstatiert  das  Vorhandensein  dieser  Wertschätzung  und 
Forderung,  die  auch  heute,  trotz  mancher  StiVnmen  aus  dem  Lager  der 
Frauenbewegung,  noch  immer  wesentlich  an  die  Frau,  nicht  aber  an 
den  Mann  —  auch  von  den  Frauen  nicht  —  gestellt  wird.  Auch  diese 
Forderung  ist  heute  vielfach  wohl  nur  mehr  aus  Tradition  und  Konvention 
zu  verstehen.  Erstreckt  sie  sich  doch  zumeist  wirklich  nur  auf  die 
anatomische  Virginität,  das  Intaktsein  des  Hymens,  während  alle  ero- 
tischen Erlebnisse  gerade  nur  mit  Ausschluß  des  Koitus  selbst  als  ge- 
stattet und  die  Jungfernschaft  nicht  tangierend  hingenommen  werden. 

In  diesem  Zusammenhange  mag  auch  des  Begriffes  der  Frauen- 
ehre  sowie  der  Entehrung  gedacht  werden.  Es  ist  auffällig,  daß 
nur  für  die  Frau  solch  eine  Bewertung  existiert,  sowohl  für  sie  selbst 
wie  für  die  anderen.  Simmel  (106)  hat  dieser  Frage  eindringende 
Worte  gewidmet.  Es  erscheint  ihm  diese  Tatsache  als  ein  Ausdruck  der 
„Passivität"  der  Frau,  die  wiederum  aus  der  oben  gekennzeichneten 
Bezogenheil  auf  das  eigene  Ich,  den  fehlenden  Trieb  zu  einer  über  das 
eigene  Leben  hinausreichenden  Aktivität  herfließt.  Für  den  Mann  gilt: 
.,Ein  anderer  kann  mir  meine  Ehre  nicht  rauben."  Nur  die  eigene 
Handlungsweise  entehrt.  Die  Frau  wird  entehrt,  indem  sie  Opfer  der 
Handlungsweise  eines  anderen  wird.  Sie  kann  auch  nicht,  wie  der 
Mann,  ihre  Ehie  wiederherstellen,  indem  sie  den  Beleidiger  tötet  oder 
sonstwie  Rache  an  ihm  nimmt.  Selbst  durch  ihre  Opfertat  ist  Judith 
entehrt:  Bete,  daß  ich  unfruchtbar  bleibe,  läßt  Hebbel  sie  sagen,  damit 
wohl  noch  anderes,  aber  auch  dieses  ausdrückend:  daß  zumindest  ein 
dauerndes   Zeichen   ihrer  Entehrung   von   ihr  fernbleiben   möge. 

Man  kann  fragen,  warum  diese  Einstellung  auch  für  die  Frau  selbst 
besteht.  Es  wäre  verständlich,  wenn  der  Mann  sie  hätte,  vor  allem  aus 
historischen  Momenten  zu  verstehen.  Aber  ebenso,  wenn  die  Frau,  die 
nur  ein  Opfer  der  Gewalt  geworden,  sich  schuldlos,  und  daher  auch 
nicht  entehrt  und  rein  fühlte.  Daß  dem  nicht  so  ist,  mag  verschiedene 
Gründe  haben.  Einmal  selbstverständlich  die  Anpassung  an  die  Sitte, 
die  ja  das  Stigma  der  männlichen  Herrschaft  trägt.  Wir  wissen  zur 
Genüge,  daß  die  —  allerdings  freiwillige  —  Hingabe  in  verschiedenen 
Riten  —  Astartekult  —  nicht  aJs  entehrend  galt.  Wo  die  männliche 
Gesellschaft    keine    Entehrung    findet,    sieht    sie    auch    die    Frau    nicht. 


1  übrigens  vortragen  sich  Schamhafligkeit    und  Unkeuschheit  vielleicht    nicht    nur,    wenn 
erstere  unecht,  sondern  auch  wenn  sie  echt  empfunden  wird. 


400  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Ob  aber  diese  Motivierung  zureicht,  mag  bezweifelt  werden.  In  manchen 
Fällen  dürfte  ein  Schuldbewußtsein  mitbestimmend  sein;  nicht  nur  in 
dem  Sinne,  wie  os  der  schon  berufene  Sancho  Pansa  annahm,  sondern 
auch  in  dem,  daß  nicht  so  selten  auch  die  Vergewaltigte  sexuelle  Lust 
genossen  imd  insoferne  nicht  nur  Opfer  ge>vesen  ist,  damit,  wenn  auch 
gegen  ihren  Willen,  gewissermaßen  aktiv  an  der  Tat  Anteil  genommen 
hat.  Und  wenn  schon  dies  nicht  der  Fall  war:  das  Wissen,  daß  eine 
Lustgewinnung  möglich  gewesen  wäre.  Dann  aber,  weil  der  Sexualakt 
für  die  Frau,  trotzdem  er  eine  restlose  Aufgabe  der  Persönlichkeit  nicht 
beinhaltet,  dennoch  infolge  der  intimeren  Verschränkungen  ihrer  Sexualität 
mit  dem  eigentlichen  Ich  als  Symbol  eine  viel  tiefere  Bedeutung  haben 
kann  imd  das  Aufgezwung^ensein  solchen  Verhaltens  als  eine  Minderung 
<les  Ich  empfunden  wird,  als  eine  Entstellung  sozusagen  des  Angesichts 
der  Seele. 

Es  wäre  vielleicht  hier  der  Ort,  des  asketischen  Verhaltens  zu  geden- 
ken. Doch  ziehe  ich  es  vor,  dieses  mit  anderen  Verhaltungsweisen 
zusattimen  als  „erotische  Typen"  im  folgenden  Abschnitt  zu  behandeln. 
Weitere  sekundäre  Phänomene  beziehen  sich  auf  das  Verhalten  zu 
dritten  Personen.  An  erster  Stelle  wäjre  zu  nennen  die  Eifersucht. 
(Sie  ist  selbstverständlich  nicht  ohne  Beziehung  zu  den  anderen.  Die 
Forderung  nach  der  Jimgfernschaft  mag  zum  Teil  in  einer  Art  retrospek- 
tiven Eifersucht  mit  einen  Grund  haben.) 

Eifersucht  kennt  zwei  Richtungen.  Sie  erstreckt  sich  einmal  auf  den 
Sexualpartner,  das  andere  Mal  auf  denjenigen,  der  mit  jenem  in  sexuale 
Beziehungen  tritt  oder  solcher  Beziehung  verdächtigt  wird.  Die  Urform 
der  letzteren  ist  wohl  die  einfache  Tendenz,  den  Konkurrenten  zu  ver- 
nichten. Als  solche  kommt  sie  schon  im  Tierreich  vor^,  ist  Ausdruck 
des  Kampfes  der  Männchen  um  das  Weibchen.  Die  Einstellung  gegen 
den  wirklichen  oder  vermeintlichen  Konkurrenten  ist  gemeinhin  die  des 
Hasses  mit  allen  seinen  Abwandlungen.  Sie  ist  keinem  Geschlecht  und 
keinem  Alter  fremd. 

Vielfach  verbindet  sich  mit  der  Einstellung  des  Hasses  die  des  Neides, 
dort,  wo  es  sich  um  Eifersucht  gegen  den  begünstigten  Konkurrenten 
handelt,  oder  wo  die  Überlegenheit  des  anderen  in  irgendeiner  Hinsicht 
Anerkennung  erzwingt.  Diese  Eifersucht  kann  sich  nicht  nur  den  wirk- 
lichen, sondern  auch  schon  den  möglichen  Konkurrenten  gegenüber  ein- 
stellen. Jeder  wird  mit  scheelen  Augen  angesehen,  mehr  weniger  gehaßt. 
Es  kann  diese  Einstellung  allein  bestehen,  nur  der  Konkurrent,  nicht 
aber  der  Geschlechts  partner  Ziel  derselben  werden.  Allerdings  >vird  dies 
relativ  selten  vorkommen,  geradeso  wie  imigekehrt  wohl  auch  die  allein 
auf  die  eigene  Frau  oder  den  Mann  gerichtete  Eifersucht  ohne  Haß  auf 
den  Nebenbuhler  selten  angetroffen  wird,  obwohl  auch  solche  Fälle  sich 
ereisTien. 


VgL  z.  B.  Hamilton,  A  study  of  sexual  tendencies  in  monkeys  and  baboons, 
Joum.  an.  behav.  4,  iQi't-  Eine  absonderliche  Anekdote  findet  sich  bei  Montaigne, 
ich  weiß  nicht  von  wo  entnommen:  „Le  pasteiir  Oiratis  estant  tumbe  en  amour  cVune 
chevre,  son  bouc,  ainsi  qu'il  dormoit,  Luy  veint,  par  jalous.e,  chocquer  la  tete  de  la  sienne 
et  la  luy  ecrasa. 


DIE   SEKUNDÄREN   PHÄNOMl.NK 401 

Während  die  Elinst4jlluiig  go^n  den  Konkurronton  durcliaus  negativ 
gefühlsbK'tont  ist,  stellt  sich  die  gegen  den  Sexualparlner  als  ein  sehr 
komplexes  Phänomen  dar.  Sie  ist  nämlich  mit  Li('lM\  Zuneigung  usw. 
nicht  nur  kompatibel,  sondern  setzt  sie  geradezu  voraus.  Denn  jene 
Eifersucht,  die  an  dem  Besitz  eines  ungeliebten  Partners  oder  sogar 
eines  nicht  einmal  begelu"ten  häjigt,  ist  im  eigentlichen  Sinne  hier  nicht 
beizuzälilen :  sie  entspringt  anderweitigen  Motiven,  der  Eitelkeit  vornehm- 
lich. So  spiegelt  sich  auch  in  der  Eifersucht  dio  Ambivalenz  des  Sexual- 
affektes. Im  großen  imd  ganzen  wird  man  wohl  sagen  dürfen,  daß 
Eifersucht  der  vitiden  Sphäre,  ja  sogar  tieferen  Schichten  derselben  ange- 
hört, im  Bereiche  geistiger  Liebesakto,  welche  erst  Liebe  im  eigentlichen 
"N'erstande  erzeugen,  aber  nicht  bestehen  kann.  Dort  gilt,  daß  die  Liebe 
nicht  eifert,  wie  der  Apostel  sagt.  Vielleicht  läßt  sich  über  dies  Neben- 
einanderbestehen von  Eifersucht,  die  naJiezu  Haß  sein  kann,  und  Liebe 
noch  eine  nähere  Bestimmung  treffen.  Es  hat  nämlich  den  Anschein, 
als  ob  diese  zwei  Einstellungen  sich  nicht  ganz  auf  die  gleichen  Seiten 
oder  Aspekte  des  Partners  richten  >vürden.  Dieser  wird  geliebt,  sofern 
er  Objekt  eigenen  Begehrens  und  Zielpunkt  der  Liebe  ist,  und  gehaßt, 
sofern  er  diese  Bedeutung  für  einen  Dritten  hat  oder  haben  kann. 

Man  könnte  meinen,  daß  diese  Beziehung  auf  den  Dritten  als  Motiv 
der  negativen  Einstellung  einen  Hinweis  auf  eine  doch  bestehende  Einheit 
der  zwei  Richtungen  der  Eifersucht  erbrächte,  daß  Eifersucht,  die  sich 
auf  den  Partner  richtet,  doch  nur  Eifersucht  auf  den  Konkurrenten  sei, 
welche  nach  dem  Schema  der  ,, Wertübertragung"  auch  das  von  diesem 
angestrebte  Objekt  einbezöge.  Ich  glaube  nicht,  daß  solche  Verein- 
heitlichimg richtig  wäre.  Daß  natürlich  hier  intimere  Verknüpfungen 
obwalten  müssen,  wird  niemand  bestreiten  wollen.  Aber  rein  deskriptiv 
genommen,  scheinen  mir  beide  Einstellungen  doch  Wesensunterschiede 
darzubieten,  die  freilich   in    Worten   schwer   zu   fassen   sein   mögen. 

Von  allen  Konsequenzen,  die  Eifersucht  dieser  oder  jener  Art  mit 
sich  bringen  kann,  von  Mord  und  Totschlag,  Isolierung  und  Verschlep- 
pung usw.  soll  hier  nicht  weiter  die  Rede  sein.  Es  sind  das  Reaktionen 
auf  oder,  besser  gesagt,  Aktionen  aus  solcher  Einstellung,  die  individuell 
variieren,  insbesondere  aber  mit  den  sozialen   Möglichkeiten. 

Dagegen  ist  noch  kurz  einer  besonderen,  soviel  ich  sehe,  allerdings 
seltenen,  Nuance  "zu  gedenken.  Es  kann  nämlich  vorkommen,  daß  Eifer- 
sucht sich  eigentlich  weder  gegen  den  Nebenbuhler  noch  gegen  den 
Partner,  sondern  sozusagen  allein  auf  die  Beziehung  zwischen  beiden 
richtet.  Im  allgemeinen  ist  der  Nebenbuhler  verhaßt  an  und  für  sich, 
der  Partner  Gegenstand  der  Eifersucht  unter  allen  Umständen.  In  dem 
hier  angezogenen  Fall  aber  ist  der  Nebenbuhler  nur  in  dieser  seiner 
Eigenschaft  gehaßt,  nur  insofern  er  mit  dem  Sexualpartncr  in  Beziehung 
tritt;  ja,  es  kann  sogar  den  Anschein  erwecken,  als  bestände  überhaupt 
kein  Haß  gegen  dio  Personen,  sondern  nur  ein,  wenn  auch  noch  so 
intensives.  Anstoßnehmen   an   der   Beziehung   zwischen   ihnen. 

Eifersucht  wird  überwunden  oder  aufgehoben  durch  Liebe  und  Ver- 
trauen, wenigstens  soweit  sie  sich  auf  den  Partner  richtet.  »Echte  Eifer- 
sucht auf  den  nicht  geliebten  Partner  gibt  es  anscheinend,  v^ae  bemerkt, 

26    Kafka.  Vergleichende  Psychologie  III. 


402  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

nicht.  Die  g«gen  den  Konkurrenten  gerichtete  kann  aufgehoben  werden 
durch  die  Überzeugung  der  Grundlosigkeit;  meist  aber  sind  hier,  wie 
im  At'lektleben  überhaupt,  rationale  Momente  recht  unwirksam.  Wenn 
irgendwo,  so  ist  bei  der  Eifersucht  der  Übergang  vom  Normalen  in 
das  Pathologische  ein  durchaus  fließender;  zwischen  Eifersucht  und 
Eifersuchtswahn  bestehen  nur  Unterschiede  des  Grades.  Wie  das  Ver- 
trauen rücksichtlich  des  Partners,  so  kann  die  Verachtung  rücksichtlich 
des  Nebenbuhlers  Eifersucht  verliindem. 

Motive  zur  Eifersucht  geben  alle  jene  tatsächlichen  oder  vermeint- 
lichen Wahrnehmungen  ab,  welche  eine  Beziehung  zwischen  dem  Partner 
und  dem  Nebenbuhler  nahelegen.  Es  kann  aber  Eifersucht  auch  ohne 
solche  Anhaltspunkte  „autochthon"  entstehen,  und  dann  werden  die  be- 
weisenden Beobachtungen  im  nachhinein  gesucht  —  und  imter  der 
Wirkung  des  Affektes  gefunden.  Aber  auch  das  eigene  Verhalten  kann 
der  Eifersuchtsentwicklung  vorarbeiten.  Nicht  nur,  daß  ein  Wissen  um 
eigene  „Seitensprünge"  den  Verdacht  gleicher  Handlungsweise  auch  des 
Partners  rege  macht.  Auch  das  Bewußtsein,  in  irgendwelcher  Beziehung 
den  Ansprüchen  des  Partners  nicht  oder  nicht  mehr  zu  genügen,  kann 
in  gleichem  Sinne  wdrken;  daher  die  Eifersucht  der  alternden  Frauen 
nicht  minder    wie  die  der  alten  Gatten  junger  Gattinnen. 

Auf  einen  anderen  zielt  auch  jene  Einstellung,  welche  man  Koket- 
terie nennt  und  die  vornehmlich  der  Frau  eignet,  ja  die  beim  Manne 
als  ungehörig,  seinem  Wesen  vdderstreitend  abgelehnt  wird.  So  v^de 
wir  das  aktiv-werbende  Verhalten  der  Frau  als  ihr  nicht  zukommend 
efmpfinden  imd  nur  dort  verstehen  und  verzeihen,  wo  es  sich  sichtlich 
um  eine  große,  wahre  Liebe,  nicht  nur  um  mehr  weniger  flüchtige 
erotische  Anknüpfungen  handelt^.  Nur,  wie  schon  gesagt  Avurde,  inner- 
halb schon  fixierter  erotischer  Beziehungen  ist  ein  Werben  der  Frau 
—  lun  das  Sexualziel,  nicht  das  Objekt  —  ein  uns  verständliches  Ver- 
halten, obwohl  auch  das  vielen  Menschen,  Männern  wie  Frauen,  wider- 
strebt, als  ,, unweiblich"  erscheint.  Wieviel  daran  nur  Wirkung  den 
Konvention  ist,  dürfte  sich  schwer  entscheiden  lassen. 

Das  Wesen  der  Koketterie  ist  ein  abwechselndes  Versagen  und  Ver- 
sprechen, wobei  aber  beide  einen  unernst-spielerischen  Charakter  tragen 
und  so  in  das  ganze  Verhalten  einen  schwankenden  Zug  bringen.  „Ver- 
sagen und  Gewähren  ist  das,  was  die  Frauen  vollendet  können,  imd  was 
nur  si«  vollendet  können"  (Simmel  [io6]).  Der  Mann  wirbt,  fordert, 
bittet  —  die  Frau  sagt  ja  oder  nein.  Koketterie  entsteht  nun  dann,  wenn 
die  Frau  zugleich  ja  und  nein  sagt,  keines  ernsthaft,  und  doch  einen 
Zweifel  darüber  offen  läßt,  ob  nicht  doch  die  eine  oder  die  andere  Ant- 
wort xmd  welche  die  ernst  gemeinte  sein  könnte. 

Der  Sinn  und  Reiz  dieses  Spieles  ist  für  die  Frau  wohl  darin  gelegen, 
daß  sie  erstens  hier  zu  einer  Machtentfaltung  gelangt,  die  ihr  sonst  im 
Leben  Natur  und  Sitte  zu  versagen  scheinen,  zweitens  darin,  daß  die 
oben  erwähnte  Lustgewinnung  aus  dem  Wissen  um  die  Sexualerregung 

J   Dio    Briefe    der    Marianna    Alcoforado,    die    der    Julie    de    Lespinasse. 


DIE  SEKL.NDaIU:.N    PHÄNOMENE  403 


des  anderen  für  Frauen  besonders  bedeutsam  zu  sein  scheint.   Dem  Hinaus- 
ziehen  dit^ses   Gesnusse*   dient  die   Koketterie   in   exquisiter   Weise. 

Simmel  (io6,  io8),  dex  zu  diesem  Punkte  wohl  das  Eindringendste 
zu  sagen  wußte,  unterscheidet  droi  Verlialten  innerhalb  der  Koketterie: 
„die  schmeichlerische  Koketterie:  du  wärest  zwar  imstande  zu  erobern, 
aber  ich  will  mich  nicht  erobern  lassen;  die  verächtliche  Koketterie: 
ich  würde  mich  zwar  erobern  lassen,  aber  du  bist  dazu  nicht  imstande; 
die  provokante  Koketterie:  vielleicht  kannst  du  mich  erobern,  vielleicht 
nicht  —  versuche  es!" 

Sinnbildlich  für  diese  Attitüde  ist  die  primitivste  Gebärde  der  Koket- 
terie: der  Blick  aus  den  Augenwinkeln,  der  sich  auf  den  Betreffenden 
richtet  imd  zusagt,  während  der  Kopf  weggewendet  versagt.  Grundzug 
allen  koketten  ^'erhaltcns  ist  daher  immer  wieder  das  halbe  Enthüllen 
und  Verhüllen,  sei  es  des  Körpers,  sei  es  der  Seele. 

Zur  Koketterie  steht  auch  das  als  Schmollen  bezeichnete  Ver- 
halten in  Beziehung,  insofeme  es  ebenfalls  unernster,  spielerischer  Art 
ist  und  auf  eine  Steigenmg  des  Wertes  der  Versöhnung,  bzw.  des 
Ja,  welches  dem  Nein  folgt,  hinzielt.  Dieses  Verhalten  kommt  zwar 
auch  überwiegend  bei  Frauen,  aber  auch  bei  Männern  vor. 

Zuweilen  nimmt  das  Schmollen  einen  Charakter  an,  den  man  am 
besten  mit  einem  Terminus  der  Psychopathologie  als  Negativismus 
benennen  könnte.  Jede  wie  immer  geartete  Forderung  und  Frage  vrird 
abgelehnt,  oder  es  erfolgt  überhaupt  keine  Reaktion.  Hier  verschwimmen 
die  Grenzen  des  echten  und  des  spielerischen  Verhaltens,  indem  an- 
scheinend die  Ambivalenz  wirksam  >vird.  Auch  kommt  es  gelegentlich 
zu  einer  Art  Festlegung  auf  diesen  Standpunkt,  den  gewisse  Hemmungen 
trotz  gegenteiliger  Einsicht  imd  W^imsches  nicht  aufgeben  lassen.  Mit 
diesem  spielerischen  Im-Ungewissen-Lassen  über  die  getroffene  oder  zu 
treffende  Entscheidung  der  Koketterie  ist  die  wirkliche  innere  Ungewiß- 
heit nicht  zu  verwechseln.  Die  Kokette  weiß,  was  sie  will;  sie  vergreift 
sich,  wenn  sie  ihr  Ziel  nicht  erreicht,  höchstens  in  den  Mitteln.  Wer 
nicht  weiß,  was  er  ynU,  kann  auch  solch  ein  dualistisches  Verhalten  an 
den  Tag  legen.  Es  ist  aber  nicht  spielerisch,  sondern  das  Ja  und  das 
Nein  sind  allemal  für  den  Augenblick  allerdings  in  einer  mehr  oberfläch- 
lichen   Schichte    der    Persönlichkeit   ernst   gemeint. 

Auch  noch  ein  anderes  Verhalten  ist  nicht  Koketterie,  wenngleich  es 
ihr  in  einem  Zug  ähnelt.  Der  Koketterie  ist  eigentümlich,  die  Situation 
bis  zu  einer  gewissen  Klimax  gelangen  zu  lassen,  um  sie  plötzlich  vor 
Elrreichung  der  Lösimg,  auf  welche  sie  hinzustreben  scheint,  abzubrechen. 
Das  ist  jenes  Moment,  worin  man  die  „Herzlosigkeit"  der  Kokette  sehen 
will.  Es  gibt  aber  ein  solches  Abbrechen  der  Situation  auch  aus  anderen 
Motiven,  vor  allem  aus  der  Scheu  vor  dem  Mitgenommenwerden  in  dem 
Strom  des  Affektes,  welter  als  man  will,  kann  oder  darf.  Es  gibt  über- 
haupt Naturen,  welche  lebhaftere  affektive  Aufgestörtheit  scheuen.  Das 
sind  die  Menschen,  die  gerade  in  Augenblicken,  welche  anderen  als  emotiv 
besonders  bedeutsam  erscheinen,  irgendeine  triviale  Bemerkung  machen, 
weil  sie  lieber  als  geschmacklos  gelten  (wenn  sie  es  bewußt  tun)  als  das 

26« 


404       ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

Risiko  laufen  wollen,  im  Affekt  ihre  Selhstbeheirschung,  Maske  zu  ver- 
lieren. 

Man  verwendet  das  Wort  „kokettieren"  auch  außerhalb  der  Relation 
der  Geschlechter.  Man  kokettiert  mit  politischen  Parteien,  mit  reli^ösen 
Ideen,  mit  Wichtigem  und  Unmchtigem.  Eine  einseitig  an  der  Sexua- 
lität orientierte  Psychologie  Avürde  natürlich  folgern,  es  sei  das  Ver- 
halten in  Eroticis  eben  „vorbildlich"  für  jedes  andere  Verhalten  des 
Menschen  überhaupt,  sohin  auch  die  Koketterie  in  diesem  Falle  vorbildlich 
finden.  Man  müßte  aber  denn  doch  fragen,  wieso  eine  so  eminent 
weibliche  Attitüde  „vorbildlich"  für  das  Verhalten  auch  des  Mannes 
werden  soll.  Auch  hierauf  werden  jene  Erklärer  eine  Antwort  wissen; 
wozu  gibt  es  die  Bisexuahtät?  Die  weibliche  Komponente  findet  ihren 
Ausdruck  durch  Kokettieren  im  übertragenen  Sinne.  Ohne  au  dieser 
Stelle  näher  darauf  einzugehen,  muß  ich  doch  anmerken,  daß  auch 
diese,  neuerdings  so  beliebte  Betrachtungsweise  auf  einer  recht  durch- 
sichtigen Diallele,  nicht  aber,  wie  man  glauben  machen  will,  auf  Beob- 
achtimg  fußt. 

Auch  der  Flirt  ist  nicht  identisch  mit  Koketterie  und  auch  keine 
Steigerung  derselben,  wie  manchmal  gemeint  wird.  Denn  der  Flirt  ist 
zwar  auch  spielerischen  Qiarakters,  aber  er  ist  ein  Spiel  von  zwei 
Akteuren,  welche  miteinauder  ein  Spiel  aufführen,  während  die  Kokette 
mit  ihrem  Partner,  aber  er  nicht  mit  ihr,  spielt.  Oftmals  wird  man 
nicht  unterscheiden  können,  ob  zwischen  zwei  Personen  die  Beziehung 
des  Flirts  oder  der  Liebe  besteht;  vielleicht  können  es  auch  die  zwei  nicht 
immer  oder  nicht  immer  mehr  wissen.  Grundsätzlich  bleibt  aber  ein 
Unterschied  inuner  bestehen;  denn  der  Flirt  ist  ein  essentiell  imechtes 
Verhalten,  ein  Sich^Gebeu  und  ein  Nehmen,  au  welchem  nicht  die  Ge- 
samtindividualität, sondern  nur  periphere  Sphären  derselben  beteiligt  sind. 

Die  Schüchternheit,  die  keineswegs  der  Erotik  allein  angehört, 
mag  hier  nur  Ervvähnimg  finden,  ebenso  wie  die  Heuchelei,  welche 
Forel  ausführlich  als  Ausstrahlung  der  Sexualität  behandelt.  Sie  ist 
aber  an  diese  nicht  durch  besondere  psychologische  Wesenszusammen- 
hänge geknüpft,  sondern  nur  durch  soziale  Bedingungen  verbunden.  Unter 
Verhältnissen,  welche  etwa  ein  bestimmtes  religiöses  Verhalten  ebenso 
fordern,  wie  heutzutage  die  Wohlanständigkeit  ein  bestinmit«s  sexuales, 
spielt  die  Heuchelei  auf  religiösem  Gebiete  die  gleiche  hervorstechende 
Rolle  1. 

Das  Gegenstück  in  gewisser  Hinsicht  zur  Heuchelei  ist  die  erotische 
Prahlsucht,    die    wohl    ausschließlich    dem    Mann    eigentümlich    ist. 

1  Ich  kann  mir  nicht  versagen,  mit  einem  Worte  auf  einen  möglichen  positiven 
^^e^t  heuchlerischen  Verhaltens  hinzuweisen,  wenn  auch  an  dessen  Verwerflichkeit 
im  allgemeinen  kein  Zweifel  bestehen  kann.  Es  kann  durch  die  als  Maske,  Pose  ein- 
genommene Haltung  der  Weg  zu  einem  echten  Verhalten  gefunden  werden;  so  wie 
man  sich  ,,in  einen  Affekt  hineinreden"  kann,  durch  Spiel  detr  Ausdrucksweise  zum 
Erleben  des  Ausgedrückten  gelangen,  so  kann  —  sicherlich  selten  genug  —  eine 
erheuchelte  Haltung  zu  einer  echten  führen.  Wie  es  denn  in  der  Bhagavadgita  heißt: 
,,Die  Götter  findet,  wer  sie  ehrt",  ein  G^<lanke.  der  auch  im  Islam  (Al-Ghazäli)  und 
in  der  Kirche  wiederkehrt. 


DIE  SEKUNDÄREN  PHÄNOMIONE 405 

Das  Sichbrüsten  mit  errungenen  oder  erlogenen  Sexualerfolgcn,  die  Auf- 
/^Üilung  der  Frauen,  die  man  „gehabt"  hat  und  was  solcher  angenehmer 
Nuancen  mehr  sein  mögen,  kennzeichnet  dieses  Verhalten.  Wer  kein 
Weibt^rheld  ist,  möchte  doch  einer  scheinen,  zumindest  in  gewissen  Kreisen 
und  unter  gewissen  Betüngungen,  etwa  Alkoholwirkung.  Man  versteht 
nun  wohl,  daß  der  Renommist,  der  sein  SchürzeiijägerlatoLn  debitiert, 
daran  Gefallen  und  Freude  findet;  er  berauscht  sich  an  der  Erinnerung 
an  seine  Erfolge,  an  der  Überlegenheit  über  die  woniger  erfolgreiche 
Lmgebung  usw.  \\as  hat  aber  diese  Umgebung  davon,  warum  läßt  sie 
solchen  Erzähler  nicht  nur  reden,  sondern  findet  sogar  Gefallen 
an  ihm  und  seinen  Geschichten?  Offenbar  wirkt  dabei  ein  ähnliches 
Moment,  wie  im  Schauspiel  mit:  man  identifiziert  sich  irgendwie  mit 
dem  Redner  und  Helden.  Es  ist  dies  wahrscheinlich  die  gleiche  Ein- 
stellimg,  die  die  Freude  an  der  Zote  entstehen  läßt. 

Ganz  gut  nennt  Forel  (3g)  diese  Attitüde  den  „pornographischen 
Geist".  Auch  er  ist  nahezu  ein  Prärogativ  der  „Männerwelt",  wenn- 
gleich den  Frauen  es  keineswegs  immer  daran  mangelt.  Gar  manche 
wird  hier  und  da,  auch  bei  sonst  von  solcher  Einstellung  weit  entfernter 
Haltung,  an  dem  „gewagten"  Witz  und  nicht  nur  des  Witzes  wegen 
Gefallen  finden. 

Soweit  es  sich  um  die  Wirkung  des  Witzes  als  solchen  handelt,  fällt 
die  Erörterung  außerhalb  des  Rahmens  dieser  Darstellung.  Es  ist  daher 
auch  nicht  möglich,  auf  die  geistreichen  Ausführungen  Freuds  über  den 
Mechanismus    des    Witzes    einzugehen. 

Das  Gefallen  an  dem  sexualen  Inhalt  der  Zote  steht  den  erotischen 
Phantasien  nahe;  es  beruht  auf  einem  Auftauchen  und,  wenn  auch  nur 
angedeuteten.  Miterleben  der  geschilderten  Situation.  Bemerkenswert  ist 
nur,  daß  der  Witzgehalt  solcher  Anekdoten  ein  sehr  geringer  sein  kann, 
daß  auch  die  völlig  witzlose  ^Anspielung  auf  sexuale  Dinge  Lachen  zu 
erregen  vermag. 

Die  Reaktion  der  Frau  auf  die  ihr  erzählte  Zote  ist  durch  verschiedene 
Momente  bestimmt,  vor  allem  durch  die  Schamhaftigkeit,  weshalb  die 
Erzählung  solcher  Anekdoten  und  Witze  zwischen  Frauen  zumeist  auf 
wenig  Hemmungen  stößt.  Unter  gewissen  Umständen  darf  auch  der 
Mann  der  Frau  oder  den  Frauen  „anstößige"  Witze  erzählen;  in  Schichten 
geringerer  Kultur  ist  dies  u.  a.  ein  Mittel  der  Werbung.  Bemerkenswert 
ist,  daß  ein  Kreis  von  Frauen  oft  solche  Erzählungen  hinnimmt,  wenn 
nur  der  Erzähler  als  einziger  Mann  gegenwärtig  ist,  dagegen  ablehnt, 
wenn   mehrere   Männer   anwesend   sind. 

Im  übrigen  unterliegen  diese  Dinge  ungemein  den  jeweils  herrschenden 
gesellschaftlichen  Sitten,  was  sich  ja  in  der  Literatuir  der  verschiedenen 
Epochen  deutlich  genug  ausspricht. 

Es  wäre  hier  vielleicht  weiterhin  der  Galanterie  und  der  Ritter- 
lichkeit zu  gedenken.  Der  Begriff  des  Galanten  hat  im  Laufe  der 
Zeiten  eine  Wandlung  durchgemacht.  Ursprünglich  identisch  mit  dem 
Sexualen,  hat  er  sich  in  dieser  Bedeutung,  wie  mir  scheint,  nur  in  der 
Zusammenstellung  ,, galantes  Abenteuer"  erhalten,   während  er  sonst  nur 


406  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

einen  gewissen  Formalismiis  des  Verkehres  mit  der  Frau  meint.  Zwischen 
Galanterie  und  Ritterlichkeit  besteht  ein  schwer  faßbarer  Unterschied 
der  Nuance.  Ein  und  dieselbe  Handlung  kann,  je  nachdem,  dem  einen 
oder  dem  anderen  Verhalten  zugezäMt  werden.  Vielleicht  darf  man 
sagen,  die  Galanterie  ziele  stets  auf  die  Auslösung  eines  Gefallens  bei 
der  Frau  ab,  sei  auf  sie  gerichtet,  während  die  Ritterlichkeit  um  ihrer 
selbst  oder  der  Würde  des  Handelnden  willen  geübt  wird.  Daher  haftet 
auch  jener  leicht  irgend  etwas  Süßliches  an,  sie  ist  spielerisch  und  kann 
auch  übertrieben  werden  und  lächerlich  wirken;  diese  hat  einen  mehr 
herben  Charakter.  Auch  setzt  Ritterlichkeit  Achtung  voraus,  wennschon 
nicht  vor  der  individuellen  Frau,  so  doch  vor  Frauen  im  allgemeinen; 
galant  kann  man  auch  bei  Mißachtung  der  Frau  bleiben. 


EROTISCHE  TYPEN 

\\ahrend  einerseits  die  Manni^altigkcit  psychosexualen  Erlebens  bei 
den  verschiedenen  Menschen  eine  außerordentlich  große  ist,  hat  sich 
doch  anderseits  zeigen  lassen,  daß  gewisse  Grundhaltungen  überall  wieder- 
kehren, was  auch  für  die  im  folgenden  Abschnitte  zu  behandelnden  Ab- 
artungen  und  ebenso  für  die  höheren  Phänomene  der  Liebe  Geltung 
hat.  Neben  diesen,  der  Sexualität  schlechthin  eigentümlichen  Grund- 
haltungen gibt  es  noch  einige  mehr  oder  weniger  typische  Weisen  ero- 
tischer Einstellung,  die  man  herausheben  kann.  Selbstverständlich  wird 
dadurch  weder  die  Mannigfaltigkeit  sexualen  Verhaltens  erschöpft,  noch 
eine  weitgehende  Variation  innerhalb  dieser  Typen  ausgescldossen.  Im 
allgemeinen  handelt  es  sich  um  verschiedene  Stellungen  zur  und  ver- 
schiedene Haltungen  in  der  Sexualität.  Ein  Typus  steht  hier  allen  anderen 
gegenüber,  jener,  bei  welchem  die  Sexualität  im  ganzen  und  a  limine 
abgewiesen  wird,  der  Asket. 

Die  Asketen  hat  Nietzsche  (91)  mit  dem  Namen  ,, verunglückte 
Schweine"  belegt,  eine  paradoxe  Übertreibung,  die  aber,  wie  jedes  echte 
Paradoxon,  irgendwo  den  Kern  der  Sache  trifft.  Tatsächlich  erwächst 
die  Askese  vielfach  aus  der  Flucht  vor  den  sexualen  Trieben,  aus  der 
Angst,  denselben  nachzugeben.  Gemeinhin  gründet  diese  Angst  in  reli- 
giösen Überzeugungen  von  der  radikal  bösen  Natur  des  Sexualen.  Auch 
diese  Überzeugung  weist  verschiedene  Nuancierungen  auf.  Sie  ist  in 
der  Askese  des  Christentums  anders  gefärbt  als  in  der  indischer  Reli- 
gionen. Einmal  sieht  sie  im  Sexualen  als  solchen  unmittelbar  das  ßöse, 
das  Werk  des  Teufels,  Ausfluß  der  Erbsünde,  das  andere  Mal  erscheint 
das  Sexuale  nur  als  die  mächtigste  Fessel,  welche  das  Ich  an  die  Welt 
und  sohin  das  Leiden  zu  ketten  droht.  Daß  der  Asket  mit  der  „Ver- 
suchung" zu  ringen  hat,  zu  allen  Mitteln  greifen  muß,  das  Fleisch 
abzutöten,  daß  seine  ganze  Haltung  aus  dem  Kampfe  mit  der  Sinn- 
lichkeil erwächst,  ist  aber  ganz  begreiflich.  Wem  sexuale  Triebe  ge- 
wisser Lebhaftigkeit  nicht  gegeben  sind,  kann  gar  nicht  in  diesem  Sinne 
zum  Asketen  werden.  Denn  ihm  fehlt  vor  allem  der  x\nstoß;  ^  fehlt 
ihm  die  Erkenntnis  des  „Bösen",  weil  er  das  Böse  in  sich  nicht  erlebt. 
Nur  derjenige,  dem  die  dämonische  Macht  des  Triebes  Erlebnis  wurde, 
kann  sie  erkennen  und  mit  ihr  sich  auseinandersetzen.  Sofern  jener, 
der  dem  Triebe  folgt,  ein  Schwein  geheißen  werden  kann,  mag  das  Wort 
Nietzsches  also  zu  Recht  bestehen. 

Die  Auseinandersetzung  mit  der  Sexualität,  deren  „Verdrängung",  be- 
wirkt, daß  diese  ganze  Sphäre  für  das  Bewoißtsein  allmählich  eine  gewisse 
Ichfemc  erwirbt.  Daher  erscheint  die  ,, Versuchung"  in  Gestalt  von 
Halluzinationen,  Visionen  des  Dämons  und  seiner  Gefolgschaft.  Mit 
dem  Kampfe  gegen  die  Sexualität  ist  übrigens  die  Stellung  des  Asketen 


408  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

in  keiner  Weise  erschöpft,  das  Böse  kennt  noch  andere  Erscheinungs- 
weisen. In  der  Tentation  de  St.  Antoine  von  Flaubert  treten  sie  alle 
nacheinander  auf,  die  Sucht  nach  Wohlleben,  nach  Macht,  nach  intellek- 
tueller Geltung  usw.  Natürlich  werden  viele  geneigt  sein,  in  der  Ab- 
wendung vom  Sexualen  das  Ursprünglichste  der  asketischen  Haltung 
zu  sehen.  Zweifellos  ist  dies  der  auffallendste  Zug  darin.  Daraus  folgt 
aber  nicht,  dal5  es  genetisch  und  struktural  der  bedeutimgsvollste  ist. 
Es  scheint  mir,  als  sei  gewissermaßen  die  Sexualshpäre  nur  ein  besonders 
günstiges  Feld  der  Betätigung  für  die  asketische  Einstellung,  die  aber 
aus  tieferen,  jenseits  der  Scheidung  in  Sexuales  und  Nichtsexuales 
stehenden  Schichten  der  Persönlichkeit  fließt.  Auch  hier  hätte  ich  wieder- 
um, wie  schon  mehrmals,  den  Standpunkt  zu  vertreten,  daß  das  sexuale 
Erleben  nicht  „vorbildlich",  sondern,  wenn  man  will,  „abbildlich"  für 
seelisches  Geschehen  überhaupt  ist,  in  jenem  sich  die  formalen  Besonder- 
heiten der  Abläufe  vielleicht  deutlicher  ausprägen  als  in  anderen  Sphären, 
nicht  aber,  daß  eine  Eigengesetzlichkeit  des  Sexualen  bestimmend  für 
andere  Bereiche,  die  nach  ihrem  Schema  strukturiert  w^ären,  sein  könne  i. 

Der  reine  Widerpart  des  Asketen  ist  der  ausschweifende  Wollüst- 
ling, der,  nur  den  augenblicklichen  und  rein  vitalen  Geschlechtsgenuß 
suchend,  zu  psychologischen  Bemerkungen  wenig  Anlaß  bietet,  nur  einer 
Abgrenzung  gegen  anscheinend  verwandte  Typen  bedarf,  nämlich  gegen 
den  Typus  des  Don  Juan,  —  ein  Unterschied,  den  anscheinend  schon 
La  Mettrie  (68)  mit  seiner  Gcgenüberstellimg  des  Debauche  und  Voluptueux 
meint  — ,  des  Verführers  und  des  von  Blüher  gezeichneten  „faunischen 
Menschen".  Dieses  wesentliche  Moment  trifft  auch  Nietzsche  (92):  „Die 
Mutter  der  Ausschweifung  ist  nicht  die  Freude,  sondern  die  Freudlosig- 
keit." 

Blüher  kennzeichnet  diesen  Unterschied  dahin:  „Der  faunische 
Mensch  ist  Sieger,  er  zwingt  drohende  Mächte  des  Inneren  zu  Boden; 
der  bürgerliche  Wollüstling  ist  immer  Besiegter,  er  läßt  sich  von  der 
Lust  kirre  machen,  ohne  aber  vom  Aberglauben  an  die  Angst-  und  Scham- 
mächte loszukommen;  daher  ist  er  im  Grunde  nur  ein  entronnener 
Mucker."  Blüher  (i3)  meint,  der  Mensch  habe  eine  Erkenntnis-  und 
eine  Triebseele;  dem  Glücksgefühl,  welches  in  der  Erkenntnis  das 
Durchschauen  der  Belation  von  Subjekt  und  Welt  gewähre,  worin  man 
erst  fühle,  daß  man  eine  Seele  habe,  entspreche  ein  analoges  Erleben 
der  Triebseele.  Auch  ohne  dem  Autor  in  diesen  Spekulationen  folgen 
zu  wollen,  insbesondere  ohne  seine,  den  psychoanalytischen  Lehren  ent- 
nommene, mit  ihnen  aber  vielfach  nicht  mehr  identische  Grundposition 
zu  teilen,  wird  man  zugeben  können,  daß  hier  in  großen  Zügen  ein  Typus 
gezeichnet  ist,  dessen  Wesentliches  in  der  naiven  Hingabe  an  das  Trieb- 
leben, einer  Schamlosigkeit  liegt,  die  nicht  aus  einem  Über-die-Stränge- 
Schlagen  und  damit  einem  Bewußtsein  der  Schranken,  sondern  aus  einer 
originären  Unbekümmertheit  um  diese  entspringt.  In  der  Sphäre  des 
Vitalen   mag   dieser   Typus   als    Ideal   gelten;     er  spukt   vielfach   in   der 

^  Das  hier  mit  anklingende  Problem  der  „Sublimierung'"  kommt  im  letzten  Ab- 
schnitt  zur   Sprache. 


LHOTISCIIE    TYPEN  409 


Literatur,  insbcsonclei»  jüJigsl  verflossciuT  Jahre,  uhne  daß  man  den 
Kindruck  hätte,  os  sei  seine  küiistlerisclie  Ver>virklichung  je  durcliaus 
gelungen. 

Eine  Spielart  dieses  Typus  ist  der  Mensch,  den  man  zuweilen  als  den 
, .großen  En)tiker"  bezeichiien  hört,  eine  Persönlichkeit,  die,  unbekümmert 
aus  allen  Anlässen  erotischen  GenulS  zu  ziehen,  jetle  Situation  in  «lit-sem 
Sinn  ausziHuitzen  versteht,  ohne  daram  besonderes  Gewicht  auf  konkrete 
Sexualhandlungen  im  engeren  Sinne  zu  legen.  In  dieser  Nuance  scheint 
der  faunische  Typus  auch  bei  der  Frau  vorkommen  zu  können,  deren 
U'esen   dem   eigentlich    Faunischen    widerstreiten   dürfte. 

Handelt  es  sich  beim  faunischen  Menschen  imi  einen  durchaus  einheit- 
lichen Charakter,  zumindest  rücksichtlich  des  psychosexualen  Verhaltens, 
so  ist  der  Don  Juan  eigentlich  eine  „problematische  Natur".  Ihm 
mangelt  es  an  der  letzten  Befreiung,  er  ist  ständig  imbefriedigt,  ständig 
auf  der  Suche  nach  „dem"  Erlebnis,  nach  ,,der"  Frau,  wenigstens  seiner 
Idee  nach.  Daß  er  genießt,  was  ihm  auf  dieser  Suche  begegnet,  tut 
nichts  zur  Sache,  ist  sozusagen  ein  Defekt  der  empirischen  Realisation. 
In  gewisser  Hinsicht  weisen  Don  Juan  ^  und  Faust  verwandte  Züge  auf. 

Im  Gegensatz  zum  wahren  Don  Juan  ist  der  typische  Verführer 
ein  Mensch,  der  an  der  Technik  haftet.  Jenem  kommt  es  darauf  an, 
endlich  die  Befreiung,  Erlösung,  sich  selbst  in  einer  höchsten  Steigerung 
zu  erleben,  diesem  ist  es  um  den  Sieg  zu  tun.  Nicht  einmal  so  sehr  der 
Besitz  der  begehrten  Frau  ist  der  Preis,  um  den  er  ringt,  als  das  Besitzen- 
können. Er  verzichtet  sogar  unter  Umständen  auf  den  Besitz,  er  ver- 
schmäht die  „eroberte"  Frau,  sobald  er  sich  und  ihr  bewiesen  hat,  daß 
er  sie  erobern,  besitzen  könnte.  Selbstverständlich  vereinigen  sich  Don 
Juan  und  Verführer  zmneist  in  einer  Person;  jener  kann  ja  nicht  ohne 
die  Künste  dieses  >virken.  Von  den  Mitteln  der  Verführung  war  schon 
die  Rede.  Sie  stehen  dem  wahren  Verführer  alle  zu  Gebote,  die  Maske 
der  Freundschaft,  des  Beichtigers,  die  brutale  Aggression  und  Über- 
rumpelung, die  anscheinende  Uninteressiertheit  -,  das  Eingehen  auf  die 
leiseren  seehschen  Regungen  der  Begehrten  usw.,  Mittel,  die  nach  Zeit 
und  Ort,  nach  den  sozialen  Schichtungen  unendlich  wechseln. 

Schmitz  (lo/i)  glaubt,  daß  man  zwischen  Don  Juan  und  Casanova 
scharf  unterscheiden  müsse.  Er  sieht  im  Don  Juan  etwa  den  Typus, 
den  ich  eben  den  Verführer  nannte,  dessen  Wesen  Lust  nach  Herrschaft, 
nach  Überwindimg,  nach  Gefahr  ist,  der  aber  im  Grund  unerotisch  sei. 
Don  Juan  ist  teirflisch,  ihm  geht  es  um  das  Verderben  der  Frau.  Casa- 
nova liebt  jeweils  die  einzelne,  ihm  gerade  sich  darbietende  Frau;  er 
liebt  in  ge>vissem  Sinn  auch  noch  die  Verlassene,  er  ist  menschlich. 
Don  Juan  haßt,  Casanova  versteht  die  Frau.  Auch  Stendhal  (iio)  meinte, 
Don  Juan  sehe  in  den  Frauen  Feinde,  imd  stellte  ihm  Werther  gegenüber 

1  Zu  seiner   Charakteristik   siehe  auch  die   Bemerkungen   über   den  Junggesellen   w.  u. 

2  Goethe:  ..Doch    wem    nicht    daran    gelegen 

Scheinet,   ob   er   reizt  und   rührt, 
I>er   beleidigt,    der    verführt." 


410  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

als  den  Erotiker.  Bloch  (12)  findet,  daß  der  Don- Juan-Typus  in  England 
häufig  sei;    er   treibe   Liebe  als   Sport. 

Ohne  weiter  hierauf  einzugehen,  möchte  ich  nur  annierken,  daß  mir 
dieser  Don-Juan-Typus  nicht  vollständig  erscheint.  In  ihm  findet  sich 
auch  ein  Drang  nach  Erlösung;  er  haßt  die  Frauen,  weil  er  die  Frau 
nicht  findet  1. 

Es  ist  fraglich,  ob  diesen  Typen  des  Mannes  weibliche  an  die  Seite 
gestellt  werden  können.  Ausschweifimg  findet  man  natürlich.  Es  ist 
aber  schwer  zu  entscheiden,  ob  etwa  der  Messalinentypus  dem  Wollüst- 
ling, ob  er  dem  Don  Juan  entspricht  oder  gar  dem  ,, faunischen 
Menschen".  Überhaupt  scheinen,  bei  allen  individuellen  Differenzen, 
die  Frauen  eine  weit  geringere  Mannigfaltigkeit  an  Typen  darzubieten. 
Vielleicht  eben  deshalb,  weü  ihr  persönlichster  Kern  viel  innigere  Be- 
ziehungen zu  allem  Verhalten  nach  außen  eingeht,  von  weniger  ichfemen 
Schalen  verhüllt  wird. 

Während  der  Asket  die  Sexualität  auch  innerlich  ablehnt,  muß  der 
Mucker,  wie  ihn  Blüher  (i3)  ganz  gut  gezeichnet  hat,  die  Sexualität 
innerlich  anerkennen  imd  sie  nach  außen  ablehnen.  Auch  er  fürchtet 
sie  in  einem  Sinn,  aber  er  sucht  sie  zugleich.  Daher  er  überall  Sexuales 
wittert,  ob  dazu  ein  Anlaß  sei  oder  nicht.  Diesen  Typus  allerdings  gibt 
es  bei  beiden  Geschlechtern.  Man  könnte  zweifeln,  ob  es  überhaupt  eine 
ehrliche  Haltung  dieser  Art  gibt,  ob  nicht  immer  nur  eine  Maske,  Pose 
vorliege,  was  anzunehmen  man  sicherlich  in  sehr  vielen  Fällen  allen 
Grund  hat.  Das  sind  die  peinlich  korrekten  Menschen,  welche  die  öffent- 
liche imd  private  ,, Moral"  unter  allen  Umständen  behüten  wollen,  jeden 
Verstoß  dagegen  aufzuspüren  wissen,  und  die  dann  insgeheim  oder  unter 
irgendwelchen  ungewöhnlichen  Bedingungen  exzedieren.  Etwas  Mucker- 
haftes steckt  noch  in  vielen  Menschen,  welche  den  Anschein  der  Be^ 
freiung  erwecken  wollen,  die  ihre  Vorurteilslosigkeit  in  Eroticis  betont 
in  den  Vordergrund  stellen,  Nacktkultur  treiben  u.  dgl. 

Auch  jene,  welche  ihr  Gefallen  an  pornographischen  Produktionen 
allzu  auffallend  zur  Schau  tragen,  haben  häufig  etwas  dieser  Geistes- 
richtung Verwandtes  an  sich,  eine  Unfreiheit  dem  Sexualen  gegenüber, 
die  ihre  Erotik  gewissermaßen  jenes  Ventil  benützen  läßt,  weil  ihr  ein 
freies  Ausströmen  versagt  bleibt. 

In  solchen  Typen,  deren  Zahl  gewiß  zu  vermehren  wäre,  drückt  sich 
die  Orientierung  der  Sexualität  aus.  Nun  ist  es  klar,  daß  derartige 
Menschen  nicht  allein  auf  sexualem  Gebiete  typische  Züge  aufweisen^ 
werden,  sondern  auch  sonst  irgendwie  Gemeinsames  dürften  erkennen 
lassen.  Wir  haben  ja  von  einem  Don  Juan  oder  von  einem  Mucker  eine 
ganz  bestimmte  Allgemeinvorstellung,  die  sein  Gehaben  und  seine  Er- 
scheinung, fast  möchte  man  sagen,  eindeutig  kennzeichnet.  Wieder 
taucht  jene  verfängliche  Frage  nach  dem  primären  Faktor  auf.  Es 
ist  freilich  sehr  verführerisch,  wenn  man  zu  hören  bekommt:  ein  Mensch, 
der   sich    mit   dem    Sexualproblem   nicht   auseinanderzusetzen    verstanden 

1  Bemerkungen  zu  diesem  Thema  finden  sich  schon  bei  Bahnsen  (6),  der  den 
Don   Juan    und    den    Sanguiniker   kontrastiert. 


EROTISCHK    TYPEN  411 


hat,  der  in  allerlei  Schranken  und  Hommunp-on  verfangen  blieb,  zum 
Teil  Vorstellungen  und  lielürchtungen  der  Kindorjahre  mit  sich  schleppt, 
wird  in  analoger  Weise  sich  auf  anderen  Gebieti'^n  auch  vcHuUten,  Ent- 
scheidungen etwa  fliehen  usw. ;  das  SoxualcrlelKMi  und  die  Rcaklionon 
auf  Sexuales  werden  eben  als  ,, vorbildlich"  für  die  Lebensgestaltung  ül)cr- 
haupt  betrachtet.  Jung  hat  das  einmal  so  ausgedrückt:  es  sei  das  Schick- 
sal des  einzelnen  identisch  mit  dem  Schicksal  seiner  Sexualität.  Daß 
und  warum  ich  diese  These  glaube  ablehnen  zu  mässen,  habe  ich  schon 
wiederholt  angedeutet.  Da  indes  auf  diesen  Punkt  im  Schluljabschnitt  noch- 
mals die  Aufmerksajukeit  gelenkt  werden  soll,  genüge  hier  der  Hinweis, 
daß  auch  die  Betraclitung  der  erotischen  Typen  auf  dieses  Problem  führt. 
Mit  dieser  Typik  kreuzt  sich  eine  ajidere,  deren  Gestalten  zum  Teil 
durch  äußere  Einflüsse  geformt  werden.  Deren  Repräsentanten  sind  der 
eingefleischte  Junggeselle  imd  die  aJte  Jungfer.  Sie  nehmen  zwar  äußer- 
lich durch  die  Ehelosigkeit  eine  ähnliche  Stellung  ein,  sind  aber  genetisch 
und  psychologisch  sehr   \erschieden. 

Die  Motive  der  Ehelosigkeit  beim  alten  Junggesellen  können  sehr 
mannigfaltige  sein.  Jene  Fälle,  bei  welchen  die  Ursache  ausschließlich 
in  äußeren  Momenten  gelten  ist,  kommen  hier  kaum  in  Betracht.  Ihre 
charakteristischen  Züge  sind  wohl  auch  mehr  Produkt  der  Lebensbedin- 
gungen im  allgemeinen,  als  spezifisch  psychosexualcr  Faktoren.  Interessant 
sind  hier  jene  Menschen,  die  grundsätzlich  jedes  Eingehen  dauernder 
sexualer  Verbindungen  scheuen.  Auch  hier  gibt  es  verschiedene  Nuancen. 
Die  eine  vertritt  in  klassischer  Ausbildimg  Schopenhauer;  das  ist  der 
Misogyne,  dem  die  Frau  höchstens  Mittel  zur  Befreiung  vom  Geschlechts- 
drang ist,  dessen  man  sich  wohl  oder  übel  bedienen  muß.  Die  Miso- 
gynie  ist  Teilerscheinung  einer  allgemein  pessimistischen  Einstellung  zur 
Welt.  Für  jene  oben  abgelehnte  Anschauung  ist  der  Pessimismus  be- 
greiflicherweise die  auf  die  Welt  übertragene  Einstellung  zur  Sexualität. 
,,Welt  ist  Deckvorstellung  für  Sexuahtät.  Das  Schlechtsein  der  Welt 
ist  das  Schlechtsein  der  Sexualität  und  der  Weltschmerz  daher  eine  der 
großartigsten  Formen  von  Zwangsneurose"  (Blüher  [i3]).  Das  andere 
Extrem  ist  der  Don  Juan,  dem  keine  Frau  genug  tun  kann,  weil  keine 
die  gesuchte,  alles  vermögende  ist;  weil  er  weiß,  daß  es  keine  je  sein 
wird,  aber  trotz  dieses,  vielleicht  nie,  vielleicht  nur  in  manchen  Augen- 
blicken eingestandenen  Wissens  immer  sucht,  kann  er  eine  dauernde 
Verbindung  nicht  eingehen.  Denn  dies  hieße  resignieren,  und  Resignation 
ist  das,  was  diesen  Menschen  am  immöglichsten  erscheint.  Zwischen 
diesen  Polen  stehen  mancherlei  andere  Typen:  der  Mann,  welcher  die 
Frau  irgendwie  fürchtet,  ein  potentieller  Pantoffelheld,  oder  der  die 
Frau,  ohne  sie  pessimistisch  zu  werten,  doch  nicht  als  voll  nimmt  und 
sie  nicht  für  vmrdig  hält,  einen  so  großen  Raum  im  Leben  des  Manne« 
auszufüllen,  derjenige,  der  die  Verpflichtungen  scheut,  Verpflichtungen 
der  Fürsorge,  der  Ordnung,  den  die  Aufgabe  seiner  ,, Freiheit"  dauernd 
reut,  der,  welcher  seiner  Fähigkeit  zur  Treue  mißtraut,  und  wohl  noch 
andere  mehr. 

Vielfach    sind    Junggesellen    auch    Sonderlinge.     Sie   sind   es    auf   ver- 
schiedene  Art,    je    nach   der    Struktur   ihres    Junggesellentums.     Manche 


4,2  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ihrer  Sonderbarkeiten  sind  offensichtlich  Milieuprodukt.  Manche  hängen 
in  intimer  Weise  mit  ihrer  ganzen  Lebenshaltung  zusammen.  Es  ist 
hier  nicht  der  Ort,  näher  hierauf  einzugehen.  Wie  schon  die  Aufzählung 
der  Motive  erkennen  läßt,  handelt  es  sich  vielfach  um  Individualitäten, 
die  in  irgendeiner  Richtung  aus  der  Breite  des  Normalen  herausragen. 
So  mannigfaltig  solche  Abweichungen  sein  können,  so  mannigfaltig  auch 
die  Sonderbarkeiten  des  alten  Junggesellen.  Gewisse  Eigentümlichkeiten 
sind  aber  sehr  oft  anzutreffen.  Vor  allem  eine  Neigung,  neben  dem 
offenbaren  noch  ein  geheimes,  abseitiges  Leben  zu  führen,  von  dem 
nur  wenige  oder  niemand  etwas  erfährt.  Vielleicht  drückt  sich  in  dieser, 
im  Laufe  der  Jahre  verstärkten  Führung  einer  Art  von  Doppelleben 
ehi  Grundzug  der  seelischen  Struktvu-  dieser  Persönlichkeiten  aus,  der 
überhaupt  für  die  Ehelosigkeit  bestimmend  ist,  und  dem  gegenüber 
fast  alle  anderen  Motive  nur  periphere  Erscheinungen  darstellen,  nämlich 
die  Unfähigkeit,  Innen-  imd  Außenleben  in  befriedigender  Weise  zur 
Deckimg  zu  bringen;  da  aber  die  dauernde  Verbindung  mit  der  Frau 
auch  eine  dauernde  Preisgabe  der  Individualität  bedeutet,  oder  wo  solche 
bewußt  vermieden  wird,  doch  die  Gefahr  des  Erratenwerdens  in  sich 
birgt,  kann  ein  solcher  Mensch  eine  Ehe  unmöglich  eingehen.  Ich  glaube, 
daß  ein  tieferes  Eindringen  in  die  Psychologie  des  Junggesellen  sehr 
oft  eine  solche  Struktur  würde  erkennen  lassen.  Ziemlich  deutlich  scheint 
sie  mir  aus  den  Tagebüchern  Grillparzers  herauszutreten. 

Ist  also  der  echte  Junggeselle  ein  Mensch,  der  die  eheliche  Ver- 
bindung oder  ihr  Äquivalent  scheut^  und  absichtlich  meidet,  so  ist 
die  alte  Jungfer  ein  Produkt  der  aufgezwungenen  Karenz  und 
dadm-ch  für  den  Sexualpsychologen  von  viel  geringerem  Interesse.  Denn 
es  ist  bemerkenswert,  daß  Frauen,  welche  aus  Überzeugung  ehelos  bleiben 
und  auch  keinerlei  Liebesbeziehungen  je  eingegangen  haben,  der  charak- 
teristischen Züge  der  „allen  Jungfer"  ermangeln  können.  Diese  ent- 
stehen offensichtlich  erst  durch  das  Erzwungene  der  Situation,  durch 
die  äußeren  Momente  und  die  Reaktion  darauf  2, 

Daß  sie  ausbleiben  können,  hängt  wohl  mit  der  oben  sattsam  ge- 
kennzeichneten Besonderheit  weiblicher  Sexualität  zusammen.  Es  dürfte 
sich  ein  weiteres  Eingehen  auf  die  spezielle  Psychologie  der  alten 
Jimgfem  erübrigen. 

Vielen  von  ihnen  kommt  indes  ein  Zug  zu,  der  sich  vielleicht  aus 
den  Jugendjahren  erhalten  hat  —  nebenbei  bemerkt,  mit  dazu  beiträgt, 
daß  sie  so  vielfach  als  lächerlich  angesehen  werden  — :  das  ist  die 
Schwärmerei,  der  noch  ein  paar  Worte  zu  widmen  sind. 

Schwärmerei  steht  in  zweifellosem  Zusammenhang  mit  der  Erotik. 
Nicht  nur  derart,  daß  deutlich  erotische  Richtungen  auf  einen  anderen 
die  Züge  der  Schwärmerei  annehmen  können,  sondern  auch  so,  daß  die 
nicht  manifest   erotische    Schwärmerei    bei   näherem    Zusehen    doch   den 


^  Junggesellen  gehen  oft  dauernde  Verbindungen  ohne  Ehe  ein ;  offenbar  um  deren 
Vorteile  ohne  ihre  Verpflichtungen  zu  genießen,  vor  allem  um  sich  die  Illusion  des  Tem- 
porären, oder  jederzeit  möglichen  Ehebruches  zu  wahren.  Das  ändert  natürlich  nichts 
an  der  Auffassung  der   Grundstruktur. 

2  Zur  Psychologie  der  alten  Jungfer  vgl.  die  feinen   Bemerkung-en  Kretschmers  (66  b). 


EROTISCHE    TYPEN  413 


IüikIrk  k  orwi'ckt,  sie  entstanuno  irgendwie  der  Sexiuils[)hän^  Solches 
\  frliallt'ii  ist  voriioliinlicli  <lon  .lahn'ii  uiimilU^Ujar  vor  l'>n^icluing  der 
(ii'jioliltxlitsreife  oigonlünilicli.  Dit's  ist  dio  Zeil,  in  der  die  Mädchen 
füreinander,  für  den  Lehrer  oder  die  Lehrerin,  für  den  Tenor  oder 
jugendlichen  Liebhaber,  unter  Lnistäiiden  auch  für  keine  b(^tinimto 
Person,  für  einen  Stand,  für  Offiziere,  Ärzlo  usw.  im  allg"<'ni<'ineii 
..s^'lnvännen".  Es  ist  chese  Haltung  KnalxMi  nicht  fremd,  scheint  aber 
Imh  iiincn  seltener  vorzukommen;  sie  kann  ajiderseits  bei  Mädchen  fehlen. 
Die  Schwärmerei  hat  einige  l>omerkens werte  Eigenheiten.  Vor  allem: 
sie  ist  wesentlich  uneigennützig;  sie  tut  sich  in  der  Anl>elung  des  be- 
treffenden Objektes  genug,  sie  ist  dankbar  für  irgendwelche  lierührung 
mit  demselben,  sie  fordert  aber  in  ihrer  reinsten  Ausprägung  nichts. 
Darin  gleicht  sie  der  höchsten  Form  echter  Liebe.  Fast  wäre  man 
versucht  zu  sagen,  wie  in  der  Pubertät  die  vitale  Liebe,  Sexudität  i.  e.  S., 
sich  durclisetze,  so  manifestiere  sich  in  den  der  Schwärmerei  ergebenen 
präpuberalen  Jahren  die  geistige  Liebe  zum  ersten  Male,  zumindest 
bewußt  ziun  ersten  ALile.  Gegen  eine  solche  Aufstellung  einer  Pubertät 
der  geistigen  Liebe  spricht  aber  doch  sehr  das  so  häufige  Fehlen  dieser 
Phase  beim  Knaben ;  man  könnte  dies  höchstens  für  die  Frau  gelten 
lassen,  wozu  sich  noch  als  ^\rgument  beibringen  ließe,  daß  bei  den  meisten 
Frauen  die  geistige  Liebe  nie  wieder  ganz  in  den  Hintergrund  tritt. 
Die  große  Verwandtschaft  der  Schwärmerei  mit  der  echten  Liebe  erhellt 
auch  daraus,  daß  sie  wie  diese  auf  eine  Werterhöhung  ihres  Gegenstandes 
abzielt,  wovon  in  dem  Abschnitt  über  die  Liebe  mehr  zu  sagen  sein 
wird . 

Nun  werde  ich  mich  dort  bemühen,  darzulegen,  daß  die  geistige  Liebe 
nicht  „aus  der  Sexualität  hervorgehe",  sondern  mit  den  Akten  vitaler 
Liebe  zusammentrete,  um  das  komplexe  und  vollendete  Phänomen  der 
Liebe  zu  konstituieren.  Es  ist  daher  füglich  zu  fragen,  ob  denn  diese 
als  Vorstufe  oder  erste  Manifestation  der  geistigen  Liebe  aufgefaßte 
Schwärmerei  nicht  auch  in  gleichem  Maße  von  der  Sexualsphäre  xmab- 
hängig  gedacht  werden  müsse.  Diese  Unabhängigkeit  ist  hier  oder  dort 
als  eine  wesenhafte,  nicht  als  eine  des  empirischen  Vorkommens  zu 
verstehen,  indem  bei  den  Phänomenen  die  Ereignisse  des  Sexualen  als 
Anhub   dienen. 

Rein  deskriptiv  läßt  sich  sicher  feststellen,  daß  Schwärmerei  in  höchstem 
Grade  walten  kann,  ohne  daß  sich  ihr  spezifisch  sexuale  Momente 
beigesellen  würden.  Daß  man  solches  gemeinhin  nicht  annehmen 
wall,  liegt  wieder  einmal  —  wie  Kemnitz  mit  Recht  betont  —  daran, 
daß  man  gewohnheitsgemäß  alles  Denken  und  Erleben  nach  dem  Schema 
des  Männlichen  aufbaut,  wie  das  oben  im  Anschluß  an  Simmel  ausgeführt 
wurde.  Dem  Mann  aber  fehlt  zumeist  eine  vom  Sexualen  unabhängige 
—  in  obigem  Sinne  —  Richtung  auf  das  andere  Geschlecht.  Manche 
Männer  allerdings  kennen  diese  Attitüde.  (So  scheint  sie  den  Romantikem 
geläufig  gewesen  zu  sein.)  Es  scheint  mir  also  richtig,  auch  für  die 
Schwärmerei  eine  Wesensgleichheit  mit  der  eigentlichen  Sexualität  ab- 
zulehnen. 


4,4  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Dieser  Auffassung  widerstreitet  weder  der  Umstand,  daß  Schwärmerei 
und  Erotik  sich  einander  häufig  gesellen,  noch,  daß  die  reine  Schwärmerei 
Ausdrucksformen  annehmen  kann,  welche  denen  der  Erotik  imgemein 
gleichen,  und  sogar  zu  sekimdären  Phänomenen,  wie  Eifersucht,  führt; 
doch  möchte  ich  eher  glauben,  daß  die  Neigung  zu  Eifersucht  der 
vollendeten  Schwärmerei  abzusprechen  und  darin  vielmehr  der  Ausdruck 
einer  erotischen   Komponente  zu  sehen  sei. 

Eine  andere  Eigentümlichkeit  der  Schwärmerei  ist  ihr  außerordentlich 
leichtes  /Vbgleiten  in  das  Spielerische.  Viele  Schwärmereien  sind  iinemst 
und  laufen  auch  mit  dem  Bewaißtsein  dieser  Unernsthaftigkeit  ab. 
Deutlich  tritt  dies  zutage  in  dem  raschen  Wechsel  des  Gegenstandes; 
der  jeweils  vorhandene  Heldentenor  —  um  trivial  zu  sprechen  —  ist 
Zielpunkt  aller  Schwärmereien,  die  so  von  Saison  zu  Saison  wechseln 
können.  Auch  die  Möglichkeit,  für  mehrere  Personen  ziemlich  gleichmäßig 
zu  schwärmen,  mag  in  diesem  Sinne  sprechen,  obwohl  auch  echter  Liebe 
diese  Fähigkeit  nicht  abgesprochen  werden  kann. 

