KAFKA
HANDBUCH DER VERGLEICHENDEN
PSYCHOLOGIE
HANDBUCH
DER
VERÖLE ICHENDEN PSYCHOLOGIE
lIKKAL'iSaEGEBEN VON GUSTAV XAFKA
BANDI:
DTK ENTWICKLUNGSSTUFEN DES SEELENLEBENS
Ableilung 1 : Tierpsychologie von Gustav Kafka
Abteilung 2: Psychologie des primitiven Menschen
von Richard Tliufnwald
Abteilung 3 : Kinderpsychologie von Fritz Giese
BAND H:
Dil: FUNKTIONEN DES NOEMALEN SEELENLEBENS
Abteilung 1 : Psychologie der Sprache von Hermann Gutzmann
Abteilung 2: Psychoh^gie der Religion von Georg Runze
Abteilung 3: Psychologie der Künste von Richard Miilliir-Freienfels
Abteilung 4: Psychologie der Gesellschaft von Aloys Fischer
Abteilung 5: Psychologie der Berufe von Otto Lipmann
BAND III:
DIE FLNKTIONEN DES ABNOEMEN SEELENLEBENS
Abteilung 1 : Psychologie des Abnormen von Hans W. Grüble
Abteilung 2 : Kriminalpsychologie von M. H. Göring
Abteilung 3: Psychologie des Traumes von Sante de Sanctis
Abteilung 4: Psychologie des Geschlechtslebens von Rudolf Allers
10 2 2
VEELAG VON EENST EEINHAEDT IN MÜNCHEN
FsvcK
^'i2> . HANDBUCH
I)1:H
VERGLEICHENDEN PSYCHOLOGIE
UNTER MITARBEIT VON
R. ALLERS (WIEN), A. FISCHER (MÜN-
CHEN), F. GIESE (HALLE). M. H. GÖRLNG
(GIESSEN). H.W.GUUHLE (HEIDELBERG),
H. GUTZM.\NN (BERLIN), 0. LIPM.VNN
(BERLIN), R. MÜLLER - FREIENFELS
(BERLIN), G. RUNZE (BERLIN),
S. DE SANCTIS (ROM),
R.THURNWALD
(IL\LLE)
HERAUSGEGEBEN VON
GUSTAV KAFKA
IN MÜNCHEN
DRITTER BAND:
DIE FUNKTIONEN DES ABNORMEN SEELENLEBENS
MIT i5 ABBILDUNGEN IM TEXT UND U TAFELN
19 2 2
VERLAG VON EENST EEINHAEDT IN MÜNCHEN
Copyright 1922 by
Ernst Reinhardt Verlag
München
Druck : Münchner Buchgewerbehaus M. Müller & Sohn
INHALTSVERZEICHNIS DES HI. HANDES
1. ABTEILUNG:
rSYCnOLOGIE DES ABNORMEN VUX HANS W GEUHLE
Seite
EINLEITUNG 3
BEGRIFF DES ABNORMEN 3
ABNORMITÄT DES MASSES (QUANTITÄT) i«
A. ALF DER GEGENSTAiNDSSEITE lo
1. Empfindungen . . . • lo
2. Vorstellungen und gedankliche Inlialle ii
B. AUF DER ICHSEITE 20
ABNORMITÄT DER ART (QUALITÄT) 29
ABNORMITÄT DER FUNKTIONEN (AKTE) 88
A. INTENTIO.NALER AKT (PROSPEKTIVER GESICHTSPUNKT) 88
1. Richtung normal, Durchführung abnorm 88
2. Richtung abnorm, Durchführung normal 107
3. Richtung und Durchführung abnorm 118
B. MOTIVZUSAM.MEIVHANG (RETROSPEKTIVER GESICHTSPUNKT) . . . .120
ABNORMITÄT DER BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN SEELISCHEN
UND KÖRPERLICHEN VORGÄNGEN 128
ABNORMITÄT DER SEELISCHEN ENTWICKLUNG i33
LITERATURVERZEICHNIS i36
2. ABTEILUNG:
KEIMLN'ALPSYCHOLOGIE VON M. H. GÖRING
EINLEITUNG '55
I. DER VERBRECHER IN SEINER ENTWICKLUNGSZEIT i38
A. DER EINFLUSS DER VERANLAGUNG . . i58
i.DerEinflußderRasse i58
2. Der Einfluß der Familie iGo
3. Alter und Geschlecht 162
B. EXOGENE GIFTVVIRKUxNG i63
C. KOSMISCHE EINFLÜSSE i64
D. DAS MILIEU i65
E. DIE WIRKUNG DER ELNFLÜSSE AUFELNANDER 17^
Seile
II. DER VEUBRECHEK VOR DER TAT UNTER BESONDERER
BERÜCKSICHTIGUNG EINZELNER DELIKTSGRUPPEN i8o
III. DIE AUSFÜHRUNG DER TAT • 190
I\ . DER VERBRECHER NACH DER TAT BIS ZUR VERURTEILUNG 2o3
V. DER VERBRECHER NACH DER VERURTEILUNG 2,0
LITERATURVERZEICHNIS aiö
3. ABTEILUNG :
PSYCHOLOGIE DES TEAUMES VON SANTE DE SAXCTIS
I. DIE PHYSIOLOGISCHEN BEDINGUNGEN DES TRAUMES ... 333
A. ATMUNG, BLUTKREISLAUF UND STOFFWECHSEL DI SCHLAFE . . . 234
B. TOXISCHE UND CHEMISCHE THEORIEN DES SCHLAFES : LOKALISATION
IM GEHIRN 239
C. HISTOLOGISCHE UND BIOLOGISCHE THEORIE DES SCHLAFES ... 2^3
D. EINSCHLAFEN UND ERWACHEN 2^6
E. DIE TIEFE DES SCHLAFES UND DIE TRÄUME 249
F. DIE STELLUNG DES SCHLAFENDEN UND DIE TRÄUME 256
G. DAS NERVENSYSTEM UND DIE TRÄUME 260
II. STRUKTUR UND DYNAMIK DES TRAUMES 266
A. STRUKTUR DES TRAUMBEWUSSTSEINS 266
B. HERKUNFT DES TRAUMMATERIALS ODER DER KOMPONENTEN DES
TRAUMES 273
C. INHALTE DES WACHBEWUSSTSEINS, UNTERBEWUSSTSEIN UND INHALT
DER TRÄUME 278
D. DYNAMIK DES TRAUMES 282
111. THEORIEN DES TRAUMES 395
A. JiLTERE UND NEUERE THEORIEN 296
B. DIE THEORIE FREUDS UND SEINE SCHULE 3o2
C. KRITIK DER FREUDSCHEN LEHRE 3o6
1 . F i n a li s m u s 3o6
2. Das Unbewußte 3o8
3. Dynamik des Traumes 3io
4. Der Wunschtraum 3i2
5. DerPansexualismus •3i4
D. THEORIE DES VERFASSERS 3iü
LITERATURVERZEICHNIS ^27
4. ABTEILrXG:
rSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
VON KUDOLF ALLERS
ücile
ELNLEITl N(; ■ . ;i33
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSHKIFEN .i>a
DIE ONTOGKNIE DER SEXUALITÄT ^«i
DIE SEKUNDÄREN PHÄNOMENE • ■ -h'^
EROTISCHE TYPEN ^o-j
DIE ARARTUNGEN /i'9
EROTISCHE PHANTASIEN, TRÄUME, HALLUZINATIONEN Viü
DIE LIERE ^ti2
AUSWIRKUNGEN UND UMGESTALTUNGEN m
SCHLUSS ^oi
LITERATURVERZEICHNIS ^o'«
SACHREGISTER ZUM III. BAND ^07
PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
VON
HAXS W. GPtUHLE
1 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
KTNLEITUNG
In diesem Handbuch ist mir für die Psychopathologie ein enger Rahmen
zugeschnitten. Der Beschränkung, der ich mich zu fügen habe, unterwerfe
ich vor allem jenes, was irgendwie in die anderen Abschnitte des Werkes
hinüberragt. Ferner schließe ich absichtlich alles aus, was in die Psychiatrie
hineinführt ^ So bleibt eine Psychologie des Abnormen übrig, d.h.
eine Untersuchung der abnormen seelischen Phänomene, sofern sie für den
Psychologen Wissenswertes fördert. \Venn man betrachtet, was die bekann-
ten Lehrbücher der Psychologie zum Problem des seelisch Abnormen bei-
tragen, so bleibt man recht unbefriedigt: man bemerkt die fehlende An-
schauungskraft der Verfasser; man erkennt, daß sie sich das Abnorme,
das sie erörtern, entweder theoretisch konstruiert oder aus der Literatur
wirklichkeitsfremd zusammengestellt haben. Die Psychiater andererseits sind
selten theoretisch orientiert, sie versinken zu leicht in der Fülle der Er-
fahrung, sie haften an den Konkretissimis und werden sich nicht genügend
der Voraussetzungen der Betrachtung und der Gesichtspunkte ihrer Ein-
teilung bewußt.
Ich versuche die goldene Mittelstraße zu gehen: aus der Fülle der Er-
fahrung zu schöpfen und doch dabei das Methodologische nicht außer
acht zu lassen.
Wenn ein kritischer Leser manche Theorie abnormer Phänomene und
besonders ihrer Entstehung vermißt, so erwäge er, daß die wenigsten in
die Psychopathologie, die meisten in die allgemeine Psychiatrie gehören.
BETRIFF DES ABNOEMEN
An der Spitze des Versuchs stehe eine kurze Erörterung des Begriffs
des Abnormen, wie er hier zugrunde gelegt ist. Man kann selbstverständ-
lich die Abweichung von einer Norm recht verschieden orientieren, —
vor allem aber muß die Norm selbst klar umschrieben sein, von der
etwas abweicht. Es stehen sich im Seelischen zwei Gesichtspunkte gegen-
über:
1 . der Vergleich des seelischen Vorgangs mit dem Durchschnitt gleich-
artiger Vorgänge,
2. die Beziehung des seelischen Vorgangs auf eine Forderung, eine Wertung.
1 Dahin rechne ich z. B. die Theorien über die Ursachen der seelischen Störungen.
1*
GRLHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
In der Naturwissenschaft verwendet man meist beide Gesichtspunkte, ohne
sich ihrer grundsätzhchen Verschiedenheit bewulit zu sein. — Der Begriff
des Durchschnitthchen ist rein erfahrungsmäßig, statistisch gewonnen.^ Hier
ergibt die Zähhmg, daß bei irgendeiner Versuchsreihe z. 15. 50 Prozent mit
einer Leistung von 10 — 20 reagieren, während 25 Prozent unter 10 bleiben,
andere 25 Prozent 20 übersteigen. Es steht nun im Ermessen des Unter-
suchers, ob er jene 50 Prozent mit der Leistung zwischen 10 und 20 als
den Durchschnitt bezeichnen will und also folgerichtig die Leistungen
unter 10 als unterdurchschnittlich, diejenigen über 20 als überdurchschnitt-
liche (unternormal und übernormal, aber beide abnorm) einschätzen will,
oder ob er die Breite der Mittelzone weiter wählt und vielleicht erst dies-
seits 8 und jenseits 22 die Bezeichnungen abnorm verwendet.
Erhalte ich bei irgendeiner psychologischen Zeitmessung die Werte 1,2 — 5,.'i — O.2 —
2.2 — 4,2 — 4-2 — [\.'i — 2,ü — 6,8 — 2,6 — 3,2 — 2,8 — 3,2 — i4,4
— 2,4 - — 16,2 — 3,6 — 3,6 — 2,4 — 4.2 und bringe ich diese Werte in eine an-
steigende Reihe, so ergeben sich folgende Ziffern: 1.2 — 2,2 — 2,4 11 2,4 —
2.6 2,6 — 2,8 — 3,2 — 3.2 — 3,6 — 3,6 — 4,2 — 4-2 — 4.2 — 4,2 1 5,4
— 0,2 II 6,8 — i4,4 — 16,2.
In dieser Reihe ist 3,6 das Stellungsmittel; ich habe es nun nach den Erfahrungen
mit anderen Reihen und sonstigen Erwägungen mit mir auszumaclien. ob ich die Breite
der Norm zmschen 2,6 und 4,2 annehme oder bis 2,4 und ,6.2 hinausschiebe. Im
letzteren Fall würde ich in der Sprache wissenschaftliciier Alltagsarbeit sagen, daß der
Wert 2,2 der Norm noch ..nahe stünde", während der Wert i4,4 zweifelsfrei abnorm sei.
Der Lmstand, daß man über die Breite einer solchen Normalzone ver-
schiedener Meinung sein kann, begründet die so häufig wiederholte Be-
hauptung der fließenden Grenzen. Und in der Tat: man wird im Seelischen
nach diesen statistischen Gesichtspunkten häufig im Einzelfalle „streiten"
können, ob ein Phänomen schon als abnorm zu bezeichnen oder „noch
in den Umfang des Normalen einzurechnen" ist.
Mag der Einwand auch berechtigt sein, daß bei den seelischen Vorgängen
im seltensten Falle von einer wirkhchen Meßbarkeit und daher von einer
zahlenmäßig genau abzugrenzenden Mittelzone gesprochen werden kann —
mag man in den meisten Fällen also nur auf die allgemeine unmeßbare
Erf alirung des Forschers angewiesen sein : — die Methode ist klar.
Dieser Abnormitätsbegriff hat nichts mit einer Wertung, nichts mit einer
Forderung zu tun. Man verwendet ihn in der Psychologie ebenso, wie
man etwa in der Somatologie den Tatbestand einer blauen und einer grünen
Iris, das Vorhandensein einer überzähligen Brustwarze usw. als abnorm
bezeichnet. In diesen Abnormitätsbegriff ragt noch an keiner Stelle der
Begriff der Krankheit hinein.
^lan würde irren, wenn man annähme, daß auch der Krankheitsbegriff
nur auf derselben Basis beruhe-. Man könnte vermuten, daß bei ihm nur
ein Neues hinzukäme, nämlich das Einsetzen einer Veränderung. Man
könnte die Behauptung aufstellen, daß man als krankhaft einen Vorgang
bezeichnen müsse, der eine Form oder Funktion des Körpers oder der
Seele derart abändere, daß Form oder Funktion nach der Hypo- oder
1 Genaueres darüber bei Rautmann (255a).
- Mit „Krankheit'- ist hier und in der ¥o\^g nicht Krankheitseinheit, sondern Krankhaftig-
keif gemeint.
p.ir.iniT Di:s minop.mkn
Hvperseile aus iler Diirchsrluiilbbroile hinausfieloii. Man würde im \ crlolg
dieser .Meinung also als ahnorni etwa das Fehlen des I^ignientes bei
einem Albino (angeboren, unveränderbar), als krankhaft die Zucker-
krankiieit (Diabetes) bezeichnen (neu einsetzend, Innktionsstörend, tort-
sehreiterul). Man könnte sich im Ausbau (Heses (ledankens vorstellen,
dal') nicht nur für jed(^ l'unktion und Fcjrni «miu' DurchschniUsbreite er-
tuittelt, sondern diese auch noch nach (jeschlecht und Aller abgcstinunt
worden, und dali jede erhebliche irgendwann neu einsetzende Abänderung
als krankhaft zu kennzeichnen wäre. Diesen Grundsatz könnte man auch
auf die Lebensdauer ausdehnen, so dali jede Heeinträchtigung dieser Zeit-
sj)anne als Folge einer Krankheit anzusehen wiire.
Tatsächlich aber ragen bei der Feststellung des Inhalts des Iviankhaltig-
keitsbegriffes in jene naturwissenschaftlichen Gedankengänge andere Ideen
hinein, die das Leben als Wert anerkennen. Sicherlich nicht unabhängig
\on ilen Erfahrungen über den Durchschnitt aber doch grundsätzlich anders
orientiert, setzt sich hier der Glaube an (Muen Idoaltypus durch, der
für das gesunde Kind, das Weib, den Mann „gilt", l'^in gewisses Optimum
von Körperstärke, Widerstandsfähigkeit, Kraft, Energie, Aktivität usw. setzt
man für den gesunden Mann voraus und ist geneigt, alles, was diese
Eigenschaften \ ermindert, was also die Vitalität und Lebensdauer — den
Lebenswert - zu beeinträchtigen vermag, als krank zu bezeichnen. —
Mag der Idealtypus körperlicher Gesundheit noch relativ eindeutig sein,
so wird das Ideal geistiger Gesundheit schon recht verworren. Hier ent-
fernt sich der seelische Idealtypus schon erheblich vom Durchschnitts-
tA.pus. Eine grolSe Zahl der Verhaltungsweisen zu den Kulturwerten spielt
herein. Vom „rechten", d. h. vom gesunden Mann erwartet man z. ß., dali
er seine feste Gesinnung habe und sich nicht im Wirbel wechselnder Zeit-
strömungen leicht mitreifjen lasse. Von der „rechten" Frau fordert man
eine gewisse Scheu, Zurückhaltung, Takt usw., und man ist geneigt, das
gegenteilige Verhalten etwa der englischen Wahlrechtsweiber vor dem grofien
Kriege als krankhaft zu bezeichnen. Ja, man nennt hier in der Presse
gelegentlich schon den Namen einer bestimmten „Krankheit", der Hysterie.
Jeder Zeit ist also die Überzeugung eigen, dafj eine Fülle der Kultur-
einstellungen — d. h. bestimmter dieser Zeit eigentümlichen ^ erhaltungs-
weisen zur Sphäre der Kulturwerte — als normal, die Abweichung davon
als krankhaft (pathologisch) einzuschätzen sei^ Man löst sogar die Beur-
teilung eines Verhaltens als krankhaft von der Persönlichkeit ab, und be-
zeichnet eine Kulturbewegung oder eine Richtung als pathologisch. Aus
diesem ungemein interessanten, hier aber nicht zu behandelnden Gedanken-
kreis sei nur beispielsweise der Symptome gedacht, die den angeblichen
Verfall einer historischen Epoche zu begleiten pflegen, wie etwa des Rück-
gangs der Religiosität, der Vernachlässigung gesellschaftlicher Sitten, der
Auflösung der Familie, des Aufkommens neuer (angeblich entarteter, ja oft
als psychotisch bezeichneter) Kunstrichtungen. Hier gilt also ein Kultur-
1 Bernhard (20) z. B. erklärt, der Verbreclier sei anormal, weil er „seilen genug ist, um
der ('normalen) Mehrheil erlieblich zu mißfallen". (Dabei käme es also gleiclisam auf ein
Abstimmungsergebnis an.) Er sei, wenn man das anormale Verhallen nur an der Schädiguna:
der Gesellschaft messe, gleiclisam nur ein spezieller Geisteskranker.
GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
phänomen selbst als krankhaft. Man entwirft sich — je nach der Welt-
anschauung — von dem sozialen Körper einer Zeit und seiner Entwicklung
ein gewisses Idealschema und schätzt die Abweichungen als krankhaft ein.
Es ist klar, daß hier kein Häufigkeits-, kein Durchschnittst}'pus mehr hinein-
spielt: es handelt sich dabei lediglich um Wertgesichtspunkte. Man
erlebt es nicht nur in der Tagespresse, sondern selbst in /Vrbeiten, die
wissenschaftliche Maßstäbe für sich fordern, daß ein Arzt um ein Urteil
über irgendeine Kulturerscheinung befragt wird, daß z. B. ein Psychiater
ein Gutachten über den Expressionismus als krankhaftes Zeichen einer
verfallenden Zeit abgeben soll. Welche Begriffsverwirrung! Woher soll denn
dieser Arzt die Maßstäbe seiner Begutachtung nehmen? Mit Worten läl5t
sich das trefflich durchführen. Man braucht ja nur vom sozialen Körper,
von dessen Lebenserscheinungen, Krämpfen, Wehen oder dergleichen zu
sprechen, um auch den Arzt und die Heilung bei dieser Gelegenheit leicht
und folgerichtig einzuführen. Aber welcher Einsichtige verkennt, daß es
sich hier nur um analogische Wortspielereien, um Feuilletons handelt.
Der Arzt, auch der Seelenarzt, hat mit der Beurteilung von Kulturerschei-
nungen als Arzt gar nichts zu tun. Die ganze Frage, ob ein Kulturvorgang
als krankhaft zu bezeichnen sei oder nicht, ist müßig. Der Begriff „krank-
haft" gehört aus diesen Gedankengängen ganz heraus^. Wenn die Zu-
sammenstellung von Ausdrücken wie „pathologische Kunst", „krankhafter
Mystizismus" usw. überhaupt einen Sinn haben soll, so kann er nur zwei-
fach orientiert sein:
1. Entweder man versteht darunter die Kunst von Geisteskranken, den
Mystizismus pathologischer Personen,
2. oder man will damit nur ausdrücken, daß das als krankhaft kritisierte
Phänomen dem Ideal widerstreitet, das sich der Kritiker von Kunst,
Mystik usw. gebildet hat.
Es wird klar genug geworden sein, daß ich also eine Anwendung des
Begriffes „krank" auf Kulturphänomene entschieden ablehne. Und doch
habe ich oben zugegeben, daß der Krankhaftigkeitsbegriff nicht rein natur-
wissenschaftlich, nicht rein statistisch begründet sei, sondern sich doch in
die Sphäre der Werte irgendwie eindränge. Aber man beachte, daß es
sich dabei nur um einen biologischen Wert handelt, nur um die Be-
jahung des Wertes des Lebens, seiner Intensität und seiner Dauer. Und
wenn das Bild vom Volkskörper und seiner Gesundheit überhaupt gebraucht
werden soll, so kann von ihm nur als von der Summe der einzelnen
körperlichen und seelischen Individuen die Bede sein, und von seiner
Gesunderhaltung nur als von der Hygiene gesprochen werden. Ein Hygi-
eniker kann als Arzt von dem Einfluß der Frauenarbeit auf den Zeugungs-
vorgang, auf die Geburtenzahl usw. handeln, — sobald er sich aber anmaßt,
über die allgemeine Kulturbedeutung der Frauenemanzipation als eines
1 Man denke daran, daß Richard Wagners, daß Beethovens Musik seinerzeit für
pathologisch gehalten %vxirde. TNicht aus der Kenntnis der Persönlichkeit, sondern
nur der Musik (VII. Symphonie) erklärte Carl Maria von Weber: „Nun haben die
Extravaganzen dieses Genius das Non plus ultra erreicht; B. ist nun ganz reif fürs
Irrenhaus." (August Göllerich: Beethoven. II. Aufl., Berlin, Bard-Marquardl. S. äi.)
HIICUIFF Di:S ABMIUMEN
k rank ha ricii Faklors /u sprcclioii, M'rh'ilol ihn seine Selbstüberschälzuny
zu bodiMikliihsleiu nu'thotloloj^'ischcMi Fehler,
Ks hat sicli in der Psytho[)athoh)^'ie die (jcwohnlieit lieraus^'ohildel, das
anirebonMi Abnorme als psvehopathisch, das erworben Krankhalte als
psychotisch zu bezeichnen, obj^'leich die Wortbedeutung' selbst zu einer
solchen L nterscheithinj; eigentlich nicht berechtigt. Aber es ist von ver-
schiedenen Stantlpuiikten aus eni[)fehlcnswert, diese Differenzierung streng
durchzuführen. Dabei darf man jedoch nicht in den l'ehler verfallen, in
den der erste Autor geriet, der den psychopathischen Absonderlichkeiten
oine eingehende Arbeit widmete: .1. L. A. Koch (153). Kr nannte seinen
(legenstantl [)sycho{)athische Minderwertigkeiten, brachte also schon
in der i' berschrift ein Werturteil, welches er hauptsächlich soziologisch
meinte. Sachlicli ist gegen diese soziale Bewertung nicht viel einzuwenden,
denn die überaus große Mehrzahl der Psychopathen ist sozial minderwertig,
sei es, dafj sie direkt antisozial (kriminell) werden, sei es, daß sie als
lebensuntüchtige hüls- und rücksichtsbedürltige Persönlichkeiten der Arbeit
der andern nur zusehen. Aber mit dem Begriff der Psychopathie — wie
Koch meinte — hat diese soziale Eigenschaft der meisten Psychopathen
nichts zu tun: auch die Überbegabungen, selbst das Genie sind — wie später
gezeigt wird — der psychopathischen Sphäre zuzumessen. Kronfeld (165
und 164) unternimmt neuerdings den Versuch, die Beziehungen methodo-
logischer .\rt zwischen psychologischen und soziologischen Gesichtspunkten
darzulegen.
Begehen schon die Fachleute den F'ehler, soziale oder sonstige Werturteile
mit dem Abnormitätsbegriff zu verknüpfen, so ist es kein Wunder, wenn
das Volk in gleicher Weise verfährt ^ Der Psychopath (noch mehr der
Psychotische) wird nicht wie ein körperlich Kranker eingeschätzt: Jeder
„Narr" hat bestenfalls nur etwas Lächerliches, meist aber etwas Verächt-
liches und Grauenvolles an sich. Geisteskrankheit ist dem Volk eine Schande.
Diese Auffassung hat aber keineswegs nur der Ungebildete. Auch beim
Literaten findet man häufig den affektbetonten Versuch, die geistige Ab-
normität eines kulturellen Führers zu behaupten, gleich als ob zugleich
mit der F'eststellung dieser Abnormität die Persönlichkeit oder die Werke
dieses geistig Hochstehenden verunglimpft würden. Zahlreich sind die Ver-
suche der Kulturwissenschaftler, bei der Behandlung des Genieproblems
von vornherein jede Erörterung der seelischen Gesundheit des Genies
abzulehnen; jene Forscher glauben meist, den Psychiater „in seine Schranken
zurückweisen" zu müssen. Aber diese Schranken gibt es natürlich nicht:
alles Seelische, auch das Geniale unterliegt der Untersuchung des Psychologen.
Nur ist es leider noch nicht Gemeingut aller Gebildeten geworden, daß die
Feststellung geistiger Abnormität sich mit kultureller Bewertung nirgends
und niemals berührt.
Wie ich es soeben als einen Fehler bezeichnete, wenn F'achpsychologen
mit dem Abnormitätsbegriff irgendwelche sozialen Urteile verbinden, so ist
auch die Hineinbeziehung des Rasse nmomentes fehlerhaft. In der
1 Vgl. MönkemöUer (207).
GHl HLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Sprache der Psychiatrie herrscht noch vielfach das Wort Degeneration,
Entartung ^ Auch hinter diesem Begriff steckt ein Idealtypus, eine Forde-
rung. Aber selbst wenn in ihn keine sonstigen Wertungen einbezogen
werden, sondern lediglich der biologische Wert getroffen werden soll, so
ist er für die Psychopathologie wenig brauchbar. Denn es gibt trotz der
großen modernen Vererbungsliteratur noch keine einwandfreien Unter-
suchungen, die eine wirkliche Verschlechterung der Nachkommenschaft
durch die geistige Abnormität der Eltern nachwiesen. Man kennt
selbstverständlich Familien mit allmählich abnehmendem biologischen
Wert, in denen auch geistige Abnormitäten reichlich vorkommen,
doch sind auch Stammtafeln sehr wohl bekannt, in denen neben einzelnen
Psychosen gar keine sonstige „Entartung" festzustellen ist. Am besten läßt
man den unklaren und vieldeutigen Degenerationsbegi'iff aus der Psycho-
pathologie ganz heraus 2. Die beste allgemeine Studie über Degeneration
verdanken wir Bumke (36). Die gewissenhaftesten Sonderuntersuchungen
über das Vorkommen seelischer Anomalien als ererbter Faktoren hat
Rüdin (273, 274) angestellt. Seine und seiner Schüler iVrbeiten stellen
auch die zugehörige Literatur zusammen.
Wenn man den Versuch macht, die Fülle der Erscheinungen des seelisch
Abnormen in eine Ordnung zu bringen, kann man nicht — gleichsam von
außen — an das Material ein festes System von Fächern herantragen, in
die man nun die einzelnen Erscheinungen unterbringt. Dies würde alles
auseinanderreißen, was die r>fahrung doch vereint darbietet. Aber selbst
wenn man bestrebt ist, die Gesichtspunkte der Ordnung dem Stoffe selbst
zu entnehmen, läßt es sich nicht vermeiden, manches zu trennen, was
dem Kundigen in der Natur doch zusammengehörig erscheint Ich bin mir
klar bewußt, daß die von mir gewählte Ordnung manchen unbefriedigt
lassen wird — bin ich doch selbst mit ihr keineswegs zufrieden. Aber
ich fand keine bessere. Jeder Bearbeiter des gleichen Materials dürfte je
eine andere Anordnung wählen; ein consensus omnium ist ganz unmöglich,
denn keines dieser Systeme ist irgendwie „verbindlich". Am lebendigsten
und anschaulichsten würde zweifellos jene Darbietung sein, die auf jede
Systematik verzichtet und eine Folge von Essays aneinanderreiht, wie dies
etwa Theophrast in seinen Charakterbildern versuchte, oder Pelman in seinen
psychischen Grenzzuständen (235) in liebenswürdig anregender Weise durch-
geführt hat. Jede wie immer geartete Ordnung rückt von der Lebendig-
keit ab, und ich nehme daher von vornherein den Vorwurf des Kritikers
als berechtigt, aber unumgänglich hin, daß manches in der Natur zeitlich
einheitliche Phänomen in der hier gewählten Ordnung zerrissen wurde und
^ Bei dieser Gelegenheit sei der sog. Degenerationszeiclien gedacht, körperliclier Ab-
weichungen in Form oder Funktion (schlechte Zahnbildung, zusammengewachsene Augen-
brauen, Beweglichkeit der Ohren usw.), denen man früher (Lombroso) einen großen Wert
als Merkmalen verborgener geistiger Anomalien zuschrieb. Heute \^i^d ibre Bedeutung geringer
eingeschätzt. Ich selbst halte sie für ganz unwichtig.
- Vgl. das anregende, sehr persönliche Buch von Hildebrandt über Norm und Entartung,
zu dem ich in vielfachem bewußten Gegensatz stehe (12 la).
IU:<.IUKI' Di:s MiNUKMKN
unler ^erschieaene^ CberschriflcM. wiederhult u.e, erkolul. •'ea.\\....n ehalt
Oranun.^ und jode UrdnunK lul den TalsaduM. m .rgeu.l .m mn Wc.
ewa an WeKhe der n.ö.'luluM, Ordnungen aber der Autor seinen
""rn darbieten soll, das hängt mmmu^s ICracl^ens gerade von diesen L^m^
li Ich glaubte im UahnuM. <-iMe. Handbuches der ^e^glelchenden 1 s>clu -
tie in; Ordnung widden .u sollen, die sich /u.nal für psychologisch
.»eschulle Leser eignet
ABNORMITÄT DES MASSES (QUANTITÄT)
A. AUF DER GEGENSTANDSSEITE
Seelische Inhalte und Zustände können in mannigfacher Weise abnorm
sein. Ganz abgesehen von ihrer Bedeutung im seelischen Gesamtzusammen-
hang können sie selbst, isoliert, vom Durchschnitt abweichen. Man kann
ihnen meist einen Grad, eine bestimmte Intensität zuschreiben. Und
so ist es klar, daß eben dieser Grad abnorm sein kann. Dabei richtet sich
die Betrachtung zuerst auf jene relativ einfachen seelischen Inhalte, die (nur
bedingt richtig) als Elemente unter anderen Elementen angesehen werden
können: auf die Empfindungen. Kann eine Empfindung (oder ein
Komplex solcher, eine Wahrnehmung) einen abnormen Grad erreichen?
Der Gedanke liegt nahe, die Empfindung bliebe sich wohl gleich, es sei
die mehr weniger intensive Zuwendung, die Aufmerksamkeitsbesetzung, die
abnorm werden könne. Beides ist richtig.
1. Empfindungen
Wenn hier von der Abnormität einer Empfindung die Rede ist,
ist nicht die Abnormität des Reizempfängers, des Sinnesorgans gemeint,
etwa in dem Sinne, daß z. B. ein Gehörorgan auf Schwingungszahlen schon
anspricht, die für das Durchschnittsohr als unterschwellig bekannt sind.
Also eine Unter- oder Überempfindlichkeit des Sinnesorgans bleibt hier
ebenso außer Betracht, wie das vollkommene Fehlen mancher Sinnesemp-
findungen etwa bei dem extrem Rot-Grünblinden. Dies wäre ein Kapitel
aus der Pathophysiologie der Sinnesorgane. Hier ist von jenen Tatbeständen
die Rede, daß bei vollkommen normalen Sinnesorganen, normalen Reiz-
leitungen und normalen Gehirnbahnen und -Zentren irgendwelche Emp-
findungen abgeschwächt zum Bewußtsein kommen, ja in extremen Fällen
überhaupt nicht erscheinen. Es handelt sich um das Problem der Hyp-
ästhesie, Anästhesie, ferner um die Hyperästhesie, und endlich um die
Verfeinerung aller Sinnesqualitäten (Hypersthenie).
Es gibt Ausnahmezustände ^, in denen plötzlich bei nachweislich gleich-
bleibendem Reiz die Empfindungsintensität stark zunimmt. Das (objektiv
gleichbleibende) Rauschen eines Baches schwillt zu gewaltigem Tosen an, —
das einförmige Zirpen einer Zikade zerreißt me mit gewaltsamen Schnitten
die Stille der Natur, — die Stimme eines bekannten Menschen erschallt
wie die Posaune des jüngsten Gerichts. Oder das wohlbekannte Gelb eines
Trambahnwagens brennt plötzlich unerträglich grell in den Augen. In an-
deren Fällen klingt das längst gewohnte Schlagen der Zimmeruhr so, als
1 Bei akuten schizophrenen Wahncrlebnissen, in epileptischen Verstimmungen, ab
..Aura" epileptischer Anfälle, in hysterischen Entrücktheiten, bei beginnender Narkose
und sonstigen Vergiftungen (Fieberdelirien). Auch bei Hirn-Herderkrankungen.
KNIPFINDINGEN. VORSTELLINGEN LND CKDANKLICIIK INHALTE 11
käme es aus woilester Ferne, der helle Sonnenschein des Sommertages
verändert sich wie bei einer Sonnenfinsternis, der (ieschniack einer
sonst hevorzuij^ten Speise wird fad nnd uid)esiitninl. Solche Phänomene
lassen sich keineswegs nur derarl auffassen, dafj man hei einer scheinbaren
Verslärkuiip; der Intensität eine \eruichrle, hei einer Abschwächung eine
verminderte Heachtunp: annehmen kiMiutf: der normale Mensch kann ein
Geräusch noch so energisch beachten, es wird dadurch nie zu einem
<lonnernden (lelöse anschwellen. Auch die Empfindungsformen (Anschau-
ungen, Strukturen) zeigen sich in solchen aijnormen Zuständen gelegent-
lich verändert:
Ein wolilbokannlos Gosiclit erscheint plülzlicli verzerrt, irgendeine Gestalt sciieint
zerstört z»i sein. Oder die Gegenstände des Zimmers, in dem ich mich befinde, sind
ganz weil weg. gleich als ob icli sie durch ein umgekehrtes Fernglas betrachte (M i -
kropsie). Der Löffel, mit dem ich in der Teetasse umrühre, wäclist plötzlich an.
als wolle er das ganze Zimmer erfüllen, — und doch werde ich in diesem Augenblick
keinesweg^^ an dem Eindruck irre, daß es ein Löffel ist (Makropsie). Auch die
eigenen Körperempfindungen können sich derart verändern: die Mundhöhle nahm
riesige Dimensionen an, die Hände erschienen auf die 3 — '» fache Größe gewachsen l.
Ob sich dabei ein im allgemeinen angenehmes oder peinliches Ergebnis herausstellt —
die einfachen Töne eines Kinderliedes werden zu unendlicii schönem Sphärengesang,
das Tropfen der Wasserleitung dünkt dem Fiebernden wie eine Folge von Explosionen —
hängt wohl von der begleitenden Grundstimmung ab, z. B. von der Euphorie manciier
Vergiftungen. 1 ' I
In anderen Fällen kann man weniger gut sondern, was vom Erlebnis
wirklich in der Empfindung begründet liegt, und was nur der Aufmerk-
samkeitszuwendung entstammt. \\ enn man in Zuständen starker Ermüdung
eine große Abschwächung mancher ^^ ahrnehmungen, ja schließlich für ge-
wisse Qualitäten eine völlige Unansprechbarkeit (Anästhesie) erlebt, so
dürften hierbei wohl beide Komponenten, die Empfindungen selbst und
die Schwäche der Zuwendung beteiligt sein -. Hiervon wird später bei dem
Kapitel der Beachtung nochmals die Rede sein.
2. \orstellungen und gedankliche Inhalte
Von den Vorstellungen, den mnestisch ekphorierten Empfindungs-
inhalten, gilt das gleiche: auch ihre Intensität kann über- oder unterdurch-
schnittliche Grade erreichen. Es ist ja eine wohlbekannte Tatsache, daß
gegenüber den Originalempfindungen die wiederbelebten Engramme weniger
merkmalreich, abgeblaßter, verschwommener, weniger vivid erscheinen. Es
1 Schilder (279) S. i^. — Eine Kranke Josefsons (1A6): ,.Das Zimmer wird so
groß", sie findet ,,den Arzt so hocli, sein Gesicht so vergrößert". Es iiandelt sich
dabei übrigens nicht etwa um Akkonmiodafionsslörungen. — Ein Fall Oppenheims (zitiert
von Josefson 1/46) sah die Menschen konvex oder konkav. Baudelaire beschreibt im
Haschischrausch sehr klar eine Mikropsie: er sieht die Schauspieler auf der Bühne außer-
ordentlich klein und von einer scharfen, sorgfältigen Kontur umrissen. Trotz ihrer
Kleinheit konnte er an ihnen die subtilsten Einzelheiten unterscheiden, selbst die Linie,
welche die Perückenstim von der richtigen trennt. (Werke II, Minden. Bruns. S. /j5
u. 46). — Vgl. femer Sittig (997a), Fischer (6:>a u. b), Heilbronner (lolb). Liebscher
<i78a).
- Auch das Ausbleiben der Ermüdungsempfindungen jjei großen Affekten, z. B. bei
Tobsuchtsszenen. Tanzepidemien usw., geiiört zum Teil hierher.
]2 GilLIILE: PSYCHOLOGIE DES ABNOIIMEN
ist hier nicht der Ort, auf die grundsätzlichen Unterschiede zwischen Emp-
findungen und Vorstellungen und die Streitfrage einzugehen, ob beide
gradweise oder grundsätzlich verschieden seien ^. Jedenfalls gibt es Per-
sönlichkeiten, die die Fähigkeit haben, je nach ihreni Willen ihren \ or-
stellungsbildern eine besondere Lebhaftigkeit zu verleihen, — eine solciie
Lebhaftigkeit, dafS sie selbst das Unterscheidungsvermögen dafür verlieren,
ob sie Gebilde ihrer Einbildungskraft oder der Wirklichkeit vor sich haben.
Ich denke dabei nicht nur an jene Menschen, von denen die Sprache des
Alltags sagt, daß sie eine besonders lebendige Phantasie besäßen, sondern
an jene Psychopathen, die unter ihren lebhaften \ oi-stellungen wie unter
Sinnestäuschungen leiden^. Ein Gefangener, dessen Lebensweise durcli die
Verhaftung eine völlige Umwandlung erfährt, der allem Verkehr entzogen,
der körperlichen Bewegung beraubt, ohne Anregung bei veränderter Er-
nährung in der Einzelhaft dahinvegetiert, glaubt allmählicli nicht nur, aus
den seltsamen Geräuschen der Strafanstalt alles mögliche „herauszuhören"
(Pareidolien), sondern seine erregte VorstcUungstätigkeit zaubert ihm
schlieiSlich leibhaftige Gestalten ins Zimmer, auf die er vielleicht mit er-
hobenem Wasserkrug angsterfüllt losschlägt (Verfolgungswahn der hysteri-
schen Haftpsychose), oder die ihn in seiner Einsamkeit trösten und ihm
wunscherfüllend glücklichere Zeiten herbeizaubern. Man erinnere sich etwa
der Szene aus Benvenuto Cellinis Kerkerhaft^.
Der englische Dichter und Zeichner William Blake enlnalini die j\Iüti\e zu seinen
Zeichnungen seinen Gesichten, war sich aber bewußt, daß diese wiederum seiner hef-
tigen Einbildungskraft entstammten. (Freimark 75.) — Eine Kranke erzählt, si&
habe im Halbdunkel einen Strauß von Ginsterblüten auf dem Tische stehen sehen.
Sie hab(! sich nun so lange und so lebhaft vorgestellt, daß dies Kirschblüten seien,
bis sie die Kirschblüten nicht nur, trotz der völligen Dunltelheit, ganz klar und lielt
gesehen, sondern auch deren Duft deutlich gerochen habe. (Psych. Klinik. Hcidelijerg.
Mila Schild. i3. Mai iQiS.) — Oder man denke der Worte Flauberts: ,,Die Gestalten
meiner Einbildungskraft affizieren mich, verfolgen mich, oder vielmehr ich bin es,
der in ilinen lebt. Als ich beschrieb, wie Emma Bovarj vergiftet wird, hatte ich einen
so deutlichen Arseniligeschmack auf der Zunge, war ich selbst so richtig verglflcl,
daß ich hintereinander davon zwei Indigestionen akquirierle, zwei reelle IndigcstioniMi;
denn ich habe mein ganzes Diner wieder von mir gebrochen ^".
Manche Psychopathen geben sich ihren Wachträumereien jedesmal hin,
wenn die Außenwelt ihnen nur Unerfreuliches beschert. Sie ziehen sich
dann ganz in ihre Phantasien zurück. Bei einem Falle konnten Bouman
und Grünbaum (31) interessanterweise feststellen, daß ein solcher stark
Phantasiebegabter bei der Reproduktion visuellen Materials keineswegs
Gutes leistete. — An die oft überaus lebhaften Vorstellungen der Kinder sei
hier nur erinnert^.
„Ich konnte lange nicht einschlafen, da betrachtete ich mir die im Zimmer hängenden
Bilder. Die nahmen plötzlich alle Gestalt an, auch der Spiegel, Steckkontakt, Wasser-
flasche, und kamen auf mein Bett zu. Als ich versuchte, mir die Gestalten zu ^er-
^ Ich persönlich schließe mich im wesentlichen Stumpf (3i3) an und teile weit-
gehend die Meinungen Semons (290, 291 u. 292).
2 Vgl. auch das altmodische aber interessante Buch von llil^bort (119).
^ Rüdins Begnadungswahn (272).
* Zitiert nach Dilthey {l^g, S. 21).
^ Siehe auch Ribot (26/1).
NOnSTELM NGKN L.ND T.KD WkLICHi: IMIAMi: \3
virUlclicii. da icli in ümon liokannlc (ie^iclilcr zu onhlerkpii ifl.iiiblo. wlclion sio zurück,
l'ckamni zum Teil plattgodrückf«' Stimm, larijffc Nasen, jranz hohe Stinicn. Köpfe gaiu
ohne HaU. rlünne Leiber, zu kurze Beine. Die GestalU-n lacliten tnirh aus, »treckten
mir i|ie Zunge» heraus uufl hefen alle H.ind in Hand." (Ein Kall aus der Psvrhüitr.
Klinik, Heidelberg.)
.Man pflegt solche überlebendigcii ^ orslellungen als reine oder illusionäre
Pseudohalluzinationen von den echten Sinnestäuschungen zu son-
tlern. Und in der Tat kann man in vielen Fällert letztere als andersartig
luilerscheiden : sie sind leibhaftig, stehen mir objektiv gegenüber und fügen
sich in den umgebenden Sinnesrauni ein, ähnlich, wie wenn ich ein fremdes
I5ild in ein wohlbekanntes Zinniier hänge. Demgegenüber haben die
Pseujlohalluzinalionen nicht jene Leibhaftigkeit, sie erscheinen mir irgend-
wie als meine (lebilde und pflegen die Sinneseindrücke des Aufjcnraums
ganz zu verdrängen. Freilich gibt es eine große Zahl von Fällen, in denen
die l'ngewandtheit der ausgefragten Person eine Entscheidung verhindert, ob
1. echte Sinnestäuschungen oder 2. Lmdeutungen der wirklich vorhandenen
Heize der .Vul^enwelt (sogenannte Illusionen oder Pareidolien) oder 3. Pseudo-
halluzinationen vorliegen. In anderen Fällen mischen sich aber alle drei
Phänomene tatsächlich, so daß eine Analyse selbst bei feinster Selbst-
beobachtung unmöglich ist*.
Auch an die überaus lebhaften A orstellungsinhalte im Traume sei hier
erinnert. Schwächliche psychopathische Kinder träumen oft mit solcher
Lebendigkeit ängstliche Szenen, daß sie schweißbedeckt, zitternd und
schreiend aus dem Schlaf in die Höhe fahren (Pavor nocturnus)-.
..Es kam mir nämlich vor. als ob ich durch einen Luftballon, der allmählich an
Ausdehnung zunähme, in die Luft gehoben «öirde, hierauf aber, wenn ich bis an die
Sterne gekommen, der Ballon platze und ich zur Erde stürze, worüber icii dann
in unglaublicher Angst ein heftiges Geschrei ausstieß." (Z. f. Anthropologie iSaö.
Heft 3, S. 174.)
Nicht im Sinne der großen Leibhaftigkeit einzelner, sondern im vorzüg-
lichen leichten, freien und raschen Ablauf aller Vorstellungen äußert sich
eine andere Anomalie, die von Zuständen außerordentlicher Gefahr, unmittel-
barer Todeserwartung beschrieben worden ist. Bei Erdbeben z. B. beob-
achtete man solche Vorstellungserleichterungen, und Livingstone erzählt von
dem Augenblick, als er unter dem Löwen lag. Ähnliches (Baelz, 8).
Eine Abnormität der Intensität ^ der Vorstellunsren nach der negativen
Seite kommt vor allem in Zuständen der Erschöpfung und Schwermut vor.
1 .\nders Jaspers (i3g — i4o). Auf seine Ansichten geht auch Stumpf ein (3i3).
M i.i erinnere sich des Versuches von Perky (236), der an die Stelle einer lebhaft
^fn einstellten Orange allmählich das reale Bild einer wirklichen Orange treten ließ,
oiine daß die Versuchspersonen dies gewahr wurden.
- Über Träume vgl. das populäre, alle ernsteren Probleme vermeidende Werk des
selir belesenen Sanctis (277). Siehe auch S. 37 und 75. Vgl. ferner die Alpträume
(C!ubasch [4ia], Röscher [268a].)
^ Ich übersehe keineswegs, daß das Wort Intensität in diesem Zusammenhange viel-
dfulig ist, doch kann seine Abgrenzung von Lebendigkeit, Vividität usw. hier wegen
Raummangels nicht erfolgen. Siehe dazu Stumpf (3i3) und Semon (290 — 291). —
Hibl>ert (119) spricht schon 1825 von der Vividness. Die Ideas seien less intense,
lest vivid or fainter als die sensatlons. Vgl. auch Linke (i8'i) an mancherlei Stellen,
besonders S. 43 u. 170.
14 GIIUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Die melancholischen Kranken klagen darüber, daß sie nicht melir imstande
wären, sich iliren Mann, die Kinder, das Haus vorzustellen. Alles schwebe
wie in einer unendlichen Ferne, unbestimmt, unklar, verschwommen. Selbst
einfache Sinnesqualitäten, wie die Farben, sind nicht mehr ekphorierbar:
„Ich weiß gar nicht mehr, wie es in der Welt ausschaut."
Bei den soeben erwähnten Fällen von Abnormität der Intensität von
Vorstellungen hatte ich Zustände im Auge, die als Ausnahmezustände dem
gewöhnlichen Vorstellungsablauf gegenüberstehen. Das Vorstellungsleben
kann jedoch auch an einem ganz anderen Maße gemessen abnorm sein.
Der durchschnittlich Begabte bringt die Disposition mit auf die Welt, sich
einen gewissen Schatz von Vorstellungen zu erwerben. Diese Dispositionen selbst
können nun aui^erordentlich dürftig, die schließlich erworbenen Vorstellungs-
inhalte können ungemein gering und kümmerlich sein. Zahlreiche, von
Geburt schwachsinnige (imbezille, debile) Persönlichkeiten vermögen sich
viele Vorstellungen gar nicht zu erwerben, sie sind, wie schon die Luthersche
Bibelübersetzung es treffend benennt, geistig arm ^. Man verstehe dies nicht
so, als wenn das Wesen ihres Schwachsinns allein in der Vorstel-
lungsarmut beruhe; es kommen selbstverständlich auch Defekte der
Denkvorgänge usw. hinzu. Aber jener Mangel an Quantität ist doch eines
der wichtigsten Kennzeichen. Man denke dabei auch des Taubstummen,
dessen geistige Struktur schon deswegen meist unternormal bleibt, weil
ihm sein Gebrechen eine Fülle der geistigen Erwerbsmöglichkeiten unter-
bindet".
Schließlich gehören aber auch jene Gedächtniskünstler^ hierher,
die sich eine solche Fülle von Inhalten einzuprägen vermögen, daß der
Durchschnittsmensch wie vor einem Wunder befangen steht. Wenn Herr
Dr. Rückle im Kopfe 53116 in 4 Quadrate zerlegen kann, wenn Diamandi
aus 2000 gelernten Zahlen z. B. die 310. herzusagen vermag, wenn Inaudi
6241x3635 im Kopfe in 21 Sekunden richtig ausrechnet, so sind diese
Gaben natürlich abnorm. — Solche Spezialgedächtnisse finden sich gelegent-
lich auch bei Personen, die im übrigen minderbegabt, ja schwachsinnig
sind. (Interesset>pen [Van der Kolk, 159, und Wizel, 327]).
G. E. Müller (215) bringt in seinem dreibändigen W^erk über das Ge-
dächtnis ein großes Material dieser Cberleistungen des Merkens und ilirer
verschiedenen Typen zusammen. (Siehe dort auch die neuere Literatur.)
Es ist eigentlich kein abnormes Phänomen, sondern eine normale Erschei-
nung, daß im Alter eine große Zahl der Vorstellungsinhalte unerweckbar
wird: das Gedächtnis nimmt ab. Insofern dies darauf beruht, daß der
Akt der Erweckung eines Gedächtnisinhaltes geschädigt ist, gehört dieses
Moment nicht hierher. Aber die Vorräte selbst gehen allmählich verloren.
Mir sind keine genaueren Untersuchungen darüber bekannt geworden, ob
im Senium die Inhalte selbst dahinschwinden oder nur ihre sprachlichen
1 Es findet sich auch bei sonst guter Entwicklung isoliert ein mangelhaftes „Gedächt-
nis" für geschriebene und gedruckte Wortbilder. Vgl. Schröck (285) mit guten.
Literaturangaben und eigenen Fällen.
'^ Über den sogenannten moralischen Schwachsinn siehe S. 25.
3 Das Buch von Offner (282) bringt nur sehr wenig Abnormes.
VORSTELLUNGEN UND GEDANKLICHE INHALTK
Syinbolt*. Die allfiiMiu'inc, iiichl an j^ciiaurr wissoiiscliaftliclicr l'orsclniiii,'
orionticrli' l!iraliriiiig sdiciiit dal'ür /u sproclipii, dal') die sp rac li 1 iclic ii
\ orstelluDfrsiidialte zuerst auslallcii. Anlangs sind es die Bezeichnungen
für die relativ selten wiedcrkelirendeii (und also wenig geübten) Inhalte die
J'^igeiiiianien - , welche verlorengciien, dann iolgen die sonstigen llaii|ilwürter
und die l'ligenschattswörler i'ür Atischaiilichcs, daiui die für l nanschauliches,
ferner die Zeitwörter, Präpositionen, l\t)njunktionen, (Grußformeln. Hihot
nennt diese Hegel die I^i de la rcarcssion ; sie besagt das eigentlich Selbst-
verständliche, dalj das wenigst Geübte (Eigennamen und jüngst Ivrworbcnes)
zuerst zugrunde geht. Nicht nur im Alter, auch durch mancjie lukran-
kungen des Ciehirns verschwiiulen viele (ledächtriisiidialte allmählich ^ Aber
es kommt auch vor, dal') das (ledächtnis [)lötzlich eines Teiles seines
Materials beraubt wird. Es finden sich dann Lücken in der l">innerung
an den zeitlichen Ablauf der Erlebnisse, die ganz scharf umgrenzt sind
(zeitliche Amnesie). Es handelt sich dabei stets um schwere plötzliche
Schädigungen des Gehirns, teils durch innere (Gehirnblutung), vor allem
aber durch äußere Umstände (Gehirnerschütterung, Schädelbruch). Das
Interessante dabei ist nicht der Umstand, daß vom Augenblick der Schädi-
gung an sich nichts Neues mehr einprägt. Denn der Radfahrer, der eine
bergab führende Straßenkurve falsch genommen hat und mit dem Kopf
gegen eine Mauer geprallt ist, ist von diesem Augenblick ab natürlich
bewußtlos: er nimmt keine neuen Eindrücke mehr in sich auf, und es
ist selbstverständlich, daß er für die Zeit vom Unfall bis zum Erwachen
aus seiner Bevvufitlosigkeit keine Erinnerung hat (einem Narkotisierten
vergleichbar). Interessant ist vielmehr, daß auch die Ereignisse, die dem
Sturz unmittelbar vorausgingen, häufig ganz vergessen worden sind (retro-
grade Amnesie). So vermag er sich z, B. nicht mehr daran zu erin-
nern, von welchem Ort er denn am frühen Morgen weggefahren ist, wo
er zuvor übernachtet liatte usw. Alles weiter Zurückliegende ist ihm jedoch
dann wiederum wohlbevvußt^. Ganz andersartig sind jene Amnesien zu
1 Arteriosklerose des Hirns, progressive Paralyse u. a. Diese Kranken pflegen
dio zahlreichen Lücken ihres Gedächtnisses dann häufig durch hcHebige, immer
wechselnde kleine Erfindungen auszufüllen, sogenannte Konfabulationen.
Es ist höclist seltsam, wie Schopenhauer auf den Störungen des Gedächtnisses eine
Theorie des Wahnsinns aufhaut (Welt als Wille und Vorstellung. II, S ■^'■. nnd JII.
S 36): Die eigentliche Wurzel des Wahnsinns sei die Störung des Gedächtnisses.
Dio Gesundheit des Geistes bestehe vor allem in vollkommener Rückerinncrung jedes
edgentümlichen oder bedeutsamen Vorganges. Werde die Verbindung des Gegenwärtigen
mit dem Abwesenden und Vergangenen, aus welcher allein ein lückenloses und richtiges
Weltbild hervorgehe, zerstört oder verfälscht, so trete jene Erscheinung ein, die \vir
Wahnsinn nennen. Der Faden des Gedankens sei zerrissen, der fortlaufende Zusammen-
hang sei aufgehoben, keine gleichmäßig zusammenhängende Rückcrinnenmg der Ver-
gangenheit sei möglich. Die Lücken der Rückorinnerung würden mit Fiktionen aus-
gefüllt, die entweder, stets dieselben, zu fixen Ideen würden: dann ist es fixer Wahn,
Melancholie; oder jedesmal andere sind, augenblickliche Einfälle, dann heißt es TNarr-
heit. — „Meine vieljährige Erfahrung hat mich auf die Vermutung geführt, daß
Wahnsinn verhältnismäßig am häufigsten bei Schauspielern eintritt." (1)
'■^ Man stellt sich vor, daß die Gehirnerschütterung besonders diejenigen Engramme
au.slöscht, deren ,,Spur" noch sehr jung, frisch war. Welche materiellen Vorgänge
solchen ,, Auslöschungen" zugrunde liegen, kann nicht einmal geahnt werden. Vgl. zu
den organischen Amnesien auch das alte Werk (1822) von Prichard (a^o).
16 CnVULE: PSYCHOLOGIE DE? AB^^OR^tE^
beurteilen, bei denen nicht eine Zeitstrecke, diese über mit allen ihren
Inhalten, ausgelöscht ist, sondern bei denen ein innerer Erlebniszusaramen-
hang (ein Komplex) vergessen worden ist: z. B. alles, was im Leben einer
Frau mit ihrem Geliebten zusammenhängt. Hierüber wird später bei der
Frage der psychogenen yVusschaltungen gesprochen werden.
Es ist seltsam und dabei nicht unwichtig für die Lehren der Psycho-
logie des Normalen, daß gelegentlich nicht die Gedächtnisinhalte selbst
verlorengehen, sondern in sich nur gleichsam eine Unordnung erfahren.
AVenn man in solchen Fällen auch nicht eigentlich von einer Abnormität
der Quantität oder Intensität reden kann, so liegt doch auch keine eigent-
lich qualitative Änderung vor. Nur die V o r s te 1 1 u n g s f o r m e n sind gestört,
die raumzeitliche Anordnung, die Struktur hat gelitten. So erwähnen die
Sjjezialstudien gern das Beispiel Ludwig Tiecks.
Tieck ging: von Berlin aus seiner Braut entgegen, die von Hamburg zurückkehrtr-.
Bei einer \A aldschenke jenseits Tegel wollte er sie erwarten. Allein schon ehe er diesen
Ort passiert hatte, sah er in erregter Stimmung die Schenke. Zwar lag sie auf dei*
unrechten Seite der Straße; allein sie war so deutlich, der bekannte Wirt stand unter der
Tür, die Hühner liefen auf dem Hofe, daß er nicht weiter zweifeln konnte. Di
er keinen Steg über den längs der Straß© laufendjen Graben fand, entschloß er sich
7um Sprunge, und erst, als er nach zu kurzem Sprunge im Graben lag, verschwand die
Erschednung. Das Bild war offenbar von der aufgeregten Phantasie hervorgebracht:
aber es erschien nur an' einer bestimmten Stelle, was oFine Zweifel durch eine
passende Umgebung und durch den richtigen Ton des Hintergrundes vermittelt wurde '.
Man kann die Störungen in der Struktur (Gestalt) von Yorstellungs-
komplexen deshalb nicht scharf von denen der Wahrnehmungstrukturen
trennen, weil in die letztere stets die früher erworbenen ^ orstellungen mit
Eingehen (in einer Weise, die hier nicht näher erörtert werden kann 2),
Es ist interessant, daß im wirklichen Erleben irgendwelche Eindrücke ganz
richtig einander zugeordnet sein konnten, aber in der Erinnerung steht
dann alles auf dem Kopf (Paramnesie a images rer\versees). Es handelt
sich z. B. im Falle Jules von Lemaitre (172, S. 115) um ein Erlebnis des
flejä vii (siehe später), bei dem der Kranke glaubt, die im Augenblick
erlebte Situation schon einmal erlebt zu haben, aber mit allen umgekehrten
Einzelheiten („les enfants ayant la tefe en bas, le pied des arbres et l'herbe
etant en l'air" usw,)^.
Auch ein Fall Janets gehört hierher^: (135) Eine Frau glaubte bei allen
ihren Körperbewegungen verkehrt zu gehen 'oder umgekehrt bewegt zu
werden. Alles kam ihr rechts und links vertauscht vor. Beim Laufen schien
es ihr also, als ginge sie umgekehrt. Bewegte sie sich nicht, oder war sie
in fremder Umgebung, so fiel das seltsame Phänomen weg, — Auch
manche Medien (Flournoy, 66) verlieren im Ausnahmezustand die Orien-
tierung über die Körperlage und über rechts und links. Wenn man Flournoys
Helene z. B. in den rechten Zeigefinger stach, bewegte sie den linken.
^AUochirie). — Eine seltsame Drehung der Objekte in der Horizontalen um
180" beschreibt Pick (246 a) bei Geisteskranken.
1 INaegeli, S. 53o (221). Siehe auch den Fall von Saint-Paul, zitiert von Pickh'it).
- Über die Vorstellungstopik der Blinden vgl. Müller (aiS), II, 35o.
3 Vgl. auch Müller (2i5), II, S. n8.
* Vgl. auch Müller (2i5), II, S. 207.
\()USTF:LLrNGi:>' l ND GKDANKLICIIE IMIALTi: 17
Teils in Beziehung zur geistigen Armut, teils zur Pathologie des Gestalt-
charakters stehen die Abnormitäten des Erwerbs der „Zahlmomcnte" und
die Störungen des Opericrens mit Zahlen. Auch in den sogleicli noch zu
erörternden Agnosien und Agraphien haben die Zahlen ihre Sonderstellung.
Einen \ ersutii, in die Psychopathologie des Zahlenverständnisses einzu-
dringen, macht Otto Sittig (297).
L nter besonderen körperlichen Umständen kann es dahin kommen, daß be-
stimmte einzelne Vorstellungen oder Gruppen solcher verlorengehen, die zu den
Sinnesorganen oder zu den ßevvegungsmechanismcn nahe Beziehungen haben.
\ or allem ist hierbei der Sprache zu denken. Es geschieht, daß bei völlig
normal arbeitendem Gehörorgan plötzlich der Sinn des Gehörten entfällt
(sprachliche Agnosie [Pick 246b, Knauer 152b, Liepmann 179j). Die Be-
deutung der deutlich vernommenen Worte ist verloren gegangen. Es ist, als
wenn der Erkrankte eine ihm unbekannte Sprache sprechen höre. Diese
Störungen (sensorische Aphasien) sind sehr vielgestaltig, und es würde den
Rahmen dieser Abhandlung völlig sprengen, wollte ich näher auf dieses Gebiet
eingehen. So gibt es Fälle, bei denen der Ivranke nur einzelne Worte (be-
sonders anschaulichen Inhalts) nicht mehr versteht; dann findet man andere
Kranke, die den Sinn des Zusammenhangs der gehörten Rede durchaus nicht
mehr begreifen können, obwohl sie noch ein Urteil darüber haben, ob die
Reden z. B. französisch oder deutsch sind, und endlich kommen Erkrankungen
vor, bei denen die gehörte Sprache sinnlos wie ein Geräusch der Natur
zum Bewußtsein kommt. Bei manchen Kranken hat neben der Verständnis-
störung der gehörten Rede (oder auch allein) der „Sinn" für Musik Schaden
gelitten: sie vermögen nicht mehr eine Melodie als diese Melodie zu er-
kennen, oder sie vermögen nicht die einzelnen Töne zu einer Melodie zu-
sammenzuschließen (Amusie ^).
Ein Leser, dem die systematisch genaue Einordnung der Phänomene
sehr am Herzen liegt, könnte hier einwenden, daß solche Erscheinungen
doch zur Pathologie der Empfindungen gehören. Er würde irren, denn
die Empfindungen treten hier richtig in den seelischen Gesamtzusammen-
hang ein; was hier gestört ist, ist etwas hinzukommendes ^ orstellungsmäßiges:
die assoziierten Engramme des Sinnes der Worte. Ähnlich ist es auf dem
Gebiete des Optischen: es gibt Störungen, bei denen das Auge in jeder
Weise richtig funktioniert, bei denen aber die Zuordnung der ^ orstellungs-
inhalte zu den Wahrnehmungsinhalten wegfällt : ein bestimmter Form-Farb-
Komplex wird zwar optisch aufgenommen, doch bleibt die sonst als selbst-
verständlich verknüpfte ^ orstellung (z. B. „Tisch") aus. Die ganze optische
Welt ist plötzlich sinnlos, unverständlich. Auch ein Erfassen und Merken
der Gestaltkomplexe ist oft nicht mehr möglich (Seelenblindheit, Gestalt-
blindheit) -. Es sind Fälle beschrieben, bei denen nur in einem Teile des
^ Vgl. Idcrzu Förster (71), Alt (4l>), Rohardt (268), Mingazzini (208) mit l\8 Litcralur-
angaben, Bronislawski (33), Edgren (56), und von der älteren Forschung (mit guten
Literaturangaben bis 1899) Probst (25o). — Femer Knauer (i52a).
2 Vgl. liierzu Henschen (11. 'ja), Pick (2/|6b"), Adler (ra), Liepmann (182a) und
besonders Slauffenberg (3o^) mit iTk) Literaturangaben, auch Mann (i()^) nnd Gold-
stein (87). — Ferner Redlich-Bonvicini (258 u. 25g), Bychowski (38), Albrecht (2)
zum interessanten Problem des Fehlens der Walirnehmung der eigenen Blindheit.
2 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
18 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Gesichtsfeldes die Erfassung der Bedeutung der Wahrnehmungsinhalte
Schwierigkeiten macht, obwohl das Sehorgan und seine rücklaufenden Nerven-
bahnen unverändert sind^
Ja, CS kommen sogar Erkrankungen vor, bei denen nicht die Auffassung der
räumlichen und bedeutungsmäßigen Qualität in bestimmten Bezirken des Gesichtsfeldes
Not gelitten hat, sondern bei denwi die Aufmerksamkeit den Objekten dieser Bezirke
nur mangelhaft zugewendet werden kann. Z. B. zeigte sich einmal bei großer Enge
der Aufmerksamkeit (ohne Seelenblindheit) eine Einschränkung des Aufmerksamkeits-
feldes nach rechts um 35 — '40^ bei normalem Gesichtsfeld '-.
Gelegentlich vermag ein Ivranker zwar Gegenstände seiner Umgebung und
allerlei Abbilder richtig zu erkennen, doch versagt sein Verständnis teilweise
oder vollkommen gegenüber der Bedeutung von geschriebenen Worten und
Sätzen (Alexie). Vielleicht erkennt er noch die Tatsache, daß bei einem
Wortzusammensetzspiel das eine Wort mit dem großen Anfangsbuchstaben
an den Anfang des Satzes gehört, oder er erkennt noch die Symbolbedeu-
tung eines Wappens: die Sinnbedeutung von Worten selbst vermag er je-
doch nicht mehr zu vollziehen^. Auch die Färb Inhalte können in seltenen
Fällen isoliert, zerstört oder vielmehr von den ihnen erfahrungsgemäß zu-
geordneten Vorstellungen geschieden sein^.
Auch in der Körperempfindungssphäre können solche Störungen
erscheinen. Die einzelnen Berührungs-, Druck-, Schmerz-, Temperatur-,
Spannungsempfindungen usw. sind peripher durchaus vorhanden, aber ihre
zentrale Zuordnung bzw. Bedeutung ist gestört^. Der Erkrankte erkennt
nicht mehr, was ich ihm, dessen Augen verbunden sind, für einen Gegen-
stand in die Hand gedrückt habe (Stereoagnosie). Für Geruch und Ge-
schmack gilt Ähnliches.
In anderen Fällen haben die Bewegungsvorstellungen Not gelitten^:
der Kranke vermag vielleicht vorgesprochene Worte richtig zu wiederholen,
aber er ist außerstande, selbsttätig die Worte für vorgezeigte Gegenstände
zu finden, obwohl er sehr wohl weiß, was es für Gegenstände sind. Ein
anderer ist nicht mehr fähig, aus eigner Initiative zu sprechen ; er vermag
1 Lenz (175) und Mann (igS).
~ Vgl. Balint (6). Freilich gehört diese Störung eigentlich nicht in diesen Zu-
sammerJiang.
^ Schröck (285; über angeborene Wortblindheit. Heilbronner (lol).
* Eine Übersicht über die gesamte neuere Literatur dieses Problems gibt Sittig (296).
Man muß die Farbamnesie von der Farbennamenamncsie unterscheiden! — Siehe auch
G. E. Müller (2i5), II, 639 ff., Adler (la).
Lewandowsky (177) beschreibt einen solchen Kranlcen, der zwar zu gezeigten
Gegenständen die Farben spraclilich imd aus einem Farbenkasten auswählend be-
zeichnen konnte, der aber »sofort versagte, wemi z. B. die Frage an ihn gestellt
wurde, was eine (nicht gezeigte) Erdbeere für eine Farbe habe (nicht nur sprachlich).
\\eder für vorgelegte noch für genannte Farben vermochte er passende Objekte zu
benennen. Laubblätter und Siegellack schienen ihm in der Erizinerung gleichfarbig zu
sein, während er sich des Helligkeitswertes von irgendwelchen Gegenständen sehr
wohl zu entsinnen vermochte. Das Wiederkennen von Farben war erhalten und auch
die nitclianisch eingelernten Versehen (,,b]au blüht ein Blümelein") waren in der
Erinnerung geblieben.
5 S. Frank (7^), Bing und Schwartz (26).
ö i;ber das Problem der Bewegungsvorstellungen vgl. Fuchs (83a).
AGNOSIEN. APIIASIEN. APRAXIEN
19
/. B. dem Fragenden nicht zu antworten, wie man das Tier nenne, welches
belle und nachts das Haus bewache. Aber in dem Augenblick, in dem ich
ihm das Abbild eines Hundes vorweise, findet er richtig den Namen „lliuid".
Kin besonders schwer I->kraiikter endlich ist auch dieses HiHsiiiiltcls be-
raubt, er kann weder sprechen noch nachs[)rechen und bringt viclioicht nur
noch einzelne Laute als einzige S[)rachreste henor (motorische Aphasie). Man
verwechsle diese Störungen nicht mit jenen des \ ergessens, bei denen ingröljercm
Umfange das gleiche geschehen ist, was uns oft einmal passiert, wenn uns
ein Name (vielleicht für ein Tiroler Dorf, das wir früher oft besuchton)
entfallen ist (amnestische Aphasie). Hier in den eben geschilderten Fällen
handelt es sich nicht um ein solches Vergessen, handelt es sich also auch
nicht um das „Sich-nicht-besinnen-Können" (darüber später), sondern hier
ist der Bewegungsentwurf, der Sprachentwurf gestört. Die betreffenden
Bewegungsvorstellungen sind dem erweckenden Akt nicht verfügbar. Wenn
man bedenkt, dafj folgende Hauptformen möglich sind, daß sich diese aber
auch noch mannigfach kombinieren können, wird man ermessen, wie viel-
gestaltig die Störungen sind.
Tabelle I. Schema der Sprachstörungen:
Psachspreclien
Spontansprechen
Sprachverständnis
+
4-
+
+
+
nur wenn zugleich gelesen
wird
-f
+
+
nur wenn selbst geschrie-
ben wird
+
4-
+
nur wenn zugleich mit
gesprochen wird
+
—
+
i-
+
nur wenn Gewohntes re-
+
-j- nur von Gewohntem
produziert wird (Reilien)
(Reihen)
—
+
-|- nur von Gelesenem
—
+
—
—
+
+
+
doch Wortfindung; f. Ge-
genstände nur bei Ab-
tastung
+
usw.
Die Schädigung der Bewegungskoordinationen vernichtet in vielen Fällen
die betreffende Kategorie nicht vollkommen, sondern verwirrt sie nur, so
daß dann (besonders bei mangelhafter Kontrolle durch den Geschädigten
selbst) Fehlleistungen entstehen, Verschmelzungen verschiedener Bewegungs-
entwürfe (Paraphasien). In ganz ähnlicher Weise, wie es soeben für den
Sprachmechanismus kurz dargestellt wurde, kann sich die Störung auch
auf andere Körperbewegungen erstrecken. Es entstehen dann Fehlhandlungen
(Apraxien), die es dem Betroffenen z. B. unmöglich machen, einen Brief
zu kuvertieren, die Zahnbürste richtig zu gebrauchen usw. Auch leichte
20 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Verkehrtheiten, Unordnungen bei der Ausführung kommen vor (Para-
praxien)^.
Man darf mit diesen Störungen des Bewegungsentwurfes nicht jene Altera-
tionen der Bewegungsausführung verwechseln, bei denen die Ursache in
einer Schädigung der peripheren Apparate gegeben ist, mögen diese Apparate
selbst (Muskeln, periphere Nerven) oder ihre Ernährungs- und Führungs-
zentralen (Kerne) betroffen sein. Beim Sprachmechanismus würde man hier
von einer artikulatorischen Sprachstörung (im Gegensatz zur Aphasie), also
von einer Aussprachstörung, reden. Doch hat dieses pathologische Symptom
mit Psychologie wenig zu tun 2.
B. AUF DER ICHSEITE
Die Bewegungen des Körpers sind ein Hauptkennzeichen für die grade
vorhandene Lebendigkeit (Regsamkeit) des seelischen Gesamtgeschehens, sei
es, daß sie als Mit- oder Ausdrucksbewegungen irgendwelche Regungen
begleiten, sei es, daß sie als bewußte Willenshandlungen intendiert werden.
Und diese Willensregungen können nun an Intensität und Quantität abnorm
sein. Der Gesunde erlebt alltäglich eine Abnahme der Zahl und Kraft seiner
Impulse in der Müdigkeit, der Gesunde weiß auch aus eigener Erfahrung
sehr wohl, daß traurige Verstimmungen mannigfachster Art die Initiative
lähmen. Im Seelenleben des Abnormen unterscheidet man zweierlei. Manche
Persönlichkeiten haben von Geburt an eine spärliche und verlangsamte Willens-
umsetzung, gleichsam ein kleines Willensreservoir. Sie entbehren nicht nur
der Ausdrucksbewegungen in hohem Grade (einförmiger Gesichtsausdruck,
mangelnde Gesten), sondern sie entbehren überhaupt der ins Motorische
und Gedankliche gewendeten Willensimpulse. Sie sind in der Tat rein
zahlenmäßig ärmer an Bewegungen und Regungen. Man bezeichnet solche
Persönlichkeiten in der pädagogischen Praxis oft als träge (Birnbaum 26 c).
Aber man trifft damit, wenn man in dieses Beiwort Unlust und Übelwollen
hineinlegt, nur einen Teil der Impulsarmen, der Torpiden. Ein anderer
Teil gehört zu dem alten Temperamentsbegriffe des Phlegmatikers. Man
pflegt ja, abgesehen von der hier nicht zu betrachtenden Grundstimmung,
den Phlegmatiker vom Melancholischen dadurch zu unterscheiden, daß
beide nur eine geringe Zahl der Impulse besäßen 3; der erstere führe aber
die Bewegung, zu der er sich endlich aufraffe, matt und energielos durch,
^ Eine genauere Darstellung dieses ganzen ungemein interessanten Gebietes ist nur
hiöglich, wenn man gleichzeitig die Anatomie und Physiologie des Zentralnerven-
systems herbeizieht. Dies ist im Rahmen dieses Abschnittes des Handbuches ausgeschlossen.
Ich verweise auf die neuere Literatur: Besonders die Hirnschüsse haben zugleich mit
der sehr verbesserten Methodik reiche Erkenntnisse gebracht. In erster Linie stehen
die Forschungen Goldsteins und Gelbs (87, 88), dann jene Poppelreuthers (a/jS).
Von einzelnen Studien seien hier als zweckdienlich erwähnt: Heilbronner (io3),
Adler (la) und die vortreffliche, auch die Literatur bis in die jüngste Zeit be-
rücksichtigende Studie Lotmars (189), ferner Dejerine (^2, S. 68 — 144). l'ick (^Jii),
Na%dlle (228). Von älteren Arbeiten wird man besonders Liepmann nicht entbehren
können (181 — 182^).
2 Vom Stottern wird später noch die Rede sein.
3 Hierbei ist Spontaneität und Reagibilität meist zusammengefaßt.
WILLENSSTÖRUNG 21
während der Mol;uuholikcr die wonigcMi Impulse machtvoll und ziolhewulit
aktiviere. Die Krlahrung erp^ibt, dali höhere Grade von Inaktiviläl oit mit
geringen Geistesanlagen gepaart sind. Der llilfsschullehrer weiß diese
torpid«in Imbezillen bald von den übri-^'en Soh\vachsinnig<>n zu sondern, und
in der Iihotenanslalt verraten die hierher^M-luirigen Tyix'ii ihn; Passivität schon
dadurch, dali sie sich die Fliegen in Auge und Nase herumkriechen und
Kot und Lrin unter sich gehen lassen. Im (iegensatz dazu steht der Ere-
thiker, der immer lebendige, unruhige, impulsreiche Typus ^ Er ist die
Steigerung des sanguinischen Temperaments ins .Vbnorme.
Wenngleich man im Symptomenreichtum des eigentlich Geisteskranken
auch Fälle kennt, in denen sich eine motorische Überbereitschaft mit einer
gedanklichen Hemmung vereint ^ so ist es in der angeborenen Anlage
meist anders: da ist der motorischen Schwerfälligkeit und Armut meist eine
geistige Langsamkeit^, der äußeren Lebendigkeit meist eine innere Unruhe,
Unstetheit, Sprunghaftigkeit gepaart. Der angehende Lehrer muß freilich
davor gewarnt werden, den Intellekt der stillen, langsamen Kinder zu unter-
schätzen, den der lebendig regsamen zu hoch zu werten. Geringe Impuls-
zahl trifft mit geistiger Schwerfälligkeit besonders bei jener nicht mit der
Anlage verknüpften, sondern erworbenen Willenstörung zusammen : bei
der Hemmung und Sperrung. Da läßt zugleich mit der fortschreiten-
den Störung die Zahl der Impulse nach: der Kranke regt sich
immer seltener, jede Bewegung wird langsamer, jeder Entschluß erlischt
kurz nach der beginnenden Ausführung. Schlaff, versunken sitzt der Kranke
am Tisch, er blickt ausdruckserstarrt oder trübselig auf den angefangenen
Brief. Vier Worte von der ersten Zeile sind geschrieben; nun sitzt der
Schwermütige schon seit zwanzig Minuten regungslos: er weiß weder weiter
zu schreiben, noch findet er die Kraft abzubrechen. Steigert sich diese
Hemmung bis aufs äußerste, so spricht man von einer völligen Impuls-
und Reaktionslosigkeit: einem Stupor^. Oft sind die Handlungen bei der
Nahrungsaufnahme der einzig verbliebene Rest der Aktivität. Auch diese
1 In höheren Graden dieser Anlage auch als konstitutionelle Erregung otler schließlich
als chronische Manie zu bezeichnen.
2 Sogenannte agitierte Melancholie mit innerer Hemmung (Depression avec
agitation). Und ebenso umgekehrt eine motorische Ilemmimg bei seelischer Erregung
(im manischen Stupor mit Ideenflucht, Manie akinetiqiie).
^ Ihr braucht keineswegs Oberflächlichkeit, mangelnde Aufwühlbarkeit des Ge-
mütsgrundes (Kerschensteiner) gesellt zu sein.