Aber  selbst  in  der  halb  spielerischen  Schwärmerei  ist  die  Persönlich- 
keit irgendwie  intimer  beteiligt.  Man  merkt  das  an  dem  Verhalten  der 
Betreffenden,  wenn  sie  in  späteren  Jahren  an  diese  Schwärmereien 
zurückdenken.  Es  ist  nicht  nur  jene  halb  freudige,  halb  wehmütige 
Stimmung,  die  fast  jeden  bei  Vergegenwärtigung  der  Jahre  von  Kindheit 
und  Jugend  erfaßt.  In  dem  überlegenen  und  zugleich  gerührten  Lächeln, 
mit  dem  die  reife  Frau  dieser  Zeiten  gedenkt,  liegt  noch  mehr,  liegt 
auch  eine  Anerkennung  dafür,  daß  doch  —  sehr  oft  wenigstens  —  bei 
diesem  Verhalten  die  ganze  Persönlichkeit,  soweit  sie  damals  sich  schon 
entfaltet  hatte,  rückhaltlos  eingesetzt  wurde,  daß  damals  in  gewisser 
Hinsicht  das  Ideal  der  Liebe  vielleicht  in  größere  Nähe  gerückt  war 
als  je   nachher. 

Kurz  sei  der  asexualen  Menschen  Erwähnung  getan.  Es  ist. 
fraglich,  ob  es  solche  überhaupt  gibt.  Am  ehesten  erreicht  diesen  Typus 
die  frigide  Frau.  Nur  daß  Frigidität  im  gemeinen  Verstände  nicht 
bedeutet  oder  bedeuten  muß:  bar  jeder  Erotik;  und  daß  man  sich 
immer  fragen  muß:  frigid  für  wen?  Trotzdem  dürfte  es,  zumindest 
was  den  Sexualaffekt  und  die  eigentliche  Geschlechtsempfindmig  an- 
langt, unter  den  Frauen  solche  Individuen  geben.  Wie  viele,  ist  nicht 
zu  sagen:  denn  auch  hier  gilt,  wie  für  jede  .Abweichung  im  Sinn  eines 
Minus,  daß  erst  nach  dem  Versuche  der  Bewährung  unter  allen  möglichen 
Bedingungen  ein  Urteil  zulässig  sei.  Begreiflicherweise  ist  dieser  Versuch 
im  gegebenen  Falle  zumeist  unausführbar.  Die  ganze  Frage  ist  aber 
wohl  keine  psychologische,  wenn  auch  die  Genese  des  Zustandes  zu- 
weilen oder  oft  eine  psychogene  sein  mag. 

Über  die  Sexualität  der  Kastraten  ist  das  wenige,  das  anzumerken 
wäre,  in  der  Einleitung  aufgeführt  worden. 

Interessant  wäre  wohl  die  Psychosexualität  echter  Hermaphro- 
diten. Doch  scheinen  darüber  keine  Angaben  vorzuliegen.  Neug^auer 
befaßt  sich  zwar  mit  dem  psychischen  Zustand  solcher  Menschen,  aber 
ohne  die  Probleme  der  Sexualsphäre  zu  berühren. 


EROTISCHE    TYPEN  415 


In  diesem  Zusammenhange  muß  eine  Einstellung  nochmals  berührt 
werden,  die  schon  oben  Erwähimng  fand,  diejenige,  welche  Bloch  (12) 
gut  als  den  ..Abfall  vom  \\  eibe"  benannt  hat,  die  aber  auch 
zmii  Teil  Abfall  vom  Gösch lechtsgenuß  und  der  Erotik  überliaupt  be- 
deutet. Bei  SpeJicer  findet  sich  die  Bemerkung,  daß  die  Bedeutung  des 
Sexualen  als  Lustquelle  mit  der  durch  die  fortschreitende  Kultur  be- 
wirkten Zunahme  der  Lustmöglichkeiten  mehr  und  mehr  zurücktrete. 
(Diese  Auffassung  hat  man  aucii  zur  Erklärung  des  Geburtenrückganges 
herangezogen.)  Ob  die  These  recht  hat  oder  nicht,  jedenfalls  gibt  es 
Perioden,  in  welchen  die  \\  ertscliätzung  der  Frau  und  des  Sexualen 
überhaupt  geringer  ist,  ujid  zu  allen  Perioden  Menschen,  welche  diese 
Stellung  innehaben.  Schopenhauer  >vurdo  genannt,  Strindberg,  Wei- 
ninger  sind  andere  Repräsentanten.  Daß  von  Homosexuellen  eine  solche 
Haltung  eingenommen  imd  propagiert  wird,  ist  begreiflich.  Bei  Hetero- 
sexuellen entspringt  sie  wohl  großenteils  individuellen  Erfahrungen,  was 
bei  Schopenhauer  und  Strindberg  ziemlich  durchsichtig  erscheint,  bei 
Weininger  (11 4)  weit  weniger  1.  Aber  von  den  Genannten  hat  mit  dem 
Weibe  auch  die  Sexualität  nur  Weininger  verworfen.  Er  stellt  das 
Extrem  in  diesem  "Sinne  dar.  Er  und  seinesgleichen  sind  keine  Asketen, 
denn  sie  bekämpfen  die  Sexualität  nicht  als  den  Feind,  das  Böse,  son- 
dern sie  negieren  sie.  Inwieweit  solche  Negation  eine  Flucht,  ein  Be- 
helf gegen  Strömungen  in  der  eigenen  Seele  ist,  soll  imuntersucht 
bleiben. 

Als  Anhang  ist  die  Erscheinung  der  Prostitution  abzuhandeln. 
Dabei  kommen  drei  Klassen  von  Menschen  in  Betracht,  nämlich  die 
Prostituierten,  die  Zuhälter  und  jene  Männer,  welche  bei  den  Dirnen 
ihre    Sexualbefriedigung    suchen,    die    Kunden    der    Prostitution  2. 

Die  Kunden  sind  keine  einheitliche  Gruppe.  Schon  die  Motive, 
welche  den  Mann  zur  Prostituierten  führen,  sind  sehr  mannigfaltige. 
Einen  gewissen  Teil  machen  jene  aus,  die,  irgendwelchen  Perversionen 
verfallen,  nur  im  Bordell  ihrem  Hange  nachgehen  können.  Eine  andere 
Gruppe  bilden  die  Männer,  welchen  materielle  Umstände  die  Eheschließimg 
und  auch  die  Knüpfimg  einer  relativ  dauernden  freien  Verbindung  un- 
möglich machen.  Ferner  solche,  die  infolge  irgendwelcher  körperlicher 
Mängel,  auffallende  Häßlichkeit  u.  dgl.,  mit  oder  ohne  Grund  eine  Frau 
zu  erringen  verzweifeln.  Andere,  recht  zahlreiche,  besuchen  das  Bordell 
eigentlich  mehr  aus  Eitelkeit,  mn  sich  den  Sitten  ihres  Kreises  anzu- 
passen, verführt,  imter  dem  Einflüsse  des  Alkohols  usw.  Schließlich 
Menschen,  denen  der  Verkehr  mit  der  Prostituierten  aus  inneren  Gründen 
Bedürfnis  ist.     Nur  sie  bieten  dem  Sexualpsychologen  ein  Interesse. 

Auch  diese  inneren  Gründe  können  mannigfaltiger  Art  sein.  Da  sind 
einmal  Individuen,  die  ein  geregeltes  „bürgerliches"  Leben  führen,  und 
die  von  Zeit  zu  Zeit  ein  —  oft  scheint  es,  unwiderstehliches  —  Verlangen 


1  Trotz  Blochs  Behauptung,  „man  höre  aus  VVeiningers  Buch  deutlich 
heraus,  daß  er  kein  Glück  bei  Frauen  gehabt  habe",  möchte  ich  die  Genese  Beiner 
Einstellung    nicht    für    so    ohne    weiteres    als    klar    ansehen. 

'■^  Vgl.    A.    Adler    (3). 


416  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

nach  dem  Bordell  ergreift,  Quartalexzedenten  sozusagen.  Was  ihnen 
die  Venus,  \ailgivaga  so  anziehend  macht,  ist  nicht  immer  leicht  zu  sagen. 
Bei  einigen  ist  es  teilweise  Sentimentalität,  der  Wunsch,  die  „Freiheit" 
ihrer  ehelosen  und  Jugendjahre  \vieder  auf  Momente  sich  vergegen- 
wärtigen zu  können.  Es  erscheint  ihnen  —  traurig  genug  —  gerade  der 
BordcUbesuch  als  Sinnbild  dieser  noch  hoffnungsreichen,  an  Enttäu- 
schuno-on,  Verpflichtungen  usw.  armen  Zeit  ihres  Lebens;  im  Freuden- 
haus finden  sie  diese  Stimmung,  abgeblaßt  zwar  imd  mit  dem  Hinter- 
grundsbe\vußtscin  des  Scheines,  aber  doch  greifbar  wieder.  Bei  diesen 
ist  wohl  von  einer  Unvväderstchlichkeit  der  Sehnsucht  nach  dem  Bordell 
kaum  die  Rede.  Jene  Fälle,  bei  welchen  dies  zutrifft,  stehen  vielleicht 
einem  Typus  nahe,  den  Adler  (3)  in  scharfen  Zügen  gezeichnet  hat: 
„Jeder  Schwierigkeit  gehen  sie  ängstlich  aus  dem  Weg  oder  trachten, 
sie  auf  listige  Weise  zu  umgehen.  Sie  haben  ihr  ganzes  Leben  und 
Streben  auf  billige  Triumphe  gesetzt  .  .  .  ihre  Unzufriedenheit  erstreckt 
sich  auf  die  Frau,  die  sie  durchaus  für  eine  niedrige  Art  von  Menschen 
halten.  Und  so  wird  ihnen  das  Weib  zum  Mittel  .  .  .  und  sie  bedienen 
sich  desselben  dort,  wo  seine  Widerstandslosigkeit  den  Aberglauben  von 
der  männlichen   Überlegenheit  restlos   zu  erweisen  scheint." 

Andere  -wiederum  suchen  die  Prostituierte  aus  innerer  Unsicherheit 
auf.  Sie  stehen  einerseits  dem  eben  erwähnten  Typus  nahe,  anderseits 
sind  sie  struktural  dem  Junggesellen,  >vie  ich  ihn  oben  zu  kennzeichnen 
versuchte,   verwandt. 

Auch  innere  Unfreiheit,  die  Unfähigkeit,  sich,  seine  Persönlichkeit  so 
preiszugeben,  wie  es  die  Ehe,  ja  wie  es  schon  das  nur  einigermaßen 
dauernde  ,, Verhältnis"  fordert,  führt  manche  zur  Dirne;  dabei  ist  nicht 
zu  verkennen,  daß  viele  selbst  hier  noch  eine  wenn  auch  noch  so 
flüchtige   ,, Wirbildung"   anstreben    (s.   den   Abschnitt  über   Liebe). 

Eine  eigenartige  Menschenklasse  sind  die  Zuhälter.  An  und  für 
sich  ist  in  seiner  Stellimg  noch  kein  Anlaß  gegeben,  warum  er  fast 
immer  ein  brutal-gewalttätiger,  dabei  offensichtlich  innerlich  feiger  und 
haltloser  Mensch  sein  sollte.  Ich  glaube,  Adler  (3)  trifft  das  Richtige, 
wenn  er  auf  die  strukbirale  Verwandtschaft  des  Zuhälters  mit  jenem 
oben  umrissenen  Typus  des  Prostitutionsbedürftigen  hinweist.  Auch  hier 
„eine  Neigung  zu  billigen  Erfolgen,  die  Erfassung  der  Frau  als  Mittel 
zum  Zweck  und  der  Hang  zu  müheloser  Befriedigung  von  Herrschafts- 
gelüsten", daher  eine  große  Nähe  zum  Verbrechertum,  die  BrutaKtät 
als  ,,Paroxysmus  eines  empfindlichen  Schwächegefühls".  Die  Doppelrolle, 
die  der  Zuhälter  zugleich  als  der  Ausbeuter  und  der  Beschützer  der  Prosti- 
tuierten  spielt,   enthüllt   diese   seine   Beschaffenheit   auf   das   deutlichste. 

Schließlich  die  Prostituierte  selbst.  Eine  Untersuchung  über  die 
Motive,  welche  zur  Prostitution  führen,  gehört  kaum  hierher,  auch  wenn 
man  sich  unter  .\bsehung  von  allen  sozialen  Momenten  auf  bloß  Psycho- 
logisches beschränken  wollte,  was  übrigens  bei  den  mannigfachen  Ver- 
flechtungen und  Wechsehvirkungen  kaum  durchführbar  wäre.  Es  exi- 
stiert darüber  eine  beträchtliche  Literatur;  man  hat  über  Schwachsinn 
und  Psychopathie,  über  Alkoholismus  und  Verführung,  über  gesteigerte 


EROTISCH K  TYPEN  417 


sinnliche  Erregbarkeit  und  deren  Gegenteil  usw.  als   Ursachen  mehr  ak 
genug  gesclu-iebon  ^. 

IlitT  ist  zu  fragen:  gibt  es  eine  die  Prostituierte  als  Typus  konnzeich- 
neiuJo  stvlischo  Beschaffenheit?  Liepmaiin  (73)  konstruiert  einen  Typus 
tler  Dirne  nach  Weiningerschcm  (ii/i)  Schema:  D  =  3/4  M  -f-  1/4  V^  • 
.,Uio  typische  Dirne  ist  das  getreue  Spiegelbild  des  nur  triebartig  nach 
Lust  verlangenden  Mannes."  Sie  ist  ein  Mannweib,  dessen  männliche 
Komponente  nicht  durch  Sublimierung  verwandelt  wurde.  Ganz  abge- 
sehen von  der  keineswegs  glücklichen  Anwendung  der  Gleichung,  halte 
ich  diese  Aufstellung  für  recht  wenig  begründet.  Sie  hat  zur  Voraus- 
setzung, daß  die  Protistuicrte  tatsächlich  ein  besonders  entwickeltes 
sexuales  Triebleben  habe,  daß  ihr  —  ganz  im  Sinne  Lombrosos  —  ange- 
borenerweise eine  bestimmte,  sie  zu  ihrer  Laufbahn  von  vornherein 
bestimmende  Beschaffenheit  zukomme.  M.  E.  trifft  diese,  allerdings 
oft  genug  vertretene  Ansicht  höchstens  für  einen  verschwindenden  Bruch- 
teil zu.  Im  allgemeinen  betreibt  die  Prostituierte  ihr  Gewerbe  als  Ge- 
werbe eben  um  des  Erwerbs  willen,  ohne  Beteiligung  ihrer  Sexualität. 
Diese  kommt  auf  ihre  Rechnung  im  Verkehr  mit  dem  Zuhälter  oder 
—  recht  oft  —  in  homosexuellen  Beziehungen.  Die  Mädchen,  deren 
sinnliche  Bedürfnisse  von  einem  Manne  zLun  anderen  treiben,  sind  gar 
nicht  in  echtem  Sinne  Prostituierte.  Sie  nehmen  wohl  auch  Geld  und 
Geschenke,  aber  nicht  als  Entgelt  für  die  Hingabe;  eher,  wenn  schon 
neben  der  bloßen  Freude  an  Putz  und  Vergnügen  dabei  weitere  Motive 
mitspielen,  um  der  Illusion  der  Liebesbezeu^ng  willen.  Liebe  will 
schenken  imd  beschenkt  werden;  wo  Liebe  fehlt,  hilft  das  Geschenk 
der  Hingabe  und  der  Empfang  von  Gaben  die  Täuschung,  das  Spiel, 
als  ob  es  so  sei,  aufrechterhalten.  Der  Dirne  aber  ist  es  nicht  um  den 
Geschlechtsgenuß,  nicht  lun  Befriedigung  von  Trieben,  sondern  um  den 
Erwerb  zu  tun,  so  sehr,  daß  sie  ihre  Betätigung  auch  dann  noch  fort- 
setzt, wenn  sie  einmal  durch  ihre  materielle  Lage  dazu  gar  nicht  mehr 
gezwimgen  ist.  Das  Wesen  der  Prostitution  ist,  daß  eine  seelische  und 
körperliche  Funktion  als  Ware  behandelt  wird.  Dies  ist  nur  möglich, 
wenn  die  Frau,  ihr  Körper  und  ihre  Seele  als  bloße  Mittel  angesehen 
werden,  Mittel  zur  Befriedigung  männlichen  Gelüstes,  innerhalb  einer 
Gesamtanschauung  der  mann- weiblichen  Relationen  also,  welche  durchaus 
vom  männlichen  Standpunkt  aus  orientiert  ist.  So  viel  ist  richtig  an 
Liepmanns  (78)  Auffassung,  daß  die  Dirne  zwar  nicht  notwendigerweise 
mehr  männliche  Elemente  enthält,  wohl  aber,  daß  sie  sich  den  männ- 
lichen Standpunkt  auch  sich  selbst  gegenüber  zu  eigen  macht.  Daß  sie 
dadurch  unter  Umständen  an  Weiblichkeit  einbüßt,  ist  verständlich. 
Daß  sie  von  vornherein  davon  weniger  besitzen  müßte,  aber  nicht  not- 
wendig. Für  viele  beginnt  die  Laufbahn  mit  der  Unterwerfimg  unter 
einen  herrischen  Verführer,  dem  sie  blindlings  ergeben  sind;  die  einmal 
gewonnene  Einstellung  geben  sie  eben  sehr  oft  nicht  wieder  auf.  Denn 
die  Aufgabe  wäre  vielleicht  weit  schmerzlicher  als  die  fortdauernde  Hin- 
gabe; zumindest  im  Augenblick.    Es  hieße  für  die  Frau,  sich  eingestehen, 

1  Vgl.     die    neue    Monographie    von     Schneider. 
27    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


418 ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


daß  sie  gerade  das  getan  habe,  was  ihrem  innersten  Wesen  am  voll- 
kommensten zuwiderläuft,  nämlich  ihien  Eigenwert  restlos  an  einen  ande- 
ren  verschwendet   zu   haben. 

Weitere  damit  zusammenhängende  Fragen,  nach  Graden  und  Arten 
der  Prostitution,  nach  dem  Wesen  der  Demimonde  usw.,  sind  nicht 
psychologischen,    sondern    soziologischen    Inhaltes. 


DIE  ABAliTUNGEN 

Mail  pflegt  wohl  die  in  diesem  Abschnitte  zu  behandelnden  Erschei- 
nungen als  paüiologisch  zu  bezeichnen,  die  Lehre  von  ihnen  als  dio 
PsYchopatliologia  sexualis.  Doch  ist  es  hier  schwieriger  als  irgendwo 
in  dem  ganzen  Bereiche  menschlichen  Seelenlebens,  zwischen  Gesund  und 
Krankhaft  eine  Grenze  zu  ziehen.  Überall  stößt  man  auf  fließende 
Übergänge;  allerhand  Züge,  welche  diesen  oder  jenen  pathologischen 
^'e^haltlmgsweisen  auf  sexualem  Gebiet  eigentümlich  sind,  trifft  man 
bei  sonst  ,, normalen"  Individuen  an,  normal  nicht  nur  in  Hinsicht  auf 
ihr  übriges  Seelenleben,  sondern  auch  auf  ihre  Psychosexualität  im  großen 
und  ganzen.  „Perverse"  Phantasien  begleiten  ein  äußerlich  noi-males 
Geschlechtsleben,  und  würde  man  die  sexuellen  Beziehungen  in  vielen 
alltäglich  erscheinenden  Ehen  und  Liebesbünden  durchschauen  können, 
so  würde  man  sicherlich  über  die  zahlreichen  Abnormitäten  erstaunen 
müssen.  Andrerseits,  wenn  man  das  Liebesleben  von  Individuen  mit  soge- 
nannter pathologischer  Sexualität  psychologisch  betrachtet,  so  kann  man 
nicht  verkennen,  daß  die  Abläufe  und  Phänomene  sehr  oft  bis  auf  einen 
einzigen  Punkt  eigentlich  die  gleichen  sind,  wie  wir  sie  beim  Normalen, 
Durchschnittlichen  antreffen.  Es  erscheint  daher  geboten,  mit  dem  Aus- 
drucke ,,Psychopathologia  sexualis"  einigermaßen  vorsichtig  umzugehen 
und  lieber  von  Abartimg  als  von  Entartung  zu  sprechen.  Dies  um  so  mehr, 
wenn  man  sich  vor  Augen  hält,  daß  der  Stempel  des  Pathologischen  so 
mancher  Erscheinung  nicht  auf  Grund  einer  Einsicht  in  besondere,  als 
krankhaft  irgendwie  zu  erkennende  Mechanismen  aufgedrückt  mrd,  son- 
dern aus  ganz  anderen  Motiven  heraus,  auf  Grund  von  Wertungen  mora- 
lischer, ästhetischer,  sozialer  Art. 

Für  eine  Gruppierung  der  Abartungen  kann  wiederum  jene  Unterschei- 
dung Freuds  (I\S)  als  Grundlage  dienen,  wie  er  denn  selbst  eine  Ein- 
teilung nach  Abänderungen  des  Sexualzieles  und  des  Sexualobjektes  ge- 
troffen hat. 

Die  extreme  Abweichung  hinsichtlich  des  Sexualobjektes  ist  die 
Homosexualität,  bei  der  sich  die  Sexualität  auf  ein  Individuum 
gleichen  Geschlechtes  richtet.  Indes  läßt  sich  schon  ganz  äußerlich  die 
eigentliche  Wesensgleichheit  von  Homosexualität  und  normaler  Hetero- 
sexualität  in  rielen  Fällen  erkennen.  Denn  die  Homosexuellen  zerfallen 
im  allgemeinen  in  zwei  Typen,  in  solche  Persönlichkeiten,  welche  sich  von 
Individuen  gleichen  Geschlechts  geschlechtlich  brauchen  lassen,  und 
solche,  welche  eine  aktive  Rolle  spielen,  also  ein  männlicher  und  weib- 
licher Typus. 

Scheler  hat  sicherlich  recht,  wenn  er  auch  für  diese  Abartung  der 
Sexualität,  zumindest  der  Idee  nach,  die  gleiche  Struktur  anerkannt 
haben  will    wie  für  die  erotischen  Beziehungen  zwischen  Mann  imd  Frau. 

27* 


420  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Auch  bei  der  Homosexualität  ist  —  zumindest  außerordentlich  häufige  — 
eine  Tendenz  vorhanden  nach  einem  Repräsentanten,  man  kann  freilich 
nicht  sagen  des  anderen  Grtjschlechtes,  aber  vielleicht  des  anderen  Poles 
der   Sexualität  ^ 

Dementsprechend  finden  wir  unter  den  männlichen  Homosexuellen  teils 
Individuen  von  normalem  maskulinen  Aussehen  und  Gehaben,  teils 
solche,  die  sich  in  einem  mehr  weibischen  Wesen  gefallen,  Frauenkleider 
zu  tragen  lieben  und  sich  auch  sonst  ähnlich  wie  die  Geliebte  gerieren, 
anspruchsvoll,  launenhaft,  mit  einem  Bedürfnis,  gehätschelt,  verzogen  zu 
werden  usw.  Umgekehrt  stellt  sich  die  in  homosexuellen  Beziehungen 
die  aktive  Rolle  übernehmende  Frau  oft  dar  als  ein  Individuum  mit  mehr 
männlichem  Habitus,  mit  Neigung  zum  Tragen  von  Männerkleidem  oder 
solchen,  die  diesen  angenähert  sind,  mit  kurzgeschnittenem  Haar  usw., 
wobei  dieser  Habitus  nicht  selten  keineswegs  nur  ein  durch  die  Kleidung 
künstlich  hergestellter  ist,  sondern  physiologisch  begründet  erscheint 
durch  die  tiefere  Stimmlage,  die  stärkere  Entwicklung  von  Skelett  und 
Muskulatuir,  einen  mehr  männlichen  Bewegungstypus :  Virago  hat  man 
solche  Gestalten  wohl  auch  geheißen.  Die  Partnerinnen  dieser  , .Mann- 
weiber" —  das  Wort  hier  in  zweifachem  Verstände  gebraucht  —  sind 
dagegen  hingebend,  unter\\'ürfig,  tyrannisch,  launenhaft,  dem  Habitus 
und  Gehaben  nach  durchaus  weibliche  Typen. 

Gelegentlich  freilich  kommt  es  auch  vor,  daß  zwei  Individuen  des 
,,männlichen"  Typus  —  Männer  oder  Frauen  —  sich  in  sexualen  Be- 
ziehungen zueinander  finden,  doch  zweifellos  viel  seltener,  so  daß  diese 
Fälle  kaum  imstande  sein  können,  die  Behauptung  von  der  wesentlichen 
Richtung  auf  ein  heterosexuelles   Sexualobjekt  zu  widerlegen. 

Auch  wenn  man  der  Psychologie  dieser  Individuen  nachgeht,  wird  man 
—  abgesehen  von  der  W  ahl  des  Sexualobjektes  —  kaum  auf  Züge  stoßen, 
die  nicht  den  heterosexuellen  Beziehungen  ebenfalls  eigentümlich  wären. 
Alle  psychologischen  Analysen  der  Literatur,  Krankengeschichten,  belle- 
tristische Werke  betonen  immer  wieder  nur  den  einen  Punkt:  die  man- 
gelnde Anziehungskraft,  welche  die  Frau  auf  den  männlichen,  der  Mann 
auf  den  weiblichen  Homosexuellen  ausübt,  und  die  oft  unbezwingbare 
Neigung  zu  Individuen  gleichen  Geschlechtes. 

Läßt  man  aber  diesen  Punkt  weg,  würde  man  in  den  Liebesergüssen 
und  Schilderungen  dieser  Persönlichkeiten  einfach  eine  Frau  bzw.  einen 
Mann  als  das  Ziel  der  Wünsche  substituieren  —  ich  glaube  nicht,  daß 
die  Darstellimg  sich  dann  irgend\\de  von  der  eines  Normalen  unter- 
scheiden  wnürde. 

Eines  nxu-  ist  auffallend.  Die  meisten  Homosexuellen  schildern  ihre 
Triebe,  Neigungen  als  überwältigend.  Man  hat  den  Eindruck,  als  seien 
dies  Persönlichkeiten,  in  welchen  von  vornherein  der  Sexualität  ein 
größerer,  bestimmenderer  Emfluß  auf  die  seelischen  Abläufe,  das  Ver- 
halten, die  Willensentscheidungen  zugemessen,  eingeräumt  werde  als  bei 
der  Mehrzahl  der  Normalen.  Gewiß  gibt  es  unter  diesen  —  es  war 
davon  die  Rede   —  eine  hinlängliche  Zahl,   die  an  Überschwenglichkeit 

^  \gl.    die    Darstellung    bei    Schneider    (io4a)    und    bei    Toepel    (112  a). 


DIE  ABAHILINGEN  421 


lies  Gefühles,  an  Intensität  des  Verlangens,  an  Eifersucht  usw.  nicht 
wolliger  leisten  als  diese  Homosexuellen.  Aber  es  gibt  eben  auch  andere, 
\i«'l  nu'Jir  andere,  die  sich  sozusagen  auf  <lcr  mittleren  Linie  bewegen, 
l  utcr  den  llomosoxucllen  anscheinend  nicht  oder  /umiiulest  sehr  viel 
seltener;  <ho  CberschweJiglichen,  stets  auf  der  Hohe  des  Gefühles  Wan- 
delnden, überwiegen  <lurcliaus.  Damit  hängt  auch  die  oft  bis  zur  Senti- 
mentalität ausartende  Leidenschaftlichkeit  des  schriftlichen  Verkehres  zu- 
sammen, auf  die  neuer<üngs  Frank  (4i)  hingewiesen  hat.  Eine  Senti- 
mentalität, die  zumindest  mir  einen  vielfach  unechten  Eindruck  macht, 
auch  dann,  wenn  man  sich  die  Briefe  eines  Mannes  nicht  an  einen  Freund, 
sondern  an  eine  Geliebte  gerichtet  denkt.  Selbst  wenn  man  der  Aus- 
drucksweise der  Epoche  Rechnung  trägt,  die  sich  ja  wahrlich  an  Gefühls- 
ergüssen vielfach  nicht  genug  tun  konnte,  scheinen  mir  die  Briefe 
Platens  durch  eine  eigenartige,  freilich  nicht  zu  präzisierende  Süßlichkeit 
aufzufallen.  Daneben  findet  man  aber  zweifellos  Dokumente,  die  von 
wahrer  echter  Leidenschaft  sprechen,  wie  denn  die  Gedichte  der  —  wahr- 
scheinlich oder  auch  sicher  —  homosexuellen  Dichter,  eines  Michelangelo 
oder  Walt  Whitman,  den  Vergleich  mit  gar  manchem  „normalen"  Liebes- 
lie<l   nicht   zu   scheuen   haben. 

Immerhin  legt  die  erwähnte  Tatsache  den  Gedanken  nahe,  es  möchten 
diese  Homosexuellen  denn  doch  von  vornherein  aus  dem  Typus  des 
Durchschnittsmenschen,  nicht  nur  hinsichtlich  ihres  Sexualverhaltens, 
herausfallen  ^.  Damit  gelangen  wir  zur  Besprechung  einer  recht  schwierigen 
und  noch  vielfach  kontroversen  Frage,  nämlich  nach  der  Genese  der 
Homosexualität.  Es  geht  deren  Erörterung  natürlich  über  den 
Rahmen  einer  bloß  deskriptiven  Psychologie  hinaus,  kann  aber  nicht 
wohl   vermieden    werden. 

Zunächst  muß  angemerkt  werden,  daß  die  so  einfache  Formulierung 
durch  einen  Führer  und  Vorkämpfer  der  Homosexuellen:  anima  muliebris 
in  corpore  virili,  wenn  überhaupt,  doch  nur  für  einen  Teil  dieser  Indivi- 
duen richtig  sein  kann.  Denn  im  allgemeinen  verhält  sich  der,  sagen 
wir,  aggressive,  die  männliche  Rolle  spielende  Pari;ner  in  einem  gleich- 
geschlechtlichen Verhältnis  zwischen  Männern  keineswegs  so,  als  hätte 
er  eine  anima  muliebris.  Er  ist  aktiv,  aggressiv,  er  beschützt  imd  sorgt 
für  seinen  Geliebten  wie  ein  Mann  für  die  geliebte  Frau.  Auch  hinsicht- 
lich des  Sexualzieles  bestehen,  Avie  noch  anzuführen  sein  wird,  die  gleichen 
Unterschiede,  zumindest  zwischen  Männern,  während  bei  Frauen  die 
Übernahme  bald  der  aktiven  bald  der  passiven  Rolle  häufiger  vorzu- 
kommen scheint. 

Es  setzt  auch  jene  Formel  die  durchgängig  anlagemäßige  Bedingtheit 
der  Homosexualität  voraus.  Die  Akten  darüber,  ob  es  eine  solche  über- 
haupt gibt,  oder  ob  nicht  alle  Fälle  der  erworbenen  Inversion  zuzuzählen 
seien,  sind  nicht  geschlossen.  Die  Zahl  der  Verteidiger  der  ersteren 
Anschauung  hat  entschieden  in  dem  Maße  abgenommen,  als  die  genauere 
Durchforschimg  des  Entwiclclungsganges  bei  immer  mehr  Fällen  das 
determinierende   Moment   und   damit   die   Akquisition    während   des  indi- 


1  Vgl.    dazu    und    zu    dem    Folgenden    Stekels    (iioa)    Ausführungen. 


422  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

viduellen  Lebens  aufzuzeigen  vermochte.  Jedenfalls  ist  die  konstitutive 
Homosexualität,  falls  es  solche  gibt,  nur  in  äiner  verschwindenden  Minder- 
zahl von  Fällen  anzunehmen,  wie  das  auch  Frank  (4i)  jüngst  hervor- 
gehoben hat.  Viele  Autoren,  so  z.  B.  KraepeHn,  lehnen  diese  Auffassung 
vollkommen  ab.  Ohne  in  dieser,  psychologisch  übrigens  mehr  neben- 
sächlichen Frage  eine  Entscheidung  fällen  zu  wollen,  glaube  ich,  daß 
sich  endlich  auch  die  letzten  als  kongenital  aufgefaßten  Fälle  von  Homo- 
sexualität als  lentstandeno  werden  erweisen  lassen,  wie  das  auch 
H.  Elhs  (3i)  meint.  Trotzdem  wird  man  die  Annahme  eines  konstitutiven 
Faktors  nicht  gut  missen  können.  Denn  immer  muß  gefragt  werden, 
warum  denn  ein  und  dasselbe  Erlebnis,  ein  und  derselbe  Einfluß  das 
eine  Individuum  in  seiner  normalen  Sexualentwicklung  nicht  behindert, 
>vährend  es  bei  einem  anderen  die  Richtung  zur  Homosexualität  deter- 
mim'ert.  Und  in  dem  oben  erwähnten  emotiven  Verhalten  so  vieler 
Homosexueller  scheint  mir  ein  Hinweis  auf  die  VV^irksamkeit  konstitutiver 
Faktoren  gelegen  zu  sein,  indem  sich  offenbar  darin  die  Tatsache  aus- 
drückt, daß  nicht  allein  die  Abläufe  innerhalb  der  Sexualsphäre,  sondern 
auch  innerhalb  anderer  Bereiche  des  Seelenlebens  von  denen  durchschnitt- 
licher Menschen  abweichen.  Man  wird  vielleicht  nicht  ohne  weiteres 
zwischen  den  beiden  Vorgängen:  dauernde  Determinierbarkeit  der  sexualen 
Entmcklungsrichtung  durch  ein  Erlebnis  und  besondere  Überschwenglich- 
keit des  Gefühlsausdruckes  —  die  zwar  einem  besonders  lebhaften  Ge- 
fühlsleben entsprechen  kann,  aber  nicht  muß,  und  ebensogut  einen  un- 
echten, eher  spielerischen  Qiarakter  tragen  kann  —  einen  Nexus  her- 
stellen dürfen.  Denn  im  allgemeinen  besteht  zwischen  Lebhaftigkeit  des 
Ausdruckes  und  dauernder  Nachwirkung  emotiver  Einflüsse  gewiß  keine 
allzu  enge  Korrelation;  man  pflegt  vielmehr  gemeinhin  —  gewiß  zum 
Teil  mindestens  mit  gutem  Rechte  —  den  allzu  Überschwenglichen 
wenig  Nachhaltigkeit  von  Eindrücken,  Gemütsbewegungen,  Entschlüssen 
zuzutrauen;  Strohfeuer  sagt  man  wohl.  Aber  als  Indikator  einer  irgend- 
wie im  Grunde  imd  konstitutiv  veränderten  Mentalität  mag  jene  Er- 
scheinung doch  gewissen  Wert  beanspruchen  dürfen. 

Wie  schon  vorhin  einmal  angemerkt  wurde,  zählt  es  mit  zu  den 
größten  Verdiensten  Freuds,  mit  Nachdruck,  wenn  schon  vielleicht  nicht 
als  erster,  auf  die  Bedeutung  von  erotischen  Erlebnissen  früher  Kind- 
heitsjahre hingewiesen  zu  haben.  Es  ist  mehr  als  wahrscheinlich,  daß  Er- 
lebnisse des  zweiten  bis  fünften  Lebensjahres  für  die  künftig  eingeschlagene 
Richtung  der  Sexualentwicklung  maßgebend  werden  können,  und  so  auch, 
daß  jene  Faktoren,  welche  die  Entwicklung  nach  der  Seite  der  Homo- 
sexualität hin  bewirken,  ebenfalls  in  solchen  Eindrücken  zu  suchen 
sind.  Damit  ist  nun  keineswegs  behauptet,  daß  nur  solche  Kindheits- 
eindrücke in  der  Genese  der  Inversion  eine  Rolle  spielen.  Dagegen  spricht 
u.  a.  die  Erfahrung,  die  man  in  Internaten,  Pensionaten,  in  Gefangenen- 
anstalten,  auf   Schiffen   usw.    oft  genug  hat   machen  können. 

Die  von  Freud  gegebene  Erklärung  des  Zustandekommens  der  Homo- 
sexualität beruft  sich  zimächst  auf  die  morphologische  Tatsache  der 
bisexuellen  Anlage  des  Menschen,  auf  einen  der  Norm  angehörenden 
gewissen    Grad    des    anatomischen    Hermaphroditismus,    dessen    stärkere 


DIE  ABARTUNGEN  423 


Ausprägung  gelegentlich  einen  echten  oder  scheinbaren  wirklichen  Herm- 
aphrodilismus  horvomifen  kann;  in  Analogie  zu  dieser  anatomischen 
TaU^iciio  wird  auch  ein  j)sychischer  IIonna{)hr<Mlilisinu.s  postuliert.  Das 
anatomische  Argument  hat  schon  vor  Freud  eine  Rolle  gespielt;  schienen 
docl)  die  orwälinten  .\b\veichungen  des  äuiieren  Habitus  in  diesem  Sinne 
zu  sprechen.  Es  findet  sich  aber,  >vie  Freud  hervorhebt,  zwischen 
psychischem  und  somatischem  Hermaphroditismus  keine  Parallelität,  so- 
wenig >vie  der  Homosexuelle  inuner  oder  auch  nur  überwiegend  aus- 
gesprochene GliaraJcterzüge  des  anderen  Geschlechts  erkennen  läßt.  (J  rund- 
sätzlich  ist  es  für  diese  Hypothese  gleichgültig,  ob  man  das  somatische 
Zwittertum  in  die  Genitalorgaue  selbst  verlegt  oder  mit  Krafft-Ebing 
(67)    von   männlichen   und   weiblichen   Hirnzentren  sprechen   >vill. 

Es  scheint  mir  übrigens  dieses  ganze  Arg-ument  gar  nicht  so  beweis- 
kräftig zu  sein.  Vielleicht  ist  es  nicht  so  sehr  ein  Umschlagen  in  den 
Typus  des  anderen  Geschlechts,  wodurch  der  somatische  Habitus  der 
Homosexuellen  charakterisiert  wird,  als  eine  Konvergenz  des  männlichen 
und  weibb'chen  Typus  gegen  eine  neutrale,  asexuale  Z>vischenform  sozu- 
sagen, die  im  Sinne  von  Tandler  und  Groß  den  reinen  Speziescharakter 
repräsentieren  >vürde,  auf  welchen  erst  durch  die  spezifische  Wirkung 
der  Keimdrüsen  (ihres  innersekretorischen  Anteiles  nämlich)  die  Ge- 
schlechtscharaktere superponiert  wären. 

Für  Freud  steht  die  Sache  nun  so,  daß  ihm  die  sexuellen  Ab- 
artungen  überhaupt  als  Entwicklimgshemmungen  erscheinen,  als  In- 
fantilismen, da  er  ja  in  der  kindlichen  Sexualität  (s.  o.)  sämtliche 
,,Partial triebe"  noch  gesondert  und  gleichberechtigt  anninmit;  ander- 
seits erscheint  die  Perversion  als  ein  Zerfall,  eine  Dissoziation  des 
komplex  aus  diesen  Partial trieben  aufgebauten  Geschlechtstriebes.  Unter 
den  entwicklungshemmenden  Momenten  stehen  an  erster  Stelle  die  Ver- 
schiedenheiten der  sexuellen  Konstitution,  die  durch  das  Überwiegen 
bald  der  einen,  bald  der  anderen  Quelle  der  Sexualerregung  bedingt 
werden.  Dafür  würde  die  Vergesellschaftung  sexueller  Abartung  und 
sonstiger  psychischer  Abnormität,  psychoneuro  tischer  Symptome  bei 
ein  und  demselben  Individuum  nicht  minder  sprechen  als  das  Vor- 
kommen beider  Störungen  bei  verschiedenen  Gliedern  einer  Familie.  Das 
Entscheidende  aber  ist  nicht  das  primäre,  konstitutiv  bedingte  Verhältnis 
dieser  einzelnen  Komponenten,  sondern  deren  weitere  Verarbeitung:  „Wenn 
sich  alle  die  Anlagen  in  ihrem  als  abnorm  angenommenen  relativen 
Verhältnis  erhalten  und  mit  der  Reifung  verstärken,  so  kann  niu"  ein 
perverses  Sexualleben  die  Folge  sein." 

Es  gründet  diese  Anschammg  natürlich  in  Freuds  Lehre  vom  Aufbau 
der  kindlichen  Sexualität,  von  welcher  bereits  die  Rede  war.  Zweifellos 
spricht  in  gewissem  Sinne  die  Tatsache  der  fakultativen  Homosexualität, 
deren  soeben  gedacht  wurde,  und  die  auch  in  einem  früheren  Abschnitte 
flüchtig  Erwähnung  fand,  für  solche  These.  Diese  fakultative  Homo- 
sexualität ermöglicht  es  dem  sonst  vielleicht  oder  erwiesenermaßen  dem 
normalen  Verkehr  mit  dem  anderen  Geschlecht  zuneigenden  Individuum, 
in  homosexuellen  erotischen  Beziehungen  einen  Ersatz  zu  finden,  wenn 
der  Weg  zur  normalen   Befriedigung  verschlossen  ist.    Also  in  den  auf- 


424  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

geführten  FäJlen  von  Ziisammenleben  gleichgeschlechtlicher  Menschen. 
Oder  aber  es  bietet  eine  homosexuelle,  dann  wohl  meist  nur  flüchtige 
Beziehung  Gelegenheit,  eine  eigentlich  auf  das  andere  Geschlecht  ge- 
richtete aufgespeicherte  Sexualerregung  zur  Entladung  zu  bringen.  Es 
sei  an  P.  Verlaines  Verse:  Parallele ment  erinnert.  Auch  wo  die  normale 
erotische  Beziehung  und  Befriedigung  einstweilen  versagt  ist,  noch  nicht 
für  möglich  erachtet  wird,  vermögen  homosexuelle  Betätigungen  als 
Ersatzleistungen  einzutreten;  daher  die  oft  ausgesprochene  erotische 
Note  in  manchen  Knaben-,  noch  mehr  vielleicht  manchen  Mädchenfreund- 
schaften. Es  hat  also  durchaus  den  Anschein,  als  ob  ein  gewisses  Quantum 
homosexueller  Möglichkeiten  in  der  Seele  beinahe  jedes  Menschen  mehr 
weniger  verborgen  wirksam  wäre  und,  sobald  nur  die  Bedingungen  ge- 
geben seien,  auch  zu  manifester  Betätigung  gelangen  könnte.  Vielleicht 
rührt  auch  der  außerordentliche  Abscheu,  den  manche  Menschen  —  die 
sonst  gerade  nicht  in  „moralischen"  Vorurteilen  befangen  zu  sein 
brauchen  —  gegen  alles  hegen,  was  Homosexualität  heißt  oder  auch 
nur  streift,  daher,  daß  sie  in  sich  eine  derartige  Möglichkeit  über- 
Avunden,  vmterdrückt,  „verdrängt"  haben.  Auf  der  anderen  Seite  muß 
aber  noch  einmal  hervorgehoben  werden,  daß  die  zwanglose  Gleich- 
setzting  der  kindlichen  Erotik  mit  der  des  geschlechtsreifen  Individuums 
doch  nicht  so  ohne  weiteres  möglich  erscheint,  und  daß  daher  der 
Aufbau  einer  Theorie  der  Homosexualität  aus  dieser  annoch  recht 
hypothetischen  Sexualpsychologie  des  Kindes  gewissen  Bedenken  ausgesetzt 
bleiben  muß. 

Für  A.  Adler  (i,  3)  stellt  sich  auch  die  Homosexualität  als  eine 
Äußerung  der  von  ihm  angenommenen  individualpsychologischen 
Mechanismen  dar.  Es  ist  sicherlich  berechtigt,  wenn  er  der  Theorie  der 
determinierenden  Wirkung  äußerer  Momente,  der  Verführung,  dem  zu- 
fälligen Eindruck  in  positivem  oder  negativem  Sinne  (etwa:  ein  Mädchen 
wird  dmxih  den  Anblick  einer  Geburt  von  Abscheu  gegen  die  Rolle  der 
Frau  überhaupt  erfüllt)  gegenüber  anmerkt,  daß  doch  auch  andere 
Menschen  solchen  Einflüssen  ausgesetzt  seien,  daß  auch  anderen  zum 
Teil  die  Möglichkeit  der  Nachahmung  gegeben  sei,  ohne  daß  sie  davon 
überhaupt  oder  dauernd  Gebrauch  machen.  Nachgeahmt  werde,  meint 
Adler,  offenbar  doch  nur  das,  was  man  nachahmen  will,  was  nach- 
zuahmen für  den  Betreffenden  sinnvoll,  zweckmäßig  ist.  „Durch  seine 
Entwicklung  leugnet  der  Homosexuelle  das  tragende  Prinzip  von  der 
Erhaltung  der  Gesellschaft,  und  es  ist  kaum  denkbar,  daß  er  —  gleich- 
gültig, auf  welche  Weise  immer  er  zu  seiner  Anschauungs-  und  Gefühls- 
weise gekommen  ist  —  nicht  die  ungeheueren  Widerstände  empftmden, 
gemerkt,  verarbeitet  hätte,  die  sich  bei  seiner  homosexuellen  Entwicklung 
ihm  in  den  Weg  gestellt  haben.  Man  kann  sagen,  es  ist  unendlich  viel 
schwerer,  homosexuell  zu  sein  als  normal."  Die  Homosexuellen  wenden 
ungeheure  Kräfte  auf,  um  so,  wie  sie  sind,  durch  das  Leben  gehen  zu 
können. 

Nun  findet  Adler  in  dem  gesamten  Wesen  der  Homosexuellen  Züge, 
die  von  der  Norm  abweichen;  sie  zeigen  nicht  jene  seelische  Struktm*, 
die   sonst    für   das    Leben    vollauf   geeignet    machen   und   etwa   nur   den 


DIE  ABARTIJNGEN  425 


geschlechtlichen  Anfortleningen  nicht  gonü^'en  \viir<lo.    l>ie  Homosexuellen 

sind  ausg't'zeichnet  durch  ..ülwi-sliej^'-ciieii  Mlir<j:tM/.  und  aulfx'rordeiillicli 
ausgosproi'hene  \t>rsicht  odrr  LelK'nsfeiglirit" ;  Klirf^^MZ,  der  nio  \U>- 
friodigun^  findet,  Feigheit,  die  schon  den  ersten  Schritt  auf  diese  Bo- 
Iriedi^anig  zxi  ininiö^^lich  macht.  Das  sind  Züge,  welclie  l>ei  jtxler  iNeurose 
wiederkehren.  Der  Homosexuelle  ,, bietet  ein  einwandfreies  Bild  eines 
nervösen  Menschen,  dessen  Nervosität  nur  deshalb  nicht  so  deutlich  zum 
Ausdruck  gelanj^'t,  weil  er  seinen  Wirkungskreis  durch  die  Homosexualität 
so  weit  eingeengt  hat  als  dor  Nervöse  erst  durch  seine  Neurose"  .  .  . 
Es  ist  ihin  „in  der  Regel  gelungen,  durch  Ausschaltung  von  erschwerenden 
Bedingungen  sich  ein  Leben  zu  schaffen,  dem  er  entweder  noch  voll- 
kommen genügt,  oder  aber,  dem  er  doch  leichter  nachgehen  kann 
als  einer,  den  die  Heterosexual i tat  immer  wieder  ins  Leben  hinausstößt, 
ihn  in  Verbindung  bringt  mit  allen  Fragen,  Forderungen  und  Schwierig- 
keiten des  gesellschaftlichen  Lebens".  Man  findet  aber  bei  vielen  Homo- 
sexuellen auch  schwerwiegende  psychoneurotische  Symptome,  in  erster 
Linie  Zwangserscheinungen. 

Stellt  sich  so  charakterologisch  auch  die  Homosexualität  nach  der 
Auffassung  Adlers  dar  als  eingestellt  in  den  Dienst  des  fiktiven  Zweckes, 
der  Leitlinie  des  ganzen  Lebens  solch  eines  Individuums,  als  bedingt 
durch  ein  Gefühl  oder  Erlebnis  der  Minderwertigkeit  und  aus  der 
Reaktion  gegen  dasselbe,  so  erscheint  ihm  der  Anstoß  zu  dieser  Ent- 
wicklung in  Schwierigkeiten  der  Geschlechtsfindung  gelegen  zu  sein. 
Solche  Menschen  sind  vielfach  in  den  ersten  Kindheits jähren  wie  Mäd- 
chen aufgewachsen  und  waren  bereits  „irrtümlich  in  mädchenhafter 
Seelenentwicklung  begriffen,  wenn  sie  zu  ihrer  Überraschung  auf  den 
Umstand  gelenkt  werden,  daß  sie  eigentKch  dem  anderen  Geschlecht 
angehören".  Womit  natürlich  ebenfalls  die  Annahme  eines,  zumindest 
potentiellen,  psychischen  *  Hermaphroditismus  gemacht  wird,  einer  bi- 
sexualen Entwicklungsmöglichkeit,  deren  Gang  durch  äußere  Momente 
oder  auch  durch  innere  (Bewußtsein  einer  Minderwertigkeit)  bestimmt 
werden   wird. 

Die  Theorie  Adlers  hat  gewiß,  wie  überhaupt  seine  individualpsycho- 
logische Betrachtungsweise,  dies  eine  für  sich,  daß  sie  es  unternimmt,  deaa 
Menschen,  hier  den  homosexuell  Abgearteten,  aus  einem  zentralen  Punkte 
heraus  zu  verstehen,  daß  sie  für  die  Gesamtstruktur  der  Seele  mit 
Hilfe  dieses  Puuktes  imd  der  fiktiven  Leitlinie  sozusagen  ein  Bezugs- 
system schafft.  Sie  versucht  in  einem  weiteren  Sinne  die  Genese  der 
Homosexualität  zu  ,, verstehen",  als  das  bei  der  eigentlichen  Psychoanalyse, 
von  der  bekanntlich  vVdler  seinen  Ausgang  genommen  hat,  der  Fall  ist. 
Diese  rekurriert  nämlich  doch  nur  auf  gewisse,  für  die  menschliche 
Seele  überhaupt  charakteristische  Mechanismen,  deren  Wirksamkeit  und 
Erfolg  im  Einzelfall  jedoch  noch  wenig  durchsichtig  sind  und  sehr  von 
äußeren  Zufälligkeiten  abhängig  gedacht  werden.  Die  Individualpsycho- 
logie  Adlers  stellt  dagegen  wenigstens  den  Versuch  dar,  Entwicklung  und 
Schicksal  eines  Menschen  aus  ihm  selbst,  aus  den  immanenten  Trieb- 
kräften und  Zielen  dem  Verständnis  zugänglich  zu  machen. 


426  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Insoferne  beide  Lehren,  Psychoanalyse  und  Indiv-idualpsychologie,  in 
ihrem  Ansprüche  weit  über  den  Rahmen  des  Sexualen  hinausgreifen> 
kann  es  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  dieselben  eingehender  kritischer 
Würdigung  zu  unterziehen  oder  ihre  Gedankengänge  in  extenso  darzul^n. 
Wir  wollen  hier  nur  den  Unterschied  der  beiden  Auffassungen  hinsicht- 
lich der  Entstehimg  der  Homosexualität  noch  einmal  herausstellen:  Wäh- 
rend für  die  Psychoanalyse  eine  bestimmte  Konstitution  Voraussetzung 
ist  und  auf  Grund  dieser  durch  äußere,  mehr  weniger  zufällige  Momente 
die  Inversion,  durch  Erhaltung  infantil  wirksamer  Partial triebe,  erwächst, 
erscheint  in  der  Lehre  der  Individualpsychologie  zwar  auch  eine  gewisse 
Beschaffenheit  (generell  mögliche  Bisexualität,  spezielle  Minderwertig- 
keit) erforderlich,  die  Perversion  aber  wird  als  zweckmäßiges  Ver- 
halten des  Individuums  nicht  in  Reaktion  gegen  äußere  Faktoren,  sondern 
im  Konflikt  zwischen  dem  Bewußtsein  seiner  —  irgendwie  minder- 
wertigen —  Anlage  und  dem  Willen  nach  dadurch  nicht  oder  schwer 
erreichbaren  Zielen  verstanden.  Das  Nebeneinander  von  Inversion  und 
psychoneurotischen  Symptomen  ist  für  die  Psychoanalyse  die  mehr  weniger 
zufällige  Folge  der  Konstitution,  welcher  Neurose  oder  Inversion  ent- 
sprießen können,  für  die  Individualpsychologie  notwendiger  Ausdruck 
eines  einheitlich  zu  verstehenden  Verhaltens  des  Individuums  dem  Leben 
und  seinen  Anforderungen  gegenüber. 

Es  kann  uns  nicht  obliegen,  zwischen  di^en  beiden  Theorien  zu 
wählen.  Die  Entscheidung  wird  auch  nicht  auf  dem  umgrenzten 
Gebiete  der  sexualen  Abartungen  allein,  sondern  auf  Grund  des  Wertes 
beider  Lehren  für  unser  Verständnis  des  Seelenlebens  und  des  Verhaltens 
im  Leben  überhaupt  gefällt  werden  müssen.  Der  Psychologe  mag  ge- 
neigt sein,  der  Adlerschen  FormuKerung,  zumindest  hier,  den  Vorzug 
zu  geben,  weil  sie  mit  psychologisch  verständlichen  Faktoren  operiert, 
mit  Lebensmomenten,  während  die  Psychoanalyse  doch  immer  wieder 
in  eine  der  Naturwissenschaft  nachgebildete  mechanisierende  Betrach- 
tungsweise des  Seelischen  verfällt. 

Eine  zweite  Abartung  hinsichtlich  des  Sexualobjektes  ist  die  eroti- 
sche Beziehung  zu  Tieren,  Sodomie  genannt.  Das  Material,  das 
für  eine  Psychologie  dieser  Erscheinimg  zu  Gebote  steht,  ist  außer- 
ordentlich  dürftig. 

Zunächst  scheint  wohl  auch  diese  Beziehung  als  Ersatzleistung  auf- 
treten zu  können.  Man  weiß  z.  B.  von  Hirten,  die,  von  menschlichem 
Verkehr  abgeschlossen,  mit  weiblichen  Tieren  ihrer  Herde,  Ziegen  etwa, 
geschlechtlichen  Umgang  gepflogen.  Es  ist  vielleicht  fraglich,  ob  hierbei 
das  Tier  in  der  Tat  unmittelbar  Sexualobjekt  ist.  Es  wäre  nämlich 
denkbar,  daß  es  sich  um  einen,  gewissermaßen  spielerischen  Versuch 
der  Verwirklichung  erotischer  Phantasien  handeln  möchte,  wovon  in 
dem  .\bschnitt  über  diesen  Gegenstand  noch  mehr  zu  sagen  sein  wird, 
daß  das  Tier  das  gev^-ünschte  Sexualobjekt  nur  darstellen  und  nicht  selbst 
sein  würde,  ähnlich  wüe  etwa  ein  Stück  Holz  einem  Kind  eine  Puppe, 
eine  Puppe  ein  Geschwisterchen  darstellen  kann.  Es  ist  dies  indes  eine 
bloße  Vermutung,  die  sich  nicht  auf  eine  Kasuistik  stützen  kann,  sondern 
nur  auf  gewisse  Beobachtungen  über  erotische  Phantasien. 


DIE  ABARTUNGEN  427 


Soviel  ich  sehe,  konunt  diese  Abartung,  an  und  fdr  sich  selten,   noch 

oh«T  boi  Männorn  als  l)ei  Frauen  vor.  In  den  'Phantasien  dieser  begegnet 
man  allerdings  auch  sodoniitischen  Zügen.  Lnd  ich  enläinue  mich 
irgentleiner  Geschichte  aus  Tausendundeiner  Naclit,  die  von  dem  Ge- 
schlechtsverkehr einer  Frau  mit  einem  Affen  erzählt.  Auch  berichtet 
Virey  (bei  Gourmont  [h^\)  vom  Vorkehr  von  Affen  mit  Frauen  von  Ein- 
golwrenen. 

Eine  gewisse,  wenn  auch  nicht  allzu  enge  Beziehung  besteht  zwischen 
dieser  Abartung  und  der  als  Liebessurrogat  gepflegten  Zuneigung  zu 
Tieren,  die  man  vornehmlich  alten  Jungfern  zuzuschreiben  pflegt,  aber 
keineswegs  deren  alleiniges  Prärogativ  bildet.  Der  wesentlichste  Unter- 
schied liegt  natürlich  darin,  daß  es  zum  Geschlechtsverkehr  mit  diesen 
Tierlieblingen  nie  kommt;  man  kann  aber  füglich  die  Frage  auf  werfen, 
ob  dieser  Unterschied  nicht  nur  ein  mehr  äußerlicher  sei,  der  Charakter 
der  Zuneigung  aber  doch  als  ein  ausgesprochen  erotischer  erscheinen 
müsse.  Diese  Vermutung  wird  auch  dadurch  nahegelegt,  daß  m£in  oft 
genug  beobachten  kann,  wie  an  Tiere  wahllos  Liebesbezeigungen  ver- 
schwendet werden,  die  entweder  einem  bestimmten  Menschen  gelten  oder 
auch  nur  Ausfluß  jener  erotischen  oder  erotisierten  Einstellung  sein 
können,  die  ich  oben  als  nicht  gerichtete  Sexualität  bezeiclinet  habe. 
Liebende  sind  zu  Tieren  zärtlich  —  übrigens  nicht  nur  zu  Tieren,  sondern 
auch  für  sie  erotisch  uninteressanten  Menschen  — ,  küssen  sie  mit 
einer  gewissen  Leidenschaft,  weil  das  Objekt  ihres  Liebens  ihnen  uner- 
reichbar ist.  Insbesondere  scheint  sich  der  erste  Ausbruch  von  Ver« 
liebtheil  bei  jungen  Menschen,  vielleicht  mehr  bei  Mädchen  als  bei 
Knaben,  nicht  selten  in  solchen  Äußerungen  entladen  zu  wollen.  Es 
ist  aber  sehr  schwer,  sich  klar  zu  werden,  was  denn  eigentlich  sich  in 
der  Seele  dieser  Individuen  abspielt.  Es  kann  das  Tier  wiederum  nur 
als  Repräsentant  des  eigenthchen  Sexualobjektes  gedacht  werden,  be- 
wußt, mit  dem  Gedanken:  wenn  du  Tier  der  oder  die  wärest,  ich  würde 
ihn  oder  sie  so  streicheln,  küssen,  lieb  haben;  es  kann  dieser  Gedanke 
nicht  klar  bewußt  sein,  aber  doch  gegenwärtig  und  ohne  besondere 
Schwierigkeiten  bewußt  werden  oder  bewußt  gemacht  werden;  es  kann 
vielleicht  auch  dieser  Gedanke  vollkommen  fehlen  —  ob  er  dann  als 
nicht  vorhanden  oder  als  in  das  „Unbewußte  verdrängt"  angesehen 
wird,  ist  für  die  Ermittlung  des  phänomenalen  Tatbestandes  irrelevant  — 
und  das  Tier  immittelbar  als  Sexualobjekt  erlebt  werden.  Man  wird 
schwer  bestreiten  können,  daß  hier  alle  erdenklichen  Übergänge  möglich 
sind.  Anderseits  fehlt  es,  soviel  ich  sehe,  an  Tatsachenmaterial,  um 
in  diese  Frage  Klarheit  zu  bringen. 

Vieles  spricht  jedenfalls  dafür,  daß  es  wie  eine  fakultative  Homo- 
sexualität auch  eine  fakultative  Sodonüe  geben  dürfte,  woraus  man 
rücksichtlich  der  Genese  beider  Abartungen  wohl  auch  auf  eine  gewisse 
Gleichartigkeit  wird  schließen  dürfen. 

Es  sei  übrigens  angemerkt,  daß  hier  Übergänge  auch  noch  zu  einer 
anderen  Perversion  führen,  nämlich  zu  dem  Fetischismus,  welcher  sich 
überhaupt   als  ein   Mittelding   zwischen   den   Abartungen   hinsichtlich  des 


428 


ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


Sexualobjektes   und    jenen    hinsichtlich    des    Sexualzieles    darstellen  läßt. 

Davon  später.  i     ,   •    , 

Es  kann  weiterhin  dieeigenePersonals  Sexua  lobjekt  gesetzt 
werden.  Diese  Einstellung  fällt  unter  den  von  H.  Ellis  (27—80)  ge^ 
schaffenen  Begriff  des  Autoerotismus,  erschöpft  ihn  aber  keines- 
wegs. Autoerotisch  können  auch  Sexualbetätigungen  sein,  bei  welchen 
das  eigentlich  intendierte  Sexualobjekt  eine  andere  Person  ist,  wovon  in 
dem  Abschnitt  über  erotische  Phantasien  mehr  zu  sagen  sein  wird.  Hier 
handelt  es  sich  um  jene,  bei  welchen  tatsächtlich  eine  erotische  Verliebt- 
heit in  die  eigene  Person  besteht  in  dem  Maße,  daß  sie  selbst  letztes 
Ziel  der  Sexualität  wird.  Näcke  hat  hierfür,  eine  bekannte  griechische 
Sage  benützend,  den  Namen  des  Narzißmus  geprägt,  den  die  Psycho- 
analyse übernommen  hat,  und  dessen  wir  uns,  trotz  der  etymologischen 
Ungebeuerlichkeit,   ebenfalls    bedienen    wollen. 

In  seiner  Abhandlung  ,,Zur  Einführung  des  Narzißmus"  kennzeichnet 
Freud  die  fragliche  Abartung  als  „jenes  Verhalten,  bei  welchem  ein  In- 
dividuum seinen  eigenen  Leib  in  ähnlicher  Weise  behandelt  wie  sonst 
den  eines  Sexualobjekles,  ihn  also  mit  sexuellem  Wohlgefallen  beschaut, 
streichelt,  liebkost,  "bis  es  durch  diese  Vornahmen  zur  vollen  Befriedigung 
gelangt".  Weitere  deskriptive  Angaben  scheinen  sich  in  der  psychoana- 
lytischen Literatur  kaum  zu  finden,  wiewohl  sie  mit  dem  Begriffe  des 
Narzißmus  sehr  viel  operiert.  Auch  anderwärts,  so  bei  Kraepelin  (66  a), 
findet  man  zu  dieser  Frage  nur  wenige  Worte.  Für  Kraepelin  fließt 
übrigens  der  Narzißmus  mit  der  Onanie  zusammen,  sagt  er  doch  aus- 
drücklich, man  bezeichne  diese  „autoerotische  Abart  der  Onanie  als  Narziß- 
mus", was  mir  keineswegs  richtig  zu  sein  scheint,  da  die  Onanie  wesent- 
lich durch  die  Schaffung  eines  von  dem  unmittelbaren  verschiedenen 
(s.  S.  434)  Sexualzieles  gekennzeichnet  ist,  nicht  durch  die  Setzung  eines 
anderen  Sexualobjektes.  Daß  die  Befriedigung  narzißtischer  Neigungen 
schließlich  nur  auf  dem  Wege  des  Autoerotismus  möglich  ist,  tut  der 
prinzipiellen  Scheidung  keinen  Eintrag. 

^^'ährend  extreme  Fälle  dieser  Abartung  wohl  sehr  selten  sind  —  denn 
die  psychoanalytischen  Ausdeutungen  paranoischer  oder  schizophrener  Syn- 
drome als  narzißtischer  Genese  haben  uns  hier  nicht  zu  beschäftigen, 
da  in  ihnen,  wenn  überhaupt,  diese  Triebform  nur  gründlich  verändert 
wirksam  ist  — ,  findet  man  Andeutungen  des  Narzißmus  relativ  häufig, 
w^nn  man  will,  sogar  regelmäßig,  soferne  man  nämlich  die  erotisch 
tingierto  Freude  an  dem  eigenen  Körper,  an  der  eigenen  Schönheit,  Kraft, 
Jugend  hierher  zählen  will.  Und  man  darf  wohl  zugeben,  daß  zwischen 
dieser,  insbesondere  bei  Frauen  häufigen,  Einstellung  und  dem  aus- 
geprägten Narzißmus  in  oben  umschriebenem  Sinn  eine  kontinuierliche 
Reihe  von  Stufen  gedacht  werden  kann.  Auch  Freud  bemerkt  das  Über- 
wiegen  der   narzißtischen   Einstellung  bei   Frauen. 

Auch  der  Narzißmus  muß  der  psychoanalytischen  Theorie  konse- 
quenterweise als  ein  Festhalten  einer  infantilen  Stufe  der  Sexualität  er- 
scheinen. Die  Gründe,  die  für  solche  Hypothese  beizubringen  sind,  führen 
sogar  anscheinend  größeres  Gewicht  bei  sich,  als  es  in  Anwendung  auf  die 
anderen  Abartungen  der  Fall  sein  dürfte.    Wenn  man  nämlich  das  Be-. 


Üli:  AÜARTL.\(JE.N  429 


dürfnis  dos  Kindes  nach  erotischer  Befriedig^uiifj  citimal  zugibt,  so  folgt, 
daß  du'so  liofriodip^ing  niaii<^els  oinos  aiuloren  S<'viial()l)j«'ktos  — ■  sei  es, 
weil  ein  Striches  nicht  erkannt,  sei  os,  weil  es  nicht  erreicht  worden 
kann  —  nur  auf  dem  We^  autoerotischer  Betätigung  erfolgen  kann. 
Man  darf  sich  wohl  vorstellen,  wie  ausgeführt  wird,  dali  es  sich  zunächst 
um  einen  indifferenzierten  Drang  nach  Lustgewinnung  somatischer  Art 
handelt,  daß  im  Laufe  der  Lrfahrung  der  eigene  KörjR^r  als  Quelle  dieser 
Lust  bemerkt  und  infolgedessen  zum  Se.vualobjekt  gemacht  wird.  Man 
hätte  also  dann  in  der  Tat  eine  narzißtische  Periode  als  normales  Durch- 
gangsstadium der  "Sexualen twicklung  anzunehmen,  deren  Fixation  als 
psychischer  Infantilismus,  bewirkt  durch  allerlei  nicht  ohne  weiteres 
durchsichtige  äußere  imd  anlagemäßige  Momente,  jene  Vbartung  des 
Sexuallebens    auch    beim    Erwachsenen    herbeiführen    würde. 

Die  umgekehrte  Richtung  anzunehmen,  scheint  mir  viel  weniger  plau- 
sibel; d.  h.  anzunehmen,  es  entstehe  der  Narzißmus  sozusagen  aus  einer 
ursprünglich  auf  fremde  Sexualobjekte  gerichteten  Sexualität,  die  infolge 
der  autoerotischen  Befriedigungsweise  schließlich  auch  ihr  Objekt  in 
dem  eigenen  Körper  finde.  Dies  scheint,  wenn  ich  die  Stelle  richtig 
verstehe,  eigentlich  Kraepelins  Meinung  zu  sein^. 

Während  wir  bei  der  Homosexualität  und  zum  Teil  auch  (bei  der  Sodomie 
auf  keine  sonderlichen  Schwierigkeiten  psychologischen  Verstehens  stoßen, 
es  uns  relativ  leicht  gelingt,  das  Seelenleben  dieser  Menschen  zur  anschau- 
lichen Vergegenwärtigung  zu  bringen,  um  einen  Ausdruck  von  Jaspers 
zu  gebrauchen,  scheint  mir  das  bei  der  narzißtischen  A  erhaltungsvveise 
einigermaßen  schwierig.  Wenn  zwar  ein  gewisses  Maß  von  Freude  an 
der  eigenen  Körperlichkeit  wohl  jedem  Gesunden  eigen  sein  dürfte,  so 
ist  von  dort  zu  einer  ausgesprochen  erotischen  Einstellung  gegenüber  dem 
eigenen  Körper  doch  ein  weiter  Schritt;  und  die  obenerwähnten  gleitenden 
Übergänge  sind  wohl  dem  theoretischen  Denken,  nicht  aber  einem  un- 
mittelbaren Nacherleben  so  ohne  weiteres  zugänglich.  Es  ist  dies  vielleicht 
mit  ein  Grund,  warum  zur  deskriptiven  Psychologie  des  Narzißmus 
so  wenig  bekannt  geworden  ist. 