* Man unterscheidet zwei Formen, deren verschiedene Genese sich aui zwei, zwar sehr
abgebrauchten, aber unentbehrlichen Bildern folgendermaßen klarmachen läßt: beim
gehemmten (depressiven) Stupor sind alle Regungen seelischer und motorischer Art
langsam, aber fortschreitend so abgebremst worden, daß der Mechanismus ^^^^in^ die
Widerslände nicht mehr ankann, sondern schließlich stillsteht (Abiilie). Beim ge-
sperrten (katalonischenj Stupor ist ein Riegel in den Mechanismus geschoben worden,
so daß er für den Augenblick eben gesperrt ist: aber in jedem Augenblick kann dieser
Riegel beseitigt, die alte Beweglichkeit wieder lebendig werden. Preilich dauern auch
diese Stuporformen zuweilen monatelang. — I>ie zweite Form ist mehr jener plötzlichen
Still-Legung zu vergleichen, die man beim Schrecken kennt (Emotionstupor). Nichts
geht im Augenblick im Erschrockenen vor: er ist wie vom Dormer gerührt (attonitus). —
Einen interessanten, aber recht e.x\^en Versuch, den schizophrenen Mechanismus auf die
Störung der psychischen Aktivität zurückzuführen, macht Berze (22a).
22 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
können noch fehlen, so daß der Stuporöse künsüich ernährt werden muf5.
Die Auffassung des Laien deutet solche Zustände gelegentlich als Schlaf,
obwohl sie mit diesem gar nichts gemein haben. In den Tageszeitungen
kehren in regelmäßigen Zwischenräumen Geschichten vom schlafenden Berg-
mann oder der schlafenden Jungfrau wieder, die angeblich schon seit Wochen
tief schlafen. Dabei handelt es sich meist nicht um Somnambulismus oder
dergleichen, sondern um katatonische Stuporen. Auch manche Jahimarkts-
und Panoptikumswunder gehören wohl in diesen Zusammenhang: auch auf
suggestivem Wege (Hypnose) lassen sich solche (dann psychogene oder
hysterische) Stuporzustände erzeugen. Schließlich wird auch manche selt-
same Erzählung von Wundern aus der Heiligen- und überhaupt der Religions-
geschichte auf der Beobachtung von Stuporen und ihrem gelegentlich ganz
plötzhchen Beginn und Ende beruhen. Freilich werden jene Erzählungen
dadurch an sich nicht weniger seltsam, denn das Phänomen des Stupors
selbst und seiner plötzlichen Lösung ist vorläufig jeder Theorie unzugänglich ^
Über die subjektive Seite der Sperrung, des katatonischen Stupors, vermag
man von den Kranken selbst meist keine gute Auskunft zu erhalten. Dagegen
klagen die depressiv gehemmten Kranken oft in eindrucksvoller Weise von
ihrer Abuhe:
„Sie habe überhaupt nichts mehr tun können, habe sich schon morgens kaum zum
Aufslehen entschheßen können; gekocht habe sie den ganzen Winter nicht, hätte den
ganzen Tag simuheren können, sei ganz schlappig geworden." (Psych. Klinik, Heidel-
berg, Genoveva Bäumler, 5. Mai 1909.)
Das Gegenstück ist die Tobsucht. Dies ist freilich mehr eine Bezeich-
nung des Laien ; der Fachmann gebraucht Heber den Ausdruck „Erregungs-
zustand" in der Erkenntnis, daß es alle Grade eines solchen Bewegungs-
überschusses gibt. Die Zahl und die Energie der Bewegungen und ebenso
der rein seehschen Regungen ist oft gleichermaßen vermehrt; nur selten
betrifft die Hyperfunktion entweder die motorische oder die geistige Seite.
Der normale Mensch kennt die subjektive Seite des leichtesten Erregungs-
zustandes vom Gefühl des Angeregtseins her: nach einer fesselnden, erlebnis-
reichen Abenddiskussion hat man nicht das Bedürfnis, schon nach Hause
zu gehen; nach Schluß eines lebhaften Vortrages redet der Redner auch
im kleinen Kreise laut und aufgeregt weiter, oder er läuft mit großen
Schritten umher. Jeder, der einen leichten Rausch kennt, kennt dabei auch
die besondere Willenslage übermäßiger motorischer und vorstellungsmäßiger
Bereitschaft. Schwerere Erregungszustände kommen bei allen möglichen see-
lischen Ausnahmezuständen und Erkrankungen vor.
Hier ist nicht der Ort, auf die allgemeinen Beziehungen der Willenssphäre
zur Gefühlssphäre einzugehen. Hier ist daher auch nicht zu erörtern, wie
es wohl erkläi't werden möge, daß in der großen Mehrzahl der Fälle mit
* Neben dem katatonischen, melancholischen und hysterischen Stupor kommen auch
bei organischen Himerkrankungen Willenstörungen vor, bei denen vor allem die
Initiative schwer beeinträchtigt ist. Auf Geheiß führen diese Kranken alles aus, von
selbst fast nichts. (Bei der Grippe-Enzephalitis, nach Hirnschüssen oder bei sonstigen
Hirnherderkrankungen, siehe z. B. Balint [6]). Auch die Langsamkeit der Ausführung
ist bei diesen Kranken oft bemerkenswert. Vgl. Erich Stern (3o5b)
WILLENS- UND GEFOHLSSTORUNG ^23
einer Heininunfj gerade eine Scliworniut vorknüpft ist^ Gegenüber dem
ilepressiven Stupor ist die Zahl der manischen Stuporzuständo verschwin-
dend gering. Aber an sich sind diese l)e|)ressionen natürhch auch schon
abnorm tUirch den Grad ihrer eigenen Intensität. Alle Gemütszuslände
können dem Grad nach abnorm werden. Ks erübrigt sich wohl ihre Auf-
zählung. Deskriptiv ergeben sie keine besonderen Schwierigkeiten. Da man
die Affekte selbst aus eigenem Erlebnis kennt, so vermag man sich auch
in ihre gesteigerten Grade leicht hineinzuversetzen. Immerhin bereichert
auch hier die Erfahrung des Abnormen den Forscher. Oft wird ein Moment
erst in seiner Übertreibung recht klar, l nd die Psychiatrie liefert die Be-
sclireibung der äußersten Gefühlsstärken.
Die Gefühle — im Lippsschen Sinne unmittelbar erlebte Qualitäten oder
Bestimmtheiten des Ich; etwas das ich bin, nicht das ich habe- — sollen
an dieser Stelle nicht daraufhin betrachtet werden, ob ihre Intensität dem
Anlaß (Motiv) ents[)richt; hiervon ist später die Rede. Die Stärke eines
wohlbekannten Gefühls kann weit über das durchschnittliche Maß hinaus-
ragen, aber es gibt auch Persönlichkeiten, deren sämtliche Gefühlsmöglich-
keiten dauernd unter normal erscheinen (siehe unten). So sehr das Gefühl
eine Ichqualität ist und daher eigentlich nur subjektiv untersucht werden
kann, vermag man der Angabc der Aussagenden selbst doch nicht immer
zu trauen. Es gibt nämlich krankhafte Zustände, in denen die Erkrankten
sich über den Mangel aller Gefühle beklagen oder einzelne Gefühle zu ver-
missen behaupten. Dabei ist es nicht so, daß sie nur nicht mehr so an-
sprechbar sind wie früher, daß etwa dasselbe Erlebnis ihnen nicht mehr
den gleichen Eindruck macht wie sonst, sondern sie beteuern, daß manche
Gefühle ihnen ganz abhanden gekommen seien. Nicht nur die Fähigkeit
zur Freude, zm- Lust jeder /Vrt sei verloren ^ — dies könnte man z. B. bei
großer Traurigkeit ja leicht „verstehen" — , sondern auch das Mitleiden,
^litgefühl sei verschwunden; jede Teilnahme, jede Erregung um eigene oder
fremde Schicksale, jede Spannung auf den Ausgang irgendeines Geschehens
sei unmöglich. Solche Kranke äußern etwa: sie seien gefühlsleer, wie ab-
gestorben, versteinert usw.
— — .AVeinen kann ich überhaupt nicht mehr, ich bin ganz starr." — — ,,lcli
habe i4 Tage lang kein inneres Gefühl gehabt." — — ,Jch habe keine Liebe
mehr zu niemandem." — — ,,Ich bin so unglücklich, weil ich den Mann und di)e
Kinder nicht mehr gern haben kann. Ich bin ganz tot; Sie glauben nicht, wie das
ist, wenn man seine Kinder so gern gehabt hat und jetzt, jetzt könnt' ich sie grad
sterben sehen, und früher hab' ich Todesangst gehabt, wenn nur eines gefallen ist. —
Wenn mein Mann und meine Kinder zu mir kommen, dann ist's gerade, wie
wenn ich eine Suppe ohne Salz esse." (Psych. Klinik Fleidelberg, Afra Meyer,
29. Dezember 191 1.)
1 Bei den gewöhnlichen Formen der Schwermutsanfälle des manisch-depressiven
Irreseins.
' Mit Ausschluß der Stumpfschen Gefühlsempfindungen.
3 Eine Kranke Foreis (70a, S. 20): „Ich mußte mir auch eigentlich Mühe geben.
Freude zu haben an dem, was zu meiner Ermunterung getan wurde. Die Fähigkeit,
mich zu freuen, war sozusagen erlahmt, und nur langsam erlernte ich es >vieder."
— Weitere gute Beispiele bei Schneider (282a).
24 GRUIILE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Trotz dieser „Gefühlsleere" machen solche Kranke durch Äußerungen
und Benehmen meist den Eindruck einer tiefen Schwermut. Man hat ver-
mutet, daß dieser enorm starke Affekt der Trauer die seelische Energie so
stark an sich reiße, daß für andere Gemütsregungen daneben gleichsam
nichts übrig sei. Aber man kennt andere anscheinend genau so tief depri-
mierte Kranke, bei denen das Erlebnis der Gefühlsleere ganz fehlt, und
die nur von hoffnungsloser Trauer zu erzählen wissen. Selbst bei denselben
Kranken kann man bei sonst anscheinend gleichbleibender Gemütslage die Ge-
fühlsleere kommen und verschwinden sehen. Sie ist also sicher nicht an die
Schwermut untrennbar gebunden. Deshalb hat man eine zweite Theorie auf-
gestellt: die Gefühlsleere bestünde eigentlich gar nicht, sie sei eine Selbst-
täuschung oder eine depressive Wahnidee, der Kleinheitsidee oder dem Nichtig-
keitswahn nahestehend. Ebenso wie der Kranke meine, er sei nichts wert,
sei verblödet usw. und andererseits, er sei innen hohl oder halb verfault,
oder habe keine Speiseröhre oder keinen After mehr, genau so behaupte
er auch, er habe kein „Gefühl" mehr für seine Kinder usw. Hat diese
Meinung recht, so dürfte man also eigentlich von Gefühlsleere im stren-
geren Sinne nicht sprechen. Endlich hat man analog der Hemmung, die
die Willensregungen und Denkvorgänge bei der Schwermut oft erschwert,
auch an eine Hemmung der Gefühle geglaubt und die geschilderte Gefühls-
leere als deren Ausdruck betrachtet. .Aber diese dritte Theorie verwickelt
die Sachlage eher, als daß sie sie klärt. Denn me soll man sich eine
Hemmung der Gefühle vorstellen, da doch das eine Gefühl, die schwere
Traurigkeit, nicht gehemmt, sondern im Gegenteil höchst lebendig ist? Man
müßte geradezu nur an eine Hemmung eines Teiles der Gefühle glauben ^.
In diesem Sinne ließen sich Beobachtungen deuten, die besonders an
den erschöpften Teilnehmern des großen Krieges draußen an der Front
gemacht werden konnten. Da klagten viele darüber, daß keine Nachricht
aus der Heimat sie mehr bewege, keine Todeskunde eines noch so ver-
trauten Freundes ihnen ans Herz greife. Sie seien kalt und stumpfsinnig
geworden. Hier schienen manche Gefühle wirklich nicht mehr zu leben,
aber andere waren gleichzeitig äußerst lebendig: die gleichen Menschen
konnten durch die geringsten Anlässe (einen unverdienten Tadel u. dgl.)
in heftigsten Zorn geraten. In gewissem Sinne gehört ja auch jenes so
gern benutzte Motiv einer Novelle hierher, daß ein Mensch durch ein ge-
waltig in sein Leben eingreifendes Ereignis „versteinert" wird, daß ihn nichts
mehr rührt, daß von diesem Augenblick ab seine Ansprechbarkeit er-
loschen ist, seine .\ffekte verschwinden. Er vegetiert „gefühllos" bis zum
Tode.
Solche Gefühlslähmungen finden sich auch als schnell vorübergehende
Phänomene. Ein schreckliches Ereignis ruft dann nicht eben den Affekt
der Furcht, des Entsetzens hervor, sondern der Betreffende ist plötzlich
aller Gefühle bar, während sein Denken, seine Vorstellungen dabei nicht
1 Theorien über den Ursprung solcher Gefühlsstörungen gehören nicht hierher. Auch
sei nur nebenbei erwähnt, daß die geschilderten .\nomalien hauptsächlich bei Schwermuts-
anfällen des manisch-depressiven Irreseins und bei psvchopathischen Ausnahmezuständen
vorkommen. In den Verläufen schizophrener Verblödung erscheinen sie nur selten
und meist nur angedeutet im Beginn des Leidens.
GEKCIILSARMIT 25
nur woitor K>1)imi, sondern sogar l)oson(I(Ts lohliall iitul scharf rrsclKMiien.
Baolz (S") l)fsi-hrolbl oinon solchon Zustaml beiin uncrwarli'lon lünlrill oinos
großen Knlbebens.
In ganz, anderem Sinne kann man Non einem Fehlen der (lefidde in
jenen Fällen sprechen, ilie der ..nionil instinilv", dem geborenen Ver-
brechertum angehören. Fs sind dies Menschen mit angeborenen Mängeln
der (.iemülss[)häre. Die besonders in der volkstümlichen Literatur oft ge-
brauchten Auisdrücke — Schwäche des moralischen Fmpfindens, sittliche
Defekte usw. — leiten irre. Solche Persönlichkeilen haben keine angebo-
renen Ausfälle moralischer „Vorstellungen". ( berhaupt braucht ihr \ or-
stellungsleben keineswegs arm zu sein. Was ihnen fehlt, ist die Mctglich-
keit mannigfacher (i ef ü hlsregungen ; ihr Ge m ül ist arm. Ihre Ans[)rech-
barkeit ist so gering, ihr (lemüt so stumpf, dabei ihr Triebleben so roh,
ihre Aktivität so gewaltsam, daß sie vor dem Verbrechen nicht bewahrt
werden können. Da sie fast keine Gemütsretjunirsdispositionen besitzen, mit
denen bestimmte gedankliche Inhalte \ erknüpft wertlen können, gehören
sie auch zu ilen schwer Frziehbaren, l nverbesserlichen '. Aber man ver-
meide die Bezeichnung des moralischen Schwachsinns. Der Ausdruck
„Schwachsinn" sollte für die Defekte der formalen Intelligenz vorbehalten
bleiben, und um einen solchen handelt es sich oftmals beim geborenen
Verbrecher nicht.
Das tberwiegen einer bestimmten Gefühlslage im abnormen Grad kann
angeboren sein. Fs £ribt Persönlichkeiten, denen das ijanze Leben dauernd
in Trübsinn getaucht ist-. Die alte Temperamentslehre hat sie als Melan-
choliker bezeichnet. Der Sprachgebrauch neuerer Zeit bewahrt diesen Aus-
druck dem eigentlich kranken, dem an einer Melancholie leidenden, vor.
Es gibt ein Gemütsleiden', bei dem ohne jeden seelischen Anlaß sich das
Gemüt verdüstert; alle fröhlichen Regungen fallen aus: nichts macht melir
Freude; kein Ziel \ erlockt. Das Leben erscheint nicht mehr lebonswert,
jede Tätigkeit dünkt dem Schwermütigen sinnlos. Kommt noch (wie so
häufig) die oben beschriebene Hemmung hinzu, so verharrt der Kranke in
hoffnungsloser Resignation.
In anderen Fällen gesellt sich dem Trübsinn die Angst*. Gräßliche
Befürchtungen steigen auf:
Draußen wird ein Grab poschaufolt, um die Kranke lebendig zu begraben — nebenan
werden die Kinder gemetzelt , gleich kommt auch sie daran — -. eine Kiste wird ge-
zimmert imd innen mit iNägeln ausgesciilagen, damit der Kranke darin eingv^perrt
und stundenlang gewälzt werde. Die ,\ngst treibt ilin dann mchl selten zum Selbstmord,
um ienen grauenvollen Schicksalen zu entgehen. Oft stürzt ihn aber auch die Ver-
zweiflung in seltsam sinnlose Handlungen: er zündet seine Werkstjtte an, er springt
kopfülicr in ein ganz flaches Wasser und bleibt darin sitzen, er klettert in der Todesangst
auf einen ganz hohen Baum (Raptus melancholicus). — Ich lernte im großen Kriege
1 Vgl. hierzu meine Ausführungen in Grüble (98), S. 397 ff. und die dortselbst
angeführte Literatur.
^ Konstitutionell deprlnuerle. Vgl. Reiß (261 V
* Manisch-depressives Irresein.
* Über Angst bei Kindern s. Hall (loa). Angst im Traum siehe dortselbst.
26 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
einen Infanteristen kennen, der sich aus maßloser Angst vor den Schrecken der Schlacht
aus der Deckung des Schützengrabens hinaus auf einen exponierten Geländepunkt-
schlich und sich dort mit dem Revolver eine Kugel in die Brust schoß.
Man hat früher geglaubt, daß in solchen und ähnlichen Fällen schreck-
liche Vorstellungen die maßlose Angst erzeugen. Man ist heute eher
umgekehrt orientiert: die Angst erzeugt jene Vorstellungen, — oder viel-
leicht besser, sie äußert sich, offenbart sich in ihnen. Sie seien in diesem
Zusammenhang nur als ein Merkmal erwähnt für den außerordentlichen
Grad, den solche depressiven Affekte annehmen.
Gelegentlich ist der Ausdruck solcher Gemütsbewegungen ganz bizarr: eine ältere,
an einer ,.Jammcrmelancholie" leidende Frau läuft händeringend von Krankensaal zu
Krankensaal: ,,Ach, die vielen Frauen und die schrecklich vielen Betlslellen und so
viel Handtücher, ach Gott, ach Gott, was sollen v,-ir denn da maciien.'"
Mit dem Gefühl der Angst paart sich in manchen Fällen ein peinigender
Zustand der Ratlosigkeit. Andere toben ihre Dysphorie in einer Art
seeUscher Selbstzerfleischung aus:
Sie seien nicht lo mal, nein looo mal, nein lo ooo mal, nein trilliontelmal verdammt,
sie seien die schlechtesten Personen unter der Sonne, müßten ewiglich im Fegefeuer
schmoren, seien der ewige Jude, würden nie sterben, sondern müßten ihr Leid in alle
Ewigkeit tragen.
Endlich äußern sich die maßlos gesteigerten Un Seligkeitsgefühle noch in
Äußerungen des „Nihilismus", Sie seien ganz zusammengeschrumpft,
seien winziger als das Tüpfelchen über dem i, sie hätten keinen Mund
mehr, keine Eingeweide, seien innen ganz verfault. — Wenn ich hier bei
dem Kapitel der abnormen Intensität der Gefühle alle diese Äußerungen
anfülire, so geschieht es, um die Stärke dieser krankhaften Gemütszustände
in jenen Aussprüchen deutlich und anschaulich werden zu lassen.
Jene Persönlichkeiten, bei denen die Schwermut nicht als eine eigentliche
Erkrankung, als ein Monate bis Jahre dauernder Ausnahmezustand er-
scheint (manisch-depressives Irresein, Melancholie), sondern bei denen ein
Konstitutionsmoment die Grundstimmung ein ganzes Leben lang depressiv
färbt, nennt man heute konstitutionell deprimierte oder chronisch depressive
Psychopathen. Ihre dauernde \ erstimmtheit macht sie auch oft zaghaft,
unschlüssig, sie untergräbt ihr Selbstvertrauen und läßt sie verlegen, un-
sicher und ängsthch werden (Psychasthenie).
Zu jenen Unlustgefühlen, die sich in gewissen abnormen Zuständen^
übermäßig gesteigert vorfinden, gehört ferner die Gereiztheit, Geladenheit. Auf
die geringfügigsten Anlässe reagieren diese Kranken mit großen Wutausbrüchen.
Das Schreien eines kleinen Kindes versetzt den Yerstinunten vielleicht in eine solche
Wut, daJj er seine Frau dafür verantwortlich macht und sich an ihr vergreift. Er stürzt
von Haus fort, vermag sich aber nicht zur Arbeit aufzuraffen, macht blau und treibt
sich in den Anlagen oder Wirtschaften der Stadt umher. Beim Bier führt er wilde
Redensarten über die Ungerechtigkeit der Welt: überall gebe es nur Lumpen, die den
kleinen Mann drückten usw. Leicht kommt es zum Streit, zum Ziehen des Messer?
und zu einem schweren Affektdelikt.
Man kann sich bei diesen Verstimmungszuständen nicht des Eindrucks
erwehren, daß hier auch qualitativ abnorme Momente hineinspielen. Bei
1 Bei der Epilepsie und der epileptoiden Psychopathie.
GEMÜTSVERSTIMMUNGEN. ABNORME CHARAKTERE 27
dem Problem des impulsiven Fortlaufens (siehe Seite 30) wird hiervon
nochmals die Kedc sein.*
Es ist merkwürdig, dali in manchen dieser endogenen Verstimmungen
auch die Sexualsphäre abnorm erregt ist. Die dumpie Geladenheil sucht
nach irgendeinem gewaltsamen Ausbruch, die gewaltige S[)annung will irgend-
wie abreagiert sein. Hierdurch kommt es gelegentUch zu schweren sexu-
ellen Gewalttaten: Notzuchtsversuchen und Lustmorden. Bei weniger gewalt-
tätigen Naturen führt die Verstimmung mit Sexualerregung zuweilen zu den
seltsameren Befriedigungen der Kntblößung: des Exhibitionismus.
Der Laie neigt dazu, alles als abnorm gelten zu lassen, was nach der
Unlustseite hin gesteigert erscheint. \\as jedoch die Lust sehr vermehrt,
gilt ihm als besonders gesund und normal. Und doch müssen ebenso die
ungewöhnüchen Steigerungen der Freudigkeit und des Übermuts als abnorm
angesehen werden. Mischen sie sich mit einer Vermehrung der Impulse,
mit einer Erleichterung der Bewegungs- und Vorstellungsvorgänge, so spricht
man vom manischen Zustandsbild.- DafS es Vergiftungen (Räusche) gibt,
die besonders im Anfang starke Steigerungen der Euphorie herbeiführen
und depressive Stimmungen beseitigen, ist allbekannt. ^
Bei den depressiven ^ erstimmungen war schon davon die Rede, daß
manche Menschen von Geburt an wehleidig verstimmt sind. Ihr Gegenstück
sind die konstitutionell Hypomanischen. Man sagt von beiden, daß sie
einen abnormen Charakter haben. .\ber es gibt außerdem noch viele andere
abnorme Charaktere (Psychopathen). Es braucht nicht gerade Lust oder
Unlust zu sein, die durch ihr übermäßiges Vorherrschen den Typus kenn-
zeichnen, sondern es können Eigentümlichkeiten sehr differenter Gefühls-
oder Willenslagen sein, die dem Betreffenden die psychopathische Art auf-
prägen.^ Könnte ich hier gründlicher zu Werke gehen, so würde ich erst
das (im Laufe der Zeiten recht verschiedenartig formulierte) Wesen des
Charakters auseinandersetzen und dann erörtern, inwieweit dieses Wesen
nun abnorm sein, d. h. inwieweit man überhaupt von abnormen Charakteren
sprechen dürfe. Hier muß es genügen, darauf hinzuweisen, daß alle diese
normalen Charakterzüge eben dem Grade nach aisnorm werden können,
und daß natürlich die Lebensführung durch die Abnormität eines Charakters
von Grund auf bestimmt wird. Man könnte etwa (wie Schleiermacher,
Sigwart, Ribot usw.) eine Tafel der Charaktere entwerfen und bei jedem
einzelnen Punkte hinzufügen, inwieweit dieser Charakter nun abnorm sein
kann. Man kann aber auch für die Zwecke der Psychopathologie ein be-
sonderes Schema der psychopathischen Persönlichkeiten entwerfen. Ich
teile hier ein solches mit, das sich beim Unterricht in der Psychiatrie in
Heidelberg bewährt hat. Es macht keinen Anspruch auf Originalität der
Erfindung und mag im gleichen Augenblick wegfallen, in dem ein anderes,
1 Die Franzosen bezeichnen unter „Blanc" einen vorübergehenden Zustand von
Unbesinnlichkeit und Gedankenleere. (Vischer, 3i8.)
'^ Eine solche Manie kommt bei der Paralyse, dem manisch-depressiven Irresein
imd kurz und angedeutet gelegentlich auch bei der Schizophrenie vor. Auch die
senile Rückbildung ist zuweilen von manischen Phasen begleitet.
^ Der Wein als Sorgenbrecher.
* Vgl. Wilmanns (326b).
28 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
besseres mitgeteilt wird. Es soll nichts geben als eine brauchbare Übersicht.
Die abnormen Charaktere sind praktisch äußerst bedeutsam. Zumal der
Kriminalpsychologe, aber auch der Pädagoge müssen sich mit den ver-
schiedenen Typen genau bekannt machen. Für die theoretische Psychologie
des Abnormen indessen ist ihre Bedeutung ziemlich gering.
Abnorme Charaktere:
1 . A k l i ^ i t ä t :
a) üboriiormal: erethischer Typus,
L) untemormal: torpider ,,
2. Grundstimmung:
a) heiter: konstitutionelle Manie (auch Abenteurer),
b) traurig: konstitutionelle Depression (Hypochondrie, konstitutionelle Neurasthenie),
c) zornmütig: Schimpfer, Polterer, Nörgler,
d) ängstlich: ängstlicher, schüchterner Typus.
3. Affektansprechbarkeit:
a) Roheit. Härte (geborener Verbrecher, moral insaility),
b) Empfindsamkeit, Beeinflußbarkeit.
Ix. Willenssphäre:
a) Energie (Kraftnaturen, Rücksichtslose, Gewaltmenschen),
])) Sch\A'äche (haltloser Typus, geborener Landstreicher, geborene Prostituierte).
5. Eigenbeziehung:
a) stark (arg\vöhnischer, leicht gekränkter, mißgünstiger, eifersüchtiger, paranoider
Typus: überwertige Idee, psychopathisrhe Paranoia),
b) schwach (vertrauensseliger, naiver, harmloser Typus).
G. U m w e 1 t V e r a r b e i t u n g:
a) starli bejaliend: Streber, Hochstapler,
b) schwach: Träumer, Phantast (auch Pseudologia phantastica),
c) stark verneinend: weltfremder Fanatiker und Prophet.
7. Selbstgefühl:
a) stark: (selbstbe^^TIßt, sicher, Herrenmenschen),
b) schvvach: Psychasthenie (Insuffizienzgefühl, mangelndes Selbstvertrauen, Neigung
zu manchen Zwangssymptomen, Angstneurose),
c) unnatürlich gesteigert (unecht): hysterischer Charakter (Verlogenheit, Suggesti-
bilität, Schauspielerei, Sensationsbedürfnis).
ABNOR.MITÄT DER ART (QUALITÄT)
Es liegt schon im Begrilf der Abnonniläl, so wie er oben zu cJeiiniercn
versucht worden ist, daß jede Qualität, die dem Durchschnitt fremd ist,
als abnorm bezeichnet werden muli. Diese (qualitativ fremdartigen Inhalte
uiul Zustände sind gleichsam interessanter als jene nur an Intensität unter-
schiedenen. Zu ihnen führen keine Übergänge: der Normale findet sie in
seiner Erfahrung nicht vor. Aber ihre Beschreibung bereitet deshalb um
so größere Schwierigkeiten. Häufig sind die Erkrankten, die über solche
seltsamen Phänomene Auskunft geben sollen, in der Totalität ihrer Seele
erkrankt: sie vermögen sich nicht mehr auf die Aufgabe einzustellen, eine
klare Schilderung zu geben ; sie stehen ihren Erlebnissen nicht mehr objektiv
gegenüber. Oft muf5 man Äußerungen auffangen, die etwa im Affekt eines
halluzinatorischen Erlebnisses herausgestoßen werden, oder man muß die
Wahrheit rückschauend aus Niedei Schriften oder Verhören rekonstruieren,
die längere Zeit nach dem Erlöschen des krankhaften Zustandes aufge-
nommen worden sind. Endlich wird die Treue der Aussage über ein ab-
normes Phänomen gelegentlich dadurch verfälscht, daß der Berichtende sich
an der Aussage freut, in der Fabelhaftigkeit seiner eigenen Erlebnisse schwelgt
oder sich interessant zu machen versucht. Und es wären aus der Literatur
leicht Arbeiten nachzuweisen, die auf den deutlich konfabulierten Aussagen
abnormer Persönhchkeiten aufbauen und daher gänzlich irrige Folgerungen
ableitend
Bei den Empfindungen vermag man ziemlich selten abnorme Quali-
täten im Gebiet des Geruchs- oder Geschmackssinnes festzustellen.
,,Er empfand im Beginn des Anfalls einen sehr unangenehmen Geruch, einen ,schreck-
lichen', wie er ihn nie gehabt, der während des Anfalls anhielt." (Sander, 278, S. 235).
,,Sie roch die verschiedenartigsten Dinge, die sie nicht näher bezeichnen und deuten
konnte und wofür sie keine Namen hatte, wozu aber objektive Veranlassung durchaus
nicht vorhanden war. Der Geruch war gerade nicht unangenehm oder lästig, mitunter
sogar mit einem Gefülil von W ohlbeliagen verbunden." (Lockemann, i85.)
Auch der Gesichts- und Gehörsinn, so häufig auch Sinnestäuschungen
in diesen beiden Gebieten lokalisiert werden, bringen qualitativ kaum etwas
Abnormes, sondern die Gemeinempfindungen des Körpers aus der Sphäre
des Tastens, der Temperatur, des Druckes, der Lage, des Schmerzes liefern
die der .Vrt nach abnormen Eindrücke. (Hitzig [123 a] gebraucht den Ausdruck
„Selbstempfindungen".) Vor allem Empfindungen, die im Leib und im Kopf
1 Der Erfahrene ist immer wieder von neuem erschreckt, hei der Lektüre der Werke
theoretischer Psychologen zu sehen, was sich jene wirklichkeitsfremden Autoren alles
weismachen lassen. Auch Österreicli gehört leider hierzu.
30 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
lokalisiert werden (Organempfindungen) \ werden von den Betroffenen in
recht seltsamer Weise beschrieben. Der Unerfahrene darf freilich nicht
übersehen, daß gelegentlich ein Wahnkranker höchst merkwürdige Schilde-
rungen von Sensationen liefert, die doch nur dem Grade nach von der ge-
wöhnlichen Erfalirung verschieden sind. Er schildert dann nur aus seinen
Wahngedanken heraus; diese sind das .\bnorme. Auch macht sich gelegent-
lich ein Rentenquerulant dadurch wichtig, daß er die unglaublichsten Aus-
drücke z. B. für irgend ein gewöhnliches Erlebnis des Kribbeins wählt.
Aber es gibt andererseits zweifellos Empfindungen, z. B. im Kopf, bei denen
die Erkrankten von selbst betonen, daß diese Qualen mit gewöhnlichen
Kopfschmerzen gar nicht zu vergleichen seien. „Kopfweh", — das sei ihnen
von früher her wohlbekannt, aber dies sei etwas Neues, nie Dagewesenes.
Meist hat die Sprache keine Bezeichnungen zur Verfügung, die diesen
Kranken charakteristisch genug erscheinen. ^ Deshalb greifen sie zu dem
Mittel der Umschreibung, des Bildest
„Es war mir, als ob der Kopf hinten einen Buckel bekäme, ich fühlte ihn
ganz deutlich wachsen, und doch überzeugie ich mich durch Abtasten mit der Hemd
und im Spiegel, daß nichts von einem Buckel zu sehen war (Zwangsempfindungen). —
Ich merkte (ohne Spiegel), daß sich meine Gesichtszüge veränderten, sie nahmen einen
tückischen, boshaften Ausdruck an. — Ein eisernes Band scheint den Kopf zu
umscUießen und ihn immer enger und enger zusammenzupressen. — Einzelne Sclinurr-
barthaaro werden herausgewaindert." (Schreber, 284, S. 1/I9.)
„Sie habo immer das Gefühl gehabt, das Gehirn schwebe zwischen Himmel und Erde,
wie wenn es mit Wasser mid Blut gespannt voll wäre." (^Psych. Klinik, Heidelberg,
Genoveva Bäumler, 5. Mai 1909),
„Im Leib ist es, als wenn alles lebe, als wenn Tiere darin herumkröchen. —
Tvleine Lunsrenflüffe] waren zeitweise nahezu völlig absorbiert, ob nur durch die Tätigkeit
des Lungenwurms oder auch durch Wunder anderer Art vermag ich nicht zu sagen; icli
hatte die deutliche Empfindung, daß mein Zwerchfell ganz ob«n in der Brust fast un-
mittelbar unter dem Kehlkopfe saß und nur noch ein kleiner Rest der Lungen dazwischen
sich befand, mit dem ich kaum zu atmen vermochte." (Schreber, 28/i, S. i5o.)
„Manchmal schien alles in mir lebendig zu werden. Mein Körper wurde oft außer-
ordentlich elastisch, biegsam, und ich möchte sagen plastisch, mein Becken . , . auffallend
klein und schmal." (Staudenmaier, 3o3, S, 121.)
„Ich Jiabe zu öfteren iMalen kürzere oder längere Zeit ohne Magen gelebt , . .
Manchmal wurde mir unmittelbar vor der Mahlzeit ein Magen sozusagen ad hoc ange-
^^uIlde^t . . . Freilich war dies nie von langer Dauer; den mir angewunderten, übrigens
auch nur minderwertigen Magen wunderte mir die v. W.sche Seele in der Regel
1 Es sei daran erinnert, daß normalerweise den meisten einzelnen inneren Organen
keine Empfindungskomplexe zugeordnet sind, die über deren Existenz und Lage
Aufschluß geben.
-^ Es ist dies ja selbstverständlich: die Sprache ist nur die Summe aller Ausdrücke
für das Normale. Die geistig Abnormen sind keine Gemeinschaft, die unter sich eirje
eigene Fachsprache für diese Sensationen schaffen könnten. Und selbst wenn jemand
glaubte, in den großen Landesanstalten, in denen die Kranken oft Jahrzehnte zusammen-
leben, müßte eine solche Sprachschöpfung möglich sein, so möge er bedenken, daß es
sich hier um höchst subjektive Phänomene handelt. Kein Kranker kann den andern
davon überzeugen, daß beide dasselbe Erlebnis teilen, und nur in den wenigen später
zu erörternden Fällen des Gedankenmachens, des Gedankenabziehens usw, finden die
Psychotischen gelegentlich die gleiche sprachliche Bezeichnung.
^ Seltsame Mißempfindungen s. z. B. bei Serko (29^).
MISSEMPFINDUNGEN 31
noch während der bclreffondcn Mahlzeiten wieder ab . . . Die penoäscnen Speisen
und Getriinke ergossen sicli dann olmo weiteres in die Bauchliühlo und die Obcr-
sclienkel, ein Vorgaiip, der, so unglaubücli er klingen mag, nach der Djullichkeit der
t]nipfindu;i;.' für micn außer allem Zweifel lag." (Schreber, 28/4 S. i5i/2.)
Im folgenden Beispiel vermischen sich Halluzinationen in seltsamer Weise
mit abnonnoii Ein[)fin(lungen, wobei der Kranke interessanter Weise das
\ erstand 11 is halluziniorter Worte mit seinen kiiiäslhetischen Sensationen
in Zusammenhang bringt:
„Die Sprache kann ich hören, aber nicht verstehen, oder verstehen kann ich.
was so gesprochen wird, aber nicht erfassen . . . Jetzt geht es auch etwas zu hoch,
der Gaumen kann das nicht melir leisten." Sein Gaumen und sein Gurgelknopf
seien beschädigt, er müsse mehr den Oberkopf sprechen lassen. Früher konnte er
die drei Irrenhäuser verstehen, das sei ihm aber jetzt zu hoch, das geistige Bild sei
jetzt zurückgegangen, er könne nicht mehr lesen. In Friedrichsberg sei es das
.Maschinensprechen gewesen, jetzt könne er die hohe Sprache nicht mehr finden.
Es körme möglich sein, daß er bald nicht mehr weiter sprechen könne. Der Gurgel-
knopf habe ihn geistig demoliert, so daß er nichts mehr verstehen körme. Dio
Sprache, dio ihm früher gehörte, habe er jetzt nicht mehr, weil der Gaumen be-
schädigt sei. (Otto Stoff, 23. XI. 09, Langenhorn.)
Auch das Gleichgewichtsempfinden ist oft seltsam gestört, z.B.
bei beginnenden Ohnmächten schwindet alles „Gefühl" der Schwere, alles
Irdische fällt ab, engelgleiche Leichtigkeit leitet wundervoll über in das
Bewußtsein des Nichts. Auch in manchen Räuschen, in der Luft des Hoch-
gebirges, bei schnellen Luftdruckschwankungen entstehen solche Sensationen
des Schwebens oder des Gegenteils: des Gelähmt- oder Gebanntseins. Viel-
leicht ist schon das besondere .Allgemein^ — „gefühl", welches bei den meisten
Kranken das Fieber zu begleiten pflegt, qualitativ etwas Eigenartiges^.
Manchen Kranken genügt nicht der Vergleich, das Bild, um die Seltsam-
keit der Sensationen zu bezeichnen: sie greifen zu W^ortneubildungen
(Neologismen). (Kerners Seherin 150, S. 234.)
„Ihr Schlaf sei so ,sirisch und verzweiflungsvoll'. Die Verdauung sei rundum ge-
gangen, es habe den Rückstrang gehoben, und der Schlaf sei hinten oben raus-
gekommen, dabei habe es den Rückstrang so auf und ab gerissen. Der Kopf war
wie neblig, wie zugeklappt, als wenn sie gähnen müßte. Die Ruhe war ganz nervös,
lag immer um den Leib und im Rückgrat. — Einmal \\'urde ihr aus dem Rücken
ein Rosenkranz gezogen, Perle für Perle habe sie den Schmerz empfunden." (Luise
Leber, 2. IV. 10, Psychiatr. Klinik, Heidelberg).
„Ich halte eine Todesnacht. Auf der linken Seite her war es völlig abgebrannt
bis in die Mitte des Leibes, die Gebärmutter, das, was die Lebensessenz in Natur
enthält, das hat er mir abgebrannt, abgerissen, das gab sich herunter. An der Lungen
und im Herzen hat es immer gemacht betteltet; hinten ist es zum Darm hinaus.-
gefr.hren wie ein Schuß, kein Stuhl, eine Flüssigkeit. Das ganze Jahr hat er mir
die Natur abgetrieben, ich bin hingefallen vor Elend, wie Dürnclien hab ich Stiche
im Rücken gehabt. Dann hab ich auch Tierchen mit hineingegessen, schleimartige,
schmutzige Flöckchen auf dem Kaffee von besonderem Geschmack. Im Magen haben
die sich netzartig ausgebreitet, N^e aus Seilen, an deren jedem ein Würmchen hängt;
die haben die Nerven abgebissen, da hat es gckraclit in der Brust und dem Leib wie
Knochen." (Blinde Schizophrenie. Marie Erlinger, g.I.ii, Psychiatr. Klinik, Heidelberg.)
^ Auch die gewöhnlichen Schwindelzustände gehören eigentlicli hierher.
Man vgl. hierzu die alte, vorzügliche Studie von Pui-kinje (25 1); ferner Lotze (190),
S. 4'»3; Hitzig (128 a), Pick (239 a).
32 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Taucht in der Erinnerung irgendein eigenes früheres Erlebnis auf, so
pflegen seine Einzelheiten von dem Bewußtsein der Bekanntheit, dem
Richtigkeitsbevvußtsein begleitet zu sein. Sei es, daß dieses Moment nur
eine Begleiterscheinung der einzelnen Vorstellung ist, welches auch fehlen
kann, sei es, daß es jeder Vorstellung — nur verschieden beachtet —
anhaftet, auf jeden Fall kann es abnorm gestaltet sein. Es gibt nämlich
Fälle, in denen eine genaue kühle Beurteilung einer Situation das Gewißheits-
urteil ergibt: sie ist neu, und trotzdem haben die Einzelheiten, trotzdem
hat ihre Zusammenordnung den Charakter des „Dejä vu" (Fausse recon-
naissance).
Ich trete in eine fremde Wohnung ein, um einen Besuch zu machen, und muß in einem
Zimmer einige Minuten warten. Und obwohl ich bestimmt weiß, daß ich noch nie-
mals in diesem Zimmer war, glaube ich plötzlich, genau die gleiche Situation schon
einmal erlebt zu haben. Bis in alle Einzelheiten geht diese Täuschung; jedes Bild,
jede Vase, die Zusammenordnung des Ganzen kommt mir gerade so, wie ich sie
jetzt sehe, bekannt vor.
Natürlich braucht sich diese Täuschung nicht nur auf Optisches zu er-
strecken: auch ein Gespräch hat gelegentlich durchaus den Charakter des
schon einmal Erlebten (De/d entendii). Zuweilen kann die Täuschung solch
lebhaften Grad erreichen, daß ich trotz gegenteiliger Überzeugung fast
zwangsmäßig grübeln muß, ob ich nicht doch zum mindesten etwas ganz
Ähnliches schon einmal erlebte. Ja, das Phänomen kann sogar so genau
ausgeprägt sein, daß sich die Überzeugung einstellt, es muß lange oder
es muß kurze Zeit her sein^. JMeist währt das Erlebnis einer fausse recon-
naissance nur einige Minuten, doch gibt es eigentliche Geisteskranke, bei
denen es ohne Unterbrechung Jahre andauert. In manchen Fällen bezieht
es sich so einheitlich "auf jedes Einzelmoment des Alltagslebens"^, daß
der betreffende Kranke glaubt, ein zweites Leben als völlig getreue Nach-
ahmung eines ersten Lebens wiederholen zu müssend
Im Gegenspiel zum Dejä vu kann eine Wahrnehmung, die ich (kühl
urteilend) als sicher bekannt feststelle, den Charakter der Fremdartigkeit
annehmen. Ich weiß, dies ist mein Zimmer, es sind meine Bücher, und
doch kommen sie mir so eigenartig fremd, fern, unwahrscheinlich vor.
Ich werde dadurch vielleicht an meinem Bekanntheitsurteil nicht irre, aber
ich weiß doch genau, daß ich etwas Besonderes, Eigenartiges erlebe. Diese
Entfremdung der Wahrnehmungswelt hat zwar mit den Vorstel-
lungen, d. h. den Erinnerungen und ihrem Bekanntheitscharakter eng zu
tun, doch leitet sie andererseits zu den Störungen des Icherlebnisses über
und wird daher dort nochmals erwähnt werden.
^ In der schönen Literatur ist dies Moliv oft verwertet wortlen. Fischer (62)
stellt eine ganze Anzahl Belegstellen zusammen. Seiner Studie entnehme ich auch, daß
A. L. Wigan in Duality of Mind i8^4 das erstemal darauf aufmerksam gemacht
haben soll. Vgl. ferner Dromard (54), Bernard Leroy (19), Heymans (117), Janet (i36);
Ballet (Ca), Anjel (5): Dejä vu als Ermüdungserscheinung. — Kräpelin (162) bringt
auch eine Auseinandersetzung mit der älteren Literatur (bis 1886).
2 Ballet (6 a).
■s Einer der Ursprünge des Glaubens an tlie Seelenwanderung. Über das Dejä VU
der Geisteskranken vgl. Rosenberg (269). Dort auch die elegant erdichtete, völlig
außer jeder Erfahrung schwebende Theorie Bergsons.
ERINNERUNGSTÄUSCm ■^GE^J 33
Man muß uiilorsc-luMdou : ein aktuelles ICrlcljiiis ^ kann:
1. riilitii,' beurloilt werdt'u Irol/. des IMiänoinens des drja vrcii,
2. l'alsch „ „ \vef,'en „ „ „ „ „
3. riclitig „ „ trotz ,, „ der l'ji Urem düng,
4. l'alsch „ „ wegen „
Pick (240) schildert z. B. einen Schizophrenen, dem Mozartsche Melodien
beim Anhören jedesmal als schon von ihm erdacht erscheinen. Der Kranke
nennt dies „Uecidive in den (Jedanken". Lemaitre (172) macht auf jene
Fälle aufmerksam, bei denen die Kranken glauben, das nämliche Erlebnis
schon geträumt zu haben. Er deutet dies gleichsam als einen Ausweg
aus dem Bewußtsein des Widerspruchs zwischen dem richtigen I'lrlebnis-
urteil („es ist neu") und dem iloch_ vorhandenen Bekanntheitscharakter.
„Da ich es tatsächlich noch nicht erlebt haben kann, und da es mir doch
so bekannt vorkommt, muß ich es wohl so geträumt haben 2."
In gewissem Sinne verwandt mit dem eben erwähnten Erlebnis des
Pickschen Kranken ist ein weiteres: dort erscheinen Melodien nicht nur
schlechtweg als bekannt (also schon erlebt), sondern von ihm erfunden;
hier sind Cieschehnisse zwar nicht wirklich bekannt (also nicht schon erlebt)
aber von früher „bestmimt", freilich seltsamerweise nicht von der Kranken
vorausbestimmt, also prophezeit, sondern ganz allgemein vorausbestimmt.
,,Es sei ihr immer vorgekommen, als ob alles, was geschehe, vorausbestimmt sei.
Erst bei den anderen, dann bei sich selbst. Selbst die alltäglichsten Dinge." (Psychiatr.
Klinik, Heidelljerg, Mihi Schild, i3. V. i5.) (Siehe auch unten.)
In manchen krankhaften Zuständen ^ zeigen sich Störungen der Bekannt-
heitsqualität in dem Sinne, daß irgendein Vorstellungskomplex — sei
es ein Ereignis, von dem andere erzählten, sei es eine eigene Phantasie-
vorstellung, sei es ein Traum — als real selbst er lebt beurteilt wird. Hier
stellt sich also nicht nur das Bichtigkeits- oder Bekanntheitsbewußtsein
(gleichsam als seltsamer Nebenbefund bei sonst korrektem Urteil) ein, son-
dern das Urteil selbst wird verfälscht: der Kranke glaubt etwas wirklich
erlebt zu haben, was er tatsächlich nur träumte oder dichtete (Pseudologia
phantastica)^ oder was er zufällig irgendwie von anderen erfuhr. Man spricht
dann von Erinnerungstäuschungen^. Aber endlich gibt es auch Fälle,
' Es kann auch motorisch sein. Vgl. Lemaitres (17^) Paramnesie kitietique (Dejä
execute).
2 Daß hierher viele Überzeugungen von Prophezeiungen gehören, ist sichergestellt.
Hierüber siehe später bei dem ,, zweiten Gesicht". Dromard-Albes (54) und .lanct (i36)
machen darauf aufmerksam, daß gelegentlich das Z)fyV/-VU- I^riobnis aus dem andern
der Entfremdung der Wahmehmungswelt erst hervorgeht. Zur Entfremdung vgl.
Schneider (282 a) und Schilder (281).
3 Besonders bei dem Korsakovvschen Symptomenkomplex und seinen Konfabulationen
(beim Kopftrauma, Alkoholismus, Senium) und (seltener) in erlebnisreichen Phasen
der Schizophrenie.
^ Eine besondere Rarität ist die negative Paramnesie Lemaitres (172, S. ii/|):
Der Kranke glaubt, soeben etwas gefragt zu haben und erwartet ungeduldig die Ant-
wort: Nun? — obwohl er durchaus nichts gefragt hat.
^ Es sei auch daran erinnert, daß alle nur einigermaßen phantasiebegabten Kinder
in einer gewissen Zeit ihrer Entwicklung Pseudologisten sind. Man denke an das
vielgenannte Beispiel aus Gottfried Kellers ,, Grünem Heinrich", I, Kapitel 8, S.87 — 92.
3 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
34 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
in denen die Kranken einen Vorstellungskomplex oder einen Gedanken,
den sie soeben wirklich vollzogen haben, in unrichtiger Weise als von
früher her bekannt auffassen und daher fälschlich weit in die Vergangen-
heit zurückschieben. So entsteht z. B. eines Tages in einem VVahnkranken
unvermittelt der Gedanke, er werde von seiner vorgesetzten Behörde ver-
folgt, und sogleich stellt sich die Überzeugung unverrückbar ein, daß er
dies dem Benehmen seines Amtsvorstandes schon vor 10 Jahren angemerkt
habe, als er sich jenem zum Dienstantritt meldete. In der Tat aber hat
er damals vor 10 Jahren gar nichts bemerkt: es hegt eine Erinnerungs-
fälschung vor (Rückdatierung) 1.
Von der Erinnerungsfälschung — Phantasma des Gedächtnisses — (ein
überhaupt nicht Erlebtes wird als erlebt vorgestellt) unterscheide man
(mit G. E. Müller 215 III, S. 320) die 'Erinnerungsverfälschung: ein erlebtes
Ereignis wird in der Erinnerung entstellt. Daß hierzu manche Gemüts-
kranke besonders neigen, ist begreiflich. So ändert der Melancholiker viele
seiner früheren Erlebnisse im Sinne schwermütig pessimistischer Auffassung
ab; der Manische schmückt sie in lustig-übermütiger Weise aus. Alle diese
Verfälschungen würden in das Gebiet der Psychologie der Aussage
hineinführen. Man kann auch gelegentlich feststellen, daß die Erinnerung
an ein früheres wirkliches Erlebnis dadurch verfälscht worden ist, daß über
die Tatsachen schon einmal eine irgendwie entstellte Aussage erfolgte (ent-
stellt vielleicht im Scherz oder in bewußter Übertreibung), und nun herrscht
vor der sozusagen originalen Erinnerung diejenige an die frühere Aussage
vor. (G. E. Müller 215 III, S. 308.) — Oft werden nicht die Einzelheiten eines
Erinnerungskomplexes, sondern nur seine zeitliche Entfernung von der
Gegenwart verfälscht 2. G. E. Müller führt noch mancherlei Einteilungen der
Erinnerungsfälschungen an : additive und subtraktive (Wernicke), positive
und negative (Oetiker), und er teilt die positiven wiederum ein in die freien
Falscherinnerungen und in die mit nur falscher zeitlicher Lokalisation,
ferner in die akzessorischen usw. (215 III, S. 322.) Doch beleuchten diese
Schemata das ganze Problem nicht eben hell 2. Eine besondere Form der
Fehlerinnerung (Paramnesie) ist auch jener Fall, bei dem ein wirk-
liches einheitliches Erlebnis in der Erinnerung sich spaltet, indem sich
seine Kontinuität in mehrere gleichartige, aber doch nicht aufeinander be-
zogene Erlebnisse zerlegt (reduplizierende Paramnesie). Ein solcher Kranker
erinnert sich z. B. sehr wohl, mit einem Herrn Pick mehrmals zu tun
gehabt zu haben — vielleicht waren es auch verschiedene Picks — , aber
jedenfalls deckten sie sich keineswegs mit diesem Professor Pick, bei dem
er sich gerade befindet, und der ihn doch in der Tat jüngst mehrmals
besuchte, (Im Semonschen Sinne: mangelnde Homophonie*.) Endlich ge-
1 Siehe besonders die ältere (1886/87) Arbeit von Kraepelin (162) und G. E. Müller
(2i5), III, S. 320 ff.
2 Eine „blasse" Erinnerung läßt schließen: „Es ist schon lange her".
3 Dies gilt auch von der Älüllerschen Aufstellung einer sechsfachen Entstehung
von Erinnerungstäuschungen in pathologischen Fällen, III, S. 348.
* Picks (246) interessanter Fall hat ein organisches Hirnleiden. Eine weitere
Spielart einer solchen Fehlerinnenong ist jener „zweite Fall" Coriats (ein Alkoholiker),
EIUNNEUl NGSFaLSCHUNGEN 35
hört als eine Spezialität auch nocij jenes I'häiioineii, das i)ei Schi/ophreneii
nicht so seilen ist, in diesen Zusainnienhan;,', dali ein krank<T bei allem,
was sich gerade abspielt, die Überzeugung hat, gerade so habe er es
kommen sehen. Er hat nicht etwa versucht, vorher irgend etwas zu pro-
phezeien, aber allem, was sich nun tatsächlich ereignet, sieht er mit über-
legen wegwerfendem Gesichtsausdruck zu: es ist mir nicht neu, ich wußto
ja längst, so nuilite es kommen. Daiuit meint er auch alle von ihm selbst
gänzlich unabhängigen Einzelheiten, etwa wenn sich ein Schmetterling in
das Zimmer verirrt. Es handelt sich also hier auch um eine fausse recon-
naissance, aber kein dejd vu, — nicht um die Täuschung über einen von
früherer Realität her stammenden Bekanntschaftsclwirakter, sondern um die
fälschhche — mit Fehlurteil verbundene — Erinnerungsgewißheit einer
früheren Phantasievorstellung ^,
Ein aufmerksamer Leser könnte hier mit Recht einwenden, daß es sich
doch bei diesen abnormen Phänomenen nicht um eine Abnormität der Art
(Qualität) der ^ orstellungen handle. Es liege nur eine falsche modale Be-
urteilung vor. (G. E. Müller 215.) Und in der Tat: die letzt geschilderten
Phänomene bergen das Abnorme nicht in der Qualität der Vorstellungen
oder zum mindesten nicht in ihr allein, sondern auch in dem angeschlossenen
Urteil. Insofern würden diese Störungen nicht in diesen Zusammenhang
gehören. Wenn man aber jene beiden ersten Symptome (das dejä vu und
die Entfremdung der Wahrnehmungswelt) betrachtet, so kommt es dort
nicht immer zu einer falschen Beurteilung, sondern nur der den Vor-
stellungen irgendwie angegliederte Richtigkeitskoeffizient ist abnorm. Dabei
sei freilich ausdrücklich zugegeben, daß hier nicht das Phänomen des
Richtigkeitsbewußtseins bzw. das Fremdheitserlebnis selbst als abnorm er-
scheint, sondern nur seine \erbindung mit einem unzugehörigen Inhalt.
Die Erinnerungsgewißheit selbst könnte überhaupt nur insofern als
abnorm gedacht werden, als jemand in der Fähigkeit wiederzuerkennen
(oder besser die Bekanntheitsqualität zu erleben) im allgemeinen geschwächt
werden oder indem er sie ganz verlieren könnte. Solche Fälle wurden
mir nie bekannt^. Der paranoide Schizophrene leistet zwar in Erinnerungs-
fälschungen gelegentlich Außerordentliches, aber er ist keineswegs all-
gemein in dieser Hinsicht gestört: neben den gröbsten Täuschungen
vermag er andere, außerhalb seiner Paranoia liegenden Inhalte völhg klar
und richtig modal zu beurteilen. Er benutzt also gleichsam den Apparat
der modalen Beurteilung formal richtig und wird nur auf Grund von ab-
normen Qualitäten seiner paranoiden Inhalte zu irrtümlichen Folgerungen
verleitet. Ist diese Auffassung richtig, so gehören diese abnormen Erschei-
nungen doch in diesen Zusammenhang, da nicht der Urteilsakt, sondern
die \'orstellungs- bzw. Wahrnehmungsform dann das .Vbnorme bergen. Der
der ein einheitliches Erlebniskontinuum in fünf Teile zerlegt, dabei aber die Inhalte
der einzelnen Erlebnisse ganz richtig miteinander identifiziert oder aufeinander bezieht
(Rosenberg [269]). — Femer Sittig (297 a).
1 Hierzu vgl. besonders Kraepelin (162).
' Die assoziative Seelcnblindheit gehört nur scheinbar hierher. Dagegen hat Dupres
Topagnosie gew-isse Beziehungen zu dem hier Gemeinten (Rosenberg, 269, S. 569).
3*
36 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Unterschied zwischen dem Dejä vu und der schizophrenen Erinnerungs-
täuschung bestünde dann nur darin, daß es im letzteren Fall zu einem
tatsächlich falschen modalen Urteil kommt, im ersteren nicht, während das
rein Phänomenale des Erlebnisses selbst in beiden Fällen gleich wäre.
Die interessante Frage nach der Ursache dieser Verschiedenheit läßt sich
zwar einfach und banal damit beantworten, daß der Kranke mit dem
falschen Urteil ja eben der geistig Kranke, der Schizoplu-ene, sei, während
das De/d-i'fi-Erlebnis (mit der richtigen Beurteilung) ja den nicht Kranken
(Psychopathen) heimsuche. In der Tat aber läßt sich psychologisch über
das Zustandekommen des geschilderten Unterschiedes noch fast nichts aus-
sagen. Man kann zwar darauf hinweisen, daß die paranoiden Erlebnisse
des Schizophrenen schon „Deutungen" sind, bei denen das rein Wahr-
nehmungsmäßige zurücktritt und in seiner besonderen Konstellation auch
nicht rückdatiert wird. Fälschlich rückdatiert wird nur ein sozusagen rein
inneres Erlebnis, nämlich der Glaube, die Überzeugung, daß — um im
Beispiel zu bleiben — der Amtsvorstand schon vor zehn Jahren in seinem
Benehmen Mißgunst ausgedrückt habe. Genauer genommen, tragen also
hier nicht einzelne Wahrnehmungsinhalte — wie beim Dejä vu — ein
fälschliches Richtigkeitsbewußtsein, sondern eine Bewußtseinslage, eine
Bewußtheit wird als schon früher einmal erlebt modal irrtümlich beurteilt.
Man könnte hieraus also folgern, daß das Wiedererkennen einer Bewußt-
seinslage oder ihre modale Beurteilung überhaupt besonders schwierig ist.
Man könnte dies vermutungsweise verallgemeinern, indem man die Er-
innerungsgewißheit bei allen rein inneren (anschauungsfreien) Erlebnissen
als besonders schwierig und unbestimmt einschätzt \ Man könnte endlich
darauf hinweisen, daß beim Dejä vu trotz falscher Richtigkeitskriterien das
richtige Urteil dennoch meist zustande kommt: „Du hast es n i c h t erlebt",
und daß bei der Entfremdung der Wahrnehmungswelt trotz der Entfremdung
das richtige Urteil meist gebildet wird: „es ist dir doch bekannt". Und man
würde mit diesen Gedankengängen mancherlei Bedenken gegen die Theorien
türmen, die die Lehre vom Urteil psychologisch allein auf dem Richtigkeits-
bewußtsein aufzubauen bestrebt sind. Doch sind dies hier nur Hinweise,
inwieweit gerade die Kenntnis des Abnormen überhaupt psychologische
Probleme zu beleuchten geeignet ist. Die besondere Frage ist viel zu ver-
wickelt, als daß sie hier ausführlich dargelegt werden könnte-.
Während man beim Dejä vu und bei der Selbsttäuschung des Pseudo-
logisten annehmen kann, daß in den betreffenden Ereignissen oder Phan-
tasievorstellungen doch einzelne Ähnlichkeiten an frühere wirkliche Erleb-
nisse vorhanden sind („Anklänge": vgl. Semons Homophonie), und daß
daher zum mindesten die Tendenz zum Bekanntheitserlebnis einfühlbar
erscheint, vermag man bei der Entfremdung der Wahrnehmungswelt gar
nicht recht näher an das Symptom hinanzugelangen. Trotz der klaren
Überzeugung, in seiner gewohnten Umgebung zu sein, trotz völlig richtiger
1 Dies würde zu den interessantesten, hier leider zu weit abführenden Gedanken
über unanschauliche Erlebnisse und ihre zeitlich© Form hinleiten.
- Vgl. dazu besonders Karl Bühlers Ausführungen in seiner geistigen Entwicklung
des Kindes (35).
FRINM.IU Nr.STÄUSCIllNC.KN — ZKIT?^1NN 37
Beurteilung der Außouwclt, ist dorh alles fremd, fern, unwahrscheiidich.
Der (lodaiiko ist daiuT nicht von der lland zu weisen, dali hier die Wahr-
nehmuiiLTen selbst überhaupt nieiit abnorm serändert sind, und dali viel-
mehr die Subjekt-Ubjekt-Bcziehung und ihr Bewuljtwerden Schaden ge-
litten hat K
Im AnschluJj an die Erinnerungsvcrfälschungcn sei auch noch des ab-
norm veränderten Zeitsinnes- gedacht. Ich will zu dem allgemeinen
Pri>l)lem selbst hier nicht Stellung nehmen. Ich hätte auch nichts dagegen
einzuwenden, wenn jemand bezvveileln wollte, ob dies Phänomen in diesen
Zusaiuiuenhang gehöre. Ich möchte hier nur erwähnen, dal5 mir keine
Störungen des Zeitsinnes in der .Vrt bekannt geworden sind, daß jemand
die „Zeitform" irgendwelcher Wahrnehmungen überhaupt verloren hätte.
Es ist zu erwarten — es ist mir nicht bekannt, ob es irgendwo exakt
nachgewiesen wurde — , daß Ausnahmezustände (z. B. Vergiftungen, Er-
schöpfungen) die Genauigkeit von Zeitschätzungen erheblich beeinträchtigen
dürften^. Doch ist dies wenig interessant, weil dann ein irrtümliches Urteil
nur auf Grund mangelhafter Beachtung von Einzelheiten der Objekte zu-
stande käme. Und wenn ich einen Augenblick ängstlicher Spannung wie
eine Ewigkeit erlebe, so vermag der vorherrschende starke Affekt nebst
seinen Wünschen wohl nur im gleichen Sinne zu stören. Sicher kommen
aber Zeitsinnstörungen von Vors teil ujggsabläufen in mehrfachem Sinne
vor. Einmal kann eine nachweisbar sehr kurze Zeitspanne von einer un-
endlich großen Zahl innerer Erlebnisse erfüllt sein, so daß ich zu ihrer Er-
zählung das vielhundertfache der Erlebniszeit brauchen würde. Und sodann
kann ein nachweisbar sehr kurz dauerndes Erlebnis in der Erinnerung
außerordentlich lange gewährt haben. Für den ersten Fall kennt jeder Bei-
spiele: der Träumende erlebt das morgendliche Rasseln des Weckers etwa
als das Glockensignal des abfahrenden Bodenseedampfers, aber diesem
Signal ging im Traum eine sehr lange Geschichte voraus, die doch von
vornherein auf jenes Signal gleichsam eingesteht war.^ Möglicherweise
spielen hier Erinnerungsfälschungen des Erwachenden hinein, vielleicht
ordnet auch erst der Wache den manifesten Traumeinzelinhalt im Sinne
der Signaldeutung nachträgUch ungewollt ein, — aber ich muß zugeben,
daß ich für das interessante Phänomen weder selbst eine befriedigende
^ Hierüber siehe später unter Iclistörung.
* Von älteren Arbeiten über den Zeitsinn sei hier Vierordt (3i7), dann
d'Allonnes (3), Becher (ii) und endlich BenussLs neue große Arbeit (17) crwähnl.
Zur Pathologie des Zeitsinns vgl. Klien (i52) und Pick (a/lS).
"^ Bei starker Merkfähigkeitsstörung (Korsakowschcr Psychose) war dies nicht
der Fall. Vgl. Gregor (92). Versuche mit Mcscalin Vergiftung in der Heidelberger
Psychiatrischen Klinik ergaben nichts Bestimmtos entgegen den Erfahrungen Serko9(2g3).
* Über Träume Vgl. Do Sanctis (277), Hacker (loi), Köhler (107) und Freud (78),
um nur weniges, sehr verschieden Orientiertos zu nennen. Über patliologische otler
abnorme Träume ist mir nichts Brauchbares bekannt (weniges in Radcsixjck [aö^J
von 1879).
38 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Erklärung beibringen kann, noch eine solche in der Literatur gefunden
habe.'
Ein anderes Beispiel für jenen ersten Fall der Zeittäuschung ist jene Er-
zählung von Menschen, die ihren plötzlichen Tod unmittelbar erwarteten
und nun in diesen wenigen Sekunden unendlich vieles erleben.
So berichten etwa Skifahrer, die von dem Luftdruck einer Lawine große Strecke«!
fortgeschleudert wurden, Bergsteiger, die abstürzten, daß sie in diesen kurzen Augen-
blicken des Stürzens noch einmal ihren ganzen LebensinJialt an sich vorübereilen
sahen, oder daß sie noch einmal aller ihrer Lieben einzeln in großer Klarheit ge-
dachten. Baclz (8) erzählt von einer Dame, die schwimmend von einem ebenfalls
schwimmenden großen, jungen Hund im Spiele immer wieder unter Wasser gedrückt
wurde und ihren unmittelbaren Tod vor Augen sah. In diesen wenigen Sekunden
erlebte sie eine lange Kette von Überlegungen: was man mit iluxjr Leiche tun würde,
was ihr Mann sagen würde usw.
Auch hierbei kann man ja annehmen, daß sich der Erlebende täuscht,
daß er etwa ganze Teile seines Lebens gleichsam in vertretenden Symbolen
gegenwärtig hat und sich keineswegs der Fülle der Einzelheiten bewußt
wird, — daß also in jener kurzen Zeitstrecke nur wenige solcher Symbole
einander jagen, — aber man muß zugeben, daß dies eine etwas vage Deu-
tung eines häufig genau geschilderten Erlebnisses ist und nur wenig be-
friedigt.
Der zweite Fall — die erinnerungsmäßig sehr lange Dauer eines nach-
weisbar kurzen Ereignisses — ■ stellt sich vor allem bei eigentlichen Psycho-
sen ein 2. Mit Merkfähigkeitsstörungen haben solche Beeinträchtigungen des
Zeitsinns aber nichts zu tun (Gregor 92).
Für den umgekehrten Fall, daß jemandem eine objektiv lange und er-
eignisreiche Zeitstrecke nachträglich äußerst kurz vorkam, vermag ich keine
kennzeichnenden Beispiele mitzuteilen. Denn die bei der Schilderung irgend-
welcher Erlebnisse (etwa eines spannenden Vortrags) häufig zu hörende
Äußerung: die Zeit verging wie im Fluge — beruht ja auf etwas anderem,
nämlich darauf, daß innerhalb des interessanten Erlebnisses keia Anlaß
blieb, auf diesen Zeitablauf selbst zu reflektieren. Nicht aus eigener Er-
fahrung, sondern aus einer Arbeit Kliens sei erwähnt, daß zuweilen auch
das aktuelle klare Erlebnis sich ungemein rasch abzuspielen scheint, d. h,
scheinbar einen plötzlichen Tempowechsel erleidet (152)-\
Bisher war in diesem Kapitel mehr von den Vorstellungsformen als von
den Vorstellungsinhalten selbst die Rede. Können nun auch diese abnorm
sein? Vielleicht erwartet mancher Leser an dieser Stelle vor allem eine
Erörterung jener Vorstellungen, die den unbezweifelbar Geisteskranken recht
eigentlich zu kennzeichnen scheinen, der Wahnideen und der Sinnes-
täuschungen.
^ Witry (826 c) beschreibt interessante halluzinatorische Erlebnisse während eines sep-
tischen Delixs. Außerordentlich lange, komplizierte Ereignisse waren in eine meßbar
kurze Zeit zusammengedrängt. Siehe übrigens weiter unten S. 268.
2 Strümpell (3ii) beschreibt nur dürftig vier Typhuskranke, die die Zeit der
Anstaltsbehandlung enorm überschätzten.
2 Klien (i52) setzt sich auch mit mancherlei Tlieorien auseinander und bringt
Lileraturangaben .
INHALTLICH ABNORME IDEEN 39
Wenn sich jemand einbildet, er sei ein zweiler Heiland der Welt, so
wird dios oft als eine abnormo Vorstellung bezeichnet Und in der Tat ist
nianclierlei ilaran abnorm. \ ielleicht entstand diese Cberzeugunj:^ ganz un-
mittelbar, ohne jeden Anlalj, primär als waimhaite Bewuljtheit. Dann kiumle
diese Cienese als abnorm bezeichnet werden. Vielleicht ist die Stärke
dieser Überzeugung, die Unerschütterlichkeit abnorm, mit der diese Wahn-
idee vorgebracht wird. Aber man wird nicht |in der Stärke einer ( ber-
zeugung überhaupt ein Moment sehen wollen, welches zu den (jualitativ
abnormen > orstellungen oder Gedanken gehört. Vielleicht ist es abnorm,
dalj in dem Wahnkranken keine Gegenvorstellungen auftauchen, daß von
ihm keine gegenteiligen Erfahrungen gemacht werden, die die primäre
Cberzeugtheit erschüttern könnten. Aber auch dies hätte nichts mit den
Vorstellungsinhalten selbst, nur mit ihrer Verknüp fung zu tun. Schließ-
lich könnte man in der Bizarrheit oder Ungewöhnlichkcit vieler Wahnideen
einen Umstand vermuten, der diese Ideen doch zu inhaltlich abnormen
stempelte. .Vber viele, ja die meisten Wahnideen sind recht einförmig und
uninteressant und keineswegs bizarr. Und welche Phantasietätigkeit könnte
nicht in gänzlich normaler W eise Ideen entwerfen, die weit ungewöhnlicher,
weit verschrobener wären als viele Wahnideen?
Nur ein Moment ist es, welches, inhaltlich orientiert, vielen Wahnkom-
plexen in ihren zeitlichen Umläufen eigentümlich bleibt; das Moment der
Größe oder der Kleinheit. Aber auch dies darf nur gleichsam bedingt
ausgesprochen werden. Denn wenn sich jemand einbildet, 1000 Schlösser zu
besitzen, so mag wiederum an diesem Gedanken vieles abnorm sein: in-
haltlich braucht dieser Gedanke nicht als abnorm bezeichnet werden, da
doch sicherlich mancherlei „normale" Luftschlösser in ganz anderen „Größcn"-
Verhältnissen schwelgen. Aber es ist eigenartig, daß das Größenmoment
selbst — zweifellos ein inhaltliches Moment — zweifellos an sich nicht
abnorm — durch seine Dauer, durch seine Besetzung aller oder der
meisten Vorstellungsinhalte manchen Wahn charakterisiert. Alan hat ge-
glaubt, daß nur der begleitende Affekt diese „Färbung" der Vorstellungs-
inhalte vornehme, und daß speziell beim Größenwahn die heiter aus-
schweifende (manische) Grundstimmung des Kranken diese Größenvor-
stellungen bedinge. Dies trifft aber keineswegs immer zu. Sicherlich gibt
es Krankheitszustände ', in denen ein glückserfüllter Kranker glaubt, 1 0 000
Frauen zu besitzen, Obergeneral aller Generäle zu sein usw., aber man be-
obachtet auch blöde, gänzlich in sich versunkene, keineswegs fröhüche
Kranke, deren wenige noch verständliche Sprachlaute solche Größenmomente
erkennen lassen. Ich erinnere mich eines solchen Kranken, der fast nur
noch die Worte produzierte: „tief im Neckar". Das war zweifellos das
persevierende Größenmoment ehemaliger Wahnideen. Aber es gibt schließ-
lich auch Kranke, die keineswegs lustig sind, vielmehr sich selbst mit
peinigenden Vorstellungen zermartern und doch das Größenmoment dau-
ernd produzieren : sie würden niemals sterben, alle andern, ja die ganze
W'elt überdauern u. dgl. mehr. — Vom Kleinheitsmoment gilt grundsätz-
lich dasselbe.
1 Hauptsächlich bei der pro^essiven Paralyse.
40 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Nur dies an den Wahnideen, und selbst dies Moment nur mit einer
gewissen Einschränkung, gehört hierher, wo von der inhaltlichen Ab-
normität der Vorstellungen und gedankUchen Inhalte die Rede ist. Im
übrigen wird von dem Wahn in anderem Zusammenhange gesprochen
werden. Hier folgt nur noch ein Beispiel, wie Kleinheits- und Größenideen
durcheinandergehen :
,,Icli seh keiiiem ÖMenschen mehr gleich, bin gar iiix mehr auf der Welt. Am
besten gehör' ich begraben. Ich bin eine Mißgeburt, nur noch Haut und Knochen.
Wir sind aurli kein Vieh nieliT, gar nix mehr. Herr I>oktor, kann man denn so weit
kommen, daß man nix mehr is auf der Welt, nur grad eine Gestalt. Man soll
mich iu ein Loch werfen oder vor die Hunde schmeißen. Oder stellen Sie mich
aus, so was haben die Leute noch nicht gesehen. — Ich kann ja doch nicht
sterben, man kann mich nicht einmal begraben, ich muß ewig so herumschweben. —
Die Menschen können Weihnachten feiern, ich nicht. Ich bin ein böser Patient.
So gibts unter loooo nicht einen. Alles, was Odem hat, stimmt mit Freuden
zusammen, ich nicht, ich hab keinen Odem." — (26 Jalire später): ,,Sie wolle
sich beim Bäcker verbrennen lassen, die ganze untere Partie ihres Körpers sei aus
Holz und arefühllos. Sie sei kein Mensch mehr, sondern ein Skelett, oder sie sei
zur Salzsäule geworden." (Sannchen Licht, 10. II. 83, Psychiatr. Klinik, Heidelberg.)
Hier könnte noch von jenen vorstellungsmäßigen oder gcdankhchen In-
halten die Rede sein, die aus dem bisherigen Erfahrungsschatze einer Per-
sönlichkeit nicht zu stammen scheinen, die — ihrer Natiu- nach gänzlich
neu und ungewöhnlich — unvereinbar sind mit den sonstigen Kenntnissen,
Fähigkeiten, Interessen dieser Person, und die daher in diesem Sinne als
abnorme Leistungen imponieren. Doch haben diese Inhalte so viel mit dem
Problem der Ergriffenheit, des Erleuchtetseins, der Besessenheit zu tun,
daß sie dort (unter den Willensstörungen) mit behandelt werden. Daß
mancherlei verwandtschaftliche Beziehungen eines Teils dieser Eingebungen
zu den Wahnideen bestehen, erscheint wohl begreiflich.
Wie steht es aber mit den Sinnestäuschungen? Sie könnten nicht
entstehen, wenn der Kranke nicht zuvor schon einmal entsprechende ^virk-
liche Walirnehmungen gehabt hätte. Sinnestäuschungen sind also — von
diesem Gesichtspunkt aus gesehen — zweifellos irgendwie reproduzierte
Empfindungen, also Vorstellungen und — so dürfte leicht behauptet werden —
doch sicherUch abnorme Vorstellungen. .Vbnorm ist aber an ihnen
nur die Entstehung, nur die Tatsache ihres Auftretens, keineswegs ihre In-
haltlichkeit. Wenn ich durch Druck auf die geschlossenen Augen des x\lko-
holdeliranten bewirke, daß er mir bunte Blumen oder kaleidoskopartige
Gebilde beschreibt, die er deutlich zu sehen behauptet, so sind selbstver-
ständlich diese Vorstellungsinhalte an sich in keiner Weise abnorm. Und
wenn mir ein schizophrener Kranker schildert, daß er mit elektrischen
Strömen an den Schläfen gequält wird, so mag das eine Mißempfindung
am Kopf sein, als wenn dort wirkhch Elektroden angesetzt wären. Für den
Kranken selbst ist die Tatsache dieser Qual gleichartig, würde sie wirklich
ausgeübt oder möge sie halluziniert werden. In diesem deskriptiven Sinne
ist also auch die Sinnestäuschung nicht abnorm, oder sie braucht es zum
mindesten nicht zu sein. Deshalb gehört auch die Besprechung der Sinnes-
täuschungen nicht eigenthch in das Kapitel der quahtativ abnormen ^ or-
stellungen.
SI NNKSTÄISCIIUNGEN 41
Al)er dieses Kapitel der Sinnestäuschungen ' j,'eliört auch in keinen anderen
Zusanunenhang, es steht ganz allein. Man könnte auf den Einlall kommen,
die IIallu7.inatii)nen in die l'sychologie des intentionalen Aktes in dem-
jenigen Sinne zu verweisen, dafi bei ihnen ein „lungestelltsein auf", ein
„Gerichletsein auf", ein „Meinen" fehle. Die Sinnestäuschungen drängen
sich auf, sie führen eine selbständige Kxistenz, sie wertlen nicht von mir
ergriffen, sondern sie ergreifen mich; aber ich kann sie nicht einmal
abschütteln, übersehen. Sie seien nicht ein Material, das mir gegenüberstehe,
sondern sie seien doch irgendwie auch .,Ich", freilich nicht im Sinne eines
spontiuien Erfassens.
Alles dies kommt zweifellos an den Sinnestäuschungen vor, aber es ist
keineswegs für alle charakteristisch und läßt sich daher auch nicht als
Merkmal der Einordnung verwerten. In mannigfachster Weise treten die
Sinnestäuschungen in den seelischen Ciesamtmechanismus ein, sie werden
von der Persönlichkeit in der verschiedensten Weise verarbeitet, sie sind
deskriptiv auch sicherlich untereinander sehr verschieden. ,\ber das eine
wirklich Abnorme, was ihnen allen allein eigentümlich ist, ist nichts un-
mittelbar Erlebtes. Es ist nur die Tatsache ihrer zerebralen, von den Sinnes-
organen und der Außenwelt unabhängigen Entstehung, also ein gänzlich
außerpsychologisches Moment. Die wissenschaftliche Bedeutung dieses
interessanten Phänomens der Sinnestäuschungen liegt denn auch nicht so
sehr in der eigentlichen Psychologie als in deren Grenzgebiet zur Physio-
logie und vor allem bei der Frage des Zusammenhangs zwischen Leib und
Seele. Alle diese Probleme stehen hier nicht zur Untersuchung. Was aber
an den Sinnestäuschungen rein psychologisch interessant ist, soll hier gleich-
sam als Anhang zu dem Kapitel der qualitativ abnormen Vorstellungen
Platz finden.
Im .\bschnitt über die quantitativ abnormen Vorstellungen wurde schon
erwähnt, daß manche phantasiebegabten Menschen sich eine Einzelheit oder
ein ganzes Erlebnis so merkmalsreich, so plastisch, so lebendig vorstellen
können, daß es „vor ihnen steht", d. h. daß ihr Urteil Schein und ^^ irk-
lichkeit nicht mehr zu sondern vermag. Manche bedürfen dabei noch wirk-
licher Empfindungen als Anhaltspunkte. So lautet eine aus den Zeiten der
italienischen Renaissance übernommene, immer wieder empfohlene Anwei-
sung für Maler: eine farbige, moosbegrünte Mauer lange zu betrachten;
dann sprängen schon die Gestalten daraus hervor (Pareidolien, Illusionen).
Andere Persönlichkeiten mit lebhafter Phantasie brauchen solche Hilfen nicht.
Der dichterisch wie der religiös Erregte glaubt die Gestalt leibhaftig zu sehen
oder zu hören, die ihm Offenbarungen, Heilswahrheiten oder Versuchungen
vermittelt. Solche einzelnen Gestalten können durchsichtig, „neblig", „wie
ein Schleier" sein, oder sie können ganz naturwahr kompakt den Hinter-
grund vercfecken und können sich bewegen, schweben, lächeln, W^orte spre-
chen oder stumm und undeutlich wieder verschwinden. Der Reichtum
solcher Schilderungen ist enorm. Nicht nur die Archive der Irrenhäuser,
1 AJlg^nieüies zum Problem der Sinnestäuschungen brüigon besonders Specht (299 a),
Jaspers (lüg u. i/jo), Goldstein (89 u. 90), und allenfalls Rülf (275), früher Stör-
ring (3io) in Vorlcs. 3 — 7, Parish (233 b) und (i8/i5) Brierre de Boismont (3o).
42 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
auch die Literatur der Religionspsychologie, des Spiritismus und Okkultismus
sowie die Selbstbiographien bergen ein unendliches Material. Aus der über-
großen Mannigfaltigkeit läßt sich nur wenig Allgemeines heraussondern;
dabei ist es auch wichtig, das zu beachten, was selten oder niemals
halluziniert wird.
Auf dem Gebiete der optischen Sinnestäuschungen^ herrschen zwei
Formen : entweder glaubt der Kranke, kleine bewegliche Dinge zu sehen
(Fäden, Spinnen, Schlangen, Mä;use, sehr kleine Männchen u. dgl.) - oder
es erscheinen menschliche Gestalten in natürlicher oder gesteigerter Größe 3.
Erstere Täuschungen sind fast immer echter realistischer Sinnestrug, sie
sind einfach da, ohne eine besondere Bedeutung, oder Gefühlsbetonung zu
erlangen.
Dort sprängen Mäuse unter dem Bette umher, Maikäfer und Mücken sehe er
auch. Die Käfer krabbeln unten am Fußende dos Bettes herum und kit/eln ihn.
(Er hascht während der Unterhaltung nach den Mücken.) Beinahe habe er eine
gefaaigen; werm er wolle, kriege er sie schon. Aus den Löchern am Boden kommen
fortwährend Mäuse hervor und klettem am Bett in die Höhe. Ein Vieh, so groß
wie eine Katze, mit langem Schwanz habe er auch gesehen. (Er stößt mit dem Fuß
nach den Käfern, schnalzt mit den Fingern, lacht, pfeift.) (Peter Treiling, 7. 4- 08,
Psvchiatr. Klinik, Heidelberg. Delirium tremens.)
„Hyoscin ist ein sehr beruhigendes Mittel, man spürt das Erschlaffen der Arme,
Beine, Enttäuschung, man glaubt, Zigarren zu rauchen, will sie in die Hand nehmen,
Zeitungen zu lesen, die man nicht hat. Jeder Gegenstand, den man sieht, mrd zu
einer lebendigen Form, die sich bewegt, mit besonders unangenehmen großen Augen,
fratzenhaften Gesichtern. Es kommen Gestalten, in Massen, groß und klein, man ruft sie
an, und ärgert sich schrecklich, daß sie das Verbot haben, zu antworten. Es ist ein Zustand
für mich voll Angst und Unbehaglichkeit, bis ein tiefer Schlaf dem Theater ein Ende
bereitet." (Vergiftung mit einem Centigramm Hyoscin. Fritz Kalb. Manisch-depressives
Irresein. Psychiatrische Klinik, Heidelberg, 10. 7. 20.)
Die in Lebensgröße erscheinenden menschlichen oder menschenähnlichen
Gestalten sind selten echte Sinnestäuschungen, sie sind vielmehr meist
mit vorstellungsmäßigen Elementen durchsetzt und fast immer bedeutsam,
gefühlsbetont. Oft lassen sie sich absichtlich herbeiführen; je nach
Stimmungslage und Ablauf der Vorstellungen wandeln sie sich auch in der
Geste, dem Gesichtsausdruck usw.
Diesen Zusammenhang der „Erscheinungen" mit Gemütszuständen er-
kannten schon die dämonengeplagten Heiligen des Frühchristentums *, er ist
auch den modernen Forschern okkulter Phänomene nicht verborgen ge-
blieben ^ Johannes Müller beschreibt ausgezeichnet (216), wie er seine
„phantastischen Gesichtserscheinungen befördern und festhalten kann". Er
vermag sich in eine geeignete Gemütslage zu versetzen, aber dann muß er
warten, was da kommt.
1 Vgl. hierzu das gute, alte Buch von Hibbert (119).
2 Bei alkoholischen und anderen Vergiftungsdelirien, z. B. bei Haschisch (S. 255),
Mescal (S. 257), Opium (S. 252) in Jastrow (i44). Über Haschisch s. auch Meunier
(202 a).
3 Hauptsächlich bei den psychogenen Psychosen und der Schizophrenie.
* \g!. die Vita des hl. Antonius von Athanasius. Vgl. Stoffels (3o8).
& Floumoy (6/1, 65, 66, 67, 68, 69).
OPTISCHE SINNESTÄUSCHUNGEN 43
..EHe Erscheinung ist urplölzlicli, sie ist nie zuerst eingebildet, vorgestellt und dann
leuchtend. Ich sehe nicht, was ich schon sehen möchte; ich kann mir nur gefallen lassen,
was ich ohne alle Anregung leuclitond sehen muß." (aiö, S. aS.)
bekannt ist die Schilderung Goethes: ,,Ich hatte die Gabe, wenn ich die Augen
schloß und mit niedergesenktoin Haupte mir in ilie .Mitte des Sehorganes eine Blume
dachte, so verharrte sie nicht einen Augenblick in ihrer ersten Gestalt, sondern sie
legte sich auseinander, und aus ilirem Innern entfalteten sich wieder neuo Blumen
aus farbigen, auch wohl grünen Blättern; es waren keine natürlichen Blumen, sondern
phantastische, jedoch regelmäßig wie die Rosetten der Bildhauer. Es war unmöglich,
die liervorsprossende Schöpfung zu fixieren, hingegen dauerte sie so lange als mir
heliehle, ermattete niciit und verstärkte sich nichtt."
Bei der großen Mehrzahl der geistig Kranken sind die Erscheinenden
verstorbene oder fernweilende .Vngehörige oder rehgiöse Gestalten. Fast immer
haben diese etwas Phantastisches oder zimi mindesten verschwommen Ln-
goWsses. Schon dieser Umstand weist darauf hin, daß Vorstellungen dabei
äußerst wirksam sind (Pseudohalluzinationen)-, .Vuch insofern sind diese
Gestalten oft auffallend unnaturalistisch, als sie meist plötzlich da sind oder
daher schweben oder irgendwo ruhig stehen, ähnlich den Gespenstern der
Dichtungen. Niemals hört man berichten, daß eine halluzinierte Gestalt im
gewöhnlichen Schritt des .Ultags herankommt, womöglich gar mit den Ge-
räuschen des Schreitens. Wenig untersucht sind noch die Größen Ver-
hältnisse und die Topik der Erscheinungen. Zwar äußern viele Hallu-
zinanten, die Gestalten seien „so groß wie natürlich" gewesen, wissen aber
dann nicht genau anzugeben, in welcher Entfernung jene denn gestanden
habend. G. E. Müller (215, II, S. 410 — 41 Q) nimmt von den Halluzinationen
an, sie seien an einen festen Ort oder Abstand gebunden, würden rein
egozentrisch lokalisiert und stets von einem unwirklichen Standpunkt aus
wahrgenommen. Aber alles dieses ist so generell einfach nicht richtig, wenn
man die Fülle der Erfahrungen durchmustert.
Nägeli (221) gibt sich selbst über die Frage der Entfernung Rechenschaft: Einzelne
Gestalten seien ,,in seiner Nähe gewesen, seltener viele in einiger Entfernung, dio
dann gewöhnlich dicht gedrängt beisammen waren". Die Landschaften hatten meist
keinen Vordergrund, aber auch niemals einen sehr entfernten Hintergrund, wenigstens
anfangs. Die l'iefe der Perspektive nahm mit der Zeit fortwährend zu. Seiner
Meinung nach waren die Visionen wolü nicht stereoskopisch, und deshalb etwas
fremdartig.
Interessanterweise bezieht sich die oben erwähnte Makropsie gelegent-
lich auch auf die Sinnestäuschungen, z. B. „.\meisen, groß wie Käfer"
(Eskuchen), drei ungeheuer große Greise (Menschen 11 4 a), Riesen und Zwerge
an einem blendend weißen Weg (Uhthoff). Über die Größe der Erscheinungen
siehe auch G. E, Müller (215, II, S. 357 und 389) und die dort angeführten
vier Literatlirangaben*. Bedenkt man, daß sich jemand in seinem wirk-
^ Zur Morphologie und Naturwissenschaft. Zitiert nach Müller (216).
^ Vgl. zum Unterschied die Ausführungen oben (über besonders lebhafte Vor-
stellungen) und Fechner (60), 2. Bd., S. 468 ff . Seine Ausführungen neben denen
von Nikolai (224), Nägeli (221), Johannes Müller (216) sind noch immer die wichtig-
sten Quellen.
^ Gelegentlich erscheinen die Täuschungen auch halbseitig, z. B. immer rechts:
Josef son (1/I6).
* Müller unterscheidet nicht hinreichend zwischen Halluzinationen und Pseudo-
hulluzinationcn.
44 GRUIILE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
liehen Zimmer eine Gestalt so lebhaft vorstellt, daß er sie zu sehen
glaubt, so wird er sie sich begreiflicherweise so vorstellen, wie sie ihm an
jenem Orte tatsächlich erscheinen würde (d. h. in dem gleichen Sehwinkel).
Daher sprechen Angaben über besonders große oder auffallend kleine Gestalten
sehr für echte Sinnestäuschungen (wie beim Deliranten). „Normal" große
und sich gut in den Raum einfügende Erscheinungen lassen eher auf
Pseudohalluzinationen schließen. Man hat gelegentlich gefunden, daß die
Gestalten größer wurden, wenn die Versuchspersonen durch ein Vergrößerungs-
glas sahen. Dies deutet mit großer Wahrscheinlichkeit auf lebhafte Vor-
stellungen hin, weil die übrigen Außendinge größer gesehen werden und
sich die Versuchsperson nun ungewollt dieser Änderung anpaßt (G. E. Müller,
215, II, S. 384). Aber die Sachlage ist recht kompliziert; man braucht nur
an seine eigenen Nachbilder (den echten Halluzinationen vergleichbar) zu
denken, so weiß man auch bei ihnen keineswegs immer genau die Ent-
fernung anzugeben, in der sie (ohne Projektionsebene) zu schweben scheinen.
Weiß ein Halluzinant komplizierte Visionen sehr schlecht zu lokalisieren,
vermag er nur zu schildern, daß sie außerhalb seiner seien (exterioriie) ohne
zu wissen wo, so kann man mit großer Wahrscheinlichkeit annehmen, daß
sie keine wahre realite für ihn besitzen (Janet 137, S. Q3), sondern leb-
hafte Vorstellungen sind^. Es ist erstaunlich, daß sehr wenige Halluzinanten
die Farben der Erscheinungen mit einiger Sicherheit wiedergeben können.
Meist ergänzen sie, gefragt, die Farben nach den gleichen Tendenzen, die
die Psychologie der Aussage bei den Irrtümern feststellt (das Gewohnte,
zu Erwartende, Assoziierte usw.). Auch die Unterscheidung von Flächen-
und Raumfarben (Katz 149a) erscheint bei den optischen Trugwahrnehmungen
kaum möglich. Zuweilen erlebt man ja flächenhaft farbige Wahrnehmungen
in der Erinnerung als raumhaft, und allen leuchtenden Farben haftet ja
von vornherein etwas Raumhaftes an (G. E. Müller, 215, I, S. 57).
Nägcli (221) unterscheidet: farblose Bilder mit schwach angedeuteten Schatten
und hl nul ichgrauem oder grünlichgrauem Ton, mehrfarbige Bilder mit blassen, weni^^
kontrastierenden Farben, Bilder mit intensiven, doch einförmigen Farben. Neben-
einanderliegendo Farben waren nie komplementär. Nie zeigten sich direkt© Lichter,
nie scharfe Schlagschatten.
Daß in der Erinnerung an echte Sinnestäuschungen die Farben zuerst
erblassen, oder daß bei langsam verschwindendem Phantasma zuerst die
Farben undeutlich werden, wird von den Halluzinanten vielfach bestätigt
(Nikolai, Fechner). G. E. Müller erwähnt, daß auch die Beteiligung der drei
optischen Spezialsinne (Schwarz-weiß, Rot-grün, Gelb-blau) an den Sinnes-
täuschungen noch nicht genügend untersucht sei, besonders noch nicht hin-
sichtlich ihrer Nachhaltigkeit (215, II, S. 629).
Die Sprache der halluzinierten Erscheinungen ist meist auffallend unreal.
Zwar ist gelegentlich die Stimme eines Angehörigen wohl erkennbar, aber
sie beschränkt sich auf wenige Worte: Warnungen, Drohungen, Namens-
rufe, Die Stimme des Heilandes oder der Jungfrau ist unbestimmt feierlich.
1 Es kommen auch Sinnestäuschungen vor, die sich auf bestimmte Bezirke des
Gesichtsfeldes beschränken: de Schweinitz (287 a).
OPTISCHE SINNESTÄUSCHUNGEN 45
in den ^^'o^lo^ dürftig. Dio Sätze selbst sind meist der Ribel eiitlelinl.
Sind doch die Äuljeruiigen einer l^rscheinung einmal aiisfülirlicher
gewesen, so lassen die Nebenumstände mit grolier Sicherheit echte Sinnes-
täuschungen ausschlielien. In anderen WOrten: (ileich/eitige optische und
akustische echte Sinnestäuschungen sind aulierordentlich selten. Je mehr
man sich in die Beschreibungen der optischen Halluzinationen vertieft und
sie durch Befragung tler llalluzinanten zu klären sucht, um so mehr wird
man irre am \ orkommen echter optischer Täuschungen - abgesehen von
der ersten oben bezeichneten Gruppe. Die allermeisten sind Pseudohalluzi-
nationen '. Aus der unendlich groiien Zahl möglicher Beispiele folge hier
nach bestimmten Gesichtspunkten eine kleine Auswahl:
,,Icli war nämlicli eines Morgeiis bei schon erhelltem Himmel nus einem liefen
Schlaf aufgewacht, da flimmerten mir Traumbilder der zurückgelegten IVacht und
insbet^ondcro das Bild eines häßlichen Schwarzen, den ich vorher niemals gesehen,
so lebhaft vor meinen Augen, als wenn es wirklich Gegenstände außer mir wären.
Die Gebilde versciiwanden fast ganz, wenn ich, nach anderer Unterhaltung verlangend,
auf ein Buch oder sonst etwas scharf liinsah, kehrten aber mit derselben l,el)hafLigkeit
wieder, sobald ich von dem bestimmten Gegenstande wieder hinweg ohne fixierte Aufmerk-
samkeit auf Verschiedenes hinstierte, bis es dann nach einigen Wiederholungen über
dem Haupte hinwegschwand." (Aus einem Brief B. de Spinozas an den hoch.veisen,
hochgolelirten Peter Balling, übersetzt von Pitschaft in Moritz' Magazin zur Erfahrungs-
seelenkunde.)
,,Die Gestalt des ^ erstorbenen erschien nicht mehr nach dem ersten erschütternden
Tage, hingegen kamen sehr deutlich viele andere Gestalten zum Vorschein; zuweilen
Bekannte, aber meistens Unbekannte. Unter den Bekannten waren Lebende und
Verstorbene, mehrenteils erstere; nur bemerkte ich, daß Personen, mit denen ich
täglich umging, mir nicht als Phantasmen erschienen, es waren jederzeit Entfernte.
Auch versuchte ich, nachdem diese Erscheinungen einige Wochen gedauert hatten
und ich mich dabei ganz ruhig befand, Phantasmen von mir bekannten Persononr
selbst hervorzubringen, welche ich mir deshalb sehr lebhaft vorstellte; aber ver-
geblich. So bestimmt ich m(ir auch die Bilder solcher Personen in meiner selxr
lebhaften Einbildungskraft daciite, so gelaing es mir doch nie, sie auf mein Verlangen
außer mir zu sehen, ob ich sie gleich schon \x>r einiger Zeit unverlangt als
Phantasmen gesehen hatte, und sie sich auch wohl nachher unvermutet mir wieder
auf diese Art darstellten. Die Pliantasmen erschienen mir schlechterdings unwillkürlich,
als würden sie mir von außen dargestellt gleich den Phänomenen in der Natur,
ob sie gleich gewiß bloß in mir entstanden; und dabei konnte ich, so wie ich
überhaupt in der größten Ruhe imd Besonnenheit war, jederzeit Phantasmen von
Phänomenen genau unterscheiden, wobei ich mich nicht ein einziges Mal geirrt l»ab&.
Ich v\-ußte genau, wann es mir bloß schien, daß die Türe sich öffnete und ein
Phantom hereinkam, und wann die Türe wirklich geöffnet ward und jemand wirk-
lich zu mir trat.
Übrigens erschienen mir diese Gestalten zu jeder Zeit und unter den verschiedensten
Umständen gleich deutlich und bestimmt: Wenn ich allein und in Gesellschaft war,
bei Tage und in dunkler Nacht, in meinem Hause und in fremden Häusern, doch
waren sie in fremden Häusern nicht so häufig, und wenn ich auf offener Straße
ging, sehr selten. Wenn ich die Augen zumachte, so waren zuweilen die Gestalten
weg, zuweilen waren sie auch bei geschlossenen .\ugen da." (Nikolai, 22 i, S. 335.)
,, Einige Male sah ich unter ihnen auch Personen zu Pferde, desgleichen Hunde
und Vögel. Diese Gestalten alle erscliienen mir in Lebensgröße, so deutlich wie man
Personen im wirklichen Leben sieht: mit den verschiedenen Karnazionen der unbe-
kleideten Teile des Körpers und mit allen verschiedenen Arten und Farben der
Kleidungen; doch dünkte mich, als wären die Farben etwas blässer als in der
Natur. Keine der Figuren hatte etwas besonders Ausgezeichnetes, sie waren weder
1 Vgl. Stumpf (3i3), auch Stoffels (3o8).
46 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
schrecklich, noch komisch, noch widrig; die meisten waren gleichgültig, einige aucii
arigcrieiim." (Nikolai, 224, S. 387.)
Nicht selten berichten Ilalluzinanten, besonders die hysterischen Persön-
Hchkeiten, auch vom Erscheinen von leuchtenden Blumen (diese sind dann
fast immer schön und gefühlsbetont) oder Schriftzügen (diese haben dann
meist einen, wenn auch dunklen Sinn). Werden einmal Möbel und andere
Gegenstände halluziniert, so dienen sie nur dazu, einen Raum auszustatten,
d. h. eine Situation zu vervollständigen, meist einen Raum, in dem dann
eine irgendwie bedeutsame Person erscheint. Man hört fast niemals einen
Ilalluzinanten schildern, daß er etwa vereinzelt ein Möbelstück, etwa einen
Kleiderschrank oder einen Kochlöffel oder dergl. halluziniert habe, es sei
denn, daß ein solcher Gegenstand irgendeine Wichtigkeit für die betreffende
Person habe, einen Komplex repräsentiere. Das Fehlen solcher Inhalte unter
den optischen Sinnestäuschungen ist für ihre Theorie recht bedeutsam^.
Seltener werden gegenstandslose Farben oder Flecken halluziniert. Nägeli
(221) berichtet, im Anfang seiner Erkrankung sei das ganze Gesichtsfeld
gleichmäßig ziemlich intensiv erhellt gewesen. Später erschienen helle Stellen
auf dunklem Feld. Der Fall Sauden von Menschen (114a) sah gelb und blau:
nur einen „gefärbten Schein". Und von gewissen Vergiftungen (Santonin)
werden reine Farbentäuschungen häufig beschrieben (Photopsie, [Rose 268c]).
Dies führt aus den reinen Sinnestäuschungen schon wieder hinaus und in
die Verfälschung der Außenwelt (Illusionen) hinein '•"■.
Auch von Bewegungstäuschungen, oft verbunden mit Farberschei-
nungen, wissen die lu-anken zu berichten :
Es seien Lichter gewesen, die ihm nachgehüpft seien, so Stemlein auf dem
Boden. Manchmal auch in der Höhe der zweiten Etage. „Vielleicht waren es Rad-
fahrer oder ein Geblänkel mit elektrischem Licht." Des Nachts sah er auf der
Straße , .Laternen schwingen", was ihn sehr störte. (Thomas Stephan, Psychiatr.
Klinik, 2. XL 12.)
Mit dem Problem der halluzinierten Bewegung haben auch die soge-
nannten Verwandlungen zu tun.
Nägeli (221) beschreibt trefflich, daß er häufig allmähliche, in sich einheitliche
Verwandlungen erlebte. So erschienen zahllose Eispyramiden, deren Spitzen sich unter
Beibehaltung des Farbentons in Köpfe und Fratzen wandelten. Oder der Zipfel der
Bettdecke ging in einen Gipskopf über. Es wiar keine Ablösung, sondern einei
wirkliche Verwandlung (wie bed Ovid). „Ich kann zwar nicht angeben, wie sich
die Landschaft in ein Zimmer, das Meer in ein Haus, die Kirche in eine Person
umwandelle, allein es sind diese Metamorphosen am Ende nicht viel wunderbarer
als diejenigen, die ich wirklich gesehen habe." (221, S. 52i.)
1 Bei den willkürlich erzeugten phantastischen Gesichtserscheinungen Johannes Müllers
(216) und anderer kamen indessen solche Inlialte vor. — De Schweinitz (287 a) führt
einen Kranken an, der in seinen Gesichtsfeldlücken, „in the dark fields", Möbel
halluzinierte. — Nägeli (221) betont, daß er imter den so mannigfaltigen Phan-
tasmen niemals Gegenstände erblickte, mit denen- er sich sonst immer, beschäftigte,
nie Mikroskope oder Pflanzen. — Josefson (1/16) berichtet von einem Kranken, der
Sterne, braune Blätter iind Ringe halluzinierte.
^ Über pathologische Farbenempfindungen siehe auch Hilbert (121 und 120). —
Pick (2/12) beschreibt die Halluzination von zwei gelben Streifen in einer bestimmten
Entfernunsf und von einer halbkreisförmieren Fianar mit Zacken in blendendem Silber.
OPTISCHE SINNESTÄUSCHUNGEN 47
,,Als bosoiidcrs eipiMilümliche Ersclieinuiij^ iiiiilS icli das licrvorliobeii, dali sclicxi eirvigo
Tapw vor Ausbruch der Kraiikliwt mir «lio 'l".itrt'sln.'lli; uiiil überhaupl der fjniizf Gf.sichls-
krcis in die Luft oder nach einem liclitcii Raum getiommen in dirlit roter Farbe sicli
zeigte, und dali mir beim Gehen auf ebenem Bcnieji aliwarls iilirkcnd das Gefüld wunle,
als ob sich *ier lioden bewegend nacl» vorn neigo, aufwärts oder geradeaus blickend das
Gefüld wurde, als ob der Weg unter den Füßen steige luid über Treppen hinwegführe.
Püisonen gesehen kamen mir alle grölier als in Wirklichkeit befindlich vor." (Fall
Freitag, Psjchiatr. Klinik Heidelberg, i8. III. la.)
^ or den .\ugen fliegen feurigo Kugeln und alle Gegenstände scheinen sich hin und her
zu bewegen. — Auf einmal habe sie Blumen i/i die Hand bekommen — in der Mitto so
schön rosa, wie man's sonst nicht sieht, die andern braun und gefleckt.
. . . Sie war auf einem schmalen Weg mit Gras bewachsen (in der Tat auf ihr
Bett gesunken), links eine Rotte Menschen und noch etwas, was sie gar nicht beschreiben
könne. Die Menschen haben ihr gar nicht gefallen, und sie hat sich so verlassen gefühlt.
Da ist der Heiland aufgetaucht, mit dem Kreuz belastet. Es hat eine schöne Zcif
gedauert. Auf einmal sei der Heiland vor ihr gelegen. Das war so ein licblicjlier
Schmerz, die unendliche Liebe der Erlösung. Hifiter ihm eine Menge Menschen, sie
immer neben ihm. Sie sei ihm auf den Berg gefolgt und sei dann seitwärts gestanden.
Sie habe wohl das Kreuz gesehen, aber keine Kreuzigung. (Luise Leber, 2. IV. i3.,
Psychiatr. Klinik Heidelberg. — Man beachte, wie eng sich hier das Gesehene mit
einem gewissen .Milhandeln zu einem Gesamterlebnis verbindet, das schwer zu analysieren
ist. Der Vergleich mit einem Traumcrlebnis liegt naJie, doch handelte es sich hier nich!
um ein solches.)
Vereinzelt sind in der Literatur auch Zeichnungen mitgeteilt worden ^
die die Halluzinanten von ihren Erscheinungen entwarfen. Ich lasse hier
ebenfalls zwei solcher Bilder folgen.
Tafel 1 gibt eine „freie" Halluzination eines Gesichtes, von einem zeich-
nerisch gänzhch ungeübten Manne wiedergegeben.
Tafel 2 ist aus einer Schuhsohle „herausgesehen" und mit Text begleitet.
Dieser Kranke hat zahllose derartige Zeichnungen angefertigt, die sich wie
auch das Beispiel von Tafel 1 im Besitze der Bildersammlung der Heidel-
berger psychiatrischen Klinik befinden.
Der Autor der Zeichnung der Tafel I nennt seine Zeichnungen von Köpfen „Luft-
zeichnungen"; eigentlich seien es keine Phantasien, sie seien schon bei Leuten vor .Jahr-
hunderten gezeichnet gewesen und durch „Luftzug" auf ihn übergegangen, manchmal
sehe er sie in der Luft; wenn er sie dann gezeichnet habe, sehe er sie nicht mehr,
dann entstehe eine andere Luflentwicklung; sie stammten aus Luftmengen, die nicht
mehr existierten; die Luftzeiclinungen seien, wenn sie glückten, wie Luft, würden
durch Luftzug verweht und gingen auf andere über, die sie wieder zeichneten; er grüble
nichts aus, sondern zeichne das, was die Luft bei ihm entstehen lasse; das Bild lasse
die Luft entstehen so ähnlich wie andere Bilder manchmal; der Sumpf lasse auch
solche Bilder entstehen. (Kr. gesch. Otto Stoff, 23. XI. 09., Langenhorn. — Man be-
achte das Durcheinandergehen von Eindrücken und ihrer theoretischen Verknüpfung.)
Schon oben wurde ein Beispiel gebracht, bei dem der Kranke nicht reiner
Zuschauer bleibt, sondern handelnd in die halluzinierte Situation mit ein-
greift. Hierfür folge noch eine kennzeichnende Probe:
,, Plötzlich sah ich einen gewaltigen schwarzen Mann sich über mein Bett beugen.
Jetzt erfaßte mich eine namenlose jVngsl und Wut zugleich. Schnell war ich aus
dem Bette, ergriff die auf dem Tisch stehende Lampe und schleuderte sie mit aller
Kraft gegen den vermeintlichen Riesen. Durch den Lärm ervveckt, eilte mein Logis wirt
mit Licht ins Zimmer und fort war der ganze Spuk. — Gleich als es zu dunkeln
begann, sah ich das ganze Haus erleuchtet. Ich konnte durch die Wände das ganze
*■ Morgenthaler (210) und Schilder (?.79)-
48 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Haus überi-ehen. Eine Musikkapelle spielte wilde Tänze. Eine Türkgcsellschaft, in den
phantastischen Kostümen gekleidet, drehte sich im wilden Reigen. Ich glaubte wahr-
zunehmen, daß diese ganze Gesellschaft mich dabei stets im Auge hatte. Plötzlich
änderte sich die Szene. EHcht vor meinem Bette sah ich einen Mann von riesigen
Körpordimensionen sitzen, bekleidet mit einem Schifferhemde und einer Schiffermütze.
Dieser suchte vergebens seine Schulie auszuziehen. . . . Kaum daß ich wieder zu
Bett liege, fühle ich mich auf eine große Heide versetjtl. Um mich herrscht ein
Halbdunkel, und ich sehe eine große schier unermeßliche Herde Schafe an mir
vorbeiziehen. . . . Als ich nun so weiter wandere, sehe ich plötzlich einen Polizisten
mir entgegenkommen. Schnell biege ich von der Straße ab. Als ich nun den Polizisten
liinter mir rufen hörte, ,, halten Sie still, Hebold", setze ich ein beschleunigtes Tempo
ein. Wie ich nun aber laufe, sehe ich plötzlich wieder eine dunkle Gestalt, in der ich
einen anderen Polizisten zu erkennen glaube, deutlich vor mir. Schnell kehre ich
wieder um und laufe zurück, doch schon sehe ich wieder einen Polizisten vor mir.
Kalter Schweiß bricht bei mir aus, und ich greife in meiner Angst zum Messer.
Mit offenem Messer bin ich nun vorwärts gelaufen. Dunkle Gestalten sah ich von
beiden Seiten mich begleiten. . . . MiKlenveile graute der Morgeii, und ich sah
die GcslaKcii immer weiter zurückweichen." (Fall Julius Hebold, -. IX. igoS, Psychiatr.
Klinik Heidelberg.;
Bei den akustischen Sinnestäuschungen verhält sich vielerlei anders
Für sie hat der normale Mensch meist ein gutes Vorstellungsvermögen
wenn er sich erinnert, daß er im Einschlafen nicht so selten einmal glaubte
angerufen worden zu sein oder ein bestimmtes Geräusch zu hören, was
ihn wieder völlig erweckte (H}^nagoge Halluzinationen^). Die echten akusti-
schen Täuschungen können nur einzelne Worte (Zurufe, Namen) umfassen
oder lange Schilderungen. Die Stimme kann so deutlich sein, daß sie als
die eines Mannes oder einer Frau, eines Bekannten usw. erkannt >vird, ja
daß sich über sie aussagen läßt, ob sie von rechts oder links, von oben
oder von unten, von weither oder aus der Nähe kommt, laut oder leise ist.
Oft läßt sich die Stimme von einer wirklichen Stimme überhaupt nicht
unterscheiden, oft aber hat sie ein eigentümliches Etwas, was sie von natür-
lichen Stimmen durchaus abhebt. Man ist nicht selten erstaunt zu erfahren,
mit welcher Bestimmtheit ein Kranker diese Unterscheidungen trifft. Er
vermag vielleicht sogar zwei verschiedene Sorten von Stimmen und diese
wiederum von den natürlichen Stimmen zu sondern: z. B. die Kopfstimme,
die Herzstimme und die Älenschenstimme. .\ber wenn man ihn dann auf-
fordert, zu beschreiben, worin denn diese Unterschiede bestehen, so versagt
er völhg. Die Sicherheit seiner Unterscheidungen ist irgendwie in ihm er-
fahrungsgemäß begründet, aber die Sprache gibt ihm keine Mittel an die
Hand, diese trennenden Eigenschaften zu bezeichnen. Tut er es doch, so
greift er nicht selten zu Wortneubildungen (Neologismen) und wird dadurch
natürlich nicht wesentlich klarer.
Ein Beispiel beweist die Seltsamkeit der Unterscheidungen verschiedener
Stimmen und Sensationen und ihrer Bezeichnungen 2,
^ Hoppe bringt für die optischen hypnagogen Halluzinationen zahlreiche Beispiele
mit einer unwahrscheinlichen Theorie ( 1 2 4 a) .
^ Ich verdanke dieses Beispiel der Güte von Herrn Geheimrat Tuczek.
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^trii/ii-/ ivayist ut^el Mh (^ 'n'iinätJi'atc* eltX~
■Ja^/Iu ^hnfcfi nt7rnfin.jt*td4tgiuAf(iiru( iJiJui
Tafel II
nach einer Sinnestäuschung (Carl Laber, Heil- und Pflegeanstalt Schwetz in
Westpreußen, 7. 8. 1900). Originalgröße /(O X ^^ "".
AKüSTISCHK SlNNESTÄUSCHrNGEN
49
Bezeichnungen eines Hall
S i n n e s t ü u s c h
VermilÜungssprcclicii,
Rapporlsprachc.
\;ulisprcclicrsliiniiicii,
Spracliziiubcr.
Rapporlcurc,
Maclipappcln.
Gt'lioimspraclie,
Gclieimslimrnon,
Stinimcnkrawall.
Leibesgespräch ,
Aderngespräch,
Blutgespräch,
Herzgespräch,
Augengespräcli,
Muskclgespräch,
Blasengeschwätz.
Gespräch zwischen den Beinen,
Gespräch aus der Harnröhre,
u z i n a n t e n für seine
11 n g e n,
Kitzelgcspräch,
Schmerzenerregendes Ferngespräch,
Zischgfjpräch,
Zwirkges-präch,
Trnunigespräch,
Kallo Züchligungssprache,
V <(hiiicgericlitssprache,
Katliolisclies INervengeschwätz,
Jüdische Schwiebussprachc,
Ora-pro-nobis-Sprache,
Kling-Klang-GIoriasprache.
Gcschlcchllichcs Gespräch,
Rapport« eiber,
Hurengeplapper,
Heiratsgeschwätz.
Unsittliches Gespräch,
Kuhslallgcspräch,
Be-Be- Gespräch,
Großes Onanierkonzert,
Zigeunergespräch,
Tödliche Sprache.
Die Inhalte der Stimmen sind oft sehr uninteressant. So hört etwa ein
Kranker, daß alle seine Handlungen von konstatierenden Bemerkungen
begleitet werden: „jetzt zündet er sich eine Pfeife an — jetzt ißt er die
Suppe" usw. Anderen ist es, als wenn eine Stimme plötzlich den ganzen
I^^benslauf schildere. Sie hören erstaunt und etwas gereizt zu: einen Zweck
hat „es" ihrer Meinung nach nicht. Andere chronische Halluzinanten '
werden wochen- oder monatelang mit widrigen Schimpfworten geplagt.
In den meisten Fällen sind die Inhalte egozentrisch, wenn auch wie erwähnt
oft unwichtig; häufig sind sie peinlich oder sogar entsetzlich und Angst
erregend. Sehr selten sind sie nicht egozentrisch und angenehm, selten
sind sie phantastisch und wirklichkeitsfremd. Im Gegensatz zu den optischen
Sinnestäuschungen (mit Ausnahme der deliranten Gruppe) sind die aku-
stischen Halluzinationen meist echte Täuschungen. Nur die stark egozen-
trischen und gefühlsbetonten erwecken den Verdacht auf Pseudohalluzinationen.
„In den Ohren summt und braust es mir, als ob der schwerste Orkan die Welt
durchtobte, und jedes Geräusch höre icli ,als ein leise geführtes Zwiegespräch zwischen
mehreren Personen. Dann hörte ich oft den schönsten Gesang oder die schönste Musik
spielen. Zuweilen hörte ich Spottlieder singen. Oft hörte ich blutige Schlägereien
und heftigen Streit toben. Dann hörte ich herzerschütterndes Weinen und Klagen
um mich, und merkwürdig: stets waren es Frauenstimmen, die da weinten. .......
Als ich nun so allein, ohne schlafen zu können, dalag, hörte ich erst junge Mädchen,
die von mir nur durch eine verschlossene Tür getrennt schliefen, durchs Schlüsselloch
zu mir sprechen und allerlei sinnliche Redensarten führen, aber alles im Flüsterton.
— Später hörte ich meine Logiswirtin drinnen im Hause üher mich schimpfen und
mich schlecht machen. — Vor der Tür und dem Fenster standen Männer und Frauen,
beobachteten und bekritisierten meine ganzen Bewegungen. Welche meinten, jetzt
1 Fast nur Schizophrene.
4 Kafka, Versleichende Psychologie III.
50 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
schläft er, andere dagegen sagten: ,nein, er wacht noch, schade um diesen Menschen",
und weinten dabei so sehr. — Ein andermal: ,Wir verlassen ihn nicht, morgen
früh wollen wir ihm helfen'." (Julius Hebold, 7. IX. o5, Psychiatr. Klinik Heidelberg.)
Er hörte in seinem Zimmer: „Dem gehört das Haus angezündet, damit er aufhört
mit dem Pfarrhausbau." Dies sagten Leute, die er mit Namen nicht nennen kann, die am
Haus vorbeigingen. Er hörte es ganz deutlich: „Sie genierten sich nicht", sie >varen
ca. 20 Schritte vom Haus entfernt. Ein andermal hieß os: „Der möchte ich nicht
sein, dem geht's schlecht." ,, Jetzt haben wir ihn gerade nicht erwischt, jetzt kommen
wir heute abend, stürmen ihm das Haus." Er 'kannte dieses Mal die Stimmen gut,
es waren Joseph Fellner, Ludwig Seyfried usw. Sie sangen ihm ,,das Todeslied". Er
werde ohne Gesang hinausgetragen. Später vernahm er Hedwig Braun, sie sagte:
„Es wird docii ohne Blutvergießen abgehen"; „Thomas, geh' 'raus.*' (Thomas Stephan,
Psychiatr. Klinik Heidelberg, 2. XI. 12.)
Zuweilen kommen die Stimmen ganz deutlich von außen, so wie man
eben wirkliche Stimmen hört — daher halten sich viele schizophrene
Halluzinanten gern die Ohren zu; die Zurufe haben dann oft einen
befehlenden Charakter (imperative Stimmen) — , zuweilen aber ist den
Kranken unklar, ob jene von innen oder von außen kommen.
Nacn kurzem hörte sie die Stimme auch am Tag; sie befahl ihr, sie solle iiirem
Leben ein Ende machen, sie fiele sonst d urch Mörderhand. Sie hatte nun immer Angst,
daß die Stimme Herr über sie werde, sie war so, ,,wie wenn man gehorchen muß".
Die Stimme wurde nun immer eindringlicher, energischer: ich muß, ich muß, sie hat
mich förmlich dazu gezwungen, ich stand wie in einem Bann
„Wie wenn die Stimme in mir wäre, aus mir heraussprechen würde und doch wieder,
als könnte ich die Stimme von mir wegscheuchen." Wenn sie die Stimme hört, danni
macht sie oft eine abwehrende, wegschleudemde Handbewegung, wie wenn sie vom Körper
etwas entfernen müßte. (Elisabeth Bader, Psychiatr. Klinik Heidelberg, 17. III. 21.)
Nikolai (22/1) berichtet (S. 347): „Mein verewigter Freund Moses Mendelsohn
hatte sich im Jahre 1772 durch zu starke Anstrengungen des Geistes eine Krankheit
zugezogen, welche auch voll sonderbarer psychologischer Erscheinungen war. Hatte
er dann am Tage lebhafte Reden gehört, so rief ihm Avährend des Anfalles eine
Stentorstimme die einzelnen, mit einem hohen Akzent ausgesprochenen oder sonst laut
geredeten Worte und Silben wieder einzeln zu, so daß ihm auf eine sehr unangenehme
Art die Ohren davon gellten."
Gewiß kann man in vielen Fällen einwandfrei vom „Gedanken laut
werden" reden; die Kranken geben dann selbst an, daß ihre eigenen
Gedanken nur gleichsam laut in ihnen ertönten oder laut in ihnen selbst
gesprochen würden. Aber in anderen Fällen werden sich die Psychotiker
selbst durchaus nicht darüber klar, ob die Stimmen nur gleichsam gehörte
eigene oder zugerufene fremde Gedanken sind. Vielleicht ist der Unter-
schied der, daß im letzteren Falle zur Sinnestäuschung noch eine Subjekt-
Objekt(„Ich-")störung hinzutritt, im ersteren nicht. Manchmal mag aber
auch nur der Inhalt der Stimmen so absonderlich sein, daß der Kranke
ihn gar nicht als seine Gedanken anerkennt, sondern sie einem unbekannten
Etwas zuschiebt.
,,Am zweiten Abend hat es angefangen, wie wenn das Hirn selber sprechen täte,
so innerliclio Gedanken; es war bloß so ähnlich wie Sprechen, gesprochen hat
niemand, es war in meinem Kopf, es war wie gefühltes Sprechen." (Genoveva Bäumler,
5. V. 09, • Psycliiatr. Klinik Heidelberg.)
Unter den Sinnestäuschungen überwiegen die optischen und akustischen
sehr. Aber es finden sich natürlich auch seltsame Geschmacks- und Geruchs-
SINNESTÄUSCHUNGEN. SYNASTHESIEN 51
uschungen ^ Auch unangcnehtiie Sensationen der Körperempfindungssphäre
nd hei «gewissen geistigen Störungen nicht scdtiMi *.
Man kann hei ihnen nicht innner mit liestinuntheit sagen, ol) es sich
ibei um wirkhche Sinnestäuschungen handelt, oder ob tiitsächhche I'lrre-
jngen der betreffenden Nerven oder ihrer Zentren vorliegen, die dem
irmalen vSchmerz zu vergleichen sind, l'nter der Überschrift der quali-
tiv abnormen l'lmp fi n d u ngs i n halte ist hiervon schon gesprochen
orden. Die Kranken selbst begnügen sich meist nicht damit, diese Sensa-
onen des Körpers einfach zu beschreiben. Sic greifen zu Deutungen, die
Hin ins Wahnhafte hinübergehen. So erzählen sie von elektrischen Ma-
diinen, mit denen sie gequält, von Uöhrensystemen, durch die sie angeblasen
erden. Doch gehören diese \Vahid)ildungen nicht mehr in diesen Zusammen-
ung. Der an die Sinnestäuschungen sich gelegentlich anschließende Glaube
es Besessenseins, Verhextseins wird unter „Ichstörung" sogleich noch
esprochen werden.
Hier folge noch eine Probe aus einem Briefe einer schizoplircnen Kranken, Augusto
arasol, vom i8. III. 20. (Psychiatr. Klinik Heidelberg.)
„Das Wischen", Vibrieren morgens, wenn es noch dunkelt, Am-Herze-Wecken, greift
ihr an, untergräbt die Gesundheit. Ebenso die unverantwortliche Roheit der Sinnes-
iuschungen. Sie machen das schon hier, seit .luni 1907, hat gar keinen Wert, da
:h ja die Täligen nicht keime und kein Urteil über die Vorführung habe, nicht über
io Dilder des Films, noch über die Alittcilungen Tag und Nacht."
Als weiterer „Anhang" an das Kapitel von den qualitativ abnormen Vor-
tellungen sei noch des Phänomens der Synästhesien gedacht, über
essen .Abnormität man freilich streiten kann. Es gibt zahlreiche Menschen,
ie, ohne sonst abnorm zu sein, zugleich mit dem Erlebnis eines bestimmten
inneseindrucks die Erinnerung an einen bestimmten Inhalt aus anderem
innesgebiet haben. Gerüche zeigen sich mit Farben, Farben mit Tönen
sw., oft nur gewohnheitsmäfjig, oft aber auch zwangsläufig vereint. Zuweilen
edient sich der Betroffene absichtlich dieser seiner Eigentümlichkeit, um
ein Gedächtnis zu verbessern (assoziative Hilfen), zuweilen aber leidet er
uch ernstlich unter dem Zwang der sich aufdrängenden Mitempfindungen
bzw. Vorstellungen). Man spricht auch von Synopsien, Audition coloree,
^hromatismen *. Auch die Verbindung von Vorstellungen anschaulicher
^ Vgl. z. B. Sander (27S) imd Lockemann (i85).
'^ Besonders bei der Schizophrenie. Hier finden sich auch die Erlebnisse .vollkommen
lalluzinierten Geschlechtsverkehrs. In solch einem Augenblicke nimmt die Kranke oft ganz
aturalistisch die Koitusstellung ein, sie wehrt sich, windet sich, erleidet und spiegelt
ri ihrem Gesichtsausdruck die entsprechende Mischung aus Wollust und Schmerz.
^uch aus den großen Besessenheilsepidemien der Nonnenklöster sind solche Symptome wohl
)ekannt, sie werden z. B. hei der Urheberin der Epidemie im Nazarelhkloster tu Köln
iG. Jahrh.) genau beschrieben. Schon eine der ersten Klostermassenpsychosen, die des
irigilfenkloslers in Xanthen (i55o) und später die der Ursulinerinnen in Loudun
i63i — i63/i) hatten sexuelle Halluzinationen als Hauptsymptom (ßaelz, 7). Andere
3ese.ssenheiten von Massen (Morzines, 1861) waren ga:iz frei hiervon.
3 Vgl. G. E. Müller (2i5, II. 407, III. 181 — 209), Lemailre (172), Laures (169),
Elossigneux (271), ferner Z. f. Psychologie, 67, 1910, S. 38/j und die Literaturangaben
n Steins differentieller Psychologie.
52 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Schemata mit unanschaulich gedanklichen Inhalten gehört hierher
(Diagramme), z. B. wenn jemand die Geschichtszahlen eines Feldzuges
im Geiste stets auf bestimmte Punkte der Landkarte projiziert ^ Auch
diese Diagramme können sich gelegentüch in peinlicher Weise aufdrängen,
so daß der Ergriffene ihrer nicht mehr Herr wird.
Oben war davon die Rede, daß die \V i 1 1 e n s s p h ä r c in dem Sinne
abnorm sein kann, daß die Zahl und die Durchführung der Impulse
irgendwie quantitativ verändert ist. Hier soll ihre qualitative Abnormität
besprochen werden. Die Frage taucht auf, ob es denn neben dem Entschluß
zu einer Handlung und ihrer Durchführung noch eine besondere Qualität
gibt, die abnorm sein kann. Man würde vielleicht gar nicht auf den Ge-
danken kommen, daß hier noch eine besondere Eigenschaft des Willens
vorhanden und zu beachten sei, wenn man seine pathologischen Abänderungen
gar nicht kennen gelernt hätte. Der Psychologe kann sehr wohl von der
Herkunft des Willensaktes, seiner Richtung, seinem Richtungswechsel u. dgl.
handeln sowie von seiner Gesamtverknüpfung und seiner Umsetzung in die
Tat: sobald er aber über das Willensphänomen selbst noch Näheres mit-
teilen will, sieht er sich auf die Aufforderung beschränkt, der Leser solle
selbst eine Willenslage oder einen Willensakt erleben, dann wisse er außerhalb
aller Beschreibungen von selbst, was es damit für eine Bewandtnis habe -.
Erst durch die Erfahrungen abnormer Persönlichkeiten wird die Aufmerk-
samkeit des Forschers darauf gelenkt, welch intensive Beziehung das Willens-
problem zu jenem anderen Problemkomplex hat, der als das Ichgefühl
bezeichnet wird. Daß mein Wollen mein Wollen ist, erscheint als eine
Selbstverständlichkeit, und doch gibt es Fälle, in denen dem nicht so ist.
Ich will hier nicht auf die grundsätzliche Frage eingehen, inwieweit der
Name des Ichgefühls für jenes Phänomen glücklich ist, ich will ins-
besondere hier nicht untersuchen, inwiefern denn, wenn im Lippschen Sinne
alle Gefühle Ichqualitäten seien, nun noch ein besonderes Etwas vorhanden
sein soll, das speziell als Ichgefühl zu bezeichnen wäre^. Hier sollen nur
die abnormen Phänomene vorgeführt werden, die mit diesem Ichmoment
verbunden sind: Die Ich Störungen.
Wenn ich empfinde, vorstelle, denke, strebe, fühle, so erlebe ich diese
Aktionen als meine Tätigkeiten, sei es, daß ich mir dabei mehr passiv,
sei es, daß ich mir mehr initiativ vorkomme. Aber dieses Ichmäßige
kann nun irgendwie gestört, beeinträchtigt oder vernichtet sein. So
merkwürdig es klingt, so uneinfühlbar dies dem Normalen erscheint: es
gibt seelische Tätigkeiten meiner Person, die doch von mu- nicht (oder nicht
voll) als mir zugehörig anerkannt werden. Schon bei der Empfindung läßt
sich das Phänomen aufzeigen. Bei dem oben schon geschilderten Erlebnis
^ Vgl. Müller (2i5, III., S. 72 — i8i), Lemattre (172), mit weiterer französischer
Literatur und einigen Abbildungen.
2 Ich seile von dem fruchtlosen Spiel der Worte ab, Wille mit Wollung, Strebung'
«■ dgl. umschreiben zu wollen.
3 Vgl. hierzu Kafkas schöne Arbeit (i49).
ICHSTÖRl'NGEN 53
der Kn If rem d ii iif? der \\ a li nioh in ungsw ol t äiilj«'rt zwar der |-^rkranklo,
da(j ihm die A u Ijo ii \vr 1 t Ncräiidcrl vorkomme, dal'» ihm (he l'arbeii, I'ormeii
ii^w. der Dinge merkwürthg fremd erscheinen, aber er Ijeziehl das abnorme
l'j-lebnis doch auch schon auf sich selbst: Es käme ihm alles so fremd
vor, als ginge es ihn nichts an, als sei er gar nicht beteiligt usw.
Nach oinoni schworen Scliäilcllraum.1 glaul)t ein Voricfzier, sein« eigenen Kleider usw.
gehörten dein Apotheker G.: Er ,,Iiat seine Sachen den meinen genau naclibilden
lassen: es hat so den Anschein, als sei ich in meiner Heimat. Es ist aber nicht der
Fall; l>oi einer guten Portion Idealismus kann man sich solches einbilden." (Roscn-
bcrg, 369.)
Man verwechsle die Entfremdung nicht mit dem Tatbestand, daß einem
Kranken plötzlicli einmal alles verändert, bedeutungsvoll usw. vorkommt:
dies gehört in die wahnhaften l*hänomene des Schizophrenen ^ Das
Symptom der Ichstörung sondert sich alsbald in zwei Arten. Zu der ersten
Art führt der \\ eg von der Entfremdung der Wahrnehnmngswelt, also vom
Empfinden aus: Es ist das Erlebnis der gesp alten en Persönlichkeit, des
Doppelichs (Depersonalisation). Die zweite Art stellt sich bei der Ich-
Störung des Denkens heraus: es ist das Erlebnis des Unterlegenseins unter
eine andere Macht, das Ge danken machen, Gedanken ab ziehen.
Man würde das letztere Phänomen am treffendsten als Willensunfreiheit
bezeichnen, wenn dieser Ausdruck nicht schon allzusehr philosophisch be-
schwert und populär-psychologisch abgeschliffen wäre. Um einen einheit-
lichen Ausdruck zur Hand zu haben, kann man folgen dermafjen formulieren:
Die Ichstörung setzt sich aus zwei verschiedenen Phänomenen
zusammen: dem Doppelich und der Ichlähmung. Österreich
(229 230) hat über das Doppelich und verwandte Probleme reichhaltige
und verdienstvolle .\rbeiten veröffentlicht.
Beim Erlebnis der Depersonalisation muß man eine ganze Reihe recht
verschiedenartiger Störungen unterscheiden, die meist kritiklos zusammen-
geworfen werden. Überhaupt nicht hierher gehört das Erlebnis, daß
man sich selbst ein zw eites Mal irgendwo sieht (Autoskopie),
selten sprechen hört 2. Hier handelt es sich lediglich um Sinnestäuschungen
(meist Pseudohalluzinationen oder gar Träume), bei denen der zufällige
Inhalt der Täuschung man selbst ist, ohne daß dabei ein grundsätzlicher
Unterschied von gewöhnlichen anderen Halluzinationen gegeben ist. Eine
eigentliche Ichspaltung liegt hier gar nicht vor. Nur ist der Betroffene von
iliesem Phänomen meist gemütlich erregter als dann, wenn er gleichgültigere
Inhalte seiner Täuschungen erlebt. Hierher gehört das viel zitierte Sesen-
heimer Erlebnis Goethes, dessen prophetische Ausdeutung wohl auf einer
späteren Erinnerungsverfälschung beruht (Jubiläumsausgabe 24, S. 64).
,,Nun ritt ich auf dem Fußpfade gegen Drusenheim, und da überfiel micli eine der
sonderbarsten Ahnungen. Ich sah nämlich, nicht mit den Augen des Leibes, sondern;
^ Schilder (281) ist in seinen Unterscheidungen nicht sorgsam genug. Spechts (299)
Pathologie des Realitätsbewußtseins (ein Fall mit einer heimwehartigen Verstimmung)
gehört wohl zur Entfremdung.
- Über die Tendenz, sich selbst erinnerungsmäßig in einer Situation zu sehen.
A'gl. auch G. E. Müller (210, II, S. 36o), femer V. und C. Henry i'ii'i) und
Rusk (276).
54 GRUHLK: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEiX
des Geistes, mich mir selbst, denselben Weg, zu Pferde wieder entgegenkommen und
zwar in einem Kleide, wie ich es nie getragen: es war hechtgrau mit etwas Gold.
Sobald ich mich aus diesem Traume aufschüttelte, war die Gestalt ganz hinweg.
Sonderbar ist es jedoch, daß ich nach aclit Jahren in dem Kleide, das mir geträumt
halte, und das ich nicht aus Wahl, sondern aus Zufall gerade trug, mich auf demselben
Wege fand, um Friedrikon noch einmal zu besuchen."
Johannes Müller (216) beschreibt S. 79 eine noch eigenartigere phan-
tastische Gesichtserscheinung der eigenen Person:
,,Prof. X. kam nach einer seiir lebhaften Lnteriialtung über wissenschaftliche Gegen-
stände nüchtern und sehr hungrig nach Hause. Der Weg führte vom Lande ül)er eine
baumreichc Wiese nach deir S|tadt. Plötzlich sieht er in einiger Entfernung sich
selbst in zwölf bis fünfzehn Exemplaren lauf der Wiese umherwandeln. Die Figxuren
waren aus verschiedenem Alter des Beobachters und trugen die sonst fast vergessenen
Kleider verschiedener Zeiten in mancherlei Farben. Die Gestalton einer und derselben
Person gingen gleichgültig durcheinander auf der Wiese. Es bedurfte nur der An-
strengung des Gesichtssinnes, der Aufmerksamkeit und der Erinnerung, daß die Selbst-
erscheinung eine Halluzination sei, um die ganze Gruppe sogleich zu verscheuchen.
Lichtllecke blieben nicht übrig."
Gewisse Beziehungen zum eigenthchen Doppelgängererlebnis hat ein
Beispiel Justinus Kerners.
„Als ich am 28. Mai 1827 . . . bei ihr allein im Zimmer war . . . sah sie sich
auf einmal selbst (wie sie mir nachher erzählte) in einem -".veißen Kleide, das sie nicht
anhatte, aber so eines besitzt, auf dem von ihr gerade gegenüberstehenden Stulile
sitzen. Sie wollte schreien, konnte aber nicht, konnte sich aber auch nicht bewegen.
Sie hatte ihre Augen weit aufgerissen, sah aber sonst keinen Gegenstand, als sich und
den Stuhl, worauf sie saß . . . Das Bild -stand nun auf und lief auf sie zu, und
erst als es fest an ihr war, fuhr durch ihren Körper wie eine elektrische Erschütterung,
die ich sah, und nach dieser tat sie einen Schrei, und erzählte mir nun, daß und wie
sie sich selbst gesehen." (Aus Justinus Kerners: Seherin von Prevorst, S. i38 [i5o]).
Selbstverständhch hat jedes solche Erlebnis (Halluzination mit dem
Inhalt der eigenen Person) verschiedene Nuancen, doch sollen hier keine
weiteren Beispiele gehäuft werden.
In den Arbeiten von Hennig (na), Blnet (aS), Flournoy (66, 68, 69), ßaelz (7),
Österreich (280, 228, 229, 226), Lemaitre (172), SoUier (298), Dugas (55a) und anderen
findet man zahlreiche Einzelheiten geschildert.
Es sei hier weiter jener Fälle gedacht, die nur in entferntem Zusammen-
hang mit der Ichstörung stehen, bei denen zwar stets ein vollkommea
klares und einheitliches Ichgefühl vorhanden ist, bei denen aber ein Nach-
einander zweier gleichsam verschiedener Personen in einer beobachtet
wird''. Beide Personen wissen nichts oder nur äußerst Ungewisses von
einander, so dafS die Verdoppelung bis Verfünffachung der Persönlichkeit
eigentlich nur für den Beschauer vorhanden ist^.
So berichtet etwa Naef (220) von einem Herrn, der in Zürich aus der Zeitung
erfährt, daß er selbst erstaunlichervveise vor Wochen aus seinem australischen Wohnort
spurlos verschwunden sei. James (i3i) erzählt von einem Wanderprediger, der am
^ Beim Kapitel der Motivzusammenliänge ^^i^d hiervon nochmals die Rede sein.
" Es ist mir kein Versuch bekannt geworden, in der Hypnose die beiden Persönlich-
keiten sich miteinander auseinandersetzen zu lassen. Im Gegenteil, besonders die
französischen Forscher, die diesen Gegenstand sehr lieben, haben durch ihre Fragen
diese ,, Spaltung" meist noch mehr gezüchtet. Es handelt sich ganz vorwiegexul um
ärztliche Kunstprodukte.
DOPPELICH 55
17. Januar 1887 aus seinem Woluiort verschwand und darauf unter ganz anderem iSamen
in einer aiideren Provinz zwei Monate lang einen kleinen Kramladen führlo; er besorgte
auch alle für sein Geschäft nöligon Einkäufe, bis er am i^. März oiine jodo Erw
iniierung an das Vergangene plötzlich erwachte und nach Hause zurückkehrte. —
Seit Charco! ist die psychiatrische Fachliteratur voll von solchen Fällen alternierenden
Bewußtseins. Bei Hennig (112), Dessoir {^~}, Bertrand (31), Flournoy (60, 08, 69),
Janet (i3'i. io3, 137 a), findet man ältere und neuere Beispiele. Meist gehe« sie unter
dem Namen dos Dämmerzustandes. Doch sollte diese Bezeichnung für jene Fälle mit
g'tn-iiiite!i Erinnerungsketten vorbelialten bleiben (mit Amnesie). Hier folge noch ein
eispiel für einen solchen Dämmerzustand, bei dem die zwei Persönlichkeiten, die
einander abwechseln, der Art nach nicht verschieden sind.
..Ein Seiler, ein wirklicher Nachtwandler bei Tage, von aS Jahren, eiji Manu
von melancholischem Temperament, hatte seit dritthalb Jahren folgende Beschwerung:
Es überfiel ihn vielmals am hellen Tage ein Schlaf mitten unter seiner Hantierung,
es sei im Sitzen, Stehen oder Gehen. Wenn ihn der Paroxismus ankam, zog er
ihm etliche Male die Stirn und Augen zusammen, bis sich diese fest zuschlössen.
Wenn ihn der Schlaf im Gehen über Land befällt, so bleibt er nicht stehen, sondern
läuft weiter, fast geschwinder als wachend, ohxie den rechten Weg zu verfehlen oder
über etwas im Wege Liegendes zu stolpern, wie er denn mehrmals von Weimar nach
Naumburg scldafend gegangen und in eine Gasse gekommen sei, wo Bauholz im
Wege gelesen, worüber er ganz ordentlich wio ein Wachender oline allen Anstoß
gestiegen. Er soll auch Pferden und Wagen, die ihm begegnet, ausgewichen und
wieder in seinen ^^ eg gekommen sein. Einstmals war er im Begriff nach Weimar zu
reiten. Ungefähr ein paar Stunden davon überfällt ihn sein Schlaf, er ritt aber fort,
traf den Weg auch durch ein kleines Holz, ohne das Ge^^Lcht vom Geisträuch zm
verletzen, ritt dann durch die lim, tränkte darin sein Pferd, pfiff ihm auch daioi,
zog die Beine in die Höhe, damit sie nicht naß werden möchten. Passierte hiemäclist)
durch etliche Gassen über den Markt, der eben voller Leute, Buden und Karren stand,
und das alles so glücklich und behutsam, daß er, oluie jemand au beschädigen ode'r
sich Schaden zu tun, in das Haus, in das er gewollt, gelangt. Hier stieg er ab, banld
sein Pferd an einen an dem Lade« befindlichen Ring, ging durch den Laden seines
Mitmeisters, wo allerlei im Weere lag. oline es zu berühren, in die Stube und nach
einigen gesprochenen Worten wieder heraus, mit dem Vorgeben, daß er durchaus auf
die hochfürstliche Regierung gehen müsse. Als er nun dagewesen und an gedachten
Ort wieder zurückkam, wachte er auf. — W'enn der Paroxismus zu Ende gehen wollte,
zog er ihm wie bei seinem ^\n£ang Stirn und Augen zusammen. Darauf kam er zu
sich selber, öffnete die Augen, schämte sich imd entschuldigte sich gegen die An-
wesenden." (xMitgeteilt aiL« .\kten von 1725 in Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelen-
kunde, 7. Band, I. Stück, S. 80, von 1789.)
Wie erwähnt, handelt es sich auch bei diesen Fällen nicht eigentlich um
eine (subjektive) Spaltung des Ichgefühls. Diese tritt erst ein, wenn der
Betroffene sich im gleichen Augenblicke eins und doppelt erlebt,
während es sich dort nur um ein alternierendes Bewußtsein handelt. Man
hat jenes ganz zutreffend mit dem Raupenich und dem Schmetterhngsich
verglichen, beide folgen sich und brauchen gleichsam nichts voneinander
zu wissen. Über die eigenthche Bewußtseinsspaltung als subjektives Phä-
nomen orientieren am besten zwei Erzählungen von Baelz (7), S. 1043.
,,Ein . . . etwas neurasthenischer russischer Diplomat lag im russisch-türkischen
Krieg (1878) an schwerem Abdominaltyphus darnieder. Im Beginn der Rekonvaleszenz,
so erzählte er mir, habe er wiederholt eine seltsame Erfahrung gemacht. Es war
ihm, als ob sich sein Selbst in zwei Teile teilte. Er fühlte deutli^ch, wie sich etwa^
von ihm ablöste, wäe er aus sich selber heraustrat und sich als sein eigenes Ipji
gegenüberstand. Dieses neue Ich war sozusagen sein höherer Teil. Es war mehr geistig,
hatte doch auch körperliche Form. Jedes der beiden Ich war sich des sonderbaren
Vorgangs bewußt. Beide standen im Verkehr und sprachen manchmal miteinander.
Nach einigen Minuten verschwand die Halluzination und ließ einen Zustand von Er-
56 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
schupfung und Verwirrung zurück. Mit fortschreitender Genesung verscIiwanJcn die
Anfälle."
,Ein Freund von niir, ein et>vas krittelig angelegter Mann, iiafle Alaluria. AI*
ich ihm Chinin verordnen wollte, bat ^er, ihm doch lieber ein anderes Mittel zu
geben, denn jede Dose Cliinin habe bei ihm einen unheimlichen Zustand zur Folge.
Nach eini"-en Minuten gehe in ihm eine Veränderung vor. Er teile sich in zwei.
Die Sache sei schwer zu beschreiben, aber sicher sei, daß er sich selber gegen-
überstehe, und daß jedes Ich sich seiner bcuTjßt sei und sicli über das andere
wundere, bis beide den Zustand furchtbar komisch finden und in große Ileitork.iit
ausbrechen. Das dauere manchmal eine Stunde, dann verblasse und verschwinde das
andere Ich, aber es bleibe noch längere Zeil ein unbehagliches Gefühl zurück."
Hill Tout (122) fühlte, wie er sein eigener (verstorbener) Vater wurde, während er doch
er selbst blieb.
Vgl. ferner Loewy (191), Schilder (280), Jastrow (i/lA S. 323).
Begreiflicherweise machen solche Erlebnisse auf den Betroffenen einen
tiefen Eindruck. Je nach seiner Verslandesentwicklung, seiner sozialen und
kulturellen Schicht und je nach den Anschauungen und der Form der
Beligiosität seiner Zeit wird er sich mit solchen merkwürdigen Phänomenen
auseinandersetzen. Manche Erlebnisse des second sight bei den nordischen
Völkern, auf den Hebriden, in Lappland usw. gehören hierher'.
Man glaubte schon in der Erscheinung des zweiten Ichs (der Halluzina-
tion seiner selbst) das Anzeichen des nahen Todes zu sehen oder legte ihm
sonst eine prophetische Bedeutung bei. Und die abwechselnde Herrschaft
zweier von einander anscheinend verstandesmäßig, gefühlsmäßig, ja in Bildung
und Sitten ganz verschiedenartiger Wesen in einer Person, legte selbstver-
ständlich erst recht dem Laien den Gedanken nahe, daß sich hier ein fremdes,
vielleicht ein „höheres" oder ein teuflisches Wesen der Persönlichkeit be-
mächtigt habe, daß sie besessen sei. Schon bei allen Sinnestäuschungen
liegt, wie oben gezeigt wurde, dieser Gedanke nahe. Ihnen entsprechen
keine Beize, keine Gegenstände der Außenwelt; sie müssen also im Er-
griffenen — so meint man — ir^jendwie künstlich erzeu2:t werden. In
dieser Meinung werden die Angehörigen des Halluzinanten ja durch dessen
eigene Äußerungen meist noch bestärkt; er deutet, wie der Psychiater es
nennt, seine Sinnestäuschungen wahnhaft aus*. Noch fester gründet sich
im Psychotischen die Überzeugung, von einem fremden Wesen geleitet, be-
herrscht zu werden, besessen zu sein, wenn er nicht nur scheinbare Sinnes-
eindrücke erlebt, denen sein Ich vielleicht noch irgendwie objektiv — be-
obachtend, beurteilend usw. — gegenübersteht, sondern wenn das Ich selbst
vergewaltigt wird. Und damit ist die zweite Form der Ichstörung gegeben, die
— in sich ^^ieder recht vielgestaltig — als Ichlähmung zusammengefaßt
werden kann. Hier kommt es nicht zu einer Spaltung des Ichgefühls,
sondern der Betroffene glaubt, einer fremden Macht zu unterliegen. Er
empfindet nicht nur am Körper Beeinflussungen, denen äußerlich nichts
Feststellbares entspricht, er merkt auch ganz deutlich an seinen eigenen
^ Freilicli werden unter secoild sigllt auch allerlei andere Inhalte von Ausnahme-
zusländen zusammengefaßt, in die sich die nordischen Magier durcli abenteuerliclie
Zereimonien und geräuschvolle Musik versetzten. Vgl. von älterer Literatur Martin
(^97)' ^''^ Archiv für den tierischen Magnetismus aus dem Anfang des 19. Jahr-
hunderLs, und Hibbert ([119J, S. i33).
" Vgl. Stoffels (oü8).
i(:iii.\iiMr\(; 57
(icdaiiken, dali dies nicht mehr seine eip;enen (icdankcn sind, an seinen
Wünschen, dali sie ihm gegen seinen WiMen eingegeben werden, an seinen
ilandhingen, daß man sie ihm aufzwingt. Kr will dies alles nicht denken,
nicht fühlen, nicht wollen, aber er ist machtlos, er ist seelisch gelähmt.
So sehr er sich dagegen aufbäumt, so sehr er alle seine ICnergi«' zusamnuMi-
rafft: er ist der (infolgedessen ,, höheren") (lewalt unterlegen. Er merkt das^
\ orhandensein dieser Macht an zweierlei, l-lrstens sind ihm die Inhalte
des Gedachten, Gewollten fremd. Sic passen nicht in den Zusammenhang
dessen, womit er sich gerade beschäftigte. Sie fallen von außen her so
.-törend in die momentane seelische J'^rfüUtheit hinein, wie wenn uns der
Anruf eines Fremden aus unseren Gedanken aufschreckt. Auch der Gesunde
kennt „freisteigende Vorstellungen", er kennt Einfälle, die ihn augenblick-
lich verwundern, die ihn vielleicht sogar stören, deren Zusammenhang er
aber doch stets bei einigem Nachdenken aufzudecken vermag, und die er
als seine Einfälle unbedingt anerkennt. Diese gemachten Gedanken
aber widersprechen dem ganzen Wesen, dem Gharakter des Erkrankten,
er erlebt sie als unbedingt fremd und daher oft als widrig. Deshalb leidet
er so sehr unter ihnen. Der Kern seiner Persönlichkeit, seine „Individualität**
(Unteilbarkeit) ist zerstört: er ist innerlich mit einem fremden Wesen zu-
sammengeschmiedet. Die Qualen, die solche der Ichlähmung unterworfenen
schizophrenen Kranken zuweilen auszustehen haben, sind unermeßlich.
Aber es ist nicht nur die Fremdartigkeit der einzelnen Inhalte, die den
(jlauben an eine höhere Macht herbeiführen, sondern es ist offenbar auch
etwas an der Funktion selbst Haftendes. Es gibt Kranke, die auch irgend-
welchen inhaltlich unauffälligen Gedankengängen anmerken, daß es nicht
ihre Gedanken sind. Am Gedanken selbst merken sie den fremden Ein-
fluß. Eine Frau will vielleicht ihrem Mann eine Keissuppe kochen, und
sie geht an den Herd und bereitet eine Bohnensuppe zu. Sie merkt, dieser
letztere Entschlufj war ihr eingegeben. Nicht als ob sie nicht schon oft
Bohnensuppe zubereitet hätte, nicht als ob sie nicht auch an diesem Tage
hätte Bohnensuppe kochen können, aber am Entschluß selbst erkannte sie
den gemachten Gedanken ^ Ähnlich ist jenes Phänomen, welches die
Kranken selbst oft als „G e danken ab ziehen" bezeichnen-. Das gleicht
nicht dem, wenn dem normalen Menschen einmal ein Gedanke entfällt,
oder wenn im Zustande der Zerstreutheit sich die Gedankenfäden verwirren.
Das „/Vhziehen" ist etwas qualitativ Neues, sonst nicht Erlebtes; die Gedanken
sinken gleichsam nicht passiv dahin, sondern sie werden von irgendwoher
positiv so beeinflußt, dafj sie sich ändern, ihren Gharakter als meine
Gedanken einbüßen und dann mir direkt genommen werden. Wieder glauben
die Kranken, einem äußeren Einfluß, einer fremden Macht zu unterliegen,
ihr Ich ist in dieser Beziehung gelähmt. Aber man beachte, daß es nur
in dieser Beziehung gelähmt zu sein braucht. Man fasse den Versuch dieser
Beschreibung nicht so auf, als ob ein solcher Kranker nun völlig seiner
^ Pick (2^0) macht auf die unpersönliche Form aufmerksam, in der die Krankea
oft erzählen: ,.es" wurde mir gegeben, ,,es" ist mir eingekommen, ,,es" jjcginnera
sicii mir die Gedanken in den Kopf zu schreiben.
- Ein Kranker Picks (2-I0) erfindet den Ausdruck „intellekluieren".
58 GIIUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Selbststeuerung beraubt sei. Im Gegenteil: meist sind es nur vereinzelte
seelische Rcungcn, die den Charakter des Gemachten haben. Zwei Gedanken
laufen (vielleicht inhaltlich eng mit einander verbunden) kurz hintereinander
daher, und von dem einen vermag der Kranke mit Sicherheit zu sagen,
daß es sein Gedanke sei, während der andere mit ebensolcher Sicherheit
<ils beeinflußt bezeichnet wird. Es kommt freiUch vor, daß der Gedanken-
gang eines Schizophrenen durch solche querkommende Einflüsse für längere
Zeit so heftig gestört wird, daß er dadurch gleichsam verwirrt wird, nicht
anders als wenn ein Nachdenkender durch irgendwelche äußeren Störungen
beständig abgelenkt und schließlich ganz durcheinander gebracht wird.
Das Vergewaltigtwerden des Ichs spielt sich in zwei verschiedenen Formen
ab, die von der klinischen Psychiatrie als die hysterische und die schizo-
phrene Ichlähmung auseinandergehalten werden. Das Zustandekommen
heider ist wahrscheinlich völlig verschieden, deskriptiv haben sie mancherlei
Züge gemein. Auf die l'nterschiede gehe ich später noch ein, hier sollen
erst einige Beispiele für beide Arten mitgeteilt werden.
Für die hysterische Form diene eine Beschreibung von Baelz (7, S. 983):
eine von einem Fuchs besessene Japanerin.
,, Während sie uns mit Tränen in den Augen ihre Leidensgeschichte erzählte,
iiieklete sich der Fuclis. Zuerst zoigteji sich leichte, dann stärkere Zuckungen links
um den Mund und im linken Arme. Sie schlug sich mit der geballten rechten
Faust wiederholt heftig auf die linke Brust, die von früheren solchen Anlässen
her ganz geschwollen und blutrünstig war und sagte zu mir: .Ach. Herr, jetzt regt
er sich liier wieder, hier in meiner Brust.' Da kam plötzlich aus ihrem Munde
eine fremde, scharfe Stimme in schnarrendem Ton: ,Ja, freilich bi/i ich da,
imd glaubst du dumme Gans etwa, daß du mich hindern kannst?' Darauf die
Frau zu uns: .Ach Gott, ihr Herren, verzeiht, ich kann gewiß nichts dafür!',
dann, sich immer wieder auf die Brust schlagend und mit dem linken Gesicht
7.uckend zum Fuchs: .Sei still, Bestie, schämst du denn dicii gar nicht vor dieseai
Herrn?' Der Fuchs: ,Hehehe. ich micli schämen? Warum? .So gescheit we
diese Doktoren bin ich auch. Wejin ich mLch schämte, so wäre es darüber, daß.
ich mir ein .so albernes Weib zum Wohnsitz au.sgesuclit habe.' EHe Frau droht
ihm. beschwört ihn. ruhig zu sein. Er unterbricht sie. und nach kurzer Zeit ist
er im Alleinbesitz des Denkens und der Sprache. Mit einer unfaßlichen Schlagfertig-
keit antwortet er auf alle Fragen, hat sofort für alles eine Erklärung ]>ereit. Die
Frau ist jetzt passiv wie ein Automat, versteht offenbar nicht mehr deutlich, wbh
man ihr sagt, an ihrer Stelle antwortet immer hämisch der Fuchs."
Ferner ein Beispiel aus A. Lehmann (171, S. 533) aus einer Schrift des
beginnenden 17. Jahrhunderts: eine dänische Frau schildert, wie in ihrer
Familie allmählich Besessenheit die einzelnen Mitglieder ergriff :
,,Wir halten einen kleinen Knaben, der im neunten Jahre stand. Er wurde so
wunderlich, daß wir nicht begreifen konnten, was ihm fehlte. Er sagte, es liefe
immer in seinem Leibe und stäche ihn, . . . Als ich nun ün der Stube stand und
das Kind in einem Korbbett lag, wurde das Bett anderthalb Ellen von der Erde
emporgehoben und begann, auf luid nieder zu springen. Ich lief zu Hans und rief
ihn herein. Als wir hineinkamen, war der Knabe aus dem Bett gehoben, er stand
auf dem Kopfe, mit den Beinen in die Luft, und mit ausgestreckteii Armen; und
nur mit großer Mühe gelang es, daß wir ilin in das Bett brachten. Von dem Tage
an sahen wir großen Jammer an ihm. Der böse Geist lief in ihm auf und ai)
wie ein Ferkel und . . . legte seine Glieder so fest zusammen, daß vier stämmige
Kerle nicht stark genug waren, um sie auseinanderzuziehen. Er krähte wie ein Hahn,
bellte wie ein Hund, führte ihn hinauf auf unsere Balken in der .Stube und ebenso
auf das Holzlager im Hofe ... Er zog seine Augen in den Kopf zurück und
ebenso seine Wanecn und machte ilm so steif wie einen Stock, so daß der, der es
BESESSEMU:iT 59
lüclit wulito, niclit anders sagvn konnlu, als dab es ein Stück. Holz sei. Wir IioIxmi
ihn iMnfxu" ^egt>n die Wand. Da stand or oluie alle Bewegungen, wie ein liild
ans Hol/. . . . .Vhends, wenn wir sänge«: .Eine feste Burg ist unser Gt)tt', oder wenn
wir (in dfr Bibel) lasen, wieherte er wie ein Pferd und spottete darüber, so viel
er nur konnte."
..Vis der Pfarrer ^^.Magi.ster Niels Gloslrupj einmal kam. nm uns zu besnclicn,
.-Higlo [i\.\> kind) der .Satan zu iiun: .W'eim icii des großen Mannes wegen dürfte,
tlann windo ich didi s(j t)chandeln, daß du Schande davon hättest. Du betest so innig
zu dem großen Mann für dies Kind und für dies g.inze Haus und quälst nüch damit,
Heule sal.'i ich am Saume deines Kleides, aber als du batest für diesen Knaben,
fiel ich hinab und schlug mir einen Tenfelsschlag, so daß ich Schande bekam.'
iSlag. iSiels antwortete: ,Du Imst genug Schande, du verdammter Geist.' Dann ant-
wortete der Satan: ,Das weiß ich selbst.' — ^^^g- Niels fragte ihn nun: ,Waiui wirst
du, verdammter Geist, diese Wohimng räumen, in welche du dich hineingestohlcn hast,
und dies arme Kind verlassen, das du Tag und iNacht quälst?' Der böse Geist ant-
wxjrlete durch den Mund des Kindes: .Willst du mich hinaushahen?' Darauf ant-
vsorlete Mag. ISicls: .Der allmächtigste Gott soll dich hinaustreiben an den Ort, der
dir in dem ewigen Feuer bereitet ist.' — Der Satan antwortete: .Wenn der große
^L^nn sagt: Schere dicii fort!, dann muß ich das Feld räumen usw.'"
In beiden Beispielen wird die vom Geiste ergriffene Person zur Ver-
mittlerin seiner Äußerungen und Wünsche. Sie ist es zwar wider
Willen, ihr eigener Wille ist irgendwie gelähmt und vermag sich nur zwischen-
durch einmal wieder (ieltung zu verschaffen. Aber sie ist sich der Rolle
dieser Mittlerschaft (Medium) bewußt, mag sie nun dem Geist eines
Fuchses (Japan), einer Hyäne (/Vbessinien), eines Tigers (Indien), eines Rindes
(im Altertum), eines Wolfes (Werwolf, Mittelalter) oder eines Teufels, Engels,
Gottes oder Verstorbenen zu Äußerungen verhelfen (Hennig 112). Das
Medium spielt eine Rolle, es spielt sie vielleicht leidend unter Stöhnen,
Sichkrümmen, Schwitzen und zahlreichen Ausdrucksbewegungen ^, aber es
ist sich dabei bewußt, das Sprachorgan eines anderen Wesens zu sein.
Wenn es einen Geist gäbe, der in einen anderen hineinfahren könnte,
um dort sein Wesen zu treiben, so müßte sich dies wohl in der Tat so
abspielen, wie es das hysterische Medium darstellt.