Eine  Frage  nicht  ohne  Interesse  wäre  es,  wie  denn  der  narzißtisch 
Orientierte  sich  eigentlich  zu  seinem  eigenen  Körper  stelle,  ob  er  dem- 
selben irgendwie  als  einem  Objekt  gegenüberstehe,  oder  ob  Genießender 
und  Genossenes  zu  einer  Identität  verschmolzen  seien.  Letztere  Haltung 
scheint  mir  die  wahrscheinlichere  zu  sein ;  verständlich  ist  sie  eigentlich 
nicht.  Selten  ist  der  Mangel  an  deskriptivem  Interesse,  dem  man  bei 
den  Psychoanalytikern  stets  begegnet,  so  bedauerlich  wie  hier,  wo  sie 
aus  ihrem  reichlichen  Material  auch  zur  Frage  nach  dem  Ich-Erleben 
überhaupt   Wertvolles   beisteuern   könnten. 

Ähnlich  wie  beim  Narzißmus  liegen  nun  die  Dinge  bei  einer  weiteren 
Abartung,    welche,    >vie    bemerkt,    gewissermaßen    eine    Zwischenstellung 


1  Im  letzten  Grunde  müßte  freilich  -aucli  die  narzißtische  Einstellung  sich  auf 
einer  Richtung  auf  fremde  Sexualobjekte  aufbauen,  sofeme  eine  solche  sich  in  der 
Tat  als  konstitutiv  für  das  Wesen  der  Sexualität  erweisen  läßt.  (S.  das  eben  zum 
Problem  der  Homosexualität  Angemerkte.)  Ehe  oben  skizzierte  Genese  der  narzißtischen 
Einstellung    würde    indes    sozusagen    in    melir    peripheren    Schichten    zu    suchen   sein. 


430  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    (iESCHLECHTSLEBENS 

einnimmt  zwischen  den  Abartungen  rücksichtlich  des  Sexualobjektes 
und  jenen  rücksichtlich  des  Sexualziöles,  das  ist  der  Fetischismus. 
Dieser  ist  dadurch  gekennzeichnet,  dal5  an  Stelle  eines  der  üblichen 
Sexualobjekte  irgendein  Gegenstand  tritt,  dessen  Besitz,^  Betrachtung, 
Befühlimg  den  Sexualaffekt  auslöst.  Es  kann  dabei  etwa*  das  Betasten 
eines  solchen  Fetisches  gleichzeitig  Sexualziel  werden,  es  kann  aber  auch 
tias  Sexualziel  ein  anderes  sein,  etwa  irgendeine  autoerotische  Betätigung, 
oder  es  kann  beides  miteinander  verschmelzen.  In  der  Regel  dienen  als 
Fetische  allerhand  leblos©  Gegenstände,  Kleidungsstücke,  Schuhe,  Haar- 
bänder oder  Haare,  Nägel;  grundsätzlich  könnte  auch  ein  Tier  die 
Rolle  eines  Fetisches  übernehmen,  weswegen  wir  oben  auf  die  möglich© 
Beziehung   von   Fetischismus  und   Sodomi©  aufmerksam  machten. 

Was  nun  den  Fetischismus  im  eigentlichen  Verstände  ausmacht,  ist 
dies,  daß  der  Fetisch  selbst,  als  der  Gegenstand,  der  er  eben  ist,  als 
Sexualobjekt  gesetzt  wird.  Er  ist  —  zumindest  für  das  bewußte  Seelen- 
leben —  nicht  etwa  Repräsentant  für  ein  normaleres  Sexualobjekt, 
sondern  er  selbst  ist  das  den  Affekt  auslösende  und  zuweilen,  gar  nicht 
selten,  auch  befriedigende  Objekt.  Das  scheint  wenigstens  aus  den  An- 
gaben solcher  Abgearteter  hervorzugehen. 

Es  bedarf  dies  deshalb  besonderer  Betonung,  w^eil  man  geneigt  sein 
könnte,  in  dem  Fetischismus  abermals  nur  eine  Steigerung  und  Ver- 
zerrung normal-sexual  psycho  logischer  Erscheinimgen  zu  sehen.  Es  ist 
eine  bekannte  Tatsache,  daß  der  Liebende  nach  dem  Besitz  von  Gegen- 
ständen begehrt,  die  der  Liebenden  angehörten,  insbesondere  von  solchen, 
die  mit  ihrem  Körper  nahe  Beziehungen  aufweisen  imd  auch  sonst 
erotischen  Wert  besitzen.  Er  will  ,,ein  Strumpfband  seiner  Liebeslust" 
verschaffen,  er  stiehlt  einen  Handschuh,  ein  Bukett,  ein  Taschentuch, 
dem  „ihr"  Parfüm  anhaftet,  vielleicht  einen  Schuh  oder  was  sonst. 
.Aber  alle  diese  begehrten  Gegenstände,  die  sorgfältig  aufbewahrt  und 
immer  wieder  hervorgeholt,  oder  die  ständig  mit  herumgetragen  werden, 
sie  sind  nicht  selbst  Sexualobjekte.  Sie  sind  Hilfen  sozusagen,  um  das 
Bild  der  Geliebten  wachzurufen,  Hilfen  vor  allem  zur  Produktion  eroti- 
scher, die  geliebte  Person  mnspinnender  Phantasien,  in  denen  das  er- 
^vünschte  Ziel,  der  Sexualbesitz,  vorgegaukelt  werden  soll.  Sie  spielen 
kaum  eine  andere  Rolle,  als  die  ein  Bild  auch  spielen  könnte.  Sie  sind 
Repräsentanten  des  wahren  Sexualobjektes;  es  geht  durch  sie  hindurch 
die  Intention  auf  dieses.  Anders  beim  Fetischisten ;  bei  ihm  bleibt  die 
Intention  bei  dem  betreffenden  Fetisch  stecken,  geht  nicht  weiter,  der 
Fetisch  selbst  ist  endgültiges  Objekt. 

Solches  läßt  sich,  glaube  ich,  aus  den  bekannten  Fällen  extremer 
Ausbildung  abnehmen.  Auch  hier  wiederum  sind  zwischen  dem  be- 
schriebenen normalen  Verhalten  und  der  Abartung  Übergänge  bemerkbar; 
sie  können  auch  beobachtet  werden.  Trotzdem  ist  ein  Verständnis 
fetischistischer  Abstellung  der  Sexualität  auf  irgendeinen  Gegenstand  als 
endgültiges  Objekt  kaum  erreichbar. 

Dieses  Verhalten  des  Fetischisten  bringt  es  mit  sich,  daß  seine  Sexualität 
im  allgemeinen  gar  nicht  auf  Gegenstände,  die  Eigentum  einer  be- 
stimmten Person  wären,  gerichtet  ist.    Nicht  die  Haare  eines  bestimmten 


DIE  ABARTUNGEN  431 


M;i(l»l)tMis  will  der  Fetischist  besitzen,  soudorn  Mä<lclu*iilia,in'  ühcrliauj»!, 
iiiclit  ..ihr"  Stnim[ifhaml.  SDiidcrii  irfi^<Mi<l<Miuvs,  vielleicht  viele  Slriiinpf- 
häiuior,  alle,  tleiiMi  er  habhaft  werden   kann   usw. 

Die  fetischistische  Einstellung  kann  sich  mit  einer  auf  andere  Scxual- 
objokte  konibiniejnen.  E^  kann  einer  zwar  Frauen  als  Sexualobjekt 
anstrelxM).  alx^r  sie  müssen,  um  ihn  erregen  und  befrie<ligen  zu  köiuien, 
irgendwelche  besondere  Züge  an  sich  tragen;  in  einem  schon  jmgeführten 
Falle  vermochte  ein  Mann  nur  Frauen  mit  einem  Hein  zu  lieben.  Die*so 
fetischistischen  Züge  gehen  indes  weit  mehr  auf  das  Sexualziel  als  auf 
<las  Sexualobjekt.  Es  ist  dann  zwar  die  Frau  Sexualobjekt,  nicht  aber 
der  normale  Geschlechtsverkehr  oder  überhaupt  ein  G<\schlechtsverkehr 
usw.  Sexualziel,  sondern  etwa  das  Betasten  des  Fußes  u.  dgl.  m. 
Es  muß  aber,  was  festzuhalten  ist,  eine  derartige  Einstellung  gar  kein 
Fetischismus  in  obigem  Sinne  sein.  Man  kann  sich  hier  leicht  durch 
Äußerlichkeiten  täuschen  lassen.  Es  bedarf  jeder  einzelne  Fall  einer 
genauen  .\nalyse,  um  seine  psychosexuale  Artung  zu  ermitteln.  Auch 
der  eben  erwähnte  absonderliche  Liebhaber  muß  kein  Fetischist  ge- 
wesen sein. 

Insofeme  beim  Fetischismus  die  Sexualität  keine  Richtung  auf  ein 
einzelnes,  bestimmtes  Sexualobjekt  erfährt,  könnte  man  auch  hier  von 
einem  Infantilismus  oder,  besser  gesagt,  Juvenilismus  sprechen.  Aber 
die  Theorie  psychosexualer  Entwicklimgshemmimg  würde  doch  nur  diese 
eine  Seite  der  Abartung,  nicht  aber  die  Verlegung  des  endgültigen 
Sexualobjektes  in  den  Fetisch  erklären.  Es  geht  m.  E.  nicht  an,  in  dem 
Fetischismus  eine  Steigerung  einer  auch  normalerweise  aufzeigbaren  Seite 
der  Psychosexualität  zu  sehen,  weil  —  wie  ich  mich  zu  zeigen  bemühte  — 
hier  ein  tiefgreifender  und  m.  E.  grundsätzlicher  Unterschied  obwaltet, 
der  so  bedeutungsvoll  ist,  daß  man  auch  nicht  von  einem  fakultativen 
Fetischismus  zu  sprechen  das  Recht  haben  dürfte. 

Man  könnte  noch  zu  einem  Verständnis  dieser  Erscheinung  gelangen, 
wenn  der  Fetisch  in  der  Regel  oder  auch  nur  in  einer  Mehrzahl  von 
Fällen  zugleich  Mittel  der  Sexualbefriedigung  wäre,  d.  h.  etwa  zu  mastur- 
batorischen  Praktiken  benützt  würde.  Dann  könnte  man  sich  allerdings 
vorstellen,  daß  hier  eine  allmähliche  Verschiebimg  der  Wertung  von 
dem  ursprünglich  dabei  phantasierten  Sexualobjekt  auf  dessen  Repräsen- 
tanten, den  Fetisch,  stattgefunden  hätte.  Es  scheint  aber  dies  durchaus 
nicht    zuzutreffen. 

Ich  glaube,  daß  auch  in  diesem  Fall  unserem  nachfühlenden  Ver- 
ständnis Schranken  gesetzt  sind,  die  wir  nicht  zu  durchbrechen  vermögen. 
Daß  eine  kausale  Erklärung  aus  irgendwelchen  Erlebnissen  heraus,  wie 
sie  die  Psychoanalyse  unternimmt,  ein  solches  Nacherleben,  wirkliches 
Verstehen  nicht  zu  gewährleisten  vermag,  bedarf  hier  keiner  weiteren 
Ausführung.  Handelt  es  sich  doch  nicht  darum,  zu  erfahren,  auf  welchem 
Wege  der  Betreffende  gerade  zu  dieser  Art  psychosexualen  Verhaltens 
gelangt  sei,  sondern  darum,  dieses  Verhalten  selbst  miterleben,  nach- 
erleben zu  können.  Dazu  verhilft  uns  keine  noch  so  lange  Kette  kausal 
verbundener  Glieder  und  kein  Nachweis  noch  so  frühzeitig  stattgefundener 
Einflüsse.    Wiederum  muß   gesagt  werden,   daß  wir  auf  solchem  Wege 


432  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

zwar  alle  Beding^ungen  vielleicht  erfahren  können,  durch  welche  die  Ab- 
artung  zustande  gekommen  sei,  aber  gar  nichts  darüber,  worin  sie  eigentlich 
ihrem  inneren  VVesen  nach  bestehe. 

Hier  wäre  auch  einer  Erscheinung  zu  gedenken,  welche  als  ein  negativer 
Fetischismus  angesehen  werden  kann,  die  Hirschfeld  (56,  58)  mit  dem 
Namen  eines  Horror  sexualis  partialis  belegt  hat.  Gewisse  Umstände, 
Eigenarten,  Züge  des  an  sich  normalen  Sexualobjektes  erregen  bei  der- 
art Ix^chaffenen  Menschen  eine  unwiderstehliche  Abneigung,  verliindern 
das  Zustandekommen  der  Sexualerregung  oder  bringen  eine  schon  ent- 
standene zum  Verschwinden.  Z.  B.  ist  mir  ein  Mann  bekannt,  für 
den  jede,  zuvor  noch  so  begelirenswert  erschienene  Frau  jegliches  erotische 
Interesse  verliert,  ja  abstoßend  wird,  sobald  er  entdeckt,  daß  sie  einen 
Strumpfbandgürtel  trägt.  Und  das  nicht  etwa,  weil  runde  Sti"umpf- 
bänder  für  den  Betreffenden  einen  besonderen,  fetischistischen  Sexualwert 
bedeuten  wöirden;  Strumpfbänder  vermögen  die  erotisch©  Anziehimgs- 
kraft  einer  Frau  in  keiner  Weise  positiv  zu  beeinflussen.  Dieser  Fall 
ist  übrigens  leicht  aufzuklären,  auch  sich  selbst  des  Grundes  dieser 
Idiosynkrasie  voUkonunen  bewoißt.  Als  er  nämlich  das  allererstemal 
eine  Prostituierte  aufsuchte,  widerte  ihn  die  ganze  Szene  an,  insbesondere 
wurde  er  durch  den  Anblick  des  schmutzigen  Strumpfbandgürtels  von 
einem  solchen  Ekel  erfaßt,  daß  er  eilends  die  Flucht  ergriff. 

Von  diesem  Horror  sexualis  partialis  führen  verständliche  Übergänge 
zu  allen  jenen  Verhaltungsweisen  und  Einflüssen,  welche  den  Sexualaffekt 
zu  beeinträchtigen  vermögen  oder  der  Entfaltimg  von  Liebesregungen 
im  Wege  stehen.  Häufig  ist  es  das  Lächerliche,  das  in  diesem  Sinne 
wirkt.  G.  Godwin  hat  in  den  „Begegnungen  mit  mir"  anschaulich  ge- 
schildert, wie  ein  zuvor  äußerst  begehrenswerter  Mann  widerwärtig  er- 
scheint, als  Sexualobjekt  geradezu  unmöglich,  in  dem  Augenblicke,  da 
er  in  gestreiftem  Flanellunterzeuge  vor  der  Frau  steht.  Von  solchen 
,, Liebeshindernissen"  wird  auch  noch  die  Rede  sein  müssen.  Nicht  selten 
gründet  in  ihnen  die  Erscheinung  der  psychischen   Impotenz. 

Anhangsweise  seien  hier  noch  weitere  Abartungen  der  Objekt  wähl  ange- 
führt, mit  denen  sich  eingehender  zu  befassen  keinerlei  besonderes 
Interesse  haben  dürfte,  wie  die  Sexualneigung  zu  alten  Menschen  (Geronto- 
phihe),  die  Nekrophilie,  welche  übrigens  Beziehungen  zu  dem  sofort  zu 
besprechenden  Sadismus  haben  mag.  Ein  paar  \Vorte  nur  müssen  ge- 
sagt werden  über  die  ausschließlich  auf  Jugendliche,  ja  auf 
Kinder  beschränkte  Objekt  wähl. 

Es  wurde  schon  angemerkt,  daß  in  der  Beziehung  zwischen  Liebenden 
Züge  sich  geltend  machen,  welche  an  die  Beziehung  zwischen  Eltern  und 
Kindern  gemahnen.  Es  mag  das  ein  Motiv  sein,  welches  bei  der  Wahl 
gerade  von  Kindern  als  Sexualobjekten  eine  Rolle  spielt.  Die  Knaben- 
liebe des  Homosexuellen  dürfte  z.  T.  auch  darin  begründet  sein,  daß, 
wie  bemerkt,  ja  dem  aktiv  Homosexuellen  zu  tiefst  eine  Tendenz  auf 
das  andere  Geschlecht  innewohnt  und  der  Knabe  anscheinend  neben 
seinen  männlichen  auch  weibliche  Züge  trägt.  Wieder  anders  ist  die 
Struktiu-  bei  der  oft  beschriebenen,  vielfach  in  Romanen  behandelten 
Vorliebe  älterer,  erfahrener   Frauen   gerade  für  jugendhche,    noch  uner- 


DIL   ABAKl'UNGEN  433 


fahrono  Liebhabor.  l)ei  tlem  Gefallen,  den  sie  an  der  bewußt  oder  unbe- 
wulSt  orotischen  Zuneigiing  von  Kindern  finden.  Abgesehen  von  der 
Befriedi^nfj  <los  Maclilbodürfnisscs,  welche  das  Bewußtsein  verleiht, 
als  erste  gelieht  zu  werden  und  vielleicht  einen  Menschen  zu  allererst 
uüt  dem  erotischen  EflelxMi  bekaiuil  zu  machen  ^  —  gleichgültig,  oh  es 
dalx'i  wirklich  zum  Geschlechtsverkehr  konniit  oder  kommen  kann  — , 
mögen  als  Motive  mitwirken  vielleicht  ein  s{)ielendes  Sichzurückversetzen 
in  die  eigene  Jugend,  intellektuelle  Momente  —  der  unerfahrene  Knabe 
hat  noch  keine  der  Eigenschaften  des  Mannes,  welche  die  Frau  auf  der 
Hut  sein  heifSen,  sie  mißtrauisch  machen  usw.  — -,  eine  von  vornherein 
nicht  unbedingt  erotisch  tingierte  Liebe  zu  Kindern,  ein  mehr  ästhetisches 
Wohlgefallen  an  der  ,, Reinheit",  der  ,, Idealität"  solcher  Zuneigung  dieser 
Knaben  und  anderes  noch  —  jedenfalls  eine  Reihe  heterogener  Faktoren, 
deren  Konstatierung  darauf  hinweisen  muß,  daß  man  es  hier  sicherlich 
mit  einem  sehr  komplexen  Phänomen  zu  tun  hat,  das  nicht  ohne  weiteres 
als  ein  einheitlich  zu  verstehender  Typus  der  Objektwahl  hingestellt 
werden  darf. 

Ich  bin  mir  ganz  klar  darüber,  daß  diese  Ausführungen  in  vieler  Be- 
ziehung lückenhaft  sind.  Insbesondere  ist  der  Mannigfaltigkeit  der 
äußeren  Erscheinung  des  abgearteten  Geschlechtstriebes  in  keiner  Weise 
Rechnung  getragen  worden.  Ich  glaube  nicht,  daß  dies  notwendig  ge- 
wesen wäre.  Es  ist  hier  kein  klinischer  Traktat  über  Sexualpathologie 
zu  geben;  vom  Standpunkte  des  Psychologen  bedeuten  alle  diese  Varianten 
aber  niu-  Äußerlichkeiten.  Soweit  wir  dies  zu  beurteilen  vermögen,  ist 
das  Erleben  allemal  dasselbe  und  wohl  auch  die  Psychogenese  nach  den 
gleichen  Grundlinien  erfolgt.  Eine  andere  Sache  freilich  ist  es  um  die 
Mangelhaftigkeit  gerade  der  psychologischen  Deskription  und  der  gene- 
tischen Analyse.  Sie  ist  begründet  in  der  Unvollkommenheit  unserer 
Einsichten,  vor  allem  darin,  daß  die  meisten  Autoren,  die  sich  mit  diesen 
Fragen  zu  befassen  Gelegenheit  hatten,  es  vorzogen,  die  äußerlichen 
Formen  oder  die  kausalen  Zusammenhänge  zu  untersuchen,  nicht  aber 
die  phänomenalen  seelischen  Abläufe.  Diese  Bemerkung  gilt  in  gleichem 
Maße  auch  von  den  Abartungen  hinsichtlich  des  Sexualzieles,  denen  wir 
uns  nunmehr  zuwenden   wollen. 

Wie  der  Fetischismus,  so  nimmt  in  anderem  Sinne  auch  der  Auto- 
erotismus  eine  Zwischenstellung  ein.  Er  stellt  eine  Abweichung  dar 
hinsichtlich  des  Sexualobjektes,  insofeme  dazu  der  eigene  Körper  wird, 
hinsichtlich  des  Sexualzieles,  insofeme  der  Erreichung  sexualer  Befriedi- 
gung nicht  der  Verkehr  mit  einer  anderen  Person  dienstbar  gemacht  wird. 
Was  aber  die  Setzimg  des  eigenen  Körpers  als  Sexualobjekt  anlangt, 
so  ist  cüese  durchaus  nur  eine  vorläufige,  d.  h.  es  erscheint  der  eigene 
Körper  nur  als  Repräsentant  des  Sexualobjektes,  das  in  Wahrheit  inten- 
diert wird.  Diese  Intention  muß  allerdings  keine  bewußte  sein,  ist  es 
in  der  Regel  nicht  in  den  Entwicklungsphasen  der  Sexualität,  in  welchen 
die  Realisierung  des  Verkehres  mit  einem  fremden  Sexualobjekt  gar  nicht 


1    Hier   besteht   eine   enge    Beziehung   zu   der   obenenvähnten   erregenden    Wirkung  des 
Wissens    um    die    fremde    Sexualerregung. 

28    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  111. 


434  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

im  Bereiche  physischer  und  denkbarer  Möglichkeit  liegt.  Dennoch  aber 
ist  die  Richtung  auf  das  fremde  Sexualobjekt  durchgehends  vorhanden, 
wodurch  der  Autoerotismus  (s.  S.  428)  sich  vom  oben  besprochenen 
Narzißmus  unterscheidet.  Es  ist  also,  vde  wir  uns  schon  oben  aus- 
drückten, der  eigene  Körper  uns  unmittelbares,  aber  nicht  endgültiges 
Sexualobjekt  ^. 

Ähnliches  gilt  nun  auch  vom  Sexualziel  autoerotischer  Betätigungen, 
mögen  dieselben  in  vk^irklichen  masturbatorischen  Manipulationen  oder 
in  bloßen  Phantasioerlebnissen,  sogenannter  psychischer  Onanie,  bestehen. 
Auch  hier  erscheint  die  Sexualbefriedigung  am  eigenen  Körper  als  ein 
niir  vorläufiger  Behelf,  indem  die  Hauptrolle  doch  unbedingt  den  wohl 
die  meisten  autoerotischen  Akte  begleitenden  Phantasien,  die  irgendein 
anderes  Sexualziel  vorspiegeln,  zufällt.  Dafür  spricht,  neben  den  direkten 
Aussagen  verschiedenster  Personen,  auch  der  Umstand,  daß  die  auto- 
erotische Befriedigung,  zumal  wenn  sich  ein  mehr  oder  weniger  deut- 
liches Wissen  um  andere  Sexualziele  eingestellt  hat,  nur  relativ  selten 
selbst  Gegenstand  erotischer   Phantasien   oder  erotischer  Träume   wird. 

Die  autoerotische  Befriedigung  ist  ein  vorläufiges  Sexualziel  in  doppel- 
tem Verstände.  Einmal,  weil  sie  an  Stelle  des  real  unerreichbaren,  nur 
hinzuphantasierten  wirklich  intendierten  Sexualzieles  tritt,  zweitens,  weil 
sie  dasselbe  vertritt,  solange  physiologisch  und  psychologisch  die  Setzung 
eines  anderen  Sexualzieles  noch  gar  nicht  möglich  geworden  ist. 

Deskriptiv  psychologisch  ist  wenig  zu  sagen.  Das  meiste  wdrd  unten 
in  dem  Kapitel  über  erotische  Phantasien  zur  Sprache  konunen;  was 
über  den  Autoerotismus  als  Durchgangsstadium  zu  sagen  ist,  wird  in 
dem  Abschnitt  über  kindliche  Sexualität  und  Sexualentwicklung  ausge- 
führt. Da  weder  die  Häufigkeit  des  Autoerotismus  noch  seine  verschie- 
denen Praktiken  psychologisch  interessieren,  dürften  diese  wenigen  Be- 
merkungen an  dieser  Stelle  genügen. 

Die  mutuelle  Masturbation  in  ihren  verschiedenen  Formen  ist  entweder 
eine  durch  äußere  Umstände  aufgenötigte  Ersatzbefriedigung,  die  dem 
homosexuellen  Verkehr  angehören  kann  oder  auch  dem  heterosexuellen 
als  Durchgangsstufe,  als  Ausflucht  infolge  der  Angst  vor  den  Folgen 
eines  regelrechten  Koitus  usw.,  oder  aber  sie  wird  selbst  Sexualziel,  über 
das  hinaus  keine  Wünsche  mehr  gehen.  Im  homosexuellen  Verkehr  fallen 
bisweilen  beide  Motive  zusammen.  Im  Falle  diese  Form  erotischer  Be- 
friedigung nur  als  Ersatz  auftritt,  liegt  die  Sache  genau  so  wie  bei  dem 
Autoerotismus;  das  eigentliche  Sexualziel  erscheint  in  den  begleitenden, 
mehr  oder  weniger  deutlichen  Phantasien. 

Masturbatoi  ische  Handlimgen  von  einer  Person  an  den  Geschlechts- 
teilen einer  anderen  ausgeübt,  können  entweder  der  Erzeugung  sexueller 
Erregung  imd  eventuell  auch  Befriedigung  bei  dieser  dienen,  oder  sie  ent- 
springen dem  sexualen  Begehren  jener,  welcher  man  sodann  einen  abge- 
arteten Sexualtrieb,  zumindest  fakultativ,  wird  zusprechen  können.  Übri- 
gens läßt  sich  diese  Form  sexualer  Betätigung  von  der  mutuellen  Onanie 

1  über  die  Möglichkeit  solchen  Strebens  ohne  vorgestellte  Ziele  vgl.  Scheler, 
Der    Formalismus    in   der   Ethik,    Jahrb.    f.    Philos.    u.    phänom.    Forsch.,    L 


DIi:  ABARTUNGEN  435 


nicht  scharf  trennen;  schließlich  ist  es  nur  ein  Unterschied  des  Grades, 
der  TixJinik  und  von  indiviiluellon  Neig-un^'(Mi  abhängig,  ob  bei  solchem 
Verkelir  nur  tler  eine  Partner  oder  beide  die  (leniudien  des  anderen  bo- 
rührt^n,  oder  der  eine  sich  nur  init  dem  Herülirtwerden,  seiiKMseiLs  mit 
KüsstMi  u.  dgl.,  begnügt.  Zuweik-n  ist  nur  Unwissenheit  schuld  daran, 
wenn  es  bei  <ler  einseitigen  passiv  erdukleten  Masturbation  bleibt  (vgl. 
Ueniy  de  Gounnonts  ,,l  n  coeur  virginal").  Unter  Umständen  dient  dieses 
\'erfahren  der  Beiriotligung  des  einen  Partners  ohne  sexuale  Erregimg 
des  anderen,  >vio  dies  etwa  eine  Szene  im  Trionfo  della  morte  des 
d'Annunzio  scliildert.  Hierher  zälilen  auch  alle  jene  Varianten  sexualen 
^'erkehres,  welche  die  i\Iun<lzone  mit  den  Geschlechtsteilen  des  Partners 
einseitig  oder  wechselseitig  in  Berühiimg  bringen.  DalKÜ  braucht  es 
sich  durchaus  nicht  immer  um  ein  ,, besonderes  Raffinement  sexual 
blasierter  Individuen"  zu  handeln,  wie  vielfach  angenommen  wird.  Mir 
wurde  von  glaubmirdigster  Seite  der  Fall  berichtet,  daß  zwei  junge, 
erotisch  recht  unwissende  Menschen,  von  der  ansteigenden  Erregung  ge- 
trieben, sich  nach  dem  Erwachen  aus  dem  SexuaLrausch  plötzlich  —  zu 
ihrem  Erstaimen  und  Entsetzen  —  in  der  Lage  befanden,  daß  jedes 
den  Mimd  an  das  Genitale  des  andern  gebracht  hatte  {„soixante-neuf), 
ohne  daß  ihnen  je  zuvor  über  solche  Art  der  geschlechtlichen  Befriedi- 
gung etwas  bekannt  gewesen  wäre.  Wo,  wie  in  diesem  Falle  mutmaßlich, 
diese  Art  des  Verkehres  nur  eine  Station  auf  dem  Wege  zu  normalen 
Beziehungen  darstellt,  wird  man  nicht  einmal  von  einer  Abartung  des 
Sexualtriebes  sprechen  können,  sondern  höchstens  von  einer  Abirrung 
auf  der  Suche  nach  der  größtmöglichen  Befriedigung  und  dem  höchsten 
Genuß. 

Übrigens  muß  man  sich  vor  Augen  halten,  daß  alle  Formen  abge>- 
artetei"  Sexualbefriedigung  neben  der  normalen  bei  ein  und  demselben 
Individumn  vorkommen  können,  ohne  daß  die  eine  oder  die  andere  Ver- 
kehrsform darum  einen  höheren  Befriedigungswert  besitzen  muß. 

Zuweilen  scheint  diese  Wahl  des  Sexualzieles  jener  oben  einmal  ge- 
kennzeichneten Einstellung  zu  entspringen,  welche  den  höchsten  erotischen 
Genuß  weniger  aus  der  eigenen,  wirklichen  Sexualbefriedigung  als  aus 
dem  Wissen  mn  die  Sexualerregung  des  anderen  schöpft.  Dabei  liegt 
das  Gewicht  auf  der  Erregung,  nicht  auf  der  Befriedigung  des  anderen. 
Es  mischt  sich  hier  ein  Zug  einer  anderen,  ebenfalls  das  Sexualziel  b^ 
treffenden  Perversion  ein,  nämlich  des  Sadismus. 

Fragen  wir  noch  nach  der  G«nese  der  reinen  Fälle  dieser  Abartung, 
in  welchen  also,  sei  es  die  autoerotische  Betätigung,  sei  es  eine  der  er- 
wähnten Verkehrsformen  —  die  natürlich  noch  zu  vermeliren  wären,  ohne 
daß  psychologisch  dadurch  etwas  gewonnen  würde  —  selbst  letztes  Sexual- 
ziel und  nicht  ein  Surrogat  bedeuten,  so  scheint  es  mehrere  Erklärungs- 
möglichkeiten zu  geben.  Der  Autoerotismus  bedeutet  unter  Umständen 
die  Emanzipation  vom  anderen  Geschlecht,  in  ähnlichem  Sinne,  wie  das 
die  Theorie  A.  Adlers  für  die  Homosexualität  annimmt,  damit  eine  ge- 
wisse Selbstherrlichkeit  auch  in  der  Sexualsphäre,  eine  Verantwortungs- 
losigkeit überdies,  deren  Gewinn  wohl  auch  für  manche  der  mutuellen 
Verkehrspraktiken  das  treibende  Motiv  —  bewußt  oder  unbewußt  —  ab- 

28* 


436  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ffeben  dürfte.  Wie  die  „demi-vierge"  durch  derartige  Praktiken  sich  den 
Gewinn  sexualer  Lust  —  nebenher  gesagt,  vielleicht  noch  wichtiger  ist 
ihnen:  der  Gewinn  eines  Liebhabers,  aus  mancherlei  Gründen  —  sichert, 
ohne  Konsequenzen  befürchten  zu  müssen,  so  auch  der,  vornehmlich 
auf  Grund  psychoneurotischer  Konstitution,  solchen  Verkehrsformen  zu- 
neigende Mensch.  Hier  handelt  es  sich  aber  nicht  einmal  so  sehr,  gewiß 
nicht  ausschließlich  um  die  gemeinhin  so  bezeichneten  Folgen  —  das 
Kind  — ,  sondern  um  alles,  was  drum  und  dran  hängt  an  einer  ehrlichen 
Geschlechtsbeziehung.  Damit  hängt  es  zusammen,  daß  man  wohl  selten 
derartige  sexuale  Abartung  isoliert  antrifft;  sie  ist  meist  mit  allerlei 
anderen    psychoneurotischen    Zügen    und    Symptomen    vergesellschaftet. 

Da  unter  Umständen  die  somatische,  autoerotische  Betätigung  und  Be^ 
friedigung  völlig  wegfallen  kann,  allein  den  Phantasieerlebnissen  es  über- 
lassen bleibt,  den  erforderlichen  Grad  sexualer  Spannung  herbeizuführen 
und  zur  Krisis  zu  steigern,  ist  es  verständlich,  daß  es  Abartimgen  gibt, 
in  welchen  diese  ,, psychische  Onanie"  zur  Erreichung  des  Zieles  äußere 
Hilfsmittel,  gewissermaßen  als  Stütze  der  Phantasie,  heranzieht.  Solcher 
Kunstgriffe  gibt  es  verschiedene;  einige  werden  später  besprochen,  weil 
sie  nicht  eigentlich  als  Abartungen  der  Psychosexualität  in  Betracht  kom- 
men, zwei  sind  indes  seit  langem  in  der  Psychopathia  eexualis  behandelt 
worden :  der  Exhibitionismus  und  die  Schaulust.  Beide  ge- 
hören offenbar  zueinander.  Der  Exliibitionist  findet  seine  Befriedigung 
in  der  Entblößung  der  eigenen  Geschlechtsteile  vor  Personen  anderen  Ge^ 
schlechtes,  der  Schaulustige,  voyenr,  in  dem  Anblick  der  Entblößung 
anderer,  als  Zuschauer  fremder  Sexualbetätigung  und  exkrementieller 
Funktionen.  Auch  hier  wäre  das  gleiche  anzumerken  wie  schon  zu 
mehreren  Malen  oben;  man  trifft  zwar  im  normalen  Geschlechtsleben  auf 
Züge,  welche  an  die  gedachten  Abartungen  gemahnen,  ja  zur  Annahme 
eines  nur  graduellen  Unterschiedes  verleiten  können,  die  aber  dennoch 
sich  als  davon  wesensverschieden  erweisen  dürften.  G«wdß  bedeutet  auch 
für  den  Normalen  z.  B.  der  Anblick  des  entblößten  Partners  bzw.  irgend- 
eines Angehörigen  des  anderen  Geschlechtes  einen  Sexualreiz,  der  auch 
angestrebt,  aufgesucht  wird,  aber  doch  keineswegs  ein  definitives  Ziel, 
wie  für  den  echten  Schaulustigen.  Auch  bedarf  es  nicht  erst  der  Er- 
wähnung, daß  vorübergehend  die  Betrachtung  des  Nackten,  lebendig  oder 
im  Bilde,  im  Verlaufe  der  Sexualentwicklung  eine  bedeutende  Bolle  spielt 
und  auch  Sexualziel  sein  kann*  aber  doch  ebenfalls  nur  als  Surrogat, 
wobei  die  Intention,  wie  schon  wiederholt  ausgesprochen  wurde,  denn 
doch  auf  das  physiologische  Sexualziel  geht.  Wir  verstehen  aus  diesen 
yVnalogien  und  Erfahrungen  heraus  das  Sexualinteresse  des  Schaulustigen, 
schwerlich  aber  den   Verzicht   auf  sonstige   Sexualziele. 

Noch  schwieriger  wird  es  mir,  den  Exhibitionisten  vollkommen  zu  ver- 
stehen. Es  ist  auffallend,  daß  die  Exhibitionisten  fast  durchwegs  dem 
männlichen  Geschlecht  angehören,  während  die  den  Exhibitionismus  gewis- 
sermaßen vorbildenden  Phantasien  überwiegend  bei  Mädchen  vorkonmien. 
Entkleidungsphantasien  sind  bei  Knaben  außerordentlich  selten  (s.  w.  u.). 
Es  fehlt  für  diese  Abartung  nahezu  selbst  jener  Anhub  für  ein  Verständ- 
nis, den  bei  den  anderen  die  genannten  normalpsychologischen  Erschei- 


DIE  AB  ARTUNGEN  437 


nungen  zu  bieten  vermögen.  So  legt  dieser  Lniütand  die  Vermutimg 
nahe,  daß  mau  im  Exhibitionismus  doch  eine  mit  größerem  Recht  als 
kranldiaft  zu  bezeichnende  Erscheinung  vor  sich  habe,  als  dies  etwa 
bei  auch  im  erwaclisenen  l^ben  festgehaltenen  autoerotischen  Gepflogen- 
heiten, bei  Homosexualität  u.  a.,  der  Fall  ist.  Diese  Annahme  findet  eine 
Stütze  in  dem  allgemein  als  unwiderstehlich,  zwanghaft  geschilderten 
Trieb  zm*  Entblößung.  Natürhch  kann  jede  Art  des  Sexualtriebes  ge- 
legentlich oder  bei  manchen  Personen  mit  unwiderstehlicher  Gewalt  sich 
durchsetzen  wollen;  aber  daneben  wird  es  immer  Einzelfälle  und  Per- 
sonen genug  geben,  wo  der  Trieb  der  Kontrolle  der  Überlegung  und  des 
Willens  gehorcht.  Hört  man  aber  den  Exlübitionisten  zu,  so  gewinnt  man 
den  Eindruck,  als  sei  fast  immer,  wenn  der  Impuls  zum  Sexualakt  auf- 
taucht, derselbe  auch  unwiderstehlich,  bei  jeder  Gelegenheit  und  bei 
jeder  Person.  Man  muß  natürlich  die  Äuf^rungen  solcher  Individuen 
mit  einer  gewissen  Vorsicht  aufnehmen ;  erstens,  weil  vielleicht  die  psycho- 
neurotischen  Züge,  welche  ihnen  anhaften,  dazu  mahnen,  zweitens,  weil 
sie  ein  Interesse  daran  haben,  den  Drang  als  unwiderstehlich  zu  schildern, 
aus  forensischen  Gründen  und  auch,  um  einer  moralischen  Verurteilung 
zu  entgehen. 

Freud  (43)  vereinigt  die  Exhibitionisten  mit  den  Schaulustigen,  weil 
eine  Analyse  ihn  gelehrt  hat,  daß  diese  Menschen  ihre  „Genitalien  zeigen, 
um  als  Gegenleistung  die  Genitalien  des  anderen  Teiles  zu  Gesicht  zu  be- 
kommen". Ob  diese  Auffassung  haltbar  ist,  vermag  ich  nicht  zu  ent- 
scheiden. Es  bietet  sich  übrigens,  wde  ich  glaube,  noch  eine  weitere 
Möglichkeit,  zu  einer  genetischen  Erklärung  des  Exhibitionismus  zu  ge- 
langen. Erinnert  man  sich  an  die  bei  Frauen  so  häufigen,  bei  Männern 
so  seltenen  Entkleidungsphantasien,  deren  teilweise  Verwirklichimg  durch 
die  Exhibition  stattfindet,  zugleich  mit  der  Anschauung  von  dem  psychi- 
schen Hermaphroditismus,  so  könnte  man  sich  die  Meinung  bilden,  es 
handle  sich  hier  um  ein  Stück  weiblicher  Sexualität,  das  sich  im  Manne 
kundgebe,  ein  Überwiegen  eines  W-Elementes,  um  mit  Weininger  zu 
sprechen.  Es  wäre  dann  der  Exhibitionismus  eine  Art  Kompromiß  inner- 
halb der  bisexualen  Tendenzen. 

Mit  dem  Exhibitionismus  sollte  die  als  Aufforderung  zum  Geschlechts- 
verkehr gedachte  Entblößung  ebensowenig  verw^echselt  werden  wie  die 
gelegentlich  als  ,, Scherz",  um  Frauen  zu  erschrecken,  geübte.  In  die 
erste  Gruppe  gehören  auch  die  Entblößungen  weiblicher  Geisteskranker, 
die  im  allgemeinen  nicht  Selbstzweck  sind  —  soweit  sie  überhaupt  mit 
einem  Zweckbewußtsein  einhergehen  — ,  sondern  eine  Aufforderung  be- 
deuten. Sie  mögen  aber  auch  eine  Art  „Regression"  auf  Phantasien  vor 
dem  Geschlechtsverkehr  darstellen,  in  welchen  die  Entkleidungsszene  eine 
große  Rolle  spielt  (s.  u.). 

Unserem  Verständnis  näher  stehen,  wie  ich  glaube,  jene  Abartungen, 
die  nach  bekannten  Persönlichkeiten  den  Namen  des  Sadismus  und 
des  Masochismus  tragen :  beide  werden  auch  zusammengefaßt  unter 
den  Begriff  der  Algolagnie  (Schrenck-Notzing,  Eulenburg  [34]). 
Diese  Vereinigung  ist  nicht  nur  dadurch  gerechtfertigt,  daß  es  sich  in 
beiden   Fällen  um  eine   Verquickung  sexualen   Genusses   mit   Schmerzen 


438  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

handelt,  sondern  auch  deshalb,  weil  in  der  Tat  beide  Züge  auch  neben-* 
einander  vorkommen  können.  Zumindest  zeig'^n  die  Schriften  des  Marquis 
de  Sado  selbst,  daß  solche  Kontaminationen  oder  auch  ein  Rollentausch 
stattfinden  kann.  Viele  seiner  Frauengestalten  empfinden  Schmerzen 
oder  den  Gedanken  daran  als  wollusterregend;  anderseits  läßt  sich  ge- 
legentlich ein  Mann  von  seiner  Geliebten  erhängen.  Auch  in  der  mit 
erotischen  Regungen  einhergehenden  Selbstpeinigung  liegt  die  gleiche 
Verquickung  vor;  es  scheint,  daß  in  dem  Schmerz,  den  solche  Menschen 
sich  zufügen,  ebensosehr  eine  Quell©  sexualer  Erregung  und  Befriedigung 
gefunden   wird    wie  in   dem   Zufügen   des   Schmerzes. 

Es  wurde  schon  früher  einmal  der  Anschauung  Freuds  gedacht,  der 
liierin  mit  H.  EUis  übereinstimmt,  „daß  die  aktive  und  passive  Form 
regelmäßig  bei  derselben  Person  mitsammen  angetroffen  werden",  welche 
Meinung  zweifelsohne  viel   für  sich  hat. 

Es  ist  aber  die  Algolagnie  nicht  einfach  den  bisherigen  Abartungen  als 
koordiniert  an  die  Seite  zu  stellen,  denn  die  algolagnisch©  Einstellung 
kann  in  Verbindung  mit  jeder  Art  sexualer  Neigung  und  Betätigung 
auftreten,  bei  heterosexuellen  Beziehungen  sowohl  als  auch  bei  homo- 
sexuellen; die  Schaulust  kann  auf  Grausamkeitsakte  gerichtet  sein  usw. 
Es  kann  zwar  auch  das  Zufügen  oder  Erleiden  von  Schmerzen  —  aktive 
oder  passive  Algolagnie  —  endgültiges  Sexualziel  sein.  Es  scheint  aber, 
daß  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  dem  nicht  so  ist,  vielmehr 
das  algolagnische  Verhalten  nur  der  Steigerung  der  Sexualerregimg  dient, 
die  dann  in  irgendeinem  Sexualakt  ihre  Lösung  findet.  Es  bilden  sohin 
die  beiden  Gegenüberstellung,  Richtung  auf  das  normale  Sexualziel  und 
auf  ein  abnormes  Sexualziel  einerseits,  normale  und  algolagnische  Ver- 
haltungsweisen anderseits  gewissermaßen  sich  kreuzende  Einteilungen. 
Damit  mag  es  zusammenhängen,  daß  diese  Abartung  verständlicher  er- 
scheint als  die  anderen. 

Es  hat  dies  aber  auch  einen  wahrscheinlich  gewichtigeren  Grund  darin, 
daß  hier  in  der  Tat  Ansätze  zu  dieser  Abartung  schon  zu  den  Merkmalen 
der  normalen  Sexualität  gehören.  Es  braucht  hier  nicht  wiederholt  zu 
werden,  was  schon  oben  in  dem  betreffenden  Abschnitt  angeführt  (wurde. 
Es  sei  nur  daran  erinnert,  daß  die  Aggressionstendenz  an  und  für  sich 
leicht  zu  sadistischen  Akten  führen  kann,  daß  gegenseitiges  Zufügen  und 
Erleiden  von  Schmerzen  allerdings  meist  relativ  geringfügigen  Grades 
im  Ablaufe  der  sexuellen  Betätigung  nahezu  in  der  Regel  angetroffen  wird. 
Ich  erinnere  abermals  an  die  seltsam  eingehenden  Vorschriften  und  Rat- 
schläge des  Kamasutram. 

Man  hat  zur  Erklärung  der  algolagnischen  Vorgänge  auf  verschiedene 
Analogien  im  Geschlechtsverkehr  der  Tiere  hingewiesen,  auch  Anschau- 
ungen über  das  Leben  des  Urmenschen  herangezogen  —  Argumentei,  die 
vielleicht  einen  gewissen  Erklärungswert  beanspruchen  können,  zur  Er- 
weiterimg  und  Vertiefujig  unserer  psychologischen  Einsicht  aber  nichts 
beitragen.  ' 

Zweifellos  erschöpft  sich  das  sadistische  Erleben  nicht  einfach  in  dem 
Lustgewinn  aus  der  Zufügung  von  Schmerzen,  sondern  es  fließt  diese 
Lust  aus  verschiedenen  Quellen,  und  das  ganze  Erlebnis  zeigt  eine  sehr 


DIE  ABARTUNGEN  439 


komplizierte  Struktur.  Es  ist  zunächst  einmal  die  Frage,  ob  die  Verbin- 
dunfi;  von  Schmerz,  Grausamkeit  und  ^esclilechtlicher  Erreg^unf,'  oder 
Wollust  eine  primäre  ist,  oder  ob  nicht  eine  gewisse  Lustmöf^lichkeit, 
die  von  vornherein  nicht  sexualer  Natur  zu  sein  brauchte,  in  dem  aktiven 
imd  passiven  Schmerzerleben  gegeben  sei.  E.  v.  Hartmann  hat  z.  13. 
die  Anschauung  vertreten,  daß  nicht  nur  jode  Lust  einen  Schmerz  ent- 
halte, sondern  auch,  daß  es  keinen  Sclmierz  gäbe,  der  nicht  mit  Lust 
verknüpft  wäre.  Wenn  man  auch  vielleicht  diesen  Satz  nicht  ohne 
weiteres  wird  unterschreiben  wollen,  so  muß  doch  zugestanden  werden, 
daß  es  viele  Fälle  gibt,  in  denen  er  zutrifft.  Es  ist  z.  B.  bekannt,  daß 
manchmal  bei  anhaltenden  Schmerzen  irgendwelcher  Art  die  Steigerung 
des  Schmerzes  als  lustbrLngend  empfunden  wird,  ja  daß  solche  Stei- 
gerungen aufgesucht  werden.  Gewisso  Schmerzen  werden  von  manchen 
Menschen  unmittelbar  nicht  nur  als  Schmerz,  sondern  zugleich  auch 
als  angenehm  empfunden:  „es  tut  angenehm  weh".  Würden  derlei 
Erfahrungen  dafür  sprechen,  daß  den  Schmerzen  primär  eine  Lust- 
qualität zukonmien  kann,  so  ist  damit  noch  nicht  gesagt,  daß  diese 
Lust  nicht  doch  mit  der  Sexualsphäre  zusammenhänge.  Es  ist  mir 
dies  sogar  recht  wahrscheinlich.  Ich  habe  junge  Mädchen  beobachtet, 
welche  sich  absichtlich  Verbrenmmgen  —  mit  Zigaretten  z.  B.  — 
zufügten,  nebenbei  bemerkt,  keineswegs  hysterische  Persönlichkeiten  im 
Sinne  der  Klinik,  und  deren  Gesichtsausdruck  während  dieser  Handlxmg 
durchaus  die  Annahme  einer  erotischen  Erregung  nahelegte,  was  übrigens 
eine  derselben  ohne  weiteres  zugestand. 

Daneben  dürften  aber  auch  nichtsexuale  Wurzeln  in  Betracht  kommen. 
So  nimmt  Eulenburg  den  Drang  nach  Herrschaft  einerseits,  nach  Unter- 
werfung, Dienstbarkeit,  Hörigkeit  andrerseits  in  Anspruch,  der  eine  mehr 
beim  Manne,  der  andere  mehr  bei  der  Frau  überwiegend.  Sicherlich 
hätte  die  relative  Stellung  der  Geschlechter  sich  nie  in  der  Richtung 
entwickeln  können,  wie  es  die  Kulturgeschichte  zeigt,  wenn  nicht  gewisse 
psychologische  Vorbedingungen  gegeben  gewesen  wären.  Nur  könnte  man 
abermals  auf  den  Gedanken  verfallen,  daß  auch  diese  Einstellungen  letzten 
Endes  im  Sexualen  gründen,  dieses  das  Urphänomen  wäre,  von  dem 
alles  andere  sich  erst  ableitet.  Derselbe  Autor  beruft  sich  weiterhin  auf 
den  „frevelnden  Hochmut,  die  Hybris,  den  prometheischen  Drang  zur 
Auflehnung  gegen  alles  Widerstrebende  und  nach  Unterwerfung",  wobei 
er  auf  das  Nebeneinandervorkommen  dieses  Zuges  mit  sadistischen  Ein- 
stellungen verweist,  wie  es  bei  de  Sade,  bei  jenem  Gilles  de  Rais,  der 
das  Urbild  des  Blaubartes  abgab,  bei  Cenci  u.  a.  angetroffen  wird.  Wenn 
Eulenburg  (34)  weiter  meint,  daß  ,, manche  der  grauenhaftesten  sadisti- 
schen Phänomene  .  .  .  ihre  letzten  Wurzeln  hätten,  neben  dem  wollüstig 
mystischen  Spiel  mit  dem  Grauenhaften,  wohl  gerade  in  diesem  hoch- 
mütigen Hinwegsetzen  über  alle  Grenzen  sittlicher  und  auch  ästhetischer 
Scheu,  in  der  triumphatorischen  Erniedrigung  und  Verhöhnung  alles 
dessen,  was  dem  pietätvollen  Glauben  als  vorzugsweise  geweiht,  ver- 
ehrungswürdig, als  unnahbar  und  unantastbar  gilt",  so  ist  dies  nur  in 
gewissem  Ausmaße  richtig.  Sicherlich  gelangen  manche  Individuen  aus 
einer   solchen    Mentalität    heraus    auch    zum    Sadismus.     Dieser   ist    aber 


440  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

dann  keine  ursprüngliche  .\bartung  der  Sexualität  mehr.  Es  wird  dann 
das  sexuale  Verhalten  des  Menschen  sozusagen  zum  Symbol  für  seine 
Grundeinstellung  gegenüber  der  Welt.  Diese  Grenese  reiht  dann  den 
Sadismus  unter  jene  Erscheinimgen  abgearteter  Sexualität  ein,  welche 
weiter  imten  kurz  als  unechte  besprochen  werden  sollen. 

Anerkennt  man  solche,  den  Sadismus  mitbegründende  Tendenzen  als 
selbständige  Triebkräfte  neben  den  sexualen,  so  kommt  natürlich  in  die 
Auffassung  des  ganzen  Phänomens  etwas  Uneinheitliches.  Jene  Theoretiker 
der  Sexualität,  welche  den  Umfang  der  „Libido"  so  weit  spannen,  daß 
sie  schheßlich,  wie  G.  C.  Jung  (62),  alle  Aktivität  überhaupt  darunter 
begreifen,  die  idso  auch  Herrschsucht  usw.  nur  als  Erscheinungsweisen 
der  „Libido"  auffassen,  vermögen  allerdings  eine  geschlossene  Anschauung 
zu  bringen  —  ich  glaube  aber,  nicht  ohne  den  Tatsachen  dabei  einiger- 
maßen  Gewalt  an  zutun. 

Unter  Umständen  kann  auch  die  Vergewaltigung,  die  Notzucht,  als 
sadistischer  Akt  erscheinen,  keineswegs  inmier.  Dagegen  dürfte  mit 
Recht  der  Lustmord  hier  seinen  Platz  finden,  vielleicht  auch  die  Nekro- 
philie, wofür  bei  Eulenburg  und  anderweits  Material  gefunden  werden 
kann. 

Nicht  imwahrscheinlich  ist  es,  daß  in  die  sexuelle  Zuneigung,  vor  allem 
in  den  sexuellen  Verkehr  von  Erwachsenen  mit  Kindern  eine  sadistische 
Komponente  eingeht,  wofür  ja  auch  die  nicht  seltenen  Lustmorde  gerade 
an  kleinen  Mädchen  sprechen  dürften. 

Die  passive  Algolagnie,  der  Masochismus,  läßt  mutatis  mutandis  die 
gleichen  Erwägungen  zu  wie  die  aktive.  Soviel  ich  sehe,  ist  indes  aus- 
gesprochener Masochismus  bei  Frauen  keineswegs  so  viel  häufiger  als 
bei  Männern,  wie  man  erwarten  könnte,  wenn  Eulenburgs  Zurückführung 
auf  die  psychologisch  oder  kulturell  bedingte  Hörigkeit  der  Frau  all- 
gemeinere Bedeutung  hätte.  Wir  haben  es  zweifellos  auch  hier  mit  einer 
Steigerung   normaler    Züge   zu    tun,    welche   schon    abgehandelt   wurden. 

Häufig  kombiniert  sich  die  passive  Algolagnie  mit  anderen  Abartungen. 
So  bestand  bekanntlich  bei  Sacher-Masoch  selbst  neben  derselben  ein 
Pelzfetischismus . 

Hierher  gehört  der  Flagellantismus,  sei  es  die  Selbstgeißelung,  wie 
sie  sozusagen  epidemisch  aufgetreten  ist,  sei  es  die  Geißelung  durch 
andere.  Eulenburg  (34)  berichtet,  daß  die  Geißelung,  insbesondere  des 
Gesäßes  und  der  Lendengegend,  schon  lange  als  ein  sexuelles  Stimulans 
bekannt  sei,  das  von  Meibom  1689  in  dessen  „Epistola  de  flagrorum  usu 
in  re  venerea  et  lumborum  renumque  officio"  zuerst  von  medizinischer 
Seite  gevmrdigt  worden.  Als  solche«  Stimulans  fand  und  findet  die 
Geißelung  in  Freudenhäusern  Verwendung. 

Zweifellos  gehören  viele  Fälle,  in  gewisser  Hinsicht  vielleicht  alle 
dieser  Art  zur  passiven  Algolagnie.  Es  ist  nur  fraglich,  ob  die  sexuelle 
Erregung  allein  auf  den  Schmerz  zurückgeführt  werden  soll.  Denkbar 
wäre  es,  daß  die  mechanische,  auch  nicht  schmerzhafte  Reizung  der  be- 
treffenden Hautpartien  als  erogener  Zonen  an  und  für  sich  schon  er- 
regend wirken  könnte.  Ich  entsinne  mich  einer  satirischen  Ab- 
bildung, welche  einen  Mönch  darstellt,  der  ein  über  seine  Knie  gelegtes. 


DIE  ABARTUNGEN  441 


entblößtes    Frauenzimmer   auf    das   Gesäß    peitscht    —    aber   mit    einem 

husclHiriii  Fuchsschwanz.  Der  Gesichlsauxlruck  der  Frau  soll  offen- 
siclitlich   die  erotische    Freude   an   dieser    Züchli^ng    darstellen. 

Für  den  nahen  Zusammenhang  zwischen  Rutenstreichen  u.  dgl.  auf 
das  Gesäß  und  Sexualerre^ng  gibt  es  zahlreiche  Belege.  .\m  Ix'kann- 
teslen  sind  die  Bemerkungen  .1.  J.  Rou-sseaus  (looj  in  seinen  Gonfessions. 

Sowenig  die  passive  Algolagnie  auf  die  Frau  beschränkt  ist,  sowenig 
ist  die  aktive  Prärogativ  des  Mannes.  Ich  weiß  nicht,  ob  man  tatsäch- 
lich berechtigt  ist,  wie  Eulenburg  es  will,  der  Frau  eine  f)riiuärc  sadistische 
Komponente  ihrer  Sexualität  abzusprechen  und  den  weiblichen  Sadismus 
nur  als  eine  reaktive  Erscheinimg,  als  provoziert  und  gezüchtet  durch  den 
masochistischen  Mann  anzusehen.  Denn  auch  hier  scheint  es  richtig  zu 
sein,  daß  beide  Seiten  der  Algolagnie  gar  nicht  selten  bei  ein  und  dem- 
selben Individuum  auftreten,  daß  im  Erleiden  sowohl  wie  im  Zufügen 
der  Schmerzen  Lust  gesucht  und  gefunden  wird.  Das  schon  mehrfach 
zitierte  Kamasutram  leitet  ja  auch  nicht  nur  den  Mann  zum  Beißen  und 
Kratzen  an,  sondern,  wenn  auch  in  geringerem  Maße,  ebenso  die  Frau  ^. 

Eine  phänomenologische  Analyse  der  aus  dem  Schmerz  quellenden 
sexuellen  Erregung,  oder  vielmehr  des  ganzen  komplexen  Erlebens,  in  das 
Wollust  und  Schmerz  beide  eingehen  und  verschmelzen,  ist  wohl  kaum 
möglich.  Es  scheint  nämlich  nicht  so,  als  ob  Schmerz  und  Sexualer- 
regung irgendwie  nebeneinander  erlebt  würden,  als  ob  der  eine  nur  als 
Untergrund  für  die  andere  diente,  sondern  beide  fließen  in  ein  Ganzes 
zusammen,  das  Schmerz  und  Erregung,  Lust  und  Qual  gleichzeitig  ist, 
in  dem  die  Lust  qualvoll  und  die  Qual  lustbringend  in  höchstem  Grade 
wird. 

Für  den  Sadisten  scheint  mir  zu  gelten,  daß  er  die  Schmerzen,  welche 
er  seinem  Partner  zufügt,  zugleich  irgendwie  selbst  miterlebt  und  in 
diesem  Miterleben  ebenfalls  Genuß  findet.  Wenn  schon  die  „Sympathie" 
im  Sinne  von  Adam  Smith  (Theory  of  moral  sentiment)  nicht  allgemein 
gefunden  werden  mag,  wenn  sie  gewiß  nicht  geeignet  ist,  darauf  eine 
Theorie  der  Wertung  von  Leiden  anderer,  Mitleid,  Ethik  zu  gründen, 
soweit  hat  diese  Lehre  doch  wohl  recht,  daß  ein  Miterleben  fremden 
Leidens  eine  sehr  häufige  Erscheinung  ist.  Dieses  Vermögen  scheinen 
die  Sadisten  zu  großer  Vollkommenheit  ausgebildet  zu  haben.  Was  sie 
den  anderen  tun,  erleiden  sie  teilweise  selbst  in  der  Phantasie  (vgl.  dazu 
ein  Beispiel  in  dem  Abschnitt  über  die  Phantasien)  derart,  daß  auch  das 
sadistische  Erleben  nicht  nur  aus  der  Quelle  der  Grausamkeit,  sondern 
ebenso  aus  der  des  erduldeten  Leidens  schöpft. 

Ob  das  umgekehrt  auch  für  den  Masochismus  gilt,  ob  hier  die  Phanta- 
sie der  Grausamkeit  eine  Rolle  spielt,  vermag  ich  nicht  zu  sagen. 

Die  Literatur  über  Sadismus  und  Masochismus  ist  ungeheuer  groß,  so- 
wohl die  wissenschaftliche  wie  die  pseudowissenschaftliche,  vor  allem  die 
belletristische.     Gerade  dieser  Umstand  muß  wiederum  darauf  hinweisen. 


^  Z.  B.:  „Ein  Mann,  der  an  den  Stellen  mit  den  Nägelzeichen  gezeichnet  ist, 
bringt  in  der  Regel  selbst  ein  festes  Frauenherz  zum  Gleiten."  Gezeichnet  =  zer- 
kratzt,   bemerkt    zu    dieser    Stell©   der    so    überaus    gewissenhafte    Kommentar. 


442  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

daß  wir  es  hier  mit  einem  verständlichen  Phänomen  zvl  tun  haben,  daß 
es  aus  dem  Boden  der  normalen  Sexualität  irgendwie  erwächst.  Ich  ver- 
füge zwar  über  keine  Zählungen,  doch  scheint  mir,  daß  z.  B.  die  belle- 
tristischen Werke  —  um  ihren  Kunsiwert  handelt  es  sich  dabei  nicht  — , 
welche  algolagnische  Abartungen  schildern  oder  zumindest  solche  Zug© 
verwerten,  an  Zahl  diejenigen  ganz  erheblich  übertreffen,  welche  homo- 
sexuelle Beziehungen  zum  Gegenstand  haben,  obwohl  es  auch  an  solchen 
nicht  mangelt. 

Was  sonst  noch  etwa  vorkommende  sexuale  Abartungen  anlangt,  so 
scheint  mir  deren  Behandlung  nicht  die  Mühe  zu  lohnen.  Man  müßte 
so  ziemlich  immer  wdeder  das  gleiche  wiederholen. 

Wirft  man  einen  Blick  auf  alle  diese  Erscheinungen,  so  drängt  sich 
einem  immer  wieder  die  schon  berührte  Frage  auf:  warum  denn  der  eine 
Mensch  auf  irgendwelche  Einflüsse  mit  der  Entwicklung  einer  Perversion 
reagiere,  der  andere  nicht.  Wir  hörten,  daß  eine  besondere  sexuale 
Konstitution  angenommen  wird.  Worin  sie  besteht,  ob  sie  somatischer 
Natur  ist,  ob  sie  als  rein  seelisch  gedacht  werden  soll,  wissen  wir  nicht. 
Ich  glaube  nicht,  daß  ims  das  wundernehmen  kann.  Wir  stehen  hier 
vor  demselben  Rätsel  wie  bei  allen  anderen  Lebensäußerungen  auch. 
Alle  setzen  sie  eine  gemsse  Anlage  vorauf,  ohne  die  äußere  Einflüsse 
niemals  wirksam  werden  könnten.  W.  Stern  sagt  irgendwo  ganz  richtig, 
wir  könnten  niemals  eine  Eigenschaft  erwerben,  wenn  wir  nicht  die  Dis- 
position zu  dieser  Erwerbung  mitbrächten.  So  auch  hier;  was  aber  Dis- 
positionen seien,  wissen  wir  nicht.  Darüber  Hypothesen  auszuspinnen, 
ist  kaum  Aufgabe  des  Psychologen,  sicherlich  hier  nicht  der  Ort. 

Es  hat  sich,  darüber  sind  einige  Worte  vonnöten,  Löwenfeld  (76)  be- 
müht, das  Wesen  der  Sexualkonstitution  schärfer  herauszuarbeiten.  Er 
operiert  allerdings  mit  einem  etwas  verwaschenen  Konstitutionsbegriff, 
insoferne  ihm  Konstitution  nicht  nur  das  Angeborene,  durch  die  Erbmasse 
Bestimmte  ist,  sondern  auch  erworbene  Beschaffenheiten.  So  sagt  er: 
,,Die  ungünstigen  Sexualkonstitutionen  beruhen  m.  E.  nur  zum  kleineren 
Teil  auf  angeborener  Veranlagung;  sie  sind  weit  vorwaltend  die  Folge  von 
Schädlichkeiten,  welche  auf  das  Indi\dduum  in  den  ersten  Lebensdezennien 
einwirken.  Unter  diesen  spielt  die  Masturbation  zweifellos  die  Hauptrolle." 
W^ir  haben  uns  heute,  wesentlich  auf  Grund  der  Arbeiten  von  Martins, 
Tandler  u.  a.,  daran  gewöhnt,  als  Konstitution  nur  die  ererbte  Beschaffen- 
heit, Avie  Tandler  sagt,  ,,das  somatische  Fatum  des  Individuums",  anzusehen, 
und  bezeichnen  alle  im  Laufe  des  individuellen  Lebens  auf  den  Organis- 
mus modifizierend  einAvirkenden  Faktoren  als  konditionale. 

Löwenfeld  kennt  folgende  Konstitutionspaare: 

a)  eine   robuste   und   eine   schwächliche    Sexualkonstitution,    bestimmt 
durch  die  sexuelle  Leistimgs-  und  Widerstandsfähigkeit; 

b)  eine  erethische  imd  eine  torpide,  bestimmt  durch  die  sexuelle  Er- 
regbarkeit ; 

c)  eine  libidinöse  und  eine  frigide,   bestimmt   durch   die  sexuelle   Be- 
dürftigkeit ; 


I 


DIE  AB  ARTUNGEN  443 


d)  eine  pleüiorischo  und  ein©  anämisch©   (dürftige),    bo^liinrnl    durch 
don    niilriti\»Mi    Zustand    d«^    SexualapparaU's; 

e)  eine  siulistischo  und   masochistischo,   bzw.   sadistisch-inasochislische, 
algolagnischo    Sexualkonstitution. 

Worin  alx^r  letzton  Kiid(\s  die  Besondorhoiten  solcher  Konstitutionen 
bestehen  sollen,  gi'hl  auch  aus  dieses  Autors  .\usfüiinin;.,a'n  nicht  hei-\or. 
Es  muß  überdies  angemerkt  werden,  daß  die  Aufstellung  des  letzten 
Paares  dieser  Konstitutionen,  wenn  sie  nicht  als  angeboren  angesehen 
werden  sollen,  eigentlich  keinen  Erklärungswert  beanspruchen  kann. 
Denn,  wie  immer  wieder  von  den  verschiedenen  Autoren  hervorgehoben 
wird.  Einflüsse,  welche  die  Sexualentwicklung  in  eine  abgeartetc  Richtung 
drängen  könnten,  dürften  wohl  in  keines  Menschen  Leben  vermißt  werden. 
Warum  also  der  eine  zum  Sadisten  Avird,  der  andere  nicht,  bleibt  so 
unerklärt  wie  zuvor.  Wie  gesagt,  schon  die  Beeinflußbarkeit  in  einer 
l>estimmten  Richtung  setzt  ein  dispositionelles,  konstitutionelles  Moment 
voraus.  Vorderhand  bewegen  wir  uns  hier  noch  völlig  im  Dunkel.  Ob 
und  wie  hier  eine  Mehrung  unserer  Einsicht  möglich  ist,  bleibe  dahin- 
gestellt. 

Zum  Schlüsse  dieses  Abschnittes  noch  einige  Bemerkungen  über  die 
Sexualität  der  Geisteskranken.  Man  muß  dabei  unterscheiden 
zwischen  den  tatsächlichen,  deskriptiv  faßbaren  oder  aus  dem  Verhalten 
der  Kranken  heraus  zu  verstehenden  psychosexualen  Abläufen  und  den 
genetischen  Überlegungen,  welche  im  Sinne  psychoanalytischer  Gedanken- 
gänge in  den  psychotischen  Symptomen  Auswirkungen  einer  veränderten 
Sexualität  sehen  wollen. 

So  behauptet  z.  B.  neuerdings  0.  Groß  (/ig),  daß  die  sadistische  Sexuali- 
tät der  Paranoia,  die  masochistische  der  Schizophrenie  zugnuide  liege, 
während  Freud  u.  a.  die  Anschauung  vertreten  haben,  die  Paranoia  er- 
wachse auf  dem  Boden  homosexueller  Tendenzen  usw.  Das  sind  gene- 
tische Spekulationen,  welche  die  Psychopathologie  interessieren  mögen, 
zur  Vertiefung  eines  psychologischen  Verständnisses  m.  E.  aber  nichts  bei- 
tragen. 

Es  ist  ungemein  schwierig,  sich  ein  Bild  vom  Sexualleben  der  Psycho- 
tischen zu  machen,  insbesondere  dann,  wenn  wir  den  Eindruck  einer  Ab- 
weichung vom  Normalen  gewinnen.  Ist  es  schon  nicht  einfach,  vielleicht 
in  vielen  Fällen  überhaupt  unmöglich,  sich  das  psychotische  Erleben  auf 
anderen  Gebieten  anschaulich  zu  vergegenwärtigen,  so  entzieht  sich  das- 
jenige innerhalb  der  psychosexualen  Sphäre  l"»egreifl icherweise  —  ist  es 
ja  schon  im  Normalen,  ja  in  ims  selbst  so  ungemein  schwer  zu  fassen  — 
um  so  mehr  imserem  Blicke.  Sicherlich  gibt  es  zahlreiche  Fälle,  in  welchen 
von  einer  Abänderung  psychosexualen  Erlebens  nicht  gesprochen  werden 
kann.  Es  partizipieren  die  es  begleitenden,  sich  daran  knüpfenden  Phäno- 
mene, Gefühle,  Urteile  usw.  natürlich  an  der  Störung,  welche  die  Psychose 
für  die  Gesamtpersönlichkeit  mit  sich  bringt,  das  Grundphänomen  aber 
ist  dasselbe  wie  beim  Normalen  geblieben.  Anderseits  sehen  war  Ab- 
änderungen rein  quantitativer  Art,  wenn  man  so  sagen  darf,  Herabsetzun- 
gen und  Steigerungen  des   Begehrens,  eine  Verflachung  der  Objektwahl, 


444  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

indem  die  individualisierenden  Ansprüche  immer  geringer  werden  u. 
dgl.  m.  Schließlich  aber  auch  begegnen  \At  Äußerungen,  die  auf  eine 
grundsätzHche  Wandlung  des  Erlebens  hinweisen.  Die  bei  Schizophrenen, 
aber  auch  bei  anderen  Geisteskranken  häufig  vorkommenden,  vielleicht 
auf  Abänderungen  der  Geschlechtsempfindung  zurückzuführenden  Aus- 
sprüche wurden  schon  einleitend  erwähnt.  Auch  der  Sexualaffekt  scheint 
von  Grund  auf  verändert  sein  zu  können.  Freilich,  in  welcher  Weise, 
ist  nicht  zu  sagen.  Soviel  ich  sehe,  hat  man  auch  dieser  Frage  deskrip- 
tiver Psychopathologie  bislang  recht  wenig  Aufmerksamkeit  zugewendet. 

Eine,  wenn  man  will,  ebenfalls  hierher  zu  zählende  Abartimg  soll 
später  in  dem  Kapitel  über  Liebe  zur  Sprache  kommen,  nämlich  die  Disso- 
ziation zwischen  „Sinnlichkeit"  und  ,, Erotik",  wie  Löwenfeld  (76)  sagt. 
Es  trifft  aber  diese  Variationsmöglichkeit  gleichermaßen  die  normale 
wie  die  inverse  oder  perverse  Sexualität  und  kann  erst  in  einer  Ebene 
des  Erlebens  zustande  kommen,  in  der  mit  dem  unmittelbar  Sexualen 
noch  andere  Erlebensmomente  eine  innige  Verbindung  eingegangen  haben. 

Kurz  ist  schließlich  die  Frage  zu  streifen,  welche  Stellung  denn 
die  sexual  Abgearteten  zu  ihrer  Sexualität  einnehmen. 

Man  hört  gelegentlich  von  solchen  Persönlichkeiten  den  Ausspruch, 
sie  Avürden  sich  als  vollkommen  normal  vorkommen,  ihre  Art  sexualer 
Tendenzen  für  völlig  selbstverständlich  ansehen,  wenn  sie  nicht  wüßten, 
daß  andere  Menschen  anders  empfänden,  daß  das  Strafgesetz  ihr  Ver- 
halten bedrohe  usw.  Ich  bin  nicht  ganz  von  der  durchwegigen  Aufrichtig- 
keit dieser  Äußerungen  überzeugt.  Es  zeigen  ja,  wie  angeführt  wurde, 
die  Invertierten  trotz  allem  vielfach  eine  deutliche  Tendenz  auf  das  andere 
Geschlecht,  ebenso  die  meisten,  die  sich  ausschließlich  in  autoerotischem 
Gehaben  gefallen.  Und  ähnliches  gilt  für  die  anderen  Abartungen.  Hält 
man  daneben,  daß  viele  dieser  Menschen  unter  ihrer  sexualen  Beschaffen- 
heit leiden,  die  sie  oft  genug  zum  Arzt  führt,  und  zwar  nicht  nur 
aus  sozialen  imd  moralischen  Gründen  leiden,  sondern  deshalb,  weil  sie 
irgendwo  in  sich  doch  den  Trieb  auf  das  normale  Sexualobjekt  und  das 
normale  Sexualziel  finden  und  diesem  sozusagen  nur  der  Weg  versperrt 
ist,  so  scheint  mir,  daß  die  überwiegende  Mehrzahl  bei  völliger  Ehrlich- 
keit —  vor  allem  gegen  sich  selbst  —  ein  Wissen  um  die  Abartung  hätte, 
oder  besser  gesagt,  ihre  Sexualität  immittelbar  als  abgeartet  erleben  \vürde. 

Das  weitere  Verhalten  hängt  natürlich  von  einer  Reihe,  in  erster  Linie 
charakterologischen,  aber  auch  äußeren  Momenten  ab.  Viele  ringen  mit 
ihren  Trieben,  sind  im  Grunde  Sadisten,  Homosexuelle  usw.,  ohne  je 
diesen  Tendenzen  einen  Einfluß  auf  ihre  Handlungsweise  einzuräumen. 
Viele  leben  sozusagen  nach  beiden  Seiten,  abgeartet  imd  normal,  neben- 
einander, nacheinander.  Eine  nicht  kleine  Zahl  verfällt  durchaus  der 
Abartung,  aus  Widerstandsschwäche,  die  selbstverständlich  eine  relative 
ist,  zu  messen  an  der  Stärke  des  Triebes.  Freilich,  wie  kann  man  je 
entscheiden,  wie  stark  ein  Trieb  sei,  wie  stark  der  Wille  sein  könnte. 

Die  Kämpfer  und  Sieger  erleben  oftmals,  daß  ihre  in  der  Wirklich- 
keit überwundenen  Tendenzen  in  Träumen  und  Phantasien  zum  Diirch- 
bruch  kommen. 


DIE  ABARTUNGEN  445 


Ich  erwähnte  schon,  daß  auch  die  Abartung  in  unechter  Weise, 

als  Spiel,  als  Pose  auftreUMi  kann.  Zuweilen  ist  sie  nur  das;  es  kann 
einmal  —  ich  kenne  solche  Fälle  —  in  irgendeinem  Kreise  gewissermaJjen 
Mode  werden,  sich  homosexuell  zu  genieren  oder  als  Sadist.  Solche 
Individuen  werden  wohl  meist  den  Weg  zur  normalen  Betätigung  zurück- 
finden. Es  ist  dann,  »ie  in  dem  Falle  des  SadisniiLS  als  Ausdruck  der 
prometheischcn  Auflehnung,  die  betreffende  .Vbartung  nur  S^Tnbol  für 
eine  bestimmte  Einstellung  der  Gesamtmentalität,  hier  zumeist  eine  Nei- 
gung zum  Anderssein,  Besonderssein,  einer  Art  Ästhetentum.  Solche  Indi- 
viduen vermehren  dann  die  Zahl  der  echt  Abgearteten;  ich  bin  über- 
zeugt, daß  sich  unter  den  Lesern  der  ,, Sonne"  —  Organ  des  Reichsfreund- 
schaftsbundes der  Homosexuellen,  das  einer  Notiz  der  ,, Deutschen 
Medizinischen  Wochenschrift"  zufolge  eben  gegründet  >vurde  —  zahl- 
reiche solche  Mitläufer  befinden   werden. 

Aus  diesem  Grunde,  und  weil  Sensationslust  mehr  als  einen  in  eine 
Bahn  locken  kann,  die  ihn  zu  Schwierigkeiten  und  vielleicht  Lebens- 
unfähigkeit führt,  hat  Isserlin  (ög)  vollkommen  recht,  wenn  er  sich 
energisch  gegen  Blühers  (i3,  i4)  Aufstellungen  wendet,  deren  innere 
Haltlosigkeit  jedem  kritischen  Leser  sich  aufdrängen  muß,  die  aber  durch 
die  Art  der  Darstellung  auf  Jugendliche  und  Unerfahrene  mehr  als  er- 
wünscht einwirken  mögen.  Sie  beruhen  übrigens  auf  der,  wie  noch  ge- 
zeigt werden  wird,  irrigen  Annahme,  daß  alle  .Arten  von  Liebesbeziehungen, 
ja  von  Beziehungen  zvWschen  Menschen  überhaupt,  letztlich  in  der  Sexual- 
sphäre gründen.  Sie  seien  daher  hier  nur  genannt,  ohne  weiter  behandelt 
zu  werden. 

Ob  die  Abartungen  Degenerationserscheinungen  seien  oder  nicht,  ist 
wesentlich  eine  Frage  der  Wertung,  auf  die  ich  nicht  eingehen  will. 
Mißt  man  den  Wert  des  Menschen  an  seinem  Anteil  an  der  Fortpflanzung 
und  Vermehrung  der  Rasse,  des  Volkes,  so  sind  sie  es  natürlich.  Mißt 
man  ihn  an  sonstigen  Leistungen,  so  müssen  sie  es  nicht  sein,  sowenig 
der  asexuelle  oder  sexual  unbedürftige  Mensch  darum  minderwertig  sein 
muß. 


EROTISCHE  PHANTASIEN,  TRÄUME, 
HALLUZINATIONEN 

Wie  andere  Wünsche,  Gedanken,  Erlebnisse  auch,  spielen  erotische 
Elemente  im  Phantasieleben  ihre  Rolle.  Insoweit  würde  eine  besondere 
Behandlmig  der  erotischen  Phantasien  eigentlich  keine  Berechtigung  haben. 
Dringt  man  indes  in  den  Inhalt  und  wohl  auch  den  Mechanismus  und  ^ 
die  Form  dieser  Phantasien  etwas  tiefer  ein,  so  scheint  sich  heraus- 
zustellen, daß  ihnen  in  mancherlei  Hinsicht  besondere  Merkmale  eignen, 
die  sie,  wenn  schon  nicht  gegen  alle,  so  doch  die  Mehrzahl  der  sonstigen 
Phantasien  kennzeichnen  und  die  einer  näheren  Betrachtung  wohl  wert 
sind. 

Schon  der  Umstand,  daß  die  erotische  Phantasie  einen  besonderen, 
in  gewissem  Sinn  als  exzeptionell  zu  bezeichnenden  somatischen  Zustand 
mit  einschließt,  hebt  sie  aus  der  Gesamtmasse  der  übrigen  Phantasie- 
erlebnisse heraus.  Mit  Vorbedacht  wähle  ich  den  imbestimmten  Ausdruck, 
es  „schließe  die  Phantasie  den  körperlichen  Zustand  mit  ein",  um  über 
die  wechselseitigen  Abhängigkeiten  nichts  zu  präjudizieren.  Es  wird 
von  diesen   alsbald  einiges   zu   sagen   sein. 

Phantasieerlebnisse,  mögen  sie  nun  dauernd  als  solche  bewußt  bleiben 
oder  den  mehr  oder  weniger  ausgeprägten  Wirklichkeitscharakter  des 
Tagtraumes  annehmen,  sind  doch  m.  E.  in  der  überwiegenden  Mehrzahl 
der  Fälle  dadurch  ausgezeichnet,  daß  die  in  ihnen  erlebten  Gefühle 
ebenfalls  der  Sphäre  des  Phantasierten  angehören,  Phantasiegefühle  sind. 
Nur  in  relativ  seltenen  Momenten  erlangt  ein  solches  Phantasiegefühl 
durch  einen  hier  nicht  zu  untersuchenden  Umwandlungsprozeß  den  Rang 
eines  echten  Erlebnisses,  so  daß  auch  deutliche  Nach^virkungen  im  nicht 
mehr  phantasiemäßigen  Erleben  zustande  kommen;  etwa  die  gehobene 
Stimmung,  die  ein  Tagtraum,  in  dem  die  Erlangung  einer  erstrebten 
sozialen  Stellung  vorgespiegelt  wurde,  dauert  an,  oder  die  gereizte  Stim- 
mimg, in  der  sich  der  Träumende  gegen  irgendeine  Person  befunden 
hat,  bewirkt,  daß  er  dieselbe  nunmehr  auch  in  der  Wirklichkeit  brüskiert 
u.  dgl.  m.  Im  allgemeinen  aber  scheinen  mir  die  Affekte  und  insbesondere 
ihre  körperlichen  Begleiterscheinungen  auch  in  recht  lebhaften  Tag- 
träumen  wenig  ausgeprägt  zu  sein,  doch  immer  noch  den  Charakter  des- 
Vors teilungsmäßigen  beizubehalten  i. 

Anders  aber  steht  es  mit  den  Phantasien  sexuellen  Inhaltes.  Sie  gehen 
wohl  immer  mit  einem  real  erlebten  Sexualaffekt  einher;  sie  stammea 
entweder   aus  einem   solchen,   oder  sie   führen   in   einen   solchen  hinein. 


^  Damit  soll  über  die  Beziehungen  von  Vorstellung  und  Wahrnehmung  nichts 
ausgemacht  sein.  Die  Ausdrucksweise  obigen  Passus  ist  wohl  die  üblich»;  inwieweit  ich 
auch  die  übliche  Auffassung  des  Problems  teile,  gehört  nicht  hierher. 


EROTISCHi;   I'IUNTASIEN.  TRÄUME.   HALLUZINATIONEN  447 


Diese  Beziehungen  sind  aber  keine  ganz  einfachen,  auch  in  vioh'ii  Fällen 
nicht   ohne   woilon^s   uiul    /uwcilon    auch    nie    vollkonirnon    durchsiclilig'. 

Soweit  meine  Erfahrung  reicht,  scheint  es  liier  zwei  extreme  Ty|wn 
zu  geben,  zwischen  denen  natürlich  allerhand  t'Jbergänge  vorkommen. 
Auch  sind  diese  Typen  keineswegs  so  zu  denken,  dali  etwa  ein  und  der- 
selben Person  nur  ein  Typus  eigentümlich  wäre;  vielm<*hr  können  die 
Phantasiei;  eines  Individuums  b<nden  Typen  angehören. 

Der  eine,  wie  es  scheint,  beträchtlich  häufigere  Typus  ist  der,  daß 
(Uo  Phantasie  durch  eine  spontan  oder  anscheinend  spontiui  oder  im 
Anschluß  an  ein  aktuelles  Erlebnis  bzw.  an  eine  Erinnerung  auftretende 
sexuelle  Erregung  herbeigeführt  wird.  Die  nach  irgendeiner  Lösung 
drängende  Sexualerregung  gibt  den  Boden  ab,  auf  dem  die  erotische 
Phantasie  erwächst.  Im  Ablauf  dieser  Phantasie  gibt  es  unzählige 
Varianten,  nicht  nur  was  den  —  später  noch  zu  besprechenden  — 
Inhalt  anlangt,  sondern  auch  hinsichtlich  der  Rolle,  welcher  den  Phan- 
tasieerlebnissen in  der  Erledigung,  „Abfuhr",  der  Sexualerregung  zukommt. 
Wie  es  denn  überhaupt  unmöglich  ist,  den  Formenreichtum  des  Phantasie- 
erlebens —  vielleicht  überhaupt,  gewiß  innerhalb  der  erotischen  Sphäre  — 
zu  erschöpfen,  so  entzieht  sich  auch  hier  die  Mannigfaltigkeit  des 
Materials  einer  umfassenden  Darstellung  und  Klassifizierung;  ganz  ab- 
gesehen davon,  daß  unsere  Kenntnisse  gewiß  noch  außerordentlich  lücken- 
hafte sind. 

Wiederum  scheint  es  mir  hier  innerhalb  dieses  Typus  zwei  Extreme 
der  Verlaufsformen  zu  geben.  In  dem  einen  Fall  erzwingt  der  Ablauf 
der  somatischen  Prozesse  eine  entsprechende  Gestaltung  der  Phantasie- 
erlebnisse, in  dem  anderen  Fall  scheinen  sie  mehr  selbständig  eine  die 
Erregimg  steigernde  und  zur  Lösung  führende  Funktion  auszuüben. 

Solche  Personen  sind  oft  überhaupt  nicht  imstande,  willkürlich  erotische 
Phantasien  zu  produzieren;  sie  sind  sozusagen  den  Launen  ihrer  körper- 
lichen Sexualität  ausgeliefert. 

Der  zweite  Typus  ist  durch  die  —  anscheinend  recht  seltenen  — 
Fälle  repräsentiert,  in  welchen  den  Sexualphantasien  durchaus  eine  primäre 
Stellung  zukonunt  und  sie  erst  die  somatische  sexuelle  Erregung  nach 
sich  ziehen.  Ja,  es  kommt  sogar  vor,  daß  der  Betreffende  auf  alle 
Weise  eine  solche  körperliche  Erregung  herbeizuführen  trachtet,  weil 
die  erotischen  Phantasien  ihn  quälen  und  er  sie  erst  durch  den  Ablauf 
des  somatischen  Vorganges  loswerden  kann.  So  berichtete  mir  ein 
2/ijähriges  Mädchen,  sie  werde  zuw^eilen  von  Gedanken,  Wünschen, 
Phantasien  sexuellen  Inhaltes  überfallen,  die  sie  aufregten  und  beun- 
ruhigten, ihr  Denken  vollständig  in  Anspruch  nähmen ;  dabei  fehle 
jegliche  körperliche  sexuelle  Erregung.  Sie  greife  vielmehr  zu  allerlei 
Hilfsmitteln  und  Manipulationen,  um  diesen  körperlichen  Zustand  herbei- 
zuführen. Wenn  einmal  eine  Erregung  gewissen  Grades  eingetreten  sei, 
so  träte  sozusagen  eine  Verschmelzung  der  somatischen  und  psychischen 
Abläufe  ein,  die  dann  geraeinsam  im  Orgasmus  ihre  Beendigung  fänden. 
Fast  niemals  aber  kam  es,  nach  den  Angaben  der  Referentin,  zu  einem 
spontanen  Auftreten  der  Sexualerregung  durch  die  Phantasien  allein, 
ohne    Mithilfe    von    körperlich    erregenden    Eingriffen.     Nun    mag    das 


ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 


448 _^___ 

ein  seltener  und  wdrklich  extremer  Fall  sein ;  es  handelt  sich  dabei  überdies 
um  eine  zweifellos  von  der  Norm  immerhin  einigermaßen  abweichende 
Persönlichkeit. 

Häufiger  aber  scheinen  Fälle  zu  sein,  die  diesem  eben  erwähnten  doch 
recht  nahe  stehen.  Das  sind  Individuen,  bei  welchen  die  zunächst  auf- 
tretenden erotischen  Phantasien  auch  nicht  zur  Erledigung  im  Sexual- 
affekt führen,  sondern  die  gezvmngen  sind,  gewisse,  meist  typisch  wieder- 
kehrende und  geläufige  Vorstellungen  zu  Hilfe  zu  rufen,  um  die  somati- 
schen Phänomene  auftreten  zu  lassen.  Ein  2 2 jähriger  Student  berichtete, 
daß  er  öfters  von  einer  unbestimmten,  seiner  Angabe  nach  rein  psychischen 
sexuellen  Stimmung  ergriffen  werde  —  die  Ausdrucksweise  ist  die  des 
Betreffenden  — ,  welche  ihn  aufrege,  die  aber  nie  zu  einer  Lösung 
komme,  wenn  er  nicht  eine  bestimmte,  sadistisch  gefärbte  Phantasie  usw., 
immer  die  gleiche,  mllkürlich  damit  verknüpfe. 

Eine  Mittelstellung  nehmen  vielleicht  jene  Fälle  ein,  bei  welchen  eine 
körperliche  sexuelle  Erregung  zunächst  ohne  begleitende  Phantasien  sich 
einstellt  und  bei  welchen  —  wiederum  meist  für  das  Individuum 
typische  —  Phantasien  mllkürlich  wachgerufen  werden,  um  die  Erregung 
zu  steigern  und   der   Lösung  entgegenzuführen. 

Umgekehrt  kommt  es  häufig  vor,  daß  manche  Phantasien  immer 
wieder  und  wieder  vor  die  Augen  geführt  werden  und  auf  diesem  W^e 
ein  allmähliches  Ansteigen  der  körperlichen  Erregung  bewirkt  wird. 
Für  die  Psychologie  dieser  Vorgänge  ist  es,  nebenbei  bemerkt,  ohne 
Belang,  ob  die  Erledigung  der  Sexualspannung  allein  auf  dem  Wege 
des  Phantasieerlebnisses  oder  unter  Zuhilfenahme  körperlicher  Mani- 
pulationen, in  erster  Linie  masturbatorischer,  oder  gelegentlich  auch 
durch  den  Geschlechtsverkehr  erfolgt. 

Es  Avürde,  glaube  ich,  zu  weit  führen,  hier  noch  weitere  Beispiele  von 
Varianten  dieser  Zusammenhänge  beizubringen.  Es  mag  das  Angemerkte 
genügen,  um  auf  die  Polymorphie  dieser  Abhängigkeiten  hinzuweisen, 
die   weiter   aufzuklären   eine   vielleicht   nicht   undankbare   Aufgabe   wäre. 

Natürlich  gibt  es  Mischformen,  bei  welchen  es  gar  nicht  möglich 
ist  zu  entscheiden,  ob  der  Phantasie  oder  der  körperlichen  Erregimg 
die  Rolle  des  primären  Momentes  zukommt,  bei  denen  beide  anscheinend 
vollkommen  simultan  auftreten.  Es  dürfte  dies  für  die  überwiegende 
Mehrzahl  der  Fälle  gelten. 

Die  Anlässe  im  weiteren  Sinne  zur  erotischen  Phantasie  sind  ebenfalls 
mannigfacher  Art.  Genau  genommen  kann  man  hier  von  einem  Anlaß 
nur  in  jenen  Fällen  sprechen,  in  welchen  die  somatische  Erregung  sich 
erst  im  Verlaufe  der  Phantasie  einstellt.  Vielfach  kommt  dabei  der 
Phantasie  die  Aufgabe  —  bewußt  oder  unbewußt;  ich  glaube,  meist 
ersteres  —  zu,  die  ihres  Lustcharakters  wegen  gesuchte  Erregung  herbei- 
zuführen. 

Im  übrigen  fallen  natürlich  die  Anlässe  zur  erotischen  Phantasie- 
tätigkeil vielfach  mit  den  schon  früher  besprochenen  Anlässen  für  das 
Auftreten  des  Sexualaffektes  überhaupt  zusammen. 

Eine  Zwischenbemerkung.  Die  erotische  Phantasie  ist  ein  Erlebnis 
der  objektiven  oder  subjektiven  Einsamkeit;    wobei  ich  unter  subjektiver 


EROTISCHE   PHANTASIEN,  TRAUME,  HALLUZINATIONEN 449 

Einsamkeit  das  Sichallcinfühlcn  auch  xinter  Menschen,  den  Abschluß 
von  der  Umgebung  vei"standcn  haben  will,  der  zuweilen  als  ,, Geistes- 
abwesenheit" bemerkt,  sehr  häufig  auch  übersoiion  wird,  sich  auch  gar 
nicht  in  einem  besonderen  Gehaben  auszudrücken  braucht.  Auch  hier 
sind  die  Beziehungen  offenbar  verschiedener  Art.  Zuweilen  scheint  diese 
subjektive  Einsamkeit  Folge  des  erotischen  Tagtramnes  zu  sein,  zuweilen 
scheint  sie  ihm  voranzugehen  imd  nur  sein  Auftreten  zu  begünstigen. 
Freilich  mrd  man  dabei  immer  der  Möglichkeit  gedenken  müssen,  daß 
unlxMiierkto  sexuelle  Einstellungen  schon  die  Herstellung  der  Einsamkeit 
veranlassen.  Ferner:  die  erotische  Phantasie  ist  die  Folge  der  physischen 
oder  psychischen  Unmöglichkeit,  den  Phantasieinhalt  selbst  oder  ein 
ilim  adäquates  Sexualerleben  zu  realisieren.  Über  den  Sinn  der  Be- 
stinmnung  „adäquat"  >vird  später  noch  zu  reden  sein.  Einsamkeit  und 
Unmöglichkeit  der  Realisierung  sind  sozusagen  negative  Anlässe  der 
Phantasie. 

Es  ist  dadier  begreiflich  imd  ja  auch  allgemein  bekannt,  daß  die  eroti- 
sche Phantasie  dem  jugendlichen  Alter,  vor  Ermöglichung  des  Geschlechts- 
verkehres, eigentümlich  ist  sowie  allen  jenen,  die  sich  in  analoger  Lage 
befinden,   was   weiterer  Ausführung   nicht  bedarf. 

Bemerkenswert  erscheint  folgender  Mechanismus.  Während  es  bei  ande- 
ren Affekten  kaum  vorkommen  dürfte,  daß  ein  zu  ihrer  Auslösung  geeig- 
netes Erlebnis  in  dem  Augenblicke  seines  Auftretens  sozusagen  an  der 
Affekterzeugung  verhindert,  zu  ihr  gewissermaßen  nicht  zugelassen  wird, 
um  erst  später  hervorgeholt,  reproduziert  und  zur  Herbeiführung  des 
affektiven  Zustandes  verwendet  zu  werden,  ist  dies  in  der  Produktion 
erotischer  Phantasien  ein  imgemein  häufiger,  man  kann  fast  sagen,  all- 
täglicher Vorgang.  Es  ist  dies  wohl  zu  unterscheiden  von  jenen  Fällen, 
in  denen  ein  affektauslösendes  Erlebnis  in  der  Erinnerung  neuerdings 
den  Affekt,  unter  Umständen  sogar  in  verstärktem  Maße,  auftreten  läßt. 
Etwa:  man  ärgert  sich  über  irgendein  Vorkommnis,  und  wenn  man 
später  sich  desselben  wieder  erinnert,  ärgert  man  sich  noch  einmal. 
In  solchen  Fällen  war  aber  allemal,  auch  im  Augenblick  des  ersten 
Erlebens,  der  betreffende  Affekt,  also  z.  B.  der  Ärger,  da,  auch  wenn  man 
ihm  nicht  freien  Lauf  lassen  konnte.  Ferner  ist  auch  nicht  jenes  Ver- 
halten gemeint,  in  welchem  ein  Affekt  bei  der  Erinnerung  erst  auftritt, 
weil  mmmehr  erst,  im  Laufe  des  Überdenkens,  eine  Seite  des  Erlebens 
hervortritt,  bemerkt  wird,  welche  affektauslösend  zu  wirken  vermag. 
Es  kommt  nicht  so  selten  vor,  daß  einem  erst  später  klar  mrd,  daß 
man  sich  über  ein  bestimmtes  Ereignis,  eine  Äußerung  eines  Dritten  z.  B., 
eigentlich  hätte  ärgern  sollen,  weil  sie  so  oder  so  gemeint  war,  und 
sich  dann  auch  wirklich  ärgert.  Alles  dieses  gibt  es  natürlich  auch  auf 
sexualpsychologischem   Gebiete.     Davon    aber    ist   hier    nicht    die    Rede. 

Es  verläuft  das  hier  gemeinte  Erlebnis  ungefähr  so:  Jemand  liest 
einen  Roman  und  trifft  darin  auf  eine  Stelle,  die  an  und  für  sich  geeignet 
scheint,  als  Anknüpfungspunkt  für  erotische  Phantasien  oder  auch  unver- 
ändert als  deren  Inhalt  zu  fungieren.  Dies  wird  sozusagen  nur  im  Vorüber- 
lesen gemerkt,  ohne  daß  es  zur  Produktion  einer  Phantasie  kommt,  und 
sehr  oft  anscheinend  auch,  ohne  daß  ein  Sexualaffekt  selbst  andeutungSr- 

29  Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


450  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

weise  anklingt.  Irgendwann  einmal  wdrd  dann  diese  Romanszene  hervor- 
geholl und  zum  Anlaß  genommen,  eine  erotische  Phantasie  zu  entwickeln 
und  den  Sexualaffekt  zu  erzeugen.  Insbesondere  jene  Individuen,  welche 
die  sexuelle  Erregung  be>vußt  aufsuchen  und  —  sei  es  aus  mangelnder 
Erfahrung  oder  aus  sonst  irgendwelchen  Gründen  —  unmittelbar  körper- 
lich erregende  Mechanismen  meiden,  bedienen  sich  dieses  Verfahrens. 
Begreif hcherweise  spielt  es  daher  auch  in  der  Sexualpsychologie  der 
Jugendlichen  eine  nicht  unerhebliche  Rolle,  die  aber  keineswegs  auf  diese 
Altersstufe  beschränkt  ist. 

Selbstverstiindlich  bleibt  immer  die  Möglichkeit  offen,  eine  im  Augen- 
blicke des  aktuellen  Erlebens  unbe\vußt  ablaufende  sexuale  Erregung 
anzunehmen,  die  dann  eben  in  der  Erinnerung  manifest  werde.  Beweisen 
läßt  sich  solche  Behauptung  nicht,  es  sei  denn,  daß  man  der  psycho- 
analytischen Methode  eine  Beweiskraft  zuerkeimt,  die  ich  nicht  anzu- 
erkennen in  der  Lage  bin.  Aber  auch  im  Falle,  daß  die  Dinge  tat- 
sächlich so  lägen,  schiene  mir  der  skizzierte  Mechanismus  immer  noch 
sich  aus  den  sonstigen,  ähnlichen  herauszuheben. 

Ganz  besonders  vielgestaltig  ist  nun  der  Inhalt  der  erotischen  Phantasien. 
Bei  jenen  Individuen,  die  den  Geschlechtsverkehr  schon  kennengelernt 
haben,  ist  der  Inhalt  sehr  oft  —  aber  keineswegs  immer  —  durch  die 
Erinnerung  an  einen  konkreten  Sexualakt  gebildet.  Beispiel:  Sexual- 
phantasien in  der  Trennung.  Dabei  ist  die  Phantasieleistung  eine  relativ 
geringe. 

Andere  schon  steht  es  mit  jenen  Indinduen,  welche  zwar  den  Sexual- 
akt erfahren  haben,  ihn  aber  in  der  Phantasie  mit  einer  anderen  Person 
vollziehen,  als  es  jene  war  oder  waren,  welche  im  realen  Erleben  den 
Partner  abgaben.  Dieser  Substitutions Vorgang  erfordert  schon  einen  be- 
trächtlicheren Aufwand  produktiver  Phantasie.  Es  verdient  angemerkt 
zu  werden,  daß  —  was  ebenfalls  sattsam  bekannt  ist  —  diese  Phantasie 
auch  während  des  effektiven  Geschlechtsverkehres  mit  einem  ungeliebten 
oder  unbegehrten  Partner  vorkonmit,  wobei  dann  freilich  die  Bewußtheit 
des  Aktes  eine  größ<ere  ist  als  sonst. 

Diese  Unterschiede  erstrecken  sich  auf  das  „Sexualobjekt".  Es  gibt 
deren  mehr.  Die  ganze  Vielgestaltigkeit  sexuellen  Erlebens  spiegelt  sich 
begreiflicherweise   in  den    Inhalten    der  erotischen    Phantasien   mder. 

Es  gibt  Menschen,  für  welche  das  phantasierte  Sexualobjekt  lange  Zeit 
hindurch  immer  dasselbe  bleibt.  Dabei  kann  es  eine  wirklich  existierende 
Gestall  oder  ein  reines  Phantasieprodukt  sein.  Eine  Zmschenstellung 
nehmen  jene  Fälle  ein,  bei  welchen  als  Sexualobjekt  eine  zwar  gesehene, 
vielleicht  auch  gekannte  Persönlichkeit  fungiert,  die  aber  dem  Phanta- 
sierenden im  ^virklichen  Leben  ganz  ferne  steht.  Es  gibt  z.B.  Schauspieler- 
schwärmereien von  jungen  Mädchen,  wo  der  ,,. Angebetete"  auch  den  Partner 
der  erotischen  Phantasie  abgibt;  vielfach  allerdings  führt  solche  Schwär- 
merei, auch  wo  sie  zweifellos  erotischen  Charakter  hat,  nicht  so  weit. 
Bemerkenswert  ist  vielleicht,  daß  dem  phantasierten  oder  in  der  Phantasie 
vergegenwärtigten  Sexualobjekt  eine  auffallende  „Treue",  wenn  man  so 
sagen  darf,  gewahrt  ^vi^d.  Auch  Menschen,  welche  in  ihrem  sexuellen 
Begehren  und  auch  in  der  Befriedigung  desselben  mit  den  Objekten  viel- 


1 


nROTiscHi:  i'iixM  \^ii:n.  riuiMi:.  hm.ij /.iwhonen 451 

fach  NMvhseln,  halten  oft  in  iliron  IMianlasien  an  don  altgowohnlx^  Ubjektcn 
xind  —  wie  \>'ir  gleich  hören  werden  —  an  den  Zielen  fest,  so  tiaß 
OS  zu  einer  Fixienmg  ganz  Itcsliuiinlcr,  für  das  Individuum  charakteristi- 
scher   IMiantasioszenen    oder    Szenen  folgen    koninien    kann. 

Der  extreme  (InMizfall  des  phantasierten  Sexualobjektes  ist  wohl  der 
Incubus  bzw.  Succubus.  In  den  ,,Nouvelles  magiqut^"  des  Kcmy  do 
Gourmonl    wird   solch    eine    Incubusphantasie    anschaulich    geschildert. 

Woher  dieses  Beharrungsvermögen  des  phantasierten  Sexualobjektes 
rülirt,  ist  eine  Frage  für  sich,  die  zweckmäßig  zusammen  mit  der  nach 
der  Konstanz  der  ganzen   Szenen  überhaupt  zu  behandeln   sein  wird. 

Hinsichtlich  des  Sexualobjektes  der  erotischen  Phantasien  finden  sich 
alle  Abartungen,  die  das  normale  oder  pathologische  Sexualleben  bietet: 
hetero-  und  homosexuelle  Phantasien,  Phantasien  sodomis tischen  Inhaltes; 
autoerotisohe  Phantasien  ohne  Beziehimg  auf  einen  Partner  scheinen 
ebenfalls  vorzukommen.  Sie  ^^'ürden  offenb<ir  unter  den  von  der  Psycho- 
analyse formulierten  Begriff  des  Narzißmus  fallen.  Für  den  Psychologen 
bieten  indes  diese  Varianten  deshalb  kein  besonderes  Interesse,  weil  ja 
die  Einstellung  des  Phantasierenden  zu  seinem  Objekt  im  Grunde  dieselbe 
bleibt,  welcher  Art  immer  dasselbe  sein  mag.  Es  wiederholt  sich  das, 
was  oben  schon  über  die  „Perversionen"  des  Sexuallebens  angemerkt 
werden  konnte. 

Dasselbe  gilt  für  das  „Sexualziel".  Jegliche  Form  sexueller  Befriedigung 
zunächst  kann  auch  in  der  Phantasie  erlebt  werden.  So  findet  man 
normal-heterosexuelle  imd  homosexuelle  Phantasien,  solche  exhibitionisü- 
schen  Charakters,  solche  mit  sadistischem  oder  masochistischem  Einschlag 
in  mehr  oder  weniger  deutlicher  Ausprägung  usw.  Sehr  häufig  besteht 
dabei  eine  auffällige  Diskrepanz  zwischen  dem  realen  und  dem  phanta- 
sierten Sexualleben,  eine  Tatsache,  auf  welche  die  Psychoanalyse  wiederholt 
hinge>viesen  hat,  die  sich  aber  auch  dem  Nichtpsychoanalytiker  durch- 
aus aufdrängt  und  ohne  jede  psychoanalytische  Technik  aus  den  spon- 
tanen Angaben  entnommen  werden  kann.  Ein  völliges  Auseinanderfallen 
des  Phantasielebens  und  des  l'ealen  Lebens  ist  vielleicht  nicht  allzu 
häufig".  Vielfach  findet  eine  Art  Kompromiß  derart  statt,  daß  die  Sexual- 
ziele der  Phantasie  auch  bei  der  realen  Sexualbefriedigung  mitklingen, 
daß  z.  B.  den  normalen  Geschlechtsverkehr  irgendeine  Phantasie  anderer 
Art  begleitet. 

Auch  die  phantasierten  Sexualziele  jener  Individuen,  welche  einen  kon- 
kreten Geschlechtsverkehr  noch  nicht  kennengelernt  haben,  weisen  einen 
großen  Formenreichtum  auf.  Es  scheint  dabei  die  ,, sexuelle  Aufklärung" 
eine  recht  untergeordnete  Bolle  zu  spielen.  Offenbar  genügt  auch  ein 
ausgebreitetes  theoretisches  Wissen  um  den  Vorgang  des  Geschlechts  Ver- 
kehres nicht,  um  ihm  die  für  die  Herbeiführung  der  gesuchten  Spannung 
und  Lösung  nötige  Durchschlagskraft  zu  verleihen. 

Entkleidungsszenen  spielen  unter  den  Phantasien  dieser  Menschen  eine 
große  Rolle.  Bei  jungen  Mädchen  scheint  die  Vorstellung  des  Sich- 
entkleidens  oder  auch  des  Entkleidetwerdens  durchaus  zu  überwiegen; 
fast  nie  scheint  die  Entkleidung  des  Mannes  vorzukommen.  Auch  diese 
Entkleidungsphantasien  sind  sehr  vielgestaltig.     Es  kann  tatsächlich  eine 

29* 


452  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ganze  Entkleidungsszene  erlebt  werden,  oder  die  Phantasie  setzt  sofort 
mit  dem  Bilde  des  Entkleidetseins  ein.  Die  phantasierte  Situation  ist  zu- 
meist die,  daß  das  Mädchen  sich  vor  einem  bestimmten,  sie  erotisch 
interessierenden  Mann  entkleidet.  Ich  kenne  aber  auch  Fälle,  bei  welchen 
der  Mann  zwar  als  gegenwärtig,  man  möchte  beinahe  sagen:  nur  gedacht 
wird,  seine  Persönlichkeit  aber  keine  weitere  Bedeutung  hat,  sozusagen 
nur  den  Mann  überhaupt  vertritt;  begreiflicherweise  kann  bei  solchen 
Individuen,  wenn  schon  das  Bild  des  Mannes  konkreter,  anschaulicher 
erlebt  wird,  sich  sehr  leicht  ein  Wechsel  der  Personen  vollziehen.  Viel- 
leicht kommt  es  auch  vor,  daß  die  Entkleidungsphantasie  allein,  ganz 
ohne  Beziehung  auf  einen  Zuschauer  —  der,  nebenbei  bemerkt,  natürlich 
bei  Homosexuellen  dem  gleichen  Geschlecht  angehört  — ,  als  vollwertiges 
Sexualerlebnis  auftritt.  Welche  Beziehungen  dabei  zu  jener  Einstellung 
obwalten,  welche  von  der  Psychoanalyse  als  „Narzißmus"  beschrieben 
wird,  bleibe  dahingestellt.  Ebensowenig  soll  uns  die  Frage  beschäftigen, 
inwieweit  hier  in  der  Breite  des  Normalen  etwa  exhibitionistische  Faktoren 
am  Werke  sind. 

Beim  Manne  bzw.  Jüngling  nimmt  die  Entkleidungsphantasie  zumeist 
die  Form  an,  daß  ein  weiblicher  Partner  entkleidet  wird  oder  sich  vor 
dem  Betreffenden  entkleidet.  Nur  d^r  passiv-homosexuell  Empfindende 
dürfte  sich  der  Phantasie  einer  Selbstentkleidung  vor  einem  anderen  hin- 
geben. Es  scheint  mir  aber  die  Entkleidungsphantasie  beim  weiblichen 
Geschlecht  häufiger  vorzukommen,  indem  zwar  die  Nacktheit  der  Frau, 
nicht  aber  die  Entkleidung  die  Hauptrolle  in  den  männlichen  Sexualphan- 
tasien spielt. 

Die  Gefühlsbetonung  dieser  Phantasien  ist  oft  eine  recht  komplizierte. 
Bei  der  Frau  wird  auch  das  Phantasieerlebnis  zuweilen  ebensosehr  als 
lustbringend  als  auch  als  peinlich  empfunden,  indem  die  Scheu  vor  der 
Entblößung  mitspricht.  Vielfach  allerdings  fehlt  den  Phantasien  dieser 
Neben  ton;  sie  werden  geradezu  deshalb  aufgesucht,  weil  in  ihnen  dem 
Individuum  Verhaltungsweisen  möglich  sind,  die  ihm  in  der  Wirklichkeit 
nicht  nur  aus  äußeren,  sondern  vornehmlich  aus  inneren  Hemmungen 
heraus  versagt  bleiben.  Femer  verdient  angemerkt  zu  werden,  daß  auch 
das  peinhche  Gefühlsmoinent  seinerseits  eine  Lustkomponente  mit  sich 
führen  kann,  wenn  man  will,  ein  masochistischer  Zug,  in  welchem  sich 
eine  gewisse  Freude  daran  ausspricht,  sei  es  als  Opfer  für  den  Geliebten 
die  Unannehmlichkeit  auf  sich  zu  nehmen,  sei  es,  weil  von  vornherein 
das  Erlebnis  „ambivalent"  ist.  Umgekehrt  enthält  die  männliche  Phan- 
tasie der  Entkleidung  der  Frau  durch  den  Mann  eine,  entsprechend  als 
sadistisch   zu  bezeichnende  Nuance. 

In  vielen  Fällen  genügt  diese  Phantasie  zur  Herbeiführung  nicht  nur 
der  sexuellen  Erregung,  sondern  auch  der  Lösung  derselben.  Weder 
erfälirt  die  phantasierte  Szene  eine  weitere  Ausgestaltung,  noch  muß 
es  zu  körperlichen  Eingriffen  kommen.  (Selbstverständlich  dient  oft 
genug  die  Phantasie  nur  dazu,  um  jenen  Grad  sexueller  Erregung  zu 
erzeugen,  der  die  Erreichung  der  Befriedigung  durch  autoerotische  Hand- 
lungen  ermöglicht.) 


I 


EROTISCHE  PHANTASIEN.  TRÄUME.  HALLUZINATIONEN 453 

So  berichtete  mir  ein  aajähripos  Mädchtm,  das  an  psychogcmni  .\ngslriislän(len 
z\v«-ifello»  sexuellen  Urspningt«*  litt,  dali  sie  zwar  oft  ihre  Phantasien  .lurcl»  maslur^ 
batorische  Manipulationen  abschließo,  aber  nicht  selten  auch  ohne  solche  lur  Befriedi- 
gung gelange.  LK<ii  Inlialt  bildete  stets  die  Szene  des  Sich-Entkleidens  vor  einem 
Manne  —  infoige  der  außerordentlich  anspreclibaren  Similichkeit  des  Mädchens  gewöhn- 
lich desjenigen,  den  sie  gerade  zuletzt  gesehen,  gesprochoüi  hatte.  Sie  hatte  nie  mil 
einem  Manne  verkehrt,  war  aber  über  das  Wesen  des  Geschlechtsaktes  theoretisch 
unterrichtet.  Einmal  übrigens  fand  sie  sozusagen  den  Mut,  ihre  Phantasie  zu  venvirk- 
lichen.  Sie  provozierte  oder  simulierte  —  schwer  zu  entscheiden  — ,  während  sie  sich 
im  Bade  befand,  einen  hysterischen  .VnfaJl,  so  daß  die  Umgebung  sie  für  schwer  erkrankt 
hielt,  und  fand  so,  wie  sie  selbst  nachträglich  mir  zugestand,  die  Gelegenheit,  tat- 
sächlich sich  unbekleidet  den  Blicken  eüies  Mannes,  des  zugezogenen  Arztes,  auszu- 
setzen.   Diese  wirklich  erlebte  Szene  verwob  sie  späterhin  mit  ihren  Entkleidungsphantasien. 

Oft  aber  schließen  sich  an  diese  Phantasien  oder  verbinden  sich  von 
vornherein  mit  ihnen  noch  weitere  Elemente.  Etwa:  die  Phantasie  der 
Berührung,  des  Kusses  u.  dgl.;  selten,  vielleicht  gar  nicht,  wie  gesagt, 
eine  Phantasie  des  tatsächlich  vollzogenen  Aktes.  Manchmal  begegnet 
man  zwar  Angaben,  die  zur  Auffassung  verleiten  könnten,  daß  dennoch, 
aus  dem  bloßen  Wissen  heraus,  ohne  den  Geschlechtsverkehr  tatsächlich 
erlebt  zu  haben,  derselbe  phantasiert  werde  oder  zumindest  eine  Phan- 
tasie auftrete,  die  den  Verkehr  darstellen  soll.  Man  könnte,  in  An- 
lehnung an  psychoanalytische  Gedankengänge,  daran  denken,  daß  un- 
bewußt gewordene,  verdrängte  infantile  Sexualerlebnisse,  so  der  Anblick 
des  Geschlechtsverkehres,  dafür  das  Material  abgeben.  Das  mag  sein; 
meine  Erfahrung  erlaubt  mir  nicht,  die  Entscheidung  zu  fällen.  Indes 
scheint  mir  zuweilen  doch  ein  etwas  anderer  Sachverhalt  vorzuliegen. 
Es  ist  nämlich  keine  eigentliche  Phantasie  des  Geschlechtsaktes,  die  den 
-\bschluß  bildet  und  die  Spannungslösimg  herbeiführt  oder  begleitet, 
sondern  nur  ein  mehr  weniger  unanschaulicher  Wunsch:  würde  ich  doch 
den  —  mir  im  übrigen  imbekannten  —  Geschlechtsakt  erleben,  welcher 
mir  volle  Befriedigung  gewähren  würde. 

So  gab  ein  26 jähriges  —  eines  organisch-peripheren  Nervenleidens  wegen  behan- 
deltes —  Mädchen  an,  sie  habe  in  Augenblicken  der  stärksten,  unmittelbar  zur  Lösung 
drängenden  geschlechtlichen  Erregung  den  Gedanken,  es  sollte  doch  wenigstens  ein 
Hund  kommen  und  sie  befriedigen.  Sie  bestritt  durchaus,  irgendeine  Phantasie  an- 
schaulichen Charakters  mit  diesem  Gedanken  zu  verknüpfen,  und  konnte  sich  auch  gar 
keine  konkrete  Vorstellung  davon  machen,  wie  diese  Befriedigung  eigentlich  vonstatten 
gehen    sollte. 

Es  darf,  diese  Einschaltung  ist  vielleicht  nicht  unzweckmäßig,  nicht 
Avundernehmen,  daß  die  hier  angezogenen  Fälle  überwiegend  Frauen  be- 
treffen. Es  rührt  dies  daher,  daß  man  von  jungen  Menschen,  in  den 
ersten  Jahren  nach  der  Pubertät,  außerordentlich  schwer  eingehendere 
Auskünfte  erhält,  nicht  nur,  weil  sie  eine  besondere  Scheu  an  den  Tag 
legen,  davon  zu  sprechen,  sondern  auch  deshalb,  w^edl  sie  zu  sehr  noch 
unter  dem  Eindrucke  der  Neuartigkeit  des  Sexualerlebens  stehen,  zu  wenig 
imstande  sind,  dazu  einigermaßen  objektiv  Stellung  zu  nehmen.  („Vigi- 
lantis  est,  somnium  narrare."  Seneca.)  Der  junge  Mann  aber  gelangt 
meist  recht  früh  zur  realen  Sexualerfahnmg,  deren  Erleben  und  vor 
allem  deren  leicht  erreichbare  beliebige  Wiederholung  die  erotischen  Phan- 
tasien in  einer  großen  Mehrzahl  von  Fällen  zurückdrängt,  fast  immer 
aber  die  lebendige   Erinnerung   an   die   Phantasieerlebnisse   der   vorange- 


454       ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 

gangenen  Jahre  boeinträchtigt.  Dagegen  sind  sehr  viele  Mädchen  gezwun- 
gen, ihre  Erotik  auch  in  reiferen  Jahren  ausschließlich  in  Phantasien  sich 
auswirken   zu  lassen. 

Während  die  Phantasien,  etwa  der  Entkleidung  oder  eines  irgendwie 
gestalteten  GeschlechUsverkehres,  eine  ziemlich  einfache  Struktur  aufweisen, 
gibt  es  anderseits  solche,  die  ungemein  kompliziert  aufgebaut  sind;  nicht 
nur  insofern,  als  die  phantasierte  Szene  eine  reichhaltige  ist,  sondern 
insbesondere  hinsichtlich  der  Rolle,  welche  der  Phantasierende  selbst 
dabei  spielt.  Es  ist  natürlich  unmöglich,  dieses  hiermit  aufgeworfene 
Problem  erschöpfend  zu  behandeln,  vor  allem  deshalb,  weil  dadurch  ein 
Eingehen  auf  die  verworrene  und  auch  noch  wenig  durchforschte  Frage 
nach  den  Weisen  des  Icherlebens  in  den  Phantasien  notwendig  \vürde. 
Von  der  Vielgestaltigkeit  und  Verflochtenheit  der  dabei  auftretenden  Ele- 
mente mag  zunächst  eine  Beobachtung  ein  Bild  geben. 

Es  handeil  sich  um  einen  niinmehr  27jährigen,  akademisch  gebildeten,  nicht  be- 
lasteten, und,  soweit  sich  dies  ermitteln  ließ,  auch  keineswegs  psychoneurotisch  kon- 
stituierten Mann,  verheiratet,  Vater  eines  gesunden,  einjährigen  Mädchens.  Trotz  nor- 
malen, oft  ausgeübten  Geschlechtsverkehrs  hat  er  eine  eigenartige,  aus  frühen  Kind- 
heitsjahren datierende  Phantasie  nicht  aufgegeben.  Diese  wird  folgendermaßen  be- 
sclirieben:  Das  für  mich  sexuell  erregende  Moment  ist  die  Voi-stellung  der  unbefrie- 
digten Erregung  einer  Frau,  einer  Erregung,  die  ich  mir  geradezu  als  qualvoll  vor- 
stelle, zuweüen  von  dem  ausgesprochenen  Charakter  körperlichen  Schmerzes.  Ich  emp- 
finde dabei  die  eigene  sexuelle  Erregung  als  die  der  phantasierten  Frau,  meinen  eigenen 
Körper  als  den  ihren.  Es  ist  keine  bestimmte  Frau,  wenigstens  in  den  meisten  Fällen, 
obwohl  es  auch  vorkommt,  daß  irgendeine  Frauengestalt,  die  ich  gegenwärtig  kenne 
oder  einmal  kannte,  das  Substrat  abgibt.  Ich  befinde  mich  während  dieser  Phantasien 
sozusagen  in  einem  Doppelzustand:  einmal  als  die  sexucJerregte,  darunter  leidende  Frau 
und  zugleich  als  ein  dies  genießender  Zuschauer.  Oft  findet  auch  dieser  szenische  Kern, 
den  ich  soeben  beschrieben  habe,  einen  Ausbau  dahin,  daß  die  betreffende  Frau 
ihre  Unbefriedigung  und  Qual  einem  Manne  —  mir,  aber  nicht  mir  als  dem  Dr.  X.» 
sondern  mir,  als  einem  nicht  näher  definierten  Zuschauer,  der  doch  irgendwie  ich  bin, 
gesteht,  eine  Art  Erleichterung  in  diesem  Geständnis  und  zugleich  in  der  Entblößung 
vor  dem  Manne,  ja  in  der  Vornahme  masturbatorischer  Handlungen  vor  ihm  sucht. 
Im  Ablauf  dieser  Phantasie  vollzieht  sich  dann  eine  plötzliche  Wandlung,  ich  möchte 
»a^en  Umschaltung.  Denn  während  ich  zunächst  als  Zuschauer,  und  zwar  auch  als 
erotisch  erregter,  aber  in  der  Phantasie  doch  mehr  weniger  unbeteiligter,  indifferenter, 
durch  die  Indifferenz  die  Qual  der  Frau  geradezu  steigernder  Zuschauer  fungiere, 
und  die  an  mir  selbst  vorhandene  sexuelle  Erregung  wesentlich  als  die  der  phanta- 
sierten Frauengestalt  gedacht  wird,  springt  in  dem  Augenblicke,  in  welchem  meine 
eigene  Erregung  sich  dem  Höhepunkt  nähert,  diese  sozusagen  auf  mich  um.  Zwar 
M-ird  noch  durch  einige  Momente  die  Fiktion  der  erregten  Frau  festgehalten;  zum 
Schlüsse  aber  wird  die   Erregung  und  Befriedigung  durchaus  als   die  eigene  empfunden. 

Zu  dieser  etwas  eigenartigen,  wie  ich  glaube,  aber  durchaus  nicht  als 
sexualpathologisch  zu  wertenden  Beobachtung  ist  anzumerken,  daß  sich 
hier  in  der  Phantasie  die,  wie  oben  beschrieben,  auch  in  der  Realität 
wirksame  Bedeutung  der  Erregung  des  Partners  kundgibt.  Daran  ist 
nichts  Merkwürdiges.  Das  Sonderbare  liegt  in  der  Eigenartigkeit  des 
Ich  Verhaltens.  Es  scheint  mir  kein  Anlaß  vorzuliegen,  von  einer  wirk- 
lichen Ichspaltung  zu  reden.  Es  wird  nur  die  eigene  Erregung  in  eine 
Phantasiegestalt  gewissermaßen  hinaus  verlegt.  Eine  Spaltung  liegt  schon 
deshalb  nicht  vor,  weil  der  hinausverlegte  Sexualaffekt  doch  auch  irgend- 
wie zugleich  als  der  eigene  erlebt  wird.  Es  ist  dies  offenbar  ein  Ausdruck 
der  früher  beschriebenen  Bipolarität. 


EROTISCHE   PHANTASIEN.  THÄIME.  HALLIZINATIONEX 455 

Eine  weitere  Frage  ist  die  nach  der  Hi'rkunft  des  in  den  erotischen 
Phantasien  verwerteten  MaU>riales.  Es  wurde  schon  darauf  hingewiesen, 
dali  konkrete  Sexualerlehnisse  oft  wiinler  liervorgeholt  und  phantasie- 
niälSig  neuerdings  thirchhiufen  w^'rden.  Dalx'i  köntu'u  unUjr  rnisUinden 
Erlebnisse,  die  im  Augenblick  ihres  wirklichtMi  \  (jrkonnnens  gar  nicht 
als  erotisch  tingiert  erlebt  wurden,  einen  hohen  erotischen  Wert  akqui- 
rieren.  Andererseits  spielen  auch  niemals  wirklich  erlebte,  sondern  nur 
angestrebte  Situationen  (Entkleidungsphantasie)  eine  Rolle.  Vielfach 
findet  man  den  \organg  der  Identifikation  mit  einer  Romanfigur,  welche 
derartige  Erlebnisse  hat.  Darin  liegt  nicht  zum  geringsten  der  /Vnreiz 
zur  Lektüre  erotischer  Romanliteratur,  insbesondere  für  jugendliche  Men- 
schen. Sie  suchen  nicht  so  selir  die  Erregung,  welche  ihnen  durch  das 
Lesen  unmittelbar  geboten  wird,  als  vielmehr  nach  Material  zum  Aufbau 
ihrer  Phantasien,  die  sich  teils  unmittelbar  an  die  Lektüre  anschließen 
—  abendliches  Lesen  im  Bett,  wo  dann  das  Buch  offen  liegen  bleibt  und 
nicht  weitergelesen  wird  — ,  teils  nach  dem  oben  beschriebenen  Mecha- 
nismus zu  einem  späteren  Zeitpunkt  ausgesponnen  werden.  Dabei  wird 
entweder   die  betreffende  Szene  glatt  nachgespielt  oder   aber   ausgebaut. 

Sehr  oft,  ich  glaube,  in  der  Melirzahl  der  Fälle,  haben  die  Phantasien 
etwas  ungemein  Eintöniges,  es  ist  immer  dieselbe  Szene  oder  Szenenfolge, 
welche  auftritt.  Manchmal  aber  wird  auch  ein  fortlaufender  Roman, 
nach  Art  der  auch  sonst  bekannten  zusammenhängenden  Tagträume,  ge- 
dichtet und  gespielt,  in  den  an  geeigneten  Stellen  entweder  die  typische 
Phantasie  eingeschaltet  wird,  oder  dessen  erotische  Momente,  je  nach  der 
Ent>vicklung  der  Geschichte,   in   verschiedener  Gestalt  erscheinen. 

Die  Herkunft  der  konstanten  Szenen  ist  schwer  auszumachen.  Öfters 
handelt  es  sich  im  Grunde  doch  um  konkrete  Erlebnisse,  die  den  Kern 
der  Phantasie  abgeben,  sehr  oft  um  solche,  die  recht  weit  zurückliegen, 
aus  der  präpuberalen  Epoche  stammen. 

Soviel  mir  scheint,  spielen  „Symbolisienmgen"  im  Sinne  der  Psycho- 
analyse in  den  erotischen  Phantasien  keine  Rolle. 

Anhangsweise  möchte  ich  einer  Erscheinung  gedenken,  die  man  als 
rudimentäre  oder  versuchsweise  Verwirklichung  der  Phantasie  bezeichnen 
könnte.  Der  oben  erwähnte  Mann  erfand  in  jüngeren  Jahren  einen  be- 
sonderen Kunstgriff,  um  die  Übertragung  der  eigenen  geschlechtlichen 
Erregung  auf  die  phantasierte  Frauengestalt  zu  bewerkstelligen.  Er  ent- 
kleidete sich  nämlich  und  zog  ein  Kleid  seiner  Schwester  an.  Später 
hatte  er  genügend  Übung  oder  Technik  erlangt,  um  diesen  Kimstgriff 
entbehren  zu  können.  Ein  anderer,  der  in  den  Jahren  der  Pubertät  aus- 
gesprochenen sadistisch  gefärbten  Phantasien  nachhing,  zeichnete  nackte 
Frauengestalten,  schnitt  sie  aus  und  ließ  sie  dann  langsam  an  der  Kerzen- 
flamme verkohlen,  indem  er  bei  den  Füßen  begann.  VVar  die  Verkohlung 
bis  zu  den  Geschlechtsteilen  der  Frau  vorgedrungen,  so  empfand  er  die 
höchste^  Steigerung  imd  Lösung  der  Wollust.  Auch  die  Entkleidungs- 
phantasie der  Mädchen  wird  durch  tatsächliche  Entkleidung,  häufig 
vor  dem  Spiegel,  unterstützt,  wobei  dann  die  Betreffende  eine  ähnliche 
PseudoVerdoppelung  erleben  kann,  wie  sie  oben  beschrieben  wurde:     sie 


456  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ist  zugleich  das  entkleidete  Opfer  und  der,  vor  dem  die  Entkleidung 
stattfindet.  Damit  mag  übrigens  die  gelegentlich  oder  vielleicht  auch 
häufig  vorkommende  Scham  vor  dem  eigenen  Spiegelbilde  zusammen- 
hängen. Noch  einen  Schritt  weiter  versuchte  ein  iSjähriges  Mädchen 
zu  gehen,  die  sich  vor  einem  Hund  entkleidete;  es  ist  nicht  ganz  klar,, 
ob  der  Hund  selbst  den  Partner  vertreten  sollte  oder  nur  als  Begleiter 
desselben  gedacht  war.  Es  blieb  überdies  bei  diesem  einen  Versuch. 
Immerhin  legt  solch  ein  Fall  die  Vermutimg  nahe,  es  möchte  eine  in 
orientalischen  Märchen,  so  in  denen  von  Tausendundeiner  Nacht,  oft 
wiederkehrende  Szene  in  solchem  Verhalten  ihre  psychologische  Wurzel 
haben.  Ich  meine  das  Verschleiern  von  Frauen,  die  der  Zauberei  kimdig 
sind  und  daher  in  einem  Hund  oder  sonst  einem  Tier  einen  verzauberten 
Mann  zu  erkennen  vermögen. 

Den  erotischen  Phantasien  nahe  steht,  von  ihnen  in  der  Tat  in  keiner 
Weise  scharf  abzutrennen,  die  Lustgewinnimg  aus  der  Lektüre  erotischer 
Schriften,  dem  Betrachten  erotischer  Bildwerke,  aus  dem  G«nuß  der  mit 
größerem  oder  geringerem  Recht  als  pornographisch  verschrieenen  Kunst 
überhaupt,  gewissen  Schaustellungen  in  Varietes  und  Kabaretts,  vielleicht 
auch  der  Zote,  von  der  schon  die  Rede  war.  Auch  das  solchen  Erlebnissen 
entstammende  Material  dient  entweder  nur  als  Anhub,  Ausgangspunkt 
selbständig  entwickelter  Phantasien  oder  bildet,  unverändert  übernommen, 
deren  Inhalt  oder  wirkt  schließlich  unmittelbar,  ohne  erst  in  eine  Phantasie 
eingestellt  oder  in  einer  solchen  reproduziert  zu  werden,  als  erotischer 
Anreiz,  von  welch  letzterem  Falle  schon  vorhin  die  Rede  war.  Zwischen 
den  Endpunkten  dieser  Reihe  —  dem  Aufsparen  zimi  Zwecke  des  Phantasie- 
ausbaues und  der  unmittelbar  die  Erregung  auslösenden  Wirkung  — 
stehen  Erlebnisse  des  Mitgenießens,  die  zweifellos  Züge  der  Phantasie 
an  sich  tragen.  Teils  findet  ein  Sichhineinversetzen  in  die  betreffende 
Situation  statt,  eine  Identifikation  des  Lesers  oder  Zuschauers  mit  einer 
—  vielleicht  auch  mit  mehreren  —  der  Personen  der  gebotenen  Darstellimg, 
oder  der  Betreffende  verbleibt  in  der  Position  des  Lesers,  Zuschauers, 
indem  —  wenn  man  will  —  der  „Partialtrieb"  der  Schaulust  mehr  in 
den  Vordergrund  des  Erlebens  tritt. 

Eine  besondere  Stellung  nehmen  vielleicht  die  erotischen  Phantasien 
ein,  welche  durch  Musik  hervorgerufen  werden;  diese  Besonderheit  liegt 
aber  mehr  in  dem  Zusammenhang  von  Musik  und  Erotik  als  in  der 
Art  und  Weise  des  Ablaufe  und  Inhaltes  der  Phantasien.  Es  kommt 
daher  diese  Frage  an  anderer  Stelle  zur  Besprechung. 

Ebenso  ist  aber  auch  die  Produktion  erotischer  Werke  zu  berück- 
sichtigen und  in  gewisser  Beziehung  auch  gewisse  Spiele  oder  Spielereien. 
Man  hat  bekanntlich  vielfach  und  mit  Recht  die  künstlerische  Produktion 
mit  den  Tagträumen  und  Phantasien  analogisiert.  Es  ist  verständlich, 
daß  jenes  Individuum,  dem  die  Fähigkeit  und  der  Drang  zur  künstlerischen 
Gestaltung  innewohnt,  auch  imstande  imd  geneigt  sein  wird,  seine  eroti- 
schen Phantasien  im  Werk  zu  konkretisieren.  Dennoch  vmrde  ich  anstehen, 
alle  erotischen  Szenen  ohne  weiteres  als  derartige  Verkörperungen  solcher 
Phantasien  aufzufassen.  Gewiß  sind  die  Werke,  etwa  eines  Sacher-Masoch, 
eines  Marquis  de  Sade  und  viele  andere  dieser  Interpretation  zugänglich. 


EROTISCHE   PHANTASIEN.  TRÄUME.  HALLUZINATIONEN 457 

Einzelne  weitere  lieispiele  anziLführen,  ist  wohl  nicht  erforderlich.  Hier 
handelt  es  sich  offenbar  <liirohaus  um  j<'ne  IMianlasien,  von  tloiien  bislang 
die  Ht\l<'  war,  welche  im  Dienste  von  und  im  Zusammenhang  mit 
erotisi'heii  He<lürfnissen  und  denMi  Befriedigung  stehen.  Hier  erscheint 
die  sexuale  Note,  der  sexuale  Inhalt  sozusagen  als  eigentlicher  Zweck 
und  Sinn  des  Werkes.  Es  kann  aber  auch  das  sexuale  Moment  nur  ein 
Mittel  innerhalb  der  anderen  sein,  um  einen  bestimmten  künstlerischen 
Zweck  zu  erreichen.  Man  denke  etwa  an  Zola.  In  solchen  Fällen  dürfte 
man  wohl  nicht  in  gleichem  Sinne  von  einer  erotischen  Phantasie  sprechen, 
indem  hier  das  Sexuelle  sozusagen  nur  eine  zufrdlige  Inhaltsbestimmung 
darstellt,  nicht  aber  das  Wesen  des  betreffenden  Erlebnisses.  Im  konkreten 
Einzelfalle,  angesichts  des  vollendeten  Kunstwerkes,  wdrd  es  sich  natürlich 
sehr  oft  schwer  oder  gar  nicht  entscheiden  lassen,  welcher  Mechanismus 
zugnmde  liegt,  um  so  mehr,  als  selbstverständlich  Mischungen  und 
Übergänge  aller  Art  vorkonmien  >verden.  Es  kann  nicht  unsere  Aufgabe 
sein.  <liese  Frage  weiter  zu  verfolgen;  sie  führt  in  kunstpsychologische 
Probleme  hinein,  in  Erörterungen  über  Echtheit  und  Unechtheit,  künst- 
lerischen Ernst  u.  dgl.  m.,  die  hier  nicht  einmal  aufzuwerfen  sind. 
Nur  um  ein  Beispiel  jener  Fälle  zu  geben,  bei  welchen  die  Entscheidung 
vielleicht  unmöglich  ist,  nenne  ich  d'  Annunzio.  Wie  will  man  feststellen, 
ob  die  erotischen  Szenen  des  Trionfo  della  morte  oder  des  Forse  che  si 
forse  che  no  Selbstzweck  oder  Glieder  eines  an  sich  nicht  einer  erotischen 
Phantasie  gleichzusetzenden  künstlerischen  Gesamtplanes  sind?  Wieder 
etwas  anderes  ist  es,  wenn  das  Sexuelle  Gegenstand  etwa  einer  morali- 
sierenden oder  sonst  tendenziösen  Darstellung  vrird.  Hier  ist  es  ganz 
aus  der  Ebene  des  emotiven  Erlebens  in  die  der  intendierten  Gegenstände 
verlagert  —  sollte  es  wenigstens  sein;  denn  man  wird  in  vielen  Fällen 
jenen  beistimmen  dürfen,  die  in  solchen  Werken  und  den  ihnen  zugrunde 
liegenden  Verhaltungsweisen  eine  Reaktion,  eine  Abwehr  gegen  mächtige 
erotische  Triebe  und  Phantasien  sehen  wollen  oder  auch  ein  verkapptes 
S  i  chi  hne  nhi  n  geben . 

Bisher  war  nur  von  solchen  Phantasien  die  Rede,  die  sich  in  der  Ein- 
samkeit abspielen.  Es  kommt  aber  gelegentlich  auch  zu  einem  Phantasieren 
zu  zweien  —  ob  auch  mehr  Personen  sich  daran  beteiligen  können,  ist 
mir  zweifelhaft.  Ein  solches  Phantasieren  zu  zweien  hat  große  Ähnlich- 
keit mit  Spielen;  insbesondere  nimmt  es  gerne  die  Gestalt  der  endlosen 
Geschichte  an.  Bei  jüngeren  Kindern  tritt  das  erotische  Moment  dabei 
natürlicherweise  mehr  in  den  Hintergrund,  obwohl  ich  nicht  zweifle,  daß 
auch  schon  in  diesem  Alter  solches  vorkommt  i.  Man  erfährt  ja  überhaupt 
wenig  von  dem  Inhalt  kindlicher  Phantasien.  Die  Kinder  legen  in  dieser 
Hinsicht  eine  besondere  Scheu,  sich  mitzuteilen,  an  den  Tag.  Noch  mehr 
ist  das  der  Fall  bei  Phantasieerlebnissen,  die  der  Freund  mit  dem  Freunde, 
die  Freundin  mit  der  Freundin  gemein  hat  —  auch  zwischen  Geschwistern 
kommt  dies  vor  — ,  deren  Verschweigen  und  Beschützen  gegen  indiskrete 
(und  vor  allem  im  Sinne  der  Kinder  unernste)  Fragen  durch  Erwachsene 
noch  durch  das   Bedürfnis  verstärkt  wird,  ein  Geheimnis   zu  haben,  das 

^   Vgl.    die    interessante    Geschichte    einer   kindlichen    Beziehung    bei    Kläsi    (65  a). 