Solche Schilderungen hysterischer Ichlähmungen, von denen die Literatur
der Religionspsvchologie (Österreich 226 und 227, Delacroix 44, Heyne
118a, Diefenbach 48 a, Längin 167 a, Roskoff 269 a, Nippold 225 a), der
Hysterie (Charcot, Janet 132—134, 137, 137 a. Richer 265, Einet 25,
Mandel 194 a), der okkulten Wissenschaften voll ist, lassen es begreiflich
erscheinen, wie in den Völkern aller Rassen und Zeiten der Glaube an die
Besessenheit aufwuchs-. Sie ließ sich auch künstlich erzeugen. Manche
Vergiftungen werden ja noch heute geschätzt, um sich fabelhaften Sen-
sationen wollüstig hinzugeben (Opium, Haschisch, Kokain, Meskalin)^.
1 Zu den Darstellungen der Besessenen in der Kunst vgl. Heitz (io6aj und
Charcot (3f)b).
2 Aus der Fülle der meist populären uiad verworrenen Schriften zum Okkultismus,
die häufig von offenbaren Psvchotikern stammen, seien hier einige ernst zu nehmende
psychologisch interessante herausgegriffen: Binet (aS), Myers (217, 218), von dem an-
geblich das Wort Unterbewußtsein stanunt, Marillier (196). Jastrow (lA/i). Gyel (lOO),
Chowrin [^o), Aksakow (ib), Boirac (29), Sollier (298), Seiling (289), Freimark
(76), Österreich (aSi), Kotik (160), Tischner (3i4 u. 3i5), v. Wasielewski (323).
3 Zu den Lustrauschvergiftungen vgl. Jastrow (i44). Meunier (202a), Moreau (209),
Baudelaire (ga) und die später (unter abnormen Gefühlen S. 81) angeführte Literatur.
50 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Aber auch in den verschiedensten reUgiösen Kulten bediente man sich
allerlei Mittel, um jenen Zustand herbeizuführen, in dem „der Geist über
ihn kommt". Sandalum, Aloe, Piper, Mastix, Krokus, Kostus, Sulphur
wurden benutzt >, aber auch Gase, die aus Erdspalten hervorquollen, ver-
setzten die Priesterin in die Nähe ihres Gottes: das nveOjaa Kv^ouöiaönxöv,
der anlielitus leirae Delphis. Auch Fasten und sonstige Askese bereiteten
die Seele auf den Umgang mit Gott vor. Freilich war es häufig schwierig,
zu erkennen, ob dann die Seele Gott oder dem Teufel unterlag. Jamblichos
bemühte sich in seinem Werke „De Mysteriis" die göttlichen von den
dämonischen Besessenheiten zu unterscheiden und Kardinal Lambertini
(Benedikt XIV) führte die unterscheidenden Merkmale der objektiv gött-
lichen von den trügerischen oder gar dämonischen im 49. Band des
3. Buches De servorum Dei beatificatione genau an (Job. Müller 216,
S. 61)-. Bei den großen Massenepidemien, die besonders in den links-
rheinisch-deutschen, den holländischen und französischen Nonnenklöstern
vom Mittelalter ab immer wieder ausbrachen ^ vermochten die Besessenen
sogar die Namen der in sie gefahrenen Teufel zu nennen. Leviathan saß
in der Stirn, Beherit im Magen, Balaam hatte sich in der zweiten rechten
Rippe, Isacaron in der untersten rechten Rippe niedergelassen. Noch 1861
brach in Ober-Savoyen (Morzines) eine Ki'ampf-, Tanz- und Besessenheits-
opidemie aus, bei der 120 Personen, besonders Mädchen von 9 — 15 Jahren,
von Dämonen befallen wurden^. Wie oben erwähnt, verstärkten bei
manchen anderen Epidemien sexuelle Halluzinationen den Glauben an die
Besessenheit: manches junge Mädchen schwur, mit dem Teufel Beilager
gehalten zu haben, und bestimmte sich dadurch selbst zum Scheiter-
haufen. In den Inspirationsgemeinden, die sich von 1688 bis 1850
fortlaufend verfolgen lassen, ja selbst noch in der sogenannten Kasseler
Bewegung von 1905 erhielten die Entrückten — oft unter Tänzen und
Krämpfen — Eingebungen ihres Gottes (Avertisseinenfs). Katholische Welt-
anschauung lieferte in den Klosterepidemien keineswegs allein die Grund-
stimmung des Besessenheitserlebnisses, auch die verfolgten französischen
Protestanten verfielen in der CeAcnnen-Bewegung in ganz ähnliche Aus-
nahmezustände (Ende des 1 7. Jahrhunderts). In der Gegenwart ist es das
I^ben der Sekten, in deren engerem vertrauten Kreis sich Entrücktheiten
mit Aufgabe der eigenen Person und das Ergriffenwerden durch „den
Geist" abspielen •'•,
Der Spiritismus, die Gemeinschaftsbewegung, die Heilsarmee, die Metho-
disten, die Negersekten usw. führen durch allerlei Musik, eintönig rhyth-
mische Gesänge, Trommeln, Händeklatschen, ferner durch seltsame Be-
1 ..Fumigationes" des Pelrus de Abano, Elomenta magica. Siehe auch Stoffels (3o8).
2 Dazu auch Poulain (248a), II, S. 3i — n4, und Laurent (i68a), II, S. 237.
^ VgL liierzu die Arbeiten von Richer (265), besonders im Anhang ,, Notes histori-
ques", S. 616, ferner Baelz (7), Österreich (227, 226V Zeitschrift ,. Zeitgenossen",
ab 1817 N. F. 2, S. A8, Hennig (m). James (i3i). Friedmann (81), Hellpach (108),
Calmeil (38a).
■* Ahnhch 1878 in Verzegnis im FriauL
•' tber die Christian Science vgL z. B. Geiger (86), Hellwig (iioV
EMRÜCKTHEIT. /l.NT.KNRLDEN 6£
leuchtungen, Käucherungen usw. den Zustand lu'rhi'i, in dein dann der
besontlers Disponierte vom (Jott geschlagen wird (^l'^rweckungen, lirrirdLs).
Garn ähnhche ICnlrücklheiten uiul Besesscnheilszuslände werden aus den
sonst so gänzhch anders gearlelon Kulturkreisen des Ostens beschrieben.
Psychologisch ist es dort derselbe \ organg. Nur fehlt dort meist das
Moment der Massensuggestion. Viele einzelne Källe von Besessenheit werden
noch heute in China, Japan, Korea, Sibirien beobachtet. In manchen Ge-
geiuleu sind ganze l'amilien bekaimt, deren einzelne (ilieder besonders leicht
vom (leiste belallen werden. \\ ie es im alten babylonischen Reich schon
berufsmäßige Beschwörer gab (l'^a- und Mardukpriester), wie in Griechen-
land die ürpheotelesten als „Teufels"austreiber im Lande umherzogen, so
gibt es heute noch geübte Geistbeschwörer, die im Herumziehen in Si-
birien (Schamanen) und Japan (Hoin- und llokkepriester) ihr Gewerbe be-
treiben (Baelz 7).
Die Überzeugung, daß das eigene Ich in der Besessenheit irgendwie über-
wältigt und daß wirklich ein fremder Geist in das menschliche Gehäuse
eingezogen sei, wird nicht nur durch die \'ersicherungen der Beteiligten
selbst erweckt, welche diese Besitzergreifung oft mit vielen Einzelheiten
schildern, sondern auch die objektiven Produktionen der Ergriffenen
im Ausnahmezustand liefern ja hierfür einen „Beweis"^. Wie schon oben
erwähnt, bedienen sie sich oft „fremder" Worte, d. h. Worte, die ihnen
selbst bisher gar nicht bekannt waren, also doch auch nicht von ihnen —
so scheint es — stammen, sondern nur von anderen Wesen eingegeben
sein konnten. Wenn man Lukians Geschichte von Alexandros, dem Lügen-
propheten, kennenlernt, so stimmen alle Umstände dieser Massenpsychose
so getreu mit ähnlichen Bewegungen unserer Tage überein, daß man sich
Avundert, nicht auch von Neologismen erzählt zu bekommen. Von der
lallenden und oft unverständlich geheimnisvollen Sprache der Ergriffenen
in den Krampf- und Tanzepidemien des Mittelalters wird in den Berichten
nicht selten gesprochen. Jakob Böhme erfand — um nur ganz weniges
anzuführen — eine Reihe eigener Worte, die Seherin von Prevorst und
andere von Kerner (150 S. 208 und 233) erwähnten Somnambulen redeten
in seltsamen Sprachen, „die einer orientalischen Sprache ähnlich zu sein
schienen". Und die vom Geiste Gottes Ergriffenen haben in den verschie-
densten Religionskreisen immer „mit Zungen" geredet, d. h. in einer
von ihnen selbst nicht beherrschten, ihnen selbst unheimlich feierlich
fremden Art. Man kann (mit Österreich 227) verschiedene Formen dieses
yXcocJöaiq XaXeiv unterscheiden: auf der ersten Stufe spricht der Ergriffene
nur in einer gehobenen, gewandten Rede mit gesteigerten und dichterischen
1 Mit dern Glauben, nur „Gefäß" einer fremden Seele zu sein, hängt natürlicli
aucli eng jene andere Cberzeugxing der Metempsychose zusammen, in ver-
gangenen Zeiten selbst sich schon einmal eines anderen Körpergefäßes bedient zu haben.
Dabei glauben manche Anhänger der Seelenwanderung nicht etwa, früher schon
einmal auf Erden als solche gewandert zu sein, die im Charakter als ähnlich
überliefert sind, sondern diese wählen sich rückwärts gewendet meist illustre Persön-
lichkeiten. (.\ndcrs in den östlichen Religionen.) Manche glauben ernstlich an diese
Seelenwandcrung. andere fassen sie in freundlich symlx>lischcm Sinn.
,,Acli. du warst in abgelebten Zeiten meine Schwester oder meine Frau." (Goethe,
i4. April 1776.) Vgl. auch Fischer (62).
g2 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Ausdrücken in einer Weise, die seinem normalen Geisteszustand gänzlich
unan"-emessen erscheint ^ Man denke etwa an manche Prophezeiungen
des aUen Testaments''. Auf der zweiten Stufe kommt es zum Reden in
fremden Zungen, d. h. in fremden Sprachen. Hört man genau zu, so handelt
es sich zweifellos um Worte einer bekannten Sprache — zuweilen sind
auch mehrere Sprachen untereinander gemischt — , doch entbehren sie meist
des lof^ischcn Gefüges, des Satzbaus. Das Erstaunliche dabei ist, daß der
Prophet diese fremde Sprache zu kennen in seiner gewöhnlichen Geistes-
verfassung glaubhaft leugnet. Drittens hört die gläubige Gemeinde zuweilen
eine neue Sprache, die selbst vielsprachenkundige Leute nicht als diejenige
eines bekannten Kulturkreises anerkennen. Sie ist wirklich neu, wenngleich
das Ohr zuweilen Anklänge an bekannte Fremdsprachen herauszuhören
glaubt. Sie ist objektiv wahrhaft sinnlos, wenngleich der Ergriffene natürlich
ebenso einen Sinn damit verbinden kann, wie der Geisteskranke. Denn
auch dieser spricht nicht selten in einer selbsterfundenen Sprache, zuweilen
sicher, ohne etwas zu „meinen", zuweilen ebenso sicher mit einem be-
stimmten Gegenstandsbewußtsein. Vergl. z. B. Äußerungen von Flournoys
Medium (66, S. 180):
Kesin onitidje basimini meleche tinis toutch,
oder
Dode ne ci haudan te meche metiche
(Dies ist das Haus des großen Mannes)
astane ke de me veche
(Astane, den du hast gesehen).
Man vergleiche hiermit die Äußerungen eines erregten, verblödeten Epi-
leptikers:
„Winne ta winne ta wien ta ziehn,
Wie er sitzen auf dem hohen Zahn.
Tara tara tamineta baff,
Dann werd ich's einem andern sagen ta baff.
Rohn, rohn mein Sohn,
In meinem Sinn, wo ich wohn."
(Ludwig Robel, 24. Juni 1910, Psychiatr. Klinik, Heidelberg.)
Hier sei noch eine Probe aus der selbstgeschaffenen Sprache eines kata-
tonischen Geisteskranken mitgeteilt:
Freundlich ein vergangen le komlarah (das heißt nichts weiter als: „Guten Abend,
der Arzt.'") — Fall von Karl Tuczek (3i5a).
Ich kann hier nicht näher auf das Problem der Glossolalie eingehen
es ist ein besonderes Kapitel aus der Religionspsychologie ^. Ich will nur
zur Veranschaulichung des Ausnahmezustandes, in dem sich die Zungen-
1 Siehe auch später unter Hypnose.
- Auch im epileptischen Ausnahmezustand kommen solche feierlich gehobenen
Ansprachen nicht selten vor. Bei diesen handelt es sich freilich fast niemals um ein
iniialtlich gehobenes Niveau, sondern nur um schwülstig feierliche, inhaltsleere Rede-
wendungen, die aber trotzdem und gerade wegen ihrer Unbestimmtheit auf gläubig
disponierte Zuhörer einen großen Eindruck machen können.
3 Vgl. das mehrfach erwähnte Buch von Österreich (227) und die dort angegebene
Literatur. Femer Mosiman (212), Hennig (112), Lombard (186, 187), Pfister (aSg).
ZUNGENREDEN 63
retlncr befinden, zwei l'robiMi mitteilen: erstens das altvertnuitc Ka[)itel 2
der A|)i)steIi,'(>s(liiclito (die Frauke der historischen „VVahrhcil" steht hier
aulierliulb tier iietrachlung).
Apostelgeschichte Kap. 2, 5. 1 13.
,,Und als der Tag der Pfingsten erfüllet war, waren sie alle einmülhis hey ciiimuler.
Und es geschah schnell ein Brausen vom Himmel, als eines •gewaltigen Windes, und
erfülleto das ganze Haus, da .sie saßen. Und in.in saho an ihnen die Zungen zer-
tlieilet, als wären sie feurig. Und er setzt*? sich auf einen jeglichen unter ihnen;
und wurden allo voll des heiligen Geistes, und fingen an zu predigen mit andern Zungen,
nachdem der Geist ihnen gah auszuspreciic<i. Es ware«i aber Juden zu Jernsaleni
wchnend, die waren gottesfürchtige Männer, aus allerley Volk, das unter dem Himmel
ist. Da nun diese Slnnme geschah, kam die Menge zusammen, und wurdeii verslür/t;
denn es hörele ein jeglicher, daß sie mit seiner Sprache redeten. Sie entsetzten sich
aber alle, verwunderten sich, und sprachen unter einander: Siehe, sind nicht diese
alle, die da reden, aus Galiläa? Wie hören wir denn ein jeglicher seine Sprache, darinnen
wir geboren sind? Partlier, und Meder, und Elamitor, und die wir wohnen in
Mesopotamien, und in Judäa, und Cappadocien, Pontus und Asien, Phrygicn und
Paniphylien, Ägypten, und an den Enden der Lybien bey Kyrene, und Ausländer von
Rum. Juden und Judengenossen, Creter und Araber; wir hören sie mit unscrn Zungen
die großen Thaten Gottes reden. Sie entsetzten sich aber alle, und wurden irre,
und spraclien einer zu dem andern: Was wall das werden? Die andern aber hatten
es ihren Spott, und sprachen: „Sie sind voll süßen Weins."
Ein zweites Beispiel aus unserer Zeit entnehme ich der Einführung in
die Rehgionspsychologie von Österreich (227)^. Ein Steglitzer Geistlicher
Paul beschreibt in Heft 109 und 110 seiner Zeitschrift „Die Heiligung"
selbsterlebtes Zungenreden:
„Zwischen lO und ii Uhr war die Arbeit an meinem Munde so stark, daß der
Unterkiefer, die Zunge und die Lippen sich zum SprecheJi bewegten, ohne daß
ich dies veranlaßt e. Ich war dabei völlig bewußt, ganz still im Herrn, tief
glücklich, und ließ dies alles geschehen, ohne dabei sprechen zu können. Wenn ich
auch laut zu beten versuchte, so ging es nicht, denn k e i n e s meiner deutschen
Worte paßte in die Mundstellung hinein. Ebensowenig paßten
andere Worte aus einer der mir bekannten Sprachen zu den
M u n d s t el 1 u n g en, die an mir fort und fort vorgingen. Ich sah auf diese Weise,
daß mein Mund stumm in einer fremden Zunge redete; und ich erkannte, es müsse mir
jetzt noch gegeben werden, auch entsprechend auszusprechen. Gegen n Uhr ent-
ließen wir einige von uns, zumal solche, die jnorgens früh wieder zu arbeiten hallen;
und so blieben außer mir noch zwei Brüder zurück, einer von ilmen ist Pastx)!' H.
Als wir wieder beteten, begann die Arbeit wieder an meinem Mund, und ich sah, daß
ich nun die Gabe brauchte, auch Töne den Lippenbewegungen zu verleihen. Ich
blickte auf zum Herrn, daß Er es geben wolle: und bald danach wurde ich zum
Sprechen angeregt. Jetzt aber geschah etwas Wunderbares. Es war mir, als wenn
in meiner Lunge ein Organ sich bildete, welches die in die Mundstellung passenden
Laute hervorbrachte. Da die Mundbewegungen sehr schnell waren, mußte dies recht
rasch geschehen. Es war mir, als wirbelten sich die Töno auf diese Weise heraus.
So entstand eine wundersame Sprache mit Lauten, wie ich sie nie geredet jiatle. Ich
hatte den Eindruck nach dem Klang derselben, es müsse ,, chinesisch" gewesen sein.
Danach kam eine völlig andere Sprache mit ganz anderer Mundslellung und wunder-
samen Tönen. Da wir gerade an diesem Tage Missionsversammlungen für China tind
die Südsee hatten, lag es mir nahe, zu denken, es könnte dies eine Mundart der Südsco
1 Dort finden sich viele wertvolle Beiträge zur Psychologie, nicht nur der Glossolalie,
sondern auch der Entrücklheit, Ekstase usw. Die Hauptquellen für alle weiteren hierher
gehörenden Einztilheitcn sind die Werke Flournoys (G/j — Gg). Ihr Studium macht die
Lektüre «ines großen Teiles der älteren, recht verworrenen Literatur eJilbe'iilich.
Siehe auch Vorbrodt (32 1).
^ GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORiMEN
O
a2oL
Fig. I
(Fig. 2 aus Fiournoy [66]) Schrift der Marsbewohner.
Erster Marstext von Fräulein S. niedergeschrieben (gemäß Visualhalluzinalionen)
Natürliche Größe. Anbei folgt die französische Transkription :
astane
esenale
pouze
mene simand
ini
mira
INSPIRIERTE SCHRIFT 65
gewesen sein. Ich weiß nicht, wie lange ich so redete. Gewiß wohl einige Minuten-
Dann mußte icli in deutsclier Sprache in IxAy und Anbetung meines Gottes ausbrechen.
Bei <licsem ganzen Vorgang saß ich, je<loch wurde mein Leib dabei von einer großen
Kraft gi'schütt<^lt, keineswegs unangiiiehm otlor schmerzhaft, im Gegenteil waltete
in und über mir eine stille Ruhe, und d<ir Leib, das irdische G«fäß, bebte unter der
Macht und Majestät des Herrn. Ich selbst konnte nicht anders. Ich mußte nachher
nochnials ausrufen: O Jesus, wie schön bist Du!"
Die Zuhörer der Krweckungen oder die Zuschauer spiritistischer Sitzungen
werdtMi in ihrer Gläubigkeit natürhch noch gestärkt, wenn sie sehen, wie
die Medien auch \V erke produzieren, die nicht von ihnen, sondern von
(leisterhand stammen.
Floumo\s Vp. Helene Smith keimte nicht nur bekarmtgeben, wie die Sprache
dor Mar.<l)ewohncr, später die Üllramarssprache, dann die uranische, endlich das
Mondidiom laiite^^, sondern sie teilte auch die Schriftzeichen von einem jener
Himmelskörper mit (siehe Figur i) und schrieb außer mit ihrer eigenen Handschrift
auch mit der ihres Geistes Leopold. (Siehe Figur 2.)
Jeanno Marie Bouvier de la Motte-Guvon (geboren 16/18) schrieb oft ihre Auf-
zeichnungen nicht nur ohne, sondern beinahe gegen ihren Willen. Sie berichtet:
„Dans cette retraite il me vint un si fort mouvement d'ecrire, que je nc pouvais y
r^sister. . . . Jamais cela ne m'etait arrive. Ce n'est pas que j'eusse rien de particulier
ä ecrire: je n'avais chose au monde, pas m^me une idee de quoi que ce soit.
C'etait un simple instinct, avec une plenitude, que je ne jxyuvais supporter . . . En
prenant la plume je ne savais pas le premier mot de ce que je voulais ecrire. Je
ine mis ä ecrire sans savoir comment, et je trouvais quo cela veuait avec une
impetuosile efrange (Delacroix, 44, S. i65). — Gar ceux qui me voient ecrire savent
bicn que je le fais sans aucune etude ou speculation humaine; et que cela coule de mon
€»sprit comme un fleuve d'eau coule hors de sa source; et que je no fais que pretei*
ma main et mon osprit ä une aulre puissance que la mienne (44, S. i58). — J'etaLs
moi-memo surprise des lettres que vous (il s'agit de Dieu) me faisiez ecrire, auxquelles
je n'avais guere de part que le mouvement de ma main: et ce fut en ce temps-lä
qu'il me fut donne d'ecrire par l'esprit Interieur et non par mon esprit . . . aussi
ma maniere d'ecrire fut-elle toute chang'ee; et l'on etait etonne quo j'ecrivisse avec
tant de facilile (44, S. i5i). — L'ame ,ne vit plus, n'opere' plus par elle-
meme, mais Dieu vit, agit et opere" (44. S. i43)^.
Das Medium Flournoys schuf in ihrer Vielseitigkeit auch noch andere Werke außer
den inspirierten Schriften. Sie zeichnete Marsblumen, -tiere, -lampen, -landschaften,
Ultramarsbewohner in ihren Räumen usw. Und alle diese ihr sonst völlig fremden Kennt-
nisse und Fähigkeiten erhielt sie durch ihren Geist und Beherrscher Leopold (angeblich
identisch mit Joseph ßalsanio-Cagliostro). Er zeigt sich ihr und verdeckt dabei andere
Gegenstände der Umgebung, oder er verdrängt mit anderen Visionen die ganze augen-
blickliche Situation. Er spricht in ihr linkes Ohr, bald aus zwei Meter Entfernung,
bald von viel weiter. Er rüttelt den Tisch, au:0 demi ihre unbewegten Hände ruhen.
Kr spricht durch sie mit rauher Mannesstimme in italienischem Tonfall. Er bleibt
bisweilen wochenlang fort und gibt sich kund, wenn sie es am wenigsten envartet.
Er diktiert ihr Dichtungen, zu denen sie sonst nicht fähig wäre, er gibt ihr Befehle,
gegen die sie sich aufbäumt (66, S. 92).
In anderen Fällen wird nicht eine bestimmte fremde Persönlichkeit ge-
nannt, der der Produzierende seine Werke verdankt, sondern nur das
Passive, das Ergriffenwerden, das Erfülltsein wird betont. Es gibt eine be-
sondere kleine Gattung von Kunst, die unter dem Namen der mediumisti-
schen Kunst insofern einheitlich ist, als die betreffenden Künstler selbst
1 Vgl.: V. Henry (ii3).
2 Delacroix' Werk (44) ist für das Studium der Entrücktheiten, Verzücktheiten usw.
sehr wichlig.
5 Kafka, Vergleichende Psychologie HI.
66 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
%i^ tU ^cryvt cd) ^(MoTVneJ Je //'.
Vn
Fig. 2
(Fig. I aus Flournoy [65]) Doppelte Persönlichkeit mit doppelter Schrift.
Fragment eines Briefes von Fräulein S. (28. 2. 1900). Es enthält 2^2 Zeilen einer anders-
artigen Handschrift, mitten in ihre gewöhnliche Schrift eingeschoben. Man beachte besonders
die Form der p, r, ss und d.
die Fähigkeit zu dem Geschaffenen bei sich im gewöhnlichen Zustand ver-
neinen. Selbstverständlich sind von dieser eigenartigen Kunstausübung treff-
liche und gänzlich wertlose Werke geschaffen worden^.
Bei der plötzlichen Erscheinung einer künstlerischen Idee, einer tech-
nischen Erfindung oder eines wissenschaftlichen Gedankens hat der Nach-
denkende nicht selten den Eindruck, als sei er selbst unbeteiligt. Er er-
lebt den betreffenden Einfall nicht als fremdartig, erst recht nicht als auf-
gezwungen, aber er fühlt sich dabei passiv: „es" denkt in ihm. Eine Er-
leuchtung kam über ihn irgend woher. In dem Zusammenhang dieses
Kapitels soll dieses Phänomens nur insofern gedacht werden, als das Willens-,
das Initiativerlebnis, das Verbundensein mit dem Ichgefühl hierbei häufig
fehlt. In der Breite des normalen Erlebens liegt es ja als ein wohlbekanntes
Verfahren, daß man seine Aufmerksamkeit auf irgendein Problem (z. B.
auf eine mathematische Aufgabe) fest konzentriert. Alle Voraussetzungen
der Aufgabe und die Fragestellung selbst sind klar im Blickpunkt des Be-
wußtseins vorhanden, eine Lösung zeigt sich im Augenblick nicht, alles
1 Vgl. Freimark (75), Fleury (63).
INSPIRATION 67
stockt, alle seelische Energie ist aufs höchste gestaut: da [)lölzlicii durch-
bricht der neue Gedanke die Schranken, in einem besonderen (jefühl der
Lösung, iler Erleichterung, in einem Moment, den die neue Denkpsycho-
logio gern als das „Aha"-I'>lebnis bezeichnet, stellt sich die Auflösung des
gedanklichen Problems, der Einfall, die Erfindung ein ^ Man hat ja eben
den besonderen Ausdruck „Einfall" geprägt, um das nicht weitläufig Abge-
leitete sondern plötzlich Hereinfallende zu kennzeichnen. Insofern ist an
dem lUiänomen nichts Absonderliches. In den Fällen dichterischer Intuition
oder wissenschaftlicher Erkenntnis steigert sich aber das ßewufitsein, nur
Schauplatz der (bedanken, selbst nur gleichsam erleidend zu sein, zuweilen
derart, dali sich allmählich Übergänge zu dem oben besprochenen Phänomen
der Depersonalisation einstellen-.
Ilclmholtz sagte in einer Rede einmal (1891, zitiert nach Hennig [11 11) :
„Die günstigen Einfälle . . . schleichen oft ganz still in den Gedanken-
kreis ein, ohne daß man gleich von Anfang an ihre Bedeutung erkennt;
dann hilft später zuweilen nur noch ein zufälliger Umstand, zu erkennen,
wann und unter welchen Umständen sie gekommen sind; sonst sind sie
da, ohne daß man weiß, woher. In anderen Fällen aber treten sie plötzlich
ein, ohne Anstrengung, wie eine Inspiration. Soweit meine Erfahrung reicht,
kamen sie nie dem ermüdeten Gehirn und nie am Schreibtisch".
Zahllos sind die Zeugnisse der Künstler und Gelehrten, die diesen Tat-
bestand in immer neuen Formen wiedergeben. Je nach der Bildung, Kultur-
beherrschung und dem dichterischen VVortvermögen des einzelnen schwanken
diese Äußerungen zwischen der nüchternen Beschreibung dieser freisteigen-
den Ideen, für die sich keine Ableitung, keine Herkunft aufzeigen läßt, bis
zu der Schilderung seltsam verklärter Zustände, in der die Erkenntnisse
von außen, von „oben" auf den Ergriffenen herabströmen.
Ein Ausspruch Nietzsches sei noch genannt:
„Hat jemand . . . einen deutlichen Begriff davon, was Dichter starker Zeitalter
Inspiration nannten? . . . Mit dem geringsten Rest von Aberglauben in sich würde
man in der Tat die Vorstellung, bloß Inkarnation, bloß Mundstück, bloß Medium
übermächtiger Gewalten zu sein, kaum abzuweisen wissen. Der Begriff Offenbarung
in dem Sinne, daß plötzlich mit unsäglicher Sicherheit und Feinheit etwas sichtbar,
hörbar wird, etwas, das einen im tiefsten erschüttert und umwirft, beschreibt einfach
den Tatbestand. Man hört — man sucht nicht; man nimmt — man fragt nicht, wer
da gibt; wie ein Blitz leuchtet ein Gedanke auf, mit Notwendigkeit, in der Form ohno
Zögern, — ich habe nie eine Wahl gehabt . . . Alles geschieht im höchsten Grade
unfreiwillig, aber wie in einem Sturm von Freiheitsgefühl, von Unbedingtsein, von
Macht, von Göttlichkeit."
Und Otto Ludwig an irgendeiner Stelle: „Dies alles in großer Hast, wobei mein
Bewußtsein ganz leidend sich verbal t." — Goethe zu Eckermann (1828) :
Der 'Mensch „als ein würdig befundenes Gefäß zur Aufnahm© eines göttlichen
Einflusses" ■*.
1 Inwiefern solche Erfindungen schon bei Tieren vorkommen, dazu vgl. Koehlers
Schimpansenarbeit (i56) und Bühlers Ausführungen hierzu (35), sowie dieses Handb.
Bd. I. S. 91, 126 ff.
2 Zur Inspiration, Intuition vgl. Moebius (2o4), Nachmansohn (219), Waldslein f322a).
3 Vgl. über Goethes Stellung zu diesen und ähnlichen Problemen Seiling (289).
Der heilige Dunstan ließ eine im Schlaf in einer Eingebung gehörte Antiphonie gleich
nach dem Erwachen samt der Melodie aufzeichnen. (Vita Dunstani S 29, zitiert
nach Bezold [23a]. — Zum Problem dos Dichters siehe auch Hinrichsen (338 f.).
5*
gg GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Von dieser Art der Ichlähmung, die von den leichten Andeutungen des
Unbeteiligtseins in der Inspiration bis zu jener Opferung der Persönlich-
keit an den Dämon gleichsam ansteigt, ist jene zweite Form wesensver-
schieden, die bei der schizophrenen Geistesstörung vorkommt. Hier hat der
Kranke nicht das Bewußtsein einer medialen Rolle, er hält sich nicht für
das Werkzeug eines außerpersönlichen Wesens im Sinne einer Mittlerschaft.
Hier findet sich auch nichts von irgendeiner Theatralik; er denkt gar
nicht daran, Zuschauern etwas mitzuteilen, er wüßte auch gar nicht, was
er mitteilen sollte. Er hört zwischendurch vielleicht einmal ein halluziniertes
ihm unverständliches Wort, und dann kann man ihn, wenn er sich unbe-
obachtet glaubt, einmal leise fragen hören, z. B. „Wie? enzodir?" Aber
sonst ist er still, leidend. Er grübelt vielleicht über den Inhalt der gemachten
Gedanken nach, er sinnt traurig darüber, wer ihm denn nun wiederum
seine Gedanken abziehe, wer seine Entschlüsse aufhielte, wer ihn beeinflusse.
Er ist mit sich reichlich beschäftigt. Er glaubt sich nicht so häufig besessen
von einem Geist, als gequält von irgendwelchen Verfolgern, welche ihm
— vielleicht durch Maschinen — jene Beeinflussungsqualen bereiten.
Um diese Qualen richtig zu beschreiben, bedienen sich die Kranken nun
sehr verschiedenartiger Ausdrücke. Offenbar ist das ganze Symptom auch
in sich nicht ganz einheitlich, so daß es nicht nur in der verschiedenen
Darstellungsfähigkeit der Erkrankten liegt, wenn sie sich recht verschiedener
Wendungen bedienen,
Schreber (284) spricht von einem „Denkzvvang", — ,,eln Ausdruck, den mir die
inneren Stimmen selbst genannt haben, der aber anderen Menschen kaum bekannt sein
wird, weil die ganze Erscheinung außerhalb aller menschlichen Erfahrung liegt" (S. li'j).
Er werde zu unablässigem Denken genötigt, und zwar durch Strahlenwirkung, die von
Tausenden von Seelen auf dem Wege des Nervenanhangejs ihn erreichen. „Bei einer
bestimmten Gelegenheit zogen auf einmal a/io Benediktinermönche unter Führung eines
Paters, dessen Name ähnlich wie Starkiewiez lautete, als Seelen in meinen Kopf ein.'
(S. Aq.) Träume wurden nicht von seinen eigenen Nerven unwillkürlich hervorgerufen.
Sondern von Strahlen in dieselben hineingeworfen (S. 67). Die göttlichen Strahlen
lasen auch seine Gedanken (S. i37), sie muteten ihm völlige Regungslosigkeit zu
(S. ilii), sie verfälschten seine Stimmung durch Wunder (S. i44)- Die Wahl seiner
Worte beruhte nicht auf seinem eigenen Willen, sondern auf einem gegen ihn geübten
äußeren Einfluß (S. 216). Zuweilen vnirde automatisch ein Brüllzustand veranlaßt
(S. /.gi).
Staudenmaier (3o3) fühlte häufig eine Beeinflussung seiner Augen (S. 21), auch
seine Hand stand unter dem merklichen Einfluß eines Wesens, die Beine wurden zu
Krämpfen veranlaßt, der Gesichtsausdruck wurde abgeändert (S. 28). Eine fremde
Macht war in ihm bestrebt, seine Zunge seitlich hin und' her zu bewegen oder auch
vorzustrecken (S. Sa). Intelligente Teilwesen, an einen seitlichen Platz im Organismus
verwiesen, erlangten auf die Gemütsstimmungen imd auf die ganze Lebens- und
Handlungsweise des bewußten Ichs außerordentlichen Einfluß. Sie suchten ihn nicht
selten heimlich auszufragen und ihm ihre Ideen aufzudrängen (S. 60). Ganze Ideen-
gänge wurden ihm von irgendeiner Personifikation suggeriert (S. 61). Machte sich
eine solche einmal in gemeingefährlicher Weise bemerkbar, so besaß er ihr gegenüber
doch die erforderliche Widerstandsfähigkeit (73).
Ein schizophrener Tischler erzählt (Otto Stoff, 20. November 09, Langenhom):
, .Dieser H. besitzt die Fähigkeiten zu hypnotisieren, und ich habe eine Zeitlang
unter seinem Einfluß gestanden. Er hat wiederholt versucht, mir Handlungen auf-
zuzwingen, die, wenn ich sie ausgeführt hätte, jedenfalls schwer bestraft worden wären.
So z. B. hat er mich öfters auf die Schutzleute gehetzt, ich sollte wiederholt auf der
Straße einzelne niederschlagen. Ich wurde jedoch an dnr Ausführung dadurch zurück-
GEMACHTE GEDANKEN 69
gehalten, daß ich slcls im letzten Momejil an meine Braul daclite, was dann stet»
7ur Folge hatte, daß ich dadurch blit/sclmell wie umgewandelt war. Das ist die
Tclepathio". — ,,Ich wußte schon alles vorher durch Telepathie, sogar die Godankco
anderer Leute, das wissen auch die Ärzte. Ich habe gewissermaßen einen Kontroll-
blick 1." — ,, .Meine Braut ist mein guter Leitstern, ich habe an der Frau eine ganze
Welt, ich stehe ja fortgesetzt unter ihrem guten Einfluß, ich kann es ja in mir
fühlen, wie sie an mich denkt, sogar kann icii in mir merken, wenn sie weint." Er
habe die Denkkraft verloren, jetzt verliere • er das Bewußtsein, jetzt müsse er anders
denken, jetzt gehe die Hypnose los. Solange er Mensch w-ar, habe er anders gedacht
und gegrülH?ll, jetzt habe er etwas verloren. Er komme mitunter auf die QOcr Jahre
zurück, unil da träume er wie früher, aber nur bis zu einem gewissen Stadium, dann
habe er wieder Denkkraft. Daim liabe er wieder die iMannessprache. In Friedrichs-
berg habe er Telepathie tlurcii das Lalxjralorium gemerkt; wenn er geschlafen habe, seien
die Gespräche durch Telepatlue gekommen. Dort habe er nicht recht essen können,
weil er von den liegenden Personen zu stark getrieben worden sei, das habe ihn so
angestrengt.
„Ich hab' so Durchziehen durch den Kopf. So als wie wenn jemand was erzählt
oder was von anderen, das zieht dann bei mir durch . . . Daß ich auf diesem
Weg was mit mir machen lassen muß, statt mündlich oder schriftlich! Daß ich all die
Sachen vor 20 Jahren oder so durch meinen Kopf muß ziehen lassen, daß ich alles
auf einmal erfahr'. Ich hab' nur mit Durchziehen zu tun. Besser kann ich's
nicht au.'-drücken. Manclmial geht's den ganzen Tag, mal stärker mal schwächer.
Es ist nichts dabei zu unterscheiden von Männer- oder Frauenstimmen. Einmal ist's
so durchgezogen vom Kaufhaus und vom Massengrab und vom Runlerstürzen und
mal die Nacht durch von Sibirien. Die Worte weiß ich nicht mehr. (?) Es isti
kein Ton dabei, nur daß es mal stärker und mal schwächer durchzieht. Es ist wie
wenn w.is erzählt v>ird; so gut man's sonst mit den Ohren hört, so zieht das dann durch
den Kopf. Es ist manches wahr, und manches ist dazu gemacht, um den Kopf durch-
einander zu machen. Manchmal hab' ich gemerkt, daß auch die Gedanken von den
andern bei mir durchziehen. Ich weiß nicht, von wcm's herkommt, wessen Gedanken
das sind. Von mir geht nichts aus, ich hab' nur Durchziehen. Es muß ein ganz
dickes Buch sein, daß icii durch mich muß durchziehen lassen. Den Kindern wird's
auch durchgezogen. Da hab' ich nichts dagegen machen können. Das ist was anders
als ■ hören, auch nicht wie nachdenken." (Lina Trenkel, Psychiatr. Klinik Heidelberg,
20. Mai 191 1.)
Neben dem Gedankenmachen, dem Gedankenbeeinflussen oder -durch-
einanderbringen und dem Gedankenabziehen steht wohl hier auch noch
ein anderes Phänomen an der richtigen Stelle. Manche Kranke glauben,
ihre Gedanken gehörten nicht ihnen allein; andere hätten daran teil, ja
die ganze Stadt wisse davon. Solche Überzeugungen können sich selbst-
verständlich auf verschiedenen Wegen bilden: Wenn ein Paranoiker dem
Gebaren der Leute überall, wohin er auch reist, anmerkt, daß sie über
seine Person orientiert sind, oder wenn ein Halluzinant den Inhalten seiner
„Stimmen" entnimmt, daß diese schon alles wissen, so hat dies gewiß
nichts mit einer Ichlähmung zu tun. Wenn aber ein Schizophrener an
seinen eigenen Gedanken — ohne Stimmen zu hören — „fühlt", daß sie
Gemeingut der Stadt, ja der Welt sind, so spricht vieles dafür, daß es hier
eben eine qualitative Veränderung dieser Gedankenvorgänge selbst ist: sie
gehören ihm nicht mehr allein an, sie sind ihm irgendwie entfremdet, sein
Ich ist nur halb an ihnen beteiligt. Analysiert man die Symptome vieler
^ Man beachte hier die Kombination des Gedanken-gemacht-Bekommens mit dem
irrtümlichen Bekanntheitscharakter. (Siehe oben bei dejä Vll.) — Viele Behauptimgeo
über Gedankenübertragungen usw. sind auf solche schizophrene Selbstzeugnisse zurück-
zuführen. Vgl. auch hierzu die oben zum Okkultismus angegebene Literatur S. Sg).
70 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Schizophrener, so ist man von der Zugehörigkeit dieses Phänomens zur
Ichstörung überzeugt.
Ein Leser, der den bisherigen Ausführungen über die Pathologie des
Ich aufmerksam gefolgt ist, wird nun vielleicht noch die Erörterung der
Zwangsvorstellungen in diesem Zusammenhang erwarten. Ein Kranker,
der soeben wörtlich angeführt wurde, sprach ja vom Denkzwang. Gehört
nicht auch das Problem der Zwangsvorstellungen hierher? Sicherlich nicht.
Beim Denkzwang, wie Schreber (284) es nennt, muß er denken, ganz all-
gemein, und die dann entstehenden Gedanken sind gemachte oder doch
irgendwie beeinflußte, z. B. auf halluzinierte Fragen als Antworten erzwungene
Gedanken. Die Zwangsvorstellung ist nicht von irgendeinem fremden Wesen
her gemacht, sie ist meine eigene Vorstellung, wenngleich ich mich ver-
wundere, wie ich selbst auf solches dumme Zeug verfalle. Man macht sich
ihr Wesen am ehesten klar, wenn man sie mit einer jMelodie vergleicht,
die einen schon den ganzen Morgen verfolgt. Hierüber siehe dann später.
Wie läßt sich nun dieses in sich so verschiedenartige hier an mannig-
fachen Beispielen anschaulich gemachte Symptom der Ichstörung erklären?
■ — Aber was heißt erklären? Versteht man darunter das Zurückführen auf
irgendwelche außerpsychische Ursachen, so ist eine Erklärung nicht allzu
schwer. Alan wird mit Recht bei der Entfremdung der Wahrnehmungswelt
z. B. die Ermüdungstoffe des Körpers als Ursache bezeichnen können. Man
wird für manfhe Entrücktheiten die eingenommenen Gifte verantwortlich
machen können, man wird endlich bei der schizophrenen Geistesstörung
annehmen können, daß die zwar noch nicht nachgewiesene, aber mit guten
Gründen angenommene Stoffwechselstörung die Hauptursache der Erschei-
nungen sein wird. Aber dies sind mehr Fragen der Physiologie oder der
Medizin. Versteht man jedoch unter „Erklären" die Einordnung dieser
Symptome in andere wohlbekannte Erscheinungen des Seelenlebens an wohl
überlegter Stelle, so läßt sich hierzu folgendes sagen.
Dem naiven Erleben des normalen Bewußtseins erscheint jede seelische
Regung selbst^'erständlich mit der Ichqualität verbunden. D. h. alle see-
lischen Inhalte, die in das Blickfeld des Bewußtseins treten, erhalten in
diesem Augenblicke diese Qualität. Gebraucht ein naiv Erlebender dennoch
ohne viel Nachdenken einmal das W^ort „es", z. B. es ist mir eben ein-
gefallen, so meint er damit nur, daß aus der Fülle der Automatismen, die
sich unbeachtet unaufhörlich in ihm abspielen, ein einzelnes Element in
den Blickpunkt seiner Aufmerksamkeit getreten ist, ohne daß er es gewollt,
erstrebt hat. Aber keineswegs will der Nichtreflektierende hiermit etwas
Ichfremdes kennzeichnen. Der Reflektierende hat jenes Moment verstärkt
im Sinne, wenn er von dem „es" spricht, das da irgendwie in ihm zum
Vorschein kommt. Er meint damit nicht nur das nicht Erstrebte, sondern
auch das nicht Erstrebbare, d. h. dasjenige, was sich auch dann ihm nicht
darbieten würde, wenn er seine Intention nach jener Richtung wendet. Genau
so, wie man eine Fülle der motorischen Koordinationen derart eingeübt
hat, daß sie sich unbeachtet automatisch vollziehen (Gehen, Sprechen usw.),
genau so gibt es eine Fülle rein seelischer Koordinationen, deren Mechanis-
mus automatisch abläuft. Man setzt einen solchen Mechanismus nicht selten
in einer bestimmten Richtung in Tätigkeit, wendet sich dann von ihm ab
rwviiXKCRLicin: h.wdm.ngen ti
urul einer anderen Tätip^keit zu, die man hewiißt betreibt, und nacb einiger
Zeit ist man gleichsam erstaunt zu bemerken, dali jener erste Mechanismus
inzwischen ein Ergebnis gehabt, eine Idee, einen Einfall produziert hat.
An ihm glaube ich gleichsam unbeteiligt zu sein, er ist mir bis zu einem
gewissen (Irad fremd'. Zuweilen geschieht es, daß ich nicht selbst jenen
ersten Mechanismus einschaltete, dali er vielmehr durch irgendwelche äulieren
Eindrücke angeregt und tätig wurde; durch lündrückc, die ich selbst gar
nicht beachtete. So kommt es zu den freisteigenden Vorstellungen,
die, von mir in keiner Weise intendiert, sich plötzlich einstellen.
Z. B.: Als ich in angestrengtem Naclidenken über einen religionsgesciuclitlichen
Gegenstand war, stand ganz abrupt plölzlicli das anschauliclie Bild einer Straße in
Pegau vor mir. Ich glaube sicher seit Jahrzeiintcn an jenes Städtchen nicht gedaciit
zu haben, wo ich zuletzt vor rji Jahren nur einen Tng weilte; es hat mich auch
niemals sonderlich interessiert. Und doch taucht jetzt plötzlich ungerufen eine Einzelheit
in mir auf, die idi mir l>ewußt vielleicht kaum hätte zurechf rücken können.
Es ist häufig betont worden, daß jeder Mensch eine Fülle des Gedächtnis-
materiales mit sich herumträgt, von dessen Existenz er nichts mehr weiß.
Ja, wenn er absichtlich nach ihm fahndet, so findet er es nicht. Ein direkter
Zugang zu ihm ist nicht vorhanden, und die verwickelten Umwege zu gehen,
die zu ihm führen, ist ihm nicht möglich, da er diese assoziativen Bahnen
in ihrer \ erknüpftheit bewußt nie erlebte. Man kann bei einer derartigen
Erörterung die Vergleiche, die Bilder nie ganz entbehren, so sehr man sie
einzuschränken streben soll. So sei der Vergleich gestattet: es ist nicht
anders, als wenn man durch einen Bekannten zu einem Ziele geführt wurde.
Im eifrigen Gespräch achtete man des Weges nicht. Und wenn man später
von selbst das Ziel wieder energisch sucht, bleibt es verborgen, während
der „Zufall" uns von ungefähr gelegentlich wieder dahin bringt. In der Auf-
zeigung solcher vergessener Wege, unbeachteter assoziativer Verknüpfungen
längst verloren geglaubten Materiales, hat besonders die Psychoanalyse
Sigmund Freuds \ orzügliches geleistet^. Ich wiederhole: Zwei Momente
sind an solchen freisteigenden Vorstellungen ich fremd: ich habe sie nicht
beachten wollen, ich hätte sie nicht hervorrufen können; ich war dabei
passiv. Aber wenn ich an das eben erwähnte Beispiel von Pegau denke,
so erkenne ich doch den sich mir darbietenden Inhalt als meine Erinnerung
an: er war schon einmal in mir da. Bei der Intuition ist es anders, da
^ Dies bezieht sich nicht nur auf Vorstellungen, Gedanken, sondern ebenso auf
Enbchlüsse. H. Groß bringt hierzu (sogenanntes unwillkürliches Handeln) einen guten
Beitrag (96): Ein sehr rechtschaffener Hufschmied wirft den verhaßten Stiefvater,
den er zufällig trifft, als jener zwecks Reinigung tief in den heißen Backofen gebeugt
ist, ,, impulsiv" in diesen hinein, so daß jener verbrennt. ,,Herr, ich weiß nicht, wie
CS zuging — eintreten, stoßen und Türe zuschlagen war so rasch geschehen, wiei ich
nach eineir Mücko schlage; ich hal>e nicht überlegt, habe nicht gedacht, habe
nicht wollen; es geschah alles von selbst und erst, aJs ich vor dem Hause wari
wurde mir klar, was ich getan habe. Damals war es aber einerseits schon zu spät,
die Tat wieder gut zu machen, und andererseits war »ich vom Schrecken gelähmt,
beim besten Willen konnte ich kein Glied rühren."
- Hier sei nur sein Hauptwerk jüngster Zeit, seine , »Vorlesungen" genannt (79);
über seine und seiner Schüler und Anhänger Lehren unterrichten am besten die
beiden, nun schon vielbändigen Zeitschriften ,,Imago" und die „Internationale
Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse".
72 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNOR.MEN
sind diese Inhalte neu, entbehren der Erinnerungsgeuißheit. Hier ist das
Ich^-efühl also in einem dritten entscheidenden Punkte ausgeschaltet, der
Dichter glaubt nur Werkzeug eines „Höheren" zu sein.
Es gibt also zweifellos seelische Mechanismen, die, sei es durch das Ich
selbst ursprünglich angeregt, sei es durch irgendwelche äußere nicht bemerkte
Eindrücke in Tätigkeit versetzt, eine gewisse Selbständigkeit der Funktion
haben. Die verfügbare seelische Energie steht nicht ohne weiteres nur einer
regulierenden Zentralinstanz zur Verfügung, sondern sie fließt nach nicht
näher bestimmbaren Regeln auch diesen Instanzen zweiter Ordnung zu. Am
einfachsten entfaltet sich ihr Leben im Traum, da ist die Zentralinstanz
vollkommen ausgeschaltet: irgendwelche „Psychismen" (Kohnstamm 158)
führen ein kurzes, bald sinnvolles, bald sinnloses selbständiges Dasein^. Im
halben Einschlafen vermag man diesem Treiben oft recht gut zuzusehen.
Im Wachen überläßt man sich gern gelegentlich dem Träumen, wobei schon
das Wort die Verwandtschaft der seelischen Zustände kennzeichnet; man
läßt seine Gedanken, seine Phantasie schweifen und legt ihnen nur eine
lose Fessel auf. Noch immer ist man dabei passiv, und erst dann greift
z. B. der Künstler aktiv in dieses Geschehen ein, wenn er einen der selb-
ständig vorüberziehenden Einfälle aufnimmt, um ihn dann bewußt künst-
lerisch zu bearbeiten und zu gestalten. Jeder Mensch hat in verschieden
starkem INIaße die Fähigkeit, seinen Automatismen Spielraum zu lassen oder
die Inhalte bewußt zu bezwingen und zu ordnen-. Das Wiesen der „Auf-
gabe" z. B. besteht darin, eine bestimmte Konstellation festzuhalten, die
nur bestimmten (eben zur Aufgabe passenden) Inhalten den Eintritt in das
Blickfeld des Bewußtseins erlaubt (determinierende Tendenzen). Deshalb
kann man auch mehrere Tätigkeiten zugleich ausführen, indem man der
einen Sekundärinstanz gleichsam eine bestimmte Marschorder mitgÜDt und
sie dann sich selbst überläßt, während man eine zweite Instanz in das
Bewußtseinsfeld rückt und damit mit der Zentralinstanz vereint. Diese Fähig-
keiten kann man üben, besonders wenn eine bestimmte Disposition besteht.
Z. B. bei der Verstellung kann man äußerlich eine bestimmte Einstellung
festhalten, ohne sie dann für längere Zeit zu beachten, während man ich-
mäßig mit ganz anderen Inhalten beschäftigt ist. Mancher Schauspieler ver-
mag eine ganze Kette wohl eingeübter Älechanismen ablaufen zu lassen,
trotzdem sein augenblickhches Ichbewußtsein keineswegs in ihnen, in der
Illusion aufgeht. Und der Schauspieler als Boutinier vermag vielleicht außer-
ordentlich schnell zAvischen diesen verschiedenen dargestellten Personen und
dem eigenen Ich hin- und herzuspringen. Über ihn, den Schauspieler,
geht unser Verständnis für den Besessenen. Der Besessene ist in seiner
Rolle- so darin, wie jener Schauspieler, der sich ganz in seinem Schein
aufzehrt, der sein eigentliches Ich inzwischen gänzlich opfert. Man hat gelegent-
lich gefragt, wo denn in solchen Zuständen das Ich eigentlich bleibe, in-
wiefern es sich opfern könne; dies sei doch nichts mehr als ein Wort.
1 Sigmund Freud ist anderer Meinung, nach ihm hat jeder Traumteil einen
,,Sinn" (78), der sich nur hinter Symbolen versteckt.
- Es ist interessant, daß in der Hypnose sogar zerebellare, d. h. dem normalen
^^i]len sonst entzogene Mechanismen, ausgelöst werden können. (Bauer-Schilder lo.)
AI TOMATISMEN 73
Nun gibt es abnorme Persönlichkeiten mit einer besonderen Gabe des Ein-
fühlungsvermögens. Oft selbst ohne ausgeprägten Charakter („(inwrphrs"'
im Siinie von llibots Charakterologie) vermögen sie gewisse Situationen
besonders i-indringlich Norstoilungsniäliig zu erfassen, sich in andere (Charaktere
besonders intensiv einzuleben, l nd wenn sie eine solche Situation sich an-
geeignet, wenn sie die Zusammenhänge einer anderen Persönlichkeit ergrilfen
haben, dann gewinnt dieser Komplex eine besondere Selbständigkeit in ihnen.
Grundsätzlich ist es nichts anderes als der Schlaflraum. Nur tritt hier beim
sich I^infühlenden noch nicht das vage Spiel der Psychismen ein ; das Ober-
bewulitsein wirkt noch immer insofern elektiv, ordnend ein, als es die see-
lische Energie allein diesem Komplex zuführt und alles Störende fern
hält. So wird ein solcher Komplex, anfangs nur zögernd, vorsichtig erlebt,
allmählich eingeübt, zum Automatismus, während das eigentliche Ichbewul')t-
sein vom Schauplatz zurücktritt, wiederum wie beim Tagträumen. Die VVillens-
lage ist die der Passivität mit alleiniger Tätigkeit der einen Idee, des Auto-
matismus. Man beachte, daß jene Geister, die aus dem Besessenen sprechen
und ihn zum Handeln verleiten, ja immer relativ einheitlich folgerichtig
handeln, nämlich so, wie der von ihnen Erfaßte sich auf Grund aber-
gläubischer, religiöser oder sonstiger Vorstellungen eben solche Geister und
das, was sie tun und sagen, vorgestellt hat^. Nicht unabsichtlich wurde
oben gesagt: Wenn es einen Geist gäbe, der in einen andern hineinfahren
könnte, so müßte sich dies wohl in der Tat so abspielen, wie es das
Medium darstellt, da, so ist jetzt hinzuzufügen, es sich dies eben so vor-
stellt. Geht man dazu über, die „übernatürlichen" Leistungen der Medien
oder Besessenen zu analysieren, wie dies Flournoy (66) so vortrefflich getan
hat, so zeigt sich, daß hier irgendwelche Automatismen lebendig sind, deren
einzelne Inhaltlichkeit sich sehr wohl aus dem Erfahrungschatz bzw. der
Phantasie des Betreffenden ableiten läßt. Wenn die Fremdsprache glosso-
lalischer Orgiastiker über ein sinnloses Lallen hinausgeht, zu dem ein jeder
bei einiger Übung ohne weiteres fähig ist"-, so zeigt sich, daß in den scheinbar
neuen sinnvollen Worten mancherlei Anklänge an wohlbekanntes Sprachgut
und an früher aufgefaßte Worte stecken, die unter die Schwelle des will-
kürlich ekphorierbaren Erinnerungsschatzes versunken waren (Kryptomnesien).
Die Marssprachen Worte z. B. lassen sich nach wohlbekannten und in der
Sprachwissenschaft klassifizierten \ orgängen auf wirkliche terrestrische
Wörter zurückführen.
* Flournoy (66, S. I25) nennt diese Geister „hypnoide Modifikationen" der Medien
selbst. Vgl. auch Dessoir (^7) und Binet (aS).
2 Vgl. z. B. das Zungenreden eines schlesischen Geistlichen (1907), das sich nach
dem Rhythmus des ,,Dies ater" richtet:
Schua ea, Schua ea, o tschi biro ti ra pea
Akki lungo, ta ri fungo, u li bara ti ra tungo
usw. (Hennig, 112. S. 4o.)
Oder nacii der Melodie „Jesus geh' voran":
Ea Ischu ra ta
U ra torida
Tschu ri kanka
Oli tanka
usw. (Österreich, 227, S. 64) ' '
74 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Fräulein Smith hat allein mit Hilfe der französischen Syntax — denn von jeder
anderen Syntax hatte sie nicht die geringste Ahnung — und mit Hilfe einiger ihr
bekannten Vokabeln aus anderen Sprachen nach den gewöhnlichen Sprachbedeutungs-
cpsetzcn (Metonymie, Assoziation, Suggestion und Kontamination usw.) ein eigenes
Vokabular geschaffen." (Henry, ii3, zitiert nach Flourny, 66, S. 268, macht auch
auf die Ähnlichkeit mit der Sprachumformung im Traume aufmerksam.) — In der
Literatur wird häufig eine ALigd erwähnt, die im Trancezustand zu aller Staunen
hebräisch sprach. Als man nachforschte, stellte sich heraus, daß sie früher bei einem
Pfarrer bedienstet gewesen war, der die Gewohnheit gehabt hatte, einige hebräische
Sätze in der Art von Gebct^formeln in seinem Studierzimmer häufig laut zu wiederholen.
Obwohl sie nie daran gedacht halte, sich diese Sätze merken zu wollen, obwohl sie
sogar im NormalzusLinde jede Kenntnis von ihnen glaubhaft bestritt, standen sie ihr
doch im Ausnahmezustand zur Verfügung.
Wenn man eine Gruppe von Männern beobachtet, die in angeregtem
Ciespräch beieinander stehen, so kann man gelegentlich bemerken, daß der
eine plötzlich beim Zuhören die Arme über der Brust kreuzt. Und nicht
lange dauert es, so tut dies ein zweiter. Würde man diesem sagen, er habe
CS jenem nachgemacht, so \YÜrde er sich mit Recht sehr dagegen verwahren:
er habe nicht einmal bemerkt, daß der erste die Arme gekreuzt habe. Und
trotzdem ahmte sein Unterbewußtsein automatisch die Geste nach. — Man
erlebt es nicht selten, daß jemand anfängt eine Melodie zu pfeifen, die
einem selbst soeben durch den Kopf ging. Das Erstaunen über den an-
geblich gleichzeitigen Einfall vermindert sich, wenn sich herausstellt, daß
vor wenigen Minuten ein fernes Waldhorn die Melodie blies. Aber keiner
von beiden hatte dies beachtet, jeder schwur, von selbst auf die Töne ver-
fallen zu sein. — Dies sind allereinfachste Suggestionen, die in vielfachen
Übergängen hinüberleiten zu den x\utomatismen : nicht erstrebt, vielleicht nicht
absichtlich herbeiführbar, vielleicht sogar sachlich fremd. Und von hier
ist nur ein Schritt zur H}-pnosei. Die H>^nose ist eine Ausschaltung der
Zentralinstanz, der bewußten Willenslage, zugunsten der Automatismen
oder zugunsten des Willens des Hypnotiseurs. Ein vollkommen normaler
Mensch muß den Wunsch haben, hypnotisiert zu werden, wenn dies
glücken soll. Alle gegenteiligen Behauptungen gehören ins Gebiet der Er-
dichtung oder des Betrugs. Ein hysterisches Mädchen freilich kann schon
durch einen Blick dem Willen des Hypnotiseurs Untertan werden. Ein
Hj'pnotisierter glaubt an die Macht des Priesters oder des .\rztes, oder
wer der HN-pnotisierende auch sei. Ohne diese Vorbedingung würde das
Gelingen des künstlichen Ausnahmezustandes beim Normalen unmöglich. —
In der Hypnose — so hört man sehr oft — fallen außer der regulierenden
Willenseinstellung vor allem die Gegenvorstellungen und die auf ihnen auf-
gebaute Kritik weg; alle Hemmungen sind beseitigt. Dies ist jedoch nicht
ganz richtig. Auch in der Hypnose setzt sich trotz ihrer Zurückdrängung
die Persönlichkeit noch weitgehend durch. Gewiß kann ich jemandem im
Tiefschlaf Aufträge geben, die er am nächsten Tage trotz ihrer Sinnlosigkeit
getreulich ausführt. Gewiß werde ich jemandem suggerieren können, er
sei blind, und dieser Hypnotisierte wird dann mit offenen Augen das Ge-
baren eines Blinden annehmen, so wie er es einst sah oder es sich vor-
^ Vgl. Forel (70), Rieger (267), Claparede (^l), Hirschlaff (i23), Wagner-.Tauregg
(822), Kogerer (i55). — Eine amüsante Theorie der Hypnose bringt Bjerre (aöd).
AUTOMATISMEN, HYPNOSE. TRAUM 75
stellt. Aber dieser hypnolislerle „lilintle" vvirtl sich niemals in einem Ab-
frrund zersciimollern, er wird nie in das Feuer die Hand stecken. Wenn
ich einem Mädchen suggeriere, sie solle einen andern ermorden, wird sie
zwar eine entsprechende Theaterszene vorführen, vielleicht eine ungeladene
Pistole abdrücken, sie wird aber niemals wirklich zur Tat schreiten, es sei
denn, dalj eigene Motive ernsthait mitwirken. Also auch hier herrscht die
Macht tles Ich oder seiner Vorstellungen noch im Sinne der Grenzfest-
setzung
Nicht nur in der Hypnose, sondern auch im wirklichen Schlaf vermag
sich ein Automatismus gelegentlich durchzusetzen, dem vor dem Einschlafen
besonders energische Direktiven gegeben worden sind, oder der aus son-
stigen (Iründen auftauchte. Freilich sind solche Fälle sicher sehr selten
und abnorm ^
Myers schuf im Traum einen griechischen Vers, der heim Erwaclion sinnlos erschien.
Doch wurde er sinnvoll, wenn man ihn mit dem ^falschen Gebraucli einer Präpositiion
las, so wie es Myers in seiner Jugend immer fälschlich gemacht hatte (217).
,,Bis tief in die Nacht hinein saß ich eifrig vor meinen ägjptischen Inschriften,
um beispielsweise die Aussprache und die grammatische Bedeutung eines Zeichens . . .
festzustellen. Ich fand trotz allen . . . Nachdenkens die Lösung nicht, legte mich
übermüdet in mein Bett . . ., um in einen tiefen Schlaf zu verfallen. Im Traum setzte
ich die unerledigt gebliebene Untersuchung fort, fand plötzlich die Lösung, verließ
sofort meine Lagerstätte, setzte mich wie ein Naciitwandler mit geschlossenen Augen
an den Tisch und schrieb das Ergebnis mit Bleislift auf ein Stück Papier. Ich erhob
mich, kehrte nach meiner Schlafslätte zurück und schlief von neuem weiter. Nach
rnoinem Erwachen am Morgen war ich jedesmal erstaunt, die Lösung des Rätsels in
deutlichen Schriftzügen vor mir zu sehen. Ich erinnerte mich wohl des Traumes, aber
fragte mich vergebens, wie ich imstande gewesen war, in der dicksten Finsternis
deutlich lesbare, ganze Zeilen niederzuschreiben?" Aus des Ägvptologen Heinrich
Brugsch' Selbstbiographie, zitiert nach Ilennig (112, S. 9). — Weitere Fälle dortselbst.
Der Ausdruck Hypnose ist durch seinen Hinweis auf den Schlaf wenig
glücklich: es handelt sich nur um eine Ausschaltung der ich-betonten
Willenslage, nicht aber um eine Einführung der im Schlafe sonst herr-
schenden Dissoziation. In diesem Zusammenhange wurde die Hypnose
nur wegen dieser teilweisen Ausschaltung des Zentralfaktors erwähnt (Ich-
lähmung). Näher auf sie einzugehen verbietet die Beschränktheit des mir
hier gewährten Raumes. Von den einzelnen Ausschaltungen bestimmter
Gebiete oder Inhalte wird später die Rede sein. Es gibt abnorme Persön-
lichkeiten, die eine besondere Neigung dazu haben, ihr Ich auszuschalten.
Nicht als ob sie etwa mit den Phantasiebegabten identisch wären, die an
Einfühlungsmöglichkeiten und eigenen Kombinationen sehr reich sind, son-
dern unter den religiös Besessenen, den Ekstatikern, den Medien gibt es
1 über den Traum vermag ich nur wenig Literatur zu empfehlen. Freuds An-
sichten wurden schon erwähnt (78); in den psychanalytischen Zeitschriften finden sich
viele Traumstudien, die sich seinen Anschauungen mehr oder weniger eng anschließen. —
Außerhalb dieser Literatur gibt es nqr sehr spärliche wertvolle Traumschriften. Des alten
Greiner (1817) sei aus historischem Gesichtspunkt gedacht (gS), ferner seien von
älteren Werken Strümpell (3i2) 1874, Radestock (2.5/i) 1877 und Spitta (3oo) 1892
erwähnt. Von neueren Arl>eiten scheinen mir nur Kraepelins Traumsprache (161) und
besonders Hackers systematische Traumbcobachlungen wertvoll (loi), denen Köhler (107)
nacheifert. De Sanclis (277) stellt vielerlei zusammen. Über abnorme Träume ist
mir nichts von Belang bekannt. Von den Angstträumen der Kinder war oben die Rede.
76 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
intellektuell und künstlerisch Hoch- und Tiefstehende. Es ist eine besondere
Eigenschaft, eine „Ichschwäche", wenn man so will, die alle diese Per-
sönlichkeiten gemein haben: ihre Medialität. Es ist verständlich, daß sich
in ergreifenden Schicksalen und in aufregenden sozialen Bewegungen solche
Individualitäten zusammenfinden; starke bewegende Ideen, aufpeitschende
Gefühle und vor allem mediale Beispiele heben gleichsam die anderen
medialen Persönlichkeiten aus der Masse heraus. Das Erlebnis des Auto-
matismus beim anderen setzt die Tendenz, ihm auch in sich das Feld ein-
zuräumen.
Hierher würden manche Folies ä deux^, die Massensuggestionen, über-
haupt die seelische Ansteckung und die psychischen Epidemien ge-
hören^. Hier hätte auch die Psychologie der Panik ihren Platz'.
Aus den hier mitgeteilten Gedankengängen lassen sich leicht die Phänomene
des alternierenden Bewußtseins und die anderen oben mitgeteilten Ichstörun-
gen verstehen. Sehr viel schwerer sind einer „Erklärung" jene Zustände
zugänglich, die oben als eigentliche gleichzeitige Persönlichkeitsverdoppelungen
beschrieben worden sind (Fälle von Baelz). Sie lassen sich im eigentlichen
Sinne wohl überhaupt nicht mehr einordnen, das heißt auf normale
Bewußtheiten beziehen. Und endlich völlig uneinfühlbar, unerklärbar
sind die schizophrenen Formen der Ichlähmung. Die gemachten, abgezo-
genen, durchgejagten, künstlich erzeugten, anhypnotisierten (in besonderem
Sinne), drahtlos telegraphisch erregten, angewunderten, angewunschenen
Gedanken sind etwas, was mit den geschilderten Automatismen wohl weder
deskriptiv noch kausal etwas gemein hat. Der normale Mensch kennt nichts
Ähnliches. IMan könnte annehmen, daß solche gemachten Gedanken nichts
anderes seien als halluzinierte Gedanken*. Halluziniere man eine Empfin-
dung (Wahrnehmung), so sei man von der normalen Wahrnehmung her
ja gewohnt, daß sie von außen, unabhängig von meinem Willen, komme;
folglich sei sie mit dem Ichgefühl nicht direkt verbunden, folglich habe
man auch keinen Anlaß, an ihr, der Sinneshalluzination, etwas phänomenal
Abnormes zu sehen. Der Gedanke aber käme nicht von außen, er sei
mein Erzeugnis, er sei untrennbar mit meinem Ichgefühl verknüpft. W erde
nun ein Gedanke in der gleichen — an sich unbekannten — Weise krank-
haft erzeugt wie eine "echte Sinnestäuschung, so scheine dieser halluzinierte
Gedanke natürlich von außen zu kommen; er habe daher das Fremde,
1 Vgl. Schönfeldt (283), der interessantes russisches Material beibringt, und Wollen-
berg (828), der ein bis 1889 reichendes, gutes Literaturverzeichnis anfügt.
~ Literatur: Die gesamte Religionspsychologie (Österreich, 227, femer die treffliche
Arbeit von Heiler, 106), dann Delacroix (lik), Stoll (Sog), Lehmann (171), .lames (loi),
Friedmann (populär 81), Hellpach (108), Richer (265), Weygandt (325), Zeitschrift
„Zeitgenossen", N. F., 2, S. 48. — Aus dem großen Kriege wurden abnorme
Massensuggestionen ebenfalls berichtet. Hierher gehören vor allem die sogenannten Engel
von Mons. (Machen, ig/l, Begbie, i5.) — Über die Bedeutung der Suggestion im
sozialen Leben arbeitete Bechterew (i3), er verwendete (sonst schwer zugängliches)
russisches Material. — Über psychische Epidemien in Schulen vgl. Dix (oo). Über
die Suggestionen bei den Praktiken der Derwische siehe HellwaJd (109). Moderne
religiöse Massenbewegungen behandeln Tiesmeyer (3i3a) und Schrenk '(28/ia).
' Gothein (91).
* Vgl. die sog. „intellektuellen Halluzinationen".
EKSTASE 77
liemachle an sich, was den Kranken so errege und meist peinige. Diese
.schizophnMUMi Ichlähmungen seien also mir ein Fall aus dem allgemeinen
Kapitel der llailu/.inationen : es gebe Ilalluzinationcn der Empfindungen,
der (lefühlo. der \N illenslageii, der Willensimpulse, der Gedanken; — im
Grundsätzlichen, in der Art der abnormen Erregung seien diese Symptome
alle gleich, nur ihr Betätigungsfeld sei verschieden.
Man wird solchen Theorien nicht viel entgegenhalten können ; ich selbst
lege auf sie keinen großen Wert; man wird sich ihrer so lange bedienen,
bis sie von einer mehr einleuchtenden Theorie abgelöst werden.
Bei den Beispielen zum Problem der Ichlähmung wurde mehrmals schon
seltsamer Gefühle gedacht, die das Erlebnis des Begnadetseins oder des
Besessenseins begleiten. Mag man das Ichgefühl überhaupt zu den Gefühlen
im engeren Sinne zählen oder es mehr volitional fassen, sicherlich sind
seine Störungen meist von Alterationen anderer Gefühle begleitet. Und zwar
sind dies vielfach qualitativ abnorme Gefühle. Bei dem Studium
religiöser Ergriffenheiten zeigt sich, daß das dort so häufig beschriebene
Glücksgefühl mehr ist als nur eine Steigerung des sozusagen gewöhnlichen
Glücklichseins. Nicht etwa nur neue, zumal sexuelle Körpersensationen
treten hinzu, sondern es stellen sich wirklich neue Gefühlsqualitäten ein,
die oft in eigentümlicher Weise mit intuitiven Erkenntnissen verbunden sind.
Bei der Gewinnung irgendwelcher Einsichten mag wohl auch der Normale
von Gefühlen der Freude und des Stolzes erfüllt sein, wenn ihn sein Nach-
enken die große Tragweite seines Gedankens ahnen läßt. Aber in den
•Erlebnissen der Ekstase ist Gefühl und Erkenntnis in ganz eigenartiger
Weise vereint. Es sind nicht einzelne Akte des Erkennens, die so glücks-
betont sind, sondern es ist ein seliger Zustan d des Schauens. Aber wiederum
ist dieses Schauen nicht nur im eigentlichen Sinne Vision, sondern es ist
auf unanschauliche Inhalte, eben auf gedankliche Zusammenhänge, insbe-
sondere auf irgendwelche Werterkenntnisse gerichtet. Aber es ist schon
unrichtig zu sagen, daß das Schauen „gerichtet" sei; eine aktive „Einstellung
auf" ist gar nicht gegeben. Ein Erfülltsein kennzeichnet den Ergriffenen.
Alle Probleme erscheinen gelöst, alles in der Welt zeigt sich gleichsam
durchsichtig und klar. Zwar liegt eine starke Aktivität recht häufig in dem
Sinne vor, dafS der Gläubige um diesen äußersten, letzten Glaubenszustand
ringt, daß er ihn gleichsam mit Gewalt herbeizuführen trachtet: schließlich
kommt er aber doch als eine Gnade über den Ekstatiker.
Es gibt wohl nur zwei Formen eigentlicher geistiger Störung, die eine
solche selige Entrücktheit herbeiführen können ohne alle äußeren oder
inneren Hilfsmittel: ganz endogen. Es sind dies gewisse Beseligungen im
^ erlaufe der schizophrenen Verblödung und bei der genuinen Epilepsie.
Bei der Epilepsie, dem Morbus sacer, „schlägt" der Gott den Erwählten
nicht nur insofern, als dieser plötzlich zusammenstürzt, sondern er begnadet
ihn auch durch unerhörte, kaum beschreibbare Entzückungen. Besonders
als Vorbote des großen Anfalles stellen sich solche außerordentliche Ge-
fühle ein.
78 GRUIILE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Dostojewski spricht (nach einer Erzählung von Sonja Kovvalewsky) von einem solchen
eigenen Anfall (zitiert nach He«nig, 112, S. Sa):
Und ich fühlte, daß der Himmel zur Erde kam und mich verschlang. Ich fand
wirklich Gott und ward von ihm erfüllt. ,Ja Gott', schrie ich — und sonst erinne're
ich mich an nichts mehr." (Einsetzen des großen Anfalls.) — „Ihr seid alle gesunde
Menschen, und ihr ahnt nicht einmal, was für ein Glück jenes Glück ist, das wir
Epileptiker in der Sekunde vor dem Anfall empfinden. — Mohammed versichert in
seinen» Koran, daß er das Paradies gesehen habe und dort gewesen sei. Alle klugen
Toren sind davon überzeugt, daß er einfach ein Lügner und Betrüger ist — aber nein!
er lügt nicht! Er war tatsächlich im Paradies, während des Anfalls der Epilepsie,
an der er gleich mir litt. Ich weiß nicht, ob diese Glückseligkeit Sekunden oder
Stunden o<ler Monate währt, aber glauben Sie mir aufs Wort, alle Freuden, die
das Leben geben kami, würde ich für sie nicht nehmen."
Qualitativ sind die Seligkeiten der Schizophrenen hiervon nicht
unterschieden ; beide Geistesstörungen hefern in diesen Ausnahmezuständen
meist echte Visionen, zumal himmlische Erscheinungen und eigenartig be-
schriebene Lichter. Man kann sagen, daß die Euphorieen verzückter Psy-
chotiker relativ arm sind, sofern man gedankliche Inhalte beachtet.
Eigentliche ins Weite gerichtete Erkenntnisse tauchen selten auf. Die Er-
leuchtungen beziehen sich meist auf die eigene Person: „Du bist mein
lieber Sohn, an dem ich Wohlgefallen habe". — „Wahrlich, ich sage Dir,
Du wirst usw.". Auch die sprachlichen Formen der Eingebungen, seien
sie nun direkt halluziniert oder nicht, sind ziemlich unoriginell und halten
sich meist an die Worte der Bibel oder sonstwie bekannte Redewendungen.
Doch sind die eben genannten Momente nicht so sichere Unterscheidungs-
merkmale, daß man die echt psychotischen Ekstasen von denen der nicht
Geisteskranken abgrenzen könnte. Deshalb kann auch der Erfahrene
— auf Zeugnisse der Literatur rückblickend — nie mit völliger Sicherheit
sagen, ob solch ein Erleuchteter wirklich geisteskrank war oder nicht. Die
Zeugnisse der Propheten des alten Testaments z. B. machen vielfach den
Eindruck, als handle es sich um Epileptiker, deren Verkündigungs- und
Visionsinhalte später vielleicht durch die Tradition etwas künstlerisch ab-
gerundet und ausgeschmückt worden sind.
„Und ich sähe, und siehe, es kam ein ungestümer Wind von Mitternacht her mit
einer großen Wolke von Feuer, das allenthalben umher glänzte, und mitten in
demselbigen Feuer war es wie lichthelle; und darinnen war es gestaltet wie vier Tiere,
und unter ihnen eines gestaltet wie ein Mensch. Und ein jegliches hatte vier An-
gesichter und vier Flügel . . . Und die Tiere waren anzusehen wie feurige Kohlen,
die da brennen, und wie Fackeln, die zwdschen den Tieren gingen . . . Die Tiere aber
liefen hin und her wie ein Blitz. Als ich die Tiere so sähe, siehe, da stand ein
Rad auf der Erde bei den vier Tieren, und war anzusehen wie vier Räder, und die-
selbigen Räder waren wie ein Türkis . . . Ilrre Felgen und Höhe waren schreckhch;
und ihre Felgen waren voller Augen um und um an allen vier Rädern . . . W'o
der Wind hinging, da gingen sie auch hin . . ., denn es war ein lebendiger Wind
in den Rädern . . . Und ich höreto die Flügel rauschen wie große Wasser und
wie ein Getöne des Allmächtigen, wenn sie gingen, und wie ein Getümmel in einem
Heer . . . Und da ich es gesehen hatte, fiel ich auf mein Angesicht und hörete
einen reden." (Hesekiel, i.)
Wenn man dagegen eine Probe aus dem Buche Esra setzt, so hat man
keineswegs den Eindruck einer Vision eines Psychotikers, sondern den
KKSTASE 79
einer absichtlich herbeigeführten, von lebhaften \ orstellungen (wohl keinen
Sinnestäuschungen) begleiteten Verzückungen*:
..Als ich noch so zu ilir s[)racli. sicho, da ergläiizto ilir Angesiclit plöl/.hch,
uiul ihr Aussi'hon wanl wie Blitzes Schein, so dalJ ich vor großer F'urcht nicht wagte,
ihr nahezukommen und sich mein Herz gewallig »-iitselzte. — Während ich noch üher-
legte. was dies zu bedeuten habe, schrie sie plötzlich mit lauter, furchtbarer .Slinimo,
daß die Erde vor diesem Schrei erbebte. L'nd als ich hinblickte, da war das Weib
nicht mehr zu sehen, sondern eine erbaute Stadt, und ein Platz zeigte sich mir
auf gewaltigen Fundamenten. Da erschrak ich und schrie mit lauter Stimme und
sprach : Wo ist der Engel Uriel, der im Anfange zu mir gekommen war? Er
selber hat mich ja in die Fülle dieser Schrecknisse gesandt . . . Als ich noch so
sprach, siehe, da kam der Engel zu mir . . ."
In den soeben mitgeteilten Zeugnissen überwiegen die Visionen, und nur
nebenbei wird das Außerordentliche des ganzen Erlebnisses in den Eigen-
schaftsworlen gewaltig, furchtbar, schrecklich, feurig ausgedrückt*. Das
übergroße Glücksgefühl mögen einige andere Proben widerspiegeln:
,,Iti einem Augenblick hat mich der Herr so glücklich gemacht, daß ich die
Seligkeit gar nicht besciireiben kann. Ich jauchzte vor Freude und pries Gott von
ganzem Herzen . . . Ich erinnere mich, daß mir alles neu erschien, die Menschen,
die Felder, das Vieli und die Bäume. Es war mir, als wäre ich ein neuer Mensch
in einer neuen Welt." (James, i3i, S. 287.)
„Als ich am Morgen aufs Feld ging, um zu arbeiten, erschien mir die Herrlich-
keit Gottes in seiner ganzen sichtbaren Schöpfung. Ich erinnere mich wohl, wir
holten Hafer ein, und jeder Halm vmd jede Ähre erschien mir im Rcgenlwgen-
glanz oder, wenn ich so sagen darf, im Glänze Gottes zu erglühen." (Fall Leubas
in James, i3i, S. a^i.)
,, Gänzlich uner^vartet, olme daß es mir in den Sinn gekommen wäre, mir könne
je dergleichen geschehen, auch ohne daß ich je emen Menschen etwas Ähnliches
hätte erzählen hören, stieg der heilige Geist auf micii herab, daß es mir durch
Leib und Seele ging. Mir war, als stände ich "unter der Einwirkung eines elek-
trischen Stromes. In der Tat, der heilige Geist schien in Strömen der Liebe auf
mich hernieder zu fließen . . . Ich glaubte den Odem Gottes zu spüren, und ich kana
mich deutlich erinnern, wie ich die Empfindung hatte, von ungeheuren Flügeln
gefächelt zu werden. Die wunderbare Liebe, die in mein Herz ausgegossen war, läßt
sich nicht in Worte fassen . . . Jene Wiegen der Liebe überfluteten mich, bis ich
ausrief: Ich sterbe, werm sie sich noch länger über mich ergießen. Ich sagte: ,Herr,
mehr kann ich niclit ertragen."' (James, i3i, S. 2^2.)
Das Erlebnis dieser Liebe ist schlechthin unbeschreibbar.
Jakob Böhme: „Wer sie findet, der findet nichts und alles; denn er findet einen
übernatürlichen, übersinnlichen Grund, da keine Stätte zu ihrer Wohnung ist, und
findet nichts, das ihr gleich sei. Darum kann man sie mit nichts vergleichen, denn
sie ist tiefer als das Ich; darum ist sie in allen Dingen als ein Nichts, weil
sie nicht faßlich ist. Und darum, daß sie Nichts ist, so ist sie von allen Dingen
frei und ist das einige Gute, das man nicht sprechen mag, was es sei'."
Über den seltsamen Zustand des Gott-Schauens sagt Plotin:
,, Solch Schauen ist kein Sehen im gewöhnlichen Sinne; es findet keine L^nter-
scheidung von Subjekt imd Objekt statt. Der Schauende hört auf, er selbst zu sein.
1 Gunkel (99, S. /jS).
"^ Pick macht darauf aufmerksam, daß man beim Erlebnis von Gefühlen sich häufig-
als Erleidender vorkommt: nicht ich bin bange, sondern ,,mir ist bang", ,,micK
friert". Und je unbekannter und unheimlicher dieses Gefühl ist, um so eher wendet-
man diese impersonale Form an (a^o).
* Zitiert nach James (i3i, S. 390).
80
GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Lou.ilirt nichts von sich selbst. Ganz in Gott versunken, ist er eins mit ihm: Gleich
wio die Zentren zweier Kreise vollständig zusammenfallen können*." Und Suso:
„Aus seiner Selbstheit ist er in die fremde Seinsheit vergangen und verloren,
nach Stillhcit der verklärten glanzreichen Dunkelheit in der bloßen einfältigen Einig-
keit. Und in diesem entweisten Wo liegt die höchste Seligkeit*."
Will der buddhistische Mönch zur höchsten Entzückung, die zugleich
höchste Erkenntnis ist, kommen, so muß er faueiv r= verschließen (die
Pforte der Sinne), er muß, um mit buddhistischen Texten zu reden, aus
der Häuslichkeit in die Hauslosigkeit eingehen, mit dem Ziele der Eini-
gung mit dem höchsten Gut (= evcoöic, unio) zum Nirvana, der Seligkeit des
Erlöschens. So verschieden die Lehre in den verschiedenen Kulturkreisen
ist, — die seelischen Zustände des Mystikers sind überall gleich beschrieben.
Der naive Lebenswille muß ertötet, das natürliche Affekt- und Triebleben
•muß gewaltsam unterbunden werden; erreicht werden muß die Vernichtung
(Inder), die Vereinfachung (äxXcoöic; der Neuplatoniker), das Entwerden
oder Entmenschen (der deutschen Mystiker).^
„Da sitzt ein Bettelmönch im \Valde oder an der Wurzel eines hohen
Baumes oder in einem menschenleeren Haus, die Beine übereinander ge-
schlagen, den Körper gerade aufgerichtet, wachen Geistes vor sich hin-
blickend." Er atmet bewußt ein, er atmet bewußt aus ; wenn er lang ein-
atmet, erkennt er: ich atme lang ein. Wenn er lang ausatmet, erkennt
er: ich atme lang aus. Im vollen Bewußtsein muß die ganze Willens-
energie allmählich nach innen konzentriert werden, bis es ganz stille
wird im Innern. Die geistige \ersenkung durchschreitet nun ihre
verschiedenen Stufen. Zuerst gedenkt der Mönch der Flüchtigkeil,
Nichtigkeit und Leidensfülle des Daseins. Dann folgt das Einswerden des
Geistes, das von Überlegung und Erwägung freie, aus der Sammlung ge-
borene, freudevolle, lustvolle zweite Jhana. Nun mindert sich die Inten-
sität des W^onnegefühls, die Luststimmung blaßt ab, es folgt der heitere
Gleichmut. Im Körper ist noch das weiche Lustgefühl, die Seele ist schon
in heiliger IndLfferenzstimmung; diese steigert sich schließlich in völlige
Apathie. Über Lust und Unlust erhaben, frei von Liebe und Haß, gleich-
gültig gegen Freude und Leid, gleichgültig gegen die ganze Welt, gegen
Götter und ^lenschen, gegen sich selbst, steht der Heilbeflissene im voll-
endeten Gleichmut an der Schwelle des Nirvana^. Es ist, so wird immer
betont, keine Hingabe an den Rausch, keine h}'p notische Bewußtlosigkeit,
sondern ein angespanntes Ringen, eine höchste Bewußtseinssteigerung. In
ihr betätigen sich die wunderbarsten Geisteskräfte, sie schauen erkennend
1 Zitiert nach James (i3i, S. 892).
2 Zitiert nach James (i3i, S. Sga).
3 Zur Mystik vgl. folgende Quellen, die psychologisch wichtig sind: Montmorand
(208), Delacroix (AS u. 4^), Hudtwalcker (126), Grohmann (gS, veraltet, aber lehr-
reich), Pfister (287, 238, aSg), Rademacher (253), Reitzenstein (262), Stoffels (3o8),
Zopf (329), Bechterew (12), Behn (16), Jakobi (12g), Jeanne (i45). Heiler (106),
Buber (34), Herrmann (ii5), Österreich (226), James (i3i) und seine Quellen,
besonders Starbuck (3o2). — Beck (i/i), Poulain (248a, I, 336 — 4i6), Hansen (102b),
Achelis (i), Calmeil (38a).
* Ganz ähnlich die Stadien der sogenannten Intuition Ploüns (Reiff, 260, S. 5g6).
VERSENKUNG. RAUSCH 81
die vier heiligen Wahrheiten. Eine seltsame Erkenntnis fremder Herzen
stellt sich ein. wundersame Eichterscheinungen und ein göttliches Gehör
werden dem Entrückten zuteil.
Aber die buddhistische Versenkung kennt auch andere .Ausnahmezustände
des (lofühls : in der Kasinaübung z. H. geht der Gläubige durch das leere
Anstarren eines bedeutungsarmen profanen Gegenstandes in das abstrakte
Ejlebnis der Lnendüchkeit ein; — er geht darüber hinaus und verweilt an
der Stätte der Nichtheit, bis ihn schliefSlich das nur noch schattenhafte
Bewulitsoin der eigenen Nichtsheit umfängt: eine kataleptische Starre, ein
traumloser tagelanger Tiefschlaf ^ (Heiler 106).
In den Glücksräuschen und in den Zuständen des mystischen Entwerdens
sind schon alle jene einzelnen Momente enthalten, die man in den Be-
schreibungen der Gifträusche auffindet*. Deren Literatur ist noch klein
und befriedigt wissenschaftliche Ansprüche nicht. Meist sind die Berichte
der Opium- und Haschischraucher, der Morphiumsüchtigen usw. Bruch-
stücke aus Reiseberichten oder wenn nicht sensationell aufgebauschte, so
doch künstlerisch gestaltete Aufsätze 3. Das Gefühlsmäßige daran ist nicht
sonderlich originell, wenn auch sicher zum Teil qualitativ von normalen
Gemütszuständen unterschieden. Ich glaube, daß schon beim gewöhnüchen
Aikoholrausch neben den besonderen Empfindungen und Denkstörungen
auch qualitativ abnorme Lustgefühle entstehen, denen sonst im gewöhn-
lichen Leben nichts Gleiches entspricht. Auch das Fasten und andere Ze-
remonien, wie sie z. B. Bastian (9) bei den Urvölkern beschreibt, führen
Ausnahmezustände des Gemütes herbei. Natürlich können diese auch sug-
gestiv auf andere übertragen werden. Auch im Fieber stellen sich leichte
Abnormitäten der Gefühlssphäre ein, die eigenartig sind. Ebenso ist das
allgemeine Krankheitsgefühl wohl nicht nur ein spezieller Empfindungs-
komplex, sondern es enthält auch abnorme Ichzustände*. Ob bei den un-
gewöhnlichen Sexualbetätigungen (dem Fetischismus, Sadismus, Masochis-
mus, der Homosexualität usw.) auch abnorme Sexualgefühle sich aus-
leben, oder ob hier die Abnormität nur in der Art der Verknüpftheit mit
dem besonderen Sexualobjekt besteht, vermag ich nicht mit Sicherheit
zu entscheiden *. Dagegen bin ich fest davon überzeugt, daß die beson-
deren Verstimmungen der Pubertätszeit mehr sind als bloße Steigerungen
normaler Gemütslagen. Diese Jugendlichen befinden sich nicht selten in
merkwürdigen Spannungszuständen, einer unbestimmten Angst, einer inneren
1 Eine Differenzierung unter den Glücksgefühlen versucht W. Mayer-Groß (199),
siehe dazu auch Pick (245).
- Siehe auch oben S. Sg.
3 Wenige Angaben bei Pelman (235), S. aSi, über Haschisch. Femer Baude-
laire (9 a), Moreau (209), Jastrovv (i44), Raulin (a55) mit ansehnlichen, vor allem
französischen Literaturangaben, Meunier (202 a). Über Opium vgl. Quincey (252),
Baudelaire (9 a), Raulin (255), über M e s c a 1 i n Serko (298), Guttmann (99 a) und
Knauer (i52 a). Über Kokain Mayer-Groß (200), Latte (168), Detlefsen (48).
Über Lachgas Raulin (aSS), über Veronal Schneider (283b).
* Der Versuch von Stemberg (3o5 c), das Krankheitsgefühl nur auf den Ekel zurück-
zuführen, erscheint mir viel zu eng.
■^ Hierüber handelt ja ein besonderer Abschnitt dieses Handbuchs.
6 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
32 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Unruhe, die sie forttreibt. Sie leiden unter einem gegenstandslosen Sehnen,
dem sie nicht selten selbst den Namen Heimweh geben. Man glaubte
früher sogar irrtümhcherweise an eine besondere Heimwehkrankheit (No-
stalgie), zumal man feststellte, welche seltsamen Entladungen diese Span-
nungsgefülile oft erfuhren.
Vor welligen Jaliren lebte im Dachauer Bezirk ein jugendliches Mädchen, das hinter-
einander in mehreren Dienststellen heimlich den anvertrauten Säuglingen eine Nadel
zwischen dem ersten und zweiten Halswirbel in das Rückenmark bohrte, so daß die
Kinder elend zugrunde gingen. Und als man das harmlos erscheinende, unscheinbare»
kleine Mädchen fragte, warum sie es denn getan hätte?: Um fortzukommen, aus
Heimweh. — Ein anderes Mädchen gab dem Säugling Ammoniak in die Milch aus
demselben Motiv. Jaspers (i38) hat eine größere Anzahl solcher Fälle zusammengestellt.
Mancher jugendliche Selbstmord ist der Ausgang einer Pubertätsverstim-
mung gewesen: die jungen Menschen fühlen sich unverstanden und
allein; sie werden von Weltanschauungskonflikten, deren Problemtiefe sich
ihnen das erstemal öffnet, so erschüttert und sehen so wenig einen Aus-
weg, daß sie freiwillig aus dem Leben scheiden ^. Manche Theorien nehmen
an, daß alle diese Pubertätsstörungen nur Sexualkrisen sind, bald deutlich
als solche erkennbar, bald symbolisiert. Solche Deutungen machen es sich
wohl zu leicht. Sicher aber ist in manchen dieser Krisen die sexuelle
Erregung und ihre Zielunsicherheit offenbar. Frank (72) teilt einen charak-
teristischen Brief mit:
„Meine liebe Mutter! Wer hätte gedacht, daß ich jetzt so sclireibe. Veraeih',
daß ich so war, als Du mich abholtest. Aber ich denke anders. Ich sehe, es
hilft nichts; ich will mich dreinfügen, so gut's halt geht; Du weißt gar nicht, wie
das schwer ist, es zu tun. Es ist einfach entsetzlich, wie ich zornig werde. Immer
und immer wieder kommen Gedanken z. B. fortlaufen. Eine unsägliche Wut und
einen Zorn, daß ich nimmer ruliig bin. Ich könnte verzweifeln. Alles in Stücke
zerreißen. Ich kann machen, was ich will, es nützt nichts. Am liebsten wollte
ich sterben. Ich muß mich entsetzlich zusammennehmen, um Dir den Brief zu
schreiben. Ich könnte heulen, schreien, lachen, brüllen, weinen, jubeln! Und das
soll so weitergehen? Ich kann es unmöglich. Und dazu entsetzliches Heimweh nach
Dir! Und doch könnte ich Dich zerreißen. O, meine teure Mutter, Du weißt nicht,
was das ist. Lieber wollte ich Prügel haben, bis mir das Fleisch in Fetzen herunter-
hing, als das noch aushalten. Ich habe Dich so gern, daß Menschen es nicht sagen
können. So gern, daß ich wahnsirmig werde. Mutter! Ich kann nimmer mehr!
Größer könnte mein Leiden nicht sein. Mutter! Mutter! — — — Du bist ja
nimmer meine (Mutter). Es nützt also alles nichts!!!!!"
Es scheint, als ob absonderliche Situationen Gemütszustände hervor-
bringen können, die auch qualitativ abnorm sind. So deuten manche Be-
schreibungen von beginnenden Psychosen in der Haft (Situationspsychosen)
darauf hin, daß hier Gefühle besonderer .\rt entstehen 2. Und auch von
jenen Fällen wird Seltsames berichtet, in denen eine Gruppe von Männern,
in sich immer gleich zusammengesetzt, zwangsmäßig dauernd aufeinander
angewiesen ist. So nett die Kameradschaft erst sein mag, so sehr sich
1 Nur wenig brauchbare Literatur, am besten noch Eulenburg (Sg).
- Vgl. die Irritation nerveuse considerable und melancoUe noire von Napoleon
auf St. Helena. (Recueil de pieces authentiques sur le capfif de St. -Helene, Paris,
1822, zitiert nach Vischer, 819. ) — Über die „Lebenslänglichen" vgl. Rüdin (272)
und Liepmann (i83, S. 747), Lumpp (igS). — Über Gefängnispsvchosen überhaupt
Wilmanns (326 a), Birnbaum (26 a), Stern (3o5 a).
VERSTIMMUiNGEN 83
alle Mülu" geben, sich aufeinander abzustimmen, schiieljlich koiniiil trotzdem
tuler gerailc deshalb ciru' äußerste Milistiinniiuig, eine geladene (Jereiztheit
aul, die von der (jerei/llieil des .Normalen wohl nicht nur (juantitativ unter-
schieden ist Vielleicht gehören hierher auch die „Cafavd" genannten
\ erstininiungcn der Frcmdenlegionäre', die mit den endogenen Ver-
stiinuumgen der Kpilejdoiden und auch mit dem Heimweh manches gemein-
sam zu haben scheinen. \ or allem aber sind es drei Lebenslagen, die
diese .Xusnahmezustände des Gemüts aufkommen lassen: Das Klosterleben,
die .Vbgeschlossenheit im Polareis und die Abgesondertheil im Kriegs-
gefangenenlager.
Aus seinen Klosterjahren berichtet Heinrich Siemer (agS, S. 79):
,,i\acli den monatelaiigen Bemühungen um Andacht im Gebet und ununterbrochene
Aufmerksamkeit im Studium und während des Unterrichtes stellten sicii Kopfschmerzen
ein, die durch kalte Tücher gebannt wurden. Heftiger wurden die Stiche im Vorder-
kopf, der Schlaf wurde unruhig und die Verdauung schlecht. Alle Kräfte waren
nun aufs äußerste angespannt, die Nerven erregt, das Gesicht blaß und schmal. Aber
der Eifer erlahmte nicht, so leicht ergab man sich nicht, man raffte sich zusammen,
stampfte dcu Boden mit den Füßen und wollte über sich siegen.
Dann kam die Zeit, wo einem das Buch in der Hand zitterte, wo man in die
Höhe fuhr bei einem Geräusch, und wo der Kopf dumpf und schwer wurde. Man
setzte einen Tag aus imd erging sich im Hof. Die neuen Kräfte genügten wieder
eine Weile, und dann kam der Zusamnienbruch. Ich kann das alles so genau beschreiben,
weil ich es am eigenen Leibe erfahren habe. Man war ruiniert. Ich habe Zeiten
erlebt, wo ich kein Paternoster zu Ende beten konnte, ohne zu beben 2."
Von den Polarforschern haben eine ganze Anzahl seltsame Ausnahme-
zustände des Gemüts beschrieben, die vor allem in größter Reizbarkeit
zu bestehen scheinen (Roß 270, Nansen 222, Payer 234, Drygalski 55,
Friis 82). Vischer (319) hat auf die Verwandtschaft dieser Störungen mit
der Stacheldrahtkrankheit aufmerksam gemacht (barbed wire disease.
psychose du fil de fer), die sich in den Kriegsgefangenenlagern bei Offi-
zieren und Mannschaften nach etwa einem halben Jahr einzustellen pflegte
(große Ermüdbarkeit, Schlaflosigkeit, wilde Träume, erhöhte Reizbarkeit,
Ünstetheit, allgemeiner Pessimismus, Mißtrauen, tagelange Stummheit, Spre-
chen im Schlaf). Solche gemütlichen Verstimmungen mit ihren üblen
Äußerungen waren auch aus den Sträflingskolonien Frankreichs, seinen
weltabgeschiedenen Militärkolonien (mentalite gregaire) und von Schiffs-
besatzungen bekanntgeworden (Vischer 319 und 318, Bechterew 13).
,,I1 toume ä l'aigre, mon cafard. II s'en faut de peu, ce soir, que je comprenne
certaines scenes de casemate qui m'avaient etonne: des hommes silencieux, s'exasperant
soudain, et pour un mot, se jeitant les uns sux les autres, se battant comme chevaux
sans avoine dans l'ecurie Pauvres fauves en cages '•."
Vischer macht auch auf jene eigenartigen Verstimmungen aufmerksam, die schon
durch eine sehr geringe Situationsänderung eintreten können: durch den Sonntag.
Langweile, leichte Rührseligkeit und Traurigkeit bilden die Grundlage dieser Sonntag-
Nachmittag-Stimmung (3 18).
1 Das Wort ist neuerdings mit erweitertem Sinn vielfach verwendet worden: Siehe
Huot-Voivenel (127) und Nicole (225). Vielleicht hat auch der sog. Tropenkoller
hiermit Verwandtschaft.
^ Vgl. auch Mossier (2i3) über den TrappLstenorden.
^ Gaston Riou, Journal d'un simple soldat. Paris, 1916, S. i3 (zitiert nach
Vischer, 3 ig).
6*
84 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
In solchen eigenartigen Dysphorien ^ mischen sich vielerlei Gefühls- und
Kmpfindungsmomente, so daß zum mindesten in dieser Gesamt mischung
eine qualitativ neue Stimmurigsiage erscheint. Aber selbst wenn vielleicht
bei einer »genaueren Zerlegung nur das Unbestimmte mancher Gefühlsregungen,
das Zielunsichere mancher Strebungen herausgestellt werden könnte, während
sich die Funktionen selbst der Art nach nicht als abnorm erweisen dürften,
80 ist doch ein Moment hier auch bei den Gefühlen hervorzuheben, das
später bei den abnormen Akten nochmals erwähnt werden wird, die soge-
nannte Ambivalenz der Gefühle. Was für ein seelischer Tatbestand
mit diesem Ausdruck getroffen werden soll, ist jedem Erfahrenen klar, der
zahlreiche schizophrene Gemütskranke kennen lernte. Schwierig ist dagegen
die Beschreibung, noch schwieriger die psychologische Einordnung des
Symptoms. Der Normale kann irgendeinem Gegenstand oder einer Person
gleichgültig gegenüberstehen, er hat dann dieses bestimmte Gleichgültigkeits-
erlebnis bezogen auf dieses Objekt; weder Freude noch Unlust wird ge-
weckt. In einem zweiten Falle vermag der Gegenstand ihn mit einem
deutlichen Affekt zu erfüllen, etwa mit Abscheu: wieder ist das Erlebnis
gefühlsmäßig eindeutig, klar. Zuweilen sind es an einem Objekt mehrere
„Seiten", die den Erlebenden freuen, und andere, die ihn ärgerlich machen,
und nun fühlt er sich zwiespältig affiziert. Er drückt dies vielleicht so aus,
daß er keine „rechte" Freude daran haben könne. Jeder kennt diesen un-
einheitlichen Gemütszustand, wenn er sich z. B. erinnert, daß er einen
Menschen wegen seiner trefflichen Charaktereigenschaften liebt und sich
doch wegen seiner schlechten Umgangsformen heftig an ihm ärgert. Gelegent-
lich ist auch dieses Erlebnis noch klar im Bewußtsein, man kann das Für
und Wider deutlich aufzeigen. Aber schließlich kennt man auch Zustände,
in denen man schwankt; man ist unschlüssig, ob man bejahen oder ver-
neinen soll. Nicht wie im ersten Fall aus Gleichgültigkeit, auch nicht weil
mancherlei Erwägungen der Vernunft für und andere gegen den betreffen-
den Gegenstand sprechen, sondern weil wirklich das Gefühlsmoment unklar
und unentschieden ist. Vielleicht kann man sich diese Gefühlslage am ehesten
mit dem Bilde klar machen, daß bei der Gleichgültigkeit die beiden Schalen
der Gefühlswage unbelastet seien, während bei der Zwiespältigkeit die Plus-
Schale ebenso stark belastet sei wie die Minus-Schale. Es ist nun möglich,
daß von diesem Zwiespältigkeitserlebnis aus allmähliche Übergänge zu dem
Phänomen der Gefühlsambivalenz führen, und daß also dies bei der Schizo-
phrenie so häufige Symptom nur insofern abnorm ist, als es so sehr
überwiegt gegenüber der Seltenheit beim Normalen. Mir persönlich ist es
wahrscheinlicher, daß in der schizophrenen Ambivalenz ein qualitativ
abnormes Moment steckt. Ich vermute, daß, wenn z. B. ein Hebephrener
seine Mutter gleichzeitig liebt und haßt, es nicht wie beim Normalen so
geschieht, daß er manche Züge an ihr liebt und andere an ihr haßt, und
daß je nach der Situation bald diese, bald jene Einstellung überwiegt, sondern
daß gleichzeitig Liebe und Haß geweckt werden und an einem und
demselben Gegenstandsmerkmal sich anheften. Freilich könnte sich der
1 Ihre Analyse ist sehr interessant, kann jedoch hier wegen Raummangels nicht
durchgeführt werden.
,\BNORME GEFÜHLE 85
.Normair in eine solche simultane .Ambivalenz nicht einfühlen; aber es ist
ja überhaupt ein Kennzeichen der schizophrenen Symptome, daß man
sich in sie nicht einzufühlen vermag.
Endlich sei als Anhang der (I«^fühlsstörungen noch erwähnt, dafj sich
gelegentlich die (lefühle von denjenigen Gegenständen lösen, mit denen
sie vereinigt waren, oder daß sie sich an Objekte anheften, die zu anderen
Zeiten und unter anderen Umständen gänzlich werUirm erscheinen. Es
handelt sich also um eine Störung des (lefühls Verbandes, nicht der
einzelnen (Qualität.
Es geschieht z. B.. daß eine Frau sicli in der Scliwaiigerscliaft von dem bisher
«ihr geliebten Manne altwendel: sie steht fortan zu ilim kalt, fast feindlich. Und erst
iiiil dein .Vugenblitkt- der Niederkunft ist das alle Wrtrauens- und Liebesverhältnis wieder
lierge^tellt. In anderen Fälleni gewinnen gleicligtiltigo Gegenstände einen außei-ordent-
ichen Wert: das \'erzehren von Kreide, das Betastopi von Seide, der Besitz beliebiger
( legenstände erw^eckt ein sonst in diesem Zusammenhange nicht gekanntes Lustgefühl-
Gelüste).
Man vermag keine bewußten Motive für diese Gefühl s lös ungen und
Gefühls Verschiebungen aufzufinden. Und wenn man auch viellei cht
mit Recht eine innere Vergiftung des Körpers als Hauptursache der
Störung verantwortlich macht, so ist doch damit noch keineswegs „erklärt",
warum sich ein bestimmtes Lustgefühl gerade von dem einen Inhalt ab-
wendet imd dem andern zuwendet. Manche Forscher' glauben in unter-
drückten Wünschen den Ausgang und in zufälligen Komplexassoziationen
den Weg solcher Gefühlsverschiebungen zu sehen. Solch neue Gefühls-
besetzungen wären dann also VVunscherfüllungen im Symbol. Mich selbst
befriedigt eine solche Theorie wenig, wenngleich ich keine bessere an
ihre Stelle setzen kann.
Bei diesen Gefühlsverschiebungen handelt es sich schon nicht mehr um
eine .\bnormität der seelischen Inhalte und Zustände, sondern um eine
Störung der Ve rk nüpf theit. Und damit ist eine interessante Frage an-
geschnitten : gibt es in der Fülle der Assoziationen solche, die als abnorm
zu bezeichnen sind? Oder in anderen Worten: was kann an einem asso-
ziativen Verband als abnorm bezeichnet werden ? Die Antwort lautet
einfach: nichts. Mag man (mit Semon) annehmen, dafj sich alle Asso-
ziationen auf den Ursprung der (ileich zeitigkeit zurückführen lassen, mag
man noch andere selbständige Arten des Assoziationsverbandes gelten lassen,
jedenfalls besteht folgende Tatsache : innerhalb einer Gruppe irgendwelcher
Inhalte äußeren oder inneren Erlebens setzt die Reproduktion des einen
Inhaltes die Tendenz, auch die übrigen wieder lebendig werden zu lassen.
Die Tatsache der G leichzeitigkeit schafft die Verknüpf theit.
Was aber könnte hieran abnorm sein? Man könnte sich vorstellen,
daß diese Verknüpfung unter besonderen Bedingungen in ihrem Uni-
1 Wiederum haupLsiichlich in der Schwangerschaft, aber auch im Verlauf der
schizophrenen Verblödung.
2 Bei manchen der schwangeren Warenhausdiebimien spielt diese Gefühlsverschiebung
als Motiv ihrer Straftat mit. — Man denke auch daran, wie häufig die Gefühlsstörutig
und -Verschiebung im Traum erlebt wird.
•* Besonders die Anhänger Freuds.
86 GKÜHLE: PSYCHOLOGIE DES AB.NOilME.N
fange beeinträchtigt würde oder ganz ausbliebe. Stimmt man freilich
der Theorie zu, daß nichts einmal Erlebtes verloren gehe, sondern alles
im Gedächtnis aufbewahrt werde, wenngleich es freilich später der Inten-
tion nicht mehr zugänglich zu sein brauche, so könnte man der
soeben vorgeschlagenen Annahme nicht zustimmen. Läf5t man aber
diese an sich nicht beweisbare Ansicht dahingestellt, so könnte man
gegen jene Annahme nicht viel einwenden. In der Tat könnte man sich
denken, daß bei manchen Menschen ein irgendwie eintretendes Erlebnis
dürftige Assoziationen bindet. l']s bleibt gleichsam allein. Manche kümmer-
liche geistige Veranlagungen, also Debilitäten und Imbezillitäten, mögen
zum Teil mit auf dieser Tatsache beruhen: der Schatz der vorhandenen
Assoziationen ist arm. Man könnte sich ferner denken, daß beim „Ver-
gessen" nicht nur die Inhalte selbst^ verlorengehen, sondern ihre Ver-
knüpftheit gleichsam erlischt. Auch dies muß man als möglich zugeben.
Ja es war oben davon die Rede, daß sich manche Agnosien und Aphasien
am befriedigendsten auf diese Weise erklären lassen. Man wird also zu-
geben müssen, daß — gemessen am Durchschnitt — der Schatz der vor-
handenen Assoziationen verringert (vielleicht auch abnorm vermehrt : Wunder-
gedächtnisse) sein kann. Man könnte endlich noch annehmen, daß die
simultanen Engramme dispositionell so lose aneinander geknüpft sind, dafi
das Auftauchen des einen Engramms das andere nur unter besonders
günstigen Bedingungen mit ekphoriert, während es für gewöhnlich latent
bleibt. Aber auch dieses Moment liefe wiederum im Ergebnis auf eine
assoziative Armut hinaus. Inwiefern aber der assoziative Verband quali-
tativ selbst als abnorm angesehen werden könnte, ist schlechterdings
nicht auszudenken-. Eine Assoziation an sich kann niemals als
abnorm bezeichnet werden.
Der Anhänger der Assoziationspsychologie hat noch einen Einwand be-
reit. Er meint, daß ungezählte Assoziationen den meisten Menschen gemein-
sam seien, daß z. B. in fast allen Menschen Weiß und Schwarz, \ ater und
Sohn, Heidelberg und Schloß verknüpft seien. Wenn dagegen jemand auf
\Aeiß mit Brasilien, auf Vater mit Lombardei usw. reagiere, so seien dies
abnorme Verknüpfungen. Sicher ist zuzugeben, daß solche Assoziationen
ungewöhnlich sind, doch läßt sich sonst nichts Abnormes an ihnen auf-
zeigen. Wollte man jede nicht geläufige Ideenverbindung als abnorm be-
zeichnen, so müßte man jeden neuen Einfall, jede Erfindung, überhaupt
jeden originalen Gedanken zu den abnormen Assoziationen rechnen. Wenn
einige Autoren, besonders Bleuler-^ hiergegen einwenden, daß nur diejenigen
Assoziationen als abnorm zu bezeichnen seien, die hinsichtlich des einge-
schlagenen Gedankengangs (also der früher sogenannten Zielvorstellung)
als abwegig, bizarr usw. erschienen, so muß man den unleidlichen Miß-
brauch bedauern, den hierbei das Wort Assoziation erlangt: es deckt all-
^ S. oben S. i4.
- Vielleicht hat Richard Semon auch hierüber besondere Meinungen gehabt. Sein
liinlerlassenes Werk (292 1 brachte nicht jene Pathologie der Mneme, die er bei Leb-
zeiten versprochen hatte.
^ In allen seinen Arbeiten. Siehe besonder? 27 (S. 53) und 28.
GIBT ES ABNORME ASSOZIATIONEN? 87
mählich alles und daher nichts. Auf das hier gemeinte Symptom der Ver-
schrobenhoit, Zerfahrenheit usw. gehe ich s[)ätcr ein. Aus dem Cesagten
erhellt wohl zur (JtMuige, wie es gemeint ist, wenn manche Autoren diese
Störung als Lockerung der Assoziationen bezeichnen.
Bisher habe ich die quantitativen und qualitativen Abweichungen der
seelischen Inhalte und Zustände beschrieben; — in der Folge soll ein
überblick über jene Störungen folgen, die die Ordnung zwischen den In-
halten betroffen. Damit sind keineswegs, wie aus dem soeben Gesagten
hervorgehen wird, die sogenannten Assoziationen gemeint, sondern die Be-
ziehungen des Ich auf die Gegenstände, die Richtung auf ein Objekt, die
Weise der Beziehung des Bewußtseins auf einen Inhalt (Brentano), die
intentionalen Erlebnisse oder Akte (Husserl). Diese Weisen der Beziehung,
die sich etwa als bloßes Vorstellen, Für-wahr-Halten, Vermuten, Zweifeln,
Hoffen, Fürchten, Wohlgefallen- oder Mißfallen -Haben, Begehren, Fliehen,
Urteilsentscheiden, Willensentscheiden usw. darstellen, sind zwar von Bren-
tano und Husserl weithin geklärt, jedoch noch keineswegs so klar und be-
stimmt umrissen worden, daß die normale Basis schon fest gegründet
wäre, auf der eine Phänomenologie der Abnormität der Akte (im psy-
chologischen Sinne) aufgebaut werden könnte. So reizvoll auch der Versuch
erscheinen möge, eine „Lehre von den abnormen Akten" zu schaffen, würde
er doch die mir innerhalb dieses Handbuchs gesetzten Schranken völlig
sprengen. So dienen mir Husserlsche Gesichtspunkte nur gleichsam als
Grenzsteine, innerhalb deren das wichtig erscheinende hierher gehörige
psychopathologische Material aufgestapelt wird, ohne daß seine systema-
tische Bearbeitung und innerliche Ordnung hier möglich wäre.
ABNORMITÄT DEE FUNKTIONEN (AKTE)
A. INTENTIONALER AKT (PROSPEKTIVER GESICHTSPUNKT)
1. Richtung normal, Durchführung abnorm
Wenn ich etwas wahrzunehmen bestrebt bin, etwa auf Patrouille einen
fernen sich bewegenden Gegenstand zu erkennen wünsche, so kann ich
durch innere Umstände dabei gehindert werden (die äußeren Momente
interessieren in diesem Zusammenhange nicht). Ich kann mich z. B. dabei
ertappen, daß ich aus Müdigkeit nicht dauernd scharf beobachte. Ich
halte zwar meinen Gegenstand dauernd im Auge, auch bin ich innerlich
beständig auf ihn gerichtet, aber die Intensität dieser Einstellung ist matt,
ich spüre, wie sich alles gleichsam mechanisch vollzieht, ich weiß, daß ich
hernach keinen guten Bericht werde abgeben können. Solche Störungen
finden sich vor allem in der Erschöpfung '. Zwar habe ich noch die be-
treffenden Empfindungen und deren Struktur vor mir, aber ich bemerke
nicht mehr das Wichtige an ihnen, ich fasse sie nicht mehr zu Komplexen
zusammen, ich gelange nicht mehr zur begrifflichen Bearbeitung, zum Ur-
teil: kurz, die Funktionen (Stumpf) sind gestört. Ich erhalte vielleicht
den Vorwurf: haben Sie denn nicht bemerkt, daß usw., und ich muß ant-
worten, ja, ich habe das an sich wohl bemerkt, aber ich habe die Bedeu-
tung der Sache eben nicht erkannt. Die Apperzeption (im Herbartschen
Sinn) ist gestört, ich verschmelze die einzelnen Gestaltkomplexe nicht mit
den sonst aus mir hinzutretenden Elementen. Vielleicht drücke ich es ge-
legentlich auch so aus, daß ich sage: mir fiel dabei nichts ein, ich kam
mir so unbeteiligt vor, obwohl ich durchaus die Tendenz hatte, mich da-
für zu interessieren. Das Erlebnis der seelischen Hemmung äußert sich
nicht selten in dieser Weise: die Akte des Erkennens sind keineswegs
vernichtet, aber sie sind erschwert, verlangsamt, eben gehemmt. Freilich
erstreckt sich diese Hemmung nicht nur auf die Wahrnehmung; auch die
Vorstellung anschaulicher, das Denken unanschaulicher Inhalte ist in der
gleichen Weise erschwert. Man hört die Kranken direkt darüber klagen,
sie hätten den Eindruck, nicht mehr denken zu können; sie fragen ängst-
Hch, ob sie nicht blödsinnig werden. Aber diese Befürchtung entsteht nicht
nur aus der inneren Wahrnehmung der Erschwerung, es entgeht diesen
Kranken auch nicht, daß ihre Spontaneität auf ein Mininum reduziert ist. Es
geht in ihnen gar nichts vor, sie kommen zu gar keinen Akten (Gedanken-
1 Auch bei verschiedenen Vergiftungen, z\i denen ja die Erschöpfung wahrschein-
licli mit gehört.
MLMMl.NG 89
leere), die ganze Maschinerie scheint schhoISHch stillzuslehen (Stupor) *.
Rafft sich der kranke doch einmal zu eiiu'in W illcnsakt auf, so bleibt
er oft entweder auf halbem Wege stehen, oder er schwankt zwischen diesem
und einem andern Impuls hin um! her, ohne sich für einen \on beiden
entschließen zu können (Entschluliunfähigkeit, sogenannte Willensschwäche,
Abulie)-. Das Unvermögen, sich von einem (Gegenstände loszureißen und
sich einem anderen zuzuwenden, ist auch objektiv oft recht deutlich (Haften-
bleiben). Zuweilen befällt die Hemmung nur die Akte des Denkens und
Wollens (intrapsychische Hemmung), zuweilen erstreckt sie sich auch auf
die Umsetzung der Impulse ins Motorische'.
Proben von Hemmung: „Es ist ganz walir. daß ich niclits mehr begreife. Schon
N-iele Wochen zu Hause verkroch ich niicli immer. Es ist mir unmöglich, einer Untei-
haltung zu folgiii. Ich kami nicht einen vernünftigen («eilanken mehr fassen. Wenn
man mir sagt, so und .so muß etwas gemacht w^erdcn, so behalte ich es uiclil. Ich
habe die Empfindung, ich niul'i immer auf einen Fle-ck starren. In Gedanken unterhalte
ich mich immer mit dem Ii«'rrii Doktor, aber wonn er kommt, kann icli kein Wort sagen.
Es ist wirklich keine Einhilihing, daß icli nichts begreife. Ess ist gar nicht möglich,
daß icii unter Menschen gelie. Ein junges Mädchen in <iiesem Zustande, daß ihm
alles einerlei ist, ob es ordentlich aussieht oder nichb . . . Ich weiß auch gar nicht
mehr, wie ich mich betragen soll. Es fällt mir sogar schwer, .guten Tag' zu sagen,
und ,bitte. nehmen Sie Platz" . Denn wenn man mir einen Salz gesagl hat, kann ich
ihn in Getlanken zehnmal wiederholen ohiu> doch zu tun. was er tnir sagt. I^o sitze ich
viele Stunden vor dem Papier und kann .loch niilils Deutliches sciireilieM.' (Gerda
Linde. Psychiatr. Klinik Heidelberg. lo. XI. 1900.)
..Ich war wie ein Simpel, im Kopf war es auf «iranal so leer, es war so als
ob ich einen .Stecken im Kopf hätte." (Psychiatr. Klinik Heidelberg, 2. II. i->.. Kaifiline
SchuUe.)
Eine andere Störung des seelischen Ablaufs ist jene, bei der der (legea-
stand, auf den man gerichtet ist, nicht beibehalten werden kann. Die
Materie des intentionalen .\ktes ist gestört^. Das kann in verschiedener
Weise der Fall sein. Nach dem grofSen Kriege klagten viele Feldzugsteil-
nehmer darüber, daß sie sich nur ganz kurze Zeit auf etwas konzentrieren
könnten''. Selbst bei ganz einfachen Gegenständen — etwa einem leichten
Roman — ließe ihre Aufmerksamkeit nach, der Faden risse ihnen
ab, die Gedanken wären schon wieder wo anders; eine innere Unruhe
jage sie von Gegenstand zu Gegenstand. Oft faßten sie ihre Klagen in die
Form, daß ihr Gedächtnis gelitten habe. Und in gewisser Hinsicht war
dies auch der Fall, denn da sie jedem neuen Inhalt sich nur in unzu-
reichender Weise zuwendeten, da alles \ olkstümlich gesagt — zum einen
' Siehe oben S. 21.
2 Die Janetsche Abulie ist etwas ganz anderes. Über die eigentliche Vbulie, als
Fehlen der Impulse, siehe oben S. 20.
3 Daß die Hemmung höheren Grades fast immer mit depressiver Stimmung ver-
bunden ist. wurde oben schon erwälint (Melancholie). Es wäre \orschnell, zu urteilen,
daß die Schwermut selber hemmt ; möglicherweise sind Schwermut und Hemmung
aneinander geknüpfte Symptome einer pjemeinsanien Ui^sache, deren Natur noch unbe-
kannt ist, aber vielleicht in eiiier inneren Verffiftunc besteht.
* EHe Terminologie im folgenden lehnt sich vielfach an Husserl (,128) an. Doch
werden seine Begriffe hier natürlich rein psychologisch gefaßt, im Gegensatz zu
Husserl selbst.
•'' Typische Beschreibungen solcher Zustände siehe bei Vischer (3i8).
90 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Ohr herein- und zum andern wieder hinausging, genügte die aufgewandte
seeHsche Energie nicht zur Fixierung, zur Einprägung. Vermochten sie sich
doch einmal zu energischer Konzentriertheit zusammenzureißen, so zeigte
sich, daß die vvirküche Fähigkeit zum Merken nicht gestört war. Diese
Kriegsneurotiker erklärten sich zuweilen unfähig zu jeder geistigen Arbeit.
Selbst die Erfüllung irgendeiner einfachen Aufgabe fiel ihnen schwer,
denn sie beharrten nicht bei der determinierenden Tendenz (Ach), die zur
Erledigung einer zusammenhängenden geistigen .\rbeit gehört; sie ver-
mochten die Richtung des Denkens nicht beizubehalten.
Zuweilen äußert sich eine solche Störung in einer übermäßigen Ablenk-
barkeit. Manche Geisteskranke ^ werden durch alle äußeren Sinneseindrücke
übermäßig in Anspruch genommen. In leichteren Fällen verlieren sie zwar
noch nicht den Faden, aber sie machen allerhand Umwege.
Vielleicht will ein solcher Hypomaniacus ein einfaches Venvandtschaftsverhältnis aus-
einandersetzen. Dabei fällt sein Blick auf die blauen Augen seines Gegenübers, und er
kann die Bemerkung nicht unterdrücken: „Meine Schwester hatte genau so blaue Augen
wie Sie." Er erzählt weiter von seiner Mutter, und wird dabei durch die Blumen vor
dem Fenster gestört: „Gerade solche violetten Petunien pflegte meine Mutter auch
gern zu ziehen." Eine Tür wrd zugeschlagen: „das war auch mein Fehler, wie oft
hat mir die Mutter verboten, die Türen zuzuwerfen, dabei wax das Haus gar nicht so
wacklig gebaut, es war etwa so wie dieses, nur die Fenster waren nicht so groß, und
dann, wissen Sie, die Einteilung der Fenster war anders, es waren nicht so große Spiegel-
scheiben, sondern kleinere, mehr in der Art des Barocks" usw.
In schwereren Fällen entsteht dann eine förmliche Nennwut; jeder Gegen-
stand der Umgebung wird ausdrücklich sprachlich aufgegriffen und in das
allmählich immer konfuser werdende Gerede mit hinein verflochten. Nicht
immer sind es äußere Sinneseindrücke, die sich als Gegenstand in das
Bewußtsein geradezu gewaltsam eindrängen, sondern es entsteht oft ein
inneres Weiterschweifen ^. Eine Vorstellung weckt ebenso allerlei
Erinnerungen, wie beim Normalen, aber während dieser jene leichten inneren
Anklänge genau so unbeachtet läßt, wie er von zufälligen augenblickUchen
Geräuschen oder Beleuchtungsänderungen keine Notiz nimmt, steht der
Manische unter einem gewissen Zwang. Die einzelnen Inhalte sind mächtiger
als die Energie seiner Auswahl, die determinierende Tendenz seiner augen-
blicklichen Einstellung (Aufgabe) wird gleichsam vergewaltigt, und die Assozi-
ationen setzen sich selbständig durch. Diese Ideenflucht ist in leichteren
Fällen gleichsam nur ein ausschweifendes .\rabeskenwerk um die doch
schließlich noch festgehaltene Generalidee; in schwereren Fällen kommt es
zur unendlichen Aneinanderreihung ohne Sinn und ZieP. Häufig sind die
Bindungen zwischen den einzelnen vorgebrachten Inhalten rein sprachlich,
lautlich oder sonstwie äußerlich begründet (sogenannte äußere x\ssoziationen).
Man darf nicht annehmen, daß diese Ideenflucht auch immer ausgesprochen
1 Manisch -Erregte.
- Man denke auch an den sogenannten Ideenrausch in manchen Fällen der leichten
Alkoholtrunkenheit .
^ Zuweilen bemerkt man noch eine gewisse einlieitliche Tendenz der Aneinander-
reihung, die zwar keineswegs ,, beabsichtigt" ist. aber doch eine Zeitlang fortwirkt (perse-
veriert). Z. B. wenn ein Kranker lauter sehr schckie, prächtige, auffallende Dinge anein-
anderfüfft.
AI FMKRKSAMKEITSSTÖRUNG. IDEENFLUCHT 91
werden müßte. In den meisten Fällen besteht zwar gleichzeitig auch eine
S()rachmotorische (und überhaupt eine motorische) Krregung — die Worte
überstürzen sich förmlich, die Stinuue ist laut , doch gibt es auch Fälle
inneren (ledankenjagens bei äuljerlich ruhigem \ erhaltend
Beispiele: (Zuruf: Heizung.) ..Kühlung Orlisiiilung R.iuch Zigarren, lo Pfennig
das Stück, gib mir ein Stück Brot, gib mir ein Stück Kticlu-n. du mußt suclion." (F.\a
Schmöller. Psychiatr. Klinik Heidelberg. 17. XI. 18. j
(Spont.nn:) ..Herla. Herl.n. luiflichst dankend angenommen. Kunigunde aus Mannheim,
der Spruch der deutschen Feuerweiir lautet folgendermaßen: wenns liier erwünscht,
nur zu. Lokalzug über Brucksal — Zürich, Dr. von Bauer, Edmun<l von König, Herbst-
parade Tempelhof, Vergnügen Stiftskaffee, Achtung hoflichst Filiale, Platzmajor, ist
dort Station aufgegeben, höflichst dankend angenommen. Blitz Phonograph, jetzt schnell
geladen, <ler Großherzog geht Mannheim. Velhagen und Klasing, Villa Nißl. apres nous
le deluge, Dr. Heller. Kolmar stationiert." (Minna Weller. Psvchiatr. Klinik Heidel-
berg. I. \. 95.)
Man hat die Ideenflucht auch genaueren psychologischen Analysen unter-
worfen. Noch nicht völlig geklärt ist die Frage, ob sich die einzelnen
aneinandergereihten Inhalte mit besonderer Schnelligkeit folgen, oder ob
nicht jemand, der sich auf diese besondere Form des Assoziierens absichtlich
einüben würde, die gleichen Zeiten hätte. Alle Versuche, die Ideenflucht
zu „erklären", die mir bisher bekannt geworden sind, reichen bei weitem
nicht aus, das Phänomen in die sonst gut beschriebenen psychischen .\b-
läufe befriedigend einzuordnen. Daß der Rededrang allein nicht die spezielle
Struktur der Ideenflucht erklären kann, ist ja selbsherständlich. Aber auch
aus der Annahme einer „Gesamtvorstellung" heraus kann man nicht das
geordnete Denken, und aus ihrem Fehlen nicht die Ideenflucht begreifen.
Denn ich kann aus einer Gesamtvorstellung zwar durch Beachtung einzelne
Teile henorheben, doch regelt eine solche Gesamtvorstellung niemals die
Sukzession und die Ordnung der Teile. Eine andere Theorie vermutet, daß
eine „Obervorstellung" für gewöhnlich den Ablauf des Denkens dirigiere.
Die Einzelheiten setzen angeblich eine Obervorstellung nicht mosaikartig
zusammen, sondern aus ihnen entstehe etwas Neues, und dies sei die
Obervorstellung. Zwei Obervorstellungen lassen dann wiederum eine neue
Obervorstellung höheren Grades entstehen usf. Aber gesetzt den Fall, ein
solche Obervorstellung sei vorhanden, so könnte man ihr gemäß irgend-
welche Inhalte ordnen, z. B. etwas aufzählen. Niemals aber könnte die
Obenorstellung selbst auf Grund ihrer assoziativen Verknüpftheit etwas
reproduzieren, sie könnte nicht selbst etwas aufzählen. .\ber selbst wenn
man auch dieses noch zugeben wollte, wenn man also einräumen wollte,
daß durch den Fortfall einer Obervorstellung das Denken imgeordnet
würde: warum sollte dann gerade eine ganz bestimmte Form der l ngeordnet-
heit, nämlich die Ideenflucht, entstehen 2? Sicherlich ist bei dem Zustande-
kommen der Ideenflucht die seelische Erregung ein Hauptfaktor, sicher ist
^ Sogenannte gehemmle Manie oder manischer Stupor, eine besondere Form des Misch-
zustandes aas dem Symptomenkreis des manisch-depressiven Irreseins. EHe Franzosen
sprechen dann \on einer excitation avec Inhibition psychomotrice imd Ijenennen sie „Manie
akinefiqiie", „Inhibition maniaque". N>1. Di'nv. 'lO.
2 Zu diesen Theorien vgl. be.sonders Liepmann (^180). Isserlin (i'i7) und Heil-
bronner (io4 a).
92 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
dabei „das Nicht-festhalten-Können", das Schwinden der Intention ein
zweites Hauptmoment; sicherlich aber wird hierdurch nur die Unordnung
des Denkablaufes überhaupt, nicht gerade diese ihre spezielle Form in
Begriffe gefaßt.
Wenn man z. B. eine weitere Störung des geordneten Denkens, die Ver-
wirrtheit, ins Auge faßt, so gilt auch für diese zuweilen das erste Moment,
die Erregung, gilt immer auch der zweite Faktor, das Wegfallen der
Intention, und doch entsteht hier eine ganz andere Form der Denkstörung.
Die Verwirrtheit kann sich in sehr verschiedener Weise zeigen. Einmal
kann in der Wahrnehmung die Einordnung der Empfindungen Not leiden:
die Apperzeption ist gestört. Fast jeder Mensch vermag sich von einer
fieberhaften Erkrankung her zu erinnern, daß er dabei einmal leicht ver-
wirrt wurde. Daß ihm beim Eintritt eines unbekannten /Vrztes mit braunem
Vollbart und hoher Statur die Erinnerung an Kaiser Friedrich kommt, ist
durchaus natürhch, — daß er jedoch diesen Herrn für Kaiser Friedrich
hält, dieser „setzende Akt" ist abnorm. Die Fülle der übrigen Urteile, daß
Friedrich III. längst gestorben sei, daß er auch bei Lebzeiten den Fiebernden
kaum besucht hätte usw., dies alles steht dem Kranken nicht im Augen-
blick zur Verfügung, und so kommt er zu seinem Fehlurteil.
Der fiebernd Verwirrte nimmt z. B. deuflich und richtig walir, daß am messingnen
Idaiikca Fuß seiner Lampe Lichterscheinungen zu sehen sind, aber anstatt, daß er wie
der Normale „mit einem Blicke' erkennt, daß es sich hier um Spiegelungen, um
Lichtreflexe handelt, ruft er besorgt nach seiner Pflegerin: sie solle schnell die Lampt'
auslöschen, sie fange unten schon an zu glühen. Solche Fehlurteile führen oft zu
^erwi^^tem Handeln: er venvechselt Fenster und Türe, will aus dem Suppenteller trinken
usw. Er erfaßt einzelnes und ordnet dieses einzelne bis zu einem gewissen Grade richtig
ein, er beurteilt den Suppenteller z. B. richtig als Gefäß mit Nahrung; er ist aber
dann fälschlich innerlich auf ,, Tasse" eingestellt und versucht daher zu trinken.
Nicht seine Assoziationen sind gestört — seine plötzlichen Einfälle sind
zuweilen sogar überraschend treffend und „gescheit" — , sondern die Ord-
nung, die Bearbeitung des Materiales seiner Wahrnehmungen ist beein-
trächtigt. Es ist kein Wunder, daß bei dieser gleichsam lückenhaften Auf-
fassung seiner Umgebung auch seine örtliche und zeitliche Orientierung
alteriert ist. Er verkennt seine Angehörigen, seinen Aufenthaltsort; er ver-
mag sich zeitlich nicht mehr zurechtzufinden. Dabei ist es gerade für diese
Form der Verwirrtheit charakteristisch, daß sie sehr wechselt; in einem
Augenblicke klar, vermag der Fiebernde im nächsten Moment nur ganz
verwirrte Angaben zu machen^. Nimmt die Verwirrtheit höhere Grade an,
so spricht man von einem Delirium*. Selbstverständlich ist dann nicht
nur die Wahrnehmung und die Merkfähigkeit, sondern auch das Denken
betroffen. Ein Delirant vermag z. B. oft eine Aufgabe nicht mehr richtig
zu erfassen, er weiß gar nicht mehr, was er tun soll, und wirtschaftet
gedanklich oder motorisch sinnlos herum.
^ Es handelt sich dabei nicht nur um Fiebernde (besonders bei Kindern, dann bei
Scharlach, Wundrose, Lungenentzündung bei Trinkern, Typhus, Vergiftungen), sondern
auch um schwer Erschöpfte (Blutverluste, Gebärende) und andere Krankheitszustände
(Basedowsche Krankheit und die großen Psychosen).
2 Der französische Ausdruck delire hat canz anderen Sinn.
VERVMRRTULIT 93
,,Wi« und ^\eshalb icli iüerher (in die kliiiik^ kam, weiß icli niclit, zu Haust- kam mii
alles so fremd, uh »ellwl kam mir so kumiscli vor. Hior hatU; ich keiii»- Ahnung, wo icJi
»ar. Icli dachte >iolleiclit im Tliealer. weil ich »>> viel Slimmeii hörte, uamentlich von
i«ängem, die ich früher einmal gehört hatte. Dann war mir ganz komisch zunmte, icli
dachte, es habe ein KrdniL^cli slaltgofimden. die ganze NNelt sei untergegajigen, nur die
Klinik sei übrig gi'blieben. und ich sei zum Wiederaufbau Ix'rufen. Es war als ob alle
Häuser einstürzten, alles war wie im Schwindel, alles kam mir so verschüttet \or. Mein
iJruder kam mir auch so anders, so wacklig >or. E> w;ir wie geträumt. Meiiu' Phantasie
war äuliersl rege. Es war ein Kunterbunt, stän<lig wecliselte es, da waren Stimmen voi>
Verstorbenen, die kamen bis zur Tür und wollten mich abholen. Ich war dann sehr ent-
täuscht, wie niemand kam. Dann war ich jjlöt/licii im Krieg, um Telephonleitungen zu
legen. — Die .\rzte habe ich anfangs gar nicht erkamit. Ich dachte, sie wollten .Ulk mit
mir treiben. — Ich war ja den ganzen Tag beschäftigt, war j;i inmier im Dienst, habe u.
Crtdankeii inmier gearbeitet, getippt, telephoniert, deshalb kommandierte ich ja immei .
l.\inn kam ich mir vor wie auf einer Wandervogelwanderung." (Marie Basler. Psvchiatr.
Klinik Heidelberg.)
Bei einer zweiten Form der Verwirrtheit besteht nur zum kleinen Teil
die Störung der .\pperzeption, sofern diese auf die Verarbeitung der
Außeneindrücke eingestellt ist. Bei ihr besteht eine geistige Unordnung,
die vorzüglich die eigenen Impulse des Kranken und ihre Durchführung
betrifft.
Der Psychotische ist z. B. innerlich auf die Befriedigung eines Bedürfnisses eingestellt.
Aber es kommt ihm in diesem AugCiiblicke nicht zum Bewußtsein, daß er sich in
«inem fremden Zimmer, etwa im Wartezimmer des Arztes, unter anderen Menschen
l)efindet. Lnd so stellt er sich mitten in dies Zimm«r und uriniert auf den Teppich.
Würde man ihn in diesem Augenblicke fragen, wo er sich befände, .so würde er völlig
Ivorrekt antworten. Aber er bezieht diesen Bewußtseinsinhalt (Sprechzimmer des Arztes)
nicht auf den anderen (Urinieren;.
Er verkennt die .Vußenwelt nicht wie der Fieberdelirant, aber er ver-
bindet seine Inhalte nicht in normaler Weise zu Urteilen, die sein Handeln
beeinflussen. \Viederum sind nicht seine Assoziationen gestört, sondern
seine intentionalen Erlebnisse haben Not gelitten. Ähnlich wie der Fiebernde
kann auch er zu verwirrten Handlungen kommen, aber aus anderer Ursache:
er „findet nichts darin", wenn er sich plötzlich auf der Straße nackt aus-
zieht, wenn er als Lehrer in der Schulklasse plötzlich einen unanständigen
\ ers vorsingt, wenn er „zur Abwechslung*' einmal das Feuer nicht im
Herd, sondern auf dem Fußboden der Küche anmacht. Aber selbstverständ-
lich erscheint seine Störung nicht nur im Handeln, sondern auch im Denken.
Er vermag verwickeiteren Gedankengängen nicht zu folgen, weil er den
Gegenstand nicht festhalten, weil er die Beziehungen der Teile zum Ganzen
nicht erfassen, die Begriffe von Ursache und Wirkung, Grund und Folge,
Mittel und Zweck usw. nicht anzuwenden vermag. Es fehlt an seinen
zusammenfassenden, an seinen Urteilsakten. Diese seine Urteilsschwäche
führt dann zu verwirrten Handlungen und verworrenen Denkprozessen. Jede
innere Disziplin, jede Haltung ist verloren gegangen^.
Läßt man etwa einen solchen Kranken Kopfrechnen, so antwortet er
7., B. auf die Frage 5 X 17 = 75, nein 38, nein 35, ach so, nein 65, ganz
sicher 65 oder 42 usw. Es ist ein blindes Daherraten ohne Ansatz und
Beharrlichkeit. Bei dieser Form der Verwirrtheit wirkt meist auch noch
1 Hierfür seien beispielsweise erwähnt vor allem die progressive Paraüyse, dann auch
^e Arteriosklerose, das Senium.
94 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABiNQRMEN
der Umstand mit, daß das Gedächtnis nur noch unregehiiäßig mit-
arbeitet. Sei es, daß der auf einen Gegenstiind gerichtete Akt jenen nicht
vorfindet (darüber siehe später), sei es, daß der Gegenstand selbst im
Gedächtnis verlorengegangen ist, jedenfalls stellt er sich nicht an jener
Stelle des Denkprozesses ein, an dem er vorhanden sein müßte, wenn ein
korrekter Urteilsakt zustande kommen sollte.
Es f'ibt nun eine dritte Form der Verwirrtheit, bei der hauptsäch-
lich dieses mnestische Moment die Ordnung stört. Wenn man annimmt,
daß einem die Erinnerungen, deren man bedarf, um irgendetwas
einzuordnen, nicht mehr zur Verfügung stehen, daß einem die einfach-
sten Gegenstände nicht mehr einfallen, so kann man sich vorstellen,
daß man sich benimmt wie in fremder, ganz unübersehbarer Situation.
Auch das Wiedererkennen ist ja gestört. Ein solcher Kranker verläuft
sich in den altbekannten Straßen; er schiebt vielleicht einen Brief, den
er absenden will, unter den heruntergelassenen Rolladen eines Geschäftes;
er kann sich nicht mehr erinnern, wohin die Abfälle seiner Mahlzeiten
gehören, und so wickelt er sie sorgsam in Papier und versteckt sie unter
seinem Bett. Er ist so wenig mehr komponiert, daß er selbst das Wider-
sinnige seiner Handlungen nicht mehr bemerkt, höchstens daß ihn am
Abend im hereinbrechenden Dunkel einmal das Bewuf5tsein der geistig
nicht übersehbaren Situation in lebhaften Angstaffekt versetzte
Ganz anders ist die Genese einer Verwirrtheit, bei der ein plötzlich ein-
tretender Affekt „die Sinne verwirrt". Wenn ein großer Schrecken jemandem
„in die Glieder fährt", ist er oft nicht nur am schnellen und gewandten
Gebrauch seiner Motilität gehindert — er ist wie gelähmt — , sondern auch
„sein Verstand steht still". Er vermag sich im Augenblick nicht mehr der
einfachsten Dinge zu erinnern, er gibt verwirrte Antworten und ist jeder
Kombinationsfähigkeit bar.
Man denke nur an die verdrehten Antworten der Examenskandidaten oder an die
sinnlosen Handlungen der übermäßig Erregten; bei einer Feuersbrunst will ein er-
schrockenes Mädchen geradeswegs in die Flammen laufen; nach einem nahen Einschlag
einer Granate beginnt ein heftig Erschreckter angesichts des Feindes ungedeckt und laut
singend trotz einer Verwundung herumzuspringen; im höchsten Angstaffekt begeht
mancher Melancholiker ganz sinnlose verwirrte Handlungen (Raptus melancholicus).
Spricht man doch auch bei starkem Lust af f ekt von Freude trunkenheit.
Außer starken Affekten sind es auch lebhafte Vorstellungen, sich aufdrängende
Gedanken, die gelegentlich einen Menschen ganz verwirrt machen. Im
Grunde ist dies ja nichts anderes, da ein solch „bewegender" Gedanke
eben ein stark gefühlsbetonter Gedanke oder in anderen Worten ein
intensiver, auf einen bestimmten Gegenstand gerichteter Gefühlsakt ist. Ein
Künstler etwa, der, ganz mit einem künstlerischen Problem innerlich beschäf-
tigt-, in der „Zerstreutheit" Torheiten begeht, — ein Gelehrter, der im
Verfolg irgendwelcher wissenschaftlicher Gedankengänge sich konfus und
taktlos benimmt, sind Beispiele für solche leichte Verwirrtheiten. Der Ver-
1 Hauptsächlich im Senium und nach schweren Kopfunfällen.
2 Tagträumereien. Es gibt Psychopathen, die fast das ganze Leben wie im Traume
daherwandeln und unfähig sind zu jeder klaren Tat oder Einstellung.
VERWIRRTHEIT 95
gleich mit doin Nachtwaiullcr liegt nahe, uinl er ist mehr als ein \ ergleich.
Denn auch der .Nachhvaiuiicr handelt in mancher Hinsicht vollkommen
besonnen uiui klar, in anderen Zusammenhängen wiederum ganz sinnlos
und verwirrt.
.\ber eine \ erwirrtheit kann auch auf noch ganz anderem -W ege zu-
stande kommen. .Nicht in der Apperzeption (im Sinne Herbarts) liegt dann
das Wesen der Störung, sondern die an sich richtig angesetzte und
richtig arbeitende Apperzeption wird durch querkommende Sensationen
gestört. W enn man sich vorstellt, daß man im Augenblicke eines Gedanken-
ganges dadurch abgelenkt wird, daß einem „Stimmen" unangenehme Worte
ins Ohr rufen, daß man bei stärkster Aufmerksamkeit schließlich diese
Zurufe zwar überhört, aber im nächsten Augenblicke durch irgendeine
„gemachte" Gedankenreihe wieder aus dem Konzept gebracht wird, —
wenn man sich vorstellt, dafj solche Sinnestäuschungen, wahnhafte Bewußt-
heiten, gemachte Gedanken usw. sich sehr häufen, so kann man es leicht be-
greifen, dafj ein solcher geplagter Schizophrener schliefjlich keinen .\kt beibe-
halten, keine Funktion durchführen kann, sondern eben in eine allgemeine innere
l ngeordnetheit, die \ erwirrtheit, verfällt. Sehr häufig besteht diese nur
während solcher erlebnisreicher Attacken und wird dann auch vom Kranken
selbst sehr wohl bemerkt; nach wenigen Stunden, ja Minuten, kann der
Kranke wieder völlig klar besonnen orientiert sein. Bei anderen Formen
geistiger Störung^ mischen sich alle bisher beschriebenen Ursachen, um
eine Verwirrtheit zu ergeben: einerseits ist die Einordnung der von außen
kommenden Empfindungskomplexe an sich alteriert, und zudem stören
noch zahlreiche, lebhafte Sinnestäuschungen, .\ffekte und einzelne Wahn-
bewußtheiten die Auffassung.
Es ergeben sich also folgende Formen der ^ erwirrtheit:
1. apperzeptive,
2. gedanklich strukturelle,
3. mnestische,
4. affektive,
5. halluzinatorische ^Verwirrtheit.
Bei allen diesen Formen ist die Bichtung, der Gegenstand, der inten-
tionalen .\kte, normal, nur ihre Durchführung ist gestört. Um einige an-
schauliche Beispiele einer völligen Verwirrtheit zu geben, lasse ich hier
Protokolle über die Äußerungen von zwei Psychotischen folgen:
„Guten Morgen, Herr Dr. Müller, sind Sie nicht mein Bruder Hermann? Ich
habe doch alles zerbrochen. (?) Ich habe Ihr ganzes Glück zerbrochen. Sind Sie
nicht mein Vater? Wo ist das Märchenbuch? Ich weiß nicht, gehört mir das Märchen-
buch, oder wo ist es? Ich finde nicht zurecht in dem Märchenbuch." (Psychiatr.
Klinik Heidelberg, MUa Schild, i3. V. i5.)
Ke nächste Probe gibt die Antwort auf eine gestellte Aufgabe wieder. (Frau
Kürer, Psychiatr. Klinik, Heidelberg, Ix. V. 1920; ratlos ängstliche Verwirrtheit im
Verlauf des manisch-depressiven Irreseins.):
(Wenn ich von 1,17 M. 25 Pf. wegnehme, wieviel bleibt dann übrig?) 8. (Dann
fragt die Kranke auf Vorhalt nochmals nach der Aufgabe, diese wird wiederholt,
und sie beginnt zu rechnen:) 117 — 27 = 7, 7 -f- 25 = 117 (falsch!); —
I M. 17 — 17 =^ I M., I M. — 5 = i5, 100 — 5 := 95.
^ Z. B. beim Delirium tremens der Alkoholiker.
96 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES AB.\QRIV1EN
Die folgende Probe zeigt deutlich, wie sie beim spontanen Erzählen den Faden immer
wieder verliert. „Die Fahrt dauerte bis ich in die Klinik kam. Dann war Frau Leverenz
iioch da — da, wie wir auch auf dem Kino gefahren — da waren aber alle Sieges-
zeichen dab«'i, und dann habe«» sie diese Werner Vogel gegeben zum reinigen. Das
darf doch nicht sein. — Aber das war alles die Jagd nach dem Geld. Sic dachte,
das ist von Kriegsgewinnlern. Ich bin auch mal mitgefahren nach England mit meiner
Citla. England ist eigentlich nichts als Kalkfelsen, wir dachten, daß England noch
da sei, aber wie wir oben waren, da habe ich selbst gesagt, da kann man nicht leben — ,
in der Zeitung stand das Loch im Westen. Da kommt alles rein, aber da bin ich
nicht mehr weiter gefahren. Es war >vie eine goldene Kette, die mußte man fassen,
aber ich liatio doch nicht so viel Geld und da bin ich abgesprungen. Die Frau
Leverenz iiat doch Porphyrwerke. Ich habe mir inuner gedacht, die Welt ist eine Kugel,
rund. Das sah ich auch, Heidelberg muß doch auch eine Kugel sein. Wie ich sah, daß
die Welt rund ist, dachte ich, daß Heidell>erg auf der einen Seite zu schwer sei, da
müßte es anliegen, mit dem Rhein muß das auch so sein" usw.
Man glaube nicht, daß mit einer solchen Verwirrtheit stets auch das
Bewußtsein der Verwirrtheit verbunden sein müßte. Im soeben ange-
führten Beispiele war dies der Fall, es gibt aber Psychotiker, die ihrer Ver-
wirrung (besonders derjenigen strukturellen Charakters) gar nicht inne werden,
wiederum aus ihrer ^ erwirrtheit heraus, denn auch die Selbstbeobachtung
fordert ja zielsicheres Festhalten der Intention ^ Aus einer Mischung der
apperzeptiven und strukturellen Verwirrtheit entsteht zuweilen jener Zustand,
in dem die Kranken weder die Außenwelt mehr richtig erfassen, noch ihrer
gedanklichen Abläufe mehr Herr sind ; dazu kommt eine gewisse Hemmung:
man spricht dann von einem getrübten Bewußtsein, einer Benommenheit,
in schweren Fällen von einem komatösen Zustand. Der „Bewußtlose" ist
dann meist ganz in sich versunken, nimmt von der Außenwelt nur noch
ganz dürftige Notiz und ähnelt dem Schlafenden oder Ohnmächtigen. Man
verwende für diese Zustände am besten die Ausdrücke: Benommenheit
(Somnolenz) und Koma, und man vermeide die Namen: Bewußtseinstrübung
und Bewußtlosigkeit. Denn bei der Vieldeutigkeit des Terminus „Bewußt-
sein" entstehen leicht Mißverständnisse und besonders Verwechslungen mit
Dämmerzuständen -.
Die verschiedenen Formen der Verwirrtheit sind meist Äußerungen
vorübergehender Geistesstörungen. Bei einem Fieberdelir dauern sie vielleicht
nur Minuten, bei einer Altersverblödung können sie monatelang währen.
Stellt man sich jedoch vor, daß sie — besonders die gedanklich struktuelle
Form — nicht Ergebnis einer plötzlichen ^ ergiftung, eines Schädelunfalls
oder dergleichen sind, sondern daß sie den seelischen Ausdruck einer
chronischen Gehirnveränderung darstellen, so werden sie irreparabel und
sind dann ein Anzeichen einer Defektpsychose, eines dauernden geistigen
\erfalls, einer Verblödung. Man versteht unter Verblödung
oder Demenz einen erworbenen irreparablen geistigen
S c h w ä c h e z u s t a n d. Die Aufnahme des Wortes „erworben" grenzt
^ Etwas ganz anderes. Besonderes ist die Sprach Verwirrtheit ; darüber siehe später.
- Diese gehören meist in das oben beschriebene Gebiet der Bewußtseinsspaltungen,
des alternierenden Bewußtseins. Der Ausdruck Dämmerzustand ist wenig glücklich:
oft handeln die L md.immerten ganz frei und vernünftig, und nur die Erinnerung für
die Gegenstände dieser Bewußtseinsphase ist in der späteren dann nicht
vorhanden.
VERBLÖDUNG 97
diese Defekte ab gegen die angeborenen (oder in allerfrühestcr Jugend
entstandenen) geistigen Schwächen (Debihtät, ImbezilHtät, Idiotie). Von
ihnen war schon oben die Rede. Sie vermögen im Leben nicht das
normale Ma(j geistiger Kntwickking zu erreichen, da sie weder die
nötigen \ orräte (\Vis.sensstoffe) zu erwerben imstande sind, noch das
geordnete Spiel der Akte erlernen können, das die normale Funktion des
Intellekts konstituiert. — Wenn in der obigen Definition das
V\ort irreparabel den zweiten Platz hat, so will man dadurch aus dem
Demenzbegriff alle vorübergehenden geistigen Störungen, die
beschriebenen Hemmungen, Verwirrungen usw. ausschalten. Und wenn
endlich von geistigen Schwächezuständen die Rede ist, so will man nicht
jene Defekte mit umfassen, die unter dem Namen der gemütlichen Ver-
blödung zusammengefafSt werden. Unter dieser Rezeichnung birgt sich
zweierlei: einmal eine allgemeine Abschwächung der Affektmöglichkeiten',
sodann eine Affektabspaltung, die unten bei dem schizophrenen Mechanismus
mitbeschrieben werden wird. Die Demenz ist also nur die erworbene
irreparable geistige Verblödung. Wenn man in der psychiatrischen
Literatur auch vieles andere gelegentlich mit diesem Namen bezeichnet findet,
so ist sich der Psychiater meist der Unterschiede sachlicher Art wohl be-
wußt, er ist es nur nicht gewohnt, sich einer psychologisch sauberen
Terminologie sorgsam zu bedienen.
Es gibt nun ebenso wie bei der Verwirrtheit recht verschiedene Formen
der Demenz. In der Wirklichkeit sind sie selten rein, meist überwiegt die
eine oder andere Art, und die anderen Formen sind nur leicht beigemischt.
Hier sollen sie kurz theoretisch gesondert werden.
Die apperzeptive Verblödung ist nur in schweren Defektzuständen
deutlich. Die Aufnahme der äußeren Sinneseindrücke und die Ver-
.schmelzung mit den von innen hinzukommenden Elementen (Wundts Assi-
milation), auch die Aufnahme der sprachlichen Laute und ihre Ver-
knüpfung mit den entsprechenden Symbolwerten bleibt relativ lange erhalten.
Man kann z. R. bei senil Dementen häufig beobachten, daß sie die Um-
gebung noch im groben recht gut auffassen, und daß sie auch sprachlich
perzeptiv und produktiv kaum auffallen. Sie benehmen sich etwa bei
einem Resuche korrekt uud erweisen sich noch im Resitze der Umgangsformen
und einer gewandten Sprache. Erst bei genauerem Zusehen zeigt sich, daß
gar keine Spontaneität, keine Einfälle, keine determinierenden Tendenzen usw .
mehr vorhanden sind. Die experimentelle Psychologie hat sich dieser
Probleme noch nicht bemächtigt: es bedarf noch genauerer Untersuchungen,
ob sich gerade nach diesem Gesichtspunkt der Apperzeptionsstörung einzelne
Formen der Demenz unterscheiden lassen. Rei fortgeschritteneren Fällen
dürfte freilich eine solche Untersuchung unmöglich sein, da dann schon
allein die Unterwerfung der Persönlichkeit unter ein Experiment nicht mehr
möglich ist.
Die gedanklich strukturelle Demenz ist viel häufiger. Sie be-
ginnt vielleicht mit leichten Verwirrtheitshandlungen, für die oben Reispiele
mitgeteilt wurden. Sie sind das erste Symptom des geistigen Verfalls.
^ Darüber siehe schon oben S. 2 4
7 Kafka, Vergleicbende Psychologie HI.
98 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Allmählich nimmt die geistige Verödung zu. Genauere Untersuchungen
ergeben zwar, daß die einzelnen Inhalte noch sehr lange dem Bewußtsein
an sich zur Verfügung stehen, aber dieses macht von ihnen nicht mehr
Gebrauch. Es verlangt ihrer gleichsam nicht mehr, es bezieht sich nicht
mehr auf sie. Der Kranke wird unfähig, die Gegenstände miteinander in
zusammenfassenden Akten zu kombinieren. Wenn ich den Ausdruck
„unfähig" gebrauche, so steckt darin ein Doppeltes: einmal die Fähigkeit
zur Ausübung eines formalen Vermögens, sodann die Spontaneität dieser
Ausübung. Das letztere erlischt meist zuerst; die rein formalen Fähigkeiten
der Intelligenz folgen im Untergang erst später.
Man macht sich dies am besten klar, wenn man an den Aufbau der eigenen Geistes-
funklionon in der Kindheit zurückdenkt. Man lernte damals z. B. schnell die Hilfsverse
der lateinischen Grammatik: als männlich sind auf s, davor ein Konsonant, die Wörter
fons und mons nebst pons und dens bekannt. Man hatte diese Verse auch nicht etwa
papageienhaft auswendig gelernt, sondern man hatte sie durchaus ,, verstanden". Aber
wetin nun irgendwo pons vorkam, so erfaßte man nicht, daß man nun seinen Vers
anwenden mußte.
Diese Anwendung irgendeiner Kategorialfunktion erlischt zuerst, die
Akte höherer Ordnung werden nicht mehr betätigt, es kommt zu jenem
Schwächezustand, den man gerne als Urteilsschwäche bezeichnet. Dieser
Ausdruck ist nur glücklich, wenn er im engeren Sinne gefaßt wird. Auf
der Schwäche muß hier der Ton liegen, auf dem Unvermögen zu kom-
plizierten Intentionen. Wenn sich ein Kranker indessen auf Grund irgend-
welcher Wahnideen absonderlich benimmt, so darf man dies keineswegs
als einer Urteilsschwäche entspringend bezeichnen. Hier ist ein neues
— später zu erörterndes — Moment hinzugetreten. — xVllmählich leiden dann
bei fortschreitender Verblödung auch die rein formalen Denkfähigkeiten Not,
und schließlich kommt es zu völligem geistigen Zerfall, zu geistigem
Siechtum.
Meist ist mit dieser Störung der gedanklichen Struktur auch eine m ne-
stische Verblödung verbunden. Das Gedächtnis erlischt^. Es ist
klar, daß ein komplizierter Gedankengang nicht mehr möglich ist,
wenn die im Beginn dieses Gedankengangs erarbeiteten Erkenntnisse dann
vergessen worden sind, sobald man sich seinem Ende nähert. Vielleicht
ist auch das Festhalten irgendeines unanschaulichen Wissens, einer Bewußt-
heit, einer determinierenden Tendenz (Aufgabe) nur eine mnestische Funktion;
hierüber ist noch nichts Sicheres auszumachen. Jedenfalls ist ein gewisses
Maß* an gut arbeitendem Gedächtnis erforderlich, wenn die Intelligenz
einwandfrei fungieren soll. Jedermann weiß, daß die Abnahme der geistigen
Tätigkeiten im Alter zuerst auf einer Gedächtnisabnahme zu beruhen scheint.
Freilich ist dieses erste Anzeichen der senilen Involution im wesentlichen
subjektiv: wenn man objektiv bei einer wohlbekannten Persönlichkeit die
ersten Anzeichen des Alterns festzustellen bemüht ist, so findet man anfangs
nicht so sehr das Verschwinden der Inhalte, besonders der Namen 3, als
1 Oben war schon vom Verlorengehen der Inhalte die Rede. Siehe S. i4-
* Es kommen Gedächtnishöchstleistungen neben Intelligenztiefstand und auch In-
telligenzhöchstleistungen bei nur mäßigem Gedächtnis vor. Ja, manche glauben, daß
Intelligenz höchsten Grades sich mit einem abnorm guten Gedächtnis , .nicht verträgt".