458  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

die  anderen,  insbesondere  die  Erwachsenen,  nichts  angeht.  Es  sind  mir 
aber  auch  Fälle  aus  späteren  Lebensjahren,  nach  der  Pubertät,  bekannt, 
wo  die  Betreffenden  sich  gegenseitig  nicht  nur  ihre,  dem  einzelnen  eigenen 
Phantasien  mitteilen,  sondern  einander  behilflich  sind,  sie  auszubauen, 
und  sie  gemeinsam  durchleben.  So  diente  zwei  jungen  Mädchen  von 
i5  und  l^  Jahren  die  Szene  in  Herders  Gd,  wo  die  beiden  Töchter  des 
Helden  entkleidet  im  Wald  an  Bäume  gefesselt  werden,  zum  immer 
wieder  benützten  Ausgangspunkt  für  allerlei  deutlich  erotisch  gefärbte 
Phantasien. 

Schließlich  ist  es  im  Wesen  dasselbe,  wenn  zwei  Verliebte  oder  Ver- 
lobte sich  die  Zukmift  gemeinsam  ausmalen,  wenn  auch  dabei  zumeist 
unter  dem  Drucke  gesellschaftlicher  Konvention  das  sexuelle  Moment 
nur  mitschwingen  darf,  ohne  deutlichen  Ausdruck  zu  finden.  Dennoch 
wissen  die  beiden  sehr  wohl,  worum  es  sich  handelt,  mid  was  die  Worte 
nicht  geradeheraus  bezeichnen  dürfen,  deutet  an  manchem  Punkte  des 
gemeinsamen    Tagtramnes    ein    Druck    der    Hand    an,    betont    ein    Kuß. 

Anschließend  wäre  der  erotischen  Träume  zu  gedenken.  Hier  ist  es 
natürlich  fast  unmöglich,  festzustellen,  welches  das  primäre  Moment  war, 
ob  die  psychosexuale  Erregung  oder  "der  somatische  Vorgang.  Mutmaßlich 
dürfte  in  der  überwiegenden  Mehrzahl  der  Fälle  letzteres  zutreffen.  Dafür 
spricht  die  allgemein  geltende  Anschauung  von  der  geringen  Dauer  der 
Träume,  während  die  Entwicklung  der  somatischen  Geschlechtserregung 
doch  eine  länger©  Zeit  in  Anspruch  nehmen  dürfte.  Wenn  man  also 
beim  Erwachen  aus  solch  einem  Traum  den  körperlichen  Erregungszustand 
nachweisen  kann  oder  sich  bewußt  ist,  im  Traum  einen  solchen  erlebt 
zu  haben,  so  scheint  die  Annahme  seines  zeitlichen  Vorangehens  und  seiner 
primären  Bedeutung  gerechtfertigt.  InhaltKch  unterscheiden  sich  die 
Träume,  soweit  es  sich  um  manifest  erotische  Inhalte  handelt,  nicht 
von  den  Phantasien. 

Auch  hier  sind  es  nicht  selten  konkrete  erotische  Erfahrungen,  welche 
wieder  reproduziert  werden  —  mannigfach  hinsichtlich  der  Situation 
und  der  beteiligten  Person  verändert,  im  Wesen  aber  doch  gleichbleibend. 
Je  nach  der  speziellen  Beschaffenheit  des  Trieblebens  überwiegt  das  eine 
oder  das  andere  Moment;  es  gibt  ebenso  homosexuelle  Träume  wie 
sadistische,  masochistische,  solche,  in  denen  die  Schaulust  sich  auslebt  usw. 
Wie  bei  den  Phantasien  sind  auch  hier  Entkleidungsszenen  häufig. 
Z.  B.:  ein  1 8 jähriges  Mädchen  träumt,  sie  gehe  nackt  durch  einen 
Garten  auf  einen  Teich  zu,  vorbei  an  einem  Hause.  Sie  weiß,  an  einem 
der  Fenster  steht  ein  junger  Mann,  der  ihr  zusieht.  Aus  dem  Teich  soll 
sie  sich  einen  Frosch  holen  —  wie  sie  selbst  nachher  sagt,  offenbar 
einen  verzauberten  Prinzen.  Schon  im  Traum  ist  sowohl  die  Entblößung 
vor  dem  —  übrigens  nicht  gesehenen  —  Mann  am  Fenster  wie  die 
Aufgabe,  den  Frosch  zu  fangen,  ausgesprochen  mit  sexueller  Erregung 
verknüpft. 

Näcke  (89,  90)  hat  einmal  gemeint,  man  könne  die  Art  der  Sexualität 
eines  Menschen  am  untrüglichsten  aus  seinen  Träumen  erkennen.  In 
gewisser  Beziehung  ist  dies  sicherlich  richtig.  Mutmaßlich  wird  etwa 
ein    Homosexueller,    der    seinen   Trieben    nicht    freien    Lauf   läßt,    sogar 


KROTlSCilK   PHANTASIEN.   THvlMi:.  H  M.l.l/IN  VTIONKN 459 

in  ehelicher  (reineiiischafl  inil  eiiu'r  l'raii  l»'l)t,  kinder  gezeugt  hat. 
in  seinen  Träumen  sicli  «nnen  Mann  als  Sexual/icl  vorgauk<'hi  lassen. 
E^  gilt  tlies  aber  elxMisosehr  von  <len  erotischen  Phantasien  des  W  ach- 
lebeiis  wie  für  tlen  Traum. 

Das  oben  angeführte  IkMspiel  eines  erotischen  Traumes  fülirt  aber 
nun  unmittelbar  in  ein  selir  komplexes  und  schwieriges  Problem  hinein, 
das  in  seiner  Bedeutung  ülx'r  den  Rahmen  des  hier  zu  behand<'lndon 
Gegenstandes  weit  hinausgreift.  Es  war  dort  von  einem  Frosch  die  Hede, 
welcher  schon  im  Traum  sexuelle  h^rregung  aaszulösen  vermochte,  und 
der  nach  dem  Erwachen  oline  weiteres  als  verzauberter  Prinz  inter- 
pretiert wurde.  D.  h.  an  die  Stelle  des  begehrten  Sexualobjektes  ist  ein 
anderes  getreten,  jenes  wird  durch  dieses  vertreten;  diese  Substitution 
bleibt  indes  bewußt.  Nun  behauptet  aber  bekanntlich  die  psychoanalytische 
Schule,  daß  solche  Vertretungen  —  sie  nennt  sie  nicht  ganz  zweckmäßig 
Symbolbildungen  —  erstens  überhaupt  den  Traum  auszeichnen,  zweitens, 
daß  die  Beziehung  von  Symbol  und  Symbolisiertem  unbewußt  bleibe, 
drittens,  daß  das  Symbolisierte  die  Tendenz  habe,  sich  gegen  hemmende 
Kräfte  des  Bewußtseins  —  Zensur  —  durchzusetzen,  dabei  einem  Wider- 
stand begegne,  welcher  die  verschiedenen  Transformationen  durch  die 
„Traumarbeit"  erzwinge,  schließlich,  daß  es  sich  bei  diesen  nach  Bewußt- 
werdung  ringenden  Gebilden  ausschließlich  oder  überwiegend  um  sexuelle 
Regungen  handle.  Der  latente,  aus  dem  manifesten  eben  durch  die  Psycho- 
analyse zu  entwickelnde  Trauminhalt  erweist  sich  als  ein  Wunsch  oder 
ein  Netz  von  Wünschen,  und  diese  Wünsche  sind  fast  immer  sexuellen 
Ursprungs,  stammen  aus  Sexuellem  und  gehen  auf  solches. 

Wir  haben  hier  nicht  die  Aufgabe,  eine  Kritik  dieser  Lehre  zu  liefern, 
soweit  es  sich  darin  um  Träume  überhaupt  handelt.  Wohl  aber  müssen 
wir  nach  der  Berechtigung  fragen,  die  Allgemeinheit  der  erotischen 
Inhalte  zu  behaupten.  Die  Psychoanalytiker  antworten:  dies  ergäbe 
sich  aus  der  Psychoanalyse.  Und  in  der  Tat,  geht  man  den  Weg  des 
zwanglosen  Assoziierens  unter  Befolgung  der  „psychoanalytischen  Grund- 
regel", so  wird  man  wohl  immer,  früher  oder  später,  auf  sexuelle  Dinge 
stoßen.  Es  ist  nur  die  Frage,  ob  erstens  dadurch  bevriesen  wird,  daß 
die  im  Laufe  der  Assoziationsreihen  auftauchenden  sexuellen  Momente 
die  Ursache  der  Traumphänomene  sind,  d.  h.  durch  ihre  Tendenz  der 
Durchbrechung  jener  Zensur  das  Auftreten  dieses  oder  jenes  Traum- 
bestandteiles  kausieren,  und  zweitens,  ob  sie  zu  den  manifesten  Traum- 
bestandteilen tatsächlich  in  einem  Verhältnis  von  Vertretung,  von 
Symbolisiertem  und  Symbol  stehen.  Beide  Fragen  halte  ich  für  zumindest 
unbeantwortbar,  wenn  man  nicht  überhaupt  sie  schlechthin  verneinen  zu 
können  glaubt.  Die  Gründe  für  diese  Stellungsnahme  kann  ich  nur 
kurz  andeuten;  sie  werden  an  anderer  Stelle  ausführlicher  auseinander- 
gesetzt i. 

Die  kausierende  Wirkung  kann  nur  angenommen  werden,  wenn  erstens 
überhaupt  ein  kausaler  Zusammenhang  zwischen  Inhalten  statuiert  wird 
(was   die   Psychoanalyse   implicite   tut),   zweitens   dargetan   werden   kann, 

1  AUers    (4  a). 


460  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

daß  sich  sinnhafte,  in  Assoziationsreihen  entwickelbare  Zusammenhänge 
ganz  oder  zimiindest  avl  weite  Strecken  mit  kausalen  Zusammenhängen 
decken.  Der  letztere  Beweis  ist  von  der  Psychoanalyse  nicht  erbracht 
worden  und  m.  E.  auch  nicht  zu  erbringen.  Ob  man  aber  diese  Position 
der  Psychoanalyse  akzeptiert  oder  bestreitet,  ist  ganz  unabhängig  davon, 
ob  man  ein  Beschlossensein  des  angeblich  Symbolisierten  im  Symbol, 
d.  h.  des  durch  Assoziationsreihen  aufzufindenden,  bedeutsamen  Gliedes 
in  dem  zum  Ausgangspunkt  genommenen  Erlebnis,  annehmen  will.  Ich 
halte  auch  diese  Annahme  für  imstatthaft,  weil  einmal  letzten  Endes  in 
der  Seele  alles  mit  allem  zusammenhängt,  also  schließlich  jedes  Bild, 
jeder  Traumbestandteil  alles  übrige  „symbolisieren"  und  somit  in  dieser 
Funktion  sinnlos  werden  müßte,  sodann  weil  im  Ablaufe  der  Assoziations- 
reihen wir  ims  sehr  oft  mehr  und  mehr  von  dem  Ausgangspunkt  ent- 
fernen, so  daß  schließlich  auch  kein  verständlicher,  sinnhafter  Zusam- 
menhang mehr  hergestellt  werden  kann. 

Lehnen  wir  also  auch  die  psychoanalytische  Lehre,  als  auf  einer  in 
sich  irrigen  Methode  gegründet,  ab,  so  ist  doch  nicht  zu  bestreiten,  daß 
es  derartige  Symbolisierungen  wirklich  gibt,  daß  hier  verständliche  und 
sinnhafte  Zusanmienhänge  sehr  oft  aufgefunden  werden  können,  auf 
die  hingevnesen  zu  haben,  ja  die  entdeckt  zu  haben  mit  zu  den  großen 
imd  dauernden  Leistungen  Freuds  gehören  wird.  Nur  die  Ubiquität  des 
Sexuellen  im  Traiune  läßt  sich  m.  E.  nicht  erweisen,  weder  sJs  Trieb- 
kraft der  Traumentstehimg  und  Traumgestaltung  noch  als  Inhalt  des 
Tramnes.  Es  wird  sich  vorderhand  wohl  nur  jeweils  für  den  Einzelfall 
entscheiden  lassen,  ob  eine  „Symbolisierung"  sexueller  Tendenzen,  sexuellen 
Materiales  vorliegt  oder  nicht,  einen  allgemein  gültigen  Kanon  der 
Deutungskunst  dürfen  wir,  glaube  ich,  trotz  Freud  (45)  ^,  Stekel  u.  a., 
uns  nicht  rühmen  zu  besitzen. 

Über  diese  Symbole  wird  übrigens  weiter  unten  noch  zu  reden  sein.  Da, 
der  Psychoanalyse  zxrfolge,  ihr  Symbolcharakter  außerdem  weder  dem 
Träumenden  noch  dem  Erwachten  bewußt  ist,  fällt  ihre  weitere  Be- 
sprechung ohnehin  nicht  einer  beschreibenden  Psychologie  zu,  die  zu 
treiben  wir  uns  in  erster  Linie  vorgenommen  hatten. 

Ähnliches  wie  über  die  Träume  wäre  zu  sagen  über  Halluzinationen 
und  sonstige  Trugwahmehmungen  sexuellen  Inhaltes,  deren  Variationen 
schier  unerschöpflich  sind.  Schon  in  der  Einleitung  wurde  angemerkt, 
daß  es  wohl  zweifelhaft  erscheinen  darf,  ob  eine  halluzinierte  Geschlechts- 
empfindung überhaupt  vorkomme  oder  vorkommen  könne.  Die  abson- 
derlichen Äußerungen  vieler  Kranker,  insonderheit  Schizophrener,  sind 
wohl  eher  auf  eigenartige,  für  den  Gesunden  nicht  nacherlebbare  und 
infolgedessen  und  infolge  der  diesen  Kranken  eigentümlichen  Ausdrucks- 
weise auch  vmverständliche  Mißempfindungen,  Parästhesien,  sensorische 
Dysfunktionen  zurückzuführen.  Es  ist  zwar  richtig,  daß  wir  gewöhnlich 
von  den  verschiedenen  Organen  unseres  Körpers  keine  Empfindung  haben, 
aber  ebenso,  daß  durch  Richtung  der  Aufmerksamkeit  auf  dieselben  aller- 
hand  Sensationen   wachgerufen   werden   können,   eine  oft  gemachte  und 

^    VgL    die    Ausführungen    von    de    Sanctis    in    diesem    Handbuche. 


EROTISCHE   PHANTASIEN,  TRÄUME.  tLVLLUZINATIONEN 461 

koimnentiorto  Erfaliriuig.  Es  wäre  immerhin  Jenkbar,  daß  ein  derartiger 
Mechanismus  bei  den  fraglichen  Geisteskranken  im  Spiele  wäre,  indem 
eine  primäre  Hinwendung  auf  erotische  Inhalte  bei  gleichzeitig  bestehen- 
den tiefgreifenden  Umwandlungen  der  Persönlichkeit  und  ihrer  ver- 
scliiedenen  Äußerungen  die  Entstelmng  jener  Dysästhesien  nach  sich, 
ziehen  NN-ürde. 

Offenbar  haben  wir  in  den  ausgesprochenen  Trugwahrnehmungen 
sexuellen  Charakters  den  Ausdruck  solch  einer  Hinwendung  auf  erotische 
Inhalte  zu  erblicken.  Auch  hier  finden  wir  die  ganze  Vielgestaltigkeit 
sexuellen  Erlebens  widergespiegelt.  Auch  eine  eingehendere  Aufzählung 
alles  dessen,  was  in  dieser  Hinsicht  vorkommt,  würde  uns  nichts  Neues 
lehren. 

Dasselbe  gilt  von  den  hier  systematisch  zwar  nicht  hingehörenden, 
indes  anhangsweise  vielleicht  zu  erwähnenden  sonstigen  psychopathologi- 
schen  Erscheinungen  sexuellen  Inhaltes,  wie  von  erotischen  Wahnideen, 
Zwangsvorstellungen,  Zwangsimpulsen.  Ihre  genauere  Beschreibung  würde 
auch  kaum  etwas  zutage  fördern,  was  über  die  aus  der  Betrachtung  der 
normalen  Psychosexualität  zu  gewinnenden  Erkenntnisse  hinausginge.  Es 
kehren  die  gleichen  Phänomene,  Zusammenhänge  wieder,  verzerrt  wohl, 
vergröbert  zum  Teil  und  gefärbt  nach  der  Art  der  pathologischen  Persön- 
lichkeit oder  des  Prozesses.  Diffuse  oder  auf  einzelne  Individuen  gerichtete 
sexuelle  Begierden,  Verliebtheit,  subjektive  Überzeugung,  geliebt  zu  werden 
von  diesem  oder  jenem,  von  hohen  Persönlichkeiten  oder  irgendwelchen 
Individuen  der  Umgebung,  Eifersucht,  Gefühl  des  Verschmähtseins  —  man 
ksinn  die  Liste  verlängern,  es  ist  immer  nur  das,  was  wir  schon  kennen. 


DIE  LIEBE 

Es  ist  eine  mißliche  Aufgabe  für  den  Psychologen,  von  der  Liebe  zu 
handeln.  Ihre  Vielgcstalligkeit  und  doch  letztliche  Einheit,  ihr  Verwoben- 
sein  mit  dem  Ganzen  der  Seele,  ihre  Bedeutung  und  ihr  Wert  im  Leben 
des  einzelnen  machen  eine  Deskription  ebenso  unmöglich  wie  unbe- 
friedigend. Es  gibt  Erlebnisse,  an  die  die  Wissenschaft  zu  rühren  Scheu 
empfinden  muß.  Die  Beziehung  der  Menschen  zu  Gott  wie  ihre  Liebe 
zueinander  sind  solche.  Nicht  zu  Unrecht  sprechen  wir  von  Gottesliebe, 
sagen  wir:  lieber  Gott.  Und  doch  kann  eine  Sexualpsychologie  sich 
der  Aufgabe,  von  der  Liebe  zu  reden,  nicht  entziehen.  Es  scheint  mir 
aber,  je  nüchterner  sie  dies  tut,  desto  weniger  wird  sie  Anstoß  erregen, 
desto  weniger  den  Eindruck  erwecken,  als  wollte  sie  letztes  und  tiefste^ 
Erleben  in  dürre  Begriffe  fassen,  an  das  Licht  zerren  all  das,  was  von 
Menschen  nicht  gewußt  oder  nicht  gedacht,  mit  profanatorischer  Gebärde 
auf  ihr  Gebäude  weisen:    seht  nur,  dies  ist  die  Liebe  —  mehr  nicht. 

Die  Schwierigkeiten  beginnen  schon,  wenn  man  überhaupt  sagen  soll, 
wovon  gehandelt  wird.  Etwa  mit  Spinoza,  es  sei  die  Liebe  laetitia 
concomitante  idea  causae  externae  i?  oder  mit  Augustin,  vita  quaedam 
duo  aliqiia  copulans  vel  copulare  appetens^?  Soll  man  mit  St.  Thomas 
vier  Gattimgen  unterscheiden,  den  amor  sensitivus,  intellectiviis,  con- 
cupiscentiae  und  benevolentiae^?  Oder  Leibniz:  Der  Trieb,  an  dem 
Glück  einer  Person  teilzunehmen,  die  Freude  an  diesem  Glücke*?  — 
Ich  will  die  Zitate  nicht  häufen.  Ihre  ganz  verschiedenen  Gesichtspunkte 
zeigen  nur  das  eine,  daß  sich  hier  eine  Definition  nicht  bringen  läßt. 
Wie  das  Leben,  so  ist  die  Liebe  ein  Letztes;  sie  kann  erlebt,  sie  kann 
aber  nicht  definiert  werden  ^. 

Was  immer  außerhalb  philosophischer  Begriffsbestimmung  zu  diesem 
Kapitel  geschrieben  wurde,  hilft  uns  ebensowenig  weiter.  Vielleicht  am 
schärfsten  hat  ein  Mann  gesehen,  in  dem  aufklärerischer  Rationalismus 
und  romantische  Feinheit  des  Empfindens  und  Nacherlebens  eine  eigen- 
artige Mischung  bilden:     Stendhal   (no). 

Vor  allem  bietet  sich  eine  grundsätzliche  imd  ungemein  schwierige  Frage 
dar,  die  nämlich  nach  der  Beziehung  von  Sexualität  und  Liebe.  Daß 
die  Sexualsphäre  und  Liebesphänomene  miteinander  zu  tun  haben,  ist 
von  trivialer  Selbstverständlichkeit.     Aber,  ob  erstens  jegliche  Liebe  letzt- 

1  Eth.,    Iir,    prop.    Xlir,    Schol. 

2  De    Prin.,    VIII,     lo. 

3  Summa  Theol.,    I,    20,    2. 
*  Nouv.    Ess.,    II,    20,    S  4. 

^  Am  annehmbarsten  erscheint  Hegels  Bestimmimg  der  Liebe  als  das  Bewußt- 
sein   der    Einheit    mit    einem    anderen. 


I 


DIK  LIEBE  463 


lieh  im  Sexualen  g^ründot,  ob  zweitens  das  Wesen  der  im  engeren  Sinne 
Geschlechtsliebe  zu  nennenden  durch  die  Beziehung  auf  das  Sexuale  er- 
schöpft  wird,  bleibt  strittig. 

Es  kann  nun  auch  die  erste  Frage  hier  nicht  aus  der  Erörterung  aus- 
geschieden werden,  obwohl  sie  anscheinend  den  Rahmen  einer  Scxual- 
psychologio  überschreitet,  die  man  vielleicht  auf  die  bloße  Beschreibung 
der  eigentlichen  Geschlechtsliebe  beschränken  wird  wollen.  Dennoch 
ist  auch  für  unsere  Zwecke  eine  Beantwortung  unerläßlich.  Ergäbe  sich 
nämlich,  daß  sich  Liebesregimgcn  finden,  in  walirem  Sinne  so  zu  nennende, 
denen  eine  IVziehung  auf  die  Sexualsphäre  nicht  zugesprochen  werden 
darf,  so  würde  die  Beantwortung  der  zweiten  Frage  von  vornherein  in 
ein  anderes  Licht  rücken. 

Man  hat  vielfach  die  Meinung  gehört,  daß  alle  Liebe  Geschlechtsliebe 
sei,  daß  sich  che  Menschen  dies  entweder  nur  nicht  eingestünden  oder  es 
nicht  wüßten,  daß  Eltern-  und  Kinderliebe,  Freundschaft,  Liebe  zur  Natur 
und  zu  Gott  alle  auf  dem  gleichen  Urgrund  erwachsen  seien.  Entsprechend 
unserem  engeren  Ziele,  sei  hier  vornehmlich  von  der  Liebe  von  Mensch 
zu  Mensch  die  Rede. 

Zur  Phänomenologie  ist  zunächst  anzumerken,  daß  es  Freinz  Brentano 
(i5)  gewesen  ist,  welcher  Liebe  —  imd  Haß  —  als  Akte  erkannte  und 
zugleich  ihre  elementare  Natur  herausstellte.  Allerdings  glaube  ich,  im 
Gegensatz  zu  Brentano,  und  hierin  M.  Scheler  (loi)  vollkommen  bei- 
pflichtend, daß  man  zu  Unrecht  diese  Akte  als  solche  des  „Vorziehens" 
und  „Nachsetzens"  ansehen  ^vü^de.  Diese  gehören  „zur  Sphäre  des 
Werterkenne ns"  (und  zwar  des  Erkennens  der  Höhenstufe  des  Wertes), 
wogegen  Liebe  und  Haß  nicht  zu  den  erkennenden  Akten  zälilen.  Sie 
stellen  ein  eigentümliches  Verhalten  zu  Wertgegenständen  dar,  das  sicher 
keine  Erkenntnisfunktion  ist.  (Scheler  S.  47-)  Eine  Funktion  des  Auf- 
nehmens der  Werte  —  Fühlen,  Vorziehen  —  fehlt  dabei  ebenso  \vie  eine 
Wertbeurteilung  oder  ein  Vorhergegebensein  des  Wertes  in  einer  beson- 
deren Intention.  Daher  es  auch  "unmöglich  ist,  Liebe  rational  zu  be- 
gründen; nach  Gründen  gefragt,  sucht  der  Liebende  solche  mühsam  auf, 
konstruiert  sie,  ohne  je  sich  oind  den  anderen  damit  eine  befriedigende 
Antwort  geben  zu  können.  Jede  Rationalisierung,  auch  der  Versuch, 
die  Werte  der  geliebten  Gegenstände  unter  begriffliche  Kategorien  zu 
bringen,  erscheint  als  Verietzung  der  Liebe,  als  eine  Entvmrdigung,  als 
eine  Zerstörung  eines  ursprünglich  Ganzen.  Daher  man  von  „blinder" 
Liebe  spricht.  Liebe  und  Haß  haben  ihre  eigene  Evidenz,  die  mit  jener 
der  erkennenden  Vernunft  gar  nichts   zu   tun  hat.     So  weit  Scheler. 

Wenn  er  weiter  sagt,  Liebe  und  Haß  seien  nicht  wesenhaft  altruistisch, 
man  könne  sich  selbst  lieben,  ohne  daß  eine  Phantasie  des  Ich  als  eines 
anderen  dabei  mitspiele,  so  vermag  ich  ihm  allerdings  nicht  zu  folgen  i. 
Doch  tut  dies  der  weiteren  Argumentation  vorderhand  keinen  Eintrag. 


1  Vgl.  hierzu  Nietzsche  (91):  „Sogar  die  Selbstliebe  enthält  die  unverrriischte 
Zweiheit  (oder  Vielheit)  in  einer  Person  als  Voraussetzung."  Und  bei  Aristoteles 
schon  heißt  es,  es  sei  die  Liebe  darin  gelegen,  daß  war  für  jemand  das  \vx>llten, 
was    er    für    gut    halte,    seinetwegen,    nicht    unsertwegen. 


464  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Liebe  erscheint  erst  dort  gegeben,  wo  nicht  nur  ein  positiver  Wert 
erkannt  oder  gefühlt  wird,  was  auch  ohne  Liebe  möglich  ist,  sondern 
wenn  eine  Bewegung  auf  diesen  Wert  erst  hinzukommt,  was  bereits 
Plato  ausgesprochen  hat  („eine  Bewegung  vom  Nichtseienden  zum  Seien- 
den"), und  zwar  auf  einen  Wert,  der  höher  ist  als  die  qualitativ  gege- 
benen Werte.  „Insofern  zeichnet  die  Liebe  der  empirisch  gegebenen 
Person  immer  ein  ,ideales  Wertbild'  voraus.  Liebe  ist  ursprünglich 
auf  Werte  gerichtet  imd  auch  auf  den  Menschen  nur,  soweit  und  insofern 
er  Träger  von  Werten  ist  imd  sofern  er  einer  Werterhöhung  fähig  ist." 
Pas  ideale  Wertbild  wird  nicht  aus  den  empirischen  Werten  einer  Person 
entnommen,  wohl  aber  auf  sie  aufgebaut. 

Diese  Be>vegung  auf  den  höheren  Wert  hin  hat  —  das  ist  wichtig  — 
nichts  gemein  mit  BessermachenwoUen,  welches  eine  pädagogische  Ein- 
stellung voraussetzt  und  eine  Scheidung  vorninmit  zwischen  dem,  was 
der  Mensch  ist  und  was  ©r  nicht  ist,  noch  nicht  ist,  erst  werden  soll. 
Beide  Einstellungen  liegen  der  Liebe  fern.  Echte  Liebe  liebt  ihren  Ge- 
genstand trotz  der  und  mit  den  daran  gesehenen  Fehlern  oder  Mängeln. 
Das  Grundphänomen  ist,  daß  die'  Liebe  selbst  den  höheren  Wert  konti- 
nuierlich im  Lauf  ihrer  Bewegimg  zum  Auftauchen  bringt.  Liebe  geht 
auf  die  Gegenstände,  wie  sie  sind.  Und  nur  in  der  Liebe,  durch  sie 
hindurch  wird  das  unbeschreibliche,  in  Begriffen  nicht  faßbare  Wesen 
einer  fremden  Individualität  ganz  und  rein  hervortreten. 

Ich  möchte  sogar  glauben,  in  Weiterführung  dieser  Schelerschen  Ge- 
dankengänge, daß  Liebe  schlechthin  nur  auf  Ganzheiten,  wie  sie  die  Person 
eine  ist,  gehen  kann,  daß  sie  vielleicht  eine,  möglicherweise  die  Art  und 
Weise  ist,  in  der  wir  solche  Ganzheiten  überhaupt  erleben  können. 

Zunächst  ergibt  sich  aus  diesen  Überlegungen  noch  kein  Anhaltspunkt 
für  die  Beantwortung  der  oben  aufgeworfenen  Frage.  Es  könnte  dies 
alles  richtig  sein  und  dennoch  solche  Liebe  oder  Liebesbewegung  letzt- 
lich in  der  Sexualsphäre  gründen.  Scheler  kennt  nun,  entsprechend  seiner 
Gruppierung  der  Akte,  drei  Daseinsformen  der  Liebe:  vitale  oder  Leiden- 
schaftsliebe, welche  auf  den  Wert  des  Edlen  geht  (der  Haß  auf  den  des 
Schlechten  oder  Gemeinen),  seelische  Liebe  des  Ichindividuums,  welche 
wesenhaft  an  die  Werte  der  Erkenntnis  und  des  Schönen,  Kulturwerte, 
geistige  Liebe  der  Person,  welche  wesenhaft  an  die  Werte  des  Heiligen 
gebimden  ist.  Angenehmes  kann  man  nicht  lieben,  es  ist  einer  Wert- 
erhöhung unzugänglich.  „Darum  gibt  es  auch  keine  ,sinnliche  Liebe', 
sofern  das  ,sinnlich'  als  eine  Artbestimmxmg  der  Liebe  .  .  .  gefaßt  wird 
und  nicht  etwa  als  ein  Ausdruck,  der  nur  sagen  will,  er  sei  in  diesem 
Falle  von  sinnUchem  Fühlen  imd  Empfinden  begleitet.  Ein  rein  , sinn- 
liches' Verhalten,  z.  B.  zu  einem  Menschen  ist  gleichzeitig  ein  absolut 
liebloses  und  kaltes  Verhalten"   (a.  a.  O.  S.   70). 

Ganz  mit  Recht  motiviert  Scheler  diese  These  damit,  daß  in  solchem 
Verhalten  der  andere  in  den  Dienst  des  eigenen  sinnlichen  Empfindens 
und  Genießens  gestellt  werde;  er  wird  ein  Mittel,  wird  behandelt  wie 
ein  toter  Gegenstand.  In  Erweiterung  einer  oben  gemachten  Bemerkung 
könnte  man  vielleicht  sagen,  es  sei  die  Liebe  überhaupt  jene  Verhaltungs- 


du:  I.IKIU: 465 

weise,  in  der  uns  ein  SeUxUwert  gegeben  sein  kann.  Kigenwert  der  Person 
ist   uns    nxir   in   der    Liel>e  erfaßbar. 

Ks  würde,  glaubt»  icb,  schwer  fallen,  hierfür  die  Sexualsphäro  als  uner- 
läßliche Tundierung  nachzuweisen.  \  ielinehr  scheint  schon  jetzt  klar 
zu  sein,  dali  Lielx?  eine  letzte  \  erhaltungsweise  des  Men.schen  ist,  welche 
jede  andere  durchdringen  kann,  sich  ihrer  sozusagen  bedienen  kann, 
um  zur  \\  irklichkeit  <li^  Erlebens  zu  gelangen.  Das  meint  offenbar  auch 
Simmel  (107),  wenn  er  sagt,  es  sei  die  Erotik  nur  eine  f>eripherste  Dar- 
lebung  des  zentralen  Lielx>sakte.s. 

Ohne  weiter  die  Schelerschen  Ausführungen  wiederzugeben,  möchte 
ich  nur  auf  seine,  m.  E.  durchaus  treffende,  Kritik  naturalistischer  Liebes- 
theorien verweisen.  Abgesehen  davon,  daß  solche  Theorie  glaubt,  den 
ursprünglichen  und  unzerlegbaren  Akt  der  Liebe  als  Komplex,  als  Re- 
sultante, also  sunuiiativ  aufbauen  zu  können,  was  ein  Grundirrtiun  ist 
(vgl.  Einleitung;,  so  übersieht  sie  die  Ürspriinglichkeit  jeglichen,  nicht 
bloß  vitalen  Liebesaktes.  Sie  übersieht,  daß  im  Seelenleben  nicht  immer 
alles  aus  den  Vorangegangenen  ableitbar,  zusammensetzbar  ist,  daß  jeder- 
zeit, in  der  individuellen  wie  der  Stammesentmcklung,  Neues  auftreten 
kann   —  l'imprevisible  —   wie  Bergson  sagt. 

Ich  kann  hier  nicht  die  Ursprünglichkeit  und  Eigenart  der  Liebe, 
welche  mit  Sexualem  nichts,  aber  auch  gar  nichts  zu  tun  hat,  ausführ- 
licher herausstellen.  Die  heilige  Liebe  hat  keine  Beziehung  zur  Sexual- 
sphäre; über  die  sozusagen  zufällige  erotische  Terminologie  wurde  schon 
in  der  Einleitung  das  Erforderliche  angemerkt.  Wir  entnehmen  für  unsere 
Zwecke  nur  die  Einsicht,  daß  Liebe  als  solche  mit  Sexualität  gar  keinen 
Zusammenhang  besitzt,  in  ihr  weder  gründet  noch  ihrer  zur  Realisierung 
bedarf.  Daher  auch  die  ganze  Rede  von  Sublimierung  (s.  letzter  Ab- 
schnitt), weil  sie  folgerichtig  sich  aus  dem  naturalistischen  Grundirr- 
tum ergibt,-  eben  auch  grundfalsch  ist. 

Latent  scheint  diese  Einsicht  sogar  in  der  die  Krönung  alles  Naturalis- 
mus bedeutenden  psychoanalytischen  Liebeslehre  wirksam  zu  sein.  Sie 
drückt  sich  aus  in  der  Überspanmmg  des  „Libido"-Begriffes,  zu  dessen 
Kritik  uns  schon  die  Bemerkungen  über  Ent>vicklung  der  Sexualität  An- 
laß boten. 

Gibt  es  also  solche  Liebe,  so  folgt,  daß  auch  die  Geschlechtsliebe  i.  e.  S. 
durch  die  Beziehung  auf  die  Sexualsphäre  nicht  erschöpfend  gekenn- 
2eichnet  sein  kann.  Allerdings  darf  man  wiederum  nicht  sich  dieses 
Phänomen  entstanden  denken  durch  eine  Summation  von  allgemeinem 
Lieben  und  einem  ebenso  allgemeinen  G<?schlechtstrieb,  der  ge\vissermaßen 
durch  diese  Kombination  erst  gerichtet  würde,  wie  das  etwa  Lipps  sich 
vorgestellt  hat. 

Scheler  nennt  die  GeschlechtsKebe  eine  besondere  Liebesart,  deren  Unter- 
schiede begründet  sind  in  besonderen  für  uns  fühlbaren  Qualitäten  der 
Gemütsbewegung  selbst,  unabhängig  von  einem  Hinsehen  auf  die  wech- 
selnden Objekte  und  ihre  gemeinsamen  Merkmale.  Mutterliebe,  kindliche 
Liebe,  Heimatsliebe,  Geschlechtsliebe  sind  solche  .\rten,  als  Gemütsbewe- 
gungen selbst  untereinander  verschieden,  nicht  erst  dadurch,  daß  sie  sich 
auf   verschiedene   Kreise   von   Objekten   richten.      Dem   ist    zuzustimmen. 

30    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


4GÜ 


MJ.KilS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


Es  meint  aber  dieser  Autor  weiterhin,  es  sei  die  Geschlechtsliebe  /lie  „zen- 
Inilstc^  Funktion  der  vitalen  Liebe  überhaupt".  „Mag  auch  eine  absolute 
liKJivichi.ilisierung  der  Geschlechtsliebe  so,  daß  sie  auf  ein  Wesen  allein 
.M'richlel  und  allein  in  ihm  befriedigt  wird,  nicht  stattfinden,  ohne  das 
Uinzutrelen  einer  Erfassung  des  fremden  Ichindividuums  in  einem  von 
der  Geschlecbtssphäi-e  imabhängigen  geistigen  Liebesakt,  so  ist  ohne 
(las  Hinzutreten  eines  solchen  die  Geschlechtsliebe  bereits  , Liebe',  nicht 
flwa  ein  bloß  genereller  Trieb  und  vermag  auch  aus  sich  heraus  eine 
Wahl  an  den  entgegentretenden  Erscheimmgen  zu  vollziehen,  die  über  einen 
blinden  und  generellen  Geschlechtstrieb  weit  hinausgeht"  (S.  iio).  Als 
weiteres  Argument  macht  Scheler  auch  geltend,  daß  die  Sprache  gewiß 
nicht  zufälligerweise  innerhalb  der  vitalen  Sphäre  gerade  die  Geschlechts- 
liebe als  „die"  Liebe  schlechthin  bezeichne.  Es  erscheint  ihm  in  der 
Sphäre  des  vitalen  Trieblebens  und  der  ihr  entsprechenden  von  Liebesre- 
gungen der  Geschlechtstrieb  und  die  Geschlechtsliebe  der  primäre  Faktor 
und  der  fundierende  in  dem  Sinne,  „daß  alle  anderen  Arten  der  vitalen 
Liebe  und  des  vitalen  Trieblebens  in  dem  Maße  ihre  volle  Lebendigkeit 
verlieren,  als  es  jener  zentralste  Trieb  des  Lebens  tut",  hierin  Freud  in 
dessen  Wertung  der  Sexualität  beipflichtend.  Allerdings  wird  man  Scheler 
m.  E.  nicht  die  Meinung  zuschreiben  dürfen,  als  sei  hier  unter  Sexualität 
nur  der  Trieb  zum  eigentlichen  Gesclilechtsakt  zu  verstehen;  ob  sich  der 
Trieb  in  diesem  Sinn  oder  in  anderem,  als  Sinnlichkeit  oder  Erotik, 
normal  oder  pervers  äußert,  ist  belanglos,  solange  er  vorhanden  ist. 

Ich  will  mich  nicht  unterfangen  zu  entscheiden,  ob  diese  Auffassung 
Schelers  zu  Recht  besteht  oder  nicht.  Es  ist  dies  auch  für  die  spezielle 
uns  beschäftigende  Frage  irrelevant.  Denn  es  genügt  uns  die  Feststellung, 
daß  die  Individualisierung  ohne  das  Hinzutreten  eines  geistigen  Liebes- 
aktes nicht  vollzogen  werden  kann,  d.  h.  daß  es  zumindest  ein  aus  der 
Sexualsphäre  erwachsendes  Liebesverhalten  geben  kann  und  gibt,  dessen 
Wesen  aus  dem  Sexualen  allein  nicht  erschöpfend  erfaßbar  ist.  Damit 
beantwortet  sich  auch  die  zweite  der  oben  aufgeworfenen  Fragen:  es 
kann  vorkonunen  —  wie  oft,  ob  in  der  Regel,  ob  selten,  bleibt  dahin- 
gestellt — ,  daß  Geschlechtsliebe  durch  die  Kennzeichnung  allein  des 
Sexualen  nicht  wesenhaft  erfaßt  wird. 

Daraus  folgt,  daß  eine  Psychologie  der  Liebe  mehr  sein  muß  als  ein 
Kapitel  einer  Sexual psychologie.  Es  besteht  dabei  die  Gefahr,  in  meta- 
physische Erörterungen  abzugleiten.  Man  könnte  etwa  erwägen,  was  es 
mit  der  Liebe  als  einem  Akt  des  Erfassens  von  Ganzheiten,  Individualitäten 
für  eine  Bewandtnis  habe.  Wenn,  mit  Feuerbach  zu  reden,  der  isolierte 
Mensch  „unterschiedslos  im  Chaos  der  Natur  untergehen"  müßte,  wenn  er 
zu  seiner  Erfüllung  nur  im  Erfassen  eines  Du  gelangen  kann,  dieses  Er- 
fassen aber  als  ein  adäquates  nur  im  Akt  der  Liebe  möglich  wdrd:  soll 
man  sich  da  nicht  fragen,  ob  nicht  das  Ich  selbst  in  diesem  Akte  der 
Liebe  allererst  vollendet,  ja  mehr  noch:  gegründet,  gesetzt  werde?  Wir 
wollen  diesen  Gedankengängen  nicht  weiter  folgen;  sie  seien  nur  ge- 
streift, mn  mögliche  Zusammenhänge  phänomenologischer  Betrachtimg 
mit  letzten  Fragen  herauszustellen.  Sie  sind  um  so  verlockender,  als  auch 
Daten  einer  deskriptiven  Psychologie  eine  besondere  Bedeutung  des  Liebes- 


DIE  LIEBE  407 


aktt^s  für  tue  Ichwordung  mlor  Ichfirulung  nalielegon.  Wie  oft  hat  man 
nicht  I^irlM^iido  «'S  auss|>iwli('n  hön'ii.  dali  siti  in  (1<m'  Liolx^  nicht  nur  den 
andoron.  sondern  sich  s<'lhst  erst  wahrliafl  geluntlen  liätten.  Wir  kommen 
auf  das  Verhalten  des  Ich  und  die  Stellungnahme  zum  Ich  noch  zurück. 

Wenn  letztlich  die  Liebe  tmr  eine  sein  kann,  jene  B<>\vegung  auf  den 
höheren  Wert  hin,  so  sind  doch  ihre  .Manifestationsweisen  mannigfaltige. 
Freilich  nicht  alles,  was  gemeinliin  Liebe  heißt,  verdient  diesen  Namen. 
Ste.n<lhal  kennt  vier  verschiedene  Lielx^sformen :  raniour-passion,  wie  er 
aus  den  Briefen  der  Mariana  Alcoiorado,  des  Abelard  und  <ler  Heloise 
spricht,  i(imüur-(joiit.  von  <lcm  er  sagt,  er  halic  um  i-Go  in  Paris  ge- 
herrscht und  man  finde  ihn  in  der  Memoiren-  und  schönen  Literatur 
dieser  Epoche  —  Lauzun,  Crebillon,  INIme.  d'Epinay  u.  a.  — ,  l'amour 
physiqiie,  ramoiir  de  vanite.  Von  diesen  vier  Liebesformen  scheiden  hier 
die  dritte  und  vierte  und  wohl  auch  die  zweite  aus.  Die  reine  Sinnlichkeit, 
die  nur  ihre  Befriedigung  sucht,  kann,  wie  bemerkt,  auf  den  Namen 
Liebe  nicht  Anspruch  erheben.  L'amour  de  vanile  ist  eine  Pose,  ein 
unechtes  Verhalten  —  Gebärden,  die  man  spielen  könnte  — ■,  oft  sogar 
ohne  wahren  sinnlichen  Grenuß.  Wenn  man  Stendhals  (iio)  Bestimmung 
der  zweiten  folgt,  wird  man  auch  sie  wohl  verwerfen.  Es  heißt  dort  u.  a. : 
,,in  liomme  bien  ne  sali  d'avance  tous  les  procedes  qu'il  doit  avoir  et 
rencontrer  dans  les  diverses  phases  de  cet  amour;  rien  n'y  etant  passion  et 
irnprevu,  il  a  souvent  plus  de  delicatesse  que  d' amour  veritable,  aar  U  a 
ioujours  beaucoup  d'esprit;  c'est  une  froide  et  jolie  miniature  comparee  ä  un 
lableau  de  Carraches;  et  tandis  que  V amour-passion  nous  empörte  ä  travers 
de  tout  nos  interets,  l'amour-goüt  sait  toujours  s'y  conformer.  II  est  vrai  que, 
si  Von  öte  la  vanite  ä  ce  pauvre  amour,  il  en  reste  bien  peu  de  chose;  une 
fois  prive  de  vanite  c'est  un  convalescent  affaibli  qui  peut  ä  peine  se  trainer." 
Der  Versuch  einer  Phänomenologie  des  amour-passion,  der  uns  also 
allein  zu  interessieren  hat,  wird  vielleicht  am  zweckmäßigsten  von  der 
Entwicklung  dieses  Seelenzustandes  seinen  Ausgang  nehmen.  Zwei  ex- 
treme Fälle  bieten  sich  dar.  Einmal  die  ,, Liebe  auf  den  ersten  Blick", 
der  coup  de  foudre  ^,  das  andere  Mal  die  schleichende  Entwicklung.  Ge- 
legentlich wird  gemeint,  nur  die  erste  Form  entspreche  der  echten  Liebe. 
He  never  loved  who  loved  not  at  first  sight,  heißt  es  bei  Shakespeare. 
Für  richtig  halte  ich  das  nicht.  Schon  darum  nicht,  weil  anscheinend 
der  amour-passion  gar  nicht  von  dem  konkreten  Anblick  einer  Person 
abhängen  m\iß,  sondern  auf  Grund  von  Nachrichten,  von  Briefen  usw. 
langsam  entstehen  kann,  wie  das  etwa  die  Beziehung  zwischen  Robert  tmd 
Elisaheth  Browning  zeigt. 

Die  Liebe  auf  den  ersten  Blick  ist  ein  psychologisch  sehr  interessantes 
Phänomen.  Es  ist  von  dem  Standpimkte  des  Psychologen  aus  gesehen 
dabei  vollkonunen  gleichgültig,  ob  man  hier  einen  Gattungsinstinkt  walten 
lassen  will,  der,  den  Betreffenden  unbewußt,  sie  zueinanderzwingt.  Das 
sind  spekulative  Ausdeutungen,  die  vrir  auf  Sinn  und  Berechtigung  nicht 
prüfen   wollen.      Wichtig  ist,   daß  hier  eine   Individualität  eine  andere, 


1    Der     Ausdruck     entstammt    der    Romanliteratur    des     17.    Jahrhunderts. 

30* 


\l,I.i:!!S:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


468  

ein  Ich  ein  Du,  offenbar  in  einem  instantanen  Akt  in  seiner  Totalität 
erfaßt  zugleich  niit  den  darin  gründenden  idealen  Wertmöglichkeiten. 
Es  soll  hier  übrigens  nicht  von  dem  bloßen  sinnlichen  Beg^ehren ,  die  Rede 
sein,  das  Liebe  oben  nie  ist  Und  nie  sein  kann,  weil  es  sich  Selbst- 
zweck ist.  Da  es  sich  dabei  nur  um  eine  streng  individuell  gerichtete 
Geschlechtsliebe  handeln  kann,  tritt  die  oben  nach  Scheler  gegebene  Be- 
slinnnung  in  ihr  Recht,  daß  hierzu  ein  Akt  geistiger  Liebe  mitwirkend 
erlebt   werden   muß. 

Es  scheint,  daß,  wenn  man  eine  yVnalogie  zu  diesem  Erlebnis  suchen 
wollte,  am  ehesten  das  des  Findens  in  Frage  käme,  das  Finden  vornehm- 
lich einer  gesuchten  Erinnerung.  Dieses  ,,ja,  das  ist  es",  welches  jenen 
Moment  auszeichnet,  scheint  auch  ein  Merkmal  des  coup  de  foudre  zu 
sein.  „Dieser,  diese  ist  es;  hier  ist  das  Ziel,  nach  dem  ich  bewußt  oder 
unbewußt  gesucht  habe";  nur  daß  das  Wissen,  überhaupt  gesucht  zu  haben, 
offenbar   vielfach   erst  mit  dem   Erleben   des   Gefundenhabens    auftaucht. 

Daran  ändert  die  Tatsache  nichts,  daß  sich  auch  Liebe  auf  den  ersten 
Blick,  >vic  man  sagt,  irren  könne,  an  ein  miwürdiges  Objekt  hängen,  so- 
wenig der  wirkliche  Irrtum  die  ginjndsätzliche  Möglichkeit,  ein  fremdes 
Ich  in  einem  Akte  der  Liebe  in  seiner  Totalität  zu  erfassen,  aufhebt. 
Irrtum  schließlich  gibt  es  nur  dort,  wo  Erkenntnis  möglich  ist.  Wir 
können  von  elektromagnetischen  Schwingungen  keine  irrtümliche  Wahr- 
nehmung haben,  weU  eine  Wahrnehmung  dieser  uns  überhaupt  unmög- 
lich ist. 

Wie  alle  ,, intuitiven"  Erlebnisse  verträgt  auch  dieses  keine  weitere 
Analyse.  Alle  Gründe,  welche  nachträgliche  Überlegung  für  das  Er- 
lebnis beizubringen  suchen,  sind  Ausflüchte  der  erklärungssüchtigen  Ver- 
nunft, die  ohne  rational  formulierbare  Zusammenhänge  nicht  glaubt  aus- 
kommen zu  können. 

Die  allmähliche  Ent^^icklung  der  Liebe  verläuft  nach  Stendhal  in  sieben 
Phasen:  i.  BeAMinderung ;  2.  der  Gedanke:  welche  Freude,  die  Person 
zu  küssen,  von  ihr  geküßt  zu  werden;  3.  Hoffnung;  4-  Geburt  der 
Liebe;  5.  erste  Kristallisation;  6.  Zweifel;  7.  zweite  Kristallisation. 
Das  was  Stendhal  Kristallisation  heißt,  was  er  am  Beispiel  des  „rameau 
de  Sabbourg",  eines  in  die  Salzlaken  von  Hallein  eingelegten,  mit 
Kristallen  bedeckt  ihnen  wieder  entnommenen  Zweiges  illustriert,  deckt 
eigentlich  zwei  Phänomene:  einmal  die  Wertübertragung  1,  alles  was  mit 
der  Geliebten  irgend  zusammenhängt,  ge>vinnt  an  Wert,  mit  ihr,  im  G^ 
danken  an  sie  ist  das  Meer  großartiger,  die  Musik  schöner,  das  Leben 
tiefer,  voller,  zweitens  die  mit  Schelers  Worten  oben  herausgestellte  Be- 
wegung auf  die  Werterhöhung  hin.  Denn  auch  darin  hat  Scheler  recht: 
die  Liebe  macht  nicht  blind,  sondern  sehend;  wer  nicht  liebt,  ist  mit 
Blindheit  geschlagen.  Daher  das  immer  ^^^ede^kehrende  Staunen:  ich 
verstehe  nicht,  was  die  zwei  Leute  aneinander  finden.  Ob  nun  diese  sieben 
Stadien  typisch  seien,  weiß  ich  nicht.  Sicherlich  hat  Stendhal  richtig 
gesehen,   wenn   er   auf  die   Kristallisation   immer  meder   das   größte   Ge- 

'^  Ich  entlehne  diesen  Ausdruck  dem  Buche  von  E.  Zilsel.  Die  Genierelig^on, 
Wien-Leipzig,    1919. 


DIE  LIEBE 469 

wicht  logt.  Sie  bewirkt  es  auch,  daß  man  oben  in  pir  nicht  anwesende 
IN'i-sonen.  in  Verstorbono.  in  Bilder  sich  vorliolx'n  kann.  Hutchinson  er- 
zählt in  seinen  IMonioiron  von  einoni  jun','oii  Maiuio,  der  sich  aus  Liebe 
zu  einer  Verstorbonoii  das  LoIh'u  nahm:  er  hallo  sie  nie  gesehen,  nur 
nach  ihrem  TcmIo  von  ihr  gehört.  Das  Motiv  der  Liebe  zu  einem  Bilde 
kehrt  in  vielerlei  (M»schiciiloii  und  Märchen  wieder,  so  in  der  Erzählung 
von  Saif-al--Muluk  und  Badia-al-Djamal  o<ler  von  Geoffroy  Rudel  und  der 
Dame  von  Tripolis.  Wesentlich  für  eine  Phänomenologie  der  Liebe  ist 
das  Gerichtetsein  auf  ein  Du.  Zunächst  ist  es  dabei  irrelevant,  ob  die 
Liebe  erwidert  wird  oder  nicht,  man  „glücklich"  oder  „unglücklich" 
liebt  1.  Denn  der  Intention  nach  sind  beide  Fälle  einander  gleich,  nämlich 
in  der  Intention  auf  die  Bildung  eines  „Wir".  Ich  muß  hier  doch  von 
Schelers  Ansichten  (s.  o.)  abweichen,  und  diese  Wirbildung  als  einen 
fimdamentalen  Zug  der  Liebe  ansehen.  Wie  sich  dieselbe  vollzieht  und 
was  dabei  eigentlich  herauskommt,  ist  schwer  zu  sagen.  Volkmann  (ii3). 
bemerkt  (2.  S.  42o),  daß  Liebe  auf  dem  Bewußtsein  des  Wir  beruhe, 
aber  je  mehr  sie  von  dem  ganzen  eigenen  Ich  auf  das  ganze  andere 
Ich  gerichtet  sei,  danach  strebe,  dieses  Wir  in  ein  Ich  aufzulösen. 
Es  scheint  mir  der  letzte  Teil  dieser  Darstellung  nicht  ganz  richtig  zu 
sein.  Es  besteht  zwar  zweifelsohne  eine  Tendenz,  das  Wir  in  einem 
gewissen  Sinn  aufzulösen,  aber  doch  nur,  insofern  es  noch  Zweiheit  ist; 
dagegen  muß  man  sich  ein  Wir  in  einem  höheren  Sinn  als  Einheits- 
bildung zweier  Seelen  erst  in  der  Liebe  entstanden  denken.  Diese  Bildung 
die  eines  Ich  zu  nennen,  scheint  mir  unrichtig  deshalb,  weil  ein  Ich  doch 
stets  irgendwie  über  sich  hinausweist  und  hinausstrebt,  die  höhere  Einheit 
des  Wir  aber  in  sich  ruhend  und  sich  selbst  genügend  bestehen  kann  2. 
(Vielleicht  trifft  diese  Zeichnung  auch  die  wesentlichsten  Züge  der  Ver- 
einigung der  Seele  mit  Gott,  wie  sie  Meister  Eckhardt  meint.  Die 
mancherlei  einander  anscheinend  widersprechenden  Stellen  in  seinen 
Schriften   und   manche  Dunkelheit  darin  würden   dann  verständlicher.) 

Ich  glaube  sogar,  daß  die  Richtung  auf  solche  Wirbildung  das  tiefste 
Wesen  der  Liebe  ausmacht,  und  daß  sie  gewissermaßen  sich  der  Sexualität, 
do«;  Ahzielens  auf  die  geschlechtliche  Vereinigung  nur  als  des  zufällig 
höchstmöglichen  Modus  der  Konkretisierung  des  Ineinanderlebens,  eines 
Wir  in  vollendetem  Verstände  bedient.  Die  Sexualität  erschiene  so  als 
eine  Möglichkeit,  ein  Schema,  dessen  Erfüllung  und  Sinngebung  sich 
erst  in  der  durch  den  Liebesakt  erfolgenden  Wirbildung  vollzieht.  Die 
Sexualität  kann  dieses  Schema  beistellen,  weil  sie  wesenhaft  immer  auf 
ein  Du  gerichtet  ist;  sie  ist  sozusagen  Ansatz  zur  Liebe.  Sie  ist  das 
Strombett,  in  das  sich  die  Hochflut  der  Liebe  zu  ergießen  vermag. 

Es  scheint  mir  die  Bildung  einer  Wireinheit  aus  der  anfänglichen 
Wirzweiheit  auch  der  Grund  zu  sein,  warum  Liebende  einander  verstehen. 


1  „Wenn  ich  dich  liebe,  was  geht's  dich  an."  Es  ist  das  eine  Liebe,  die  vielleicht 
zwischen  der  Schwärmerei  (s.  o.)  und  der  echten  Liebe  steht.  Ihre  Wurzeln  können 
mannigfache  sein:  Resignation,  eine  gewisse  Mutlosigkeit,  Mangel  an  Selbstvertrauen, 
aber  auch    eine   Beschränktheit  im   eigenen    Ich. 

2  Daher  Maeterlincks  Wort  in  ,,Aglavaine  und  Selysette":  ,,Gott  hat  sicli  geirrt, 
als    er    aus    uns    zwei    Seelen    machte",    doch    nicht    den    Kern    der    Sache    trifft. 


470  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ohne  je  viel,  ja  ohne  überhaupt  über  einen  bestimmten  oder  irgendeinen 
Gegenstand  sich  gegeneinander  ausgesprochen  zu  haben.  Sie  verstehen 
Andeutungen,  halbe  Worte,  Gesten,  Mienen,  die  auch  solchen  Menschen 
entgehen  oder  unverständlich  bleiben,  die  aus  jahrelangem  Verkehr  eine, 
wie  mau  meinen  sollte,  gründlichere  Kenntnis  des  Betreffenden  erworben 
haben.  Ein  sehr  hübsches  Beispiel  hierfür  ist  jene  Szene  in  Tolstois 
;Vnna  Kaienina,  in  der  Kitty  Schtscherbazkij  und  Ljewin  sich  miteinander 
über  ihre  Liebe  und  ihre  Heiratsabsichten  verständigen  und  nur  die 
Anfangsbuchstaben  der  Worte  mit  Kreide  auf  das  Tuch  eines  Spieltisches 
schreiben    (Buch   IV). 

Wenn  ich  oben  sagte,  es  sei  zunächst  irrelevant,  ob  die  Liebe  erw^idert 
werde  oder  nicht,  so  meine  ich,  daß  die  Richtung  auf  solche  Wirbildung 
auch  bei  der  unerwiderten  Liebe  besteht  und  ihr  Wesen  ausmacht.  In 
der  Phantasie  des  Liebenden  wdrd  die  Wirbildung  allemal  vollzogen.  Sie 
kann  sogar  zu  halluzinatorischer  Deutlichkeit  herangebildet  werden.  (Die 
„Parusie"   in   der   Imago  von  Spitteler^.) 

Erfaßt  kann  das  Ganze  eines  Du  nur  durch  das  Ganze  des  Ich  werden. 
Im  Akt  der  Liebe  bricht  der  tiefe  Unterstrom  seelischen  Lebens  durch 
die  Oberflächenschichten  durch,  durchdringt  sie  und  reißt  ihre  Stücke 
mit  sich  w^eg.  Daher  kommt  es,  daß  das  Erlebnis  des  amour-passion  dem 
Alltags-Ich,  das  auf  Äußeres  eingestellt,  nur  mit  der  ,, Hälfte  seines 
Geistes"  sozusagen  lebt,  als  unvermutet,  als  neu,  ja  als  fremde  Gewalt 
erscheint,  ganz  so  wie  der  Künstler  die  Inspiration  aus  sich  hervor- 
quellen fühlt,  ohne  sein  Zutun.  Daher  kommt  es,  daß  Wille  und  Vemmift 
gegen  die  Liebesleidenschaft  nichts  vermögen;  denn  in  ihr  lebt  die  Voll- 
kraft, die  Totalität  der  Person,  gegen  Vielehe  Teilmanifestationen,  die 
doch  nur  Ableger  ihrer  selbst  sind,  nichts  ausrichten  können.  Diese 
relative  Spaltung  in  ©in  ratlos,  erstaunt  diesem  neuen  Erleben  anwrohnenden 
und  dem  von  ihm  erfüllten  Ich  ist  bei  echter  Liebe  nur  ©ine  kurze, 
vorübergehende  Phase,  die  nur  so  lange  anlialten  kann,  bis  auch  das  letzte 
Stückchen  jener  Kruste,  welche  den  Strom  der  Tiefe  sorgfältig,  aber 
darum  nicht  zuverlässig  deckte,  mitgerissen,  weggerissen  ist,  bis  die 
aus  dem  Ganzen  der  Person  quellende  Liebe  auch  alle  Manifestationen 
der  Person  durchdringt. 

Dann  konmit  es  zu  einem  Zustand,  in  welchem  jede,  auch  di©  fern- 
liegendste,  auch  die  gleichgültigste  Handlung  der  Liebenden  nur  mehr 
in  der  und  durch  die  Liebe  geschehen  kann,  jenem  Zustande  vergleichbar, 
den  die  Mystiker  Amare  Deum   in  Deo  nannten. 

Sowenig  aber  der  Mystiker  dauernd  im  Zustande  der  Entrückung  zu 
verharren  imstande  ist,  sowenig  er  das  Erlebnis  der  Gemeinschaft  mit 
Gott  ununterbrochen   zu  bewahren  vermag,  sowenig  kann  man  von  dem 

^  Es  darf  nicht  wundernehnien,  daß  ich  fast  immer  Beispiele  aus  Dichtwerken 
bringe.  Die  Liebenden  selbst  sind  so  wenig  imstande,  über  ihr  Erleben  Auskunft 
zn  geben,  wie  im  allgemeinen  die  Künstler  über  den  Vorgang  der  Inspiration  und  des 
Werdens  eines  Kunstwerkes.  Aus  den  wenigen  Dokumenten,  die  wir  besitzen  — 
etwa  der  BrovMiing-Briefwechsel,  die  portugiesischen  Briefe,  die  der  Mlle.  de  Les- 
pinasse  — ,  läßt  sich  wenig  entnehmen.  Man  ist  fast  ganz  auf  die  künstlerische  Nach- 
schaffung  angewiesen. 


DIL:  liebe;  471 


Liebenden  erwarten,  daß  der  angedeutete  Zustand  ihn  immerwährend 
beherrsche.  Nicht  nur,  daß  es  Schwankungen  gibt,  es  scheinen  auch 
Phasen  sich  einzuschiel)en,  die  ganz  dem  gleichen,  was  die  mystische 
Theologie  als  geistliche  Dürre,  als  acedin  bezeichnet,  ein  Versagen  der 
Liebesfälligkeit,  welches  an  der  eigenen  Lielxi  wie  an  dem  Werte  des 
Geliebten  zweifeln  läßt.  Schließlich  kann  auch  echte  Liebe  schwinden. 
.\m  wenigsten  wohl  dadurch,  daß  der  Liebende  zur  Einsicht  in  gewisse 
Eigenschaften  des  Geliebten  kommt,  die  ihm  bislang  unbekannt,  verborgen 
gebbeben.  Zu  solcher  Einsicht  kann  er  erst  gelangen,  wenn  die  Liebe 
schwindet.  Der  Vorgang  des  Versch>\indens  reicht  in  seinen  Wurzeln 
ebenso  tief  in  die  verstandesmäßiger  Durchdringung  unzugänglichen 
Schichten  der  Persönlichkeit  hinunter  wie  jener  der  Liebesentstehung. 
Es  ist,  möchte  man  sagen,  so,  als  ob  manche  Naturen  dauernd  der 
Aufgabe,  sich  und  einen  anderen  voll  und  ganz  zu  erleben,  nicht  ge^ 
wachsen  wären,  als  ob  sie  meder  in  die  Verdeckung  des  Tiefsten  durch 
—  um  ein  früher  gebrauchtes  Gleichnis  aufzugreifen  —  Krustenbildung 
flüchten  müßten. 

In  diesem  Zusammenhange  sei  auf  die  ,, Mittel  gegen  die  Liebe"  mit 
ein  paar  Worten  eingegangen.  Eine  kleine,  anon}Tn  erschienene,  seltsame 
Schrift  des  i8.  Jahrhunderts:  Des  causes  et  des  remedes  ä  l'amour  (par 
J.  F.,  Medecin  anglais)  bemerkt,  daß  alle  gemeinhin  angepriesenen 
Mittel,  Zerstreuung,  räumliche  Entfernung,  Aufgeben  des  Verkehrs  usw. 
recht  wenig  Nutzen  brächten,  gar  keinen  dort,  wo  es  sich  um  wirkliche 
Leidenschaft  handle.  Der  Autor  empfiehlt  ein  psychologisches  Verfahren, 
welches  ge\\'issermaßen  ein  Negativ  der  Kristallisation  darstellt.  Man 
gewöhne  sich  daran,  an  den  geliebten  Gegenstand  immer  nur  in  Zusam- 
menhang mit  einem  anderen  zu  denken,  der  peinliche,  quälende  Gefühle 
auszulösen  imstande  ist.  Dann  wird  sich  allmählich  die  Unlustbetonung 
auch  auf  den  Geliebten  übertragen  und  so  die  Liebe  zum  V^erlöschen 
bringen.  Man  muß  sagen,  das  Mittel  ist  nicht  ohne  eine  gemsse 
Ingeniosität;  ich  fürchte  aber,  daß  wenig  wahrhaft  Liebende  sich  zu  seiner 
Anwendung  bereit  finden  werden  —  sie  wollen  ja  ihre  Liebe  gar  nicht 
überwinden  1.  W'as  Stendhal  zu  diesem  Punkte  sagt,  ist  wenig;  es 
gipfelt  eigentlich  darin,  daß  ein  Widerstand  nur  im  Beginne  möglich, 
daß  eine  Art  Prophylaxe  —  etwa  bei  jungen  Mädchen  —  denkbar  sei. 

Folgerichtig  sind  hier  die  Hemmungen  der  Liebe,  Hindernisse,  die  sich 
ihrem  Entstehen  überhaupt  oder  ihrer  weiteren  Entfaltung  entgegenstellen, 
aufzuführen.  Man  kann  eigentlich  nicht  sagen,  daß  irgend  angebbare 
Züge  bestünden,  welche  einen  Menschen  als  Gegenstand  der  Liebe  aus- 
geschlossen erscheinen  lassen  würden.  Verbrecher  und  Krüppel,  Dumm- 
köpfe aller  .Art  haben  schon  Liebe  gefunden.  Man  hört  wohl,  daß  besonders 
abstoßende,  ekelerregende  Züge  Liebe  verhinderten  oder  zum  Verschwin- 
den brachten.  /Vber  auch  das  muß  nicht  sein.  Soviel  ich  sehe,  wider- 
streiten der  Liebe  eigentlich  nur  zwei  Einstellungen  des  Subjektes,  nicht 
Eigenschaften  des  Objektes:     besondere  Achtung  und  Verachtung. 


1    Natürlich    gibt    es    Ausnahmen.     Man    vgl.    die    bei    W.    James    zitierte    Stelle    aus 
der    Selbstbiographie    Alfieris. 


472  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

„Die  Sterne  begehrt  man  nicht"  —  dieser  Satz  drückt  wohl  aus, 
daß  Verehrung,  Achtung  eigentlich  dem  Aufkommen  von  Liebe  hinderlich 
sind.  „Qui  savise  de  devenir  amoureax  d'une  reine,  ä  moins  quelle 
ne  fasse  des  avances?"  fragt  Stendhal.  Der  Grund  dürfte  darin  zu  suchen 
sein,  daß  Achtung  jene  Bemächtigung  des  fremden  Ich,  den  „Einbruch" 
in  die  Sphäre  dos  Du  (Meisel-Heß  [80  al)  verhindert,  indem  sie  von 
vornherein  eine  zu  große  Distanz  schafft,  das  Objekt  außer  den  Bereich 
solcher  Annäherung  zu  rücken  scheint.  Eine  Wirbildung  setzt  doch 
irgendwo  eine  gemeinsame  Ebene  voraus.  Daß  damit  nicht  gesagt  ist, 
daß  Achtung  und  Liebe  schlechthin  inkompatibel  seien,  bedarf  wohl 
nicht  erst  der  Unterstreichung.  Aber  wo  einmal  Liebe  Platz  gegriffen 
hat,  ist  sie  auch  Quelle  der  Achtung,  wenn  auch  diese  vorher  schon 
bestand.  In  dem  Augenblick,  da  wirklich  Liebe  entsteht,  wdrd  sie  über- 
haupt Urquell,  weil  sie  das  Ich  in  seiner  Totalität  enthält. 

Dieselbe  Distanz  in  negativem  Sinn  erzeugt  Verachtung.  Auch  sie 
kann,  wie  die  allzu  große  Achtung,  von  Liebe  überwunden  werden:  es 
kann  die  Herrin  den  Sklaven  wirklich  lieben  1. 

Im  Subjekt  stehen  der  freien  Entfaltung  der  Liebe  mannigfache  Hem- 
mungen entgegen,  deren  eine  durch  den  „Isolationsinstinkt"  von  James 
(60),  durch  die  Tendenz,  das  Ich  vor  dem  Einbruch  eines  anderen  zu 
bewahren,  gegeben  ist.  Daneben  ungezählte  rein  konventionelle  Momente. 
Vor  allem  gibt  die  Ambivalenz  einen  der  Liebe  selbst  immanenten  Hem- 
mungsmechanismus ab. 