3 Erst der Eigennamen usw., wie S. i5 mitgeteilt wurde.
VERBINDUNG 99
das Krlöschen feinerer seelischer Kegungen: jener Intentionen, die man als
Taklgefülil zu bezeichnen gewohnt ist, der Sorgsamkeit in Haltung und
gesellsclialtlichen Formen usw. Auch hier mulS man also wie bei der
vorigen lH>rm der Demenz unterscheiden: die Fähigkeit zur Frinnerung und
die S[)<>ntaneilät zur Ausübung dieser Fähigkeit. I"]s ist experimentell noch
nicht sicher erwiesen worden, aber sehr wahrscheinlich, daß bei der mne-
stischen \ erblödung die Sprachakt(; zuerst Not leiden, d. h. jene Inten-
tionen, deren Materie die Bewegiuigsentwürfe des Sprechens sind. Diese
Akte werden allmählich erschwert, sie können ihren Gegenstiuid gleichsam
nicht mehr finden, nicht mehr realisieren, während ihre Richtung noch
vollkommen normal ist.
Eüi senil Werdender hat das Aussehen jenes Tiroler Dorfes auf der Malser Haide
optisch noch genau vor sich, er würde auf der Karte und in Wirklichkeit den Weg «lorliiin
sogleich finden, aber der Name stellt sich motorisch nicht mehr ein, wenngleich er
akustisch noch „gleichsam im Ohre liegt".
Die drei Formen der Demenz lassen sich herausarbeiten, wenn man die
Fülle der tatsächlich beobachteten Defektzustände analysiert. Die Natur liefert
sie, wie erwähnt, selten rein, meist vermischen sie sich im einzelnen Verlauf der
Verblödung. Am reinsten zeigt sich die mnestische Verblödung im Alters-
schwachsinn, ziemlich rein kommt die gedanklich strukturelle Verblödung
bei der progressiven Paralyse vor; man findet endlich eine besondere Form
der apperzeptiven Verblödung bei der genuinen Epilepsie und dem trau-
matischen Schwachsinn. Ganz kurz seien diese drei Typen schematisch an-
gedeutet:
Der .Vltei ^schwachsinnige macht anfangs oft einen Zustand der Nörgligkeit und
Unzufriedenheit durch; er wird eigensinnig, hält starr an alten Gewohnheiten fest und
wehrt sich gegen jede Veränderung. Er weiß nicht mehr, wohin er seine Sachen verlegt
hat, und so kommt er leicht auf den Gedanken, betrogen, bestohlen zu werden. All-
mählich verschwindet auch diese dysphorische Einstellung, hinter der oft noch eine
gewisse Klarheit über seine abnehmenden Geisteskräfte steht. Seine Gedanken leben ganz
in früher Vergangenlieit; er lernt und erlebt nichts mehr dazu; er glaubt nl\e überhaupt
möglichen Erfahrungen schon gemacht zu haben. Er hat keine Interessen mehr außer
denen für sfjinen äußeren Wohlstand, für Essen vmd Trinken und Körpergesundheit.
Er hat nichts mehr mitzuteilen, seine Reden werden immer leerer und bewegen sich
schließlich in alteingeübten Grußformen, Sprichwörtern, Phrasen und Redensarten;
die Maschine läuft leer.
Der Paralytiker wird mitten im besten Alter konfus, er begeht zweckwidrige
Handlungen, führt verwirrte Reden, verwechselt die Begriffe. Er handelt ganz gegen
seine sonstigen Gewohnheiten, man erkennt die Züge seines Charakters nicht mehr
wieder, seine Persönlichkeit ist zerstört. Er ist den einfachsten Fragen nicht gewachsen,
und dann löst er plötzlich eine weit schwierigere Aufgabe völlig korrekt. Man kann
ihm keinen Augenblick trauen, niemals irgendein Verhalten voraus berechnen. Es
fehlt jede Haltung, im einen Augenblick ist er schluchzend sentimental, im nächsten
Augenblick gewaltsam roh. Ein kleines wertloses Geschenk versetzt ihn in Entzücken,
die Erinnerung an seine vor ;',o Jahren verstorbene Schwester erschüttert ihn plötzlich lief.
Der Epileptiker faßt außerordentlich schwer auf. Er hört höflich und aufmerksam
dem Sprechenden zu und weiß doch nicht im mindesten, worauf es ankommt. Er
vermag Haupt- und Nebensachen nicht zu unterscheiden. Einzelnes hat er sehr wohl
aufgefangen, dieses haftet auch fest, — aber das Wichtigste entging ihm. Sein ge-
steigertes Selbstgefühl hindert ihn an der Erkennung seiner Insuffizienz. Er braucht
zu jeder Erzählung ungewöhnlich lange Zeit. Mit umständlichen, geschraubten Wendungen
verziert er seine Rede. Er liebt und erfindet Höflichkeitsformen und tönende Phrasen.
Zur Darlegung des einfachsten Sachverhaltes holt er unendlich weit aus. Seine
100 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES AB>ORM£N^
Uriiatkndliclikeit wird vielleicht seine Sprache merkwürdig verschroben, zuweilen fast
verwirrt gestalten, doch wird er kaum zu irgendwelchen verwirrten Handlungen — natür-
lich abgesehen von seinen Ausnahmezuständen — fähig sein.
In sehr fortgeschrittenen Verblödungen verwischen sich meist wieder alle
Unterschiede: man kann einer ganz zerstörten Menschlichkeit oft nicht mehr
ansehen, welcher A erlauf diesem Endzustand vorausging.
Ich muß nun nochmals an das Problem des Vergessens anknüpfen.
Ich habe oben besprochen, daß irgendein Inhalt wirklich verlorengehen
kann. Ich höre z. B., daß jemand die Jahreszahl der Ermordung des mexi-
kanischen Maximilian gegenwärtig zu haben wünscht, aber der Wunsch
bleibt umsonst; er versichert, es sicher einmal gewußt zu haben und jetzt
ebenso sicher zu sein, die Zahl nicht wieder zu finden. Ich vermute, es
liege eine gegenständliche Indisposition vor, und hypnotisiere ihn, aber auch
im Tiefschlaf stellt sich die gewünschte Zahl nicht ein. Ich tue ein übriges
und wende eine andere Methode der Erweckung von Inhalten an: Freuds
Psychoanalyse — aber auch auf diesem Wege kommt die Zahl nicht her-
aus. Nun bin ich überzeugt: der Inhalt ist wirklich verlorengegangen.
Dies ist der erste Fall des Vergessens. In einem zweiten Falle hat jemand
die feste Überzeugung, einen Namen zu wissen, ohne ihn doch gegenwärtig
zu haben (sich nicht besinnen können); er weiß ganz genau, was er
meint, aber er findet jene bestimmte Spracheinstellung nicht, die dem Namen
entspricht. Er versucht von den verschiedensten Seiten heranzukommen,
um z. B. den Namen jener sibirischen Verbrecherkolonie zu finden, in der
Dostojewski schmachtete. Aber nur dunkel liegt ihm erst Orplid auf den
Lippen; er weiß ganz genau, wie unsinnig das ist, und doch weiß er auch,
daß Orplid mit dem gesuchten Namen irgend etwas zu tun hat, sei es im
Rhythmus, sei es in einigen Buchstaben. Bei weiterem Nachdenken stellt
sich Orlik, dann Orstig und schließlich Ostrog ein. Hier — und auch
häufig beim Mechanismus des Versprechens, Verlesens, Verschreibens —
handelt es sich also um eine Entgleisung: O, r und Zvveisilbigkeit werden
von vornherein richtig getroffen, das weitere folgt erst mühsam unter starker
Anspannung. Aber gelegentlich bleibt ein Inhalt — es braucht keineswegs
immer ein Name zu sein — ganz aus. So habe ich gestern vielleicht in
einem mathematischen Gedankengang an der kritischen Stelle „weiter ge-
wußt", und heute ist dort das Tor wie verrammelt; alle Anstrengung hilft
mir nicht auf den richtigen Weg. In solchen Fällen ist also der inten-
dierte Inhalt nicht verlorengegangen, sondern der völlig korrekt gerichtete
.'Vkt findet seinen Gegenstand nicht ^. Und in manchen anderen Fällen
herrscht im Gedankenablauf ein seltsames Haftenbleiben (Perseverieren).
Es scheint, als wenn ein einzelner Inhalt selbständig geworden wäre und
sich immerzu aufdränge. Eine Melodie geht mir vielleicht durchaus nicht
aus dem Sinn, ein bestimmter Gedankengang drängt sich immer wieder
auf. Hier liegt ein Übergang — es gibt deren mehrere — zu den Zwangs-
vorstellungen, von denen noch später die Rede sein wird. So konnte
während des Krieges in Bensheim ein Herr eine heftige Fliegerangst niemals
los werden. Zwar kamen die feindlichen Flieger sehr selten, und jener
1 über die Erweckbarkeit der frühesten Kindheitserinnerungen vgl. Henri (ii4)-
CNBESINNLICHKEIT IUI
Psychastheuikpr wulSlc auch ganz genau, dali gerade seine Gegend sehr
wenig gefährdet war, er wulite natürhch auch, dali an regnerischen Tagen
an eine (Jefahr gar nicht zu denken war - trotzdem Hefi ihn auch an
diesen Tagen der (Jedanke an die Flieger nicht los und ängstigte ihn un-
aufhörlich. Auch hier ist der Cüegenstand des intcntionalen Aktes an sich
nicht abnorm, nur der Vollzug ist in dem Simie gestört, daß die vor-
handene seelische Energie immer wieder in diesen Akt einmündet, obwohl
eine lebhafte Tendenz besteht, ihn nicht zu vollziehen. Es zeigt sich also
•^chon an diesen wenigen Beispielen, daß die Persönlichkeit über ihr Material
nicht immer frei verfügt, daß sich ihr gelegentlich Inhalte entziehen, und
daß andererseits Inhalte zuweilen eine merkwürdige Selbständigkeit ge-
winnen. Diese Beispiele werden jedem Leser ohne weiteres einfühlbar er-
scheinen, da er Ähnhches aus seinem eigenen Leben leicht wird beibringen
können. .\ber dieser Tatbestand kann nun normale Grenzen weit über-
greifen. Es geschieht, daß nicht nur einzelne Inhalte der „Macht" der
Persönlichkeit trotzen, sondern daß ganze Gebiete als Gegenstände seiner
Akte wegfallen, obgleich seine Intentionen darauf gerichtet sind. Der Hy-
steriker hat zuweilen bestimmte Amnesien (Unbesinnlichkeiten), die sich
von den oben behandelten durchaus unterscheiden. Dort waren bestimmte
Zeitabschnitte scharf mit ihrem gesamten Inhalt aus dem Gedächtnis getilgt
und ließen sich durch keine Kunstgriffe wieder vergegenständlichen —
hier sind Erlebniskomplexe der Erinnerung entfallen, die nicht zeitlich sinn-
los ausgeschnitten, sondern sinnvoll beziehungsmäßig verknüpft sind. Hier
ist die Betrachtung wieder von einer ganz anderen Seite her bei jenem
Phänomen angelangt, das oben als alternierendes Bewußtsein be-
zeichnet wurde. Vielleicht eine Reise, ein Liebesabenteuer, ein Unglück,
alles, was mit einer bestimmten Person zusammenhängt usw., ist aus dem
Gedächtnis verschwunden. Gelegentlich kann ein solches Erlebnis zufällig
auch zugleich eine zeitliche Abgrenzung haben, wie oben bei dem Beispiel
des aus Australien unwissentlich Geflüchteten — doch ist dieses Moment
dabei unwesentlich, es kommt nur auf die innerliche Aufeinanderbezogenheit
dieses Erlebnisses als eines Erlebnisses an. So sehr der Hysteriker sich
anstrengt, er kann sich auf diesen Komplex nicht besinnen. Aber was
ihm unter „normalen" Umständen nicht gelingt, glückt dem Hypnotiseur.
Unter den Kniffen des Experimentators wird die Erinnerung entweder
dauernd wiederhergestellt oder doch während des Experimentes wieder
wachgerufen'. Man pflegt in diesen Fällen von Verdrängungen, Absper-
rungen oder Ausschaltungen zu sprechen. In der Erinnerung, aber auch
in der Auffassung der augenblicklichen Umgebung geht diese Ausschaltung
gelegentlich so weit, daß fast nichts im Blickpunkt der Aufmerksamkeit übrig
bleibt. Man spricht dann von einer psychogenen Einengung des Bewußt-
seinsfeldes, z. B. wenn ein Hysteriker im Dämmerzustand von allem, was
1 Außer der Hvpnosc und Psychoanalyse dient auch das Assozialionsexperiment diesem
Nachweis. Beachtet man bei ihm nicht die assoziierten Inhalte, sondern die Assoziations-
teiten, so zeigt sich, daß jene Engramme meist verlängerte Zeiten haben, die den Komplex
anschneiden. Siehe hierüber die neueste Arbeit von Schwechten (287) und die dort
angefüllte Literatur. Auch die in der Kriminalpsychologie zu behandelnde sogenannte
Tatbestandsdiagnostik gehört hierher. Vgl. dazu übrigens schon Prichard /2/19) von i822--
102 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
ihn umgibt, nichts als den G lanz der Gegenstände apperzipiert (Pick 240
und Janet an vielen Stellen).
Die soeben gewählten Beispiele entsprachen — bildlich gesprochen —
rein gedanklichen Provinzen. Doch kann diese Ausschaltung auch körper-
liche Mechanismen betreffen. So kann z. B. die Empfindung eines Körper-
teils vollkommen ausgeschaltet sein, oder es kann die Berührungs- und
Temperaturempfindung erhalten bleiben, während nur die Schmerzempfin-
dung ganz erloschen ist. So kann in der Hypnose der Zusammenhang
zwischen Motilität und Sensibilität, zwischen Schmerzempfindlichkeit und
Gefäßkontraktionen, zwischen zwei sonst koordinierten Sinnesqualitäten,
zwischen der Motilität, Sensibilität einerseits und den Sehnenreflexen an-
dererseits usw. absichtlich gelöst werden (Sydney Alrutz 4). Auch die
normale Mischung von Empfindungs- und Vorstellungselementen, die im
gewöhnlichen Wahrnehmungsprozeß enthalten ist, kann durch psychogene
Ausschaltungen erheblich verändert werden (Schilder 279). Dies ist der
Tatbestand, der in diesem Zusammenhang betrachtet werden soll:
Bei normalen Sinnesorganen, bei normal arbeitenden Nerven
und Gehirnzentren, bei stärkster Zuwendung der Aufmerksam-
keit bleibt die Empfindung aus.
Man nennt dies eine Anästhesie, und man bezeichnet sie als psychogen ^,
weil man ihre Ursache in der Seele sucht, während man die körperlich
(peripher oder zerebral) bedingten organisch nennt.
Ein Madchen liat bei plötzlich eintretendem Hochwasser über eine breite über-
schwemmte Wiese hinweg das bis an die Knie reichende Wasser durchwaten müssen,
um sich in Sicherheit zu bringen. Seit jenem Schrecken sind beide Füße und Untere
Schenkel bis genau zur Kniescheibe — obwohl sie in keiner Weise geschädigt wurden —
schmerzunempfindlich; auch der Temperatursinn ist dort erloschen, während Tast-
empfindlichkeit, Lagesinn usw. erhalten geblieben sind. Eine genaue Untersuchung ergibt
nicht die geringste objektive Veränderung. Dies ist eine psychogene Analgesie;
durch geeignete seelische Behandlung gelingt es bald, das normale Empfindungsvermögen
%vieder herzustellen.
Der Unterschied zwischen einer organischen und seelischen Empfindungs-
taubheit ist meist in ihrer Ausbreitung gegeben: die erstere folgt genau
dem oft recht komplizierten Ausbreitungsgebiet eines Nerven oder eines seiner
Äste, während die psychogene Störung meist einen irgendwie vorstel-
lungsmäßig abgegrenzten Bezirk befällt (daher der Name ideogen).
Man findet daher strumpfförmige, handschuhförmige, ringförmige, halb-
seitige usw. psychogene Anästhesien. Alle Sinnesqualitäten können psychogen
geschädigt werden. Bei der seelisch entstandenen Taubheit (nach Explo-
sionen und dgl.) kann man häufig beobachten, daß der Erkrankte über-
raschend schnell von den Lippen anderer abzulesen lernt (Selbsttäuschung).
Bei dem seelisch Erblindeten (Feuersbrunst) fällt auf, daß er Hindernissen
geschickt ausweicht. Nicht selten wird eine — ursprünglich organische —
Störung psychogen konserviert. Bei einer leichten Verletzung kann z. B.
der Nervus ulnaris der Hand mit behoffen worden sein. Eine Empfindungs-
herabsetzung in seinem Versorgungsgebiet ist die unmittelbare organische
Folge. .\ber nach einiger Zeit hat sich die Funktion des Nerven objektiv
^ Oft auch als funktionell und unter bestimmten Umständen als hysterisch.
AUSSCHALTUNG 103
völlig wiederhergestellt, während die liypalgesie von dem Ulnarisgebiet
sogar auf die ganze Hand übergegriffen hat. INicht anders ist es mit motori-
schen Synergismen.
Z. B. klapt eiii Reiscntlor, der euicii leiclitcn Kisenbahnunfall erlitt, über die Un-
möglichkeit, seinen Unterschciike! aktiv zu beugen, sein rechtes Bein sei steif. Und
diese L.ihmung sei nicht iii dem Augenblicke eingetreten, als bei jenem Zusammenstoß
ein Handkoffer aus dem Gepäcknetz auf .seinen rechten Oberschenkel stürzte, sondern
erst dann, als er sich glücklich aus dem Wagen in Sicherheit gebracht hatte und auf
Weitcrbefürderung wartete.
Wiederum sind bei solchen psychogenen Paresen nicht jene Muskeln
gelähmt, die von einem bestimmten Nerven innerviert werden, sondern
eine gedankliche motorische Einheit ist ausgeschaltet, etwa ein ganzer
Arm oder eine Hand oder dergleichen '. Auch hier läßt sich durch Elektri-
zität oder in der Hypnose leicht der Nachweis erbringen, daß der Nerv-
muskelapparat selbst ungeschädigt ist. Man hat zum Nachweis einer psycho-
genen Bewegungs- oder Empfindungslähmung auch noch ein anderes Mittel
zur Verfügung: das Erhaltensein der Reflexe*. Die Pupille z. B. erweitert
sich stets bei der .Vnbringung irgendeines Schmerzreizes, und diese Erweite-
rung tritt nun auch dann ein, wenn der Hysteriker glaubhaft versichert,
von den Nadelstichen in seine Fingerspitzen nicht das mindeste zu spüren 3.
Zum Zustandekommen dieser sensorischen Reflexe ist das „Bewußtsein"
eben überhaupt nicht erforderlich. Dies beweisen u. a. auch die technisch
vorzüglichen Versuche von Canestrini (39), der beim Neugeborenen nachwies,
daß sich lebhafte Schall-, Licht- usw. Reize auch dann schon „einschreiben"
(Engramme), wenn von einem „Bewußtsein" überhaupt noch keine Rede
sein kann. Es ist eine Erfahrung fast jedes Menschen, daß man bei starker
Einengung der Aufmerksamkeit auf irgendeine Aufgabe (Zielen beim Scharf-
schießen) allerlei Reize nicht bemerkt: man „überhört" die Worte der Um-
stehenden usw.^. In der .Vufregung einer Gefechtshandlung ist mancher
Soldat sogar einer Verwundung nicht gewahr geworden. Hier liegt es eben nur
an diesem „Nicht-gewahr-W^erden", an der fehlenden Beachtung, daß die
Schmerzempfindung nicht in das Bewußtsein eintritt. Die herannahende
Empfindung findet gleichsam gar keine seelische Energie vor, deren sie
.sich bemächtigen könne (Aufmerksamkeitserzwingung). Aber in anderen
Fällen wende ich mich einer erwarteten Empfindung zu, ich stelle ihr
reichlich psychische Energie zur Verfügung, ich beachte sie mit äußerster
Konzentration, imd doch stellt sie sich nicht ein. Ich sehe, wie der Arzt
seine Nadel tief in meine Fingerkuppe einsticht, und doch bleibt jedes
Schmerzgefühl aus.
Die -Vusschaltungen irgendwelcher Sinnesqualitäten können auch vor-
sätzlich geübt werden : so produzieren sich auf den Messen und Märkten
nicht selten „Künstler", die sich in den Arm usw. lange Nadeln tief hinein-
1 Vgl. zu den psychogenen Lahmungen Gaspero (84) und Lewandowsky (178).
- Freilich nur mit gewissen Einschränkungen.
^ Beim organisch Analgischen bleibt dieser Reflex natürlich aus.
' Dies gilt natürlich ebenso von der allgemeinen Abschwächung der Zuwen-
dungsmöglichkeiten: Erschöpfung. Benommenheit, Bewußtlosigkeit, aber auch von der
Ekstase, siehe Rohde (268 a), \\, S. i8.
^04 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
stechen, ohne nur mit der Wimper zu zucken. An den Armnerven usw.
dieser Personen ist alles in Ordnung; ideogen haben sie ihre Schraerz-
empfindung ausgeschaltet. Ich brauche wohl kaum näher auszuführen, daß
in der gleichen Weise nicht nur Herabsetzungen (Hypästhesien, Hypal-
gesien, Paresen), nicht nur Aufhebungen (Anästhesien, Analgesien, Para-
lysen), sondern auch Cberempfindlichkeiten (Hyperästhesien, Hyperalgesien)
und übermäfiige Bewegungsbereitschaften (Hyperkinesien) erzeugt werden
können.^ Die Erwägung des letztgenannten Mechanismus leitet zum Be-
greifen einer weiteren Störung über. Der menschliche Organismus verfügt
über Einrichtungen, die die Auslösung der Reflexe abzubremsen vermögen.
Ein sensibler Reiz, etwa das Beklopfen des Unterschenkels dicht unter der
Kniescheibe, löst nicht immer die gleich starke Schleuderung des Unter-
schenkels aus. Sondern je nach der Aufmerksamkeitszuwendung fällt diese
Bewegung verschieden aus. Es gibt nun Fälle, in denen diese Reflex-
bremsung weitgehend ausgeschaltet wird (ideogen). Der große Krieg er-
zeugte viele Neurotiker, bei denen schon die leichtesten Berührungen heftige
Schleuder- und Zitterbewegungen hervorriefen, die dann über die eigent-
lichen Reflexbewegungen durchaus hinausführten und allerlei ursprünglich
willkürliche Bewegungskoordinationen mit wachriefen. Und so kam es
damals zu ganz grotesken motorischen Erscheinungen, z. B. dem sogenannten
saltatorischen Reflexkrampf, bei dem schon die Berührung des Fußbodens
hinreichte, um diesen Neurotiker wieder in die Luft zu schnellen, so daß
er solange gummib allartig auf und nieder flog, bis er erschöpft liegen blieb.
Auch hierbei haben diese Personen die Herrschaft über irgendeinen Mecha-
nismus und zwar über jenen verloren, der diese zitternden Glieder ruhig
stellt Neu tritt hier gegenüber jenen früher erwähnten Ausschaltungen noch
jenes produktive Moment hinzu, das einen chronischen Reiz setzt. Die
Erkrankten versichern, daß ihre ganze Aufmerksamkeit, ihr angespannter
Wille darauf gerichtet sei, die Störung zu unterdrücken, doch seien sie
leider dazu nicht imstande. Solche Reizerscheinungen zeigen sich natürlich
auch auf dem sensiblen Gebiete:
Ein iSjähriger, von jeher etwas kränklicher Schüler einer Unterprima \¥ird wegen
einer hartnäckigen Gesichtsakne einer Lichtbehandlung unterworfen. Obwohl man
selbstverständlich die Augen genügend geschützt hat, machen sich in der Folge Blendungs-
erscheinungen geltend, die schließlich so heftig werden, daß der Kranke behauptet, das
verdunkelte Zimmer nicht mehr verlassen zu können. Eine einmalige Hypnose beseitigt
die Störung.
Beim Bekanntwerden mit solchen Symptomen liegt dem Unerfahrenen
begreiflicherweise der Gedanke nahe, es handle sich um eine absichtliche
Täuschung der Umgebung bzw. des Arztes durch den Kranken. Natürlich
kommen solche Täuschungen vor. Aber man mache z. B. den Versuch,
sich selbst etwa eine gürtelförmige Empfindungslosigkeit zu suggerieren,
und man wird seine Unfähigkeit hierzu bald feststellen können. Besondere
„Gaben", besondere seelische Mechanismen sind zur Erzeugung solcher
ideogenen Störungen notwendig. Freilich ist es eine nicht beweisbare
Theorie, wenn man angeborene Anlagen hierzu immer voraussetzt: man
^ Vgl. dazu Lange (167).
AUSSCHALTUNG, AUTÜMATISMÜS 105
kennt auch mancherlei Situationen (lange körperliche Leiden, religiöse
Kkstasen, unglückliche Ehen, Rentenkämpfe), die die Disposition zu solchen
psychogenen Mechanismen erst schufen (hysterisierend wirkten). Hierher
gehören auch die sogenannten Stigmata d.h. die •''ähigkeit, auf |)sycho-
genem Wege an den Stellen der Wundmale (Ihristi am eigenen Körper
Flecke, d. h. Hautblutungen, Ödeme [usw. zu erzeugen. Hierüber siehe
später S. 129.
Aus den absichtlich so verschieden gewählten Beispielen ergibt sich also,
daß es mit dem Begriff der Ausschaltung allein nicht getan ist, wenn
man die Fülle der unter dem Namen psychogen zusammengefaßten Störungen
einordnen will; es kommt noch ein neues Moment hinzu, welches sich in der
Produktion von meist körperlichen Symptomen äußert. Das Gemeinsame
aller psychogenen Störungen ist, daß sie seelisch (gedanklich) erzeugt werden
und doch der seelischen Beherrschung entzogen sind. Im Seelischen liegt
also hier eine Zweiheit. Nicht die Persönlichkeit in ihrer klaren Bewußtheit
hat die Symptome erzeugt, sondern eine gleichsam untergeordnete Instanz
hat sie selbständig ins Leben gerufen. Daher verwendet man hiefür gern
den Ausdruck des Automatism us'. Auf die Frage, wie denn ein solcher
entstehe, haben sich manche Autoren die Antwort leicht gemacht. Sie be-
haupten, daß es stets verborgene oder verdrängte Wünsche wären, die
diese Automatismen schüfen.
Damit ist etwa folgendes gemeint: Ein Soldat steht an der Front. Er ist ein un-
erschrockener Mann, der die Gefahr nicht scheut. Aber er hat zu Haus eine Frau,
deren Leidenschaftlichkeit er kennt. .\us ihren Briefen sprechen Klagen über den all-
mählichen Niedergang des Geschäftes; es wäre schon ganz zusammengebrochen, wenn
sich Freunde nicht seiner und ihrer angenommen hätten. Sorgen und Eifersucht erfüllen
nun sein Gemüt und er\%ecken den Wunsch, zu Haus selbst nacii dem Rechten zu
sehen. Dieser Wunsch, vom hellen Bewußtsein pflichtmäßig unterdrückt, hat eine
eigene Macht; er emanzipiert sich gleichsam und wartet nur auf die Gelegenheit, sich
zu realisieren. Ein naher Granaten-Einschlag gibt den Anlaß: ein heftiger Schrecken hat
den im Unterstand halb Verschütteten für kurze Zeit der Sprache beraubt. Zwar findet
er sich schnell wieder, rafft sich zusammen und versucht weiter Dienst zu tun,
aber die Beine tragen ihn nicht mehr, ein heftiges Zittern befällt seine Glieder. Er
kommt ins Feld-, dann ins Kriegs- und schließlich ins Heimatlazarett, aber das Ziltem
weicht nicht von ihm: er beherrscht seine Glieder nicht mehr, der Wunscli hat
sich durchgesetzt gegen die Persönlichkeit: er kann zu Hause bleiben. Zwar erklärt
er bona fide, er wolle seine Pflicht tun, wolle meder ins Feld, wäre glücklich, das
quälende Zittern los zu sein, aber sein subliminaler Wunsch hält das Zittern fp*t.
Man kann es nicht bezweifeln, daß diese etwas populäre Theorie in
manchen Fällen recht hat. Man hat es so oft erlebt, daß man solche
Symptome durch Setzung noch heftigerer Leiden (schmerzende elektrische
Ströme, Hunger„behandlung" usw.) beseitigte, oder daß sie von selbst ver-
schwanden, wenn der betreffende Wunsch auf andere Weise erfüllt wurde
(Heimatkommando), daß die Rückführung mancher psychogenen Symptome
auf solche heimliche Wünsche wohl das Richtige trifft^. Bemüht man sich
^ SchoTi oben bei den Ichstörungen war ja unter einem anderen Gesichtspunkt von
diesen Autoinatismen die Rede.
■' Derjenige Sprachgebrauch pflegt sich immer mehr durchzusetzen, der den Ter-
minus „psychogen" jils den Oberbegriff setzt und ihm als „h y s t e r i s c li" jene
Form unterordnet, die auf Wunsch komplexen aufgebaut ist.
105 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEiV
aber, diese Theorie etwas gründlicher zu fassen, so stößt man auf große
Schwierigkeiten. Waren diese Wünsche einst als bewußte klare Akte des
Begehrens vorhanden, und wurden sie wirklich von der Persönüchkeit so
verdrängt, wie wir uns etwa einer peinlichen Erinnerung entledigen, in-
dem wir unsere Intentionen gewaltsam auf neue Gegenstände richten? Ist
es „richtig" oder, besser gesagt, theoretisch empfehlenswert, hier Persönlichkeit
und einzelne /Vkte einander gegenüberzustellen, derart, daß erstere einen
Akt verdrängt? Man kann es vorziehen, den Sachverhalt anders zu fassen:
die Persönlichkeit bestehe aus den Akten und ihrer Ordnung; was verdrängt
wird, sei nicht ein Akt, sondern die Materie eines Aktes. Aber wie kann
dann diese Materie verdrängt so weiter wirken, daß sie den Einfluß der
Persönlichkeit, d. h. des Systems der geordneten Akte, auf irgendwelche
Körpermechanismen, z. B. das Zittern, ausschaltet? — Endlich kann man
jene Schichtentheorie annehmen, nach der sich in den einzelnen Sphären
des Bewußtseins^ verschiedene — qualitativ gleiche, aber verschieden
dirigierte — Akte abspielen, die miteinander konkurrieren können. Die
psychogenen Symptome würden dann z. B. von den Akten des zweiten
Bewußtseinsystems geliefert und wären nur den objektivierenden Akten des
ersten Systems, nicht aber den fundierten des Wollens zugänglich. Endlich
aber könnte man versuchen, aus den mannigfachen Schwierigkeiten dieser
Einordnungen dadurch herauszufinden, daß man so formuliert: es gibt nicht
mehrere Systeme des Bewußtseins, sondern nur beachtete und nicht beach-
tete Akte*; die psychogenen Symptome werden durch nicht beachtete Akte
(\Vunschakte) geschaffen; sind sie einmal geschaffen, so werden die be-
treffenden körperlichen Mechanismen automatisiert, selbständig und dadurch
dem Einflüsse neuer, nun beachteter Akte entrückt.
Wie immer man diese Versuche einer Einordnung gestalten möge, sie
erscheinen mir alle als recht unbefriedigend. Und diese Unzufriedenheit
wächst, wenn man darauf achtet, daß die Erfahrung auch solche psycho-
gene Symptome liefert, bei denen bestimmt von einer Wunscherfüllung
nicht die Rede ist. Zwar greift die Schule Sigmund Freuds (79) sogleich
zu einer Hilfstheorie. Befriedige ein Symptom einen Wunsch nicht direkt,
so geschähe dies doch vielleicht symbohsch.
Wenn z. B. ein Hysteriker eine seltsame zum Schlag ausholende Gebärde wochen-
lang fixiert beibehalte, so nütze ihm diese Haltung zwar nicht direkt, aber sie ver-
trete die eigentliche Tat. Er habe zwar den Schlag gegen seinen Gegner nicht
wirklich ausführen können, aber er ziehe doch jetzt aus der fixierten Haltung dauernd
eine Menge der Lust. Eine Persönlichkeitssteigerung trete ein, indem er sich innerlich
an dem Symbol der Tapferkeit seines Benehmens erfreue. (Flucht aus der Wirklichkeit,
Befriedigung in der Phantasie.)
Aber selbst wenn man dieser Hilfstheorie in solchen Fällen noch zu-
stimmen wollte — ich selbst halte sie für recht künstlich und unbefrie-
digend — , so gibt es weitere subliminale Mechanismen, bei denen der auch
nur symbolisch erfüllte Wunsch nicht herangezogen werden kann. Schon
oben wurde in anderem Zusammenhange von Handlungen berichtet, die
^ Siehe z. B. Kohnstamm (i58).
- Beachtung im Sinne der Apperzeption vx>n Wandt-Lipp> ^ Aufmerksamkeit.
AUTO.H-VTISMEN 107
automatisch im reinen Nachahmungstrieb vorgenommen werden. Die Per-
zcption eines Gegenstandes „fordert" (Lipps) die Vomalime der zugehörigen
Handkmg. So veranlaßt mich eine Hose „automatisdi", daran zu riechen.
Hei JJetrachtung eines herabhängenden (ilockenseiles mulS ich mich vielleicht
zusammennehmen, um nicht daran zu ziehen. Die Assoziationspsychologie
half sich in solchen Fällen damit, zu sagen: das (ilockenseil ekphoriere
eben die von früher her damit schon verknüpfte Hewegungs> orstelhmg.
.\ber es geschieht tatsächlich mehr: nicht nur die Krinnerung an jene
Bewegung taucht auf — in Wirklichkeit taucht sie bewußt oft gar nicht
auf — , nicht nur ein „nicht setzender" Vkt ist auf jene Bewegungsvorstellung
gerichtet, sondern ganz gegen meine Vbsicht ziehe ich vielleicht tatsächUcli
an dem Strang, um im nächsten Augenblicke d;u-über heftig erschrocken
zu sein ^ Die Beispiele genügen wohl, um daran zu erinnern: es gibt
Automatismen — sie sind in der abnormen Psyche sehr verbreitet und
wichtig — , die phänomenologisch eine Sonderstellung haben, mögen sie
nun als Ergebnis nicht beachteter Akte aufgefafSt werden, oder mag man
sie überhaupt aufierhalb des Bereiches der Akte stellen.
Bisher war nur davon die Rede, daß die Durchführung, der Vollzug
eines .\ktes abnorm sein könne, während seine Richtung nebst seinem
Gegenstande nicht als abnorm zu bezeichnen sei. Jetzt ist der umgekehrte
Fall zu betrachten.
2. Richtung abnorm, Durchführung normal
Schon bei der Besprechung der Denkslörungen ergab sich, daß auch
mancher Inhalt als abnorm angesehen werden müsse, nicht an sich, son-
dern hinsichtlich der Richtung des betreffenden Aktes (der determinieren-
den Tendenz der Aufgabe.) Wenn sich z. B. in eine Erörterung des zweiten
punischen Krieges plötzlich ein Exkurs über den rationellsten Anbau von
Stiefmütterchen einschiebt, so ist diese Gedankenverbindung und in
diesem Zusammenhange also der zweite Inhalt abnorm. Aber er ist es
eicht in der Tendenz. Denn der Erzählende ist ja durchaus auf den zweiten
punischen Krieg gerichtet und ist selbst sehr unwillig über jene quer-
kommende und von ihm keineswegs intendierte Störung. Oben wurde noch
ein anderes Beispiel gebracht, das dem soeben genannten aufs erste sehr
ähnlich zu sein scheint: die Hingabe an eine Zwangsvorstellung. Wird
nicht auch der Zwangskranke in seiner irgendwie gerichteten Intention nur
durch die gerade querkommende Zwangsvorstellung gestört? Heißt denn
die Vorstellung nicht gerade deshalb Zwangsvorstellung, weil sie sich dem
Psychastheniker aufzwingt?
Wenn jemand einen Brief geschrieben und in den Umschlag gesteckt
hat, und er erledigt darauf einen zweiten, so taucht ihm leicht der Gedanke
auf, er könne beide Umschläge verwechselt haben. Er wird sie vielleicht
1 Hierher gehört ein Teil der sogenannten Zwangsimpulse: der plötzliche
Blick in einen Abgrund erzeugt blitzschnell den Impuls, hinunterzuspringen. Ein
blankes Messer, das ich liegen sehe, fordert mich sofort auf, jemanden damit zu
stechen usw. Über das Für und Wider. Ja und Nein, das damit verknüpft ist, siehe
im folgenden unter Zwangsvorstellungen.
108 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABISORMEN
nochmals öffnen, um sich zu überzeugen, ob jeder Empfänger auch wirk-
lich den für ihn bestimmten Brief erhält. Und wenn er mit Aufmerksam-
keit die Angelegenheit geprüft und vielleicht neue Umschläge geschrieben
hat, so ist für ihn die Sache erledigt, und die Briefe kommen in den
Briefkasten. Ein leichter Ärger über die doppelte Mühe und die verschwen-
deten Umschläge stärken vielleicht den Vorsatz, das nächste Mal besser
aufzupassen. Für den Psychastheniker ist jedoch die Angelegenheit nun
erst recht verfahren. Er ist der sicheren Überzeugung, gerade erst bei der Prü-
fung die Briefe verwechselt zu haben. Eine große Unsicherheit befällt ihn:
er kann sich zwischen der Vorstellung: „Umschläge vertauscht" und „Um-
schläge nicht vertauscht" nicht entscheiden. Die Sachlage bleibt dahin-
gestellt, ein ewiges Erwägen und Überlegen setzt ein, das nie zu einem
Ergebnis kommt, da gar keine Momente mehr vorhanden sind, an die sich
der Urttiilsakt gleichsam anklammern könnte. Die Qualität des Aktes ist
alleriert. Unaufhörhch intendiert der Zweifelnde eine Entscheidung, aber
diese erwägende und fragende Intention findet niemals ihre Vollendung,
es bleibt ein ewiges Erwägungserlebnis ohne Erfüllung (Husserl 128 II, S. 448).
Die Ijihalte solcher Zwangserlebnisse sind sehr vielgestaltig. Es gibt wahrhafte Grübel-
süchlige (les scrupuleux), die niemals die Addition einer Zahlenreihe beenden können,
weil sie meinen, sie hätten sich doch verrechnet. Andere sehen hundertmal nach,
ob sie wirklich die Lampe ausgelöscht haben, ob sicher niemand unter dem Bett
steckt, ob der Schlüssel im Schloß tatsächlich umgedreht ist. Sie könnten ihn ja unab-
sichtlich im letzten Moment der Berührung wieder zurückgedreht haben. Jemand liest
von einer Feuersbrunst in der Stadt: kann er nicht die Ursache gewesen sein, ging
e r nicht gestern dort vorbei, hatte e r nicht eine brennende Zigarre, ist nicht ein Funke
4avon \ielleicht in den Keller gefallen usw. Zuweilen erstreckt sich diese Zweifelsucht
auf ganz allgemeine abstrakte Fragen: hat die katholische oder die evangelische Lehre
größere Vorzüge? Bei dieser ist dies, bei jener jenes höher zu werten. Wenn ich
nun dies betrachte, so meine ich, der Katholizismus verdiene den Preis, wenn ich
aber jenes usw.
Die Unsinnigkeit mancher Gegenstände ist den Zwangskranken oft voll-
kommen bewußt. Mit den Zwangsgedanken werden vielfach auch die so-
genannten Phobien abgehandelt Es handelt sich dabei um den Tat-
bestand, daß jemand vor einer gleichgültigen Sache die schrecklichste
unbezwinghche Angst hat, etwa vor jeder Kuh, vor jedem Gewitter, vor
jeder Termin Setzung, vor jeder Überschreitung eines freien Platzes (Agora-
phobie, Platzangst) usw. Mit dem soeben geschilderten Phänomen der Aweifel-
sucht haben manche dieser Phobien auch die „ewige Erwägung" gemein.
Die Kranken haben die klare Einsicht, daß dies alles Unsinn sei, und daß
sie von diesem Unsinn frei kommen möchten und doch nicht könnten.
Aber es gibt manche Symptome, die reichhaltiger sind, deren Beschreibung
sich nicht in dem ewigen Erwägungserlebnis erschöpft.
Manche seltsamen Erlebnisse stehen mit den Zwangsvorstellungen (im engeren Sinne)
nur noch in losem Zusammenhang. Z. B. wenn ein Herr, der in eifrigem Gespräche
mit einem Freunde eine Straße e-'ulang geht, plötzlich einen großen Seitensprung macht:
,,zwangs"mäßig war plötzlich die Vorstellung aufgetaucht, eine von hinten heran-
gekommene Straßenbahn drohe beide zu überfahren — , obwohl auf der Straße gar
keine Trambahnschionen, noch sonst ein Fuhrwerk zu sehen war. Oder wenn jemand
einen Spaziergang macht und sich urplötzlich tief bückt, unter dem Zwange, es sei
ein Seil über den Weg gespannt — , obwohl nicht der geringste Anlaß zu einer
solchen Annahme vorlag.
ZWANGSVOKGaNGE 1()9
Die Schule S. Freuds^ hat sich um die Aufklärung der ZwTjngssyinptome
viele Verdioiistp »»rworben. Freilirli beantwortet seine Psychoanalyse nur die
Frage nach dem NVeg: wie kam diese Person gerade zu diesem Zwangs-
symptom; sie steht {vfie auch die übrige Forschung) noch jener Frage ratlos
gegenüber: warum wurde dieser Weg beschritten, warum kam diese
Person überhaupt zu einem Zwangssymptom. Das ganze Problem der
Zwangsphänomene verdient an dieser Stelle fehlt es leider am Raum eine
ganz neue Darstellung vom Gesichtspunkt der Vktpsychologie aus. Das
Beste, was bisher über das Problem beigebracht wurde, stammt von
M. Friedmann (80 und 81a-). Dieser P^orscher betont selbst den Zusammen-
hang der Zwangsideen mit den sogenannten überwertigen Ideen, wobei
er diesen Begriff etwas eng faßt. Diese Ideen erlangen im Rahmen des
psychischen Gesamtzusammenhangs eine übermäßige Bedeutung. Auch sie
drängen sich auf, auch ihrer vermag man sich nicht zu entledigen, man
unterliegt ihnen. Aber man erkennt sie immerhin als seine eigenen Ideen
an, es ist keinerlei Ichstörung mit ihnen verbunden.
Ein Psychastheniker leidet aus irgend welchen Ursachen an Rücken-
schmerzen. Er glaubt zu wissen, daß sich in der Gegend dieser Schmerzen
die Nieren befinden, und so setzt sich in ihm die Überzeugung fest, er
leide an einer Nierenerkrankung. Er sucht den Arzt auf und wird von
diesem belehrt, daß sein Urin von allen chemischen und Formbestandteileii,
die eine Nierenentzündung kennzeichneten, vollkommen frei sei, er sei sicher
nierengesund. Der Psychastheniker beruhigt sich hierbei aber keineswegs:
der Arzt könne sich doch getäuscht haben, zufällig könne an diesem Tage
kein Befund vorhanden gewesen sein. Und so geht der Ängstliche zum
nächsten Arzt und beruhigt sich auch bei dessen ablehnendem Bescheid nicht.
Er ist keineswegs glücklich, an dieser ernsten Krankheit nicht zu leiden,
sondern er wandert von Spezialarzt zu Spezialarzt, trägt seinen Urin in immer
neue Apotheken und so fort. Nur diese eine überwertig gewordene Idee
beherrscht ihn: du bist nierenkrank. Aber er findet sich mit diesem an-
geblichen Tatbestande nicht etwa schließlich so ab, wie sich jemand mit
der Eröffnung des Arztes abfindet: er habe eine Lungentuberkulose. Er
richtet sein Leben nicht etwa so ein, daß er die ihm nun noch angeblich
verbleibenden Lebensjahre möglichst verständig ausfüllt, sondern er lebt
dieser hypochondrischen Idee selbst. Alle anderen geistigen Inhalte treten
zurück, alle seine übrigen Interessen erlöschen, selbst seine soziale Einstellung
(Beruf, Familie) leidet Not. Er kann diesen einen Inhalt nicht abschließen,
nicht erledigen; in ewiger Unruhe und Spannung treibt er sich umher. Es
fehlt das Erfüllungserlebnis auf die Frage: „bist du nierenkrank" genau so
wie auf die Gegenfrage: „bist du es nicht". Man hat von immobilen Ideen
1 79 und die drei Zeitschriften der psychoanalytischen Forschung: a) Image
(Kulturwiüsenschaften), b) Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse, c) Zentral-
l>latt für Psychoanalyse (früher). Auch Janets Gedanken zum Zwangsproblem sind
wichtig (187, 1873 und iSa).
- Siehe auch das neue Sammelreferat vx>n W. Stöcker (007). Friedmann vermag
freilich das Problem nicht recht befriedigend der gesamten Psychologie einzuordnen
Seine Begriffe fügen sich nicht harmonisch in die sonstige Begriffswelt der Normal -
:OSYchologie ein.
HO GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
und von einem gestauten Denkablauf gesprochen. Wie immer man sich
den Sachverhalt auch zurecht legen möge: in der Intention des .\ktes selbst
liegt das Abnorme.
Man bedient sich des Ausdrucks überwertige Idee noch mit erweitertem
Umfang. Bei dem soeben erörterten Beispiel des Hypochonders waren zwei
Umstände wesentlich: das Nicht-abschließen-Können eines Zwiespaltes und
das völlige Ausgefülltsein mit diesem Erlebnis. Aber man bedient sich jenes
Terminus auch dann, wenn nur das letztere Moment vorliegt, wenn jemand
von einer Idee zwar nicht loskommt, aber von ihr auch gar nicht loszu-
kommen wünscht. Man bezeichnet mit überwertiger Idee auch die einfache
Tatsache einer ungemeinen Einseitigkeit, Verranntheit auf einen Gesichts-
punkt. So gibt es Menschen, die sich etwa der Theorie des Yegetarianismus
ergeben und vielleicht noch auf jene Behauptung schwören, die Gesundheit
verlange ein minutenlanges Kauen jeden Bissens. Sie treiben eine übermäßige
Propaganda für diese Ideen, vernachlässigen alle Berufsinteressen und alle
bisherigen Beschäftigungen, halten die augenblickliche enge Einstellung für
die einzig wichtige und versuchen aus diesem kümmerlichen Gesichtspunkt
schließlich eine „Weltanschauung" zu machen. Trifft man diese Persönlich-
keiten nach einigen Jahren wieder, so ist von Vegetariertum oder von berufs-
mäßigem Kauen keine Rede mehr: jetzt ist es vielleicht der Kommunismus,
oder das Siedeln, was sie völlig beherrscht. In ganz gleicher Weise stürzen
sie sich jetzt in diesen, aber nur in diesen Gedankenkreis, alles andere
ist völlig versunken.
Wenngleich es vielleicht aufs erste scheint, daß das Beispiel des Hypo-
chonders mit dem des kommunistischen Vegetariers nicht viel zu tun habe,
so ist es dennoch ein psychologisches Moment, welches beiden verschiedenen
Phänomenen mit gewissem Recht den gleichen Namen der überwertigen
Idee verleiht; das Nicht-fertig-werden-Können, das Ganz-erfüUt-Sein im Sinne
der Denkstauung. Im zweiten Falle ist es sicher nicht die Bewußtseinslage
des Zweifeins, Schwankens, Erwägens, welche dauert, aber doch das Sich-
ewig-im-Kreise-Drehen um diesen einen Punkt, dessen spezielle Inhaltlichkeit
an sich ganz gleichgültig ist. Auch hier ist es also eine Aktqualität, welche
Schaden gelitten hat^.
Völlig andersartig ist eine andere Abnormität des Seelenlebens, bei der
ebenfalls die Richtung der Akte beeinträchtigt ist. Wenn jemand in einer
Gartenanlage auf einer Bank sitzt und das Treiben der Vorübergehenden
beobachtet, so werden mancherlei wechselnde Gegenstände seine Aufmerk-
samkeit erregen. Sein Bewußtsein wird bald von einem Buben erfüllt sein,
der einen Reifen treibt, bald wird es sich einem Mädchen zuwenden, das
einen Kinderwagen schiebt usw. Er wird an diesen Gegenständen mancherlei
„meinen". Bald interessiert ihn an dem Kindermädchen eine freundliche
Tracht, bald an dem Buben ein besonderer Ausdruck usw. Er beurteilt
vielleicht die Tracht als schön, den Ausdruck als häßlich usw. Allerlei andere
^ Es ist ja wohl auch kein Zufall, daß die Erfalirung das häufige Zusammen-
treffen beider Phänomene in einer Person ergibt: derjenige, der immer nur in irgend-
eine Einseitigkeit verbohrt ist, leidet besonders oft an Phobien oder anderen Zwangs-
vorstellungen. Allerdings gilt dies nicht umgekehrt.
IBEIUVKKTIGE IDEE. WAHN m
Gedankongänpc werden sich anschließen, vielleicht eine leichte freudebetonte
Erwüpung, welch schöne Anlagen die Sladl hier lür Spaziergänger geschaffen
habe, wie gesund diese Einriihlung für die Bevölkerung sei usw. kein
normaler Mensch aber wird auf d<'n (ledanken kommen, dali hinter diesen
harmlosen Spaziergängern noch etwas „stecke", daß sich hinter diesen
Dingen noch etwas verberge, dali ein verborgener Sinn in dem kindlichen
Spiel läge, aber ein Sinn eigener Art. Der I'aranoiker nimmt alle diese
Objekte von seiner Bank aus genau so wahr wie der Normale. Aber er
bemerkt mehr. Für ihn kommt noch etwas hinzu, nämlich die primäre
Bewulilheil, dali jene Wirklichkeit Schein sei, und daß erst die Bedeutung
der Gegenstände das Wichtige darstelle. Einem anderen mag das Kinder-
mädchen und der Bube gleichgültig vorkommen, e r weiß, daß dies alles
nur eine Art Theater ist, eine Aufführung, seinetwegen veranstidtet. Vielleicht
brauchen die handelnden Personen dieser Aufführung nicht in jedem
einzelnen Zug irgendwelche Umstände zu verraten, die direkt für ihn wichtig
sind '. Vielleicht „bedeuten" sie etwas Allgemeines, z. B.„Ruhe vor dem Sturm",
aber dann spielen sie sich immerhin seinetwegen und vor ihm ab, damit
er von dem Kommenden (vielleicht dem Weltuntergangserlebnis) rechtzeitig
Kenntnis erhalte. Meist aber sind die „Anspielungen" der Aufienwelt auf ihn
äußerst direkt. Der Gesichtsausdruck des Buben besagte deutlich: „Du bist
längst erkannt, tu nur nicht so", die Tracht des Mädchens in ihren bunten
Farben sollte ihn reizen; mit und in diesen Farben wollte sie sich über
ihn lustig machen. Zwar gebe er zu, es waren Farben wie sonst auch, es
war eine Anlageszene, wie sie häufig zu beobachten sei, zwar vermag er
keine einzelnen absonderlichen Umstände anzuführen, die ihn auf jene
Gedanken gebracht hätten, aber er kann eben mehr als andere, er „weiß
schon Bescheid", er läßt sich kein X für ein U machen.
Ein solches primär paranoisches Erlebnis ist für den normalen Menschen
vollkommen uneinfühlbar. Man darf mit ihm nicht Einstellungen originär
argwöhnischer Menschen verwechseln, die auch schnell hinter allem etwas
„wittern". Ein solch konstitutionell Mißtrauischer ^ der die Generalidee hat,
er würde immer umgangen, benachteiligt, schlecht behandelt usw., kann
zwar auch leicht auf den Gedanken kommen, man schiebe ihm immer
gerade jene .\ktenstücke zur Bearbeitung zu, die die schwierigsten Fälle ent-
hielten; er kann sich zwar auch einbilden, daß der Gruß seines Vorgesetzten
gerade ihm gegenüber besonders leger, beinahe mißachtend sei, aber er wird
niemals den Gedanken fassen, daß das Fällen eines Baumes im Nachbar-
garten bedeuten solle, „auch deine Stunde hat geschlagen". Man stelle sich
zwei Fälle gegenüber, so wird man schneller als in langen Erörterungen
erfassen, auf welchen Unterschied es ankommt; die angeboren Mißtrauische,
die einen neuen Hut auf hat und glaubt, alle Leute sähen sie an — und
der schizophrene Paranoiker, der schildert: „Und dann standen in dem
Cafe drei Marmortische" (ja, und ?), „und da wußte ich gleich, daß das
Reich des Antichrists angebrochen sei." Man kann sich auch bei gebildeten
1 Die Menschen erscheinen vsie Marionetten, die auf Befehl irgendeiner geheimen
Macht alles ausführen müssen.
2 Vgl. dazu Kretschmer (i63) und die dort angeführte Literatur.
JJ2 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORM£i\
Paranoikern stundenlang, ja in monatelang fortgesetzten Unterredungen ver-
geblich bemühen, herauszubekommen, was es denn speziell an den äußeren
Erlebnissen sei, was das Bedeutungserlebnis begründe. Man hört, es waren
Marmortische wie in jedem Cafe, der Wahnkranke findet auch in der
Dreizahl selbst nichts Abnormes, sie bildeten auch im Grundriß nicht etwa
eine besondere Figur - alle derartigen Fragen werden verneint — , und
dennoch: der Kranke weiß, daß und so weiter. Er vermag nicht anzu-
geben, wodurch, aber er ist seiner Sache unerschütterlich sicher (wahnhafte
Bewußtheit verschiedenster Bezogenheiten) ^. Er kann dabei irgendwelche
anschaulichen Gegenstände oder ihre Beziehungen „konstatieren" (z. B. daß
jemand hinter ihm steht, den er weder sieht noch hört, noch sonst emp-
findet) oder unanschaulicher (gedanklicher) Bewußtheiten inne sein (z. B.
Deutschlands Kultur werde mit denselben Symptomen zugrunde gehen
wie die römische Kultur). Hierher gehören jene Wahninhalte, die in der
religionspsychologischen Literatur unter dem wenig glücklichen Namen der
„intellektuellen Visionen" gehen (Österreich 227). Untersucht man nun
solche VVahnerlebnisse, so muß man vorsichtig analysierend verfahren.
Es ist nämlich relativ selten, daß eine solche Wahnbewußtheit ganz allein
vorkommt. Meist wird sie durchkreuzt von allen möglichen anderen ab-
normen Bestandteilen des Seelenlebens, z. B. von Sinnestäuschungen, patho-
logischen Affekten u. dgl.-. Und beide eben genannten Komplikationen können
ebenfalls wahnbildend wirken. Es ist früher in der psychiatrischen
Literatur viel darüber gestritten worden, ob die Wahnideen den Affekt
oder der Affekt die Wahnideen erzeugen. Beides und noch dazu mancherlei
anderes ist richtig. Manche primär (d. h. aus psychologisch völlig unbe-
kannten Motiven) entstandenen Wahnideen führen einen starken Affekt,
z. B. Angst, herbei, andere nicht Manche intensiven Affekte erzeugen Wahn-
ideen (z. B. die, verfolgt zu werden), andere nicht Hier ist jeder Fall anders.
Es ist deshalb von vornherein wenig befriedigend, wenn sich manche
Forscher bemühen, e i n Moment als sogenannte Ursache der Wahnbildung
aufzuzeigen. So hört man etwa, der Affekt solle eine „Vorstellung*' derart
an „Kraft" verstärken können, daß ein falsches, nämlich ein wahnhaftes
Realitätsurteil entstehe. Aber es gibt eben stärkste .Affekte ohne Wahn-
ideen und deutliche Wahnideen ohne Affekte. Daran können alle Theorien
nichts ändern ". Ich begreife z. B. schwer, >vie sich ein so unterrichteter
Forscher wie Pick mit der Meinung zufrieden geben kann, der Affekt
schaffe die Ichbeziehung, d. h. den Beziehungswahn (244). Zum mindesten
taucht doch sofort die weitere, die Hauptfrage auf: welcher Affekt und
unter welchen Umständen ? Und wenn Berze (22) eigene frühere Arbeiten
zusammenfaßt in der Behauptung, die Ursache des Beziehungswahnes liege
in einer Störung des W^ahrnehmungserlebnisses, so knüpft doch
der Nachdenkende sofort die weitere Frage an: in welcher Störung des
Wahrnehmungserlebnisses denn? Und warum denn gerade des Wahr-
1 Vgl. die kleine Studie von Jaspers (i4i), besonders die dort angeführten Proben
aus Strindbergs Inferno, — und Dromard (5o a).
2 Siehe z. B. Schreber (284) und Serko (294).
•'' Daran ändert auch die Hilfstheorie der ..verdrängten" Affekte nichts.
WAHN n3
n ehnni ugsericbiiisses, da es doch viele [)riniärc VValinideen <,äbt, die mit
dem \N aliniehnninjjsakt ül)erh;uij)l gar nichts zu tun haben! Ganz wirk-
lichki'ilslrcnid sind die Theorien von Juhus Schultz (286), sie passen
\ielleicht zur Not auf eine kleine Klasse von Wahnideen, keinesfalls aber
auf <lie Mehrzahl. Diejenigen ^ ersuche einer Paranoiatheorie, die mir bish«»r
bekannt wurden, unterscheiden meines Erachtens niemals sorgsam genug
folgende drei Momente:
1. Die Frage nach der Ursache der Wahnbildung;
2. die Frage nach etwaigen verständlichen Zusammenhängen einer
Wahnbildung;
3. die Frage nach dem Wesen der Wahnbildung selbst.
Die [ersten beiden Gesichtspunkte sollen hier unerörtert bleiben. Was
aber den dritten anlangt, so besteht für mich kein Zweifel, daß der pri-
märe Wahnvorgang eben etwas Primäres, d. h. nicht Ableitbares ist^. Wenn
ich bei der Betrachtung der roten Mütze eines Bahnhof Vorstehers plötzUch
die unerschütterhche Gewißheit habe, daß diese sonst tausendfach erlebte
Mütze plötzUch etwas für mich bedeutet, so hat sich nicht an der Wahr-
nehmung der Mütze selbst irgend etwas geändert, sondern in der Mütze ist
gleichzeitig etwas anderes mit „gemeint", die Qualität des /\ktes ist alte-
riert, andersartig geworden. Was die Ursache dieser .\ktqualitätsveränderung
ist, ist wiederum eine Frage für sich. Zukünftige Forschungen werden diese
spezielle paranoische /Vktform noch besser herausarbeiten müssen.
Die sekundären Wahnideen sind demgegenüber abgeleitet, erschlossen-.
Sie sind Erzeugnisse irgendwelcher Überlegungen, z. B. wenn ein lebhaft
akustisch halluzinierender Kranker aus den gehörten Stimmen schheßt, es
sei eine Verschwörung da, ihn unschädlich zu machen. Oder sie sind
gleichsam plastische Gestaltungen maßloser Affekte, z. B. wenn eine agitierte
Melancholika jammernd ausruft, ihre Kinder würden im Nachbarzimmer
geschlachtet. Natürlich gibt es noch mancherlei andere Wahnmechanismen.
Sieht man aber von diesen — phänomenologisch minder interessanten —
sekundären Wahnideen ab, und versucht man, die primären zu ordnen,
so kann dies auf verschiedene Weise geschehen. Tausendfältige Erfahrung
ergibt sehr mannigfaltige Bilder. Es hat weniger Sinn, zu unterscheiden, ob
jemand mit elektrischen Maschinen oder durch Vergiftungsversuche verfolgt
wird, — auch hier hat freilich die Freudsche Psychoanalyse viele Verdienste,
indem sie untersuchte, wie der einzelne gerade zu seinen und nicht zu an-
deren Wahnideen kommt, — sondern abgesehen von dieser persönUchen Fär-
bung der Symptome (assoziativen Geformtheit) kann man folgende Arten
unterscheiden :
Es gibt primäre Wahninhalte, die im ersten Entstehen egozen-
trisch sind. „Ich sah jene Dame sich mir nähern und wußte sofort,
daß es mir ans Leben geht". Andere Wahnkranke erleben primär
unegozentrische Bezogenheiten : eine Ansammlung vieler Kinder an einer
^ Vgl. auch Heveroch (ii6).
2 Besonders Bleuler (28) hat diesen Teil der Psychopathologie bereichert.
Kafka, Vergleichende Psychologie lil.
,14 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEiN
Straßenecke bedeutet einen modernen Kreuzzug. — Es lassen sich die
Wahninhalte ferner danach unterscheiden, ob sie irgendwelche anschau-
lichen Momente miteinander verknüpfen oder unanschauliche Be-
ziehungen behaupten. Für den ersten Fall diene als Beispiel, wenn jemand
annimmt: kleine Strohreste auf der Straße bewiesen die Anwesenheit von
zwei Detektivs; für den letzteren Fall, wenn eine Zeitungsüberschrift:
„Aufgeregte Szenen in der französischen Kammer", den Anfang des Welt-
untero-angs andeuten soll. — Ferner lassen sich die primären Wahnideen
danach sondern, ob sie von vornherein ganz klar und äußerst speziell
geformt sind, oder ob sie nur ungewisse Andeutungen geben. Im letzteren
Falle hat der Kranke oft nur den unmittelbaren bestimmten Eindruck, daß
„etwas" los sei, ohne doch angeben zu können, was er denn eigentlich
Bedeutungsmäßiges erfahren habe. — Wenn ich ferner erwähne, daß die
primären Wahnerlebnisse — wenigstens die im Beginn der Psychose er-
lebten — meist stark gefühlsbetont sind, während sie in seltenen Fällen
von den Kranken nur gleichmütig registriert werden, habe ich ein
weiteres unterscheidendes Merkmal erwähnt. Aber man könnte aus
dem Material heraus noch manchen anderen Gesichtspunkt der Einteilung
wählen. Das Gemeinsame an allen noch so verschiedenartigen primären
Wahninhalten ist, daß diese festen Überzeugungen aus dem Nichts heraus
geboren oder an gleichgültige äußere Umstände geknüpft werden, die für
den Normalen nicht das mindeste Bedeutungsmäßige enthalten. Ich lasse
hier eine Schilderung eines solchen Wahnerlebnisses folgen. Es pflegt oft
den völlig Gesunden unvermittelt mit allen Schrecknissen eines ungeheuer-
lichen Ereignisses zu überfallen. A or dem großen Kriege nannten es manche
Kranke ^ das Weltkriegserlebnis , um das unsagbar Schreckliche anzu-
deuten, oder man hört die Ausdrücke des Weltuntergangs- oder Karfreitags-
erlebnisses.
Es war in der Natur so trübe und so dunkel. Djle Freundin iiatte so trübe
dunkle Augen. Sie habe zu ihr gesagt: Du siehst so ganz anders aus. Sie half ihr
Kuchen backen. Als der Kuchen in den Ofen kam, sei ihr der Gedanke gekomme«,
da wird eine arme Seele in den Backofen gesclioben. Sie konnte nichts essen, es war
ihr alles so zuwider. — Als morgens die Sonne aufging, war es Karfreitag. Da
war alles so anders. Die Sonne war so groß und so merkwürdig. Im Garten standen
drei Pfähle, die kamen mir vor wie drei Kreuze, über dem mittleren Pfahl hing
ein Tuch. Da meinte sie, es sei der gekreuzigte Heiland. Sie sagte zu den anderen:
Was ist denn das, wir sind auf dem Kalvarienberg. Es sei ihr alles wie umgewandelt
vorgekommen. Sie habe gedacht, es sei eine neue Welt. Es fing an zu schneien.
Es war eine unheimliche Umwandlung. Alles lief so schnell, es war gerade wie
elektrisiert. Sie war wie in einem Kino. Die Leute auf der Straße liefen so eigen-
tümlich, so hastig. Als sie zum Fenster hinaussah, da habe sie geglaubt, im Acker
werden Schützengräben gebaut. In der Natur war alles so benebelt. Sie hörte, wie
im Gang ein Kreuz geschleppt wurde. Da habe sie gedacht: Der Mensch denkt und
Gotl lenkt, nun sei sie die erste, die gekreuzigt werde. (Fräulein Meister. Psychiatr.
Klinik, Heidelberg, 26. Juni 1919.)
,,Dann stellte es sich am aS. April ein, da fiel plötzlich ein Maikäfer vor mich
lun auf den Rücken und zappelte. Ich lachte, bekam sofort Muskelschmerzen, hatte
damit zu tun bis Oktober. Es war damals, als die Vögel so aus den Kästchen plötzlich
während der Brutzeit flogen, und an den Bäumen hörte ich merkwürdige Sachen, N\ie
1 Es handelt sich inruner um Schizophrenien.
WAHN n5
l-uiso. Lu/io" usw. ( Aupusto I'arasol, Brief vom iM. März 1920, Psychialr. Kliiiik,
llri.lfllK>rg.)
rS'achts gegen '.i Ihr waclil«' .'>ir an cineni ganz iiicikxMirdigen ITi^iten aiil'. Es sei
kein menschliches luul kein Vogelnfoifen gewesen. Ks sei ganz nah am Hans gewesen
lind doch wieder ganz in der Feme. Da Imlx' der Hahn gekräht, und sie habe
gedacht, ob e.s denn Passionsreil sei und der Heiland komme. Sie belete und meint«,
es sei vielleicht die Verkündigung eines <ler siel>en Siegel aus der Of IVnharung. Sie
dachte, es sei vielleicht die Trübsal ausgt^isson worden, als es so pfiff. Es zog auch
eine schwarze Wolke so ganz schnell am Schlafzimmer vorbei. Da dachte sie, es
.sei der böse Geist, .außerdem habc*i dreimal drei helle Lichtstrahlen den Himrnirl
gespalten. (Luise Biserla, Psvchiatr. Klinik. Heidellurg. •>.') April i<)iy.)
In solchen primären Wahnerlebnissen sind die Kranken meist auch
äulierlich auffällig, ängstlich oder ekstatisch erregt. Demgegenüber folgen
hier die Beobachtungen eines ruhigen Mannes, eines Zugführers, der ein
Eisenbahimnglück verschuldete :
Offenbar wolle man ihn nicht mehr einstellen, weil er zu viel Mijjslände in der
Verwaltung der Ixidischen Eisenbahnen aufgedeckt habe. Er sei den Lr'uten zu ge-
iähriich. Man wolle ihn kaltstolhn. Er schließe das alles aus ^e^schiedenen Beobachtungen:
In seinem jetzigen Amt, wo er also seit dem i^. August 191 3 beschäftigt werde,
falle ihm alles mögliche auf. Ganz offenbar wolle man ihn verwirren. Man
übertrage ihm Schoinarbeiten, wenigstens der größte Teil seiner Arbeiten bestehe in
solchen Scheinarbeiten. Z. B. seien manche Schriftstücke, die er zu erledigen habe,
Sonntags ausgefertigt. Das habe sich herausgestellt, als er die Daten der Abfertigung
nachgeprüft habe. Es fände sich femer häufig in den Instruktionen der Stempel
,,EIisenbahnschule Karlsruhe". Dieser Stempel ,,Eisenbahnschnle" sei ganz offenbar
eine Anspielung darauf, daß er jetzt quasi in eine Eisenbahnschule gehe. In den
Paragraphen sind nianche Worte oder Sätze sei/ietwegen verdreht. ,,Wcnn mir's
zu dumm geworden ist, habe ich gar nicht drin gelesen. Ich hab' gemerkt, daß
es nicht gut tut. Alles ist ja nicht dumm, aber immer wieder kommt so Lumpen-
kram dazwischen, was einem nicht gut tut, zu lesen." Die Nachricht^nblälter von der
Generaldirektion würden doppelt geführt, ein Exemplar für ihn, eins für die andern.
Das schließe er a us einer eigenartigen, doppelten Numerierung der Blätter und Ab-
schnitte, die früher nicht vorhanden war. Auch waren die Nachrichtenblättcr immer
so auffällig dick. Man wollte ihn offenbar ,, schulen", indem man ihm Artikel über
das Eisenbahnunglück hinschob. Es war alles wie Scheinmanüver; nein, doch nicht alles,
sondern nur teilweise. Z. B. mußte er etwas über die Feuerversicherung «sines
Wasserturmes ausfertigen! Das sei doch der reinste Hohn. Auch kam auffällig
oft das Wort Umformerraum vor, das sollte liesagen: sein Raum, insofern man ihn
umformen will in der Eisenbahnschule. In den Schriftstücken fanden sich zahlreiche
orthographische Fehler, und er erkundigte sich nun zum Schein jedesmal bei einem
anderen Beamten, was richtig wäre. Z. B. wurde geschrieben Sääle und lehr (anstatt
leer). Dahinter habe etwas gesteckt. Doch er nahm sich, sobald er sich einigermaßen
kräftig fühlte, vor: ,,Ich mach' mit." Bei Dezimalstellen der Summen, die er zu
addieren hatte, wurde plötzlich nur eine Dezimalstelle geschrieben, und nicht, wie
es bei Mark und Pfennigen üblich sei, zwei. Dann wurde die Sache immer toller;
bis Weilmachten nahm es zu, dann , .rüsteten sie ab", sie trugen in der letzten Zeit
sogar schon die Akten fort. ,,.\m i. Dezember igiS haben, sie schon gedacht, ich
streck' die Waffen, aber ich hab' ausgehalten" (mit Stolz und Selbstbewußtsein!). Man
ließ ihn ausgangs NovemI>er eine Sach selbständig schaffen, um ihn auf die Probe
zu stellen. Der Bau eines Hauses im Industriehafen war auch Schwindel. Man trieb
mit Hochbau und Tiefbau ein ewiges Spiel. Man hatte extra Drucksachen ,, Straf-
antrag gegen Werkstättenarbeiter", obwohl das doch so selten vorkomme, daß man dafür
nicht be.sondere Impressen brauche. ,,Das glaub' ich ganz bestimmt, daß d a s gegen
mich gemünzt war." Nämlich deshalb, weil e r einen solchen Strafantrag gestellt
habe. Wenn er weg war, durchsuchte man immer seine Papiere, ja, man rief ihn
zu diesem Zwecke auch extra ans Telephon. Man hat ilin beobachtet, ist hundertmal
ganz sinnlos ins Zimmer hereingelaufen usw. ,,IcIj hab' ganz genau gewußt, was ich
8*
11g GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
privatim anderen sag', wird weiter getragen." So hab' er einmal einem Kollegen
er/älilt, ob er wohl die Schriften von Grassmanfi gelesen liabe, und in der Tat, nach
welligen Tagen fand sich dann auch unter den abzuschreibenden Schriftstücken ein
solches, wo Grassmaiinstraße drin vorkam. Was er gesprochen habe (er sprach ulle>j
mit Bedacht und mit Absicht), kam auf diese Weise wieder, anfangs schleppend,
später: „Schwupp, den andern Tag war's da." Man ist seinetwegen, wenn er ins
Zimmer trat, „scheinweis" erschrocken, man hat seinetwegen Unterhaltungen gef üliri .
Man fragte soviel nach Leuten, die akkurat nicht da waren. Z. B. fragte ein Beamter
im Bureau eines Tages, ob der Tüncher dagewesen sei und das Rattengift gelegt habi'.
Natürlich wollte man ihn damit nur irre machen, denn was gehe ihn denn Ratten-
gift an? Diese Mannheimer Stelle sei extra für ilin geschaffen. (Lachend): „Man
soll ja grad meinen, man war' dort in der Irrenklinik." Alles, das Arbeiten, diö
Schrifti'tücke, das Vorlesen solle ihn dort krank machen. Zweifellos würden seine
Arbeiten hinterher wieder vernichtet, weil es eben nur Scheinarbeiten seien. Das
scidießc er ja schon daraus, daß einmal der Abort verstopft gewesen sei. Und womit
solle er denn anders verstopft sein als mit seinen Arbeiten!? (Leonhard Bader,
22. Juli igi^i, Psychiatr. Klinik, Heidelberg.)
Interessanlerweise glauben manche Ivranken, daß sie nicht nur selbst die
Anspielungen der andern merken, sondern daß auch ihre eigenen absicht-
lichen Winke von den andern sehr wohl aufgefaßt werden. So ergibt sich
dann eine seltsame, nur dem Psychotischen verständliche, vom anderen
meist gar nicht bemerkte Zeichensprache:
Frau Küfer legte z. B. ein Bündel Haare ilires Kindes außen vor das Küchenfenster,
um den Nachbarn zu zeigen, sie habe ein Haar in der Wohnung gefunden. — Weil
man ihr für die kleine und kalte Wohnung zuviel abverlangte, legte sie eine Schraube
neben die Haare, um anzudeuten, sie werde geschraubt. — Endlich nahm sie, bevor
sie aus der Wohnung, wo sie soviel auszustehen gehabt hatte, wegzog, einen großen
Korb mit in den Hof, wo alle zusehen konnten, und kehrte ihn dort mit einem Besen
aus. Das bedeutete, daß sie jetzt Schluß mache mit ihrer Wohnung, sie wollte
ihre Ruhe haben. Als sie sah, daß der Korb schimmelig war, freute sie das
besonders, denn daraus koimten alle ersehen, daß das schon ,, etwas Altes" (Schimmel
=^ alt) sei, daß sie immer geplagt würde. Sie drehte sich dann um ihre eigene
Achse, um zu zeigen, mir ekelt es vor den Leuten. (Berta Küfer, Psychiatr. Klinik.
Heidelberg, i. III. 21.)
Bei einem andern Beispiel tauchen deutlich sekundäre Wahnideen auf;
aus ihnen entwickelt sich dann zuweilen ein richtiges Wahn System.
Am Dienstagabend kam er vom Dienst heim, da merkte er. ,,daß die Sach' net
richtig war"; es war ihm unheimlich, er dachte, die Schwarzen könnten ihm was
tun. Er sah ,,vermülbte Gestalten", die standen am Schulhaus, es war ihm verdächtig.
Er ließ den Bruder nicht ins Haus, richtete den Revolver und schob Patronen hinein.
Er hatte Angst, die ganze Nacht standen die Feinde draußen, er war in der Küche,
ging nicht zu Bett. Als ler früh um 6 Uhr das Haus verlassen wollte, sah er,
daß die Nachbarin in ihr Haus ging, erschrak, ein Tuch um ihr Licht hing und
in den Stall ging. Daraus schloß er, daß noch Kerle draußen standen. In ängst-
liclier Verzweiflung sprang er durch Feld und W'ald, lief Tag und Nacht, um sich
vor den Verfolgern zu retten. Wo er auch stand, immer hüpften ihm Lichter nach.
Er warf 4oo M. in den Bach und hockte dann selber ins Wasser. Es sei eine
eingefädelte Geschichte, die Verfolgung sei schon lange vorbereitet. Er sei das Opfer.
Wenn er nicht so eine feste Natur hätte, wäre er schon gebrochen, ein halber Mann
sei er ohnedies schon, es sei traurig. (Thomas Stephan, Psychiatr. Klinik, Heidel-
berg, 2. November 19 12.)
Ganz anders sehen die Wahnideen der Melancholischen aus.
Sic sind zwar auch in gewisser Hinsicht primär, nicht abgeleitet, aber sie
WAHiN n7
hängen doch aufs engste mit dein depressiven Affekt /nsanunen. Mit
ilieseni Affekt beginnt meist die Stctning, und (he \Vahnged;uiken begleiten
ilni erst, wenn er höhere abnorme (jrade erreicht '. Man liat, wenn man
viele solche Zustände sah, die feste t berzeugung, dali im depressiven Wahn
ein ganz andersartiger Mechanismus vorliegt, weimgleich es bisher noch
kaum möghch erscheint, diesen näher zu beschreiben und vom Well-
untergangserlebnis abzugrenzen.
Sie sei (lio Wurzel alles Cbols. Sic sei durcli ein Versehen in die Klinik gehrnrht
worden, die Aufnahme sei überhaslel, der Schwager habe sich nicht rcchlzoilig alles
überlegt. Er habe dadurch eine schwere Schuld auf sich geladen, sie sei aber schuld
daran. >>un komme er wegen Freiheitsberaubung ins Gefängnis. Sie koste zu \iel
Geld; sie ruiniere die ganze Familie, sie allein sähe, wie traurig alles sei. Sie sei
die Urheberin alles Unglücks auf der Welt. Am besten wäre sie als lünd schon
gestorben. Über die Augehörigen habe sie furchtbares Unheil gebracht: Ihrer Nichte
seien im Bad die Brüste abgeschnitten worden, eine andere Nichte habe man in eine
Kiste verpackt. (Luise Wollenbach, Psychiatr. Kliruk, Heidelberg, lo. August 1908.)
Diese nihilistische Wahnbildung nimmt zuweilen ganz seltsame
Formen an. Die Kranken glauben keinen Magen, keinen .\fter mehr zu
haben. Es ginge weder oben etwas hinein, noch hinten etwas heraus. Oder
sie meinen, sie wären nichts; weniger als ein Tüpfelchen auf dem i. Zu-
weilen haben diese krankhaften Vorstellungen trotz aller Depression einen
fast humoristischen Zug:
Die ganze Welt sei voller Wald. Niemand könne mehr hindurchkoinmen. Alles sei
zunichte gemacht, der Boden in den Himmel und der Himmel da herunter — joi/X
xNird es nimmer duidicl, jetzt wird es immer heller, das hab' i c h gemacht, i c h bin
eine Person! — — Ich bin die dümmste Person. Ich hätt' die Nacht nicht auf
das erste, sondern auf das zweite Klosett gehen sollen, dann wäre es immer dunkel
geblieben, dann wäre es gar nicht mehr Tag geworden, dann brauchten die Arbeiter
ilrüben beim Neubau nicht mehr zu arbeiten, dann tat' kein Zug mehr fahren, dann
hätt' es so geregnet, daß die Flüss' ausgingen, alle wären dann versoffen. (Anna
Kumpel, Psychiatr. Klinik, Heidelberg, 26. Juli 1920.)
In fortgeschritteneren paranoischen Fällen von Schizophrenie kann man
kaum mehr analysieren, was primär, was abgeleitet ist, was auf Sinnes-
täuschungen beruht usw. Obwohl diese verworrenen Wahnkomplexe ebenso
wie die klaren Wahnsysteme nur in losem Zusammenhang mit dem hier
erörterten abnormen Akt des Wahnerlebnisses stehen, seien doch einige
kleine Proben mitgeteilt:
,,Bin icli über den Arbeiterstand hinaus (er ist Tischler), so habe ich Denkkraft,
hin ich imter den Arbeiterstand, so sterbe ich ab. Es gibt acht Menschcnklassen,
passe ich unter die o. Klasse, so weiß i<;h nicht, was Mensch ist, so weiß ich nieht,
ob es Weib oder Mann ist. Geistig bin ich (offen gestanden) in der 2. bis 3. Klasse
gewesen." (Otto Stoff, aS. November 1909. Langenhom.)