Noch  eine  zweite  Zwischenbemerkung  zur  Frage  nach  den  Beziehimgen 
von  „Liebe  und  Psychose";  unter  diesem  Titel  hat  G.  Lomer  (76a) 
eine  Studie  veröffentlicht,  in  der  er  den  Nachweis  erbringen  will,  daß  der 
Liebe  wesentlich  die  Struktur  der  Paranoia,  zumindest  der  überwertigen 
Idee  zukommt.  Es  scheint  mir  diese  Behauptung  nur  sehr  bedingt 
zulässig.  Soviel  ist  richtig,  daß  manche  Geisteskranken  wie  der  Liebende 
mit  dem  Einsatz  ihrer  ganzen  Person  eine  neue  Welt  in  sich  aufbauen. 
Was  aber  die  Psychose  grundsätzlich  von  der  Liebe  scheidet,  ist  ihre 
Bezogenheit  auf  das  eigene  Ich,  sie  bleibt  in  sich  verschränkt,  während 
Liebe  wesenhaft  über  sich  und  das  Ich  hinausweist.  Es  ist  indes  nicht 
unsere  Aufgabe,   hier   psychopathologischen   Problemen   nachzugehen. 

Das  bisher  Ausgeführte  gilt  wohl  für  die  Liebe  im  allgemeinen. 
Trotzdem  darf  nicht  verkannt  werden,  daß  in  diesem  Erleben  Variationen 
vorkommen,  ebenso  wie  wir  sie  für  die  Sexualität  im  engeren  Sinne 
kennengelernt  haben,  Abweichungen  von  Individuum  zu  Individuum,  beim 
Mann  und  bei  der  Frau,  bei  verschiedenen  Nationen  und  auf  verschiedenen 
Kulturstufen. 

Was  zunächst  die  individuellen  Varianten  anlangt,  so  ist  unsere  Kenntnis 
noch  äußerst  gering.    Wir  nehmen   zwar  an,   daß    zumindest  hoch  dif- 


^  La  Rochefoucauld  (69):  ,,I1  est  difficile  d'aimer  ceux  que  nous  n'estimons 
pomt;  mais  il  ne  Test  pas  moins  d'aimer  ceux  que  nous  estimons  beaucoup  plus 
que    nous." 


DIE  LIEBE  473 


foriMizierU'  Menschen,  jetler  auf  seine  Art,  lieben  werden S  wenn  auch 
(las  Gruhdphänomen  dasselbe  bleibt.  Worin  aber  diese  individuellen 
l  nterscliiiHle  bestehen  niöfren.  ist  uns  verborgen.  Sic  gründen  Ict/tlicli 
in  der  Eigenart  und  Einzigartigkeit  jeder  Person,  die  wir  ja  vorderhand 
auch  nicht  zu  erlassen  \<'rniögen.  L'anioür-pdssion  in  st'ineni  luichsten 
Sinn  ist  selten;  die  Richtung  auf  ihn  zu  allgemein  und  der  Fortschritt 
in  dieser  Richtung,  wenn  man  so  sagen  darf,*  verschitxlen  grofo.  ^  iel- 
fach  trifft  man  auch  Ix'i  Menschen,  welche  anscheinend  nur  dem  reinen 
sinnlichen  Sexuidgenuß  nachtrachten,  Andeutungen  davon.  Auch  die 
Prostituierte  wird  nicht  gar  so  selten  nicht  ausschließlich  aus  somatischen 
oder  triebhaften  Motiven  heraus  aufgesucht ;  auch  hier  wird  eine  Art 
\\  irbildung,  wenn  auch  flüchtiger  Natur,  angestrebt. 

Über  die  verschiedene  Art  zu  lieben  und  Liebe  zu  erleben  des  Mannes 
und  der  Frau  ist  vielerlei  geschrieben  worden.  In  den  Grundzügen  kann 
auf  das  oben  über  die  Differenzen  der  Geschlechtlichkeit  überhaupt  Ange- 
merkte verwiesen  werden.  Liepmann  (78)  hat  sich  jüngst  zu  dieser 
Frage  geäußert.  Er  nennt  etwa  das,  was  hier  als  Richtung  auf  den 
geistigen  Liebesakt  bezeichnet  wurde,  den  „Seelen trieb",  ein  m.  E.  nicht 
glücklicher  Ausdruck.  Der  Frau  soll  nach  ihm  eine  weit  stärkere  Aus- 
prägung dieses  Seelentriebes  eignen,  während  der  Mann  durch  ein  Über- 
wiegen des  ,, Naturtriebes"  ausgezeichnet  sei.  Dem  Seelentrieb  läßt  er 
die  Mütterlichkeit  entstammen.  Ja,  wenn  ich  ihn  i-echt  verstehe,  ist 
der  Seelentrieb  eigentlich  Alleinbesitz  des  Weibes  und  kommt  dem  Manne 
nur  insofern  und  insoweit  zu,  als  in  der  männlichen  Natur  „W-Elemente" 
im  Sinne  der  Anschauungen  Weiningers  (ii/j)  enthalten  sind.  Ich  glaube, 
daß  dem  eine  gewisse  Unscharfe  phänomenologischer  Analyse  der  ver- 
schiedenen Arten  von  Liebe  zugrunde  liegt,  daß  zu  Unrecht  die  geistigen 
Liebesakte,  welche  sich  auf  den  Geschlechtspartner  richten,  mit  den 
auf  die  Kinder  abzielenden  zusammengeworfen  werden.  Es  besteht  kein 
Grund,  wenn  Mutterliebe  und  G«schlechtsliebe  beide  Entäußerungen  des 
,, Seelen triebes"  sein  sollen,  Vaterlamdsliebe,  Kunstliebe  usw.  davon  unab- 
hängig zu  machen.  Niemand  wird  aber  behaupten  wollen,  Vaterlandsliebe 
sei  ein  Prärogativ  der  Frau  oder  dem  Manne  nur  nach  Maßgabe  seines 
Besitzes  an  W-Elementen  zuzuerkennen.  Liepmann  irrt,  wie  ich  glaube, 
auch  darin,  daß  er  die  „Wirbildung"  aus  dem  Mitleid  herzuleiten  bestrebt 
ist  (S.  2/jo:  ,,Die  Fähigkeit,  sein  Ich  in  das  Objekt,  das  Objekt  in 
sein  Ich  zu  versetzen,  durch  das  Mitleiden  können  .  .  ."),  während  es  mir 
scheint,  daß  Mitleid  ebensowenig  eine  Ethik  (vgl.  Scheler)  wie  das 
Phänomen  der  Wirbildung  zu  begründen  vermag.  Dennoch  aber  wird 
man  nicht  fehlgehen,  wenn  man  im  allgemeinen  der  Frau  —  es  ist 
so  oft  gesagt  worden,  daß  es  ein  Gemeinplatz  ist  —  ein  größeres  Madi 
an  Liebesfähigkeit  beilegt.  Nicht  nur  scheint  es,  daß  mehr  Frauen 
als  Männer  echter,  leidenschaftlicher  Liebe  fähig  sind,  sondern  die  Liebe 
gelangt   auch    in    jedem    Stadium    auf   dem    W^ege   zu   ihrer    vollendeten 


^  Sicherlich:  jeder  auf  seine  Art  lieben  will.  Wenn  wir  bitten:  „Oh,  Herr,  gib  jedem 
seinen  eigenen  Tod"  (R.  M.  Rilke),  um  wie  viel  mehr  wird  jeder  um  seine  eigene  Liebe 
bitten. 


474  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Gestall  bei  der  Frau  zu  viel  durchgreifenderer  Entfaltung.  Vielleicht  läßt 
sich  sagen,  daß  es  in  der  weiblichen  Seele  eines  -weniger  revolutionierenden 
Umsturzes  bedarf,  um  die  Tiefe  des  Ich  im  Akte  der  Liebe  zur  Herr- 
schaft und  zum  Durchbruch  gelangen  zu  lassen.  Es  kann  das  daran 
Hetzen,  daß  in  der  Regel  die  rationale  und  praktische  Krustenbildung 
bei  der  Frau  weniger  weit  fortgeschritten  ist  als  beim  Manne,  was  zum 
Teil  nichts  anderes  besagen  will  als  die  oft  mederholte  Behauptung  von 
der  größeren  Emotivität  der  Frau.  Übrigens  ist  dieses  Faktum,  zusam- 
mengehalten mit  den  oben  beschriebenen  psychosexualen  Geschlechts- 
differenzen, geeignet,  die  relative  Unabhängigkeit  von  Geschlechtlich- 
keit imd  Liebe  in  dem  hier  eingangs  präzisierten  Sinne  neuerlich  zu 
betonen. 

Ob  beim  Mann  oder  bei  der  Frau  die  Liebe  auf  den  ersten  Blick 
häufiger  sei,  ist  mangels  eines  Erfährungsmaterials  nicht  zu  entscheiden. 
Vielleicht  ist  zwar  diese  Erscheinung  auf  beide  Geschlechter  gleichmäßig 
verteilt,  kommt  aber  die  langsame  Entwicklung  echter  Liebe  bei  der  Frau 
häufiger  vor,  als  ob  die  einer  intuitiven  Erfassung  des  Objektes  wahrhaft 
Fähigen  hier  und  dort  in  gleicher  Zahl  vorkämen,  die  überhaupt  zu 
echter  Liebe  Befähigten  aber  beim  weiblichen  Geschlechte  überwögen. 

Es  scheint  weiter,  daß  die  einmal  bewußt  gewordene  Liebe  bei  der  Frau 
dies  in  erhöhtem  Maße  bliebe  als  beim  Manne.  Das  mag  paradox  klingen, 
entbehrt  aber  nicht  der  Wahrscheinlichkeit.  Auch  der  liebende  Mann 
wird,  was  inrnier  er  tue,  seine  Tat  sozusagen  in  seiner  Liebe  tun;  aber 
er  wird  das  nicht  immer  wissen;  die  Liebe  wdrd  bei  Verrichtung  seiner 
beruflichen  Leistungen  z.  B.  nur  einen  Unterstrom  bilden.  Die  liebende 
Frau  aber  tut,  was  immer  sie  tue,  für  den  geliebten  Mann,  gleichgültig, 
ob  ein  unmittelbarer  Zusammenhang  besteht  oder  nicht,  ob  sie  für  ihn 
kocht  oder  sein  Heim  ordnet,  ob  sie  an  der  Schreibmaschine  sitzt  oder 
die  Zilien  eines  Infusors  abzählt.  Damit  mag  zusammenhängen,  daß 
die  Frau  durch  ihre  Liebe  im  Alltagsleben  mehr  gehindert  wird  als 
der  Mann. 

Es  ist  hier  an  eine  Bemerkung  anzuknüpfen,  welche  in  teilweisem 
Anschluß  an  Georg  Simmel  in  dem  .Abschnitt  über  die  Sexualität  ge- 
macht ^vu^de.  Wie  die  sexuelle  Frage,  ist  für  den  Mann  auch  die 
Liebe  ,,eine  Relationsfrage  .  .  .,  sein  Absolutes  ist  mit  seinem  Geschlecht- 
lichsein nicht  verbunden.  Für  die  Frau  ist  dieses  eine  Wesensfrage, 
die  ihre  Absolutheit  sekundär  auch  in  die  aus  ihr  hervorgegangene 
Relation  hineinträgt."  Wie  in  den  Entäußerungen  der  Sexualität  i.  e.  S., 
so  gibt  auch  schließlich  in  der  Liebe  die  Frau  sich  nicht  völlig  her  oder 
aus,  sie  bleibt  bei  allem  Aufgehen  in  der  Beziehung  zum  Geliebten  und 
in  seiner  Person  doch  irgendwie  in  sich  selbst  beschlossen. 

Wiederum  wäre  die  Frage  aufzuwerfen,  ob  diese  Unterschiede  zwischen 
den  beiden  Geschlechtern  als  eine  Weiterbildung  oder  ein  „Überbau" 
über  die  Sexualität  anzusehen  seien,  oder  ob  es  sich  hier  um  koordinierte 
Wesensäußerungen  handelt.  Wie  ich  schon  einmal  sagte,  ich  glaube  nicht, 
daß  SexuaUtät  als  ein  in  metaphysischem  Sinne  Letztes  angesehen  werden 
kann.  Und  Ich  halte  es  deshalb  für  eine  gewisse  Beschränkung,  um 
nicht   zu   sagen    Beschränktheit,    den   ganzen   Menschen   aus   diesem  einen 


DIE  LIEBK  475 


l*uiiktt'  heraus  vorsU'luMi  nebenbei  auch  kurieren  zu  wollen.  Weil  sich 
d'w  gleiche  (it^selzlichkeit  in  verschiedenen  Sphären  wiederfinden  läßt, 
folirt  noch  lani:re  nicht  deren  wesenhal'ter,  sicher  nicht  deren  i^enetischer 
Zusaujuienhaiif:.  \  leimehr  scheint  mir  die  Sachlage  die,  dalj  sich  das 
absolute  ^^  eseii  des  Menschen  in  allen  seinen  Lebensäulierungen  gleicher- 
maßen ausspricht,  nur  daß  che  einen  sozusagen  eine  größere  Kernnähe 
besitzen  als  die  anderen.  Was  im  tiefsten  Verstände  Mann  oder  Frau 
sei,  ist  nicht  zu  sagen.  Was  immer  es  sei,  es  durchdringt  alle  Regionen 
seelischen  Lebens  und  seine  äußerlichen  Manifestationen:  die  Geschlecht- 
lichkeit, die  Liebe,  das  Handeln  und  alles  andere.  Ich  würde  nicht 
einmal  sagen,  daß  das  Wesen:  Frau  durch  die  intimere  Verflechtung  des 
Geschlechtlichen  charakterisiert  werden  könne,  eher,  daß  die  Sexualsphärc 
dem  absoluten  Sein  der  Frau  irgendwie  näher  stehe  und  daher  mehr 
von  dessen   Struktur  abbilde,  als  das  beim  Manne  der  Fall  sei. 

Jene  eben  gekennzeichnete  Differenz  der  Geschlechter  in  der  Wirkung 
der  Liebe  auf  ihr  Verhalten  erfordert  noch  eine  Ausführung.  Es  darf 
nämlich  dies  ,,In-der-Liebc-Handehi"  nicht  verwechselt  werden  damit, 
daß  die  Liebende  allesamt  der  eine  ,,für  den  anderen  etwas  tim  wollen". 
Es  scheint  mir  dieser  Zug  ein  weiteroe  Charakteristikum  —  allerdings 
schwerlich  der  GeschlechLsliebo  allein  —  zu  sein;  mit  der  Liebe  ist  eine 
Tendenz  auf  das  Opfer  zu  innig  verschwistert.  Diese  Tendenz  scheint 
mir  ein  weiterer  Stützpunkt  für  die  Ablehnung  der  Schelerschen  Negation 
eines  ursprünglichen  Altruismus  der  Liebe.  Und  das,  trotzdem  dabei  neben 
der  Richtung  auf  den  anderen  zweifelsohne  auch  eine  Richtung  auf  das 
Opfer  schlechthin  besteht.  Liebe  wünscht  nicht  sowohl  für  den  anderen 
etwas  zu  tun,  als  überhaupt  eine  Leistung  auf  sich  zu  nehmen;  sie  findet 
im  Opfer  unmittelbar  eine  teilweise  Sinnerfüllung.  (Vielleicht  knüpft 
sich  an  diese  Neigung  und  zugleich  an  die  Einsicht,  daß  ethisches  Ver- 
halten doch  vornehmlich  aus  Liebe  nur  —  in  weitestem  Sinne  selbstver- 
ständlich —  erwachsen  kann,  die  vielfach  vertretene  Anschauung,  daß 
nur  jene  Handlungen  moralischen  Wert  hätten,  die  ein  Opfer  bedeuten.) 
Es  bedarf  indes  einer  Bestimmung  mehr;  die  Stellung  zu  diesem  Opfer 
ist  nämlich  eine  zmespältige.  Es  wird  die  betreffende  Leistung  zugleich 
als  Opfer  angesehen  und  wiederum  nicht.  Es  ist  dies  nicht  oder  nicht 
immer  so  zu  denken,  daß  das  Opfer  zwar  als  solches  gewertet  werde, 
um  den  Geliebten  oder  der  Liebe  willen  aber  freiwdllig  und  freudig  unter- 
nommen werde.  Natürlich  kommt  auch  das  vor;  wie  es  scheint,  ist 
diese  Einstellung  die  beim  Mann  überwiegende.  Aber  die  hier  gemeinte 
Zwiespältigkeit  liegt  schon  in  der  Sphäre  der  Wertung  selbst:  das  Opfer 
ist  eines  und  ist  zugleich  auch  keines,  eine  Einstellung,  die  eindringonderer 
Erörterung  kaum  zugänglich  erscheint.  Soll  eine  solche  dennoch  ver- 
sucht werden,  so  sind  es  vornehmlich  negative  Abgrenzungen,  die  man 
auffinden  kann.  Was  nicht  zutrifft,  ist  etwa  die  Auffassung,  es  werde 
die  betreffende  Tat  als  Opfer  angesehen  vom  Standpunkte  des  oder  der 
anderen.  In  dem  Augenblick,  in  welchem  solcher  Bezug  auf  die  Mei- 
nung anderer  statthat,  handelt  es  sich  schon  nicht  mehr  um  das  hier 
eigentlich  gemeinte  Verhalten.  Dieser  Bezug  bringt,  vielleicht  nicht  mit 
Notwendigkeit,    aber    mit    großer    Wahrscheinlichkeit,     die    Gefahr   einer 


476  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

ganz  anderen,  sogar  wesentlich  lieblosen  Haltung  mit  sich,  die  sich  etwa 
so  darstellt:  wie  liebe  ich,  daß  ich  dieses,  jedem  anderen  so  bedeutend 
erscheinende  Opfer  auf  mich  nehme;  eine  Hinwendung  also  durchaus 
auf  das  eigene  Ich,  statt  über  dasselbe  hinaus.  Sie  ist  deshalb  im  wahren 
Sinn  als  lieblos  zu  bezeichnen,  weil  in  ihr  die  Liebe  imd  damit  der  Ge- 
liebte Mittel  werden  zur  Erhöhung  des  Selbstgefühls,  einer  Besonderung, 
Umschränkung  geradezu  des  Ichs,  statt  einer  Ausweitung  desselben  zum 
Wir  in  der  Liebe.  Wer  rechnet:  dies  habe  ich  für  dich  getan  und  das, 
liebt  nicht  oder  nicht  mehr. 

Semper  crescil  et  decrescit  amor,  sagt  der  schon  einmal  zitierte 
Kapellan  Andreas.  In  der  Bestimmung  echter  Liebe  ist  nichts  gelegen, 
was  ihre  Dauer  in  der  Zeit  implizieren  würde.  Ich  halte  es  für  falsch, 
wenn  man  aus  dem  Verklingen  einer  Liebe  schließen  wollte,  sie  sei  nicht 
die  wahre  gewesen.  Daß  den  im  Zustande  der  Liebe  Befindlichen  ewige 
Dauer  Gewißheit  ist,  tut  nichts  zm-  Sache. 

Man  kennt  mannigfache  Selbsttäuschungen  auch  in  anderen  Seeleo- 
lagen. Vielleicht  ist  hier  der  einzige  Pimkt,  in  dem  Liebe  „blind"  ist. 
Der  Liebende  kann  aber  unmöglich  um  die  etwaige  Vergänglichkeit  seines 
Zustandes  wissen,  sowenig  wie  der  in  Ekstase  schwebende  Gottsucher 
in  diesen  Augenblicken  darum  weiß,  daß  seine  Seele  wiederum  von  Gott 
lassen  wird  müssen. 

Dauer  der  Liebe  hängt  nicht  von  Liebe,  ihrem  Grad,  ihrer  Echtheit,  oder 
wie  man  sagen  will,  ab,  sondern  von  dem  Ich,  das  in  ihr  die  Außenschichten 
durchbricht.  Man  könnte  ein  Gleichnis  machen  aus  dem  Verhalten  von 
Vulkanen,  d.  h.  der  ihnen  entströmenden  Lava,  die  das  eine  Mal  dauernd 
fließt,  immer  wieder  neue  Glutmassen  über  die  erkaltenden  Schlacken 
strömen  läßt,  das  andere  Mal  in  ihrem  Ausfluß  stockt  und  nur  die  aus- 
gebrannten, kalten  Massen  übrig  läßt.  Darum  war  es  doch  beide  Male 
echte,   glühende,  strömende  Lava  gewesen  i. 

Ob  es  überhaupt  wesentliche  Variationen  des  amour-passion  zu  ver- 
schiedenen Zeiten  und  bei  verschiedenen  Völkerschaften  gibt,  wage  ich 
nicht  zu  entscheiden.  Ich  neige,  offen  gestanden,  der  Meinung  zu,  daß 
die  Liebe  ihrem  Wesen  nach  stets  eine  sei,  zu  allen  Zeiten,  in  allen 
Regionen.  Wieso  verstünden  wir  denn  etwa  die  Liebeslieder  eines  Li- 
Tai-Po,  wenn  nicht  im  letzten  seine  Liebe  und  die  unsere  doch  dieselbe 
wäre,  wiewohl  er  schlitzäugige  Chinesinnen  oder  Hafis  steatopyge  Oda- 
lisken  angesungen? 

Dennoch  gibt  es  Unterschiede;  sie  betreffen  aber  nicht  den  Kern,  son- 
dern einmal  gev^sse  Manifestationen  der  und  sodann  gewisse  Urteile, 
Bewertungen  über  die  Liebe.  Eine  Kulturgeschichte  der  Liebe  ist  trotz  des 
reichen  ethnologischen  Materiales  bei  Stoll,  trotz  bemerkenswerter  Ansätze 
bei  Stendhal  oder  auch  bei  Lucka  (4)  und  etwa  bei  Müller-Lyer  eigent- 
lich  erst   zu   schreiben.     Hier    ist  indes   weder   der   Ort,    Bruchstücke   zu 


^    Der     Mensch     sei,     meint     offenbar     in     diesem     Sinne     La  Rochefoucauld     (69), 

für    die    Dauer    seiner    Leidenschaften    so    wenig    verantwortlich  wie    für    die    Dauer 

seines    Lebens.      Ähnlich     Lou    Andreas-SaJome:      ,.Das     natürliche  Liebesleben    in    allen 

semen    Entwicklimgen,    und    in    den    individualisiertesten     vielleicht  am    allermeisten,    ist 
aufgebaut    auf    dem    Prinzip    der    Untreue." 


PIK  LIEBE 477 

einer  Geschichte  der  Liebessitlen  und  Licbcsäußerungen  noch  zu  einer 
der  Meinunjron  von  der  Liolx»  zusanunenzutraf^Mi.  Nur  der  Verdeutlichimg 
halber  ein  lieispiel.  Ik^llique  (8)  macht  darauf  aufmerksam,  <lali  die 
Liebe^lieder  <ler  alten  italienischen  Musik  —  .Montevertli,  Scarlalti,  IVt^'o- 
leso.  Qiris.simi  und  wie  sie  alle  heilien  —  durchweg  traurigen  Inhalti39 
sind.  Hier  erscheint  die  Liebe  überwiegend  als  die  Bringerin  von  Schmer- 
zen: unerhörte  Liebe,  Tod  der  Geliebten,  Flucht  in  den  Tod  ii.  dgl.  sind 
ihre  hervorstechenden  Motive.  In  allen  Zeiten  natürlich  gibt  es  scdche 
Lieder  auch.  .\ber  <lii^er  Epoche  f<^hlt  die  jub<^lndo,  triumphierende  Liebe, 
die  im  deutschen  Liede  so  oft  zu  Worte  kommt,  durchaus.  Es  wäre  erst 
zu  untersuchen,  wieweit  dies  Ausdruck  einer  bestimmten  Mentalität,  in- 
wieweit es  nur  Mode  oberflächlicherer  Art  gewesen.  Jedenfalls,  die  Tat- 
sache ist  da  und  weist  auf  irgendwelche  kulturelle  .Abwandlungen  der 
Liebe  hin. 

Da  ich  aber  an  das  überzeitliche  und  überindividuelle  Gleichsein  echter 
Liebe  glaidse,  kann  ich  mich  nicht  entschließen,  die  ,,drei  Stufen  der 
Erotik'"  Luckas  mit  drei  Stufen  der  Liebe  gleichzusetzen  i.  Zugegeben 
sei,  daß  Liebe  in  unserem  Sinne  zu  ihrer  Entfaltung  einer  gewissen  Aus- 
bildung des  Geistes  bedurft  hat,  daß  der  Troglodyt  ihrer  und  vielleicht 
auch  noch  der  Pelasg^r  unfähig  gewesen  sein  mag  2.  Aber  ,, historische" 
Völkerschaften,  in  dem  Sinne,  wie  man  dies  Wort  gemeinhin  gebraucht, 
dürften  wohl  immer  Liebe  gekannt  haben.  Ich  vermute,  daß  mehr  die 
Wertschätzung,  welcher  die  Liebe  im  allgemeinen  begegnet  ist,  Schwan- 
kungen unterworfen  war,  daß  in  einer  Epoche  eine  große,  in  anderen 
eine  geringe  Achtung  davor  bestand,  daher  die  uns  erhaltenen  Berichte, 
Dokumente  aller  Art  bald  mehr,  bald  weniger  oder  gar  nicht  davon  zu 
reden  wissen.  Es  ist  doch  m.  E.  unwahrscheinlich,  daß  plötzlich, 
etwa  zur  Zeit  der  Romantik,  eine  Generation  liebesfähiger  Menschen  sollte 
aufgestanden  sein.  Je  nach  der  Hauptrichtung  des  Zeitgeistes  getraute 
man  sich  sozusagen  zu  lieben  oder  nicht,  gestand  es  sich  und  den  anderen 
ein,  ja  rühmte  sich  dessen  oder  verbarg  derartige  Regungen  sicherhch  vor 
der  Welt,  wahrscheinlich  auch  vor  sich  selbst.  Eine  Erscheinung,  die  man 
ja  auch  im  Leben  des  Einzelindividuums  antrifft;  gar  mancher,  durch 
Neigung,  vor  allem  diirch  Erziehung  und  Einfluß  der  Umwelt  dazu  be- 
stimmt, glaubt  in  seiner  eigenen  und  der  Achtung  seiner  Mitmenschen, 
Standesgenossen  zu  sinken,  wenn  er  sich  einem  Gefühl  hingibt,  anstatt 
nur  sachlich  interessiert  zu  sein.  Diese  Einstellung  auf  das  Objektive, 
Unpersönliche  ist  eine  spezifisch  männliche  und  zur  allgemeinen  Wert- 
grundlage nur  geworden,  weil  die  Menschen  gewohnt  sind,  den  männ- 
lichen Standpunkt  als  den  schlechthin  maßgebenden  anzusehen  (Simmel), 
während  für  die  Frau  dieser  Konflikt  in  weit  geringerem  Ausmaße  be- 
steht.    Daher  rührt  es  auch,  daß  man  Epochen  und  Menschen,  in  denen 


^  Ellen  Key  (64)  meint,  die  Askese  des  Kafiiolizismus  hal)e  den  Geschle<;hts- 
Irieb  unterdrückt  und  dadurch  ,, mittelbar  das  nach  innen  gekehrte,  seelenvolle,  sich 
über  die  Sinnlichkeit  erhebende  Liebesgefühl  entwickelt".  Ich  glaube  aber:  nur  diesen 
Ausweg  für  den  Ausdruck  übriggelassen. 

-  So  soll  nach  Finsch  (zit.  l>ei  Meisel-Heß  [80  a])  ,,auf  der  Insel  Ponape  zwar 
die    Paarung    und    die    Ehe,    nicht    aber    die    Liebe   ein   bekannter    Zustand    sein". 


473  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

der  Liebe  Hochschätzung  entgegengebracht  und  freie  Entfaltung  zuge- 
standen wird,  gern  als  Gebilde  einer  verweichlichten  weibischen  Kultur 
hinstellen  mll;  als  ob  von  vornherein  ausgemacht  wäre,  daß  das  Ideal 
des  Mannes,  wie  es  sich  gemeinhin  gibt,  auch  ohne  weiteres  <las  der 
Menschheit  sein  müsse. 

Damit  dürfte  es  zusammenhängen,  daß  Liebe  sich  zu  verbergen  trachtet. 
In  ihrem  Wesen  liegt  nichts,  was  Öffentlichkeit  ausschließen  würde;  eher 
im  Gegenteil:  es  findet  sich  darin  vielleicht  eine  gewisse,  mag  sein 
törichte  Tendenz,  andere  an  dem  empfundenen  Glück  irgendwie  teihiehmen 
zu  lassen.  Anderseits  empfinden  die  Liebenden  eben  nicht  mit  Unrecht, 
daß  man  ihr  Gehaben  und  Leben  „nicht  verstehen"  würde.  Und  so  be- 
hält jenes  Lied  recht,  das  J.  S.  Bach  seiner  Magdalen©  in  das  Noten- 
büchlein schrieb:  Willst  du  dein  Herz  mir  schenken,  so  fang'  es  heim- 
lich an  .  .  . 

Gewiß  wird  man  aber  zugeben  müssen,  daß  die  geringere  Achtung,  die 
man  der  Liebe  —  und  der  Frau  —  da  und  dort  entgegengebracht  hat, 
auch  ihre  Entfaltung  gehemmt  haben  wird.  Hemmnisse  solcher  Wirkung 
gibt  es  noch  andere.  Die  gewdssen  Kulturen,  so  auch  in  weitem  Maße 
unserer  Zeit,  eigene  Tendenz  zur  Maskiemng  des  wahren  Ich,  der  wirklich 
empfundenen  Gefühle,  die  Konvention  „gesellschaftlichen"  Verhaltens 
erschweren  das  (grundsätzlich  zwar  immer  mögliche)  Totalerfassen  einer 
Persönlichkeit.  Ellen  Key  (64)  niag  riecht  haben,  wenn  sie  darin  die 
Wurzel  des  „Flirts"  erblickt;  sie  nennt  ihn  ,,den  Versuch  der  erwachen- 
den Liebe  zur  Demaskienmg,  zur  Ablistung  der  schützenden  Verkleidung, 
eine  Fechtkunst,  die  auf  die  Ritzen  des  dichtanschließenden  Panzers  zielt". 
Es  gilt  dies  wohl,  wie  auch  Ellen  Key  bemerkt,  nur  für  manche  Formen 
des  Flirts.  Denn  daß  er  nebenbei  auch  eine  spielerische  Betätigung  der 
Sexualität  schlechthin  sein  kann,  zur  Materialbeschaffung  für  erotische 
Phantasien   dienen  \isw.,  ist  bekannt. 

Es  wäre  sicherlich  von  Interesse,  könnte  man  die  verschiedenen  Ver- 
wirklichungsstufen der  echten  Liebe,  ihre  größere  oder  geringere  Annähe- 
rung an  das  ideale  Ziel  genauer  beschreiben.  Doch  fehlt  es  uns,  glaube 
ich,  hier  noch  sehr  an  Wissen.  Was  man  bringen  könnte,  wären  doch  nur 
Gleichnisse  recht  unbefriedigender  Art.  Eher  läßt  sich  über  einige  peri- 
pherere  Probleme  etwas  aussagen. 

So  über  die  Beziehung  zwischen  Liebe  und  Ehe.  Natürlich  nicht 
darüber  soll  gesprochen  werden,  welche  ethischen  Forderungen  zu  er- 
heben seien,  noch  über  Ehereform,  freie  Liebe  u.  dgl.  Es  fragt  sich  viel- 
mehr, ob  und  welche  Einwirkung  die  Ehe  auf  die  Liebe  haben  könne, 
zweitens  ob  Liebe  essentiell  auf  Ehe  oder  ein  der  Ehe  gleichzusetzendes 
Bündnis  tendiere.  Im  Mai  1174  hat  ein  ,, Liebeshof"  sich  mit  der  Frage 
befaßt:  utrum  inter  conjugatos  amor  possit  habere  locum?  und  die 
Gräfin  von  Champagne  hat  diese  Frage  strikte  verneint.  Die  Urteils- 
begründung sagt:  „Liebende  gewähren  einander  alles,  gegenseitig  und 
frei\villig,  ohne  irgendeinen  Zwang  durch  einen  notwendigen  Grund 
(nullius  necessitatis  ratione  cogente),  während  die  Gatten  durch  die  Pflicht 
verhalten  sind,  sich  gegenseitig  ihrem  Willen  zu  unterwerfen  und  einander 
nichts   abzuschlagen."     Die   Gräfin  von    Champagne  hat   den    Kernpunkt 


DIE  LIEBE  479 


der  Frage  ganz  richtig  gest^he^.  Darum  handelt  es  sich  in  der  Tal:  ob 
W'rpflirhtimgon,  liie  sich  auT  »his  orstn^ckcn,  was  Liolx»  IreiwiUig  g<nvährt, 
nicht  tli«'  Lioho  zu  voriiichlen  imslamlc  wären.  Zweitens  aber  auch  darum, 
wie   (Icwohnheit   de«   Emi)fangens  und   Gcwälirens   wirke. 

Kmpirisch  ist  es  wold  so,  dali  oft  giMmg  die  Liebt'  in  der  Ehe  zugrunde 
gehl,  auch  dort,  wo  keine  Selbsttäuschung  vorgelegen.  Man  hat  die 
erfolgte  Sexualbofrie<ligimg  —  in  erster  Linie  dc^  Mannes  —  als  Grund 
angeführt.  Ausschlaggebend  scheint  mir  dies  nicht.  Denn  offenbar 
kann  Liebe  auch  zwischen  zwei  Individuen  schwinden,  welche  gar  nicht 
zum  Geschlechtsverkehr  gelangt  sind.  Aus  dem  Wesen  der  Liebe  folgt 
gewiß  nicht  die  Notwendigkeit  ihres  Verfalles  in  der  Ehe.  Ist  sie  eine 
Bewegung  auf  das  ,,idc\de  Wertbild"  hin,  so  ist  sie  auch  endlos.  Der 
Liebe,  welche  Zeit  und  Gewohnheit,  Pflicht  und  Alltag  überwindet,  er^ 
scheint  der  geliebte  Gegenstand  eben  immer  als  neu,  daher  auch  Ge- 
wohnheit ihr  nicht  Abbruch  tim  kiuin.  Es  scheint  mir,  daß  der  Verfall 
der  Liebe  in  der  Ehe  seinen  tiefsten  Grund  in  etwas  anderem  habe.  Eis 
wird  der  „Besitz"  des  oder  der  Geliebten  zugleich  als  tatsächliche  Er- 
reichung jenes  Zieles  genommen,  für  das  er  höchstens  Vorbild,  Sinnbild 
sein  kann.  Und  das  dämm,  weil  die  meisten  Naturen,  wie  schon  gesagt, 
dem  dauernden  Vollerleben  des  eigenen  Ich  und  des  geliebten  Du  nicht 
gewachsen  sind  —  warum,  ist  eine  andere  Frage. 

Man  ist  hier  vielfach  auf  Spekulation  verwiesen  —  denn  bekanntlich 
sind  die  aus  wahrer  Liebe  geschlossenen  Ehen  noch  weit  seltener  als  die 
wahre  Liebe  selbst. 

Nebenbei  bemerkt:  da  die  Intention  der  Liebe  zweifellos  auf  dauernde 
Verbindung  der  Liebenden  geht,  ist  es  sicherlich  unrichtig,  mit  Engels 
den  Ursprung  der  Ehe  im  Ökonomischen  (Privateigentum)  sehen  zu  wollen. 
Es  liegt  viel  tiefer  im  Wesen  der  Liebe,  sohin  im  eigentlichen  Wesen 
des  Menschen  selbst.  Man  wird  daher  auch  bei  allen  praktischen  Bedenken 
dagegen  die  wesenhafte  Berechtigung  der  Forderung  nach  der  Unauf- 
lösbarkeit der  Ehe  zugeben  müssen.  Daß  sie  nicht  verwirkhcht  werden 
kann  und  nicht  sollte,  weil  Gesetze  nicht  an  phänomenologischen  Ein- 
sichten, sondern  an  sozialen  Tatsachen  zu  orientieren  sind,  ist  natürlich 
ebenso  klar. 

Ein  anderes  Problem  ist  noch  zu  berühren:  die  Stellungnahme 
des  Individuimis  zur  Liebe.  Es  ward  schon  erwähnt,  daß  die  Liebe  als 
etwas  Fremdes,  als  eine  dunkle  Gewalt,  eine  Besessenheit  erlebt  werden 
kaim;  daß  der  Liebende  dem  Zuschauer  besessen  erscheint,  gehört  zu- 
nächst nicht  hierher.  Doch  dürfte  dies  nur  ein  Durcligangsstadium  sein, 
das  Dauer  nur  dort  gewinnen  kann,  wo  die  Bewältigung  der  Krustenge- 
bilde nicht  restlos  gelingt.  In  solchen  Fällen  wird  allerdings  die  ,, dämo- 
nische Macht"  der  Liebe  in  den  Vordergrund  treten  und  wenig  von  der 
beglückenden  Befreiung  entbundener  Tiefenkräfte  verspürt  werden.  Oft- 
mals kann  es  auch  nur  beim  Ansatz  zur  Liebe  bleiben,  die  dämonische 
Phase,  wie  man  kurz  sagen  könnte,  vm-d  allein  und  vorübergehend  erlebt. 
Aus  diesen  wohl  von  sehr  vielen  Menschen  zumindest  in  den  Jugend- 
jahren gemachten  Erfahrungen  heraus  beurteilen  sie  dann  den  Liebenden. 
Das    sind    jene    Menschen,    bei    deinen    die    Kruste    sich    stärker    als  die 


480  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Stoßkraft  des  Ich  erwiesen  hat,  die  Zuwendung  an  das  Äußere,  das  Han- 
deln,  die   Sache  stärker  als   die  zur  eigenen   Seele. 

Diese  Art  abortiver  Liebe  hat  nichts  gemein  mit  einer  anderen,  viel- 
leicht als  abgeschwächte  Form  zu  bezeichnenden  Verlaufsart,  die  man 
f^emeinhin  die  platonische  Liebe  nennt.  Im  strengen  Sinne  scheint  dar- 
unter eine  Liebe  verstanden  werden  zu  sollen,  der  jegliches  psychosexuala 
iMoment  abgeht;  man  versteht  aber  auch  eine  Liebe  darunter,  die  nur  ge- 
rade der  Tendenz  zur  Verwirklichung  irgendeines  deutlicheren  Sexual- 
/ieles,  nicht  aber  eines  oft  ganz  erheblichen  erotischen  Einschlages  er- 
mangelt: ferner  sogar  —  aber  zu  Unrecht  —  eine  ausgesprochen  sexual 
orienberte  Beziehung,  bei  der  es  nur  nicht  zu  Akten  der  Sexualität  —  sei 
es  aus  inneren  Hemmungen  heraiis,  sei  es  infolge  äußerer  Momente  — 
o^kommen  ist.  Psychologisch  interessant  wäre  eigentlich  nur  der  erste 
Fall.  Ich  kann  niir  vorstellen,  daß  er  nicht  nur  grundsätzlich  möglich, 
sondern  auch  wirklich  realisierbar  wäre.  Freilich,  ganz  ohne  jeden  Be- 
zug auf  die  Sexualsphäre  nicht.  Denn  selbst,  wenn  im  Bewußtsein  —  imd 
auch  im  Unterbewußtsein  —  der  Liebenden  selbst  nichts  von  Sexualität  zu 
finden  wäre,  so  müßte  doch  immer,  sofern  deren  Beziehung  noch  dem 
Bereiche  vitaler  Akte  angehören  soll,  eine  immanente  Richtung  auf  die 
Sexualität  vorhanden  gedacht  werden.  Daher  denn  auch  die  platonische 
Liebe  gar  leicht  sich  in  nicht-platonische  wandelt,  so  daß  es  ganz  begreif- 
lich ist,  daß  der  Eifersüchtige  und  Mißtrauische  auch  die  platonischen 
.Vjiknüpfungen  seines  Partners  mit  scheelen  Augen  sieht. 

Es  kommen  dabei  oft  schwankende,  unbestimmte  Situationen  imd  Be- 
ziehungen zustande;  zum  Teil  auch  deshalb,  weil  die  Beteiligten  nicht 
selten  einfach  die  Wahrheit  nicht  sehen  wollen,  aus  Scheu  oder  aus  Be- 
quemlichkeit —  letzteres,  um  Konflikten  mit  sich  selbst,  ihrem  Gewissen 
auszuweichen,  dem  erfreulichen  Genußi  nicht  entsagen  zu  müssen,  sich 
in  den  „Herzensschlampereien",  wd©  A.  Schnitzler  i  einmal  sagte,  ausleben 
2U  können.  Anderseits  können  solche  Situationen  einfach  von  den  Be- 
treffenden nicht  durchschaut  worden  sein.  Auch  dort,  wo  Freundschaft 
auf  der  einen,  Liebe  auf  der  anderen  Seite  besteht,  bilden  sich  solche 
Zwischenformen  —  amitie  amoureiise". 

Hier  ist  auch  jener  Beziehungen  zu  gedenken,  welche  sich  zwischen 
mehr  als  zwei  Personen  spinnen.  Natürlich  ist  nicht  das  triviale  „Dreiecks- 
verhältnis" des  einfachen  Ehebruches  gemeint.  Sondern  etwa  der  Fall, 
daß  zwei  Frauen  einen  Mann,  zwei  Männer  eine  Frau  lieben.  Solange 
der  alleinstehende  Teil  indifferent  bleibt  oder  sich  eindeutig  für  einen 
der  Konkurrierenden  entscheidet,  bietet  die  Situation  kein  besonderes 
psychologisches  Interesse.  Es  ist  höchstens  zu  bemerken,  daß  die  Wer- 
tung derselben  verschieden  ist.  Simmel  (io6)  meint,  man  empfände  es 
,,von    vornherein    für    den    Mann    als    irgendwie    ungehörig,    ein    bloßes 

^  Das    weite    Land. 

^  Zur  Frage  nationaler  EHfferenzieriing  des  Liebeslebens  bietet  A.  Schurigs 
,, Seltsame  Liebesleute,  eine  deutsche  amitie  amoureuse",  den  interessanten  Versuch, 
eineti  französischen  Roman  sozusagen  auf  deutsche  Art  neuzuschaffen  mit  Beibehaltunjj 
aller  wesentlicher  Züge.  Inwieweit  dies  gelungen  ist,  und  nicht  nur  Äußerlichkeiten 
.getroffen     wurden,     kann     ich     nicht     beurteilen. 


DIE  LIEBE  481 


Objekt  der  Konkurrenz  zweier  Frauen  zu  sein,  selbst  wenn  er  äußerlich 
ja  der  Wählende  mm  .  .  .  der  Mann  spiele  hier  durchgehends  eine  ziem- 
lich jämmerliche  Rolle,  er  A>rscheino  als  ein  halllos  hin  und  her  geworfener 
Schwächling:  Weislingen,  Ferdinand  (in  der  ,,wSlella"),  bcinah<i  sogar 
Eduard",  welche  instinktive  Reaktion  des  Gefühles  er  in  der  dem  Mann 
allein   angemessenen   .Vktivität  begründet  findet. 

Auch  Grete  Meisel-Heß  (80  a)  sagt,  der  Mann  könne  sich  zur  Liel)e 
nicht  wählen  lassen,  indes  Stendhal  (iio)  offenbar  für  gewisse  Beziehungen 
dieses  Verhalten  nicht  nur  als  möglich,  sondern  sogar  als  notwendig  an- 
sieht   (vgl.   das   Zitat  im   ersten  Abschnitt). 

Etwas  anderes  ist  es,  wenn  zwischen  dem  einen  und  den  beiden  anderen 
Teilen  nicht  nur  rein  sexuale,  sondern  auch  geistige  Liebesbande  sich 
knüpfen.  Ist  das  überhaupt  möglich?  Kann  ein  Individuum  zwei  andere 
gleichzeitig  lieben?  Im  Sinne  höchster  Liebe  mutmaßlich  nicht;  es  ist 
schwer  vorstellbar,  daß  die  m.  E.  eben  das  Wesen  der  Liebe  ausmachende 
Wirbildung  sich  nach  zwei  verschiedenen  Richtungen  vollziehen  lasse. 
Immerhin  will  ich  selbst  diese  Möglichkeit  nicht  ganz  von  der  Hand  weisen. 
Daß  aber  in  Annäherungsformen  derartige  Situationen  bei  aller  Aufrich- 
tigkeit möglich  sind,  halte  ich  für  sicher.  Und  nicht  nur  für  den  leicht 
verständlichen  Fall,  daß  je  ein  Partner  eine  gewisse  Seite  der  Ich- 
tendenzen zu  erfüllen  vermöge,  in  welcher  der  andere  versagt,  ohne  doch 
in  seinem  Gesamtwerte  so  viel  einzubüßen,  daß  er  überhaupt  nicht  als 
Liebesziel  in  Betracht  käme:  etwa  der  Fall  des  „Seelenfreundes'"  neben 
einer  anderen,  mehr  sexualbetonten  Liaison.  Hier  wird  die  Ausbildung 
der  Liebe  zu  dem  einen  oder  anderen  verschiedenen  Niveaus  angehören. 
Es  scheint  aber  auch  deakbar,  daß  sozusagen  Liebe  gleicher  x\rt  auf 
zwei  Menschen  gerichtet  sei  ^.  Vollkommen  kann  sie  nicht  sein,  weil 
die  Vollerfüllung  der  Liebesintention  doch  nur  durch  den  einen  gegeben 
werden  kann.  Wie  solche  Situationen  sich  gestalten  oder  lösen,  ist  schon 
mehr  eine  soziolog^che  oder  sozialpsychologische  als  eine  rein  sexual- 
psychologische Frage. 

Damit  hängt  das  Problem  der  Treue  zusammen.  In  gewissem  Sinne 
hat  ein  frivoles  Wort  von  O.  Wilde  recht:  ,, Treue  ist  Mittelmäßigkeit; 
sie  ist  die  Unfähigkeit,  einen  einmal  eingenommenen  Standpunkt  je  wieder 
zu  verlassen  2."  Dies  gilt  natürlich  nur  für  jene  Pseudotreue,  die  aus 
Gewohnheit,  Bequendichkeit  trotz  tiefer  innerer  Widersprüche,  trotzdem 
vielleicht  ethische  Forderungen  in  gegenteiligem  Sinne  sprechen,  bewahrt 
wird;  ganz  abgesehen  davon,  daß  diese  Treue  oft  nur  eine  scheinbare, 
äußerliche  ist.  Man  könnte  vielleicht  auch  bei  der  Treue  eine  analoge 
Scheidung  von  Sexualität  und  Liebe  oder  Sympathie  vornehmen,  wie  ich 


1  Dabei  muß  es  sich  m.  E.  durchaus  nicht  immer,  wie  das  Forel  (3q)  anzunehmen 
scheint,  um  hysterische  Persönlichkeiten  mit  einer  besonderen  Disposition  zu  Ab- 
spaltungen   des    Ich    handeln. 

2  Ähnlich  schon  La  Rochefoucauld  (O9).  Für  iiin  scheint  Treue  überhaupt  nur 
dort  Möglichkeit  der  Verwirklichung  zu  haben,  wo  die  betreffende  Person  immer 
unter  verschiedenen  Aspekten  gesehen  wird:  Cette  COtistance  n'est  qu'une  inconstance 
arretee  et  renfermee  dans  un  meme  sujet. 

31    Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


482  ALLKRS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

sie  für  den  ganzen  Bereich  der  Liebesphänomene  versucht  habe.  Sexuale 
rntreuo  könnte  mit  Treue  in  einem  höheren  Sinne  kompatibel  sein. 
Das  Wesen  dieser  Treue  scheint  mir  doch  in  der  dauernd  erhaltenen 
Richtung  auf  den  Wert  einer  Person  gelegen  zu  sein.  Damit  verträgt 
sich  eine  „rein  sinnliche",  als  solche,  wie  oben  bemerkt,  exquisit  lieblose 
Ik'ziehimg  insonderheit  vorübergehender  Natur  recht  wohl.  Sie  verträgt 
sich  damit  beim  Manne  besser  als  bei  der  Frau,  infolge  jenes  Verhält- 
nisses, das  ich  die  größere  Kernnähe  der  Sexualität  bei  der  Frau  genannt 
habe.  Die  Strukturverschiedenheit  der  Geschlechter  bringt  es  aber  natür- 
lich mit  sich,  daß  die  Frau  diese  Seite  männlicher  Psyche  wenig  zu  be- 
greifen imstande  ist;  daher  nehmen  Frauen  die  Untreue  des  Mannes 
schwer,  die  er  selbst  als  eine  nebensächliche,  das  Wesen  der  Beziehung 
gar  nicht  treffende  Entgleisung  empfindet.  Selbstverständlich  gibt  es 
hier   ungezälilte    Varianten,    individuelle  \ne   nationale. 

Ein  besonderes  Phänomen  ist  der  Selbstmord  aus  Liebe,  insbesondere 
aber  der  Doppel  Selbstmord.  Ich  glaube  indes,  daß  es  an  dem  bloßen 
Hinweis  genug  sein  dürfte,  da  seine  Psychologie  gleichfalls  nur  in  ent- 
fernter Beziehung  zu  unserem  eigentlichen  Thema  steht.  Indes  wird 
durch  diese  Erscheinung  eine  andere  Frage  nahegelegt,  die  vielleicht 
nicht  nur  psychologisches  Interesse  hat,  vielmehr  über  die  Psychologie 
hinaus  zu  metaphysischen  Problemen  führt:  nach  den  Berührungen  von 
Liebe  und  Tod.  Mag  dem  Bilde  des  Genius  mit  der  erhobenen  und  mit 
der  gesenkten  Fackel  lu'sprünglich  nicht  mehr  zugrunde  liegen  als  die 
Einsicht  des  Werdens  und  Vergehens  der  Menschen  und  die  Bedeutung 
des  ersten  dm-ch  die  Entstehung  des  Kindes  aus  dem  Liebesbunde,  so 
hat  mau  doch  immer  gefühlt,  daß  hier  mehr  noch  angedeutet  >vird,  daß 
zwischen  Liebe  und  Tod  irgendwo  innigere  Verbindungen  bestehen  müssen. 
Denselben  nachzuspüren,  ist  nun  nicht  eigentlich  im  Rahmen  unserer 
Aufgabe  gelegen.  Indes  seien  ©in  paar  Worte  gestattet.  Vielleicht  hängt 
diese  Verknüpfung  mit  der  relativen  Aufhebung  der  Individualität  in 
der  Wirbildung  zusammen.  Aber  wahrscheinlicher  dünkt  es  mich,  daß 
es  das  Faktum  der  Wiedergeburt  im  Akte  der  Liebe  ist,  welches  die 
Grundlage  abgibt.  Es  stirbt  ein  Ich,  ein  neues  wird  geboren.  Nirgends 
ja  ist  dieses  „Stirb  und  werde"  mehr  verwirklicht  als  gerade  in  der  Liebe. 
Zugleich  ist  es  ein,  wenn  schon  nicht  tatsächlich  verwirklichtes  Hinaus- 
gehen, so  doch  ein  Hinausweisen  über  das  eigene  Ich,  das  in  der  Liebe 
erlebt  wird  und  so  auf  mögliche  weitere  Daseinsformen  den  Blick  lenkt. 

Vielleicht  spielt  auch  die  vorübergehende  scheinbare  Aufhebung  des 
Ich  oder  Selbst  in  der  erotischen  Ekstase  dabei  eine  Rolle.  Der  Behaup- 
tung Swobodas,  es  sei  die  Todessehnsucht  der  Liebenden  eins  mit  der 
Sehnsucht  nach  geschlechtlicher  Vereinigung,  würde  ich  indes  nicht  ohne 
weiteres  zustimmen.  Es  ist  überhaupt  gewagt,  von  einem  Einssein 
phänomenal   differenter   Strebungen   zu  sprechen. 

Schließlich,  rnn  diese  letzten,  mehr  aphoristischen  Bemerkungen  zu 
beenden,  sei  noch  ein  Punkt  gestreift.  Es  ist  eine  oft  bemerkte,  in  Ro- 
manen vielfach  geschilderte  Tatsache,  daß  Liebe  in  Haß  „umschlagen" 
kann.     Ob  wirklich  dies  bei   Liebe  im  letzten,  höchsten  Sinne  zutreffen 


Dil:  I.IKBK 483 

kann,  ob  hier  nicht  doch  vollentls  tlas  Wort  <les  Aik>sIoIs:  sie  eifert  nicht, 
sie  suchet  uidit  (I;ls  ilire.  (H'lluiif,'  hat,  ma^  frafijlich  bleiben.  Diis  empi- 
rische Kakliun  In'stolü.  llicr/.u  ist  zu  sa^eii,  «lali  Lielx'  uiul  Ilali  phäno- 
niejioK)gisch  ^'•leichartiß:  sind,  s()W(>hl  ihn^r  lUthtinif:^  auf  Werte  nach 
als  auch  ii.  ihrem  WeM*!!.  Sowenig  wie  LielK\  ist  llalS  ein  Akt  dfs  Nach- 
setzens  usw.  (vgl.  die  eingangs  im  Anschluß  an  Scheler  angestellten  Be- 
Irachtmigen).  Es  wäre  m.  E.  irrig,  zu  glaul)en,  Haß  entstünde  aus  Liebe, 
weil  <ler  GegensUuid  der  Liebe  sich  als  unvollkonuiien  erwiesen  hat,  weil 
an  ihm  Eigenschaften  entdeckt  wurden,  welche  mißliebig  sind  u.  dgl. 
Es  gilt  hier  das  gleiche,  was  oben  vom  Aufhören  der  Liebe  gesagt  wurde. 
Haß  macht  erst  die  Entdeckung  der  hassens werten  Eigenschaften  möglich. 
Er  zeichnet  auch  ein  ideales  W  ertbild,  aber  im  Sinne  der  negativen  Werte, 
(reht  Liebe  auf  das  Edle,  so  HafS  auf  das  Gemeine  mid  Schlechte,  jene 
auf  da.s  Heilige,  so  dieser  auf  das  Teuflische.  Er  entsteht  nicht,  Aveil  der 
(rt>genstand  als  so  oder  so  beschaffen  erkannt  wurde,  sondern,  weil  jene 
Bewegung  der  Liebe  einen  Widerstand  findet.  Daher  der  häufigste 
Fall  die  L^mkehr  unerhörter  Liebe  in  Haß  ist.  Wie  wenig  dieser  Haß 
mit  einer  Erkenntnis  irgendwie  minderer  Beschaffenheit  seines  Objektes 
zu  tun  hat,  erhellt  aus  der  bekannten  Tatsache,  daß  das  W  iederumschlagen 
in  Liebe  sehr  möglich  ist,  ja  daß  Liebe  und  Haß  alternieren  können. 
^^u^  Indifferenz  ist  das  Ende  der  Liebe,  weil  damit  jegliche  Richtung 
auf  den  ehedem  geliebten  Gegenstand  verlorengegangen  ist;  im  Haß 
ist  diese  Richtung  aber  noch  erhalten  und  die  Liebe  noch  immer  möglich. 

In  dem  hiermit  abzuschließenden  Abschnitt  ist,  vielleicht  mehr  noch 
als  in  allen  anderen,  vieles,  allzu  vieles  problematisch  geblieben.  Es  liegt 
das  wohl  großenteils  in  der  Materie,  zum  Teil  allerdings  auch  in  unserem 
Mangel  an  Kenntnissen.  Vieles  ist  auch  hier  Grenzgabiet,  konnte  nur 
gestreift,  angedeutet  werden,  durfte  aber,  we  ich  glaube,  doch  nicht 
völlig  übergangen  werden.  So  mangelhaft  die  Darstellung  auch  ist,  so 
hoffe  ich  doch,  nicht  der  eingangs  erwähnten  Gefahr  verfallen  zu  sein,  die 
Stendhal  mit  den  Worten  kennzeichnet:  „Je  tremble  toujoiirs  de  n'avoir 
ecrit  un  soupir,  quand  je  crois  avoir  note  une  verite." 

Als  Ajihang  seien  noch  ein  paar  Worte  über  die  Pathologie  der 
Liebe  beigefügt.  Darunter  ist  selbstverständlich  nicht  die  großo  Gruppe 
jener  Fälle  zu  verstehen,  welche  .Abweichungen  hinsichtlich  des  Sexual- 
zieles oder  des  Sexualobjektes  erkennen  lassen  und  die  schon  z\i\xa-  be- 
handelt wou'den.  Sondern  es  handelt  sich  lun  Abweichimgen  im  Liebee- 
fühlen  selbst. 

Zimächst  begegnen  dem  Psychiater  nicht  so  selten  Kranke,  welche  über 
einen  vollkommenen  Mangel  an  Liebesfähigkeit  klagen.  Sie  äußern  ent- 
w^er,  sie  seien  überhaupt  nicht  mehr  imstande,  Liebe  zu  empfinden 
—  sei  es  ziun  Gatten  oder  den  Kindern  usw.  — ,  oder  die  Liol>e,  die 
sie  etwa  noch  empfänden,  sei  „nicht  die  richtige".  Solche  Klagen 
hört  man  von  depressiven  Kranken,  insbesondere  von  solchen,  welche 
Depersonalisationserscheinungen  bzw.  das  Symptom  der  ,, Entfremdung 
der  Wahmehmungswelt"  aufweisen.  Sehr  oft  bilden  diese  Klagen 
nur  einen  Teil  der  über  völlige  Gefühlslosigkeit  überhaupt;  zu- 
weilen   bleibt    aber    auch    diese    Gefühlslosigkeit    auf    die    Liebesgefühle 

31* 


484  ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

insbesondere  eingeschränkt.    Krankengeschichten,  die  solches  illustrieren, 
finden   sich  bei   K.   Österreich!  u.  a.,  neuerdings  bei  Schneider 2. 

Unter  Umständen  kann  die  Liebesunfähigkeit  sich  auf  einen  einzelnen 
oder  gewisse  Personen  allein  beschränken.  Meist  handelt  es  sich  um  eine 
—  zumindest  siibjektive   —  generelle  Unfähigkeit. 

Einmal  kann  eine  solche  Unfähigkeit  anlagemäßig  vorhanden  sein, 
und  nur  bei  besonderen  Anlässen  dem  Betreffenden  klar  werden,  wodurch 
dann  verschiedenartige,  nach  Anlaß  und  Persönlichkeit  mannigfach  vari- 
ierende Reaktionen  gesetzt  werden.  Sodann  kann  eine  solche  Unfähigkeit 
sich  „physiologisch"  entwickeln.  Wird  sie  doch  als  ein  häufiger  Charakter- 
zug des  Alters  vielfach  erwähnt.  Zu  dem  gleichen  Ende  können  auch 
psychopathologische  Prozesse  führen. 

In  allen  diesen  Fällen  liegt  eine  tatsächliche  Minderung  der  Liebes- 
fähigkeil vor.  Neben  diese  Gruppen,  die  Schneider  eingehender  charak- 
terisiert hat,  möchte  ich  als  vierte  die  jener  Menschen  stellen,  welche 
bewußt  imd  willentlich  ilire  Liebeserlebnisse  in  den  Hintergrund  schieben, 
ignorieren,  ja  gelegentlich  geradezu  mißachten,  sich,  wie  die  Rede  geht, 
„absichtlich  verhärten".  Die  Motive  dazu  können  natürlich  wiederum 
die  allerverschiedensten  sein:  etwa  Enttäuschung  in  einem  wirklich 
oder  eingebildeterweise  tiefgreifenden  Liebeserlebnis,  Motive  rationaler 
Art,  wie  die  Besorgnis,  von  den  „eigentlich  wichtigen  Aufgaben"  durch 
Liebe  abgelenkt  zu  werden,  Mißachtung  der  Menschen  bzw.  des  anderen 
Geschlechts  u.  dgl.  m.  In  solchen  Fällen  wird  man  meist  eine  allge- 
meine Gefühlsarmut,  zumindest  der  oberflächlicheren  Schichten  der  Per- 
sönlichkeit, antreffen.  Gelegentlich  kann,  wi>e  das  in  Legenden  und 
Romanen  mehrfach  geschildert  wird,  unter  der  Einwirkung  eines  auf- 
wühlenden Erlebnisses  die  ganze  Konstruktion  zusammenbrechen,  eine 
,/Wiedergebm-t"  erfolgen. 

Handelt  es  sich  hier  um  eine  Abwendung  von  den  als  der  eigenen 
Person  angehörend  erlebten  oder  erlebbaren  Gefühlsphänomenen,  so  gibt 
es  eine  andere  Gruppe,  bei  welcher  eine  „Entfremdung"  der  eigenen 
Gefühlserlebnisse  eingetreten  ist.  Eine  schwierige  Frage  ist  die  Deutung 
dieser  Vorgänge,  die  hier  nicht  zu  versuchen  ist.  Es  sei  auf  die  Arbeiten 
>'on  Schilder  3,  Österreich,  Schneider  u.  a.  verwiesen.  Möglicherweise 
bestehen  hier,  wie  Schilder  meinte,  Beziehungen  zu  der  Echtheit  und 
Unechtheit  der  G«fühlserlebnisse,  deren  Phänomenologie  wir  Haas  sowie 
Pfänder*  verdanken. 

Eine  weitere  Klasse  mögen  jene  Persönlichkeiten  bilden,  bei  denen  eine 
intensive  Hinwendimg  auf  das  eigene  Erleben  ein  Hinausgehen  auf  ein 
Du   immöglich    macht.     Scheler  hat    gemeint,    es    komme    infolge   einer 

!  Die  Entfremdung  der  Wahmehmungswelt  usw.  Joum.  f.  PsychoL  u.  NeuroL  7 — 9, 
1905— 1907. 

2  Pathopsvcholog.  Beiträge  zur  Phänomenologie  von  Liebe  und  Mitfühlen.  Z.  f.  d. 
ges.    Neurol.    und   Psychiatr.   65,    109,    192 1. 

3  Selbstbe\\'ußtsein     und     Persönlichkeilsbewußtsein.     Berlin     igiA. 

*  Zur  Psychologie  der  Gesinnungen.  Jahrb.  f.  Philos.  u.  phänomenol.  Forschung 
I    und    III. 


DIE  LIEBE  485 


dorartigeii  Vcrsuiikenhcit  in  tlie  eigenen  Gefühle  nicht  zu  einem  Verstehen 
von,  nicht  ru  einer  fühlenden  Anteilnalune  an  fremden  Erlebnissen, 
damit  auch  nicht  zur  Entfaltung  von  Lidbeserlebnissen,  üb  ein  solches 
^er^teheu  eine  liedingung  der  Liebe  sei,  mag  fraglich  sein.  Ich  glaube 
es  nicht.  Wohl  aber  ist  einzusehen,  daß  eine  solche  ausschließliche 
Inanspruchnaiime  des  Ich  durch  die  es  unmittelbar  angehenden  Abläufe 
ein  Aussichhinaus  treten,  wie  es  die  Liebe  erfordert,  verhindern  kann. 
In  gewisser  Hinsicht  sind  solche  Menschen  ein  Widerspiel  der  oben 
erwähnten  Typen,  welche  von  den  Liebeserlebnissen,  diese  unterdrückend, 
beiseite  schiebend,  sich  vWllküriich  abwenden.  Ein  Widerspiel  insofern^ 
als  bei  diesen  die  Richtung  doch  auf  die  Liebeserlebnisse,  bei  jenen  aber 
auf  alle  diesen  von  vornherein  abseitigen  Sphären  der  Persönlichkeit 
geht.  Andererseits  —  scharfe  Trennungen  sind  ja  hier  nirgends  zu  voll- 
ziehen —  ähneln  sich  die  beiden  Typen  darin,  daß  die  Abwendung  von 
der  Liebe  be>virkt  wird  durch  die  ausschließliche  Hinwendung  auf 
anderes  —  sei  es  auf  das  Ich,  sei  es  auf  die  „Arbeit"  oder  auf  sonstigie 
Ziele.  Auch  gleichen  sie  sich  darin,  daß  —  in  ausgeprägten  Stadien  — 
die  Liebesphänomene  bzw.  deren  Mangel  gar  nicht  erlebt  wird,  sondern 
nur  retrospektiv  (nach  der  Wiedergeburt,  nach  dem  Abklingen  etwa 
einer  psychotischen  Episode)  vergleichsw^se  konstatiert  werden  kann. 
Eine  besonders  schwierige  und  wohl  gar  nicht  zu  beantwortende  Frage 
ist  die  nach  etwaigen  qualitativen  Veränderungen  des  Liebeserlebens. 
Ich  glaube  zwar,  daß  auch  die  bisher  skizzierten  Abwandlungen  durch 
die  Bezeichmmg  der  Verminderung  in  keiner  Weise  gekennzeichnet  sind,  daß 
es  sich  auch  hier  um  Wesensveränderungen,  nicht  um  solche  sogenannter 
„Gefühlsintensitäten"  handelt.  Es  scheint  aber,  daß  es  daneben  noch 
andere  Variationen  geben  mag,  welche  sozusagen  auf  einer  anderen 
Dimension  der  Qualitätsreihe  gelegen  sind.  Man  wird  vielleicht  daran 
erinnern  dürfen,  daß  die  Liebe  in  der  Ehe  unter  Umständen  im  Laufe 
der  Jahre  Modifikationen  erfahren  kann,  ohne  daß  man  von  einer  Ver- 
minderung sprechen  könnte.  Es  ist  auch  nur  teilweise  richtig,  wenn 
man  behauptet,  die  Liebe  weiche  der  Freundschaft,  oder  es  geselle  sich 
etwa  zur  Liebe  der  Gattin  ein  Zug  von  Mütterlichkeit  auch  dem  Gatten 
gegenüber  usw.  Alles  dieses  erschöpft  das  Problem  m.  E.  nicht.  Es 
sind  hier  Andeutungen  von  qualitativen  Abstufungen  vorhanden,  denen 
auch  die  Pathologie  einige  Erfahrungen  an  die  Seite  stellen  könnte.  Indes 
ist  all  dieses  noch  so  ungeklärt  und  wenig  beachtet,  daß  ein  weiteres 
Eingehen  wohl  zu  viel  Hypothetisches  und  Konstruktives  bringen  würde. 
Man  kann  nur  hoffen,  daß  die  neuere,  phänomenologisch  orientierte 
Psychopathologie  auch  in  diesem  Punkt  uns  einige  Einsicht  ermöglichen 
wird. 


AUSAVIKKUXGEN  UND  UMGESTALTUNGEN 

Vielfach  glaubt  nian,  in  der  populären  vvie  in  manchen  Richtungen 
wissenschaftlicher  Psychologie,  daß  die  Sexualität  oder  die  in  ihr  wirk- 
samen Kräfte  eine  .Vblenkung  von  ihren  eigentlichen  Zielen  erfaliren, 
sich  imigestalten,  anderen  Leistungen  der  Seele  dienstbar  gemacht  werden 
könnten. 

Am  schärfsten  hat  diesen  Gedanken  Freud  (43)  gefaßt;  er  nennt  den 
Vorgang  dieser  Transformation  die  „Sub  1  i  m  i  eru  ng".  Mit  diesem 
Begriff  muß  mau  sich  auseinandersetzen.  Freuds  Worte  lauten  i; 
„VVährend  dieser  Periode  totaler  oder  bloß  partieller  Latenz  werden 
die  seelischen  Mächte  aufgebaut, "die  später  dem  Sexualtrieb  als  Hemm- 
nisse in  den  Weg  treten  und  gleichwie  Dämme  seine  Richtung  beengen 
werden  (der  Ekel,  das  Schamgefühl,  die  ästhetischen  und  moralischen 
Vorstellungsmassen).  Man  gewinnt  beim  Kulturkind  den  Eindruck,  daß 
der  Aufbau  dieser  Dämme  ein  Werk  der  Erziehung  ist,  und  sicherlich 
tut  die  Erziehung  viel  dazu.  In  Wirklichkeit  ist  diese  Entwicklung  eine 
organisch  bedingte  und  kann  sich  gelegentlich  ganz  ohne  Mithilfe  der 
Erziehung  herstellen.  Die  Erziehung  verbleibt  durchaus  in  dem  ihr 
ange-vviesenen  Machtbereich,  wenn  sie  sich  darauf  einschränkt,  das 
organisch  Vorgezeichnete  nachzuzeichnen  und  es  etwa  sauberer  und 
tiefer   auszuprägen. 

Mit  welchen  Mitteln  werden  diese  für  die  spätere  persönliche  Kultur 
und  Normalität  so  bedeutsamen  Konstruktionen  aufgeführt?  Wahrschein- 
lich auf  Kosten  der  infantilen  Sexualregungen  selbst,  deren  Zufluß 
also  auch  in  dieser  Latenzperiode  nicht  aufgehört  hat,  deren  Energie 
aber  —  ganz  oder  zum  größten  Teile  —  von  der  sexuellen  Verwendung 
abgeleitet  imd  anderen  Zwecken  zugeführt  wird.  Die  Kulturhistoriker 
scheinen  einig  in  der  Annahme,  daß  durch  solche  Ablenkung  sexueller 
Triebkräfte  von  sexuellen  Zielen  und  Hinlenkung  auf  neue  Ziele,  ein  Prozeß, 
der    den    Namen    Sublimierung^    verdient,    mächtige    Komponenten 

1  a.  a.  O.   (43)  S.  34  der  I.  Auflage. 

-  Sache  wie  Ausdruck  kommen  übrigens  schon  bei  einem  anderen  Autor  vor.  Es  ist 
mir  nicht  bekannt,  ob  Freud  von  diesem  Vorgänger  Kenntnis  genommen  hat. 
Bei  rs'ietzsche  (92),  Bd.  II.  Teil  i,  gS,  ist  die  Rede  von  „jenen  Menschen,  dio 
Liebe  vermissen  .  .  .  namentlich  aber  den  Menschen  der  sublimierten  Geschlechtlich- 
keit". Auch  aus  anderen  Stelle«  geht  hervor,  daß  Nietzsche  an  einen  ähnlichen 
Mechanismus  glaubte,  wie  ihn  Freud  lehrt.  (Z.  B.  ebenda,  Teil  2,  83.)  Ich  entnehme 
weiterhin  aus  Keyserling  (Keisetagebuch  eines  Philosophen,  I.  S.  278),  daß  eine 
analoge  Lehre  der  indischen  Mentalität  geläufig  ist.  EHe  auch  dort  als  wertvoll 
gepriesene  sexuale  Enthaltsamkeit  wird  damit  begründet,  daß  den  zur  Herrlichkeit 
Reifen  Enthaltsamkeit  fördert,  weil  in  seinem  Fall  die  prokreative  Energie  einer  Um- 
setzung in  spirituelle  fähig  ist.  Aber  diese  Umsetzung  gelingt  nur  den  seltenen 
Organisationen,    die    wir    eben    die    Heilisren    heißen. 


AL  SWIRKl  .NüEN  V^D  UMGESTALTUNGEN 487 

für  allo  kulturollon  L«Msttinp^cn  gewounon  wonlon.  Wir  würden  also 
hiiizufüf^on.  <lal'>  der  ii.imlicho  I'ro/.oß  In  dor  I'^iilwicklung  des  einz<'lnen 
Iii(livi(lminis  spielt,  und  seinen  Beginn  in  die  sexuelle  Latenzperiode  der 
Kindlioil    verlegen. 

Auch  über  den  Mechanismus  einer  solchen  Sublimierung  kann  man 
eine  Vermutung  wagten.  Die  sexuellen  Regungen  dieser  Kinderjahrc  wären 
einerseits  unverwenilbar,  da  die  rortpflanzungsfunktionen  aufgeschoben 
sind,  was  den  Ilauptcharakter  der  Latenzperiode  ausmacht,  anderseits  wären 
sie  fK>rvers,  d.  1\.  von  erogenen  Zonen  ausgehend  und  von  Trieben  getragen, 
welche  bei  der  Entwicklungsrichtung  des  Individuums  nur  ünlust- 
empfindungen  hervorrufen  könnten.  Sie  rufen  daher  seelische  Gegen- 
kräfte (Reaktionsregungen)  wach,  die  zur  wirksamen  Unterdrückung 
solcher  Unlust  die  erwähnten  psychischen  Dämme,  Ekel,  Scham  und 
Moral,  aufbauen." 

Ferner  i;  „Der  dritte  Ausgang"  (neben  Perversion  und  Neurose  nämlich) 
,,bei  abnormer  konstitutioneller  Anlage  wird  durch  den  Prozeß  der 
.Subb'mierung'  ermöglicht,  bei  welchem  den  überstarken  Erregungen  aus 
einzelnen  Sexualitätsqucllen  Abfluß  und  Verwendung  auf  andere  Gebiete 
eröffnet  wird,  so  daß  eine  nicht  unerhebliche  Steigerung  der  psychischen 
Leistungsfähigkeit  aus  der  an  sich  gefährlichen  Verdrängung  resultiert. 
Eine  der  Quellen  der  Kunstbetätigung  ist  hier  zu  finden,  und  je  nachdem 
eine  solche  Sublimierung  eine  vollständige  oder  unvollständige  ist,  wird 
die  Charakteranalyse  hochbegabter,  insbesondere  künstlerisch  veranlagter 
Personen  jedes  Mengungsverhältnis  zwischen  Leistungsfähigkeit,  Perversion 
und  Neurose  ergeben  .  .  .  Was  war  den  , Charakter'  eines  Menschen 
heißen,  ist  zum  guten  Teil  mit  dem  Material  sexueller  Erregungen  auf- 
gebaut und  setzt  sich  aus  seit  der  Kindheit  fixierten  Trieben,  aus  durch 
Sublimierung  gewonnenen  imd  solchen  Konstruktionen  zusammen,  die 
zur  wirksamen  Niederhaltung  perverser,  als  unverwendbar  erkannter 
Regungen  bestimmt  sind.  Somit  kann  die  allgemein  perverse  Sexualanlage 
der  Kindheit  als  die  Quelle  einer  Reihe  unserer  Tugenden  geschätzt 
werden,  insofern  sie  durch  Reaktionsbildung  zur  Schaffung  derselben 
Anstoß   gibt." 

Gegen  die  in  dem  zitierten  Text  vorgetragene  Auffassung  läßt  sich 
vor  allem  ein  grundsätzlicher  Einwand  erheben,  der  indes  hier  nicht 
weiter  diskutiert  werden  kann:  es  operiert  diese  Lehre,  wie  die  ganze 
psychoanalytische  Theorie,  mit  einem  vollkommen  nach  dem  Schema 
physikalischer  Begriffe  konstruierten  Energiebegriff.  Man  wird  sich  fragen 
dürfen,  ob  eine  solche  Übernahme  physikalischer  Begriffe  in  psycho- 
logische Grebiete  überhaupt  zulässig  sei,  bzw.  unter  welchen  Kautelen  sie 
zulässig  sein  könnte.  Ich  bestreite  die  Anwendbarkeit  des  Energie- 
begriffes auf  das  Seelische  durchaus.  Man  mag  den  Eindruck  gewinnen, 
es  sei  diese  psychoenergetische  Theorie  nur  als  eine  ,,Als-ob-Betrachtung" 
gedacht,  habe  nur  die  Bedeutung  eines  Bildes,  Gleichnisses.  Vielleicht 
war  dies  ursprünglich  der  Fall,  obwohl  schon  die  „Studien"  von  Breuer 
und  Freud  sich  einer  energetischen  Terminologie  bedienen,  ausdrücklich 

1  a.  a.  0.    S.  76. 


438  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

im  Anschluß  an  hirnphysiologische  oder  hirnmechanische  Vorstellmigen, 
und  in  keiner  Weise  zweifeln  lassen,  daß  die  psychischen  Vorgänge  als 
reale  Energieumwandlungcn  gedacht  werden.  Wenn  aber  je  die  Psycho- 
analyse sich  des  fiktiven  Charakters  solcher  Betrachtungsweise  bewußt 
war,  so  hat  sie  diesen  Standpunkt  im  Lauf  ihres  Aufbaues  sicherlich 
verlassen.  Für  sie  haben  die  seelischen  Prozesse  imd  Elemente  Energie, 
die  sich  in  Mengen  ausdrücken,  gegenseitig  vertauschen,  umwandeln  läßti. 
Was  gegen  diese  —  gewiß  nicht  der  Psychoanalyse  allein  eigentümliche 
und  auch  von  ihr  nicht  zuerst  gebrauchte  —  Auffassung  sagen  läßt, 
gehört  indes  nicht  hierher.  Im  folgenden  wollen  wir  so  verfahren, 
als  ob  diese  Psychoenergetik  gestattet  wäre  —  posito  sed  non  conoesso  — , 
und  zusehen,  was  weiterhin  etwa  kritisch  über  die  Lehre  zu  sagen  wäre. 

In  den  zitierten  Stellen  drückt  Freud  sich  vielfach  recht  vorsichtig 
aus.  Zwar  scheint  er  dafür  zu  halten,  daß  Ekel,  Scham  und  Moral 
allein  durch  Sublimierung  der  infantilen  Sexualität  entstünden,  doch 
heißt  es  weiter,  es  sei  diese  nur  „eine  Quelle"  der  Kunstbetätigung,  der 
Charakter  sei  „zxmi  guten  Teil"  .aus  solchem  Material  aufgebaut,  „eine 
Reihe"  von  Tugenden  würde  so  geschaffen.  In  anderen  psychoanalytischen 
Arbeiten  klingt  aber  die  Lehre  anders,  bedeutend  schärfer  formuliert. 
Alsbald  wird  fast  alles,  was  an  individuellen  und  kulturellen  Leistungen 
nur  gedacht  werden  kann,  aus  Sublimierung  der  sexualen  Triebkräfte 
erklärt. 

So  heißt  es  bei  Blüher  z.  B.:  „Wo  immer  sich  im  Charakter  des  Men- 
schen typische  Strebimgen  zeigen,  die  zwangsartig  auftreten,  und  die  nach 
der  Tat  eine  gewisse  Befriedigimg  auslösen,  da  haben  wdr  es  mit  trans- 
formierter Sexualität  zu  tun,  die  Handlimg  mag  im  übrigen  in  einen 
Zusanmienhang  gehören,  wie  sie  wolle."  An  einer  anderen  Stelle  ist 
davon  die  Rede,  daß  man  Sexualität  in  „Wissenschaft,  Kunst  und  Lebens- 
haltung sublimieren  könne".  Von  anderen  Autoren  hören  wir,  daß  der 
wissenschaftliche  Einfall,  Kekules  Konstruktion  des  Benzolkemes,  das 
Kunstwerk  schlechthin,  Religion,  Philosophie  usw.  —  alles  durch  Subli- 
mierung zustande  käme. 

Es  kann  daher  auch  nicht  wundernehmen,  wenn  alle  Grefühlsbeziehun- 
gen  zwischen  Menschen,  Kindes-  und  Elternliebe,  Freundschaft  und  Ver- 
ehrung eine  ebensolche  Genese  aufweisen  sollen;  dasselbe  gilt  für  die 
Liebe  zu  Gott,  für  dynastische  Treue  usw. 

Eine  solche  weiteste,  wenn  nicht  alle  Sphären  seelischen  Geschehens 
umfassende    Lehre     fordert   zu  ernstlicher    Prüfung   heraus. 

Zwei  Beweise  stehen  ihr  zu  Gebote.  Erstens  —  der  wichtigste  —  die 
Resultate  der  psychoanalytischen  Methode.  Wer  diese  Methode  nicht 
anerkennt,  wird  natürlich  die  Beweiskraft  gering  schätzen.  Deshalb 
könnten  die  Behauptungen  noch  immer  richtig  sein.  Die  Methode  halte 
ich  für  unzulässig,  weil  sie  kausale  und  sinnhafte  Verknüpfungen  ver- 
wechselt und  identifiziert.  Viele  Resultate  kann  ich  anerkennen,  weil 
sie  gar  nicht  durch  die  Methode  gewonnen  ^v^lrden.     Denn  die  Auswahl 

1  Ganz  deutlich  sieht  man  dies  aucli  in  der  jüngsten  Schrift  Freuds  „Massenpsychologie 
und  Ichanalyse". 


AUSWIRKUNGEN  UND  UMGESTALTUNGEN 489 

dor  niitoiiKuidor  zu  verbiiidondon  Glityior  In  dem  Ablaufe  der  Einfälle, 
zwanglosen  Assoziationen,  ist  durch  die  Metho<le  an  sich  gar  nicht  be- 
stimmt; sie  ist  Sache  des  individiifilen  Verständnisses  des  Psychoana- 
lytikers, trägt  einen  intuitiven  Quirakter  ^  Daher  mit  dergleichen,  sich 
als  exakt-naturwissenschaftlich  gerierenden  MeÜiotlen,  die  einen  ihrer  An- 
hänger auch  dem  Cregner  einleuchtende,  überzeugende  Resultate  zutage 
fördern,  die  anderen  die  unmöglichsten  Konstruktionen  produzieren. 
Dem  einen  eignet  eben  eine  —  bei  Freud  ins  Geniale  gesteigerte  —  in- 
tuitive  Begabung,  den  anderen   fehlt  sie  gänzlich. 

Das  zweite  Argument  deutet  Freud  in  der  zitierten  Stelle  an,  wenn  er 
sagt,  es  seien  die  Kulturhistoriker  sich  einig  usw.  Die  damit  angezogene 
Meinung  ist  bekanntlich  nicht  nur  die  der  Kulturhistoriker,  sondern  auch 
die  der  Populärpsychologie,  was  vielleicht  ihr  eher  Gewicht  zu  verleihen 
als  zu  nehmen   vermag. 

Diese  Überzeugung  der  Kulturhistoriker  bzw.  der  Populärpsychologie 
gründet  sich  im  wesentlichen  auf  die  Beobachtung,  daß  ein  Ziuiicktreten 
oder  Zurückdrängen  der  Sexualität  mit  einem  Auftreten  anderer  Betäti- 
gungsweisen einhergeht  oder  einhergehen  kann,  so>vie  auf  die  Fest- 
stellung des  umgekehrten  Sachverhaltes  —  welche  sich  leichter  machen 
läßt  und  wohl  zumeist  den  Ausgangspunkt  bildet  — ,  daß  nämlich  das 
Auftreten  anderer  Betätigungen  mit  einem  Ziu^ücktreten  der  Sexualität 
einhergehe. 

So  glaubt  man  z.  B.  in  der  Mutterliebe  transformierte,  sublimierte 
sexuale  Energien  am  Werke  "zu  sehen,  weil  in  der  Tat  diese  Einstellung 
sich  >ielfach  dort  ent\vickelt,  wo  sexuale  Triebe  nicht  zur  Entfaltung 
kommen.  Sie  scheint  ,, überall  da,  wo  eine  volle  Erotik  sich  —  wegen 
sexueller  Empfindungslosigkeit  —  nicht  entwickeln  konnte,  an  die  Stellet 
derselben  zu  treten",  (Kenmitz  [63  a]).  Wir  sehen,  daß  bedeutende 
Menschen  zuweilen  einen  besonderen  Mangel  an  erotischem  Empfinden 
aufweisen,  etwa  bei  Kant.  Es  fragt  sich  nun,  inwieweit  solche  Tatsachen 
zu  der  oben   skizzierten  Theorie  oder  zu  einer  ähnlichen  zwingen. 

„Daß",  bemerkt  Löwenfeld  (76),  „die  Libido  oder  überhaupt  die  Sexualität 
einen  sehr  bedeutenden  Einfluß  als  Triebkraft  auf  das  seelische  Leben 
ausübt,  hierüber  sind  alle  jene,  welche  sich  mit  diesem  Problem  beschäf- 
tigten, einig;  nur  über  die  Ausdehnung  dieses  Einflusses  im  psychischen 
Gebiet  rnid  die  Art  seiner  Wirkungen  auf  einzelne  psychische  Prozesse 
sind  die   Ansichten   geteilt." 

Es  ist  nun  zweierlei,  ob  man  davon  spricht,  daß  die  Sexualität  und 
ihre  Betätigung  Anstoß  zu  irgendwelchen  Leistungen  —  etwa  zur  Schaf- 
fung eines  Kunstwerkes  —  geben,  oder  ob  man  in  den  darin  wirksamen 
Potenzen  eine  transformierte  Sexualität  erblicken  wdll.  Daß  das  erstere 
vielfach  der  Fall  ist,  bedarf  keiner  Erörterung.  Jedermann  weiß,  eine 
wie  überragende  Stellung  die  Sexualität  und  die  an  sie  sich  knüpfenden 
Erscheinungen  als  Gegenstand  der  Kunst  einnehmen.  Sie  ziehen  das 
Interesse  auf  sich,  sie  drängen   sich  dem  Menschen   auf,  sie  sind  daher 


1  Auch   diese,    in   ihrer    Kürze   dogmatischen,    Behauptungen   sollen    an   anderer   Stelle 
eine    ausführliche    Begründung    erfahren. 


490  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

auch    Inhalt  des    Kunstwerkes.     Dazu   konrnit,   daß   die   —   man   möchte 

ga^en    Auflockerung   des  emotiven    Lebens,    welche   mit   dem    Sexual- 

affekl,  insonderheit  der  Liebe,  einhergehen  kann,  zweifellos  der  künst- 
lerischen Produktivität  günstig  sein  muß.  Wissenschaft,  deren  Betrieb 
emotive  Kräfte  nicht  oder  doch  nur  in  ganz  anderem  Sinne  beansprucht, 
wird  im  allgemeinen  nicht  gefördert,  wenn  auch  Schopenhauer  behauptet, 
gerade  in  den  Zeiten  heftigster  sexualer  Erregung  seien  die  höchsten 
Kräfte  des  Geistes  zur  größten   Tätigkeit  bereit. 

Keinesfalls  steht  die  Sache  so,  daß  erotisches  Erleben  und  Produktivität 
einander  in  einem  individuellen  Leben  vertreten  und  abwechseln  onüßten, 
wofüi-  Goethe  das  beste  Beispiel  sein  dürfte. 

Als  Prototyp  der  Sublimierung  gilt  die  Gottesliebe,  alles  religiöse 
Erleben  überhaupt.  Wie  wenig  die  Äußerlichkeiten  der  Terminologie  zu 
einer  Zurückführung  dieser  Phänomene  auf  Sexualität  berechtigen,  wurde 
schon  in  der  Einleitung  xiargetan.  Blüher  (i3)  formuliert  die  These  kurz 
und  präzise:  die  Kirche  verlange  die  Verwandlung  von  Brunst  in  In- 
brunst. Eine  Kritik  dieses  Standpunktes  ist  zugleich  eine  Kritik  des 
Sublimienmgsbegriffes    überhaupt. 

Die  psychoanalytische  Lehre  ward  indes  nur  verständlich,  wenn  man 
den  ihr  eigentümlichen  Begriff  der  „Libido"  berücksichtigt.  Ursprüng- 
lich die  Libido  sexualis  s.  str.  bedeutend,  erfuhr  dieser  alsbald  eine  be- 
trächtliche Ausweitung,  insbesondere  durch  G.  G.  Jung  (62),  dem  er 
gleichbedeutend  mit  dem  „Willen  zum  Leben",  jeder  vitalen  Triebkraft 
schlechthin,  wurde.  Daß  damit  jeder  Sublimierungstheorie  der  Boden 
entzogen  wird,  ist  klar.  Wenn  es  nur  eine  „seelische  Energieform" 
gibt  und  diese  in  leiner  bestimmten  Menge  vorhanden  ist  —  eine,  wie 
bemerkt,  höchst  angreifbare  Position  — ,  dann  kann  sie  begreiflicherweise 
bald  als  Sexualität,  bald  als  künstlerische  Produktion,  religiöse  Haltung,, 
wissenschaftliche  oder  kulturelle  Leistung  "usw.  erscheinen.  Aber  es  be- 
steht nicht  der  leiseste  Grund,  diese  Libido  als  sexuale  anzusehen  und 
von  ihrer ,, Sublimierung  zu  etwas"  zu  reden.  Wenn  wiederum  edles  sexuale 
Libido  ist,  müssen  wir  uns  zunächst  über  das  eine  im  höchsten  Maße 
wundern,  wieso  es  überhaupt  unter  den  Freudschen  Voraussetzimgen 
zu  irgendwelcher  Eindämmung  und  Zurückdrängung  der  Libido  kommt. 
Freud  sagt,  diese  „verdrängenden  Mächte"  würden  in  der  Entwicklung  des 
Einzellebens  zum  Teil  selbst  aufgebaut,  wie  z.  B.  Ekel  und  Scham,  teils 
bestünden  sie  in  „moralischen  Vorstellungsmassen",  die  dem  Individuum 
von  außen  zugeführt  werden,  darunter  an  erster  Stelle  in  den  Regeln 
der  in  der  Gesellschaft  herrschenden  Geschlechtsmoral,  z.  B.  Verbot  des 
Inzests  usw.  Nun  ist  es  aber  schon  schwer  begreiflich,  wie  es  —  nimmt 
„Libido"  schließlich  (wie  bei  Freud)  den  Charakter  der  seelischen  Ge- 
samtenergie überhaupt  in  Anspruch  —  aus  ihr  heraus  zu  einem  Aufbau 
von  Mächten  konmien  soll,  die  doch  gerade,  wie  Freud  meint,  zur  Ver- 
drängung der  Libido  berufen  sind  .  .  .  Noch  weniger  kann  man  verstehen, 
woher  denn  diese  „moralischen  Vorstellungsmassen"  ihrerseits  gekommen 
sind,  die  die  Libido  des  Individuums  von  außen  her,  seitens  Gesellschaft 
und  Staat  usw.,  beschränken  und  zurückdrängen  sollen.  Hier  gerät  Freud 
in   eine   offenbare    Zirkelerklärung.     Alle   höheren    moralischen    Gefühle 


AUSWIRKUNGEN  UND  UMGESTALTUNGEN  491 


und  AufgalxMi,  und  datnit  wohl  audi  die  moralischen  Motive  selbst, 
sollen  ein  Krgebnis  suhliiiiieiUM-  Libido  sein.  Lni  diese  „Subliniieruiig " 
alxT  ihrerseits  verständlich  zu  inacluii,  s<'tzl  Freud  voraus,  ,,e.s  gäbe  eine 
Moral,  kraft  deren  Cielxtleu  eine  Verdrängung  der  Libido  und  tlaniit  ihre 
mögliche  Zuleitung  an   , höhend  Aufgaben"   köinie  geleistet  werden.  " 

Durch  diese  Darlegungen  Schelers  ^  denen  nichts  hinzuzufügen  ist, 
dürfte  die  innere  Uidialtbarkeit  der  Theorie  wohl  klargestellt  sein.  Indes 
ist  noch  anderes  zu  sagen,  wobei  z.  T.  die  Gredankengänge  Schelers  (loi) 
Verwertung   finden. 

Man  muß  die  Frage  aufwerien,  was  denn  durch  die  Subliniierung 
aus  der  Libido  entstellen  soll.  Libido  ist  per  definitionem  eine  Energie. 
Es  kann  also  nur  wieder  Energie  durch  Umwandlung  aus  ilir  in  neuer 
Erscheinungsweise  entstehen.  Wenn  durch  Sublimierung  aus  Libido 
Kunstbetätigung  wird,  so  kann  höchstens  die  in  dieser  wjjj-ksame  Kraft 
aus  der  Libido  stanunen,  aber  weder  die  Besonderheit  der  Betätigung 
—  malend,  dichtend  usw.,  aber  auch:  naturalistisch,  gotisch  usw.  — 
noch  die  Gegenstände,  darauf  sie  gerichtet  ist  oder  die  sie  zu  erfassen 
und  darzustellen  sucht.  Es  ist  nun  ganz  klar,  daß  aus  Libido  nicht 
iigendwelche  iVkte  werden  können.  Wie  sich  Libido  etwa  in  ,, Denken" 
mnwandeln  sollte,  ist  einfach  unverständlich  und  unmöglich.  Sollte  dies 
ein  Anhänger  der  Psychoanalyse  behaupten  —  es  ist  gar  nicht  aus- 
geschlossen, daß  das  geschieht!  — ,  so  wäre  ihm  entgegenzuhalten,  daß 
er  nicht  einmal  den  Schatten  eines  Beweises  dafür  erbringen  könnte; 
sowenig  sich  „Rot"  etwa  in  „Eisen"  verwandeln  läßt,  sowenig  ist 
diese  Umwandlung  auch  nur  in  Gedanken  vollziehbar. 

„Es  ist  also  selbstverständlich,  daß  nicht  nur  das  ganze  Reich  dieser 
Akte  überhaupt  auf  alle  Fälle  vorauszusetzen  ist,  sondern  auch,  daß  in 
jedem  Falle,  da  die  Theorie  zur  Erklärung  eines  individuellen  Lebens- 
vorganges Verwendimg  finden  soll,  die  spezifischen  Begabungen  sowie 
die  spezifischen  Interessenrichtungen  auf  Aji Wendungsgebiete  dieser  Be- 
gabungen vorausgesetzt  werden  müssen"  (Scheler  a.  gl.  0.). 

Es  kann  sich  also  bei  dem  Prozeß  der  Sublimierung  nur  darum  han- 
deln, daß  vorhandenen  Tendenzen,  Fähigkeiten  „eine  Energie  zugeleitet 
worden  wäre,  die  ihnen  bei  schrankenloser  Hingabe  an  die  Libido  versagt 
geblieben  wäre",  wenn  anders  der  Begriff  der  Libido  überhaupt  einen 
vernünftigen  Sinn  haben  soll.  Auf  diese  Weise  haben  ja  wohl  auch 
die  von  Freud  berufenen  Kulturhistoriker  sich  die  Relation:  Sexuali- 
tät— Kulturleistung   vorgestellt. 

Aber,  wie  Scheler  hervorhebt,  diesen  noch  faßbaren  Standpunkt  nimmt 
Freud  gar  nicht  ein.  Bei  ihm  scheint  es,  als  käme  den  nicht  sexualen 
Akten  an  sich  überhaupt  keine  Elnergie  zu,  und  als  wäre  alles,  was  an 
Energie  sich  in  welchem  seelischen  Bereich  immer  betätigte,  auf  Kosten 
der  Sexualität  mit  Energie  ausgestattet  worden.  Geistige  Leistungen 
kämen  nur  zustande,   indem  die  Libido  an  Energiegehalt  verlöre.    Diese 

1  (loi),  S.  112.  Merkwürdigerweise  ist  diese  einzige,  wirklich  tief  greifende  Kritik 
der  psychoanalytischen  Lehren  von  deren  Anhängern  und  Gegnern  anscheinend  über- 
haupt   kaum    beachtet    worden. 


492  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Annahme  ist  vollkommen  willkürlich.  Sie  läßt  sich  auch  in  keiner  Weise 
induktiv,  seihst  wenn  man  sich  auf  den  Boden  psychoanalytischer  Technik 
stellt,  als  notwendig  erweisen.     Wenn  man  schon  von  seelischer  Energie 

redet    und   hierin   weiche   ich   allerdings    von    Scheler,   der   von   einer 

Begrenztheit  der  seelischen  Gesamtenergie  spricht,  ab  — ,  so  muß  man 
offenbar  allen  Schichten  der  Seele  ein  selbständiges  Energiequantum  zu- 
erkennen. Schon  das  bloße  Bestehen  energieleerer  Akte,  die  erst  durch 
die  Sublimierung  zm-  Wirksamkeit  gelangen  wöirden,  vorher  nur  der 
Möglichkeit  nach  da  wären,  ist  unvorstellbar  und  läuft  jeglicher  phäno- 
menologischen Einsicht  zuwider.  Auch  widerstreiten  die  Tatsachen  der 
Freudschen  Lehre.  Es  ist  gar  nicht  wahr,  daß  dort,  wo  Libido  in 
höchstem  Ausmaß  unterdrückt  wird  und  wo  doch  nicht  eine  Neurose 
resultiert,  geistige  Höchstleistungen  gefunden  würden,  was  nach  der 
Theorie   zu   erwarten    wäre. 

Es  ist  auch  weiterhin  gar  nicht  einzusehen,  unter  welchen  Bedingungen 
es  zur  Sublimierung  imd  unter  welchen  zur  krankmachenden  Verdrängung 
konunen  soll.  Die  Berufung  aiif  die  „psychosexuale  Konstitution"  ist 
eine  Flucht  in  ©in  Asylimfi  ignorantiae  imd  die  Heranziehung  eines  der 
psychologischen  Betrachtung  durchaus  transzendenten  Momentes,  dessen 
Einführung  dem  gerade  von  der  Psychoanalyse  angeblich  angestrebten 
Verständnis  menschlichen  Seelenlebens  iu  keiner  Weise  förderlich 
sein  kann  ^. 

Was  ergibt  sich  also?  Schließlich  ist  die  ganze  „Sublimierung"  nidits 
als  ein  Wort,  welches  eine  freilich  vorhandene,  aber  auch  längst  be- 
kannte Tatsache  durch  Verwertimg  unbewiesener  Annahmen  verdunkelt. 
Aus  dem  verständlichen  Zusammenhang,  daß  das  zentrale  Ich  nicht  in 
allen  seinen  Aspekten  gleichmäßig  sich  manifestieren  könne,  es  sei  denn 
bei  manchen  Ausnahmsmensch^i,  daß  also  bei  einem  Individumn  die 
Erotik,  bei  einem  anderen  Anderes  überwiegen  wird,  oder  auch,  daß 
während  eines  individuellen  Lebens  Phasen  verschiedener  Art  sich  folgen 
können,  wird  eine  unverständliche  und  mit  allem  Greistesaufwand  ihrer 
inneren   Haltlosigkeit  nicht  zu  entkleidende  Libidomythologie. 

Dadurch  soll  das  Verdienst  Freuds  und  seiner  Schide  um  die  Aufdeckung 
mancher  Zusammenhänge  zwischen  den  psychosexualen  Sphären  und 
anderen  Bereichen  keineswegs  geschmälert  werden.  Nur  die  Theorie 
ist  widersinnig.  Was  an  verständlichen  Zusammenhängen  gefunden  wurde, 
ist  eine  bleibende  Bereicherung  unserer  Einsicht.  Auch  ohne  die  Theorie 
anzuerkennen,  wird  man  z.  B.  in  G.  C.  Jungs  (62)  „Wandlimgen  imd 
Symbole  der  Libido"  vieles  Wertvolle  finden,  dieser  Arbeit  eine  gemsse 
Größe  nicht  absprechen  können. 

Es   ist   unmöglich   zu  sagen :     Beligion   i  s  t   transformierte   Sexualität, 

1  Natürlich  kann  man  gelegentlich  sich  gezwungen  sehen,  in  der  Herstellung  von 
Verknüpfungen  zwischen  psychischen  Momenten  haltzumacheai  und  schließlich  auf 
Organisches  zu  rekiu-rieren.  Das  ist  der  Fall,  wo  die  Psychopa Üaologie  etwa  mit  Kron- 
feld (Zaitschx.  f.  d.  ges.  Nexu-ol.  und  Psychiatr.,  7^,  1922)  von  , .psychotischen, 
Primärsjmptomen"  sprechen  kann.  Hier  aher  handelt  es  sich  um  zweifellos  als  „ver- 
ständlich'    und    aufeinander   reduzierbar    erlebte    Momente. 


AUSWIRKUNGEN  UND  UMGESTALTUNGEN 493 

Kunst  ist,  Wissenschaft  usw.  ist  letzten  Endes  nichts  wie  Sexualität. 
Solche  ...Vlcliiniie",  wie  sie  Scheler  nennt,  ist  —  LiLsinn. 

Wio  kam  aber,  muß  man  fragen,  ein  Forscher  von  der  zweifellosen 
Genialität  Freuds  ^  zu  solch  einer  Theorie?  Ich  glaube,  daß  er  dazu 
verleitet  wurde,  werden  mußte  durch  tue  Konsequenzen  eines  anderen 
Bogriffes,  den  wir  auch  hier  einer  Erörterung  zu  unterziehen  haben,  des 
Begriffes    vom    ,, Symbol". 

Es  ist  nicht  möglich,  hier  des  langen  und  breiten  die  Genese  dieses 
Symbolbegriffes  in  der  psychoanalytischen  Lehre  auseinanderzusetzen. 
Den  Ausgangspunkt  bilden  offenbar  die  schon  in  den  ,, Studien"  nieder- 
gelegten Beobachtungen  über  die  „Konversion",  die  ,, Umwandlung"  eines 
psychischen  in  ein  somatisches  Symptom,  in  welchem  sich  jenes  irgend- 
wie darstellt.  Etwa  nach  dem  Schema:  Schluckbeschwerden  treten  auf, 
weil  der  Kranke  hat  etwas  hinunterschlucken  müssen. 

So  wie  hier  das  pathogene  Erlebnis  sich  in  dem  somatischen  Symptom 
darstellt,  so  sollen  überhaupt  sich  Erlebnisse  in  anderen  Erscheinungen 
—  Träumen,  Fehlhandlungen,  Halluzinationen,  Anfällen,  Zwangsphäno- 
menen, ganzen  Abläufen  und  Verhaltungsweisen  u.  dgl.  —  darstellen 
können.  Gefunden  wird  das  sich  darstellende  Element  auf  dem  Wege 
der  zwanglosen  Assoziation.  An  welchen  Kriterien  erkannt  wird,  ob 
sich  in  einem  manifesten  Phänomen  ein  oder  mehrere  solche  Elemente 
darstellen,  braucht  hier  nicht  erörtert  zu  werden.  Für  die  Sexualpsycho- 
logie ist  nur  die  Frage  von  Bedeutung,  ob  irgendwelche  seelische  Phäno- 
mene, welche  an  und  für  sich  nicht  der  Sexualsphäre  angehören,  Ele- 
mente dieser  darstellen,  durch  Vorgänge  in  dieser  bedingt  werden  können. 

Man  muß  hier  wohl  unterscheiden  zwischen  dem  Inhalt  eines  solchen 
Phänomens  und  dessen  eventueller  sexualer  Bedeutung  einerseits  und  dem 
durch  Vorgänge  in  der  Sexualsphäre  bedingten  Auftreten  andererseits. 
Es  ist  nicht  dasselbe,  ob  man  sagt,  dieses  oder  jenes  Phänomen  tritt  über- 
haupt nur  deshalb  auf,  weil  gemsse  Sexualtendenzen  nach  Konkretisierung 
streben,  oder  ob  man  sagt:  daß  sein  Inhalt  von  der  Sexualsphäre  aus  ge- 
staltet werde.  Eine  Diskussion  der  ersten  Frage  deckt  sich  weit- 
gehend mit  der  über  die  Sublimierung  abgeführten;  auch  hier  gilt,  daß 
sämtliche  Aktbereiche  als  solche  vorausgesetzt  werden  müssen.  Es  kann 
sich   nur   um    Inhaltsbestimmtheiten   handeln. 

Es  behauptet  nun  die  Psychoanalyse,  daß  es  zahlreiche  solche  „Sym- 
bole" gebe.  Der  Ausdruck  Symbol  ist  sehr  unglücklich.  Er  bedeutet 
hier  etwas  cuideres  als  sonstwo.  Im  allgemeinen  meint  man  unter  Sym- 
bol ein  Gebilde  irgendwelcher  Art,  durch  welches  ein  anderes  auf  Grund 
verständlicher  und  einsehbarer  Beziehungen  ausgedrückt  wird.  Hier  aber 
sind  die  Beziehungen  gar  nicht  verständlich  und  einsehbar  und  oft  recht 
weit  hergeholt.  Sie  werden  aufgefunden  durch  das  erwähnte  zwanglose 
Assoziieren.     Richtiger:    sie   wurden    aufgefunden,    da    heute  eine  große 


1  Seine  genialsten  Leistungen  sind  übrigens  gewiß  nicht  seine  theoretischen  Kon- 
struktionen, sondern  die  intuitive  Erfassung  von  Zusarrunenhängen  und  offenbar  von 
Pers-önlichkeiten.  Gerade  die  Theorie  ist  vielfach  reich  an  innerlichen  Widersprüchen 
und    logischen    Mängeln. 


494  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Anzahl  solcher  Symbole  in  der  Psychoanalyse  als  allgemein  gültig  und 
feststehend  anerkannt  Avird  tmd  nur  mehr  „gedeutet",  nicht  aber  ana- 
lytisch aufgelöst  zu  werden  braucht.  Voraussetzimg  der  Theorie  ist, 
daß  die  von  einem  Element  ausgehenden  Assoziationsreihen  zu  anderen 
hinführen,  welche  mit  jenem  Element  in  engerem  Zusammenhange  stehen 
als  mit  sonstigen  der  seelischen  Abläufe.  Auf  diesem  Wege  wurden 
Sexualsymbole  aller  Art  gefunden,  solche  für  den  männlichen  oder  den 
weiblichen  Geschlechtsteil,  für  den  Sexualakt  und  seine  Variationen  usw. 

Die  Psychoanalyse  ver\veist  weiterhin  darauf,  daß  die  etwa  im  Traum, 
der  Psychose  auffindbaren  Sexualsymbole  vielfach  die  gleichen  seien,  wie 
die  in  der  Mythologie,  im  Märchen,  in  der  Volksprache,  dem  Volkslied 
verwendeten.  So  bedeute  z.  B.  die  Schlange  da  und  dort  das  männliche 
Genitale. 

Diesem  Argument,  welches  zweifelsohne  so  weit  Richtiges  behauptet, 
als  in  der  Tat  in  Mythos,  Märchen  usw.  derartige  Symbole  vorkommen, 
kann  indes  nur  so  lange  Beweiskraft  für  die  These  der  Sexualgenese  indi- 
vidualpsychischer  Phänomene  zugemessen  werden,  als  die  grundsätzlichen 
Annahmen  der  Psychoanalyse  konzediert  werden.  Wem  es  nicht  glaub- 
lich erscheint,  daf^  durch  zwangloses  Assoziieren  kausal  determinierende 
Elemente  aufgefunden  werden  können,  der  kann  auch  mit  diesem  Argu- 
ment nichts  anfangen. 

Sobald  nun  die  psychoanalytische  Theorie  zur  Überzeugung  gelangt 
war,  daß  in  den  „Symbolen"  das  vermeintliche  Symbolisierte  irgendwie 
enthalten,  beschlossen  sei,  war  nur  ein  Schritt  zur  Annahme,  daß  das 
Sexuale  auch  in  allen  erdenklichen  sonstigen  seelischen  imd  kulturellen 
Phänomenen  sozusagen  darin  stecke,  daß  diese  aus  transformierter  Sexu- 
alität  bestünden,   durch    „Sublimierimg"    entstünden. 

Ich  glaube,  wie  die  Lehre  von  der  „Sublimierung"  auch  die  von  der 
„Symbolbildung"  in  Freudschem  Sinn  ablehnen  zu  müssen.  Wiederum: 
die  Ablehnung  der  theoretischen  Konstruktion  hindert  nicht,  daß  die 
faktischen  Konstatierungen  Freuds  auch  auf  diesem  Gebiet  eine  außer- 
ordentliche Bereicherung  unseres  Wissens  imd  Verstehens  bedeuten.  Nur 
folgt  aus  der  Tatsache,  daß  Sonne,  Schlange  usw.  phallische  Symbole 
sein  können,  keineswegs,  daß  sie  es  jedesmal,  wenn  sie  uns  in  Ethno- 
logie, Mythologie  usw.  wie  auch  in  der  individuellen  Psychologie  begegnen, 
auch  wirklich  sind.  Sowenig  aus  der  Tatsache,  daß  man  im  psycho- 
analytischen Verfahren  im  Laufe  der  Assoziationsreihen  zu  sexualen  Mo- 
menten gelangt,  folgt,  daß  diese  für  das  Ausgangselement  konstitutive  und 
kausale  Bedeutung  haben,  oder  —  wenn  sie  solche  schon  einmal  hätten  — 
immer  haben  müssen.  Schließlich  kann  man  von  jedem  Element  aus  das 
Ganze  des  Seelenlebens  aufdröseln.  Die  Allgemeingültigkeit  der  symbo- 
lischen Auslegung  von  Mythos,  Märchen  usw.  glaubt  Jung  zu  stützen, 
indem  er  meint,  man  habe  durch  Lüftung  des  Schleiers,  der  über  dem 
Unbewaißten  der  individuellen  Seele  lag,  auch  den  über  die  Völkerseele 
gebreiteten  gehoben.  Diese  Analogisierung  einer  ,, Völkerseele"  und  einer 
Einzelseele  ist  zunächst  nur  ein  Bild;  soll  sie  irgendwo  Beweiskraft  er- 
langen, so  muß  ihre  Berechtigung  eigens  aufge>viesen  werden.  Sonst 
verfällt  man  einem   Psychologismus  und   Biologismus   in  der  Soziologie. 


AI  SWIRKLNGEN  L.ND  LMGESTALTUNGLN 495 

wie  er  —  gedankenlos  und  ohne  Prüfung  der  Grundlagen  angewendet  — 
schon  genug   \or\virning  gosliflcl  hat  ^ 

Als  sichorstohoiKl  dürfen  wir  ansehen,  dali  tatsächlich  in  der  Sprache, 
dem  Lied  oder  (ieilicht,  in  Sago  und  Mythos,  Kult  und  Religion  zahl- 
reiche sexuale  Momente  mitsprtx:hen  oder  ausgedrückt  werden  —  sub  rosa 
sozusagen.  Diese  Ausdrücke  sind  z.  T.  Symbole  im  echten  Sinne,  d.  h. 
man  weiß  oder  \\-ußte,  was  sie  bedeuten,  man  sah  gewissermaßen  durch 
die  symbolhafte  Einkleidung  auf  das  letztlich  Gemeinte  hindurch.  Warum 
es  zu  solchen  Symbolisienuigen  überhaupt  kommt,  kann  hier  nicht  unter- 
sucht werden.  Ein  Moment,  das  speziell  für  die  sexuale  Symbolik  von 
lielang  sein  dürfte,  ist  gewiß  dieses,  daß  das  Verhüllte,  aber  zu  Er- 
ratende einen  besonderen  Reiz  abgibt  —  eine  Vorlust  schafft,  würde 
Freud  sagen.  Nicht  weil  die  Menschen,  unter  denen  ein  erotisch-symbo- 
lisierendes  Volkslied  entstand,  sich  gescheut  hätten,  die  geschlechtlichen 
Dinge  beim  rechten  Namen  zu  nennen,  sondern  weil  die  Umschreibung 
einen  erhöhten  erotischen  Wert  abgab,  gerade  aus  einer  der  ,, Verdrän- 
gung" entgegengesetzten  Haltung  heraus  haben  sie  sich  der  ,, Symbole" 
bedient.  Auch  gewährleistet  die  Umschreibung  durch  ihre  Zweideutigkeit 
eine  größere  Sicherheit  in  der  Anknüpfung  erotischer  Beziehungen ;  wenn 
der  Partner  nicht  will,  braucht  er  das  „Symbol"   nicht  zu  verstehen-. 

Mit  diesen  kritischen  Bemerkungen  scheint  mir  nun  der  Weg  frei  ge- 
macht, um  die  AusAvirkungen  der  Sexualität  in  anderen  seelischen  bzw. 
kulturellen  Gebieten  kurz  zu  kennzeichnen.  Ich  begnüge  mich  mit  der 
grundsätzlichen,  freilich  auch  nur  in  großen  Zügen  hier  möglichen 
Kritik ;  denn  wollte  man  alles,  was  die  psychoanalytische  Schule  in  den 
Kreis  ihrer  Deutungsarbeit  gezogen  hat,  kritisch  richten,  so  würde  ein 
ungeheuerlicher  Raum  damit  angefüllt  werden,  daß  man  wieder  und 
wieder  die  gleichen  prinzipiellen  Fehlschlüsse  und  implizierten  unbegrün- 
deten Annahmen  aufzuweisen  hätte.  Ist  doch  dem  Eifer  der  Psycho- 
analytiker nichts  entgangen:  vom  Sonnenhymnus  des  Amenophis  IV. 
Ichenaton  bis  zu  den  Romanen  Gottfried  Kellers,  vom  Kinderspiel  bis 
zur  Konzeption  des  Benzolringes  durch  Kekule,  vom  Mithraskult  bis  zum 
herrenhutischen  Pietismus  ist  ihnen  alles  aus  den  Sublimierungen  und 
Transformationen  der  Sexualität  erklärlich. 

Daß  das  Erotische  außerordentlich  oft  Gegenstand  künstlerischer 
Darstellung  ist,  bedarf  nicht  erst  der  Betonung.  Fällt  es  uns  doch  geradezu 
auf,  wenn  in  einem  Roman  oder  Drama  nicht  von  Liebe  gehandelt  wird. 
Hierum  aber  kann  es  sich  nicht  handeln;  die  Frage  geht  nach  etwaigen 
wesensmäßigen  Zusammenhängen  von  Sexualität  und  Kunst.  Krafft- 
Ebing  hat  bezweifelt,  ob  überhaupt  echte  Kunst  ohne  sexuale  Grundlage 
denkbar  wäre.  Dabei  kann,  wie  oben  ausgeführt,  das  Verhältnis  der 
beiden  Sphären  —  Sexualität  und  ästhetische  Produktion  bzw.  Genuß- 
fähigkeit —  nicht  das  der  Sublimierung  sein.  Die  wenigsten  Künstler 
sind  asexual  und  haben  ihre  Libido   ,,sublimiert". 

1  Vgl.    dazu    neuestens:      H.    Kelsen,    Jurisprudenz    und    Soziologie,    Tübingen,    1922. 

2  Hierfür  ein  Beispiel  in  Kiplings  ,,Kim",  dem  das  womail  of  ShamlegH  eine  g-e- 
spaltene  Nuß  reicht,  Kim  —  Nuts  indeed ;  in  the  piain  it  is  almonds  —  versteht 
genau,   tut   aber   so,    als    ob    er  das    Symbol    nicht,   nur  den   realen    Gegenstand   erkenntei. 


496  ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

Bekannt  ist  das  Erwachen  und  oft  nur  vorüber^hende  Bestehen  pro- 
duktiver künstlerischer  Tendenzen  in  Zeiten  lebhafterer  sexualer  Anre- 
gung, Pubertät,  Verliebtheit.     „Der  Lenz,  der  sang  für  sie." 

Wie  soll  man  sich,  nachdem  die  Sublimierungshypothese  sachlich  und 
logisch  unhaltbar  ist,  diesen  Zusammenhang  denken?  Es  scheint  mir, 
daß  man  sich  wohl  eine  Meinung  bilden  könne.  Wenn  es  erlaubt  ist, 
einen  Vorgang  der  Nervenphysiologie  zum  Vergleiche  heranzuziehen  —  im 
allgemeinen  halte  ich  zwar  nicht  viel  von  solchen  somatisch-psycholo- 
gischen  Analogien,  aber  zur  Illustration  mag  es  einmal  hingehen  — ,  so 
liegen  die  Dinge  ähnlich,  wie  bei  der  zentralen  Irradiation  i.  Irgendwelche 
Erregungsvorgänge  in  der  grauen  Substanz  erzeugen  auch  in  zunächst 
nicht  beteiligten  Partien  Erregungen.  Hierauf  beruhen  z.  B.  die  Mit- 
empfindungen, die  Joh.  Müller  zuerst  genauer  beschrieb,  sowie  andere 
Erscheinungen.  Auch  darf  an  das  Phänomen  der  „Bahnung"  (Exner) 
erinnert  werden :  an  sich  unwirksame  Reize,  die  eine  Rindenregion  treffen, 
erhöhen  die  Erregbarkeit  in  anderen,  mit  jener  in  Verbindung  stehenden 
Rindenfeldern.  Es  entsteht  also  durch  die  Irradiation  eine  erhöhte  Er- 
regung oder  Erregimgsbereitschaf t ;  man  kann  das  auch  so  ausdrücken: 
die  Widerstände  in  den  betreffenden  Regionen  werden  vermindert,  Hem- 
mungsmechanismen werden  ausgeschaltet.  Beide  Formulierungen  besagen 
grundsätzlich  dasselbe,  da  wir  uns  die  Erregbarkeit  abgestuft  denken  durch 
die  Widerstände  an  den  Verbindungen  zwischen  den  Neuronen  (den  Syn- 
apsen Sherringtons) . 

Die  Analogie  ist  nun  leicht  herzustellen.  Die  Erregungsvorgänge  in 
der  Sexualsphäre  setzen  eine  Erregungserleichterung  in  den  korrelierten 
emotiven  Sphären  voraus.  Ein  gewisses  Maß  künstlerischer  Produktivität 
eignet  fast  jedem  Menschen.  Der  Entfaltung  dieser  Begabung  stehen  verschie- 
denartige Hemmungen  im  Wege,  nicht  niu-  in  dem  Sinne,  daß  Anregungen 
zur  Produktion  nicht  Folge  gegeben  wird,  sondern  auch  derart,  daß 
solche  Anregungen  überhaupt  nicht  wirksam  werden.  Infolge  der  in 
der  Sexualsphäre  herrschenden  erhöhten  Tension  sprechen  auch  die  an- 
deren   Sphären   leichter  an. 

Di^  ist  selbstverständlich  nur  ein  Bild.  Es  liegt  mir  durchaus  ferne, 
etwa  Tension,  Irradiation  u.  dgl.  als  reale  psychische  Vorkommnisse  auf- 
fassen zu  wollen.  Ich  glaube  aber,  daß  dieses  Bild  vor  anderen,  insbe- 
sondere von  den  der  Freudschen  Theorie  zugrunde  liegenden  Vorstellun- 
gen, wie  der  des  „libidincteen  Zuschusses",  der  „Libidobesetzung"  usw. 
den  Vorzug   verdient. 

Gerade  zm-  Kunst  bestehen  enge  Beziehungen  auch  deshalb,  weil 
ein  gewisses  ästhetisches  Moment  in  den  psychosexualen  Abläufen  ohnehin 
anklingt,  wie  oben  schon  bemerkt  wurde. 

Eine  besonders  enge  Beziehung  scheint  zwischen  Erotik  und  Musik 

^  Dagegen  ist  die  mit  dem  gleichen  Ausdruck  bezeichnete  Miterregung  von  Netz- 
hautpartien, welche  größer  sind  als  das  genaue  Bild  des  Gegenstandes,  nicht  auf  den 
obigen  Mechanismus,  auf  eine  Erregungsausstrahlung  zu  beziehen,  wie  das  Plateau 
wollte,  sondern  optisch-physikalisch  aus  der  Aberration  der  Lichtstrahlen  zu  erklären, 
was  zur  Vermeidung  von  Mißverständnissen  ausdrücklich  angemerkt  sei.  Vgl.  A.  v. 
Tschermak:     Ergebn.    d.    Physiol.,    2.    (2),    788.     igoS. 


AUSWIRKUNGEN  UND  UMGESTALTUNGEN 497 

obzuwalten.  „Lid»  spricht  in  süfion  Tönen."  Auch  an  Tolstois  „Kretitzer- 
sonatc"  ist  zu  erinnern.  Die  Art  dii'ser  B<'ziohungon  ist  ungemein  .sch>N-er 
zu  erfassen.  Man  hört  von  „erotischer  .Musik"  sprechen;  etwa  Wag^ier, 
Chopin,  Puccini  u.  a.  werden  als  Erotiker  genannt.  Es  ist  nun  die  Frage, 
ob  es  überhaupt  eine  spezifisch  erotische  .Musik  gibt,  ob  gewissen  Ton- 
verbin<lungen  an  und  für  sich  erotische  Qualitäten  zukommen,  Würde 
die  Trislannuisik.  wenn  sie  eben  nicht  die  .Musik  zu  Tristan  wäre,  so 
eindeutig  als  erotisch  empfunden  werden,  wie  es  heute  geschieht?  Ich 
will  diese  Frage  nicht  entscheiden.  Wichtiger  für  den  Moment  scheint 
mir  die  Tatsache,  daß  unter  gewissen  Umständen  jede  Musik  erotisch 
wirken  kann;  so  weit,  glaube  ich,  hat  Tolstoi  recht  gesehen.  Vielleicht 
macht  —  für  uns!  —  die  ältere  klassische  Musik,  macht  .T.  S.  Bach 
eine  .\usnahme:  obwohl  ich  gar  nicht  überzeugt  bin,  daß  manchem  und 
manchmal  nicht  auch  das  ,, Schlage  doch,  gewünschte  Stunde"  und  ähn- 
liche Stellen  die  Erotik  anklingen  zu  lassen  imstande  sein  können.  Dieses 
Vermögen  der  Musik  kommt  auch  sonst  der  Kunst  zu,  nur  jener  in  ganz 
hervorragendem  Maße.  Der  Grund  dafür  scheint  mir  gerade  in  jenem 
Mechanismus  gelegen  zu  sein,  den  ich  oben  unter  dem  Bilde  der  ,, Irra- 
diation" zu  zeichnen  versucht  habe.  Es  ist  dies  die  Umkehrung  der  Be- 
ziehung: Sexualität  und  Kunst.  Wie  die  Erregung  der  Sexualsphäre  der 
Kunst  —  Produktion  und  Genuß  darunter  gleichermaßen  verstanden  i  — 
Vorschub  leistet,  so  die  ästhetischen  Abläufe  den  erotischen.  Und  daß 
gerade  die  Musik  hierzu  besonders  befähigt  ist,  mag  daher  rühren,  daß 
sie  am  wenigsten  unter  allen  Künsten  einen  definitiven  Gegenstand  meint, 
daß  sie  nur  einen  Redimen,  ein  Schema  gibt  für  emotive  Phänomene  und 
die  Ausfüllung  dem  Hörer  überläßt.  Ein  einziges  Musikstück  kann  je 
nachdem  alle  Gefühlslagen  für  einen  Menschen  bedeuten  oder  zum  Aus- 
druck bringen  2.  Darum  —  um  auf  die  frühere  Frage  zurückzukommen  — 
gibt  es  keine  in  eigentlichem  Sinn  erotische  Musik.  Die  es  ist  oder  scheint, 
verdankt  diese  Eigenschaft  vielleicht  nur  einer  Konvention;  gewisse  Tonver- 
bindungen haben  durch  Verbindung  mit  erotischen  Gegenständen  die  Be- 
deutung von  Zeichen  für  Erotisches  erlangt.  W^as  an  Tristanmusik  er- 
innert, ist  erotisch  —  geworden,  nicht  essentiell.  Anderen  Zeiten,  anderen 
Ländern  erscheinen  andere  Tonfolgen  in  diesem  Lichte.  Diesen  Gedanken- 
gängen weiter  nachzuhängen,  zu  erörtern,  ob  und  was  die  Musik  denn  doch 
„Gegenständhches"  zum  .\usdruck  bringen  könne,  ist  hier  wohl  nicht  statthaft. 

Was  hier  im  allgemeinen  von  Sexualität  und  Erotik  gesagt  wurde,  gilt 
auch  für  die  Liebe.  Nur  muß  dabei  berücksichtigt  werden,  daß  in  ihr 
nicht  allein  das  psychosexuale  Moment,  sondern  auch  das  Reich  der 
geistigen    Liebesakte  wirksam   wird. 

Versuchen  wir  schließlich,  was  sich  über  das  Thema:  Kunst  und  Erotik 
sagen  läßt,  schlagwortartig  zusammenzufassen,  so  kämen  wir  etwa  zu  dieser 

1  Gcwölinlich  denkt  man  nur  an  die  Produktion;  auch  die  Sublimierungstheorio 
hat  nur  diese  Seite  im  Auge.  Aber  das  Verhältnis  der  ästhetischen  Genußfähigkeit 
zur  Sexualsphäre  ist  ganz  dasselbe.  Auch  eine  Schwierigkeit  für  die  Sublimierung: 
was    machen    die    libidinösen    Energien    im    ästhetischen    Genießen? 

2  Die  Frau  des  bösen  Sintram  in  ,,Gösta  Berling"  von  der  Seima  Lagerlöf 
spielt  eine  einzige  armselige  Polka   —  ihr  ist  sie  Ausdruck  des  Leides  wie  der  Hoffnung. 

32    Kafka.  Vergleichende  Psychologie  III. 


498 


ALLERS:    PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


Formulierung:  In  beiden  Lebensrichtungen  versucht  der  Mensch  seine 
Einsamkeit  —  besser  wäre,  wenn  das  Wort  erlaubt  ist:  Einzelsamkeit  — 
zu  überwinden,  des  quälenden  Subjckt-Objekt-Problems  Herr  zu  werden, 
einmal,  indem  er  die  Welt  im  Kunstwerk  aus  sich  heraus  aufbaut  und  so 
in  ihrem  inneren  Wesen  erfaßt,  das  zweite  Mal,  indem  er  sie  in  Gestalt 
des  Anderen  in  sich  hineinnimmt  und  zugleich  sich  an  sie  verschwendet, 
so  mit  ihr  eins  werdend  und  die  Kluft  nicht  überbrückend,  sondern  auf- 
licbend.  So  erscheinen  Kunst  und  Erotik  Produkte  „geschwisterlichen 
Wachstums  aus  der  gleichen  Wurzel"  (Lou  Andreas-Salome  [5]),  nicht 
aber  die  eine   abgeleitet  aus   der   anderen. 

Eine  kurze  Bemerkung  über  die  Auffassung  von  G.  G.  Jung  sei  noch 
ano-efügt.  Jung  (62)  stellt  dem  rezent  Sexualen  das  genetisch  bedeutsame 
Sexuale  gegenüber  und  meint,  wenn  auch  soundsoviele  Erscheinungen  im 
Seelenleben  des  Kulturmenschen  nicht  mehr  als  sexualer  Natur  angesehen 
werden  könnten,  so  seien  sie  doch  genetisch  an  die  Sexualität  und  deren 
Transformationen  gebunden.  Dieser  Standpunkt  ist  ein  anderer  als  der 
schon  vordem  vielfach  vertretene,  welcher  die  Entwicklung  ge\\isser  Er- 
scheinungen aus  den  Bedürfnissen  im  Dienste  der  Sexualsphäre  erklären 
wollte.  (Etwa  Cabral  [16],  für  den  Sprache  und  Gesang  sich  nur  wegen 
der  sexualen  Beziehungen  entwickelt  hätten.)  Bei  Jung  handelt  es  sich 
um  eine  Entstehung  aus  dem  Sexualen,  nicht  für  dieses.  Diese  These 
treffen  natürlich  alle  Einwendimgen,  die  oben  gegen  die  Freudsche 
Fassung  der  Sublimierungslehre  zu  erheben  waren  in  gleichem  Maße. 
Es  ist  schlechthin  undenkbar,  daß  aus  „Libido",  wenn  sie  mehr  sein  soll 
als  Vitalität  überhaupt,  etwas  Neues  entstünde.  Allerdings  nimmt  Jung, 
wie  mir  scheinen  will,  eine  etwas  schwankende  Haltung  ein.  Es  entstehen 
bei  ihm  nämlich  nicht  nur  neue  Phänomene  aus  Libido,  sondern  ge>visse 
erhalten  sich,  weil  sie  —  zufällig,  möchte  man  sagen  —  sich  zu  Sexual- 
symbolen eignen,  oder  werden  gefunden,  weil  wiederum  zufällig  ein 
sexualsymbolischer  Vorgang  auch  noch  eine  andere  Seite  hat  (Entstehung 
des  Feuers  durch  das  Ineinanderbohren  zweier  Hölzer).  Auch  ist  bei 
Jung  der  Libidobegriff  ungemein  weit  und  verwaschen.  Eine  eingehendere 
Kritik  erübrigt  sich  wohl,  da  die  Grundposition  schon  ihre  Beurteilung  fand. 

Ist  es  also  mehr  als  gewagt,  generell  die  Kulturerrungenschaften  nach 
diesem  Schema  auslegen  zu  wollen  1,  so  bleibt  noch  zu  erörtern,  welche 
Erscheinungen  im  individuellen  Seelenleben  etwa  als  Transformationen 
des  Sexualen  aufgefaßt  werden  könnten,  oder  zumindest  in  ihrer  Existenz 
mit  in  demselben  gründen  möchten. 

Erstens  muß  hier  aller  Liebesphänomene,  welche  nicht  der 
Geschlechtsliebe  zuzuzählen  sind,  gedacht  werden.  Es  wurde  schon  an- 
gemerkt, daß  man  Mutterliebe  z.  B.  als  transformierte  Sexualliebe  auf- 
gefaßt hat.  Ebenso  aber  auch,  daß  phänomenologische  Einsicht  (Scheler) 
uns  von  einem  Zusammenhang  und  einer  Wesensverwandtschaft  der  beiden 

^  Jung  sagt  z.  B.  es  „wäre  .  .  .  konsequent  weiter  zu  schließen,  daß  die  Er- 
findung der  Feuerbereitung  eben  dem  Drange,  ein  Symbol  für  den  Sexualakt  einzusetzen, 
zu  verdanken  ist";  wenn  er  auch  zugibt,  daß  das  nicht  der  einzige  Weg  dazu  ge- 
wesen ist,  scheint  auch  die  eingeschränkte  Behauptung  in  Ansehung  der  schwankendea 
Grundlagen  noch  kühn   genug. 


ALSNMRKINGEN  UND  LMGEST.\LTl'NGEN 499 

Liebesarten  nichts  erkennen  läßt.  Gleichermaßen  gilt  dies  für  die  Liebe 
zu  Gott,  zum  ^olke,  zum  Vaterland,  zum  Beruf  usw.  Als  Arten  der 
Liebe  müssen  diese  für  sich  bestehen  und  köimcn  nicht  aus  Sexualität 
oder  Libido  entslehon.  Dem  tut  der  Lmstand,  dalj  sich  etwa  mit  Eltern- 
txlor  Kindes-  oder  Geschwislerliebe  erotische  Momente  vermengen  können, 
tut  auch  das  Faktum  des  offenen  Inzestes  wie  der  heimlichen,  lj<.'\vuljten, 
uidK>wuljten  Inzestneigmigen  keinen  Abbruch.  Auch  niclit  der  Umstand, 
dalS  derartige  inzestuöse  Triebe  alleinherrschend  werden  können,  die  niclit^ 
sexuale  Geschwisterliebe  z.  B.  vollständig  zu  unierdrücken  vermögen 
(St.  Przbyszewskis  De  Profundis;  einen  ganz  analogen  Fall,  der  aber 
mit  dem  Selbstmord  des  Bruders  endete,  habe  ich  beobachten  können). 
Auch  wenn  es  richtig  wäre,  daß  im  Leben  aller  Menschen  inzestuöse  Ein- 
stellungen gegeniüjer  den  Eltern  (,, Ödipuskomplex")  in  der  Kindheit  eine 
Rolle  gespielt  haben,  würde  an  der  wesensmäßigen  Divergenz  der  Liebes- 
arten nichts  geändert  werden  können.  Insbesondere  ist  die  Liebe  der 
Mutter  zu  dem  Kinde  eine  Liebesaxt  für  sich.  Nicht  entsteht  sie  aus  der 
sexualen  Liebe,  sondern  sie  gesellt  sich  sogar  zu  dieser  in  der  Einstellung 
auf  den  Greschlechtspartner  hinzu.  Es  „redet  auch  schon  dem  Manne 
gegenüber  bereits  etwas  anderes  aus  ihrem  (sc.  der  Frau)  Überschwangs 
als  nur  das  Gehirnfeuervverk  unbeschäftigten  Sexualüberschusses.  Wie 
sie  an  ihrem  Kinde  mit  allen  sorglosen  Verherrlichungen  eigentlich  nur 
die  eine,  die  \N-under>olle  Tatsache  seines  kleinen  Lebens  feiert,  so  steht 
hinter  dem  Strahlenmantel  von  Illusionen,  die  ihr  den  geliebten  Mann 
zum  Einzigen  machen,  auch  immer  zugleich  das  Menschenkind  selber, 
das,  wäre  es  so  imgeschmückt  und  voller  Fehl,  nackt  und  bloß,  wie  eß 
wolle,  ihrem  tiefsten  Leben  eingeboren  ist.  Mit  allen  Idealbildern,  die 
sie,  scheinbar  so  anspruchsvoll  und  demutsvoll,  ihm  entgegenschickt,  er- 
schließt sie  ihm  doch  nur  die  ungeheure  Wärme,  darin  einmal  gerastet 
zu  haben,  die  üreinsamkeit  des  einzelnen  aufhebt,  als  ob  er  wieder  vom 
Allmütterlichen  umfangen  würde,  das  ihn  umfing,  ehe  er  war"  i  (Lou 
Andreas- Salome) . 

Alle  Konstruktionen  imd  Deutungen  sonstiger  Liebeseinstellungen,  die 
Interpretation  Gottes  als  ,,Vater-Imago"  u.  dgl.  werden  angesichts  der 
schlichten    Tatsache   grundlegender    Wesensimterschiede   hinfällig. 

Über  den  Zusammenhang  von  Erotik  und  Religiosität,  von  dem  schon 
mehrfach  die  Rede  war,  darf  vielleicht  noch  eine  Bemerkung  beigefügt 
werden.  Die  Attitüde  der  echten  Liebe  wie  der  ihr  so  nahe  stehenden 
Schwärmerei  führen  nicht  selten  zu  religiösen  Einstellungen.  (Es  kommt 
allerdings  auch  das  Gegenteil  vor,  indem  die  dem  Menschen  geweihte 
Anbetung  den  ^\eg  zur  Religion  verlegt,  der  Angebetete  sozusagen  als| 
Götze  den  Anblick  Gottes  verdeckt;  es  knüpft  dies  an  eine  mündliche 
Bemerkung  Schelers  an.)  Dies  mag  daher  rühren,  daß  eben  echte  Liebe 
über  den  einzelnen  sowohl  als  über  das  entstandene  Wir  hinaustendiert 
(nichts  ist  falscher  als  die  Bestimmung  des  „egoisme  ä  deux)",  daß  zu- 
gleich in  der  Liebe  eine  Totalität  erfaßt  und  damit  die  Möglichkeit  g^- 

1  Daß  das  nichts  mit  der  ..Multerleibphantasie"  der  Psychoanalyse  zu  tun  hat, 
braucht    kaum    angemerkt    zu    werden. 

32* 


ALLERS:  PSYCHOLOGIE  DES  GESCHLECHTSLEBENS 


500 

schaffen  wird,  die  höchste  auch  zu  erfassen.  Selbstverständlich  spinnen 
sich  hier  noch  weitere,  wohl  überhaupt  nicht  völlig  zu  entwirrende  Fäden. 

Es  ist  hier  der  Ort,  einer  weiteren  von  der  Psychoanalyse  gelehrten 
Umwandlung  der  Sexualität  zu  gedenken:  der  Umwandlung  in  Angst. 
Es  ist  ein  abermaliges  Verdienst,  welches  nicht  gering  veranschlagt  werden 
soll,  aufgedeckt  zu  haben,  dafS  hier  Beziehungen  zweier  heterogener  Phä- 
nomene vorliegen,  daß  Sexualeindrücke,  Sexualerlebnisse  Angst  und  diese 
jene  auslösen  kann.  Mehrfach  berichten  Selbstschilderungen  davon,  daß 
die  ersten  sexualen  —  bewußt-sexualen  —  Regungen  der  Pubertät  oder 
der  präpuberalen  Periode  im  Anschlufj  an  oder  während  eines  Angstaffektes 
Prüfungsangst  z.  B.  —  aufgetreten  seien.  Anderseits  lehrt  die  Patho- 
logie, daß  Sexualkonflikte  zur  Entstehung  von  Angstsymptomen  Anlaß 
geben  können.  Auch  ohne  Psychoanalyse  läßt  sich  das  gelegentlich  fest- 
stellen, wenn  auch  Freud  zuerst  diese  Zusammenhänge  durchschaute. 
Manche  Kranke  wissen  ganz  gut,  woher  ihre  Angstanfälle  stammen.  Es 
ist  nur  zu  fragen:  ist  alle  Angst  sexualer  Genese?  und  weiterhin:  entsteht 
Angst,  wie  die  Psychoanalyse  will,  aus  Sexualität?  Beide  Fragen  müssen 
m.  E.  verneint  werden.  Es  gibt  erstens  zweifellos  eine  ganz  vitale,  mit 
der  Sexualität  in  keiner  Weise  verhaftete  Angst,  die  der  Theorie  zuliebe 
als  sexueller  Genese  auszulegen  nur  größten  Künsteleien  gelingen  kann. 
Zweitens  entsteht  Angst  ebensowenig  aus  Sexualität,  wie  aus  ihr  Denken 
oder  Phantasie  entsteht.  Warum  zwischen  beiden  Affekten  eine  so  eigen- 
artig nahe  Beziehung  obwaltet,  ist  nicht  zu  sagen.  Auch  die  sonst  so 
erklärungsfreudige  Psychoanalyse  kann  hier  nur  die  Tatsache  konsta- 
tieren. Ein  Erklären  ist  nicht  möglich.  Ich  glaube  mich  indes  nicht 
zu  täuschen,  wenn  ich  behaupte,  daß  dieser  Zusammenhang  von  den 
meisten  Menschen  irgendwie  eingesehen  wird,  also  verständlich,  nach- 
erlebbar ist,  auch  wenn  jede  rationale  Bewältigimg  des  Problems  miß- 
lingt. Biologisierende  Auffassungen,  welche  die  Angst  mit  dem  Trieb 
zur  Erhaltung  der  Art  u.  dgl.  in  Zusanunenhang  bringen  wollen,  sagen 
doch  gar  nichts.  Auch  als  Ausdruck  der  Ambivalenz  läßt  sich  die  Angst 
nicht  interpretieren;  sie  ist  in  keiner  Weise  ein  Negatives  zu  einem  im 
Sexualaffekt  beschlossenen  Positiven.  Am  ehesten  möchte  man  an  die 
bipolare,  aktiv-passive  Orientierung  der  Sexualität  denken,  ohne  doch, 
wie  ich  glaube,  auf  eine  fruchtbare  Deutung  zu  stoßen.  Trotz  allem 
steht  der  Angstaffekt  sicherlich  mit  der  Sexualsphäre  in  innigem  Zu- 
sammenhange, so  sehr,  daß  wir  ihn  berechtigterweise  auch  hätten  unter 
den   sekundären    Phänomenen   abhandeln    können. 