Und von dem gleichen Kranken ein Beispiel für Größenwahn:
Sein Großvater sei ein gewdsser Roderich von Stoff, ein für irrsinnig erklärter,
in Friedrichsberg verstorbener Irrenarzt gewesen, ein Mann von ungeheurem Genie,
dessen ganzer Gedankengang sich auf ihn übertragen hätte, wahrscheinlich durch Ein-
^ Deshalb halten manche Forscher den gesamten depressiven Waiin für sekundär.
118 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
iinpiung . . ., dalier rührten aucli seine Impftiarbeii; von ihm stammen auch seine
Keniitxiisso über alle pröliereji Politiker. In einer Versammlung habe Bebel die gänz-
liche Slamiiie^gescliiclile der IlohenzoUem uiid der Hohenstaufen auf ihn übertragen-
Er stamme ab vun einer .Majestät in, der Frau Be«idoif. man könne sie auch Sultanin
ncnnefi usw.
3. llichtung und Durchführung abnorm
Die großen Psychosen hefern zahh-eiche Fälle, bei denen nicht nur die
richtig begonnenen Intentionen an irgendeiner querkommenden Störung
scheitern, sondern bei denen außerdem auch die Akte selbst abnorm sind.
Die Gesamt struktur des Seelenlebens ist eben dann gestört. Eine eigent-
liche Analyse ist nicht mehr möglich. Man kann nur das Gesamtbild
schildern und vermag kaum mehr Einzelheiten herauszusondern. Doch
kann man zwei sehr verschiedene Typen der seelischen Destruktion von-
einander trennen. Der eine ist der paralytische Typus. Er entspricht am
ehesten dem oben beschriebenen Zustand der gedanklich strukturellen
Demenz. Er ist ein vorwiegend negativer Typus. Die Gedanken ver-
wirren sich, das Gedächtnis nimmt ab, die feineren Regungen des Gemütes
erlöschen. Einzelne Wahngedanken tauchen auf und werden sofort wieder
verlassen. Nichts hat Bestand. Etwas eigenthch Neues erscheint nicht. Der
andere ist der schizophrene Typus. Hier betrifft die Störung am
wenigsten und erst am spätesten die formalen Fähigkeiten der Seele.
Die einzelnen Akte des Wahrnehmens, Erinnerns, des Kombinierens, Ur-
tcilens, Schließens, Begreifens, des Erwartens, Zweifeins, Fürchtens, Hoffens,
Wünschens, Freuens, Betrauerns usw. können sich hier bis in späte Zeiten
des seelischen Destruktionsprozesses richtig vollziehen. Und wenn man
sich trotzdem bei solchen schizophrenen Zerfallsvorgängen gelegentlich des
Wortes Demenz bedient, so ist dies eigentlich insofern unzulässig, als es sich
um eine wirkliche formale Demenz im oben definierten Umfang nicht handelt.
Hier drängt sich der Beschreibung geradezu das alte populäre Bild des Schiffes
auf, das in seiner inneren Struktur im einzelnen gut erhalten ist, und das
doch durch ein mangelndes Zusammenarbeiten aller Faktoren inj ganzen
unfähig geworden ist, ein Ziel zu erreichen: die Steuerung versagt
Inwieweit zum Beispiel die Fähigkeit der schriftstellerischen Darstellung,
inwieweit Scharfsinn, Beobachtungsgabe, Gefühlsleben usw. noch gut er-
halten sind, vermag ein Leser, der Schizophrene selbst zu studieren keine
Gelegenheit hat, aus den Denkwürdigkeiten Schrebers (284) zu entnehmen.
Zugleich wird er aus der Lektüre dieses Buches aber erfahren, in welch
gewaltiger Weise dieser Geist doch gestört worden ist. Viele der bisher
beschriebenen einzelnen seelischen Abnormitäten finden sich im Verlauf
der Schizophrenie zusammen : Sinnestäuschungen und Wahnideen, abnorme
Gefühle und seltsame Willenslagen usw. Aber alle diese einzelnen Ab-
normitäten machen nicht das Wesen der Störung aus. Alle diese Momente
sind — wenn ein Vergleich gestattet ist — nicht, wenn auch in wirrer
Weise, auf ein geordnetes Grundgewebe gestickt, sondern dieses Grund-
gewebe ist selbst in all seinen Fäden verwirrt, so daß jeder Versuch einer
einheitlichen Erfassung scheitert. In viele einzelne Seelenabnormitäten vermag
o
SCHIZOI'IIUE.NKU MKCHA.MSMl^ 119
sich auch der Normale nodi hiiioiii /u versetzen, weil er sie hinzufügt zu
dem normalen l nierbau; in den schi/ophrenen Mechanismus vermag sicli
kein gesunder einzufühlen, weil hier (he gemeinsame Basis der \ erständigung
fehlt. Das liierwarlete wird hier stets l^reignis. Die (jefühis.ikte beziehen
sich nicht mehr auf die (jlegenslände, auf die sie sich bisher bezogen.
Geliebtes wird gehafit und umgekehrt. Alle alten Ziele werden verleugnet,
neue, inmier wechselnde Augenblickszicle werden erstrebt. Die Seele hat
ihre Steuerung verloren. Allni;ihlich wird auch der äußere .Ausdruck, das
Benehmen, verschroben, seltsame Angewohnheiten stellen sich ein, jede
gesellschaftliche Form wird ins Groteske übertrieben oder ganz vernach-
lässigt. Auch die Sprache wird oft verändert, die sprachlichen Laute dienen
nicht mehr als Symbole für das bisher im Leben Lrlernte, sondern gewinnen
neue Bedeutungen ; neue Wörter werden erschaffen (Neologismen). Selbst
im Satzbau \erschwindet die Ordnung, die Steuerung des sprachlich nieder-
gelegten Gedankengangs (Sprachvervvirrtheit). Die sprachhchen Produkte seien
hier in einigen Proben veranschaulicht, sie sollen nur eine ungefähre Vorstellung
geben :eine genaue .\nalyse würde den hier vorgeschriebenen Rahmen sprengen ^
..Ich bin eine freie Zitlierspielerin, deshalb brauche ich meine Heiratspapiere.''
(Frau Schönemann, lo. ii. i/|, Psychiatr. Klinik Heidelberg.)
Gedicht.
Botanik ohne Affen
Fällt gar schnell
Botanik mit Affen
Hält gar grell!
Der Mann.
Der Mann kennt seine Korpuskologie,
Setzt sie in Marmorgröße
Muskelt seine Stärke,
Versteht das Begreifen.
Hemisphäre.
Voll bewohnte Form
Tragbar auch in Fremd
Habend mannigfaltige Kinderleben
Habend auch den englischen Hof.
Habend die schweizerischen Maison fen^tre
Habend die deutschen Finanzen
Seiend gepflanzt europäisch
Habend den Baseler botanischen Garten
Habend den Karlsruher Museumsaal
Sprechend deutsch, französisch und englisch
Habend Berliner Zeitungen
Habend das Parlament Hohenhön
Seiend gehalten von Gärtner und von Architekten
Habend das architektonische Heidelberg
Haltend Heidelberg badisch
Habend in Karlsruhe den .\rchitekten Weinbrenner
' Vgl. zu den Sprachneubildungen Meringer und Mayer (201) und Spitzer (3oi).
Auch Itten (1^8), Haßmann (102 c) und Tuczek (3i5a).
120 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Sicli verlebten in zehn Jahrigkeit
Habend außer Kurorte die Stadt Aachen
Haltend die Stadt Aachen mit Infanterie
Habend berühmte Buchhandlungen
Cohn Bonn.
Danker und Groos Koblenz
Strauß Bubbecke Bonn
Lassend lernen Gedichte
Haltend in Bonn Beethoven, halten Kinder Konzerte
Lassend in Koblenz Lieder singen
Lassend die Koblenzer Musik regieren durch Häubner
Seiend eine tadellose Zehnjährigkeit.
(Luise Lebrun, 21. Februar 1906, Psycliiatr. Klinik, Heidelberg.)
Ein ganz extremes Bild der Sprachverwirrtheit (Wortsalat) liefert ein
Brief einer alten schizophrenen Frau.
An Ihre Exzellenz Frau Regierungspräsident von N. in Spiere a. Rliein.
Fischen im Algäu 23. Enascham. '
The Tsche Notre I>ame
Nccravowe compreve desse tischewecente
dessederavont Ampeffe capovedent amprow
desseschou. Dechende requipen te Dresseda
vesedy abo scheve edeserento Kavrote usw.
Sopron Baronesse
pilar paz Dell
De — la Haye.
(Frau Etzbaum, Juli 1920, Klingemnünst«r.)
Man würde sehr irren, wenn man glauben würde, daß Kranke, die solch
wirre Worte reden oder schreiben, nur diese „Sprache" sprechen könnten.
Man kann sich gelegentlich minutenlang, stundenlang mit einem Schizo-
phrenen formal korrekt unterhalten, ohne vom Vorhandensein einer solchen
neuen Sprache eine Ahnung zu haben. Erst wenn zufällig ein bestimmter
Gedankenkomplex angeschnitten wird, oder wenn ein kundiger, den Kranken
kennender Arzt ein Zauberwort spricht, stürzt plötzlich diese fremde Sprache
hervor. Auch dieses Beispiel der Sprachverwirrtheit weist darauf hin: die
formalen Fähigkeiten korrekter Sprache bleiben erhalten, und daneben
besteht die katatonische Neuheit. — Man könnte glauben, solche Worte
seien klangliche Spielereien ohne Sinn: das mag gelegentlich \orkommen.
Aber sicher gibt es solche neue Sprachen, die Sprachen im eigentlichen
Sinne sind, d. h. übersetzt werden können.
Karl Tuczek (3i5 a) glückte es, eine scliizophrene Sprache in statu nascendi zu studieren.
Aus seinem Material finde hier noch ein Beispiel Platz :
Der Stein = le Distel (Weil zu Hause auf dem Feld neben ränem Stein, auf dem
sie oft zu sitzen pflegte, eine schöne rote Distel stand.)
Das Bett = le Kuchen (Weil die Mutter, als sie krank war, das Nudelbrett zum
Kuchenbacken ans Bett bringen ließ.)
Der Arm =^ le Traube (Weil der erste Mensch eine Traube am Arm tätowiert hatte,
den hat man ihm abgenommen, das waren nämlich zerbrecli-
liche Menschen.)
Die Schwester = den Holz (Weil „Schwe" = den ist und ,.ster" = ein Ster Holz,
also Holz.)
SCHIZOPHRENER MECHANISMUS
121
Auch die spielerische oder künstlerische Betätigung wird durch den
schizophrenen Mechanismus oft seltsam modifiziert. Ja es ist seit langem
bekannt, daß Persöidiihkeilen, die bisher weder ein Interesse an der Kunst
hatten, noch etwa selbst sich darin \ ersucht hatten, erst (hu'ch ihre schizo-
phrene Geistesstörung zur künstlerischen Betätigung veranlaßt wurden '. Die
Psychose schafft hier geradezu Werte; ohne sie wäre der Kranke niemals
zum Künstler geworden. Das Motiv ist im einen Fall (neben dem Unver-
nuigen, sich sprachhch auszudrücken) vielleicht die Fähigkeit, mit den Händen
bildnerisch zu arbeiten. Dem geistig wenig ausgebildeten Manne gehorchen
ja oft die Hände besser als die Zunge. Lud da die Fülle seiner Erlebnisse
zum Ausdruck drängt (Wille zur Abreaktion ins Motorische und Will«* zur
Form), wird er zum Künstler.
Oft sind es nur abnorme innere Gefühle, die nach künstlerischem Aus-
druck drängen, oft aber suchen sich auch schizophrene Gedanken zu ge-
stalten. Die Kranken beschäftigen sich mit Gott und der Welt, sie erfinden
seltsame Systeme, die sie dann bildlich deutlich zu machen versuchen. Für
die schizophrene Kunst gebe ich hier keine Proben, Morgenthaler (2\\)
hat soeben einen wichtigen Fall veröffentlicht 2, und Hans Prinzhorn wiid
bei Springer in kurzem einen Teil der Schätze der Bildersammlung der
Heidelberger psychiatrischen Klinik erläuternd herausgeben. Für ein ver-
anschaulichtes schizophrenes „System" gibt Figur 3 ein Beispiel.
i*»*-«^
^^ y^IZt
Gezeichnete „Weltanschauung" eines Schizophrenen
(22. l\. i3. Psychiatr. KHnik Heidelherg.)
' Bejijamin Rush (i745 his i8t3; handelt in dem 5. Band seiner Medical inquiiies
and Observation« von den Geisteskrankheiten und erwähnt, daß in zwei Fällen sich das
Zeichentalent während einer Geisteskrankheit entwickelte. Auch gebe es in jedem
Irrenhaus Kranke mit überraschenden, erst in der Psychose entstandenen mechanischen
Talenten i Scliiffsbauer u. dgl.). Ähnliches über dichterische Betätigung bei Pinel,
Sur l'ali^nation mentale, S 210, S. 2/42 und bei Möbius (20A). Siehe auch Haßmann
(loa c), Prinzhorn (249a), Morgenthaler (210 u. 3ii).
- Einen weiteren bei Schilder (279), S. 3o.
122 GRüHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
Zu dieser (um ein Drittel verkleinerten) Zeichnung gab der Kranke
folgende Erklärung:
,,Das ist die VWlle, um die sicli alles dreht: Natioiuilslol/. Das soll die Gerechlig-
koit sein, das Militär, die Polizei also, nicht wahr — eben der Nationalstolz. — Fleiß
und Geld, das ist das vis-ä-vis. Für Fleiß ist das Geld die Lösung; das alte Wort
Iioißt: Geld regiert die Welt. Und wer fleißig ist, bringt es zu Geld, auf welchem
Gebiet ich da arbeite, ist ganz gleich. So sagt schon Schopenhauer: Nicht der Reiche
ist glücklich, sofidem der Glückliche ist reich. — Das Ganze will das ganze Weltall
vorstellen, Sonne, Mond und alle Sterne. Das Bindeglied zwischen dem Weltall und
der Erde ist die internationale Wissenschaft." (Gustav Vierneusel, P.sycliiatr. Klinik
Ilfidelberg, 23. April igiS.)
Die Heidelberger psychiatrische Klinik besitzt eine ganze Sammlung von
Büchern pseudophilosophischen Inhalts, die von Geisteskranken, meist von
Schizophrenen geschrieben worden sind. Die Leserschaft solcher Bücher
merkt das nicht immer. Daß z. B. das Buch „Rembrandt als Erzieher, von
einem Deutschen" so viele Auflagen erlebte, ist nicht nur angesichts der
Tatsache verwunderlich, daß ein Schizophrener es schrieb, sondern daß
sich seine Schizophrenie auch in der Schreibweise so deutlich kundtut.
In dem Bilde schizophrenen Zerfalls fällt häufig eine eigentümliche Ab-
kapselung von der Umgebung auf. Die wahnhaften Ideen stehen in so hef-
tigem Widerspruch zur Umgebung, daß diese absichtlich nicht mehr be-
achtet, sondern ausgeschaltet wird. Der Kranke lebt ganz seiner Ideenwelt
und entschließt sich oft nicht einmal mehr zum Reden, zur Pflege des
Körpers usw. (Autismus). Verharrt er dabei auch motorisch regungs-
los, schlaff oder widerspenstig gespannt (Negativismus), so spricht man
von einem katatonischen Stupor^. — Die Intentionen zu irgendwelchen
Bewegungen werden oft nicht zu Ende geführt, sondern mitten drin unter-
brochen, gesperrt, wie wenn ein Sperrhaken plötzlich in einen bewegten
Mechanismus eingreift. Eine solche Sperrung kann auch den Gedanken -
ablauf treffen. In anderen Fällen löst eine — vielleicht sehr unbequeme —
passive Bewegung nicht die Gegenbewegung aus : die Glieder bleiben in der
mitgeteilten Haltung lange Zeit unbeweglich stehen (Flexibilitas cerea). Eine
Tendenz zur ungewollten Nachahmung ist oft deutlich. Es braucht nur
irgend jemand, der mit dem Katatoniker- das Zimmer teilt, irgendeine
plötzliche Bewegung zu unternehmen oder einen lauten Ausruf zu tun, so
kann der Kranke der Tendenz, sie ebenfalls zu vollziehen, nicht wider-
stehen (Echopraxie, Echolalie). Hiermit hängt auch die andere Tendenz
mancher Schizophrener zusammen, sich selbst immer wieder zu imitieren,
d. h. eine einmal begonnene Bewegung, eine Geste, einen Ausruf, einen
Rhythmus von Lauten lange Zeit einförmig zu wiederholen (Stereotypie).
Alle diese Symptome kann man beschreiben, aber nicht auf einzelne Ur-
sachen zurückführen, nicht aus psychologischen Motiven verständlich machen.
Soweit man in der Auffassung solcher Symptome überhaupt etwas weiter
gekommen ist, hat man diesen Fortschritt vielfach den Forschungen
^ Es gibt sicherlich aber auch Stuporen ohne innere Welt, ohne geistige Vorgänge-
- Katatonie ist eine besondere, stürmische Verlaufsform innerhalb der Schizophrenie.
Katalepsie ist ein Zustandsbild, eine Tendenz dos Kranken zur stunden- und tagelangen
Fixierung irgendeiner Haltung.
SCmZOlMlUKNER MECHANKSMUS 123
Bloiilers (28) zu Nonlaukou. Kinos ilieser schizophroiien Symptome ist
j)syclu>l()^nscli von hosoiuliM'em Interesse: tue sofjenaniite A mh i \ a len z.
Jeder (lesuiuie kennt sell)st\erst;iii(llicli das lirlebnis des Schwankens, des
Zweilelns. Soweit dieses Zweilein in der Form etwa des (irübelzwanges
erscheint, wurde es schon oben l)es|)r<»chen. In dem schizo[)hrenen Me-
chanisnuis lie^t aber noch ein besonderer in seiner lidialtlichkeil abnormer
Akt \(>rl)orpMi : die .\nd)i\alenz. \ (»r allem im (jelühlsleben ^ zeiligt sie
merkwürdige l^gebnisse. Liebe und llal'i sind in seltsamer Weise gleichzeitig
vorhaiulen. Nicht etwa wie es auch beim Gesunden geschieht, daJj er an
einem Ciegenstand die eine Seite liebt und die andere haßt, sondern die
gleiche Materie ist zugleich einem Akte der Liebe und des Hasses gegeben.
Anders ausgedrückt: gleichzeitig bestehende Akte der Zu- und Abneigung
richten sich auf den gleichen Gegenstand. Bleuler ilrückt dies so aus: Der
Schizophrene liebt die Kose um ihrer Schönheit w illen und halit sie zu-
gleich wegen der Dornen. Mich befriedigt diese Fassung des l*hänonien>
noch nicht recht. .Vber ich müßte weiter ausholen, als es hier der Raum
erlaubt, um meine eigene theoretische Formung der Tatsachen zu begrün-
den. Die ganze Lehre der Akte und besonders der Denk\orgänge harrt
noch der Beleuchtung vom psychopathologischen Standpunkte aus.
B. MOTIVZUSAMMENHANG (RETROSPEKTIVER GESICHTSPUNKT)
Bei der hier so kurz zusammengedrängten dürftigen Beschreibung des
überaus interessanten schizophrenen Alechanismus wurde schon das Problem
der Moti\e gestreift. Und dies führt in ein ganz neues Gebiet der see-
lischen A orgänge und ihrer \ erknüpf ung. Bisher wurde gleichsam eine
zentrifugale Betätigung der seelischen Energie untersucht : die Richtung des
Aktes auf den Gegenstand. Jetzt erhebt sich die Frage, wie der einzelne
Akt seelisch begründet ist, wo er herkommt, wie er entsteht, aus was
er hervorgeht, oder welche Ausdrücke man immer verwenden möge. Dabei
denke ich nicht etwa an die causa, nicht an das physiologische Substrat
oder dergleichen, sondern eben an jene Herkunft, für die man den Namen
der psychischen Kausalität nicht verwenden sollte. Denn diese Kausalität
hat mit jener nichts gemein. Das Motiv leuchtet ein oder wird abgelehnt,
die Ursache wird als vorhanden oder nicht vorhanden lediglich festgestellt.
Das Wort Moti> muß hier im weitesten Umfang verstanden werden, als
Zusammenhang des psychologischen Sinns, als Sinnbeziehung, nicht in dem
engeren der Herkunft speziell der Handlung, der Tat. Aber auch auf die
Lehre von den Motiven hier näher einzugehen verbietet der beschränkte
Raum. In diesem Zusammenhang erhebt sich hier nur die Frage: Gibt
es auch abnorme Motive, und was versteht man darunter?
Wenn ich mich bemühe, mich in jemanden einzufühlen, so bin ich auf
den Sinnzusammenhang seiner Gefühle, Gedanken, Handlungen eingestellt.
Ich interessiere mich für die psychologische Herkunft der einzelnen Mo-
^ Aber auch in der Willensphäre (Impuls — Gegeiximpuls) und in den ürteils-
akten (schreckliches Wetter — herrlicher Tag) betätigt sich die Ambivalenz. — Horst-
mann (i24) versucht eine Theorie, doch erscheinen mir seine Begriffe wenig präzis.
124 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
mente'. Und wenn ich dies auch bei einem geistig Abnormen versuche,
so erhalte ich bei der Analyse seines Verhaltens:
I. Die vom Kranken spontan angegebenen Sinnzusammenhänge, darunter :
a. die von mir affirmativ vollziehbaren; diejenigen, die ich kenne»
oder die mir „einleuchten": die sinnvollen,
b. die von mir als sinnmöglich erlebbaren; die sinnhaften, deren
Sinn ich selbst aber nie erlebte; in die ich mich auch „nicht
recht" einfühlen kann,
c. die von mir negativ vollziehbaren; diejenigen, deren Sinnhaftigkeit
ich zugeben, deren Sinnerfüllung ich leugnen muß: „Ich finde
da keinen Sinn",
• d. die von mir überhaupt nicht vollziehbaren, bei denen es Unsina
ist, überhaupt von einem Sinn zu sprechen.
11. Die \on mir vorgeschlagenen und vom Kranken angenommenen
Sinnzusammenhänge.
III. Die von mir (auf Grund allgemeiner oder persönlicher Erfahrung)
konstruierten Sinnzusammenhänge, zu denen der Kranke keine Stel-
lung nimmt.
Wenn man im Auge behält, daß man sich ja bemühen will, das Ab-
norme im Seelenleben verstehend zu untersuchen, so erhellt leicht, daß
la und II sich nicht auf das spezifisch Krankhafte erstrecken können»
denn es sei hier nicht, wie oben, der Fälle gedacht, bei denen die Vor-
gänge selbst abnorm sind, sondern nur jener, bei denen der Zusammen-
hang pathologisch erscheint. Dies ist aber bei la und II nicht der Fall.
Auch bei Ib erreiche ich noch nicht eigentlich das Gebiet des Abnormen;
ich höre hier von Zusammenhängen (wie oft im täglichen Leben) bei
Menschen, die ich „nicht so recht verstehe", mit denen ich „nicht recht
mitkann", die mir „nicht ganz klar sind", ohne daß ich doch etwas Pa-
thologisches aufzuzeigen vermöchte. In dessen Bereich trete ich erst ein
(I c), wenn ich einen Zusammenhang nennen höre, der für mich des
Sinnes entbehrt oder (Id) bei dem es sinnlos ist, von Sinn zu reden.
Wenn eine Kranke in einen trüben, finsteren Novemberabend hinaussieht
und plötzlich von selbst sagt: „Die Sonne sticht und strahlt" und dies auf
Fragen mit den Worten begründet: „Der Gegensatz macht mir Freude," so
habe ich Fall I c; antwortet sie: „Sie haben blonde Haare," so liegt I d
vor. Erhalte ich aber überhaupt keine Auskunft, so liegt, wie schon er-
wähnt, die Möglichkeit der analogischen Deutung aus der allgemeinen oder
[)ersönlichen Erfahrung vor (Fall III).
Hat man nach diesen Gesichtspunkten ein Motiv als abnorm beurteilt,
so ist diese Abnormität wieder dreifach orientiert. Erstens kann ich ein
Motiv gemäß Ib als nur relativ abnorm bezeichnen: es steht dann Hand-
lung und Motiv in einem gewissen Mißverhältnis zueinander. Ich pflege
^ Das Folgende zum Teil wörtlich aus einem früheren Aufsalz: Gruhle (97).
MOTIVZUSAM.ME.MlAiNG 125
dann zu sagen, dali z. B. ein liofliger Affekt abnorm sei, quoad Moti\, „über
eine solche Kleinigkeit l)rauclit man sich doch nicht so selir aufzuregen".
Ich vermag zweitens aber ein Motiv als abnorm zu beurteilen, v\'enn es
sich in die augenblickliche seelische Gesamtlage nicht einfügt, wenn mir
z. ß. jemand erzählt: er sei anfangs im (lotfesdicnsl aufmerksam und an-
dächtig gewesen; aber ph'HzIich sei in ihm der kaimi unlerdrückbare Trieb
entstanden, die Andacht der anderen durch ein fürchterliches (jeschrei jäh
zu zerstören. — Lnd drittens endhch \ermag ich einen .Motivzusammen-
hang als abnorm zu bezeichnen, wenn er mir zu der Gesamtheit einer
Persönlichkeit nicht zu passen scheint. Die allgemeine Menschenkennt-
nis lehrt, daß gewisse Eigenschaften, Neigungen, Triebe usw., kurz, gewisse
Persönlichkeitskonstituentien zusammengeordnet sich häufiger vorfinden als
andere. Ein sensitiver, differenzierter, zum Sentimcntalischen neigender
Charakter wird erfahrungsgemäfj häufiger eine passive Natur sein als eine
aktive energievolle Persönlichkeit; ein lebhafter, unruhiger, immer nach
Neuem begieriger Kopf ^oll Tatkraft und Lnternehmungsgeist wird er-
falirungsgemälj häufiger frei von den Hemmungen des (Jemüts sein als
ein rückwärts gewandter Träumer. Kurz, die Erfahrung stellt gewisse
Häufigkeitstypen heraus, nach denen sich der Charakterologe im einzelnen
Falle lieber zu richten geneigt ist, ehe er an absonderliche, seltene, kaum
erlebte, nur vom Hörensagen bekannte Verknüpfungen denkt. Aber meine
Auffassung eines Menschen als eines mir bekannten Häufigkeits- bzw. Durch-
schnittst} pus kann freilich jedem einzelnen gegenüber irren. Es bleiben
nur zwei Momente als Hinweise auf die Richtigkeit meiner Auffassung eines
anderen übrig; einmal der Consensus plurium, sodann die sog. Einheit-
lichkeit oder innere Harmonie, das Zwingende einer Auffassung. Wenn
sich herausstellt, daß die Mehrzahl eines Kreises um einen Lebenden, der
Historiker um einen Verstorbenen die gleiche Auffassung von der in Frage
stehenden Persönlichkeit haben, dann mag dies vielleicht ein Hinweis
darauf sein, daß diese Auffassung, diese Beurteilung das „Richtige" traf, d.h. der
Realität entsprach. Aber wie oft hat sich die Allgemeinheit in einer
solchen Auffassung getäuscht, wie oft haben etwa später bekannt gewordene
Memoiren das Bild, das sich eine Zeit von einer Persönlichkeit machte,
umgestoßen! — Und was den anderen Maßstab betrifft, die Einheitlichkeit,
die überzeugende Kraft einer Auffassung: worin besteht diese?
Es ist kein Zweifel, daß manche Zusammenordnungen bestimmter cha-
rakterologischer Einzelzüge zu einem Gesamtbilde einheitlich erscheinen,
dafj die Hinzufügung irgend eines neuen Zuges vielleicht als unpassend,
störend, nicht hergehörig beurteilt wird. Worin besteht nun diese Ein-
heitlichkeit? Man darf nicht vermuten, dal^ es nur die Häufigkeit des
Erlebnisses, der Erfahrung ist, daß man also nur den Durchschnittstypus
als einheitlich einzuschätzen geneigt ist. Man spricht wohl von einer psycho-
logisch folgerichtigen Auffassung dann, wenn sich keine Gegensätze (kon-
tradiktorischer Art) aufdrängen, ^^enn es mir z. B. gelingt, eine Persön-
lichkeit in all ihren Äußerungen und Handlungen etwa auf das Moment
der Passivität zu bringen, wenn ich nachzuweisen vermag, daß sie niemals
aus freiem Antrieb ihr Leben selbsttätig gestaltete, sondern sich stets von
ihrer Umgebung schieben ließ, nur gezwungen einen Entschluß faßte, allen
126 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEA
Entscheidungen möglichst aus dem Wege ging, nie etwas produzierte, viel-
mehr allein in der Beschaulichkeit und Rezeption ihre Befriedigung fand
usw., so wird man mir vielleicht zugestehen, da(i meine Auffassung dieser
Persönlichkeit einheitUch ist. Und wenn es sich ferner herausstellt, daß
sich im Leben dieses Menschen nichts aufzeigen läßt, was dieser meiner
Einfühlung widerspräche, so ist man vielleicht geneigt, meine Auffassung
als zwingend anzusehen. Es spricht in der Tat insofern viel für sie, d. h.
es besteht große Wahrscheinlichkeit, daß sie sich der Wirkhchkeit nähert,
als es kaum einem anderen gelingen dürfte, die Gesamtindividualität des
gleichen Menschen nun gegensätzlich aus der Aktivität heraus psycho-
logisch zu erklären. Aber es wird immer Beobachter geben, die das ge-
nannte Moment der Passivität als verschwommen, unklar oder als unwichtig,
Unwesen thch usw. bezeichnen und sich nun ihrerseits bemühen, die gleiche
Persönlichkeit auf eine andere charakterologische Formel zu bringen, wieder-
um mit dem Anspruch, ihre Auffassung als „die" Auffassung, als zwingend
gelten zu lassen. Und zumal in den Fällen, in denen die Kenntnis oder
Überlieferung lückenhaft ist, und es sich um sogenannte widerspruchsvolle
Charaktere handelt, werden gleichzeitig mehrere Auffassungen von der
gleichen Individualität bestehen, oder es werden in der Geschichtswissen-
schaft je nach dem Fortschritt in der Kenntnis von Quellen oder nach
den geistreichen Einfällen neuer Forscher mancherlei Einfühlungen einander
ablösen. Immer wird sich jene Auffassung am besten behaupten und sich
des meisten Beifalls erfreuen, die nicht jede einzelne Äußerung, jede Tat
der betrachteten Persönlichkeit aus einzelnen Zügen zu verstehen sucht,
sondern einen übergeordneten psychologischen Gesichtspunkt entdeckt,
der möglichst viele Zusammenhänge verständlich zusammenfaßt (Struktur).
Jene eigenartige Überzeugung, daß manche Charakterzüge zu einander
„gehören", während andere ihnen irgendwie entgegengesetzt sind, beruht
wohl meist auf dem eigenen, d. h. auf dem aus eigener Erfahrung stam-
menden Erlebnis, daß diese Züge durch ein gemeinsames Etwas,
sei es einen gemeinsamen Gefühlston, eine gemeinsame Tendenz, eine ge-
meinsame Einstellung, Strebung oder was immer zusammengefaßt sind;
ein Gemeinsames, das man dann als übergeordnet, als „höheren" verständ-
lichen Zusammenhang anzusehen geneigt ist. Häufig ist freilich dieser Zu-
sammenhang zweiter oder höherer Ordnung noch nicht namhaft zu machen;
er ruht, einer begrifflichen Formung noch nicht zugänglich, doch erlebt
in uns, ähnlich wie wir zwischen den Werken zweier Künstler oft etwas
(lemeinsames entdecken, ohne daß die Sprache es näher zu formulieren vermag.
Wenn ich also bei sorgsamster Einfühlung in den Werdegang einer Per-
sönlichkeit eines Tages entdecke, daß jene sich Gedankengängen hingibt,
die ihr bisher ganz fern lagen, daß sie Handlungen begeht, die ich „nicht
recht" verstehe, so werde ich mich lange Zeit bemühen, herauszufinden,
welche Einflüsse wohl auf jene eingewirkt haben mögen, um ihre Ent-
wicklung so auffällig zu gestalten. Finde ich nichts, und stellen sich nun
allmählich gar Verhaltungsweisen ein, die mir geradezu sinnlos (oben I c)
oder unsinnig (Id) vorkommen, so wird sich mir immer mehr der Ver-
dacht stärken, daß hier eine geistige Erkrankung eingesetzt hat, die den
bisherigen Alotivzusammenhang dieser Persönlichkeit stört, die bisherige
ABNORME MOTIVE
..llaniioiiie" aulgi'luilxMi hat. Ich sa^c von «'üiciu st)lchen KraiiklieiLsprozeli
(lirt'kl, ilalj vv <lk' IVxsönliclikeil vcriiichleU'. Man übersehe nicht jenen grund-
sätiliclien l'nU'rschic<l, <>boinelNMS(>nHchk(Mt <la<hirch abnorm ist, daß irgend-
cineEigciisdial l an ihr gradweise alsaMlj<Mthirchschnittlichlion'()rragt(Talent)
oder daß eine \ ielzahl der Kigenscliaften außenudontüche (Jrado erreicht
(Genie), — oder ob an irgendeinem PunkU' der Ijebwisbahn ein gelsti^r
Zerstörungsprozeß plölzhch oiler schleichend eingesetzt hat. Dort abnonne
Persönlicldceiten, Psychopathien, abnorme Anhigen mil außerdurchschnitt-
licher Entwickhuig — hier Psychosen, Krkrankung(Mi, Kran k hei ts | )rozesse '.
Es sei noch erwälint, daß es vemn/elte rein stx'Usche, wie auch mo-
torische Verhaltungsweisen gibt, die ganz motivlos entstehen und schnell
vorübergehen-. Es handelt sich dabei mii Verstimmungen, Dämmerzustände,
Krämpfe usw. Im nächsten Kapitel wird hiervon nochmals die Rixle sein.
^ Vgl. Jaspers (i^a).
2 Es gD^i auch Mischfonneii, d. h. seelische Verhaltungsweisen, die aii sich motivLis-
entstehen, bei denen aber die spezielle Form des Ablaufes , .verständlich" erscheint.
So erzählt z. B. in der älteren JLiteratur (die Stelle ist mir leider verlorengegangen)
Dt. Spurzheim von einer Frau, bei der der Bausinn bei jeder Schwangerschaft so
erregt war, daß sie eine ordentliche Bauwut bekam.
ABNORMITÄT DEE BEZIEHUNGEN ZWISCHEN DEN
SEELISCHEN UND KÖRPERLICHEN VORGÄNGEN
In den kurzen Auslühiungen, die der engbegrenzte Raum hier diesem
Problem gestattet, soll keineswegs das Thema des allgemeinen Zusammen-
hangs zwischen Körper und Seele auch nur gestreift werden. Lediglich aus
der Erfahrung sei hier zusammengestellt, inwiefern die Seele in abnormer Weise
den Körper beeinflußt. Zahlreiche seelische Vorgänge sind von Körper-
\eränderungen begleitet, die bald in der Tätigkeit muskulärer Organe, bald
in der Sekretion von Drüsen bestehen. Wenn man hierfür meist die Be-
zeichnung Ausdrucksbewegungen gebraucht, so ist dieses Wort gleich-
sam etwas unvorsichtig gewählt. Denn man schiebt diesem Worte leicht
den Sinn unter, als wenn sich der seelische Vorgang — z. B. die Angst —
in der Bewegung gleichsam ausdrücken wolle. Dieses irgendwie finale
Moment darf man nicht annehmen, und man bedient sich daher besser
des Ausdrucks: Mitbewegungen. Schon der Neugeborene, ja selbst der zu
früh Geborene, hat Mitbewegungen (siehe Canestrini 39), d. h. irgendein
die Sinnesorgane und also die „Seele" treffender Reiz führt Bewegungen
herbei, die denen beim Erwachsenen mit entwickelter „Seele" völlig zu
gleichen scheinen (z. B. eine Veränderung der Blutfülle des Hirns auf
einen schrillen Pfiff). Beim erwachsenen Menschen ist ein großer Teil
dieser Mit- oder Ausdrucksbewegungen dem Willen zugänglich, sei es, daß
sie absichtlich unterdrückt werden können (Vermeiden des „Zusammen-
fahrens" bei starken Geräuschen), sei es, daß man sie mit Vorsatz hervor-
bringen kann (absichtliches Weinen und vor allem die Sprache)^.
Dieser Zusammenhang zwischen seelischem Vorgang und körperlicher
Bewegung (im weitesten Sinne) kann gestört werden. Einmal kann man
bei manchen Psychopathen eine abnorme Labilität der Ausdrucksmecha-
nismen beobachten. Nicht nur ein übermäßiges Erröten oder Erblassen
begleitet ihre Gemütsbewegungen, es kann auch zu Gefäßkrämpfen im Ge-
hirn (Ohnmächten) oder an den Verdauungsorganen (plötzliche reichliche
Durchfälle bei Schreck oder Ärger) ^ kommen. Nicht nur eine „Gänsehaut"^
pflegt dann etwa das Anhören einer gruseligen Erzählung zu begleiten,
sondern es können — zumal bei psychopathischen Kindern — Angstschweiße,
Schreikrämpfe, Zittern u. dgl. erscheinen, der Urin kann unwillkürlich ab-
gehen. Angstvolle Träume können von Schreien oder Aufspringen — während
^ Vgl. zu den Ausdriicksbevvegungen im allgemeinen Tuke (3i6), Raulin (255),
Domrich (5i), Krukenberg (i66), Benussi (i8), Leschke (176). Bickel (24). — Im
französischen „Geschmack" ist das große Werk von Rochas (267 a) verfaßt.
2 Man denke an den Volksausdruck: Der Ärger ist mir auf den Magen geschlagen.
Auch das Stottern gehört hierher.
3 Erregting der kleinsten Muskeln in der Haut.
Ab.NORMK AUSDRUCKSBEWEGU.NGEN 129
der Sclilai fortilauort l)Of?loitot sein (Pavor nootumiis, (lubasch 41a).
Nalürliili kann der KItythmus dos Pulses stark \vo( liselri, der Atem stocken.
Auch die «'lektrischeii \ (>ri;;iii<,'e am Körper (psychogalvaiiisclies Uel'lex-
[)hänonuMi) können stark niitheleiligl sein. Die ex[)erinientelle l*syciiologie
Irdit es sicli ja schon liuv^e angelegen sein, die Ausdrucksi)e\vegungen in
ilirer verschiedenen Bedingtheit e\akt zu untersuchen'. Doch gehören diese
Probleme nicht eigentlich hierher. Bei lang dauernden depressiven Affekten
kann die ganze \ erdauungstätigkeit stark beeinträchtigt werden, wenngleich
man noch nicht mit Sicherheit behaupten kann, (hdj che melancholische
Verstimmung die Trägheit der Verdauung herbeifülirt; mögUchervveise
hängen beide Momente, die Verstimmung und die Verdauungsstörung, von
einer dritten gemeinsamen Ursache ab 2. Daß die häufigen hypochon-
drischen Wahninhalte der MelanchoHschen (die Därme seien verfault, es
gehe nichts durch) mit den \ erdauungsstörungen inhaltlich zusammen-
hängen, ist kaum zu bezweifeln. Auch die vielfältigen hypochondrischen
Ideen der Neurastheniker hängen wohl zum Teil mit wirklich (sekundär)
vorhandenen Alterationen der Bauchorgane zusammen; zum großen Teil
sind sie freilich auch rein vorstellungsmäßig bedingt.
Es ist interessant, daß manche Persönlichkeiten eine besondere Macht
über Körperorgane haben, deren Beeinflussung dem intensivsten Streben
des Normalen nicht gelingt'. Schon oben wurde erwähnt, daß manche
Tausendkünstler es zu Erwerbs zwecken gelernt haben, halbseitig zu schwitzen,
einzelne Muskelteile (z. B. die einzelnen Zacken des M. serratus anterior)
gesondert zu innervieren oder dgl. Aber auch ohne diese Absicht, selbst
ohne verborgene Wunschkomplexe läßt z. B. die lebhafte Vorstellung von
Jodoformgeruch bei einem mit Idiosynkrasie hierfür Behafteten eine heftige
Übelkeit (Nausea) oder etwa ein deutliches Exanthem entstehen (Ncssel-
ausschlag: Urticaria). Und es ist noch merkwürdiger, daß manche hyste-
rischen Persönlichkeiten an umschriebenen Körperstellen solche Verände-
rungen hervorbringen, und zwar an Körperteilen, die nicht etwa einheitlich
von einem einzelnen Nerven versorgt werden, sondern von verschiedenen
Ästen verschiedener Nervenstämme innerviert werden. Sicherlich sind viele
Erzählungen von Märtyrern, die die heiligen Wundmale Christi an sich
trugen, fromme Erfindungen. Aber die Tatsache selbst kann keineswegs
geleugnet werden. Denn wenn es auch wenig Fachleute gibt, die eigent-
liche Stigmatisierte gesehen haben, so sind doch jedem Erfahrenen
Fälle bekannt, in denen z. B. eine starke Anschwellung irgendeines Körper-
teils binnen wenigen Stunden kam und wieder schwand*, und dies viel-
leicht sogar in mehrfachem Rhythmus. Gegenüber solchen umschriebenen
Ödemen aber erscheinen die eigentlichen Stigmata (mit Blutaustritten)
1 über die Mimik der Geistesgestörten gibt es nur wenig Brauchbares. Über das
Lachen der Schizophrenen vgl. Pascal et Nadal (233 c).
2 Vgl. Dreyfuß (52) und Wilmanns (326).
** Über abnorme willkürliche Augen bewegungen siehe Lechner (170) und Levi (176a).
Einen Fall, in dem sicli hysterische Mechanismen und plumpe Schwindeleien mischen
und der in der Mitte des 18. Jahrhimderts großes Aufsehen machte, bespricht Meige (200a).
* Sogenanntes Oedema fugax, angioneurotisches Oedem, Quinckesches Oedem. Siehe
Cassirer (Sg a).
•9 ~ Kafka, Vergleichende Psychologie III.
130 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABIVORMExN
prinzipiell nicht verwunderlicher. Welche Bedeutung solche abnorme
Körperbeeinflussungen in den Heiligenlegenden und in den religiösen Be-
wegungen vergangener Kulturepochen gehabt haben, kann hier nicht aus-
''eführt werden. Hier sei nur nochmals die Merkwürdigkeit aller dieser
Erscheinungen betont, daß eine allerintensivste Einfühlung in eine Vor-
stellung (Kreuzestod Christi) umschriebene körperliche Veränderungen hervor-
bringen kann, zu denen mit Absicht zu gelangen, vielen äußerst „willens-
starken" Menschen mit der größten Energieanspannung niemals glückt.
Am bekanntesten ist die Erzählung von der Erscheinung der Wundmale Christi am
heiligen Franz. Freilich wurden sie anscheinend erst nach dem Tode des Heiligen
gefunden. Wenigstens bericiitet Jakob von Vitry (Sermones ad fratres minores, heraus-
gegeben von Hilarinus Felder, Rom, igoS) et ita expresse sequutus est
Crucifixum, quod in morte eius in pedibus, manibus et latere vestigia vulnerum
Christi apparuerunt. (Greven [gA]) ^. Anders Hampe (102 a).
Auf tlie Pathologie der menschlichen Stimme (Phonation) und der Hand-
schrift^ soll hier nicht näher eingegangen werden. Auch gehören die
körperlichen Begleiterscheinungen der großen Psychosen in die Psychiatrie.
Der sogenannten Ausschaltungen wurde schon oben (S. 101) gedacht.
Manche Mitbewegungen werden in der menschlichen Entwicklung zu
Ausdrucksbewegungen im engeren Sinn, d. h. der innerlich „Bewegte" hat
die .Absicht, sich auch äußerlich zu bewegen; er findet ein Gefühl der
Befriedigung in der Bewegung, sei es in der Geste, sei es in der Sprache.
Jemand fühlt sich gedrängt, seinen Schmerz hinauszuschreien : „ich konnte
es nicht mehr für mich behalten, es mußte raus", „ich hätte es in alle
Welt schreien können", „ich mußte meinem Ärger Luft machen", „ich
mußte meine Unruhe austoben" — alle solche Aussprüche weisen darauf hin,
daß mancherlei Affekte den Abfluß ins Motorische suchen, daß eine wie
auch immer geartete Gefühlsstauung den Ausweg in die Bewegung sucht
(Luftsprung vor Freude). Solche „Entladungen" können nun leicht abnorme
Formen annehmen^. Man denke an das aufgeregte Gebaren der unruhig
Erregten, an das Zerschmettern eines Gegenstandes durch den Jähzornigen,
und man gelangt auf dieser Stufenleiter bald zu jenem hysterischen Wut-
ausbruch, in dem der Verbrecher alles in seiner Zelle zusammenschlägt.
Nach einem solchen „Tobsuchtsanfall" ist der Erschöpfte dann oft tief
befriedigt: nun hat er Buhe. Das berüchtigte „heute muß noch einer hin
sein" des pathologisch Berauschten gehört auch mit hierher, und vielleicht
besteht auch mit dem Amoklaufen eine gewisse Verwandtschaft. Endlich
sei in diesem Zusammenhang auch der „Fugrue"zustände gedacht, jenes
impulsiven Wandertriebes, epileptoider Psychopathen, durch den sie irgend-
wohin laufen, stundenlang, ziellos, zwecklos, aus einem unbestimmten Trieb
ins Weite („nur fort, nix wie fort"), bis sie irgendwo erschöpft zusammen-
* Vgl. auch Beßmer (28), Alrutz (4 a), Imbert (i45 a), Warlomont (822 b). — Über
eine moderne Stigmatisierte (Gemma Galgani) siehe Ludwig (ig2).
2 Vgl. dazu Klages (i5i), Lomer (188). Die Schriftstörungen der eigentlichen
Geisteskranken liegen außerhalb dieses Rahmens.
3 Vgl. Frank (78).
AIIUKAKTIONEN 131
sinken und oft nach niehrstündigem Schlaf zerschlagen, hungrig, ««lend und
erstaunt erwachen ^
Niclit innner ist es direkt die motorische Betätigung, die die iirlcichte-
rung gi'währt: oil ist es nur der Drang aus dem Gewohnten heraus, die
Sucht nach etwas Neuem, nach einer Veränderung, einem starken Eindruck,
selbst wenn er an sich unangenehm ist.
So erinnere ich mich eines Knaben, der aus jedem kleinen Lebenskonflikt den
gleiclien Ausweg fand: er löste sich eine Fahrkarle (zuweilen mit zu Hause gestohlenem
Geld) nach irgendeiner fernen Station, z. B. in Pforzheim nach München. Kam er
dort nach sechsstündiger Falirt an, so war eigonüich alles schon vorbei und abreagiert:
or stand dann noch etwas in der ßalmhofsgegend herum und telegraphierte dann sogleich
nach Hause, man solle ihn doch um Gottes willen gleich wie<ler abholen.
Und in diesem Zusammenhang sei auch der Sucht mancher Kinder
gedacht, gelegentlich Ungezogenheiten, Streiche usw. förmlich selbstquälerisch
zu häufen in Erwartung und Ersehnung des großen Strafgerichts: — war
dann die Tracht Prügel da, so war wieder alles geordnet und alle Unlust
vorbei*.
Man hat die Theorie aufgestellt, daß jeder große hysterische Anfall eine
solche „Reinigung" von einer unlustvollen Spannung sei, und für einen
Teil der Anfälle trifft dies wohl auch zu. Für einen noch kleineren Teil
der Anfälle kann man auch der noch engeren Theorie zustimmen, daß der
motorische Anfall ein Symbol für den Geschlechtsakt sei: daß die gerade
unerfüllbare Sehnsucht nach Sexualbefriedigung in den Zuckungen und den
„attäudes passionelles" des Krampfes ihr Äquivalent findet. .\ber in sehr
vielen Fällen hat meiner Meinung nach der hysterische Anfall mit SexucJität
auch im vielfach determinierten Symbolsinne nichts zu tun.
Die Erfahrung ergibt, daß jene Persönlichkeiten, die sich gern ins Moto-
rische entladen, und besonders jene, die bei Unlustal'fekten große psychogene
Anfälle bekommen, in der Mehrzahl energische, robuste, ja brutale Charaktere
sind, besonders unter den Männern. Aber auch die Frauen, die an hyste-
rischen AnfäUen (im Sinne des eigentlichen grand mal) „leiden", haben
meist einen Zug von Aktivität, Impulsreichtum, Spontaneität. Die Bezie-
hungen vom Charakter zum Ausdruck und insbesondere vom abnormen
Charakter zum abnormen Ausdruck sind — abgesehen von der Graphologie —
noch so gut wie nicht untersucht worden. Die Geschichte überliefert auch
von mancher bedeutenden Persönlichkeit, daß sie ab und zu, besonders
nach stärksten seelischen Erschütterungen große Anfälle gehabt, d. h. die
rein seelische Unlösbarkeit schwieriger Konflikte in das Motorische ab-
reagiert habe (sich in den Anfall „geflüchtet" habe). Daraus ist dann
nicht so selten die Sage entstanden, sie sei Epileptiker. Prüft man je-
doch diese Quellen nach, so ergibt sich z. B. von Paulus, daß seine Epi-
lepsie höchst zweifelhaft ist (Seeligmüller 288), und auch von Napoleon
kann man mit großer Bestimmtheit aussagen, daß er nicht an Epilepsie
litt. Ich lasse die Hauptstelle der letzeren Überlieferung hier folgen:
1 Vgl. dazu Benon et Froissart (i6a) und Stiers umfangreiche Arbeit (3o6).
Auch die Dipsomanie (das Quartalssaufen) gehört zum Teil hierher. Vgl. Gaupp (85 a)
lind Pappenheim (aSS a).
2 Strindberg z. B. erzählt auch von sich diesen Zug.
9«
132 GRUHLE: PSYCHOLOGIE DES ABNORMEN
,,Lc jour meme de son depart de Strasbourg, j'avais dine avec lui; en sortant
do table il elail ontre seul chcz rimperatrice Josephine; au beut de quelques minutes
il en sortit brusquement; j'etais dans le salon, il mo prit par le bras et m'amena
dans sa chambre; M. de Remusat, premier chambellan, qui avait quelques ordres
ä lui demander, et qui craignail qu'il ne partit sans les lui donner, y antra en m^me
temps. A peine y etions nous, que l'empvereur tomba par terre; il n'eut que Ic temps
de me dire de fermer la porte. Je lui arracliais sa cravale parce qu'il avait l'air
d'elouffer; il nc vomissait point, il gemissait et bavait. M. de Romusat lui donnait
de l'eau, je l'inondais d'eau de Cologne. II avait des especes de convulsions qui
cessörent au bout dun quart d'hcure; nous le rnimes sur un fauteuil ; il commen^a
ä t>arler, se rhabüla, nous recommanda le secret et une demi heure apres, il etait sur
le cbemin de Karlsruhe. En arrivant ä Stuttgart, il m'ecrivit pour me donner de
scs nouvelles; sa lettre finissait par ces mots: ,Je me porte bien.'"
(Talleyrand, Memoires vol. I. pag. 295/96.)
Es ist begreiflich, daß die Unmöglichkeit einer Abreaktion öfter zu
peinlichen Verstimmungen, Ausnahmezuständen, ja zu leichten Situations-
psychosen Veranlassung gibt. Oben ist deren bei der Gefängnis- und
Stacheldrahtpsychose schon einmal gedacht worden. Aber es wurde auch
bei den Heimwehverstimmungen schon erwähnt, daß diese gemütlichen Ab-
normitäten oft nach ganz seltsamen „Lösungen" drängen, Mord, Brand-
stiftung usw. Und gerade die Brandstiftung ist zuweilen auch bei Erwach-
senen (Psychopathen) eine seltsame Lösung innerer unerträglicher Spannungen
(Bychowski 37). Manche Persönlichkeiten finden glücklicherweise harm-
losere Mittel der Abreaktion: Die Kunst gibt ihnen die Form ihres Aus-
drucks. Und bei künstlerisch Untalentierten ist es oft die Freude am
Überschwang, an der Phrase, in der sie Genüge finden:
„So wie der Wind mit welken Blättern spielet, so spielet das Leben mit Menschen-
schicksalen. Herbst ist es geworden, das große Sterben zieht ins Tal. Alles Getier
scheint verschwunden zu sein, nur den Zaunkönig hört man, des Winters unentwegter
Gesangsmeister. Eintönig und grau vergeht der Tag. Gleich Zyklopenmauem türmt
sich bald die Nacht empor. Schon oft lag ich wach und schaute in die Nacht. Zwischen
Wolkenfetzen sendet der Mond sein fahles Licht. Die Sterne rieseln weich und weiß
am Himmel. Und wirbelnde Gedanken in der Seele. Sinnlos hör' mein lautes Blut
ich singen. Von fem erklingt eine Glocke dumpf wie kranker Herzen Stöhnen.
Und ist der Ton auch längst verhallt, mir tönt er immer noch im Herzen nach-
Da überkommt mich dann ein leises Grauen. Gerade wie als Kind mich oft befiel
ein leises Zagen im dunklen Wald. Es weinet die Seele und klaget um dich."
(Ernst Linde, Brief an seine Frau, Psychiatr. Klinik, Heidelberg.)
Es ist selbstverständlich, daß auch der Selbstmord nicht selten nur
ein Abfluß ins Motorische ist; in die Tat. Sicherlich gibt es Fälle, in
denen eine besondere Verwicklung objektiver Umstände auch dem Nor-
malen den Selbstmord als die einzig mögliche Lösung erscheinen läßt;
sicherlich bestimmen gelegentlich auch einzelne krankhafte Ideen einen
Kranken zum Selbstmord. In der Mehrzahl der FäUe werden es aber
abnorme Gemütsverstimmungen sein, Schwermutsanfälle u. dgl., die den
Tod als das einzig noch Wünschenswerte erscheinen lassen: Beendigung
einer unerträglich gewordenen Situation ^. Besondere Gefahr bringen die
Verstimmungen der Pubertätszeit 2.
1 Vgl. Placzek (247). Reboul (256), Stelzner (3o5), Gaupp (85).
2 Redlich-Lazar (267), Eulenburg (Sg).
SELBSTMORD. ANFÄLLE 133
Eii» hinleilasbfiiiT Brief von 1-8(3 koimfeiclinPt in seiner Scliiidilheit gut die
Ivtzto Sliiiuimag eines Selbstmörders (aus Dieff(jnl)acli L. F. — (jraf Franz zu Krbacli
- E.. Darnistadl, 1879):
,,Wenn Du dieses erhaltest, bin ich nicht mehr. — Die Well isl mir zu enge.
Widerwärtigkeiten, die ich von Jugend auf zu ertraget! hatte, und die ich mit zu-
nehmenden Jahren immer lebhafter zu füiiien anfange, lassen mich den Tod als das
glücklichste Ereignis meines Lebens ansehen. Gott erbarme sich meiner."
Es ist nicht eigentlich Aulgabe der Psychoj)athologie, jener Störungen
des Seelenlebens ausführlicher zu gedenken, die durch .\lterationen der
Körpenorgänge oder schließlich der Gehirnfunktionen gesetzt werden.
Krankhafte Veränderungen des inneren Körperstoffvvechsels, äufiere Ver-
giftungen, Veränderungen des Blutkreislaufes im Gehirn, ferner direkte
Schädigungen der Gehirnsubstiinz (Entzündungen, traumatische Zerstörungen
usw.) sind selir häufig mit den verschiedensten seelischen Alterationen ver-
bunden. Dabei gelingt es in vielen Fällen, deren Ursachen in den Körper-
iunktionen einwandfrei nachzuweisen. In vielen anderen Fällen liingegen
bleibt die Vermutung, eine Körperstörung verursache die Seelenstörung,
eine nicht erweisbare Theorie^. Gerade das Fehlen seelischer „Ursachen"
(d. h. im oben erörterten Sinne seehscher Sinnzusammenhänge) veranlaßt
in solchen Fällen den Forscher, „wenigstens" nach den hypothetischen
körperlichen Ursachen zu suchen. Dabei wird er sich meist der Schiefheit
seiner methodischen Stellung nicht recht klar. Beide „Richtungen" des
Suchens sind ganz verschieden orientiert. In jedem Falle einer seelischen
Störung muß der Psychologe nach den Sinnzusammenhängen forschen; er
muß, wenn es ihm vielleicht auch nicht gehngt, das „Auseinanderhervor-
gehen" zu ergründen, zum mindesten den Versuch unternehmen, die Form,
in der sich die Störung seeUsch äußert, aus der Persönüchkeit abzuleiten. Der
Forscher muß — um einen anders gewendeten Ausdruck zu gebrauchen —
sich stets um die Einfühlung bemühen. FreiUch kommt er dabei in
vielen Einzelfällen sehr bald an jene Grenze der Einfühlbarkeit, von der
oben gesprochen worden ist. Der Seelenarzt, der Menschenkenner, der
Pädagoge muß sich dieser Einfühlung gleichermaßen befleißigen. Der erstere
freilich hat dazu noch eine weitere Aufgabe: er muß stets auch in jener
anderen Richtung nach den körperlichen Ursachen einer seelischen Störung
fahnden. Dies darzulegen ist jedoch Aufgabe der Psychiatrie. Für den
Psychologen sei hier nur noch einmal deutlich jene Tatsache hen orgehoben,
daß sich für manche seelische abnorme Erscheinungen ein sinnvoller Grund
nicht finden läßt. Er läßt sich aber nicht darum nicht finden, weil es
dem Suchenden an Geschicklichkeit oder Kenntnissen fehlt, sondern weil
er grundsätzlich nicht gefunden werden kann. Genau so wie das große
Übel des Epileptikers, das grand mal des Morbus sacer, ohne Motive ur-
plötzlich über des Kranken Körper hereinbricht — die Hand des Herrn
schlägt ihn — , genau so gibt es seelische Zustände, die motivlos im
Menschen entstehen. Es sind nicht nur die sog. epileptischen (seelischen)
Äquivalente, sondern es sind auch andere Gemütsverstimmungen, Erregungs-
zustände u. dgl,, die grundlos in der pathologischen Persönlichkeit wurzeln.
1 Ich gehe hier selbstverständlich den allgemeinen Theorien über den Zusammen-
hang von Leib tind Seele bewußt aus dem Wege.
ABNORMITÄT DER SEELISCHEN ENTWICKLUNG
Nur wenige Worte seien hier den' Problemen gewidmet, die von der
abnormen Entwicklung der menschlichen Seele handeln. Dabei ist nur die
Ontogenese, die Reifung des einzelnen Individuums gemeint, denn nach
den obigen Ausführungen über den Begriff des Abnormen kann von einer
abnormen Phylogenese prinzipiell nicht gesprochen werden. Hierzu fehlt
jeder Maßstab. Aber auch die abnorme Reifung ist eigentlich mehr ein
Thema der pädagogischen Psychologie (Heilpädagog^) einerseits, der Psychia-
trie anderseits. Es ist auch mehr von praktischem, als theoretischem In-
teresse, zu erörtern, inwieweit das Tempo einer kindlichen Entwicklung
abnorm werden kann. Einerseits findet man eine frühzeitige Reifung im
Sinne des Vorausgehens bestimmter Anlagen \ So gibt es eine Anzahl
wohl beschriebener Fälle, in denen die mathematische Begabung sich schon
auf sehr frühen Stufen der Kindheit offenbarte-. Und die musikalische
Begabung zeigt sich ja ebenfalls oft schon sehr zeitig: die Wunderkinder
haben zwar zu allen Zeiten das Staunen und die Teilnahme eines größeren
Publikums erweckt, sind jedoch erst in neuester Zeit auch genaueren psycho-
logischen Analysen unterworfen worden ^.
Der Bildhauer Joseph Kopf benutzte schon als Sechsjähriger die Hauswand zu
Zeichnungen, und die Ziegelmasse in der Ziegelei des Vaters für Plastiken. Der
Tiroler Landschaftsmaler Anton Koch hat als Ziegenhütejunge hoch oben im Ge-
birge die Felswände mit Zeichnungen bedeckt, die (mittels Kohle vom Hcrdfcuer)
Landschaften und Geschichten, besonders aus der Offenbarung Johannis, wiedergal>eo .
Möbius vermag (204) 24 bildende Künstler von Rang zusammenzu-
stellen, die schon in früher Jugend ihr Talent offenbarten und betätigten.
^ on Dichtern bringt er unter dem gleichen Gesichtspunkt nur 5 zusammen.
A. Baeyer entdeckte im 1 2. Lebensjalu- ein neues Doppelsalz, das erst 4 Jahre
später von Struve beschrieben wurde.
Häufig sind solche Wunderkinder nicht nur in ihrer Entwicklung un-
ausgeglichen, sondern diese Unausgeglichenheit ist nur ein Symptom in
einer Kette solcher Symptome psychopathischer Art. Aber gelegentUch
kommt es auch in frühen Entwicklungsstadien zu einer Reife und Tiefe
1 Körperliche und geistige Reifung können auch stark divergieren. Siehe z. B. den
Fall Lenhosseks (i74).
2 Siehe z. B. Moebius (2o5). — Über Schach Wunderkinder: Becker (lob). Bauni-
garten (loa).
* Vgl. z. B. Revesz (203) und die dort angeführte Literatur, und Riebet (266),
auch Feis (6i), Stumpf (3 12 a). Besonders die phänomenalen Gedächtnisse sind
auch hinsichtlich ihrer frülizeitigen Offenbarung schon seit langem beachtet worden
In dem Buche von Offner (232), S. 200 ff., und den drei Bänden G. E.
Müllers (2i5) finden sich mancherlei Hinweise. Einen interessanten Beitrag über
das Wunderkind Christian Henrich Heineken (geb. 172 1) bringen die ..Interessanten
Lebensgemälde", von Samuel Baur I. Leipzig. Voß & Co., i8o3.
ABiNOllMITAT DER SEELlSGUEiN ENTWICKLUNG 135
des Lirteils, einer Weite der Interessen und einem Ernst in allen Betätigungen,
daß man nicht von der Überentwicklung einzelner Gaben reden kann,
sondern oino allseitige geniale Entwicklung annehmen muli. .Vis wichtigstes
Dokument hierfür dienen die nachgelassenen Schriften eines Frühvollendeten,
Otto Braun (32).
Andererseits bleiben manche Kinder in der Entwicklung in der ver-
schiedensten Weise zurück, sei es, daß einzelne „Gebiete" sich als nicht
recht anbaufähig erweisen, sei es, daß bestimmte Anlagen sich in dem
Augenblick als zurückgeblieben herausstellen, sobald der Unterricht zum
ersten Mal an sie appelliert (etwa das optisclie Vorstellungsvermögen in
der Geometrie), sei es, daß alle geistigen Funktionen schwierig großzu-
ziehen sind. Die Pädag<^^ hat sich ja in ihren besonderen Zweigen der
Hilfsschul- und Heilpädagogik höchst ausführlich, wenn auch in ihrer Ein-
stellung etwas einseitig mit diesen Problemen beschäftigt. Hier sei von der
außerordentlich großen, speziellen, allerdings meist mehr populären Lite-
ratur nur einiger zusammenfassender Werke und der 6 Zeitschriften gedachte
Daß manche geistig Zurückgebhebene dennoch in einzelnen Gebieten
Hervorragendes leisten können, w urde schon oben erwähnt. Besonders das
Rechnen- und Gedächtnis 3, aber auch das Zeichnen können trotz erheb-
licher Debilität vorzüglich sein.
Endlich -sei bei der Frage des abnormen Tempos in der seeüschen
Ent\vicklung noch jener Persönlichkeiten gedacht, bei denen die Ent-
Nvicklungsjahre besonders stürmisch oder konfliktreich verlaufen. Über
diese Probleme liegen noch keine Arbeiten vor, die wissenschaftUch auf
einem höheren Niveau stehen. In der populären Literatur, aus der deshalb
hier einiges genannt werden muß, findet man zwar mancherlei feine Einzel-
beobachtungen aber kaum mehr, und nur der Zusammenhang der Ver-
wahrlosung mit den Pubertätsjahren ist eingehender untersucht worden.*
1 Weypandl (32^), Handbuch (Sao), Heller (107), Fuchs (83).
Zeitschrift für Kinderforschung, Langensalza, Beyer, 1920, 2 5. Jahrgang.
Zeitschrift für pädagogische Psychologie und experimentelle Pädagogik. Quelle
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Eos. Graeser, Wien-Leipzig. 191 7. i3. Jahrgang.
Die Hilfsschule, Halle, Marhold. 1920. i3. Jahrgang.
Zeitschrift für angewandte Psychologie. Leipzig, Barth, 1920. 17. Jahrgang.
Zeit<ichrifl für die Behandlung Schwachsinniger. Halle, Marhold. 1920. io. Jahr-
gang-.
Zeitschrift für die Erforschung und Behandlung des jugendlichen Schwachsinns.
Jona, Fischer, 1920. 8. Band.
" Wizel (327)..
3 Van der Kolk (lag) mit Literaturangaben.
* Vgl. hierzu Grüble (98), femer Pappenheim-Groß (233) und sonst allenfalls die
kleine populäre Sammlung von Eger, Die Entwicklungsjahre (67).
(Während der Korrekturen erschien soeben die sehr b^chtenswerte Arbeit von Charlotte
Bühler. Das Seelenleben des Jugendlichen. Jena. Fischer, 1922.)
LITERATURVERZEICHNIS'
Es ist nicht leicht, aus der Fülle der psychologischen und psychiatrischen
Literatur diejenigen psychopathologischen Arbeiten herauszusuchen, die
dem Psychologen die in diesem Grenzgebiet gesuchten Materialien und
(jesichtsp unkte vermitteln. Ich habe von den älteren Werken nur jene
angeführt, die besonders wichtig erscheinen oder die mit Unrecht allgemein
\ergessen worden sind. Im übrigen beschränkte ich mich auf neuere
.\rbeiten, die die ältere Literatur gut kennen und auch zitieren. Mancher
kritische Leser wird dieses oder jenes vermissen, doch wird mir, glaube
ich, nicht viel Wesenthches entgangen sein^. Wenn ich mancherlei weg-
ließ, so schien mir dies mehr in das Gebiet der reinen Psychologie, reinen
Psychiatrie oder Pädagogik zu gehören. Auch hielt ich mich streng an
das Programm dieses Handbuchs. Sexualpsychologie, Kriminalpsychologie
usw. haben ihre eigenen Bearbeiter.
Von Gesamtdarstellungen der Psychopathologie gab es bisher
eigentlich nur die zwei Arbeiten von Stoerring (310) und Jaspers (143).
Die geringe Befriedigung, die das veraltete Störringsche Buch gewährte',
und das Fehlen einer modernen Darstellung waren wohl die Motive zu
Jaspers' Buch gewesen, das die gesamten psychopathologischen Probleme
von einer gänzUch neuen, vor allem methodologischen Seite aufgriff.
Gerade in diesem Gesichtspunkt liegt seine Hauptstärke. Aus dem Versuch,
in die Fülle angehäufter Beobachtungen einmal klare Ordnung zu bringen,
spricht der energische Forscherwille einer mit allen modernen Problemen
vertrauten Persönlichkeit. Aber es wäre gut, wenn wir heute nicht eine,
sondern vier, fünf Psychopathologien besäßen. Die mannigfach ver-
schlungenen Fragen des abnormen Seelenlebens haben nicht eine be-
friedigende Antwort, sie lassen sich recht verschieden behandeln. Es gilt
mehr, die einzelnen Probleme aufzuzeigen und von allen Seiten zu beleuchten,
als sie eindeutig zu lösen.
Wünscht ein Leser tiefer in das Gebiet der eigentlichen Psychiatrie
einzudringen, so sei ihm das Lehrbuch von Bleuler empfohlen (27). Hinter
ihm steht die grosse Kraepelinsche Psychiatrie (161a).
Über die wichtigsten bisher erschienenen Pathographien gibt ein
Anhang zum Literaturverzeichnis Auskunft.
^ Für mancherlei wertvolle Hinweise bin ich den Herren Professoren Dr. G.
Steiner, Dr. A. Wetzel und Herrn Dr. Mayer-Groß dankbar.
2 Die ausländische Literatur seit igi4 fehlte mir allerdings größtenteils. — Auf
die Frage der Priorität eines Gedankens habe ich niemals Wert gelegt. Ich habe
hierfür keiti Verständnis. Insbesondere sei gegenüber Stransky betont, daß er sicher
viele der hier mitgeteilten Ideen zuerst gehabt haben mag.
3 Das noch ältere Emminghaussche Werk (58) hat nur noch historisches Interesse.
— Inwieweit die üblichen Methoden der experimentellen Psychologie auch auf dag
Gebiet des Abnormen angewendet werden können, stellt Gregor (92 a) zusammen.
LITERATURVERZEICHNIS 137
Über mancherlei Beziehungen al)nornier (icistesverfassung zur Kunst
YNird ein demnächst erscheinendes liuch vi)n Hans Prinzhorn orientieren.
Zalilreiche interessante Dokumente zur I*sycho[)athologie stellt Birn-
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Die Pathographien, die es sich zur Aufgabe machen, die Persönlichkeit be-
deutender Menschen auf abnorme Züge zu untersuchen, sind hier gesondert
aufgeführt. So wenig die meisten unter ihnen befriedigen — die Verfasser,
besonders Moebius, hüten sich selten vor den ungeniertesten Werturteilen — ,
hielt ich es doch für empfehlenswert, als Material für den psychologischen
Forscher alles zusammenzustellen, was ich fand.
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(dort auch weitere Literatur zu diesem Problem).
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1908 (nicht selbst eingesehen).
Nach Abschluß der Revision erschien :
370. Schneider, Kurt, Der Dichter und der Psychopathologe. Mit einem Literatur-
nachweis, Köln, Rheinlandverlag, 1922.
KRIMINALPSYCHOLOGIE
VON
M. H. aÖRING
lOa
EINLKITUNG
Die Kriminal Psychologie kann man zurückverfolgen bis zum B^un
tle^ iS. Jahrhunderts (i34, l\2S). Feuerbach hat ihren Wert schon
erkannt (SSg), doch versuchte er noch nicht, sie systematisch zu ver-
arbeiten. Den Hauptaufschwung nahm sie durch den Grazer Straf-
rechtslehrer Hans Groß, der in seinen Arbeiten und in dem von ihm
herausgegebenen Archiv inuner wieder auf ihre Wichtigkeit hinwies, und
die Literatur und seine eigenen Erfahrungen schließlich in seinem Werke
„Kriminalpsychologie'" verarbeitete (i3/i).
Das Wort Kriminalpsychologie hat verschiedene Bedeutung. Die einen
verstehen unter ilir nur die Lehre von dem Seelenleben des Verbrechers
und behandeln sie als Unterabteilung der Kriminalanthropologie (io4,
383). Andere fassen das Gebiet viel weiter und rechnen dahin ,,alle
Lehren der Psychologie, welche der Kriminalist bei seiner Arbeit not-
wendig hat" (i33, 399). So kommt Groß dazu, die Kriminalpsychologie
in einem vorläufigen Schema der Kriminologie (i33) an drei ver-
schiedenen Stellen zu benennen ; wir finden die objektive Kriminal-
psychologie unter der Kiiminalanthropologie, die soziale unter der
Kriminalsoziologie und die subjektive unter der Kriminalphänomenologie;
außerdem enthalten die Untersuchungskunde und der zweite Teil der
Kriminalpolitik, die Pönologie, ungenannt noch Abschnitte der Kriminal-
psychologie. Nach Schneickert (423) müßte dem heutigen Bedürfnis
entsprechend ein vollständiges System der Kriminalpsychologie folgende
Gebiete umfassen: die Psychologie der Aussage, des Verbrechers, des
Verbrechens und der Urteilsfindung.
Im Rahmen eines Handbuches der vergleichenden Psychologie erscheint
es nicht zweckmäßig, in dem Band, der von dem abnormen Bewußtsein
handelt, die Psychologie des Richters imd des Zeugen aufzunehmen;
sie wird daher nur so weit berührt werden, als sie in Beziehimg* steht
zur Psychologie des Verbrechers.
Bevor wir auf unser Thema eingehen, müssen kurz die Mittel be-
sprochen werden, die uns befähigen, die Psyche des Verbrechers kennen-
zulernen.
Als erstes kommt die Verwertung der philosophisch gerichteten Psycho-
logie in Betracht. Es hat sich aber, besonders auf dem XII. Kongreß
der J. K. V., gezeigt, daß seitens der Juristen der Wert dieser Psychologie
für Juristen nicht hoch angeschlagen wird. Auf dem genannten Kongreß
haben sich besonders van Hamel jim. und Hoff ding (336) ihr gegen-
über durchaus ablehnend verhalten. Mezger (336) will lediglich das
induktiv gesammelte Material zu wissenschaftlicher Betrachtungsweise,
zur Gewinnung allgemeiner Typen und Gesetze heranziehen; dagegen
glaubt er, von der theoretischen Psychologie keine wesentlichen Vorteile
lOa*
156 GORIJNG : KRIMINALPSYCHQLOGIE
erhoffen zu dürfen. Damit ist natürlich nicht gesagt, daß man diese
gänzlich unberücLsichtigt lassen soll. Aschaffenburg (i5), Hellwig (17/4)
und Münsterberg (35/i) haben recht, wenn sie behaupten, daß die philo-
sophisch gerichtete Psychologie durch die Erfahrungspsychologie nicht
ersetzt werden könne, imd Otto Lipmann (298) meint, die theoretische
Psychologie müsse erörtert werden, um die angewandte verstehen zu
können.
Ein heftiger Kampf entbrannte um die Frage nach der Brauchbarkeit
der Statistik. Von Aschaffenburg (ili), Wulffen (5o2) u. a. wurde sie
in ausgiebigster Weise benutzt, Ijcsonders zur Feststellung des sozialen
Einflusses. Der eifrigste Verfechter für ihre Verwendung ist Greorg
V. Mayr (33o). Ihm ist Hoegel entgegengetreten (.201, 202); er weist
auf die Fehlerquellen hin, ohne damit die Kriminalstatistik ganz und
gar zu vei'werfen, ein Standpunkt, den auch Hurwicz (282) einninunt.
Zweifellos kann die Statistik der Kriminalpsychologie große Dienste»
leisten: mu- darf man nicht zu viel von ihr verlangen. Einmal darf
man nicht vergessen, daß sich viele Tausende der Bestrafung und somit
auch der Statistik entziehen (i85), und zweitens kann, me Wassermann
treffend sagt (485), idie Kriminalstatistik nur eine Wissenschaft sein,
die die Wirklichkeit schildert, wie sie ist; sie kann im besten Fall
ein Bild von Partialiu-sachen geben, aber nie ein vollständiges Bild des
Ablaufs.
Unter Berücksichtigung der genannten Einschränkung wird man die
Kriminal Psychologie immer weiter ausbauen müssen. Leider ist die
Anregimg Hellwigs (166) zu einer Statistik der Beweggründe, die auch
V. Mayr empfiehlt (33o), während v. Inama-Sternegg sie für midurch-
führbar hält (234), noch nicht auf fruchtbaren Boden gefallen. Natürlich
könnte es sich bei dieser Statistik nur um eine Erfassung konkreter
Motive, nicht um eine statistische Eigenart der Individualität des Täters
handeln (23i).
In erster Linie muß sich die Kriminalpsychologie der Biologie als
Hilfswi^enschaft bedienen, worauf schon Kafka in der Einleitung hin-
gewiesen hat. Dieses ist mu- möglich durch gründliche Bearbeitung
von Einzelfällen. Schon vor fast 200 Jahren haben Pitaval (38o) und
etwas später Feuerbach (87) Schilderungen von Einzelfällen gegeben;
sie hielten sich aber mehr an das juristisch Interessante. Erst in neuerer
2^it, nachdem man erkannt hatte, daß die Statistik nicht alle Wünsche
erfüllen konnte, wandte man sich wieder der Bearbeitung der Einzelfälle
zu (243); vor allem haben Sommer (448) und in jüngster Zeit Grüble
und Wetzel einen besonderen Wert auf die Bearbeitung des Einzelfalles
gelegt (149. 147, 493); von Münsterberg wird sie für die gesamte
Psydiotechnik verlangt (354). Dabei handelt es sich aber nicht so sehr
um eine Beschreibung der Tat und der für den Juristen wichtigen
Umstände zum Ergreifen des Täters, sondern um eine exakte Beschreibung
des einzelnen psychischen Vorgangs im Verbrecher und der kriminogenen
Würdigui^ des psychischen Einzelvorgangs, woraus nach Mezgers Ansicht
(337 a) die Kriminalpsydiologie den größten Vorteil f iehen wird. In
dieser Hinsicht könnte die Psychiatrie für die Kriminal psychologie vor-
KIM.mi \(. 157
bildlich sein (5i7). Sonuner (449) vcrlangU' auf dem VII. IiiUirnationaleii
Kongreß für Kriminalpsychologie die Übertragung der MeÜiodik der
empirischen Psychologie luid Psychiatrie auf <lie Kriminalpsychologie.
Es sollen die Motive, die Denkweise, die Art des Zusamineidebens und
der Organisation sowie die Ursachen der Verbn^Jicn auf analytischer
Grundlage metliotüsch erforscht werden (448). Sommer sowohl wie
Aschaffenburg (i5) empfehlen die Schaffung kriminalpsychologischer
Kliniken.
Die neu»»ste Phase, in der wir uns befinden, ist die BearIxMtung einzelner
Verbrechen in größerer Menge (243); es handelt sich hier also um
eine Verquickung von Statistik und Einzelbearbeitungen, um eine Indi-
vidualstatistik. Auf Grund der Arbeiten von Passow (874) und Wasser-
mann (485) hält Wetzel (494) die Bearbeitung der Einzelfälle aus den
beiden folgenden Gründen für wichtig: einmal sollen sie als Masse
zur Aufdeckung allgemeiner Ursachen verhelfen und zweitens der Auf-
stellung psychologischer imd psychopathologischer Zusammenhänge beim
Zustandekommen eines Deliktes dienen; dabei kann dargetan werden,
wie die statistisch erfaßten Ursachen bei dem Individuum wirksam ge-
worden sind. Diese äußerst nutzbringende Verbindung zwischen Einzel-
forschmig und Statistik war früher schon von Groß angeregt worden
(^39). .
Mit dieser Hervorhebung der Einzelforschung soll natürlich nicht gesagt
sein, daß sie auf die ganze Allta^kriminalität angewandt werden muß.
Wetzel selbst erklärt (494), daß bei der landläufigen Kriminalität die
statistische Methode ausreichen würde, weil es hier gelingen würde, die
ursächliche Bedeutung statistisch erfaßter allgemeiner Beziehungen zu
prüfen, ohne das Einzeldelikt des einzelnen Täters zu zergliedern.