Es  sollen  diese  wesentlich  negativen  Feststellungen  nicht  über  Gebühr 
ausgedehnt  werden.  Daher  sei  nur  noch  einer  Erscheinung  gedacht, 
nämlich  des  Spieltriebes.  Auch  zu  seinen  „Elementen  gehört  .  .  . 
der  Sexualtrieb  im  infantilen  Stadimn.  Es  steckt  in  ihm  ein  heimliches 
Sexualobjekt,  von  dem  gerade,  ohne  daß  dies  zum  Bewußtsein  zu  kommen 
braucht,  der  eigentliche  Reiz  des  ,Spielens'  ausgeht"  (Blüher  [i3]).  Wir 
wollen  uns  mit  diesem  Zitat  begnügen,  ohne  noch  einmal  alle  jene  Argu- 
mente beizubringen,  welche  auch  solche  Behauptung  als  ebenso  haltlos 
erweisen  würden  imd  als  nur  einer  konstruktiv-rationalisierenden  Psycho- 
logie, die  an  phänomenologischen  Sachverhalten  achtlos  vorübergeht,  erreichbar. 


SCHLUSS 

Einige  wenige  Worte  sollen  unsere  Betrachtungen  abschließen.  Daß 
vieles  problematisch  bleiben  mußte,  vieles  sich  überhaupt  unserer  Ein- 
sicht entzieht,  ist  bei  einem  Gebiete,  dessen  Sch^vierigkeiten  sowohl  in 
der  Materie  wie  in  dem  Material  gelegen  sind,  begreiflich.  Die  Worte, 
mit  denen  Leu  Andreas-Salome  (5)  ihr  Buch  b^innt,  mögen  hier  stehen: 
,,Man  mag  das  Problem  des  Erotischen  auffassen,  wie  man  will,  stets 
behält  man  die  Empfindung,  es  höchst  einseitig  getan  zu  haben.  Am 
allermeisten  aber  wohl  dann,  wenn  es  mit  den  Mitteln  der  Logik  versucht 
\vurde:  also  von  seiner  Außenseite  her".  Ich  hoffe  allerdings,  durch 
Nutzbarmachung  phänomenologischer  Einsicht  manches  auch  von  innen 
her  zur  Darstellung  gebracht  zu  haben.  Aber  freilich  versagen  unsere 
Ausdrucksmittel  bei  solchem  Versuche,  die  ja,  im  Dienste  einer  Orien- 
tierung nach  außen  stehend,  so  wenig  dem  Fließenden  des  Seelischen, 
so  wenig  dem  Ganzen,  der  Totalität  des  Seins  adäquat  sind. 

.\n  vielen  Stellen  mußte  ich  mich  mit  der  einzigen,  heute  konsequent 
ausgebauten  sexuologischen  Theorie,  mit  der  Psychoanalyse  auseinander- 
setzen. Ich  fürchte,  daß  trotz  aller  Einschränkungen,  mit  denen  ich 
meine  Kritik  zu  umgeben  bemüht  war,  der  Eindruck  erweckt  wird,  als 
lehnte  ich  alles,  was  mit  der  Psychoanalyse  zusammenhängt,  ab.  Davon 
bin  ich  so  weit  entfernt,  daß  ich  dies  ausdrücklich  hier  nochmals  heraus- 
gestellt haben  möchte:  zwar  scheint  mir  die  psychoanalytische  Methode 
das,  was  sie  wdll,  nämlich  kausale  Zusammenhänge  aufzudecken,  in  keiner 
Weise  imstande  zu  sein,  zwar  halte  ich  die  meisten  theoretischen  Kon- 
struktionen und  Substruktionen  für  vollkommen  verfehlt,  aber  was  über 
diese  Methode  hinaus,  trotz  ihrer,  gegen  sie  der  intuitive  Scharfblick 
Freuds  —  und  einiger,  recht  weniger  seiner  Anhänger  —  uns  an  Erkennt- 
nissen vermittelt  hat,  was  wir  üim  in  der  Förderung  des  Verstehens 
mancher  seelischer  Zusammenhänge  verdanken,  wiegt  vielleicht  alle  diese 
Mängel  auf  amd  bedeutet  jedenfalls  mehr,  als  viele  hundert  andere  psycho- 
logische, soziologische,  ethnologische  Arbeiten. 

An  Stelle  des  geschlossenen,  wenn  auch  noch  ständig  im  Aus-  und 
Umbau  begriffenen  Systems  der  Psychoanalyse  habe  ich  nichts,  keine 
eigene  und  keine  fremde  Theorie  zu  setzen.  Man  kann  dies  einen  Mangel 
heißen,  man  kann  darin  auch  einen  Vorzug  erblicken.  Vorzeitige  Syst&- 
matisierung  und  Schematisierung  kann  zur  Erstarrung,  zum  Dogma 
führen;   die  Psychoanalyse  läuft  sicherlich  heute  schon  diese  Gefahr. 

Wenn  ich  mm  doch  die  Stellung  des  Sexualen  in  der  Gesamtheit  des 
Seelenlebens  zu  kennzeichnen  versuchen  soll,  so  möchte  ich  dieses  sagen: 
Das  zentrale  Ich,  das  immer,  auch  in  der  Psychose,  auch  in  der  Demenz 


502  ALLEllS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 

erhalten  bleibt  ^  das  „erlebnisimmanent,  aber  bewußtseinstranszendent" 
ist,  bildet  sich  in  den  vcrschiodenon  Manifestationsweisen  der  Seele  ab, 
drückt  sich  darin  aus.  Grundsätzlich  ist  es  in  jeder  derselben  ganz,  in 
seiner  Totalität  enthalten.  Die  strukturale  Durchsichtigkeit  der  einzelnen 
Manifestationen  ist  eine  variable;  es  gibt  solche,  in  welchen  das  zentrale 
Ich  sich  reicher,  solche,  in  denen  es  sich  weniger  reich  abbildet;  gewisser- 
maßen entsteht  das  eine  Mal  ein  scharfes  Bild,  das  andere  Mal  eines 
in  Zerstreuungskreisen,  die  auch  alle  Einzelheiten  des  Gegenstandes,  aber 
unerkennbar  verschwommen  in  sich  beschließen.  Man  mag  die  ersteren 
Manifestationen,   wie  ich   es  oben  tat,   die    Ich-  oder  Kernnahen  nennen. 

Alle  verschiedenen  Aspekte  und  Manifestationen  der  Seele  oder  des 
zentralen  Ich  sind  aufeinander  durch  ihr  abbildliches  Verhältnis  zu  diesem 
Ich  bezogen.  Sofern  strukturale  Eigenheiten  sich  in  ihnen  ausprägen, 
müssen  die  gleichen  hier  und  dort  wiederkehren;  natürlich  nicht  in  dem 
Sinne  der  Identität,  sondern  so,  wie  sich  etwa  ein  und  dasselbe  stereo-' 
metrische  Gebilde  in  verschiedenen  Projektionsebenen  verschieden  ab- 
bildet und  doch  die  Abbildungen  alle  die  gleichen  Gesetzmäßigkeit^en  der 
gegenständlichen  Konfiguration  ausdrücken.  Sind,  um  bei  diesem  Gleich- 
nis zu  bleiben,  die  Abbiidungsbedingungen  zweier  Projektionsebenen  nur 
wenig  unterschieden,  so  wird  es  leicht  sein,  die  in  der  einen  erkennbaren 
räumlichen  Beziehungen  in  der  anderen  wieder  zu  finden.  Niemals  aber 
sind  die  Besonderheiten  einer  solchen  Projektion  Ursache,  Bedingung, 
Bestimmmig  für  die  einer  anderen. 

Angewendet  auf  die  Seele  heißt  dies,  wie  ich  schon  einmal  sagte:  die 
Abläufe  einer  Manifestation,  eines  Bereiches,  einer  Sphäre,  wie  man 
«eben  sagen  will,  sind  niemals  ,, vorbildlich"  für  die  einer  anderen  oder 
gar  des  Ganzen  der  Seele,  sondern  „abbildlich". 

Der  psychosexualen  Sphäre  eignet  offenbar  eine  besondere  Ichnähe 
(bei  der  Frau  noch  deutlicher  als  beim  Mann) ;  sie  läßt  daher  einen 
besonderen  strukturalen  Beichtum  erkennen.  Dies  verführt,  wenn  man 
den  eben  dargelegten  Standpunkt  nichit  leinnimmt,  dazu,  den  psychosexualen 
Abläufen  kausale  und  determinierende  Bedeutung  für  die  Seele  überhaupt 
zuzuschreiben. 

Wenn  man  alle  seelischen  Abläufe  betrachtet,  so  gewinnt  man  m.  E. 
—  was  hier  nicht  weiter  auszuführen  gestattet  ist  —  den  Eindruck  einer 
durchgehenden  polaren  Struktur.  In  der  Belation:  Innen-Außen  findet 
sie  sich  wohl  allerorten  ausgedrückt.  Das  Sexuale  zeigt  diese  Polarität 
in  besonders  sinnfälliger  Weise.  Ich  erinnere  an  die  aktiv-passive,  die 
bisexuale,  die  ambivalente  „Dimension".  Vielleicht  darf  man  diesen  drei 
Polaritäten  eine  vierte  beifügen.  Die  Sexualität  weist  nämlich  einerseits 
über  die  Persönlichkeit  hinaus  auf  den  Anderen  und  zeigt  zugleich  eine 
intime  Bezogenheit  auf  das  eigene  Ich.  Es  wird  die  Welt  mit  dem  Anderen, 
durch  ihn  in  das  Ich  hineingenonunen,  und  zugleich  strömt  das  Ich 
in  die  Welt,  in  den  Anderen  hinaus.    Dies  ist,  wie  schon  oben  angedeutet 

^  Diese  Gedanken  berüliren  sich  enge  mit  den  van  Schilder  (Selbstbewußtsein  und 
Persönlichkeitsbewußtsein,   Berlin    igih)   geäußerten. 


I 


SCHLUSS 503 

wurde,  tlio  tioft'n«  Wurzel,  aus  «It'r  dii'  Gi'ineinsainkeittMi  von  Kunst 
und  Erotik  s|)rielS«Mi. 

Ks  orsoluMiil  mir  also,  um  dirs  noch  riiiiiial  zu  sajiftMi,  die  psycho- 
St^xualo  Sj)häro  als  «miic  durcli  iliro  Ichnähi"  und  den  daraus  flicljcndon 
strukturalon  Uoicliliuu  besontlrrs  ausg(^zoichneto  Manifostation  des  zentralen 
Ich.  in  der  u.  a.  die  der  ganzen  Seele  eigene  polare  Struktur  prägnanter 
vielleicht  als  sonstwo  iliren  Ausdruck  findet,  nicht  aber  als  eine  Sonder- 
kraft, eine  Art  Seele  in  der  Seele,  die  man  dem  Ich  etwa  gegenülx^r- 
stellen  könnte. 

Gerne  gestehe  ich  ein,  daii  dies  recht  unbestimmt  klingen  mag.  Es 
zu  größerer  Präzision  zu  gestalten,  ist  hier  aber  nicht  der  Ort.  Dennoch 
glaubte  ich  diese  .Ajideutungen  nicht  unterdrücken  zu  sollen.  Denn 
es  scheint  mir,  daß  die  psychoanalytische  Betrachtungsweise  letztlich 
nur  dadurch  aufgehoben  werden  kann,  wenn  man  die  in  ihr  implizierten 
Gruiidanschauungen  vom  Wesen  des  Seelenlebens  ül>erhaupt  klarstellt 
und  als  irrig  nachweist,  &o  an  die  Wurzel  die  Axt  legend.  Solche 
Ent\N"urzelung  jener  Lehre  aber  halte  ich  für  geboten,  weil  sie  mir  trotz 
aller  ihrer  Verdienste  in  philosophischer,  psychologischer  und  wohl  auch 
ärztlicher  Hinsicht  eine  Gefahr  zu  bedeuten  scheint. 


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506 


ALLERS:     PSYCHOLOGIE    DES    GESCHLECHTSLEBENS 


96. 

97- 

98. 

99- 

100. 

lOI. 

102, 
io3. 
io4. 

lo/ia. 


io5. 

lOÖ. 

107. 

108. 

109. 

110. 

iioa. 

III. 

112. 


112b. 

ii3. 
ii4. 
1x5. 
116 


f.     psycho-analytiiche    For- 
Paris,    o.   J. 

Geschlechts- 


Charaktere, 


Psychologie 
ges.    NeuroL 


II  a  n  c  k,     O.,     Ein     Beitrag    zum     Narzißmus,     Jahrb. 

schung,    3,    1911- 
Rcschal,    A.,    La   nevrose   galante    au    XVIIImo    Siecle, 
Ribot,   Th.,    Psychologie  des   senliments. 
Rohlodor,      Vorlesungen      über     Gesclilechlstrieb     und      gesamtes 

leben,    Berlin,    1907. 
Rousseau,    Conf essions . 

Scheler,     M.,     Über     Sympathiegefiihle.     Halle,      I9i3. 
Schleiermachor,     Vertraute     Briefe     über     die     Lucinde. 
Schmidt,    R.,    Das    KamasuLram,    6.    Aufl.,    Berlin,    1920. 
Schmitz,     O.     H.,      Don     Juan,     Casanova     und     andere    erotische 

Stuttgart.  1906. 
Schneider,      K.,      Bemerkungen      zu     einer     [)hänomenologischen 

der   invertierten    Sexualität    und    erotischen   Liebe,    Zeitschr.    f.    d. 

u.    Psych.,    71,    192 1. 
Schopenhauer,     Welt     als     Wille     und     Vorstellung. 
Simmol,    G.,     Philosophische    Kultur.    Leipzig,     1919. 
— ,   Rembrandt,     Berlin.     igiS. 

— ,  Zur    Psychologie    der    Frauen^,    Z.    f.    Völkerpsychol.,    20,     1890. 
Spencer,    H.,    The    Principles    of    Sociology,    London,    1895. 
Stendhal,    De    l'amour. 

Stekel,    W.,    Onanie    vmd    Homosexualität,    Wien,    Berlin,     1920. 
Stoll,    Das    Geschlechtsleben   in    der    Völkerpsychologie,    Leipzig,    1890. 
Stransky,    E.,    Zur   Klinik   imd    Pathogenese   gewisser    Angstpsychosen.    Monats- 
schrift   f.    Psych,   und    Neuro!.,    i4,    igoS. 
Toepel,   H.,   Zur  Psychologie  der  lesbischen   Liebe,   Zeitschr.   f.   d.  ges.   Neurol. 

u.     Psych.,     72,     192 1. 
Vaerting,    M.,    Die    Frau    im    Männerstaat    und    der    Mann    im    Männerstaat, 

Karlsruhe,    192 1. 
Volkmann    von    Volkmar,    W.,    Lehrbuch    der    Psychologie,    Cöthen,    1876. 
W  e  i  n  i  n  g  e  r  ,     Geschlecht    und    Cliarakter. 

W  estermark,    Ursprung    und    Entwicklung    der   Moralbegriffe,    Leipzig,    1907. 
— .  Geschichte     der     menschlichen     Ehe,     Jena,      1893. 


SACHREGISTP]K  ZUM  III.  BAND 

(Die  Ziffern  bedeuten  die  Seitenzahlen) 


Abartung  ii  19;  A.,  unechte  445 
Abblassungstendenz   1 1 
Aberglauben    17'».    i8'j,   191, 

19a,    193,    198,    200,    202, 

206 
Abfall  vom  Weibe  !\ib 
Ablenkbarkeit  90 
Abnormität,   Begriff  der  3,  5 
Abnormität    des    Maßes    lo; 

A.  der  Art  29 
.\breaktion   1 3 1  f . 
Absperrung   loi 
Abtreibung   166,   186 
Abulie  21,  22 
Ärger  128 
Äther  i63 
Affekt  26, 9 '1,97,1 12, 129,  iSg, 

i62,i7of.,  i78f.,  i85,i92f., 

196,   2o3,    206,   233,  2hl, 

254,   371.   277,   283,  286, 

289,  293ff.,  3oi,  3o4,  3i6, 

324 
Affektivität,    primäre  und  se- 
kundäre 3oi 
Affektverschiebung  289 
Aggression  344,  34" 
Agnosie   17,  86 
Akte    87,    88,    94,    95,    106, 

110,  ii3,  118,  123 
Aktivität  25,  77 
Aktpsychologie  4i 
Albträume   13 
Alexie   1 8 
Algolagnie  437 
.\lkohol  81,  161,  i63ff.,  174. 

179,  182,  i85,  192!,  2o5, 

207 
Alkoholismus  33 
Alkoholpsychosen   i63 
Allegorie  285,  292  £f. 
Allochirie   1 6 
Alter  i4,   162 
Alternierendes  Bewußtsein  55, 

76,    lOI 
Altersverblödung  96 
Ambivalenz    122,    36 1,    362, 

363,  378,  4oi,  5oo;  A.  der 

Gefühle  84 
Amnesie   i5,  17,  19.  55,  loi, 

280 
Amoklaufen   i3o 


Anästhesie   lof.,    102,   io4 
Analgesie   102,    io4 
Anatomie   20 
Anfall  77,   i3i 
Angeregtsein   22 
Angst  i3, 25,  26,  94,  194,  5oo 
Angstschweiß   128 
Angstträume  75,  3o4 
Angstzustände   190 
Anlagen  127,  i35;  s.a. Veran- 
lagung 
Anschuldigungen,  falsche  189, 

199 
Ansprechbarkeit  2I 

Ansteckung  76 

Apathie  80 

Aphasie  17,   19,  86 

Apperzeption  88,  gS,  95,  97, 

99-   102 
Apperzeptionszentrum  242 
Apraxie   1 9 
Arbeitshaus  2i3 
Arbeitsscheu   169 
ArbeitszNvang  2 1 2 
Argwohn   i i i 
Armut  166 
Arteriosklerose   i5,  93 
Asexuale  4i4 
Askese  60,  407 
Assimilation  97,    238 ff. 
Assoziationen,    abnorme    86 ; 

A.,  Lockerung  der  87 ;  A., 

Methode  der  freien  3o4 
Assoziationsexperiment  loi 
Assoziationsgesetz  284 
Atmung  129,  207;  A.  während 

des  Schlafes  235 
Atmungsträume  277 
Audition  coloree  5i 
Auffassung   18,  97 
Aufgabe  66,  90,  92 f.,  98,  io3, 

107 
Aufklärung,  gesrhlechtliche 

388 
Aufmerksamkeit   10  f.,  18,  89, 

loiff.,   206 
Auf  Fühlbarkeit  21 
Augenbewegungen    129 
Augenschein   196 
Ausdrucksbewegung    20,    59, 

i28ff.,  207 


Ausnahmezustände  10,  16,  22, 

24  ff.,  37,  56.  60,  Ga,  7'4, 

81,  83,  i32 
Aussage    29,     196,    206;    .\., 

Psychologie  der  36,  44 
Ausschaltung  16,  74f-.  loi  ff. 
Aussprache  20 
Auswirkungen    der  Sexualität 

486 
Autismus   122 
Autobiographien   180 
Autoerotismus38 1 , 4  28, 433  ff. 
Automalismus  70,  72 ff.,  io5, 

107,   20^ 
Autopsychoanalyse    233,    286 
Autoskopie  53 

Bandenverbrechen    171 
Bankräuber   199 
Beachtung   n,    io3 
Bearbeitung    der    Einzelfälle 

i56 
Bedeutung  18 
Bedeutungsbewußtsein   270 
Bedeutungserlebnis   112 
Bedeutungsverlust   1 7 
Bedürfnisschlaf  252 
Beeinflußbarkeit   162,   211 
Beeinflussung  212 
Beeinflussungswahn  68 
Begabung   i34 
Begehrungsneurose  201 
Begnadigung,  bedingte  2 1 2 
Begnadungswahn   12 
Beispiel    167,   168 
Bekanntheit  32 
Bekanntheitscharakter  33,  35, 

Bekanntheitserlebnis  36 
Benehmen   119 
Benommenheit  96,   io3 
Berührungsempfindung   18 
Beruf   169 

Berufskriminalität   1 59 
Berufslräume  272 
Besessenheit    5i,    56,    58 ff., 

68,  72  f. 
Betätigung,  künstlerische   1 20 
Betrug  161,   164,   190,   200 
Bewegung   17,  20 


503 


SACHREGISTER  ZUM  III.  BAND 


ßewegungstäuschung  /»G 
Bewegungsvorstellung   i8,   19 
Bevvulitheit  36,  98;  B.,  wahn- 

liafle  39,  95,    112 
Bewußtlosigkeit  15,80,96,  io3 
Bewußtsein   io3,   106 
Bowußlseinslage  iio,  271 
Bewußtseinsspaltung  55 
Bewußtseinstrübung  96 
Beziehungsbewußtsein   270 
Bezichungswalin    112 
Bildung   166 
Biogenetisches  Grunclpeselz 

26/1 
Biologie   1 56,    1 75 
Bipolarität  36 1,  302 
ßisexualität    3i5,    36/i,    383, 

385,  /■i23,  A27 
Blanc  27 
Blindheit  16  f. 
Blutkreislauf   1 33,  257;  B.  im 

Schlafe  236 
Brandstiftung   161,    172,  192, 

202 
Buddhismus  80,  81 


Cafard  83,    164 

Casanova  IxOf) 

Cevennen-Bewegung  60 

Charakter  73,  i25ff.,  i3i; 
Gh.,  abnormer  27  f.;  Gh., 
übertrieben  ausgeprägter 
178 

Christian  Science  60 

Chromatismen  5i 

Gristal-vision  284 


Dämmerzusland  55,  96,   loi, 
127,    191,    194,   198;    D., 
epileptischer  187 
Debilität  86,  97,   i35 
Degeneration  8,   161,   i65 
Degenerationszeichen    8,   1 76 
Dejä  vecu  33 
Dejä  vu  16,  32,  36 
Delirium  38,  92,  93,  3 10,  3i3 
Dementia  paranoides  263 
Dementia  praecox  206 
Demenz  96  ff.,  118,  275,  277, 

3io;  s.  a.  Schwachsinn 
Denken  92 f.;  D.,  nicht  formu- 
liertes 325;  D.,  vorlogisches 
325 
Denkstauung   iio 
Denkvorgänge   i4 
Denkzwang  68,   70 
Depersonalisation  53,  67 
Deportation   2i4 


Depression  21,  23,  117,  i84, 

204 

Derwische  76 
Desertion   194 
Determinismus   195 
Detumeszenztrieb    343,    348, 

354,  372 
Diagramme  52 
Diaschisen   264 
Dichter  67 
Diebstahl     i64,      188,     199; 

D.  aus  Rache   191 
Dienstbotenkriminalität     169, 

.'99       .       , 
Dipsomanie   i3i 
Disharmonie   1 78 
Dissimilation   2  38  ff. 
Dissoziation     247,    262,    264, 

270,  283,  287,  293,  325 
Don  Juan  409 
Doppelgänger  54 
Doppelich  53 

Doppelte  Persönlichkeit  66 
Drohung  206 
Druckempfindung   18,  29 
Duell   166 
Durchschnitt  3  ff. 
Durchschnittstypus  126 
Dynamik,  psychische  3o8; 

D.  des  Traumes  266  tf.,  282, 

Sioff.,  326 


Echolalie   122 

Echopraxie  122 

Egoismus     162,      170,      172; 
E.  im  Traum   271 

Ehe  379,  478 

Ehre    189 

Ehrennotstand   186 

Ehrgefühl     193,    2o5,    206, 
308,   2l3 

Eifersucht    i83,     i85,     189, 
194,  4oo 

Eigennamen    i5 

Eigentumsdelikte     166,     170, 
171,   174,   190,   199 

Eigentumsverbrecher,  ge- 
werbsmäßige 2 1 2 

Einfälle  57,  66  f.,  71!,  92 

Einfühlung     73,    75,    126 ff., 
i3o,  i33 

Eingebung  4o,    61,    64  f.,   78 

Einprägung  90 

Einschlafen  246  ff. 

Einsiedler  3ig 

Einzelhaft  211 

Eitelkeit  191,   igS,   2o3,  206 

Ekel  81 

Ekstase  63,  77  f.,  io3,  34o,  364 


Elan   vital   294,  3i4ff. 
Emotionsstupor  21 
Empfindungen    10  ff.,  17,  29, 

4of.,     5if.,      76f,     i02f.; 

E.,  überstarke  178 
Empfindungsformen   1 1 
Empfindungslosigkeit   io4 
Endhirn  245 
Energie,   psychische   3o8 
Engelmacherinnen   182 
Entartung  8,    161,    i65 
Entfremdung  35  f.,  70;  E.  der 

Wahrnehmungswelt  32,  53 
Entkleidungsphantasien  45 1 
Entladung  1 3off .;  E.,  posthume 

263 
Entrücktheit  10,  60 f.,  63,  65, 

,  70'  77 

Entschluß  71,   180 
Entschlußunfähigkeit  89 
Entwicklung   i34 
Entwicklungsjahre   i35; 

s.  a.  Pubertät 
Entzückung  80,   i33 
EnzephaUtis  22,  242 
Epidemien    76;    E.,    geistige 

5i,  76 
Epilepsie   10,   26,  62,  77,  9g, 

i3i,    i33,   176,   193,    248, 

255 
Epileptoider  Typ  83,  177,  i85 
Erblassen   128 
Erbleichen  208 
Erethiker  21 
Erfindung  66  f.,   270;  E.  bei 

Tieren  67 
Ergriffenheit  67,  77 
Erinnerung  44»  99.  206;    E. 

an  Träume  254,  262 
Erinnerungsfälschung  34,  37 
Erinnerungsgewißheit  35,  72 
Erinnerungstäuschungen     33, 

36 
Erlebnisse,    atavistische    280 ; 

E.,  intentionale  87 
Erleuchtung  66,   78 
Ermüdung   11,   32,   70 
Ernährung  i58 
Erotik  355,  365 £f. 
Erotische  Typen  407 
Erotisierung    der  Psyche   177 
Erpresser  170,  201 
Erregung  21,  gi 
Erregungszuslände     22,    i33, 

207  f.;  E.,  katatonische  187 
Erröten   128,   208 
Erscheinungen  78 
Erschöpfung   i3,  37,  88,  92, 

io3 
Erwachen  246 ff.,  322 


SACHREGISTER  ZUM  III.  BAND 


509 


Erwagungserlebiiis    loi< 
Envcckungen  6i,  05 
Erwerbsarbeil    16«^ 
Ernebung  a5.   1O6.   171 
Eunuchen   i6a 
Eunuchoider  Typ   I76£f. 
Euphorie  78 

Evolution    des   Traumes    a^Q 
Exhibitionismus  27.  187,  198, 
344.  436 


Fahnenflucht  igi 
Fahrlässigkeit  igi 
Falschspielen  190 
Familieneigentümlichkeiten 

160 
Familienmorde   182,   196 
Familienlräume  266 
Fanatiker  193 
Farbe  18,  44 
Farberscheinungen  46 
Fasten  60.  81 

Fausse  reconnaissance  32,  35 
Fehlerinnerung  34 
Fehlhandlung   19 
Fehlleistung  19 
Feigheit  199.  201 
Fetischismus    81,    177.    100, 
191,    198,    359,    364,    43o 
Feuer,  Freude  am   192 
Fieber    10,    3i,    81,  92,  i64 
Fieberdelir  96 
Flächenfarbe  44 
Flagellantismus  44o 
Flexibilitas  cerea   122 
Flirt  358,  4o4,  478 
Folies  ä  deux  76 
Folterung,  psychische  2o5 
Fortlaufen  27 
Frauenehre  399 
Frauenpsyche   162 
Freiheitsstrafe  210 
Freudsche  Lehre    178,    293; 
s.    a.    Psychoanalyse;     Fr. 
Theorie  des  Traumes  290, 
3o2£f. 
Fürsorgezöglinge    161  f.,   i6o, 
211;    s.  a.  Zwangszöglinge 
Fürstenmörder  193 
Fugue  i3o 
Funktionen  88 
Furcht    294;    F.    vor    Strafe 
2o4;  F.  im  Traum  272 

Gänsehaut   128 
Galanterie  4o5 
Gattenmord   181,   i8a 
Gebann Isein  3i 
Geburt  i63,   186 


Gedächtnis    12.    i4.    34.    5i,   j 
71,  86.  89,  94.  i3»f-;  G., 
affektives  291)  ■ 

Gedächtniskünsller  i4 
Gedächtnisschwäche    i64  1 

Gedächtnisstörungen    207 
Gedächtnislücken    i^yi-  1 

Gedächtnisveriust    i4f--    »9 
Gedanken   77;   G.,  gemachte  ] 
57,    68,    76,    95;     G.    im 
Traum   270 
Gedankenabziehen  3o,  53,  57, 

69 
Gedankenlautwerden  5o 

Gedankenleere  27,  88.  89 
Gedankenmachen  3o,  53,  69 
Gedankenübertragung  69 
Gefängnis   i32 
Gefängnispsychose  82 
Gefühl  23.  25f.,  3i,  77.  81, 
118,   121 


Gefühlsbetontheit,     einseitige 


Gefühlslähmung  24 
Gefühlsleere  23,  24 
Gefühlslösung  85 
Gefühlsstauung  i3o 
Gefühlsverband  85 
Gefühlsverschiebung  85 

Gehirn   i33 

Gehimarteriosklerose  272 
Gehirnblutung   i5 
Gehirnerschütterung  i5,  207 

Gehör  29 

Geisteskrankheit  7,  l84. 189  ff-, 
206,  211;   s.  a.  Psychosen 
Geladenheit  27 
Geldstrafe  2i4 
Geliebtenmord   196 
Gelüste  85 

Gemeinempfindung  29 
Gemeingefühl  277,  282,  3i7 
Gemeinschaftsbewegung  60 
Gemeinschaftshaft  211 
Gemüt  23,  25f.,  42,  118,  i32 
Gemütsbewegung   128,  207 
Gemütskranke  34 
Gemütsstumpfheit    182,    i85, 

202  f. 
Gemütsverstimmung  i33  :  s.  a. 

Verstimmungen 
Genie  7,   127,   i35 
Gereiztheit  26.  83 ;  s.  a.  Reu- 

barkeit 
Geruch   1 8 
Geruchsvorstellung  im  Traum 

267,  287 
Geruchstäuschungen  5i 
Gesamtvorstellung  91 
Geschichtswissenschaft  127 


Geschlecht  162,  197 
Geschlechtsakt  i3i 
Geschlechtsleben,  I'sychologie 
des  332,  336;  G.  bei  Mann 
und  Frau  366  ü.;  G-  des 
Geschlechtsreifen  352  ff.; 
G.  des  Kindes  343.  345, 
38off..  422.  457;  G.  des 
Geisteskranken  443  ;  G.  \m 
Alter  371;  G.,  Ontogeme 
des  38o;  G.,  Phylogeme 
des  333 

Geschlechtsverkehr  5i 

Geschmack   18,  29 

Geschmackstäuschungen  5i 

Geschmacksvorstellungen    im 
Traum  267 

Gesichte   1 2 

Gesichtsausdruck     197.     207 

208 
Gesichtserscheinungen  46 

Gesichtsfeld   18 
Gesichtssinn  29 
Gesichtstäuschungen  42 
Geständnis  196,   2o5 
Gestalt  i6f. 
Gestaltblindheit  17 
Gestaltquahtät   11 
Geste  20,   i3o,  208 
Gewalttaten  27 
Gewandtheit  199,  201 
Gewerbsunzucht  212;  s.  auch 

Prostitution 
Gewissen  2o4.   2o5 
Gewissensnot  171 
Gewohnheitsverbrecher     i63, 
172,   190,   202 

Gift  70,  81 

Giftmord  181,   197 

Gleichgewicht  3i 

Glossolalie  62,  63 

Glück  78 

Glücksgefühl  77,  79.  81 

Gnade  77 

Graphologie   i3i 

Größenideen  4o 

Größenwahn  39,   117 

Grübelsucht  108 

Grübelzwang  122 

Grumus  merdae  202 

Grundstimmung    11,    20,    26 


Habgier  190,  202 
Habsucht  192 
Haft  82 

Haftenbleiben   100 
Haftpsychose,    hysterische    12 
Halluzinationen  3i,  43f.,  54, 
56,    60,    76f.,    261,    287, 


510 


SACHREGISTER  ZüM  III.  BAND 


oiof. ;    H-,    erotische    /|0o; 
H.,     li)[)riagoge    /|8,    2/4(3; 
IL,  prüliypnische  2!i6;  H., 
wechselnde  aS/j 
Ilalluzinationslräume  201,27/1, 

Handlungen,    impulsive    189; 

11.,   unzüchtige    187,    ig8 
Handschrift  06,   i3o 
Haschisch  Aa,  5q,   81,   i63 
Haß  123,  182,  189,  192,  199, 

211,  29/1,    363,   463,   /183 
llcilpadagogik    i34i- 
Heilsarinee  60 

Heimweh  82 f.,  i32,  162,  i8/i, 
19O,    192,    19/i,   20/i 

Heiratsschwindel   201 

Hemmung  i/|,  21,  23ff.,  88 f., 
180,   187,  255 

Heredität  160;  s.  a.  Vererbung 

Hermaphroditen  /ii/1,  Itz'i 

Herzträume  277 

Heteropsychoanalyse  233 

Heuchelei  /|o3 

Hexen    17/4 

Hilfsschule  21,   i35 

Hirnrinde  2/I6 

Hirnschüsse   20,   22 

Hörigkeit   184 

Hochstapler   190 

Homosexualität  81,  i63,  i65, 
167,  177,    i83,    189,    198, 

212,  338,  385,  393,  /jigff. 
Horme  3i5 

Hormone   2/1 1 

Horror  sexualis  432 

Hoteldiebe  200 

Hygiene  6 

Hypästhesie  10,   io3f. 

Hypalgesie   io3f. 

Hyperästhesie   10,   io4 

Hyperalgesie   io4 

Hyperkinesie   lo/i 

Hypersthenie   10 

Hypnose    22,    62,    72,    ']!ii., 

80,    loif,    173,   190,   201, 

2o5,  276 
Ilypnoloxin   289,   245 
Hypochondrie  109,  HO,  129, 

"277 

Hypophasiker  275 

Hysterie  10,  22,  46,  58f.,  62, 
74,  lOif.,  io5,  i2gi.,  190, 
193,  199,  255,  264,  276, 
309 f.,  3i4f.,  3 19 


Ich  34o,  365,  369,  429,  454. 
466,  5oi ;  Ich,  primäres 
und  sekundäres  255 


Ichgefühl  52,  55  f.,  66,  76 

Ichlähmung  53,  56 ff.,  68 f., 
75  ff. 

Ichstörung  5o,  52,  53,  54,  70, 
76,    109 

Idealschema  6 

Idealtypus  5,  8 

Idee,  freisteigende  67 ;  I.,  über- 
wertige  109  f. 

Ideenflucht  21,  90! 

Idiosynkrasie   129 

Idiotie  97,   275 

Illusionen  i3,  4i;  l-,  hypno- 
tische 288 

Illusionsträume  261,  274,  3oo 

Imagerie  3oi 

Imbe2dllität  86,  97 

Impulse  21,  52,  89,   122 

Inaktivität  21 

Incubus  45 I 

Indeterminismus   195 

Individualität  57,    126 

Individualpsychologiei  56, 172, 

424f. 

Infektionskrankheiten   i64 

Inhalt  der  Träume  278;  I., 
latenter  233,  3o2 ;  L,  mani- 
fester 233,  3o3,  309 

Initiative  22 

Inspiration  67  f. 

Inspirationsgemeinde  60 

Instinkte,  atavistische  3o5 

Intellekt  21 

Intelligenz  25,  98 

Intelligenzstörung  162,  178, 
193 

Intention  96,   108 

Interesselosigkeit,  Reaktion  der 
244 

Interessetypen   i4 

Intuition  67,  80,  254,  322 

Involution  98;  I.,  senile  162 

Inzest   i65,   188,  384,  499 

Inzestbegierde  3i5 

Irresein,  manisch-depressives 
24  ff-,  91 


Jähzorn   i3o,    177 
JammermelanchoHe  26 
Juden   159 
Jugendgefängnis   2i3 
Jugendliche    175,    i84,    190, 

2o4,  209,  211 
Jungfer,  alte  4i2 
Junggeselle  4 1 1 


Kampf  ums  Dasein  244 

Kassen  diebe   199 

Kastraten     177  f.,     i85,    336, 

391,  4i4 
Katalepsie  81,   122 
Katatonie    122 
Katharsis  3i2 
Kausalnexus   195 
Kerkerpalimpseste   180 
Keuschheit  098 
Kinder    i3,    33,    92,     i34f. 
Kindesalter  162 
Kindheit  98,    100 
Kindheitsereignisse  281  ff. 
Kindheitserinnerungen  255, 

263,  3o3ff.,  3 10 
Kindsmißhandlungen  185,196 
Kindstötung    167,    i85f.,    198 
Klassengegensätze  166 
Kleidung  359,   377 
Kleinheitsidee  24,  4o 
Klima   i58,   164,   174 
Klimakterium   162,  372 
Klosterepidemien  60 
Klosterleben  83 
Körperempfindung  18 
Körperempfindungssphäre  5i 
Körperlage  1 6 ;  s.  auch  Schlaf- 
stellung 
Körperverletzung     i85,     196, 

198 
Kokain  59,  81,   i63 
Koketterie  358,  394,  4o2 
Kollektivverbrechen  171,   172 
Koma  96,  255 
Komplex  85,  loi,  293,  3o4, 

3o8,  324 
Konfabulationen   i5,  33 
Konfession   1 74 
Konstellationen  268,  293, 3o4, 

3o8,  324 
Kontinuität,  psychische  32  2 
Kontrektationstrieb  343,  348, 

36i,  372,  382 
Konzentriertheit  90 
Kopfweh  3o 

Korsakowsche  Psychose  33,  37 
Krampf  i3i 
Kiampfepidemien  61 
Krankheit  4f. 
Krankheitsgefühl  81 
Krankheitsprozeß   127 
Kretinismus   179 
Kribbeln  3o 

Krieg  24,  76,   170,   189,  192 
Kriegsgefangene  83,  211 
Kriminalanthropologie   i55 
Kriminalphänomenologie  i55 
Kriminalpolitik   i55 


SACllKKCISTKH  ZUM  Hl.  HAND 


511 


Kriiniiiaipsychologie,  System 
iler   K);") 

Kriiniiial|)S)chologische  Klini- 
ken ir>7 

Krirninalso/julogie    i55 
Kunstler    ui,    i'S\ 
kiillur    iti5 
kullurbeweguiif:  ö 
Kullurvorpaiip  0 
Kuinulativverbrecheii  171,172 
Kunst    6,    5(),    G6,    72,     i32, 
187  ;  K.,  niediumislische  Ü5 
Kufipelei   191 
Kurzscliluß  296 
Kryplomnesien  78 


Lachen   129 

Lachgas  81 

Ladenschwindler  200 

Lähmung   io3 

Lagesinn   29 

Lage,  wirtschaftliche  i58,  16C, 

1G9 
Landstreicher  169  f.,   212 
Latenz,  sexuelle  889 
Lebendigkeit   i3 
LebenslängUch  Verurteilte  82, 

2l3 

Leibhafligkeit   i3 
Leib  und  Seele  .'ti 
Leichenschändung    171^,    189 
Leichtgläubigkeit  200 
Leichtsinn  198,  197,  200,  2o3 
Leidenschaft  igo 
Lesen  im  Traume  267 
Lethargie  289 
Libido  294,  8i/jff.,  34 1,  382, 

440,  490 ff.;  s.a.  Sexualtrieb 
Liebe   128,   182  f.,   189,    2o5, 

434,    435,    462  ff.;    L.    auf 

den    ersten  Bück    467;    L. 

bei  Mann    und  Frau  478; 

L.,    Pathologie    der    483; 

L.,     platonische     4  80;     L., 

Varianten  der  472  ff. 
Liebesphänomene,  nicht  sexu- 
ale 498 
Liebeswerbung  875 
Lösung  271 

Logik,  affektive  298,  800,  807 
Lügen    162 
Luftdruck  3i 
Lust  27;  L.,  sexuale  861 
Lustaffekt  g4 
Lustgefühl  81 

Lustmord  27,  i84,  188,  197  f. 
Luxusschlaf  252 


Mädchenhandel    172 

Magenlniume    277 

Magie   2()8 

Makropsie    II,   43 

Manie   27,  91 

Masocliismus     81,     8üi,    487 

NLiss('ii(.'|)idemien  Go 

Massenmord    188 

Masseiij)s_vcliologie   171 

.Massenps^cliosen    öi,  Gl,  172 

Massensuggestion  Gl,  7G,  171 

Medialität   7G 

Medien   16,  5g,  62,  G5 

Meineid    174,   198 

Melancholie  20  f.,  25,  89,  11 3, 

iiGf.,   12g,   206,286,271, 

277 
Melodie   1 7 

Menschenkenntnis  I25 
Menstruation  iG3,  191  ff.,  igg 
Merkfähigkeit  87  f.,  g2 
Mescalin  87,  42,  5g,  81 
Messerstecher   i85,    ig7 
Metamorphose    des    Traumes 

288 
Metempsychose  6i 
Metliodisten  60 
Methodologie  derPsychopatho- 

logieiSG;  M.  der  Traumfor- 
schung 288  f. 
Mikropsie    1 1 
Milieu   i65,   174  f.,  2iof. 
Mimik    129,   207 
Minderwertigkeit  7,   168,  188 
Misogynie  4 1 1 
Mißempfindung  4o,  5i 
Mitbewegungen   128,   i3o 
Mitbewußtsein  809 
Mitgefühl   28,   201 
Mitleid  i83,  2o4 
Mitteilungsbedürfnis  208 
Mitteizone  4 

Moral  im  Traum  278,   281 
Moral  insanity  25 
Mord    1G7,    174,    181,    196; 

i\L    aus  Habgier    182;    M., 

politischer     i84;     M.    aus 

Rache   184 
Morphium  81,   i63 
MotÜilät   102 
Motiv     i24f..    i8of.,    i85f., 

192,  195,  2o5 
Mucker  4 10 
Müdigkeit   20 
Musik   17,  60,   496 
Mutlerliebe  499 
Mystik    6,    79  ff-,    2o5,    819, 

339  ff. 
Myxödem   179 


Nachahmung   laa,  19a 
Nacliahnningstrieb   107 
iVaclikoninicnschaft  8 
Nacl.lraum    2 '17  ff. 
MachtwandclM   g.'),  siehe  auch 

Schlafwandeln 
iVarkose    10,    1 90 
ISar/ißinus  428 
Nebeneinanderlagcrung  im 

Iraum   288 ff. 
Meenkephalon    265 
Negativismus   122 
Negersekten  Go 
Neid   189,    igg,   208 
Nermwut  go 

Neologismen  81,  48,  Gi,  119 
Neugeborenes   108 
Neurasthenie   129 
Neuroglia  243 
Neuronen  243 
Neurose   io4 
Nichtigkeitswahn   24 
Nihilismus   26 
Nonn  3 

Nostalgie  82;    s.  a.  Heimweh 
Not  i82f.,   186,   191  f. 
Notlage   16G,   1G7,   igo 
Notzucht  27,   187,   198 


Oberflächlichkeit   2 1 

Obervorstellung  91 

Objektivierung  des  Traumes 
291 

Objektwahl  378;  O.  des  Kin- 
des 482 

Ödeme   129 

Ödipuskomplex  384,   499 

Ohnmacht   81,  96,    128 

Okkultismus  t\2,  5g,  6g,  2g7 

Onanie   ig8 

Ontogenese   i34 

Opfer  475 

Opium  42,  5g,  81,   i63 

Opportunismus  2o5 

Organempfindung  80 

Organisationsarbeit  des  Traums 
24g 

Orientierung   16,  g2 


Pädagogik  20,   28,    i35 
Paläenkeplialon  265 
Panik  76 

Pansexualismus  8i4 
Paralyse   i5,  27,  98,  99,  io4, 

iG?tf.,  202 
Paramnesie  16,    88,    84,  281 
Paranoia  35,    11 1,    118,    116 


512 


SACHREGISTER  ZUM  III.  BAND 


Paranoide  277 
Paraphasie   19 
Parapraxie   20 
PareicJolie   1 3  f .,  fii 
Parese   lo/i 
Parlialtriebe  3/i/j£. 
Passivität  21 

Patliograpliien    i36,    1^9 
Pavor  nocturnus   i3,    128 
Perseveration   100,  288 
Persönlichkeit  7/1,    10 1,   106, 
i35£f.;   P.,  gespaltene  53; 
P.,  verdoppelte  76 
Person,  Verbrechen  gegen  die 

i64 
Personifikation  283 
Pflichtgefühl  2i3 
Phantasie  12,  33,  36,  Sg,  72  f., 

75,   106 
Phantasien,    erotische    446 ff. 
Phantasma  44 
Phlegma  20 
Phobien  io8,   iio 
Phrase   i32 
Phylogenese  i34 
Physiognomik   207 
Physiologie  20 
Pönologie  1 55 
Politische  Verbrechen  203 
Postdormitium  247,  253 
Postural  activity  260;  s.  auch 

Stellungsaktivität 
Praedormitium   246,   253 
Präsexualität  3i5 
Prahlsucht,  erotische  4o3 
Presentation  dreams  3oo 
Priapismus  353 
Primat  der  Genitakone   347, 

387,  390 
Prophezeiungen   33,  62,  263 
Prostitution    167 ff.,  4i5ff. 
Prüderie  898 
Prügelstrafe  2i3 
Pseudohalluzinationen  i3,  43, 

45,  49.  53 
Pseudologia  phantastica  33, 36, 

190,  206,  208 
Psychasthenie    26,    108,    109 
Psychiatrie  i36 
Psychismen   72,  78 
Psychoanalyse  71,  100  f.,  109, 
ii3,  233,  291,  3o2ff.,  339, 
340,   342,   344,  38i,  386, 
423,  43i,  459,  486ff.,  5oi 
Psychogene  Störungen    102  f. 
Psychologische    Analyse    3o6 
Psychopathen  26 f.,   162,   172, 

207  f. 
Psychopathie    i83;    Ps.,    Be- 
griff der  7 


Psychopatischer  Typ   178 
Psychopathologia  sexuaUs  419 
Psychopathologie  i36 
Psychoschisen  264 
Psychosen    38,  92,   118,   127 
Psychosexualität,  Elemente  der 

342;  Ps.,  gerichtete  36o 
Pubertät  81  f.,  182,  i35,  162, 

198,  386,  390 ff. 
Puls  129 
Pupille  io3 


Quartalssäufer  i3i 
Querulanten  210 


Rache  162,  192,  199,  2o5,  208 
Raptus,  melancholicus  25,  94 
Rasse  7,   i58 
Ratlosigkeit  26 
Raubmord   181,  202  f. 
Raumfarben   44 
Raumvorstellung    im    Traum 

260 
Rausch  22,  27,  3i,  59 f.,  80 f., 

i3o,  161 ;  R.,  pathologischer 

i85 
Reagibilität   20 
Reaktionslosigkeit    2 1 
Realitätsbewußtsein  58 
Realitätsurteil  112 
Rechnen   i85 
Rededrang  91 
Reflexe  io3f.,  246,  261  ff. 
Reflexhandlungen  202 
Reflexkrampf  io4 
Reflexphänomen,  psycho- 

galvanisches   129 
Reformatory  212 
Regelbewußtsein  270 
Regression  254,  277,  801,  3ii 
Regsamkeit  20 
Reichtum  166 
Reifung  i34 
Reinigung  i3i 
Reiz  10 

Reizbarkeit  162,   177,   178 
Reizschwelle    246,    249,  253, 

260 
Religiöse  Bewegung  i3o 
Religion   170,  490 
Religionspsychologie    42,  59, 

62  f.,   76,   112 
Religiosität  211 
Renommiersucht    198,     2o5, 

206 
Representation  dreams  3oo 
Reptilien  245 
Resignation  2o5 


Reue  2o4f.,  208 

Reverie  3 10,  819 

Revival  61 

Revolution   166,   171,   2o4 

Richtigkeitsbewußtsein     82  f., 

35  f. 
Ritterlichkeit  4o5 
Ritualmord   174 
Roheitsdelikte   170 
Rückbildung  i5 
Rückdatierung  34 
Rückenmarksseele  265 
Rückfall  bei  Verbrechen  210, 

212 
Rückkehr,     Gefühl    der    (im 

Traum)   255 


Sachbeschädigungen   192 

Sachverständigenaussagen  196 

Sadismus  81,  177,  i8i,  i85, 
188,   198,  861,  437 

Säugetiere  245 

Sanguinisch  21 

Schachwunderkind   i34 

Schädelbruch   i5 

Scham   igof.,  2o4,  206,   208 

Schamgefühl   167,  895 

Schamhaftigkeit  897 

SchlafsteUung  256  ff. 

Schande  186,   199 

Schauen  77 

Schauer  79 

Schaulust  844,  436 

Schauspieler  i5,  72 

Schizophrenie  10,  24.  27,  33, 
35 f.,  42,  49ff.,  57f.,  62. 
68  ff.,  76  ff.,  84,  95,  97, 
III,  ii8f.,  ii7f.,  i2o£f., 
124.  129 

Schizothymie  264 

Schlaf  22,  67,  81,   284 

Schlafenwollen  246 

Schlafkrankheit  242 

Schlafkurve  249ff- 

Schlaf theorien  289 ff.;  Schi., 
biochemische  289;  Schi., 
biologische  243;  Schi.,  che- 
mische 289;  Schi.,  histo- 
logische 248;  Schi.,  neuro- 
dynamische  289;  Schi., 
vasomotorische  287 

Schlaftiefe  249 ff-,    807,    819 

Schlaftrunkenheit  i85 

Schlafwandeln  267,  810; 
s.  auch  Nachtwandeln 

Schlafzentrum  289  ff. 

Schlußfolgerung  im  Traum 
2  68  ff. 


SACHKKGISTKR  ZI:M  III.  BAND 


513 


Sclimene  i8,  a(j, 5i,  loaff.,  189, 
36 1  ;  Schill,  im  Trauin  289 

Schmollen  Jio3 

Schmuggeln    190 

Schönlicit,  erogeil e  Wirkung 
der  357 

Schreck  a5,   laS 

Schreiben  im  Traum   267 

Schreihzwang  65 

Schreikjämpfe   ia8 

Schnfl   18.    180 

Schüchternheit   '4o3 

Schule  76 

Schundfilm    173,    190 

Schundhteratur   173,   190 

Schwachsinn  i'i,  25,  16a,  17C, 
296;  Schw.,  moralischer  l^, 
s.  auch  Moral  insanity 

Schwärmerei  4i2 

Schwangerschaft  85 

Schweri'älhgkcit  21 

Schwermut  i3,  21,  23  ff.,  89, 
i3a 

Schwindel  3i,  4 7 

Schwindler,  hysterische     190 

Second  sight  56,  s.  auch 
Zweites  Gesicht 

Seelenblindheit   17,   18,  35 

Seelenwanderung  Sa,  61 

Seetiere  2^5 

Sejunktionen   26^ 

Sekretion,  innere  161,  176  f., 
212,  239 

Sekten  60 

Selbstbeschädigung  201 

Selbstbezichtigung  190 

Selbstmord  82,  i32,  211; 
S.,  erweiterter  1 83 f.;  S.aus 
Liebe  482 

Selbslverslüinmelung    202 

Selbstvertrauen  2G 

Seligkeil  78 

Senium  27,  33,  93,  9^4,99,  277 

Sensibilität,  meteorische    275 

Sexualaffekt  3^,8,  349,  355  ff., 
383 

Sexualausdruck  37^ 

Sexualempfindung  3^8,  3^9, 
352 

Sexualerregung,  .\usdruck  der 
3.42;  S.,  fremde  3/42,  358; 
S.,   somatische  336  f. 

Sexualkonstitution  4^2 

Sexualhaü  378 
SexuaUtät  60,  77  ;  s.  auch  Ge- 
schlechtaleben;  S.,  infantile 
3i5;    S.  im  Traum  3i3ff. 
Sexualkrisen  82 
Sexualobjekt   3/46,    356,    4 19 


Sexualphaenomcne,  sekundäre 

395 
Sexualsphäre  27 
Sexualtlieorien,    infantile  387 
Sexualtrieb     188,     192,     198, 

3 '46,  386.  433 
Simulation    io'4 
Sinnbeziehung    17,    laA 
Sinneseindrücke     im    Traum 

2/48,  25/4,  261,  26^4 ff.,  273, 

276,  287,  307,  3i8ff. 
Sinnesorgane   10 
Sinnestäuschungen     i  2  f.,   29, 

!io,  /|2,   ',5,   '48  ff.,    65,  68, 

95,  ii2f.,  ii7f.,  190;  S., 

Inhalt  der  ^6 
Sinnzusammenhänge   I25 
Sittlichkeit   25 
SittlichkeiUdehkte   161,  1 64  f., 

167,  17/i,   187,  2o3 
Situationspsychosen  82 
Sodomie   189,   198,   '126 
Somnambulismus  22,  61,  267 
Somnolenz  96 
Sonntag-Nachmittag- Stim- 
mung 83 

Soziologie  7 

Spannungsempfindung  18 

Spannungsgefühl  271 

Sperrung  21  f.,   122 

Spezialgedächtnis   1/4 

Spiellrieb  5oo 

Spiritismus   '42,  60,   65,   200 

Spontaneität  20,  88,  97 ff. 

Sprache  i5,  17,  19,  3of.,  44 , 
62,  65,  73 f.,  91,  97,  99 f., 
119  f.,  128,  i3o,  iSo 

Sprachstörung  20 

Sprachverwirrtheit  96,    iigf. 

Sprechen  im  Traume  261, 
267,   275  ff. 

Spruiighafligkeit   2i 

Slacheldrahtpsychose  83,   182 

Statistik    4,    i56,    i58,     160, 

168,  i85 
Stellungsaktivität  2G0;  s.  auch 

Postural  activity 
Stereoagnosie    18 
Stereotypie   122 
Steuerdefraudationen  2o4 
Stigmata  (Stigmatisierte)   io5, 

129  f. 
Stimme    48  ff.,    69,    91,    95, 

ii3,   i3o 
Stimmung  89;  5t.,  labile  178 
Stimmungslage  42 
Stoffwechsel      1 33 ;     St.     im 

Schlafe  237,    24o 
Stoff«  echselstürung  70 


Stolz   igi 

Stottern   20,   I  aS 

Strafe,    Uirkung  der  aio 

Sirafempfindung   210 

StrafNolIzug   21  I  f. 

Straf  Vorstellung   210 

Streik    166,    uj'A 

Strukturen    1 1 

Stupor  21  ff.,  89,  91,    12a 

Sublimierung  335,  SSg,  389, 

465,  486 ff. 
Subliminaltheorie   297 
Sühne   210 

Suggestion  74,  76,  172  f. 
Symbol  106,  459,  493  ff. 
Symbolik    (Symbolismus)    des 

Traumes  283,    287  f.,    293, 

3o3ff.,  309 f.,  319,  32  2  fl'.; 

S.,  visuelle  261 
Sympathisches    IS'enensystem 

24i,  257,  277 
Synästhesien  5i 
Synergismus   io3 
Synopsien  5i 
Syphilis  164,   174,   179 


Tagesereignisse  im  Traum  272, 

278,  3o9 
Tagträumereien  73,  gi 
Taktgefülil  99 
Talent   127,   i34 
Tanzepidemien  61 
Tastsinn   29 

Tatbeslandsdiagnosfik  loi,  2o5 
Taubstummlicit   i4 
Tendenzen,     determinierende 

72,  90,  98,    107,  270 
Theosopliie  297 
Teiiiperaiiient  2of.,  25 
Temperaturempfindung  18, 29 

Tempowechsel  38 

Tiefsclilaf  74  ;  s.  auch  Schlaf- 
tiefe 

Tierexperiment   176 

Tierliebe  427;  s.  a.  Sodomie 

Tobsucht  22,   i3o 

Todesstrafe  2 1 3 

Topagnosie  35 

Topik   16,  43 

Torpidität   20 

Trägheit  20 

Träumerei  253 ;  s.  auch  Tag- 
traumerei 

Trancezustände  acMD 

Transilivismus   290 

Transplantation       von       Ge- 
schlechtsdrüsen 177 

Trauer  20 


33  Kafka,  Vergleichende  Psychologie  III. 


514 


SACHREGISTER  ZUM  III.  BAND 


Traum  i3,  33,  37,  /17,  53, 
73 f.,  75,  85,  128,  iSgf.; 
Tr.,  aiitoiiiatischer  297  ;  Tr., 
doppeldeutiger  288,  285, 
•2(j2 ;  Tr.,  erotischer  /i58; 
'In,  luzider  297;  Tr.,  pro- 
plictischer  299;  Tr.,  ty- 
pischer 26O;  Tr.,  vielfältiger 
mit  parallelen  Szenen  291  ; 
Tr.,  physiologische  Bedin- 
gungen des  28/1  ff. ;  Tr., 
Dauer  des  2G8,  286;  Tr., 
Finalisnius  des  3oG ;  Tr.  und 
Dichtung  325;  Tr.  und 
Geisteskrankheit  3i8 

Trauma  33,  99 

Traumhewußtsein  247£f.,  253, 
26'\,  288,  291,  010,  3i6ff. 

Tramu'^rmüdung  238 

Traumfunktionen,  beschüt- 
zen i.'e  ooG,  3i  2  ;  Tr.,  kathar- 
lische  oo5ff.;  Tr.,  vorbe- 
reitende 3o5 

Trauniloser  Schlaf  263 

Traumspraclie  75 

Traumtheorien  295ff.;  Tr.,  pa- 
thologische 3oo ;  Tr.,  psycho- 
logische 3oi ;  Tr.,  toxische 
3oo 

Treue  3  70,  /ISi 

Triebhandlung  180,   1S7 

Triebleben  25, 1G2  ;Tr.,sexuel- 

Triebverschränkung  34G,  3^9 
Trinker  92  ;  s.  auch  Quartals- 
säufer und  Trunksucht 
Tropenkoller  83,   iG.I 
Trübsinn  25 
Trunksucht  i63 


Übereinanderlagcrung  im 

Traum   283 ff.,   292 
Überlegung   19G 
Überschwang   1 3  3 
Übersetzung  ins  Optisclie  288, 

287 
Übertragung,  affektive  299ff. 
Umbildung  im  Traum  277, 283 
Umgestaltungen  der  Sexualität 

Umwandlung  2/17 
Unbesinnlichkeil  27 
Unbewußtes  3oi,  3o3,  3o8ff., 

3io 
Uneheliche  Kinder   168 
Unfälle  9^4,  9G 
Unfallsneurose  201 
Ungereimtheit    des    Traumes 

2 ',8.  253,  268,  3o5 


Unlust     27,     i3i,     194;     U., 

sexuale  36 1 
Unruhe   21,  89 
Unstetheit  21 
Unterbewußtsein  7^,  2  55, 

263  ff..    278,   3oi,   3o8tf.. 

3i6;   l'..  hypnisches  817 
Unterricht  in  der  Strafanstalt 

21 1 
Unterschlagungen  190 
Unverbesserlichkeil  25,  212 
Unwillkürliches  Handeln  71 
Urkundenfälschung  198,  201 
Ursachen  des  Verbrechens  180 
Urteilsaktc    33,    8G.    98,    98; 

U.  i)n  Traum   2G8ff.,    288 
Urteilsschwäche   191 
Urticaria   129 
Urvölker  8"! 


Veranlagung  i65, 168 f.,  i']!iL, 
179,  210;  V.,  hysterische 
189;  V.,  psychopathisclie 
i8/'4,   198,  200 

Verbitterung  212 

Verblödung  96  ff. 

Verblüffung  2o5 

Verbrecher  5,  25;  V..  Ein- 
teilung der  1 75  ;V.,  geborene 
25,  I7G;V.,  jugendliche  162; 
\.  mit  moralischen  Defekten 
178 

Verbrecherfamilien   iCo 

Verbrechermotive   180 

Verbrecherstatistik   i85 

Verbrechertypen   1 75  f . 

Verbrecherwerkzeuge   1 99 

Verdauung   129 

Verdichtung  im  Traume  285  ff. 

Verdoppelungen  der  Persön- 
liclikeit  821;  s.  auch  Per- 
sönlichkeit, verdoppelte 

Verdrängung   loi,   008 

Vererbung  8,   160 

Vererbungsgesetze   160 

Verfall  5 

Verfolgungswahn   12 

Verführer  409 

Vergessen    100 

Vergiftungen  10,  27,  07,  f\2, 
59,  88.  96,   i33 

Verleumdung  189 

Vernachlässigung    168 

Vernehmung  196,  2o5 

Veronal  81 

Verrücktheit  58,  296 

Verschiebung  im  Traum  283. 
289 

Verschmelzunff  288  ff. 


Verschrobenheit  87 

Versenkung  80,  81 

Versicherungsbrand  192,  202 

Versicherungsschwindel  172, 
201 

Verständnis  81 

Verstellung  72 

Verstinunungen  10,  26,  81  ff., 
127,    139,    182,    192 

Verstimmungstendenz   11 

Verurteilung,  lebenslängliche 
21 3,  s.  auch  Lebenslänglich 
Verurteilte;  V.,  bedingte 
212;   V.,   unbestimmte  212 

Verwahrlosung  i35,  iG5,  188 

Verwandlungen  46 

Verwirrtheit    9 2  ff.,    i64.    296 

Verzückt! leit  65,   79 

Verzweiflung    188,    2o4,   211 

Vision  65,  77  ff.,  297;  V., 
intellektuelle   112 

Vividität   II,    i3 

Vögel  245 

Vorahnungen    297 

Vorbewußlsein  3o8.  808  ff., 
Sil 

Vorstellungen  1 1  ff.,  17,  25 f., 
/lo,  43f.,  129;  V.,  frei- 
steigende 67,  71;  V.  im 
Traum :  akustische  266, 
287;  kinästhetische  267, 
274,  276ff.,  298;  optische 

266,  274,  825 :    räumliche 
267  ff.,    286,    817;    taktile 

267,  274;  zeitliche  267££., 
286,  817 

Vorstellungsarmut   1 4 
Vorslellungserleichterung  i3 
Vorstellungsformen   16 
Vorstellungskonirast  288 
Vorstellungstätigkeit,  verbomo- 

torlsche  267 
Vorstellungsträume  800 


Wachbewußtsein  24 7 ff.,  253, 
271,  278,  288,  291,  3io, 
8x3,  81G 

Wachsuggestion   178 

Wachträumerei  12,  s.  auch 
Träumerei  u.  Tagträumerei 

Wahlhandlung   180 

Wahn  10,  3o,  34,  5i,  56, 
68f.,  Ulf.,  117,  122,  129 

W^ahnerlebnis   Ii4f. 

Wahnidee  24,  89,  4o,  98, 
112,  ii4.  116,  118,  i63, 
184.   i9of.,   193,  277,  282 

Wahninhalte   ii3 

Wahnmeciianl-smen   n3 


SACHUKdlSTER  ZUM  III.  HAM) 


5!i 


WaluiÄinii    ij 
Waliiisystein    Ii6f. 
Walirnelimuiig   lof.,    lO.  02, 

07,   76.  93,    I  13 
Wahrsagen  aus  TräiiiiuMi  29«) 
N\  aiiderlricb   1 3o 
\\  arcnliausdiebstahl   85,   igi, 

.'99 
VN  echselfalirer   190.  aoo 
Wcilersclnveifen  go 
VN  ollanschauung  6 
\\  eltsvstem    1 2 1 
NN  elluiitergangscrlebnis   11^ 
NN  ert  5  :  NV.,  biologisclier  6,  8 
NVertung  .">.  8:  NN'.,    logische 

ig4;    NN'.,    moralische    igl 
NVerturteile  7 
NN  iderstandslosigkeit   1 78 
NViderwillen   182 
VViedererkennung  206 
NVildern    190 
NVille   zur   Macht    29 '1,    Jo5, 

3i5 
Willen  30,  52,  69,  66,  78  ff., 

89,    io4,    118,    122,    128; 

NV.  im  Traum   270,    288, 

Sigff. 
NVillensfreiheit  ig.^ 
NVillenskraf t  211 
NVillenslage  52 
NVillensschwäche  8g 
NVillensstörung  22 


NN  illfiisunfreiheil   58 
NVillkürhandlung   180 
NVirüildung  .'169 
NVirlarhafl  171 
NVullüsÜing  /io8 
NN  ortbilder    i  \ 
NVortncubildungen  3i,  276 
NN  ortsalat   i  2t) 
NN  Ortverknüpfung  275 
Wortvorstellung  251,  267 
NVunder  22 
NVundergedächtnis  80 
NN  underkinder   i3-\ 
Wundmale  i2gf.;  s. auch  Stig- 
mata 
NVunschakte  106 
NNunsch  -  Bedürfnis  -  Traum 

3l2 

NVunscherfüUung  85;    NV.  im 

Traum  272 
NVunschmeclianisnius   io5 
NVunschtraum  3o3,  01 2  ff. 
NVutausbruch   i3o 


ZärtUchkeit   36o 
Zaiil  1 7 

Zeichensprache   116 
Zeichentalent  120 
Zeichnungen  li-j 
Zeitsinn   87  f. 


Zensur  tles  Traumes  3o3,  3o5, 

3oM,  3iü,  3ia,  826 
Zentralnervensystem   3u,    161 
Zerfahrenheil  87 
Zerstörungssuciil   192 
ZersIrcuÜieit  57,  g'j,    i64 
Zeugenvernehmung    igO 
Zeugung   iCi 
Zielvorstelhing  86;  Z.,  sexuelle 

Aigeuner  lOg 
Zittern    128,   208 
Zoildefraudationen   2o4 
Zonen,  erogene  3/15,  35^,  386 
Zopfabschneider   ig7 
Zorn   162 
Zote  ^o/j 
Zuhälter  4 16 
Zungenreden  61,  63,  78 
Zwang  2o5 

Zwangsempfindungen  3o 
Zxvangserlebnisse   108 
Zwangsgedanken   i85 
Zwangsimpulse   107 
Zwangssymptome  log,   iio 
Zwangsvorstellung     70,    100, 

107  f.,   190 
ZwangszögUnge   1 65 
Zweifeln   122 
Zweifelsucht  108 
Zweites  Gesicht  38;    s.  auch 

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