I. DER.VERBEECHER IN SEINER ENTWICKLUNGSZEIT
Schon bei Besprechung der Statistik als Hilfsmittel der Kriminal-
psychologie wurde darauf hingewiesen, daß es kaum einen Fall gibt,
in dem nur eine einzige Ursache wirkt. So stellt auch die soziale Straf-
rechtsschule das Verbrechen als gesetzmäßiges Resultat individueller und
sozialer Faktoren hin (227), und Irk (235) nennt die Kriminalität
eine zusammengesetzte Erscheinung, das Ergebnis biologischer, sozialer
vuid physikalischer Komponenten. Auf letztere wird nur kurz einge-
gangen, da sie, wie wir sehen werden, am unwichtigsten ist. Wir werden
mit der Besprechung der endogenen Komponente beginnen.
A. DER EINFLUSS DER VERANLAGUNG
I. Der Einfluß der Rasse
Die Untersuchungen über die Rasse als Kriminalitätsfaktor sind
schwierig, da weder Sprache noch Staatsgebilde für die Abgrenzung
einer Rasse ausschlaggebend sind und vielfach eine Mischung der Rasse
stattgefimden hat (447). Auch steht die Bearbeitung von Einzelfällen
und deren Vergleichen sov\de die experimentelle Untersuchung der Rassen
noch ganz im Anfangstadiiun (354)- Außerdem muß man inouner
daran denken, ob es gerade die Rasse ist, die gewisse Eigenschaften
hervorbringt, oder ob nicht vielleicht das Klima, die Ernährung u. a.
auch einen wichtigen Faktor darstellen (283). Während Kovalevsky (270)
die Rasse kaum berücksichtigt, hebt Rüdin (409) ihren Einfluß besonders
hervor. Es gibt allerdings Landstriche, in denen unter annähernd gleichen
Lebensbedingungen Angehörige verschiedener Rassen nebeneinander leben,
z. B. Arier, Mongolen, Neger und Indianer in den Vereinigten Staaten
von Nordamerika; ihre Kjiminalität ist auch schon verglichen worden;
die Arbeiten beruhen aber lediglich auf der Statistik. Fehlinger hat ge-
funden (82), daß die Kriminalität bei den Negern viel größer ist als
bei den Weißen, aber geringer als bei den Mongolen vmd Indianern;
er ist sich bewußt, daß neben den Rasseneigentümlichkeiten auch die
wirtschaftliche Lage eine Rolle spielt; er hält sie aber nicht für allein
ausschlaggebend, i Sie auszuschließen, ist jedoch der Statistik nicht
möglich. Dazu gehören Einzelbeobachtungen, die uns einstweilen nicht
zur Verfügung stehen. Näcke (358) glaubt, daß man, je mehr man siöh
mit der vergleichenden Pathologie und Kriminalistik der Rassen be-
schäftige, um so mehr finden werde, daß die Einwirkung der Rasse
nicht zu unterschätzen sei; zu solchen Untersuchungen sei aber erforder-
lich, daß man zunächst Genaueres über die Methodik einer solchen
Forschung und über die Fragestellung festsetze, anstatt sich in
DER EINFLliSS DER RASSK 159
Slati&tikon m stürzen. Beeondors nachteilig wirkt die Vormiftchung hetero-
gener Hassenelemente, worauf u. a. Weinberg aufmerksam gemacht hat
Innerhalb der Rasse muß man Unterabteilungen bilden. Wir wissen,
daß Germanen, Romanen und Sla>\'en ganz anders geartet sind, was sich
auch in ihrer Kriininaiilät widerspiegelt. Man lese die ArbiMten der
Italiener, aus denen deutlich hervorgeht, welchen Einfluß der Affekt
auf die Handlungsweise der Italiener ausübt; Wulffen meint, daß man
Beispiele von gleichartiger Affektwirkung nur ganz selten in der deutschen
Praxis finden werde (5o2). Die Mischungen innerhalb der Lnterab-
teihmgen können von großem Nutzen sein, wie z. B. der germanische
Einschlag in Frankreich, während die Slawenbeimischung in Ost- un<l
Mitteldeutschland auf die Germanen ungünstig gewirkt hat. Die Unter-
schiede zwischen den Süddeutschen tmd Rheinländern einerseits und
den Norddeutschen andererseits sollen auf die Beimischung von romani-
schem und keltischem Blute zurückzuführen sein (356 a). Sicher könnte das
Studium der Geschichte über den Einfluß der Rasse auf die Kriminalität
noch manchen .\uf Schluß geben.
Am schwierigsten sind die Rassen zu beurteilen, deren Angehörige
verstreut zwischen anderen Rassen wohnen, besonders die .Juden und
die Zigeuner. In der Zeitschrift für Demographie und Statistik der
Juden wurde viel über die Kriminalität der Juden geschrieben, ohne
daß man zu einem endgültigen Ergebnis gekommen wäre. Es gibt zu
viele Bedingimgen, die mitsprechen; so haben beispielsweise Hoppe
(212) Tuid Mönkemöller (344) die Vermutung ausgesprochen, daß die
geringe Verbreitung des Alkohols eine Ursache für die geringe Anteil-
nahme der Juden an der Kriminalität sei. Während in der letzten Zeit
de Roos (4o4) der Rasseneigentümlichkeit eine besondere Bedeutung bei-
mißt, vor allem glaubt, daß nicht der Beruf Ursache der Teilnahme der
Juden an gewissen Delikten ist, sondern daß die Berufswahl und diese
Delikte gemeinsame Ursachen in der Eigenart des jüdischen Volkes haben,
meint Wassermann (484), daß die Kriminalität der Juden vor allem das
Prodxdct sozialer Verhältnisse sei, daß die Kriminalität der Gesamtheit
eines Landes der Kriminalität seiner Juden ähnlicher werde, je mehr
das Land Industriestaat werde. Dazu würden die in Amsterdam gemachten
Erfahrungen stimmen; dort sind die Juden meist Feibrikarbeiter und
stellen in der Kriminalistik einen hohen Prozentsatz bei den Körperver-
letztmgen, im Gegensatz zu den Juden anderer Länder, die meist Händler
sind und sich mehr an Eigentumsdelikten beteiligen (5i4). Auch Franz
V. Liszt (3o2) steht auf dem Standpunkt, daß die Kriminalität der
Juden keine Rassen-, sondern eine Berufskriminalität sei. Die Frage
nach der Erhöhung der Kriminalität bei Kindern aus christlich- jüdischen
Mischehen ist bis jetzt nur angeschnitten worden (32o) ; sie bedarf
noch weiterer Bearbeitung.
Nicht so schwer wie das Studium der Juden ist das der Zigeuner,
da sie ihre Eigenart bewahrt und sich kamn mit der seßhaften Bevölkerung
vermischt haben. Eine Zusammenstellung der Literatur findet man bei:
Hellwig (168), der vor allem auf die Eigentümlichkeit der Zigeuner,^
160 GÖRING: KRIMINALPSYCHOLOGIE
bei Eigentumsdelikten den Aberglauben der Bevölkerung auszunutzen,
hingewiesen hat. Es wäre statistisch falsch, wollte man die Straf-
fälligkeit der Zigeuner zur einheimischen hinzurechnen, da es sich um
einen Volkstanmi handelt, dessen Sitten und Anschauungen in denkbar
schärfstem Gegensatz zu jenen der Umgebimg stehen (202). Leider
fehlen über die Zigeunerkriiminalität noch genauere Untersuchungen.
2. Der Einfluß der Familie
In die Vererbung von Familieneigentümlichkeiten ist man weiter ein-
gedrungen als in die Übertragung von Rasseneigentümlichkeiten auf ein
Individuum. Gruhle kommt in seinen eingehenden Untersuchungen über
die Flehinger Zöglinge (ikS) zu dem Ergebnis, daß bei 20 Prozent der
Verwahrlosten die Ursache des sozialen Verfalles ausschließlich oder
vorwiegend in der abnormen Artiuig, in weiteren 21 Prozent allein oder
hauptsächlich in der Anlage, die aber nicht als abnorm zu bezeichnen
sei, zu finden sei. Sommer hat betont, daß eine Individualpsychologie
mit der Familienforschung untrennbar verbunden sei (447)- Er hat
darauf hingewiesen, daß es Verbrecher gibt, die aus einer unbescholtenen
Familie hervorgegangen und doch infolge Vererbung zum Verbrecher
geworden sind. Das sind die Fälle, in denen eine in der Familie zu be-
obachtende Anlage aktiv wird. Sie sind besonders wichtig, weil sie in der
Regel übersehen werden. So manches Rätsel könnte gelöst werden, wenn
man sein Augenmerk auf den Familiencharakter richten würde (446).
Zu dieser Gruppe dürfte der von mir begutachtete Frhr. v. C. gehören,
der aus idem Kadettenkorps entfernt Averden mußte, eine landwirtschaftliche
Schule ohne Erfolg besuchte, vergeblich sich bemühte, Offizier zu wer-
den, mit 2 0 Jahren ein Vermögen durchgebracht hatte und sich dann
eine große Anzahl Eigentumsdelikte zuschulden kommen ließ. Anderer-
seits gibt es Familien, in denen die kriminelle Veranlagung so ausge-
sprochen ist, daß zahlreiche Familienglieder ihr zum Opfer fallen. Mendel
hat versucht, Vererbungsgesetze aufzustellen, auf deren Bedeutung für
die Familienforschung Sommer (447) > ^^^ ^^® Kriminalistik Fehlinger
(98) hingewiesen haben. Es wurden zwei ^\ege eingeschlagen, um die
hereditären Verhältnisse bei den Verbrechern zu studieren; entweder
prüft<^ man die Heredität der Insassen einer Strafanstalt imd baute
darauf eine Statistik auf (i55), oder man untersuchte ganze Verbrecher-
familien (262). Am interessantesten sind die Bearbeitungen der Familien
Yuke (76), Kerangal (22), Zero-Markus (248), Viktoria (345) und vor
allem Lundborgs Werk über ein 2282 köpfiges Bauerngeschlecht (3i4),
von dem er aber ausdrücklich behauptet, daß man es keineswegs als Ver-
brechergeschlecht bezeichnen dürfe, wenn es auch auf einem recht
niedrigen moralischen Niveau stehe. Sighele (443) hat in dem italienischen
Dorf ,\rtena, in dem die meisten Einwohner miteinander verwandt sind,
eine 6 fach höhetre Zahl von schweren Verbrechen gefunden als im
übrigen Italien. Sowohl bei der Untersuchung der Verbrecherfamilien als
auch bei der Prüfung der Heredität der Anstaltsinsassen fand man, daß
die verbrecherische Neigung und die Anlage zu Geisteskrankheiten Hand
DKR EUSFLUSS DER FAMILIE 161
in Hand gehen, daß also eine polymoq)he Vererbung vorliege. Infolge-
dessen ist es auch verständlich, daß unter Vererbung verbrtxherischer
Neigung nicht die Nererbung der Fähigkeit zu verbrecherischen Ent-
schlüssen als solche, sondern nur die Vererbung von Unregelmäßigkeiten
in der Bildung von \N illensentschlüssen zu verstellen ist, worauf Rosenfeld
aufmerksam gemacht hat (4o6). Es hat aber den Anschein, als ob die*se
Unregelmäßigkeit nicht eine gänzlich vage ist, sondern als ob die abnorme
Bildung von Willensentschlüssen in manchen Fällen in einer bestimmten
Richtmig verläuft; so hat z. B. Kurella gefunden (28/i), daß in bestimmten
Familien die Neigung zu gewissen Delikten, wie Betrug, Brandstiftung,
Grausamkeiten und Sittlichkeitsverbrechen, immer wieder auftritt.
Bisher wurde angenommen, daß im allgemeinen das Zentralnerven-
system der Träger des Vererbten sei. In vielen Fällen trifft dieses auch
zu ; in anderen fehlt aber jeder Anhaltspunkt für eine solche Annahme.
Die Forschungen auf dem Gebiete der inneren Sekretion (35) geben
uns ganz neue Gesichtspunkte, die für die Kriminalpsychologie von aus-
schlaggebender Bedeutung werden können. Es darf angenommen werden,
daß gerade die Störungen des innersekretorischen Systems auf die Psyche
des Menschen von besonderer Wichtigkeit sind, was im .\bschnitt E
noch näher dargelegt werden soll. Auf Grund dieser Forschungen würde
die polymorphe Vererbung ohne Zwang ihre Erklärung finden, zugleich
aber auch die Grenze zwischen Geistesstörung und Verbrechen mehr als
bisher verAvischt werden.
Besonderer Beachtung bedarf die Frage nach dem schädigenden Einfluß
des Alkohols auf die Keimdrüse. Rosenberg (4o5) hat den Einfluß des
Alkohols auf die Nachkommenschaft bei den Bürgern eines Dorfes ge-
prüft und gefunden, daß bei der Deszendenz von Trinkern Minderwertig-
keit in körperlicher, intellektueller, moralischer und ökonomischer Rich-
tung auftritt. Fehlinger (8^) vertritt nun den Standpunkt, daß der Alko-
holismus nicht die Entartung, sondern die Entartung den Alkoholismus
hervorruft, bestreitet allerdings nicht, daß der Alkoholismus die Ent-
artung zum Vorschein zu bringen vermag. Schallmayer dagegen hat
darauf hingewiesen (4i5), daß der Alkohol, ebenso wie das luetische
Gift, nicht nur die wichtigsten OrgEuie, sondern auch die Erbsubstanz
schädige. Zu der gleichen Ansicht kommt Hoppe auf Grund der Sta-
tistik (218) und seiner Beobachtungen an Fürsorgezöglingen (212); er
behauptet, daß nach dem heutigen Stande der Wissenschaft nichts sicherer
sein könne als die degenerierende Wirkung des Alkohols. Eine gute
Übersicht über die Bedeutung der elterlichen Trunksucht gibt Gruhle (i48).
Sehr schwer ist die Frage zu beantworten, ob der Rausch zur Zeit der
Zeugung als solcher eine degenerierende Wirkung auf die Nachkommen
ausüben kann. Näcke (Sog) hat mit Recht darauf hingewiesen, daß diese
Frage noch nicht genügend geklärt ist und sehr schwer zu klären sein
wird, da in erster Linie das Vorhandensein des Rausches und die Tat-
sache der Zeugung festgestellt werden muß.
11 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
5g2 GÖRl-NG : KRIMINALPSYCHOLQGIP:
3. Alter und Geschlecht
Die Eigentümlichkeiten des Alters und des Geschlechts stehen mit der
Entwicklung der Geschlechtsdrüsen in engster Beziehung, was sich auch
heim Begehen von Verbrechen deutlich zeigt. Über Verbrechen im Kindes-
alter hat MönkemöUer ausführlich berichtet (346). Vor der Pubertäts-
zeit fehlt es dem Kind oft an ethischem Bewußtsein. Das Affekt- und
Triebleben mit ihrem kaum zu bezwingenden Egoismus herrschen (5o3^.
Es fehlt die Überlegung. Die Delikte sind Augenblickshandlungen, bei
denen die Suggestion eine große Rolle spielt (347), ^ besteht eine be-
sondere Neigimg zum Lügen (3 17). Während der Pubertätszeit drängt
in dem Jugendlichen alles nach Neuem; wie im Körper (3 17), so geht
auch in der Psyche eine Änderung vor; es beginnt die Koppelung der
Erotik an die psychischen Eigenschaften (92). Während dieser Über-
gangszeil fehlt dem Kinde der nötige Halt. Die Beeinflußbarkeit kann
noch größer sein als vorher. Die Gefühlslage ist sehr schwankend (32.5).
Es besteht eine Neigimg zu Unzufriedenheit. In der Fremde tritt häufig
Heimweh auf (242, i34)- Jaspers (242) vergleicht das jugendliche
Wesen mit einer Pflanze, die aus dem Boden genommen >vird; nach
Wulffen (5o4) läßt sich das Heimweh zuweilen überhaupt nicht moti-
vieren: es kann geradezu im Gegensatz zu den häuslichen Verhältnissen
stehen. Oft ist mit ihm Zorn oder Rache verbunden. Die Tat
wird meist unter dem Drang, nach Hause zu kommen, ohne Prüfung der
Folgen begangen. Erich Stern (53o) stimmt Hoffmann (523) darin bei,
daß nicht jeder jugendliche Verbrecher ein Psychopath oder Schwach-
sinniger sei, meint aber, daß leichte Intelligenzdefekte bei Fürsorgezög-
lingen und jugendlichen Kriminellen doch überaus häufig seien.
Bei der senilen Involution wird die Psyche in zwei Richtungen ver-
ändert: vorhandene Charakterzüge werden intensiver, neue treten
hinzu (289). In mäßigem Grade werden die Eigenschaften, die man
beim Eunuchen findet, wie Egoismus und Reizbarkeit, angetroffen (i34).
Der Geschlechtstrieb, der schon gesch\\amden war, kann wieder auf-
flackern, unter Umständen in veränderter Form (364, 57).
Nicht nur das Alter, auch das G^chlecht übt einen bedeutenden Ein-
fluß auf die Kriminalität aus, was in der Konstitution und Geschlechts-
funktion des Weibes begründet ist (490, 342). Kühlewein charakte-
risiert den Unterschied kurz, aber treffend (282): Das Verbrechen des
Mannes trägt mehr den Stempel des Brutalen, das des Weibes mehr den
der Unehrlichkeit an sich. Eine ausführlichere Schilderung der Frauen-
psyche finden wir bei Wilh. Liepmann (298 a), Möbius (342) imd in
speziell kriminalpsychologischer Hinsicht bei Groß (i34) sowie vor allem
bei Lombroso-Ferrero (3 10). Wulffen (5o4) u. a. haben darauf hin-
gewiesen, daß die Sexualität der Frau einen besonderen Einfluß auf
ihre Kriminalität ausübe; ihre Beurteilung ist aber sehr erschwert,
weil das Sexuelle bei der Frau meist versteckt ist (i34); es wirkt nur
unsichtbar. Jaßny (244) will in den Verbrechen des Weibes ihre
Schwäche wiedererkennen, die ihr einen ehrlichen, offenen Streit nicht
erlaubt. W^ichtig sind die Beobachtungen,, die Bloch während des Kriegen
EXÜGK.NE GIFIVVIHkl NG 163
gt macht liat (/j/ia). Er fand, dalS eine grolie Anzahl Delikte, die Iriiher
mir von Männeni begang<Mi >\-iirden, Frauen ausführt^^n. die in die Stellen
der iMänner eingerückt waren. Eine besondere lieachtung verdienen die
mit der Menstruation (^5) und der Geburl (^i) einhergehenden psychi-
schen Veränderungen. Wollenberg (/199) hat auf die Launenhaftigkeit,
die gesteigerte Reizl>arkcit, Unverträglichkeit, eifersüchtigen Hegungen
hinge\vies<ni. Marx (325) will vor den Menses Triebhaltigkeil, Ijinüd-
barkeit, gesteigerte: und venninderte intellektuelle l^istimgsfähigkeil Ix'-
obachtet haben. Triebartigt>^ Handlungen und Affektentgleisungen finden
wir vor allem auch vor und nach der Geburt (39).
Die Psyche des Homosexuellen ähnelt der des Weibes, was auch Urninge
zug^;'d>en : auch bei ihnen finden wir das Unaufrichtige als hervor-
stechendes Merkmal (/jiS).
B. EXOGENE GIFTWIRKUNG
Eine sehr bedeutende Rolle unter den für Verbrechen in Betracht kom-
menden Bedingungen spielen Gifte, welche die Psyche des Menschen so
ujigünstig beeinflussen, daß die zum Verbrechen treibenden Eigenschaften
die Vorherrschaft erlangen.
An erster Stelle ist der Alkohol zu nennen. Er ruft allmählich eine
sittliche Verrohung hervor (271), die zu den schwersten Konflikten mit
dem Strafgesetz führt. Zwei Umstände sind es, die so verheerend wirken:
die immer mehr sinkende Widerstandskraft und der stets zunehmende
Drang nach alkoholischen Getränken. Seitens der Gießener Klinik wTirde
ein Alkoholist, K., begutachtet, der aus guter, allerdings verarmter Familie
stammte und infolge dauernden Alkoholmißbrauches so verkommen wai',
daß er, um Geld für Schnaps zu erhalten, seine Sachen versetzte, unter
Vorspiegelung falscher Tatsachen Geld borgte und schließlich 8 Diel>
stähle ausfülirte. Von anderen Alkoholpsychosen seien nur das Delirium
tremens, die Alkoholhalluzinose und der Eifersuchtswahn der Trinker
erwähnt, da sie wegen ihrer Wahnideen zu den schwersten Verbrechen
Anlaß geben können (197, 220). Über die Wirkung des Alkohols ist
schon sehr viel geschrieben worden; Hirschfeld (196) glaubt, man könnte
die Strafanstalten um die Hälfte verkleinem, wenn es keinen Alkohol
gäbe. Killen (256), der selbst im Gefängnis war, hält sogar zwei Drittel der
Insassen der Anstalt, in der er war, für Opfer der Trunksucht;
Kurella (284) meint, daß fast alle Gewohnheitsverbrecher dem Alkohol
verfallen seien, öhlert (371) und Yvernes (5o8) möchten dem Wein
eine Sonderstellung zuweisen: sie glauben, ihm nicht so oft wie anderen
alkoholischen Getränken die Schuld an Delikten zumessen zu dürfen,
ob mit Recht, möchte ich mit Kürz (285 a) bezweifeln ; die, allerdings
auch nicht unbedingt maßgebenden, statistischen Angaben über die Krimi-
nalität in der Rheinpfalz sprechen dagegen (218).
Außer dem Alkohol gibt es noch eine Anzahl Gifte, die das ethische
Empfinden herabsetzen (i85), z. B. Äther, Kokain, das Gift des Stech-
apfels und Fliegenschwamms, Haschisch, Ophim und Morphium (106);
die beiden letztgenannten haben sich bei uns besonders eingebürgert.
164 GÖIUNG: KPJMINALPSYCHOLOGIE
Die Kranken, die unter ihrer Wirkung leiden, verkommen vollkommen;
sie scheuen sich auch nicht, Rezepte, also Urkunden, zu fälschen, nur
um in den Besitz des Giftes zu gelangen.
Die Einwirkung des syphilitischen Giftes auf die Psyche des Men-
schen sei hier nur kurz erwähnt; es handelt sich um ausgesprochene
Geisteskrankheiten, die in jedem Lehrbuch der Psychiatrie genau be-
schrieben sind. Am bekanntesten ist die progressive Paralyse, die schon
frühzeitig Zerstreutheit, Gedächtnisschwäche und vor allem ein Nach-
lassen der ethischen Gefühle hervorruft, was zu Delikten aller möglichen
Art führen kann.
Auch andere Infektionskrankheiten sowie das Fieber an sich können
die Psyche dadurch beeinflussen, daß sie Verwirrtheitszustände hervor-
rufen, die vor allem mit Wahnideen und Sinnestäuschungen einher-
gehen (271).
G. KOSMISCHE EINFLÜSSE
Das Klima eines Landes, die verschiedenen Jahreszeiten, die Höhen-
lage eines Gebietes scheinen nicht ohne Einfluß auf die Begehung von
Verbrechen zu sein (i85), wenn man ihnen auch, wie Rüdin im Gegen-
satz zu Kovalevsky mit Recht hervorhebt (409, 270), kein zu großes
Gewicht beimessen darf. Gaedeken hat darauf hingewiesen (iio), daß
die Sonnenstrahlen einen physiko-chemischen Einfluß auf den mensch-
lichen Organismus ausüben; er glaubt, daß auf diesen Einfluß unter Um-
ständen Sittlichkeitsdelikte zurückzuführen sind. Wenn dieses auch nicht
die alleinige Ursache ist, so darf immerhin angenommen werden, daß
die Hitze nicht unbeteiligt ist, was auch aus statistischen Erhebungen
hervorgeht, nach denen vor allem die Unzuch tsverbrechen im Sommer
zahlreicher sind als im Winter (i4)- Man darf aber nicht vergessen,
daß im Sommer mehr getrunken wird und der Alkohol die sexuelle Be-
gehrlichkeit steigert; Hentig (i85) glaubt allerdings, daß an schönen
Sommertagen nicht soviel getrunken wird wie an Regentagen, da die
Menschen bei gutem Wetter mehr ins Freie gehen, als in Wirtschaften
sitzen. In heißen Gegenden scheint der Alkohol aber doch eine recht
erhebliche Rolle zu spielen; er wird von Europäern meist in sehr kon-
zentrierter Form getrunken; auch wird er in den Tropen schlechter ver-
tragen. Wichtig sind die diesbezüglichen Untersuchungen französischer
Ärzte. Jullien (249) und Gran jux (182) warnen davor, beim „Cafard",
der migefähr unserem Tropenkoller entspricht, dem Klima zu viel Schuld
beizumessen, und verweisen auf die anderen Ursachen, die bei Entstehung
dieser Erkrankung sehr wesentlich sind, während Dautheville dem Klima
die Hauptschuld beimißt (68). Die in den heißen Gegenden begangenen
Delikte bestehen vor allem in äußerst brutalen Gewaltakten. Am meisten
Aufsehen machte in Deutschland um 1900 der Fall Arenberg, bei dem
aber auch Alkoholismus und psychische Minderwertigkeit eine große
Rolle spielten (375 b).
Es sei noch erwähnt, daß Antonini in der Provinz Bergamo ein Zu-
nehmen der Verbrechen gegen die Person, des Betrugs imd des Dieb-
stahls mit dem Hinabsteigen von den Bergen in die Ebene fand (12).
DAS MIUKII 165
D. DAS MILIEU
Über die Frage, ob mehr die Veranlagung o<ler das Milieu Verbrocher
erzeuge, ist viel gestritten worden. Die Untersuchungen Gruhles haben
gezeigt (i^8), daß bei den Flehingor Zwangszöglingen in i8 Prozent dem
Milieu die Schuld an der Verwahrlosung zuzuschreiben war. Andere
Autoren legen dem Milieu eine weit größere Betloutung bei (357). «Tacob-
ßohn (236) hat, während er Berater am Berliner Jugendgericht war, die
Erfahrung gemacht, <laß nur i Prozent der Jugen<llichen, die sich stralharer
Handlungen schuldig gemacht hatten, aus besser situierten Familien
stammten. Fürstenheim (109) führt die erste Entstehung verbrecherischer
Handlungen meist auf soziale Ursachen ziuniick. Bei Beurteilung dieser
Frage kommt es auch auf die subjektive Auffassung an. Sicher hat bei
den Menschen, die durch Alkoholismus oder progressive Paralyse mora-
lisch verkommen sind, das Milieu in den meisten Fällen Einfluß gehabt,
obwohl die Begehung der Delikte unmittelbar auf die Giftwirkung zurück-
geführt werden muß. Bonger (5o) geht noch weiter; er steht auf dem
Standpunkte, daß auch die Veranlagimg mehr oder weniger auf soziale
Umstände zurückzuführen sei, dadurch, daß ihr schlechte hygienische
und Emähnmgsverhältnisse zugrunde lägen. Dieses hatte Morel (35o)
schon 1857 erkannt und es wurde auch auf dem V. Internat. Kriminalanthr.
Kongreß betont (356). Die englische Kommission zur Erforschung der
Entartung glaubt, daß die Entartung weniger ererbt, als im Einzelleben
erworben ist (58 b), was das Massenexperiment des englischen Groß-
industriellen W. H. Lever auch zu beweisen scheint (4i5).
Das Milieu ist abhängig von der herrschenden Kultur. Es gibt Menschen,
die sich der Kultur ihrer Zeit und somit dem Milieu, in dem sie leben,
nicht anpassen können, die eine von der Mehrheit abweichende Stellung
einnehmen. Kauf f mann sagt (253), daß die Spitzbuben eine Welt für
sich bilden, ihre eigenen Lebensanschauungen und Gesetze haben. Klee-
mann (261) glaubt, daß diese Gewohnheitsverbrecher in ihrem Tun und
Treiben nichts Unrechtes erblickten, da sie den Staat und seine sittlichen
Normen nicht anerkennten. Aber auch einzelne vom Gesetzgeber mit Strafe
bedrohte Handlungen haben nach Ansicht ganzer Bevölkerungsschichten
zu Unrecht Aufnahme in den Strafgesetzen gefunden. In erster Linie
sind einzelne Sittlichkeitsdelikte zu nennen. Je nach ihrer Veranlagung
haben die Völker zu verschiedenen Zeiten und in den verschiedenen
Gegenden Gesetze erlassen, mn der Zügellosigkeit in geschlechtlicher
Beziehung zu steuern; natürlich sind sie ganz verschieden ausgefallen
(95). So ist der Begriff und die Vorstellung des Inzestes relativ kurzen
Datums (3 18). Infolgedessen denkt das Volk nicht so hart über dieses
Verbrechen (323) wie der Gesetzgeber, und es kommt oft vor, daß die
Einsicht für die Strafbarkeit einer solchen Handlung vollständig fehlt
(319). Vor allem stehen die Homosexuellen auf dem Standpunkt, daß
ein gleichgeschlechtlicher Verkehr durchaus nicht verabscheuungs würdig
sei, infolgedessen auch nicht unter Strafe gestellt werden dürfe (240,
196 a). Diese Anschauung besteht schon lange in den romanischen
Ländern und scheint sich in den germanischen allmählich Bahn zu
jgg GÖRING: KRIMINALPSYCHOLOGIE
brechen. Kurella {'28^) hält die Bestrafung der Homosexualität für
ein Überbleibsel der römischen Ehe- und Bevölkerungspolitik in Ver-
bindung mit den damals vom Orient her sich verbreitenden asketischen
Gedanken.
Das >'erbot der Abtreibung wird in vielen Bevölkerungskreisen als
ein unberechtigter Eingriff in die Rechte der schwangeren Frau ange-
sehen, vor allem dann, wenn die Frau gegen ihren Willen geschwängert
worden ist (36o).
Auch in bezug auf Eigentums- und andere Delikte, wie Zoll- und
Steuerdefraudationen, stimmen die Ansichten einzelner Individuen mit
denen der Allgemeinheit durchaus nicht überein. So haben wir während
des Krieges und vor allem nach Ausbruch der Revolution gesehen, daß
die meisten Menschen kein Verständnis für die aus der Lebensmittel-
knapphcit entstandenen Gesetze haben; sie sträuben sich gegen die Ein-
griffe in ihr Eigentumsrecht und verstoßen gegen die Straf bestimmungen.
Eine noch tiefere Kluft besteht zwischen der Allgemeinheit imd den
linksstehenden Sozialisten. Diese wollen das Privateigentum nicht an-
erkennen und haben dementsprechend sich auch betätigt, wenn sie in
einem Orte die Oberhand hatten. Sollten sie ans Ruder kommen, so
würde das, was imter Verbrechen zu verstehen ist, eine vollständige Um-
änderung erfahren. Bezeichnend sind die Ansichten der Arbeitnehmer-
beisitzer in den Schlichtungsausschüssen; sie entschuldigen Handlungs-
weisen, sogar Eigentumsvergehen der Arbeiter ständig mit der Notlage,
der mangelhaften Bildung und schlechten Erziehung. Viele Arbeiter
stehen auf dem Standpunkt, daß die Gesetze für sie nicht maßgebend sind
vor allem in bezug auf den Vertragsbruch und Streik (282 a). Mit Macht
bricht sich, wie es scheint, eine neue Rechtsanschauung Bahn. Oborniker
sagt mit Recht (370), das Verbrechen sei das Produkt aus der Eigenart
des Verbrechers einerseits imd den den Verbrecher im Augenblick der Tat
umgebenden gesellschaftlichen Verhältnissen andererseits. Ein gutes Bei-
spiel dafür ist die Geschichte des Duells (287). Die Gesellschaft be-
stinuiit, Avas ein ^ erbrechen ist; sie ist, wie Jhering (2 45) sagt, die
Erzeugerin des sittlichen Willens. Auch der Fall Wilden-Nettelbeck
(96) ist auf die herrschende Gesellschaftsordnung zurückzuführen. Der
Verkehr zAvischen Fräulein Wilden und Dr. Nolten war von der Ge-
sellschaft mißbilligt worden; infolgedessen verlangte sie von ihm Reha-
bilitierung in der ehrengerichtlichen Verhandlung, was er ver>veigerte.
Unsere Kultur hat es mit sich gebracht, daß sich die Gegensätze
zwischen den einzelnen Klassen immer mehr verschärfen. Das Tun
und Treiben der meisten ist beherrscht von der Sucht nach dem Gelde;
Armut und Reichtum stehen sich schroff gegenüber, und aus diesem
Gegensatz, also aus den wirtschaftlichen Verhältnissen, entstehen unend-
lich viele Verbrecher (870). Es ist nicht notwendig, daß eine ausge-
sprochene Notlage voi liegt; der Wunsch, mehr zu besitzen, ebensoviel
wie andere ausgeben zu können, ist schon ein starker Verbrechensantrieb.
Die stärkste Triebfeder wird aber die Not sein (029), die in den Groß-
städten einen kaum denkbaren Grad erreicht (i45). Um seine Bedürf-
nisse zu befriedigen, wird man sich in den meisten Fällen nur am
DAS MILIKI 167
Eigenlimi anderer vergreifen; doch köuuca damit auch andere Delikte,
vor allem solche gegon die Person, in Verbindung .stellen, in letzter Linie
der Raubnu>rd: es ist aber zu beachten, daß Ixn ausgesprochener Not-
lage nur sehr selten zum Mord gescliritlon wird (7a). Nicht nur ein
positiver (Jewinn, auch die Scheu vor neoer finanzieller Belastung kann
zum Verbrechen treiben; es sei hier an den kindsmord erinnert, bei dem
sicher die Not (118) tnler, wie Högel «ich ausdrückt (199), die Be-
hinderung im Fortkommen und die Schwierigkeit der Aufziehung des
Kindes ein stark mitbestimmender Faktor ist, was allerdings .Vschaffen-
burg auf Grund der Statistik bestreiten zu müssen glaubt (i4)- E>iö
Not kann auch darin bestehen, daß man selbst Erpressungen ausgesetzt
ist, wie der von Godeluppi beschriebene Homose.vuelle (63), und keinen
auideren Ausweg sieht, als daß mau sich das für den Erpresser bestimmte
Geld auf unrechtmäßige Weise verschafft. Bonger behauptet sogar (5o),
daß selbst bei Sittlichkeitsdelikten die wirtschaftliche Notlage eine große
Rolle spiele; so steht z. B. mißgewachsenen und alten Männern, denen
sich ohne Entgelt kein Mädchen zur Verfügung stellt, falls sie
Geld haben, das Bordell offen ; sind sie arm, so werden sie sich unter
L mständen zu Notzucht und Unzucht an Kindern liinreißen lassen (57).
Mönkemöller hat bei seinen Untersuchungen der Hannoveraner Kor-
rigendinnen keine .\bhäng^igkeit von der wirtschaftlichen Konjunktur
feststellen können, im Gegensatz zu den Korrigenden (344)- Diese Tat-
sache findet ihre Bestätigung in den Untereuchimgen von G. v. Grabe
(i3i), Chr. Müller (353) und Sichel (44i) über Prostituierte, wenn
auch in einzelnen Fällen die Not ausschlaggebend gewesen sein mag (364)-
Als Notlage kann man es auch bezeichnen, wenn Eltern infolge ihrer
Erwerbstätigkeit nicht in der Lage sind, sich um ihre Kinder zu kümmern.
Zweifellos spielt die Vernachlässigung durch die Eltern, die mangelhafte
Erziehung, eine große Rolle im Leben des angehenden Verbrechers. Dazu
kommt noch das schlechte Beispiel. Man muß dabei nicht gleich daran
denken, daß Eltern absichtlich ihre Kinder zu schlechten Menschen
erziehen wollen, oder daß es ihnen gleichgültig' ist, was aus ihren Kindern
wird. Meist wird das schlechte Beispiel ganz ungewollt gegeben. Leben
die Kinder mit ihren Eltern in einem einzigen Räume, so hören sie vieles,
was für sie nicht gut ist; sie sehen, wenn sie mit den Eltern im gleichen
Räume schlafen, den Sexualverkehr, schlafen auch oft mit einem der
Eltern oder mit Geschwistern im gleichen Bett (324); das Scham-
gefühl ist bei der imteren Bevölkerungsschicht nicht so ausgebildet (5oo),
daß man bei ihr Verständnis für che Einw^irkungen auf die kindliche
Seele erwarten darf. Sergi sagt mit Recht, die Seele sei empfindlicher
als die Magnolienblüte, die an der berührten Stelle ihre weiße Farbe
verliert; es gebe für sie nichts Gefährlicheres als den wiederholten
Kitzel (439). In manchen Fällen bleibt es aber njcht bei dem ungewollten
schlechten Beispiel. Ein traiu'iges Bild, wie es in Großstädten keine
Seltenheit ist, entwirft PoUak (382) von dem Vorleben von i3 Knaben
und Mädchen im Alter von 11 bis 16 Jalu^en, die sich zu einer Verbrecher-
bande zusammengeschlossen hatten. Bei den meisten waren die häus-
lichen Verhältnisse trostlos; die Mütter gingen tagsüber zur Arbeit;
J58 GÖRING : KRIMINALPSYCHOLOGIE
manche lebten in wilder Ehe; eine Mutter verleitete sogar ihre eigene
Tochter zur Prostitution. Über die Vorgänge, die Kinder in den gemein-
samen Schlafstuben sehen müssen, hat Horch vor kurzem wieder ein
furchtbares Beispiel veröffentlicht (216). Der in Gießen begutachtete
M. hatte als Vater einen Trinker, der sich wochenlang umhertrieb und
für seine Familie nicht sorgte; seine Mutter ließ sich mit anderen ein
und wurde deswegen vom Vater erstochen. M. beging sein erstes Delikt
mit i5 Jahren und hatte mit 20 und 28 Jahren je 1V2 Jahre Zuchthaus
wegen Eigentumsverbrechen zu verbüßen.
Man findet übrigens nicht nur in der armen Bevölkerungsschicht das
schlechte Beispiel imd die Vernachlässigung, sondern auch in besser
situierten Kreisen. Die Eltern sind durch Geschäft, Ehrenämter und
gesellschaftliche Verpflichtungen derart in Anspruch genommen, daß
sie für die Erziehung der Kinder keine Zeit haben. Der oben eovähnte,
von mir begutachtete K., der zahlreiche Diebstähle begangen hatte, um
sich Geld für Schnaps zu verschaffen, hatte in der Jugend nicht die
Erziehung genossen, die er so notwendig gebraucht hätte; auf dem
elterlichen Tische stand stets die Weinflasche; der Vater war derart
in Anspruch genommen, daß er die Erziehung seines Sohnes fremden
Leuten überließ, obwohl er wissen mußte, daß sein Sohn intellektuell
und ethisch, wenn auch nur in mäßigem Grade, minderwertig war.
Er merkte nicht einmal, in wie schlechte Gesellschaft sein Sohn geraten
war. Auch der dauernde Widerspruch in den Anordnungen der Eltern,
übermäßige Strenge des Vaters einerseits und unangebrachte Milde der
Mutter andererseits wirken oft sehr ungünstig; ein von mir begutachteter
Primaner kam zum Teil durch ein solches Verhalten der Eltern auf
die schiefe Bahn, ging mit einer Prostituierten durch und bot sich, als
er kein Geld mehr hatte, dem französischen Militärattache als Spion an.
Besonders groß ist die Vernachlässigung bei den unehelich geborenen
Jugendlichen, was auf das Fehlen der väterlichen Zucht zurückzuführen
ist. Dazu kommen aber noch andere Umstände, die auf diese Kinder
ungünstig ein>\drken; die Mutter liebt sie oft nur wenig, bringt sie
meist bei fremden Leuten unter imd kümmert sich kaum mehr um sie;
in der Schule werden sie scheel angesehen; die Lebensbedingungen sind
gewöhnlich äußerst ärmlich (364)- So ist es zu erklären, daß ■\>nr
bei den unehelich Geborenen eine verhältnismäßig große Kriminalität
finden. Bolte (/jg) und Näcke (364) glauben allerdings, daß die körper-
liche und geistige Minderwertigkeit, die bei unehelich Geborenen weit
häufiger zutage tritt als bei ehelich Greborenen (268), nicht nur auf das
Milieu, sondern auch auf die Veranlagung zurückzuführen sei. Ein
Aufschluß über die Verbrechensursachen bei unehelich Geborenen wird
aus der Statistik kaum erwartet werden können, da vor allem die Zahl
der ehelich und unehelich geborenen Straf mündigen, die als Grund-
lage dienen müßte, fehlt (202). Daß der Mangel an Erziehung einen
ganz erheblichen Einfluß auf die Jugendlichen ausübt, haben wir im
Kriege wahrnehmen können, worauf Bovensiepen (56), Hellwig (176),
Franz v. Liszt (3o3), Wittig (682) u. a. hinge>\-iesen haben.
DAS MlUEll 169
Ob die Erwerbsarbeit die Jugendlichen ungünstig beeinflußt, ist noch
nicht geklärt: Hoinburger lx>streitet e« auf Grund von statistischen An-
gaben (2o5), während Forcher es bejalit (loi;. Über die Frage nach
einer ungünstigen Einwirkung des Berufs im allgemeinen auf die Psyche
des Menschen hat Lindenau (3oo) einige Anhaltspunkte gegeben. Er
hat gefunden, daß es hauptsächlich drei Wege sind, auf denen die
Berufstätigkeit zimi Verbrechen ausartet: i. der Beruf bietet objektiv
Gelegenheit zum Verbrechen; 2. der Täter verwendet die im Beruf
erworbene Fertigkeit in sozial-gefährlicher Weise; 3. der Beruf übt
einen imgünstigen Einfluß auf die sittlichen Anschauungen der Angt*-
hörigeji aus. Die Lösung der Frage nach dem Zusammenhang zwischen
Beruf imd Verbrechen bietet aber manche Schwierigkeiten. Man muß
z. B. daran denken, daß die Berufsangabe nur als Deckmantel dienen
kann (344), oder daß eine bestimmte Veranlagung, die zu Verbrechen
führt, auch für die Berufswahl ausschlaggebend gewesen sein kann, worauf
besonders Hurwicz (228) und Stekel (454) aufmerksam gemacht halxMi.
Letzterer hält die Berufswahl zum Teil für eine Sublimierung der eroti-
schen \md kriminellen Triebe. Hurwicz hat gefunden, daß beispielsweise
die italienischen Schlächter zu Roheitsdelikten neigen, und meint, daß
sowohl die Gewalttaten als auch die Berufswahl aus der Veranlagung
hervorgegangen seien. Bei Taglöhnem mache sich der unheilvolle Ein-
fluß des Mangels eines ständigen Verdienstes und Berufes bemerkbar;
die Tätigkeit als Taglöhner sei aber meist gewählt worden wegen ange-
borener oder erworbener verminderter Arbeitsfähigkeit. Bei den Berufen,
deren Angehörige sich in einer günstigen wirtschaftlichen Lage be-
fänden, wie die Beamten, höheren Angestellten, sei die Kriminalität sehr
gering. Wie recht Hur>ricz damit hat, daß dabei die wirtschaftliche Lage
und nicht der Beruf das Ausschlaggebende sei, geht daraus hervor, daß
seit der Teuerung der Lebensmittel Beamte nicht mehr so selten sich am
Staatseigentum vergreifen; so wurde von mir ein städtischer Beamter
begutachtet, der aus Not Unterschlagungen begangen hatte: es war
ihm bei dem kärglichen Lohn nicht möglich, mit seiner großen Familie
durchrukommen, zumal seine Frau und eine Tochter krank waren. Neben
der Not spielte die günstige Gelegenheit und die psychopathische \'er-
anlagung eine Rolle. Hurwicz meint, man solle in Anbetracht der ange-
führten Tatsachen nicht von Berufs-, sondern von Standes- oder Sozial-
kriminalität sprechen. Er wünscht eine möglichst umfassende Unter-
suchung der Lage einer bestimmten sozialen Gruppe und hat sell>st
angefangen mit der Bearbeitung der Kriminalität der weiblichen Dienst-
boten (229), wobei er zu dem Schluß konunt, daß die Kriminalität
der weiblichen Dienstboten sehr günstig dastehe, im Gegensatz zu de
Rykere (4 12) und Fehlinger (85), der allerdings die Verhältnisse in
Nordamerika schildert, während v. Michaelis seine Ansicht teilt (34i).
Hurwicz' Bearbeitimg der Dienstbotenkriminalität sollte für andere Grup-
pen vorbildlich sein.
Besonderer Erwähnung bedürfen die Schmarotzer der menschlichen
Gesellschaft, die Landstreicher, die aus Arbeitscheu wandern, und die
Prostituierten. Während Chr. Müller (353) und Seige (435) beide einander
170 GÖRING : kHlML\AL]'SYCH(JLOGIE
gegenüberstellen, glaubt v. Grabe (i3i j keine Anhaltspunkte für Beziehun-
gen beider zueinander gefunden zu haben. Jedenfalls neigen beide zum
Begehen von Straftaten. Die Ursache ist aber nur sekundär in der Tätig-
keit zu suchen. Das Primäre ist die Wranlagung und das Milieu in der
Jugeiui (^^76), welche das Individuum auch zum Landstreicher und zur
Prostituierten gemacht haben, wozu kriminalitätfördernd das neue
Milieu hinzuJcommt. Bei den Landstreichern sind, wie Wilmanns fest-
goätellt hat (496)> die Affektverbrechen besonders zahlreich; sie werden
meist unter der Wirkung des Alkohols begangen. Zwischen dem Land-
streichertum und dem professionellen Verbrechertum bestehen seiner
Ansicht nach kaiun Beziehungen (497) . Widffen weist aber darauf bin,
dafj auch die Schwerverbrecher häufig wandcTn imd gerade auf der
Landstraße ihre De'i kte begehen (Soa). Die Prostitution (373) soll
nach Lombroso ein Äquivalent der Kriminalität sein (3io), eine Ansicht,
die auch von Grame/ vertreten (65), von anderen, wie Näcke (364),
nicht geteilt wird. V. Grabe glaubt (i3i), daß Kriminalität und Prosti-
tution weder Gegensätze noch Äquivalente, aber häufig vereint seien.
Die Ansichten über die Häufigkeit der Kriminalität der Prostituierten
gehen se^hr auseinander; v. Grabes Ansicht, daß es sich bei den Be-
strafmigen Prostituierter nicht nur um isittenpolizeiliche Verstöße, sondern
sehr oft um Eigentmnsdelikte handle, teilt Bonhöfer (5i) und Sigbele
(^^l) im Gegensatz zu Baumgarten (3o) und Hübner (221). Hermann
(189) hält die Neigung zu Verbrechen bei heimlichen Prostituierten für
stärker als bei öffentlichen. Daß aber auch diese leicht zu Verbrechen
verleitet werden, zeigt der Prozeß Riehl, der uns ein Bild gibt von
den schauerlichen Zuständen in einem Wiener Bordell und von dem
Einfluß der Bordellwirtin auf ihre Prostituierten (5 16).
Daß die männliche Prostitution mit dem Erpressen in engster Ver-
bindung steht, ist bekannt. Hirschfeld (195) hält die Erpr^ser meist
für Gelegenheitsprostituierte; für wenige sei die Prostitution nur Vorwand.
Einen großen Einfluß auf die Kriminalität üben Kriege aus. Sommer
(45 1) nennt sie ein Massenexperiment über die Auslösung von Affekten
mid die Aktivierung geistiger Eigenschaften. Starke hat in einer Ab-
handlung von i884 (453) fast nur von der versittlichenden Kraft des
Krieges gesprochen, und Travers (473) glaubte zu Beginn des Welt-
krieges noch an die günstige Wirkung auf die Kriminalität, an eine
moralische Besserung des deutschen Volkes durch den Krieg. Er hat
sich schwer getäuscht. Die Begeisterung im August 191 4 mag wohl
vorübergehend einen günstigen Einfluß auf die Psyche des Volkes aus-
geübt haben. Sie hat aber mit dem Kriegshandwerk nichts zu tun. Auer
(23) hat auf die zahlreichen Roheitsdelikte gerade der aus der Front
heimgekehrten Soldaten hingewiesen; Höpler (207) erwähnt die Lockerung
der Sitten besonders bei den ausziehenden Truppen. Aber nicht nur bei
den Soldaten, auch bei den Daheimbleibenden wirkt der Krieg ungünstig.
Kleemann hat beobachtet (205), daß der krasse Egoismus, der Mangel
an Gemeinsinn, gerade während des Krieges besonders deutlich zutage
getreten ist. Die Ursachen dafür sind mannigfaltig. Das Frontleben
übt sicherlich einen verwildernden Einfluß aus; aber auch die Zustände
1)A> MILIKl m
in der Heimat spielen eine i^Toße Rolle. A.iif die mangelhafte lirziehuiij,'
wixrde sch<in oben hingewit'sen. Höplor (207) und v. Liszt (3o3) schreiben
d*>m lniirhab*Mi \on Vertraufiisslellunjj:«'!!. deui nbertriclx'iion Selbstlx-
wußtsein der jungen Männer und den hohen Löhnen für junge I^eute
einen schädigenden Kinfhili zu. während Auer (^S) darauf w<Miig«*r
Gt^wicht legt. Die schädigende Wirkung des überreichlichen Arbeibs-
verdiensU^ erwähnt auch Hellwig (17O). Klsa v. Liszt glaubt, daß neben
der .\ufsichtslosigkeit die allgemeine Amnestie l>ei Jugendlichen krimi-
nalität«, teigern d gewirkt hat (3oi). VVittig (532) fafSt die äußere Ursache
für die Zunahme der kriminalität der Jugendlichen zu.sammen unter
die Begriffe: Erziehungsnot, Wirtschaftsnot, Gewissensnot. Die günstige
Gelegenheit, kriminell zu werden, wirkte aber nicht nur auf junge Leute.
Die Möglichkeit, leicht große Sununen zu verdienen, reizte viele .Menschen
zu Handlungen, die sie im Frieden nie begangen hätten. Dazu konunt,
daß der plötzliche rechtmäßige Vermögenserwerb, wie Auer mit Recht
sagt (23), verheerend auf die allgemeinen sittlichen .\nschauungen der
wenig Gebildeten wirkte.
Noch schlimmer als Kriege ist der Einfluß von Revolutionen, da
durch sie die Staatsautorität vernichtet wird. Wer im Winter 1918/1919
noch im Heeresdienst war, der weiß, daß der Begriff Staatseigentum
für unzählige Individuen erloschen war. Noch 1920 war die Zahl der
Eigentumsdelikte erschreckend hoch (282 a). Dieselbe Macht, die unser
Volk bei Kriegsbeginn gehoben, stürzte es bei der Revolution in die
Tiefe: es war die Massensuggestion, wie wir sie immer wieder in der
Geschichte finden können ; es sei nur an die französische Revolution
(470) und die schon vor dem Krieg in Erscheinung getretenen russischen
Zustände (3i) erinnert (444)-
Nach Le Bon (288) folgt die Masse nicht denselben psychologischen
Gesetzen \vie das Individuum. Sie ist impulsiv, leichtgläubig, kritiklos,
überschwenglich. Kraus (277) nennt die Massenseele, die das Resultat
widersprechender und konformer Äußerungen der einzelnen Massenteil-
nehmer ist, eine variable, je nach der Natur der Komponenten, die das
Übergewicht bei ihrer Bildung erlangen. Eine eingehende Analyse der
Kollektiv- und Kumulativverbrechen finden wir bei Strasser (46i).
Die Kollektivverbrechen können planmäßig infolge eines chronischen
Gärungsprozesses entstehen (Bandenverbrechen) oder durch relativ ein-
fache Übertragung gefühlsbetonter Ideen unter der Wirkimg von Kontagion
und Suggestion mit explosiver Wirkung. Letztere entstehen auf Grund
von Gläubigkeit und I^ichtgläubigkeit oder durch gleichartige Affektivi-
tät, oder durch Übereinstimmung alles überragender, wildleidenschaftlicher
Affekte. Die Moral der Menge wird, wie Zaitzeff sagt (612), schlechter,
der Verstand geringer, der Wille stärker. Wie gewaltig die Suggestion
wirkt, hat Rieh. Wagner, der selbst als 17 jähriger von ihr zur Zeit
der Pariser Julirevolution i83o mitgerissen wurde, geschildert (224)
Jelgersma (246) hält die Kontagion nicht nur für eine intellektuelle,
sondern auch für eine emotive, d. h., daß die Menge zuerst die Gesten
des Affekts einzelner nachahmt und dann die ihnen entsprechenden
Gefühle empfindet. Für eine Teil Verantwortung besteht bei dem einzelnen
172 GÖRIIVG : KRIMINALPSYCHOLOGIE
Individumn kein Gefühl; es glaubt sogar, wie Le Bon betont (280),
nur seine Pflicht zu tun, wenn es an den Handlungen teilnimmt. Die
Seele dieser Masse ist nichts anderes als der Makroanthropos Schopen-
hauers (iSli). Aber nicht jeder läßt sich mit fortreißen; abgesehen von
Jugendlichen besteht ein großer Teil der Masse aus der seelisch oder
moralisch verkommenen Hefe des Volkes (444)- Nach ßrennecke (5i8)
liegt die psychologische Begründung der Revolution in dem tiefwurzelnden
Egoismus des Einzelindividuums und dem summierten, brutalen Egoismus
der Masse. Kraepelin (520) dagegen hebt das Psychopathische hervor;
er glaubt, daß ein laugandauernder Druck, wie die Not und Entbehrungen
der Kriegsjahre, hysterische Massenpsychosen hervorrufen kann. B^de
Autoren sind mit Kahn (525) der Ansicht, daß die überwiegende Mehr-
heit der revolutionären Führer zu den psychopathischen Persönlichkeiten
zu rechnen sind.
Banden, die gemeinschaftliche Verbrechen ausüben, können auch auf
Grund von Suggestion entstehen, besonders wenn Jugendliche sich unter
einem Älteren zusammenfinden und sich von diesem leiten lassen,
wie Pollak es geschildert hat (882). Meist werden aber Banden aus Ge-
wohnheitsverbrechern bestehen (444), die sich zwar g^enseitig beein-
flussen können, aber von vornherein in der Absicht, Verbrechen zu be-
gehen, zusammengeschlossen haben. Im modernen Staat hat sich das
Äußere der Bande geändert; an Stelle der physischen Übermacht ist die
List getreten (192). Vor allem sind die Organisationen zum Betreiben
des Mädchenhandels und für Versicherungschwindel berüchtigt; ihre
Verkettung ist oft ebenso innig wie die der Banden in früheren Zeiten,
wie die Vorschriften einer Brooklyner Brandstifterbande lehren (4i4)-
Vielfach sind die Mitglieder eidlich miteinander verbimden; Verrat wird
mit dem Tode bestraft wie bei der bekannten Mafia (191).
Von diesen Kollektivverbrechen hat Strasser das Kumulativverbrechen
unterschieden. An Hand der bekanntesten Prozesse schildert er die
Wechselwirkung des individuellen Faktors imd der sozialen Verhältnisse;
es handelt sich hier mn eine gegenseitige Induktion, die schleichend
wirkt; jeder Beteiligte trägt immer wieder neue Ideen hinzu, die auf
den Partner einwirken und bei ihm neue Gedanken auslösen; so schil-
dert Sommer eine Familie (447), ^^" ^^^ ^ Angehörige dauernd sich
ungünstig beeinflußten; alle waren zur Beobachtung in der Gießener
Klinik. In einem von mir begutachteten Falle veranlaßte eine Frau ihren
Mann zu unnötigen Ausgaben; er deckte sie durch Unterschlagungen.
Die Ehegatten waren schwere Psychopathen und hatten sich in der Heil-
und Pflegeanstalt Eglfing kennengelernt. Strasser sagt, infolge der
gegenseitigen Ein>virktmgen sei es nicht möglich, aus der psychologi-
schen Analyse der Tatbestände oder aus der Individualpsychologie eine
befriedigende Erklärung der Entstehung von Kumulativverbrechen zu er-
halten.
Häufiger als die gegenseitige Induktion findet man die einseitige;
auch bei der gegenseitigen ist meist ein Teil der kräftiger induzierende.
Die induzierten Individuen sind in der Regel schwer psychopathisch ver-
anlagt, von geringer Willenskraft und großer Beeinflußbarkeit. In der
DAS MILIKI 173
Gielieiier Klinik wiirdo ein Psychopath von mir beobachtet, der, durch
die Rtxlo eines Komniunistenführers begeistert, der Partei beitrat und
7 Tag«» s|>äter sich mit an die Spitze eines Pulsches stellte, obwohl er
sich früher kaum mit Politik Ixischäftigt hatte. VVeygandt (495) hat
4 Grup[)en unterschieden, von denen die auslösende psychische Beein-
flussung und der Einfluß von Geisteskranken auf geistig Gesunde ohne
Entwicklung einer ausgesprochenen Psychose am wichtigsten sind. N^n
dieser Wachsuggestion kennen wir noch die Hypnose, in der der Hypno-
tisierte in einem außerordentlichen Abhängigkeitsverhältnis zum Hypnoti-
seur steht; dieses Abhängigkeitsverhältnis kann bei besonders guten Medien
so stark sein, daß in der Hypnose Delikte begangen werden. Forel (loo)
und V. Schrenck-Notzing (428) haben solche Erfahrungen gemacht,
ersterer auch auf experimentellem Wege. Auch Wagner von Janregg
ist der Ansicht, daß man auf Grund der Laboratoriumsversuclie die Mög-
lichkeit des Mißbrauchs Hypnotisierter zur Ausführung von Verbrechen
zugeben muß (53i).
Einen stark suggestiven Einfluß üben, vor allem auf Jugendliche,
Schundliteratur und -films aus (43o). Nur muß man sich hüten, gleich
alles auf sie zurückzuführen. Helhvig hat gefunden, daß Lektüre und
Kinobesuch nicht selten als Ausrede tmd Entschuldigung vorgebracht
werden (171)- Er rechnet auch nicht die ganzen Indianergeschichten,
wie die Schriften von Karl May (179), dahin. Für besonders schädlich
hält er, wie auch Kleemann (268) und Näcke (364), die Kriminalromane
und Berichte über Skandalprozesse. Die Frage, ob Lektüre oder Film
schädigender wirke, beantwortet Meyer (335) dahin, daß der Film in-
struktiver sei und nachhaltiger wirke, während die Lektüre erst in der
Phantasie zu einem Bild umgearbeitet werden müsse, was auch von Näcke
betont wird (364). Münsterberg schlägt vor (354) unter Hinweis auf
die Tatsache, daß beim Eintreten der Erschlaffung am Ergographen weder
Wille noch Zureden, wohl aber Vormachen zu erneuter Tätigkeit anregen
kann, es solle durch psychologische Experimente geprüft werden, welche
Faktoren den Gang zum Verbrechen oder die Hemmung des verbreche-
rischen Impulses steigern können. — Selbstverständlich ist die Wirkung
von Schundliteratur und -film durchaus nicht bei jedem Individuum
gleich schädlich. Es kommt vor allem auch auf die Veranlagung an
(364, 475).
Im Zusammenhang mit der Suggestion muß auch kurz auf die Beein-
flussung des Verbrechens durch die Religion hingewiesen werden. Darüber
besteht wohl kein Zweifel, daß es Menschen gibt, die durch ihre Reli-
gion vom Verbrechen abgehalten werden. Andererseits weiß man auch,
daß eine Religiosität im Sinne des Verbrechers sehr wohl mit einer ver-
brecherischen Gesinnung vereinbar ist (46). So ermordete der Mönch
Mazoch den Mann seiner Geliebten, Pfarrer Riembauer seine Geliebte,
wobei sie den Sterbenden die Absolution erteilten (890). Eine Frau
tötete ihr neugeborenes Kind, nachdem sie ihm die Nottaufe gegeben
hatte (77). In Grete Beiers Briefen finden sich häufig fromme Aus-
sprüche, bisweilen sogar angewendet auf ilire verbrecherischen Pläne (119).
In der Gießener Klinik wurde ein Student begutachtet, der vor einem
J74 GÖRING : KRlMliNALPSYCllOLOGlK
Selbstmord zurückschreckte, weil er dann nicht die Absolution empfangen
könne. Er scheute sich aber nicht, seinen Vater zu ermorden, ja glaubte
soear, damit ein gutes Werk zu tun, da sein Vater sich mehrfach den
Tod gewünscht hatte. Zugleich mit dem Vater tötete er drei Geschwister,
damit diese nicht unversorgt zurückblieben.
Ob die Konfession einen Einfluß auf die Begehung eines Verbrechens
ausübt, ist sehr mi wahrscheinlich. Wassermann (484) bestreitet es für
die Juden, und ernste Kritiker halten Ritualmorde für ausgeschlossen
(i8ü, i37)- Nur der Ohrenbeichte wird von einzelnen Autoren ein ge-
wisser Einfluß zugeschrieben. Einmal kann der Beichtvater durch seinen
Zuspruch ein Verbrechen verhindern; es kann aber auch die infolge der
Beichte zu erteilende Absolution ein die Kriminalität steigerndes Moment
sein (169); endlich ist erwähnt worden, daß Geständnisse über das Sexual-
leben im Beichtstuhl zu Sittlichkeitsvergehen geführt haben (i6i).
Wichtiger als die Religion ist für die Kriminalität der .\berglaube.
i> ist weiter verbreitet, als man gewöhnlich annimmt. Hellwig, ein
Spezialist auf diesem Gebiete, hat in vielen Aufsätzen und Broschüren
darauf hingewiesen, daß es kaum ein Delikt gibt, welches nicht aus
Aberglauben begangen werden kann, vom Morde angefangen bis zum
harmlosen Diebstahl (178, 291); besonders hervorgehoben seien Gewalt-
taten g^en vermeintliche Hexen, Leichenschändungen und Meineid.
Löwenstimm (3 12) hat über religiösen Fanatismus berichtet, der mit
Ermordungen einherging. Es sei auch bemerkt, daß unter Ausnutzung
des Aberglaubens schwere Eigentumsdelikte begangen werden (178);
dahin gehört endlich auch die Kurpfuscherei mit ihren Sympathie^
und VVunderkuren (178, 172) und die Ausnutzung des Geister-
glaubens (427, 4i6)-
E. DIE WIRKUNG DER EINFLÜSSE AUFEINANDER
Schon bei Besprechung der einzelnen Einflüsse mußte immer wieder
darauf hingewiesen Averden, daß es nur selten eine einzige Ursache ist,
die zum Verbrechen führt. Meist findet ein Zusammenwirken mehrerer
Ursachen statt. Die dabei denkbaren Kombinationen sind natürlich sehr
zahlreich. Es besteht die Möglichkeit, daß eine ungünstige Veranlagung
durch ein günstiges Milieu nicht in Erscheinung tritt (529). Die un-
günstige Veranlagung kann aber auch so stark sein, daß das Milieu
seinen Einfluß nicht mehr zur Geltung zu bringen vermag. Sie ist nicht
immer gleichartig, wie wir gesehen haben, denn sie kann nicht nur quan-
titativ, sondern auch qualitativ verschieden sein. So kann z. B. die un-
günstige Veranlagung mehr auf dem moralischen oder mehr auf dem
affektiven Gebiete liegen. Es gibt auch Fälle, in denen das Milieu für
die Verbrecherlaufbahn eines Menschen ausschlaggebend wurde. Es ist
aber auch denkbar, daß eine Veranlagung so ausgezeichnet ist, daß selbst
das ungünstigste Milieu ohne Wirkimg bleibt. Die kosmischen Einflüsse
scheinen eine nur untergeordnete Rolle zu spielen. Alkoholismus und
syphilitische Gehimerkrankungen können an sich ausschlaggebend für
Delikte sein ; man wird aber immer daran denken müssen, daß bei der
PIK wiKKU.NG imw i:i\Fi,üssE aikkina.ndl:!; 1_75
Akqiiisilioii dieser Krkrankiuigen in iloii allormoisteu Fällen die Veran-
lagiiiii!' lind <las Milien eine \ves«'ntliclie IU)11<^ gespielt haben. Üborliaupt
wird man in jodein einzelnen l'alle genan |)nilen müssen, ob nicht nel)en
der bervorsttvhi'iiden l rsache noch andt're vorhanden sind; iiunst >viid
man sie linden, vor allem im Zusammenwirken von Veranlagung und
Milieu; so fand Grüble (i/|8), dali l)ei den Flehinger Zwangszc>glingeu
in /|i Prozent \eraidagung und Miliou /u gleichen Teilen an <ler Ver-
wahrlosung schuld waren.
Trotz dit'ser auljerordentiichen Mannigfaltigkeit hat man inmier wieder
versucht, eine Einteilung der \ erbrecher vorzunehmen. Nur die klassi-
sche Strafrechtschule will nichts davon wissen; so erwartet z. B.
Högel (198) von der Einführung des biologischen Momentes bei der Ein-
teilung der Verbrecher nui' Schallen: er will lediglich eine Trennung
zwischen Erwachsenen und Jugendlichen gelton lassen. EHe anderen
bemühen sich, eine brauchbare Einteilung zu finden; doch ist man noch
zu keinem endgültigen Ergebnis gelangt, v. Liszt (3o4) teilt die ganze
Kriminalität in die akute und chronische; er erwähnt ausdrücklich,
daß bei der ersteren der äufk^re Anlaß, bei der letzteren die dauernde
Eigenart über>vi^e; dem entspricht die Einteilung von Marx ('inb) in
Situationsverbrecher und verbrecherische Persönlichkeit. Kauf f mann (2 53)
unterscheidet den willensschwachen Verbrecher, den Landstreichertyp, zu
dem er auch die Leidenschafts- und Gelegenheitsverbrecher rechnet, von
dem energischen Verbrecher. Er hat bei dieser Einteilung die Milieu-
wirkung weniger berücksichtigt, <lagegen zwei verschiedenartige Veran-
lagungen als Grundlage angenommen. Nur auf die Veranlagung stützt
sich Garofalo (112), wenn er zwischen den durchaus unmoralischen,
den heftigen, den haltlosen und den zynischen Verbrechern unterscheidet.
Am differenziertesten gliedert Aschaffenburg (i4), und zwar in Zufalls-,
Affekts-, Gelegenheits-, Vorbedachts-, Rückfalls-, Gewohnheits- und Be-
rufsverbrecher. ^ebaek (478) griff in seinem an die Brüsseler anthro-
pologische Gesellschaft 191 1 eingereichten Bericht unter besonderer Her-
vorhebung der endogenen und exogenen Momente auf Aschaffenburg
zurück. Zafita (5 10) hat versucht, die Verbrechertypen psychologisch
zu systematisieren; von denen, die die verbrecherische .Vbsicht unmittel-
bar verwirklichen, nennt er die Verbrecher mit emotionalem Affekt und
die mit intellektuellem Defekt; ihnen stellt er die Verbrecher, bei denen
der verbrecherischen Absicht Bedenken hinsichthch Verbot imd Strafe
entgegentreten, gegenüber, imd zwar den uneigentlichen Verbrecher, bei
dem der Gedanke an das Verbot den konträren Sollungsgedanken verur-
sacht, den eigentlichen Verbrecher, bei dem der Gedanke an die Strafe
imd nur er eine der .\bsicht konträre Strebung hervorruft, und endlich
den moralisch irren Verbrecher, bei dem die Bedenken überhaupt keine
konträre Wollung verursachen.
Während Zafita auf der Psychologie seine Einteilung aufbaut, benutzen
die anderen biologische Grundlagen, aber nicht ausschließlich: immer
spielt auch der Erfolg hinein. I>er einzige, welcher versucht hat. auf
rein biologischer Gnmdlage einen bestimmten Verbrechertyp herauszu-
arbeiten, war Lombroso (3o6, 307, 3o8). Auf Grund bestimmter psvchi-
17Ö GÖRING : KRLVUNALPSYCHOLOGIE
scher Eigenschaften in Verbindimg mit körperlichen Degenerationszeichen,
auf die zuerst Morel (35 1) aufmerksam gemacht hat, konstruierte er
den „geborenen Verbrecher". Über Lombrosos Lehre entbrannte ein
heftiger Streit; die Kritiken sind außerordentlich zahlreich (5o2). Wäh-
rend viele Italiener, >vie Ferri (86) u. a. ihm mit großem Beifall zu-
stimmten, hatte er in Deutschland besonders heftige G^ner wie
Bär (27) und Näcke (36i). Doch gab es auch viele, die Lombrosos
Verdienste durchaus anerkannten, wenn auch nicht so uneingeschränkt
Avie Kurella (285). Sommer (448) trennte die Frage nach dem geborenen
Vorbrecher in zwei Teile: er verneinte die Frage, ob sich angeborene
moralische Abnormitäten in signifikanten morphologischen Kennzeichen
ausdrücken, dagegen bejahte er die Frage, ob es Menschen gibt, die
in einem so jugendlichen Alter ausgeprägte Neigung zu verbrecherischen
Handlungen zeigen, daß man von angeborenen moradischen Abnormitäten
reden kann. Auch Bleuler (^2), Garofalo (112), Gaupp (ii3),
Giuhlo (i48), Kauffmann (253), Longard (3ii), Svenson (468) u. a.
lehnen Lombrosos Lehre nicht vollkommen ab. So sagt Bleuler aus-
drücklich, es sei kein einziges stichhaltiges Argument gegen die Auf-
fassung Lombrosos vorgebracht worden. Garofedo (m) hatte auf dem
Internationalen Kriminalanthropologischen Kongreß in Paris 1889 bean-
tragt, Lombrosos Lehre solle von einer Kommission methodisch geprüft
werden, was auch einstimmig angenommen wurde; doch mußte er 1896
in Genf feststellen, daß nichts geschehen war und man noch immer auf
sich oft widersprechende Einzeluntersuchimgen angewiesen ist (112).
Lombroso hat psychische Eigenschaften und Degenerationszeichen wahl-
los zusammeaigestelit und geglaubt, aus ihnen einen Verbrechertyp kon-
struieren zu können. Er hat nicht versucht, ihre Ursachen zu ergründen.
Erst allmählich hat man angefangen, psychische und morphologische Ab-
normitäten, die man beim Verbrecher findet, mit bestimmten Störungen
in Beziehung zu setzen. So hat Sommer darauf hingewiesen (448), daß
sehr oft ein Zusammenhang zwischen Abnormitäten des Schädelbaues
und in der frühesten Entwicklungszeit überstandenen Gehirnerkrankungen,
die angeborenen Schwachsinn oder Epilepsie hervorrufen können, besteht.
Andere morphologische Abnormitäten, wie mangelhafte Ausbildung der
sekundären Geschlechtsmerkmale und übermäßige Ausbildung der Extre-
mitäten, finden wir, wie Fischer ausführlich angibt (91, 92), beim Eu-
nuchoidismus. Bär (27) und Kiu'ella (283) betonen die Häufigkeit un-
gewöhnlich dichten Haares bei schwachem Bartwuchs, das späte Er-
grauen und Ausfallen des Haares, das frühzeitige Auftreten von Falten
und Runzeln im Gesicht, Lombroso (3o6) die große Spannweite der Arme
im Verhältnis zm* Körperlänge bei Verbrechern, alles Symptome, die wir
beim Eunuchoiden finden. Auch Tierexperimente haben zu der Erkenntnis
geführt, daß das innersekretorische System auf die Körperbildung einen
sehr starken Einfluß ausübt, so ist von Abderhalden (i) u. a. an Kaul-
quappen gezeigt vwrden, daß das Füttern mit wirksamen Substanzen inner-
sekretorischer Drüsen erhebliche gesetzmäßige Mißbildimgen hervorruft.
Aber nicht nur bezüglich der morphologischen Abnormitäten finde!
man Gesetzmäßigkeiten, auch bezüglich der persönlichen Eigenschaften
Dil; WIHM .N(; DKK KINFLÜSSK AMFKINANDKR 177
kann man unter öen Verbrechern einzelne Typen herauslieben, vor allem
den eunuchoiden xmd epileploid«'n Typ. Bei ersterem finden wir ein
verschlossem"«, abweisendes, miljtrauisclu's, teilnahndoses, entschluliun-
fähiges. reizbar*^, egoistisches und emptindliciie« Wesen; Fischer (90)
hält den Ausfall der inneren Sekretion der (jK'schlechtsdrüse für das
ursprüngliclie ätiologische Moment; <lieser wiederum hat seine Ursache
in der mangelhaften Geschlechtsdrüsenentwicklung, die nach Fischers
Ansiclit entweder auf einen ungenügenden Reiz der Zirbeldrüse auf die
Geschlechtsdrüse oder auf eine Unterwertigkeit der Geschlechtsdrüse und
dadurch hervorgerufene mangelhafte Reaktionsfähigkeit auf Reize der
Zirbeldrüse beruht. Jedenfalls ruft diese mangelhafte Funktion der Ge-
schlechtsdrüse eine Enterotisierung des gosamteu innersekretorischen
Systems hervor. Der epileptoido Typ, der neben höflichen Formen, ober-
flächlicher Religiosität imd Pedanterie eine egozentrische Einstellung,
Reizbarkeit mit Neigung zu impulsiven Handlungen und Empfindlichkeit
aufweist, scheint u. a. auch auf innersekretorischen Störungen derNelx^n-
nieren zu beruhen. Fischer (98, 94) hofft, nicht nur Krämpfe durch
Entfernung einer Nebenniere (58 a) günstig beeinflussen zu können,
sondern auch Reizbarkeit und Jähzorn zu mildem.
Zu diesen beiden Typen kommt als dritter der mit einem anomalen
sexuellen Triebleben (275). Diese Anomalien werden meistens für an-
geboren gehalten, wenn es auch, wie Groß sagt (i/jo), unter jungen
Leuten, namentlich wenn sie in der Erziehung zurückgeblieben sind, un-
entschiedene Naturen gibt, die durch irgendeinen Einfluß von außen zum
Hetero- oder Homosexuellen entwickelt werden können. Strasser (462)
dagegen glaubt, man tue denjenigen Kranken, die sich als Homosexuelle,
als Fetischisten, Sadisten usw. betraichten, sicher kein schwereres Unrecht,
als daß man ihre Krankheiten mit einer angeborenen, unbeeinflußbaren
Veranlagung belaste. Nach Hoche (197) erhalten alle Triebe den zuge-
ordneten Vorstellungsinhalt erst im Einzelleben; was von vornherein ab-
norm sein könne, sei eine das gewöhnliche Maß übersteigende Bestimm-
barkeit des Geschlechtstriebes durch zufällige erste Eindrücke und eine
vom Gewöhnlichen abweichende Gefühlsbetonung, durch welche Lust und
Unlust nicht von denselben Eindrücken hervorgerufen werde, wie bei der
Mehrzahl der übrigen Menschen. Welch große Rolle das assoziative Mo-
ment in geschlechtlichen Dingen spielt, hat auch Senf (437) an einzelnen
Beispielen ausgeführt. Stekel spricht von einer Neurose (454 a).
Die neueren Untersuchungen auf innersekretorischem Gebiete weisen
uns einen ganz anderen Weg (5 19). Schulz (429) und Steinach (455)
haben bei Tieren durch Transplantation von Geschlechtsdrüsen Männchen
feminiert und Weibchen maskuliert. Lichtenstern (292) hat durch eine
nach einer Kastration vorgenommene Hodenimplantation positive Re-
sultate erzielt; ihm und Mühsam (352 a) ist es auch gelungen, durch
Einpflanzung normaler Hodensubstanz bei Homosexuellen den perversen
Geschlechtstrieb normal einzustellen. Auf Grund dieser Untersuchungen
behauptet Fischer (92) mit Recht, daß der Geschlechtstrieb keine an-
geborene Gehirnanlage sei; seine Ausbildung, d. h. die Erotisierung der
Psyche, sei die Leistung der reifen Geschlechtsdrüse, eine Anschauung,
12 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
^7g GÖRING: KRIMINALPSYCHOLOGIE
die auch schon in der i/j. Auflage von Krafft-Ebbings Psychopathia
sexualis erwälint wird. Fischer konunt weiter auf Grund anderer Unter-
suchungen zu dem Schluß, daß die Wirkung der innersekretorischen
Keimdrüse sowohl auf die morphologischen Eigenschaften wie auf die
Gharakteranlagen keine unmittelbare ist, sondern durch eine Vergeschlecht-
lichung des ganzen innersekretorischen Apparates zustande kommt.
Von großer Bedeutung wäre es, würde man noch den psychopathischen
Typ in dieses System einordnen können. Seine Symptome, die von Birn-
baum ausführlich beschrieben sind (37), sind die Neigung zu überstarken
Empfindungen, einseitige Gefühlsbetontheit, übertrieben ausgeprägte Gha-
rakterzüge, Disharmonien, labile Stimmung und Widers tandslosigkeit.
Von ihm zu trennen wäre der Verbrecher mit moralischen Defekten, der
.\hnb'chkeit mit dem eunuchoiden Typ besitzt. Sowohl beim psycho-
pathischen als auch beim moralisch defekten Verbrecher muß keine
Intelligenzstörung vorhanden sein. Gemäß dieser Erkenntnis in Verbindung
mit der seit langem bekannten imd praktisch verwerteten Erf ahrimgstatsache,
daß man durch Kastration vorher unbrauchbare Tiercharaktere zu brauch-
baren Arbeitstieren machen kann, ferner den Ergebnissen der Experimente
von Gannon (61 a) und de la Paz (375 a), w^elche nach Entfernung der
Nebennieren bei Katzen ein Fehlen der Affektäußerungen feststellen konn-
ten, und den Feststellungen Nagels (365 a) und Stillings (458 a), daß
bei den Tieren in der Brmiftzeit mit ihrer gesteigerten Reizbarkeit und
Aggressivität eine Hypertrophie der Nebennieren einhergeht, nimmt Fischer
an (92), daß der Charakter, soweit er unabhängig von der Intelligenz ist,
keine selbständige Gehirnanlage ist, sondern die Reaktion des Gehirns
auf die Tätigkeit des innersekretorischen Systems. Zu dieser Annahme
hat auch die Tatsache beigetragen, daß bei heftig auftretenden Affekten
fast immer eine mehr oder weniger erhebliche Bewußtseinstörung zu
finden ist; Voß (48o) hält bei allen Affektverbrechen eine lückenhafte
Erinnerung für naturgesetzlich, weil das plötzliche Eintreten oder rapide
Anschwellen eines auf Vorstellungen beruhenden Gefühles mit solcher
Intensität auftritt, daß dadurch jeder anderweitige Bewußtseinsinhalt ver-
drängt wird (247)- Auf Grund der Freudschen Lehre glaubt Stekel (454),
daß jeder Neurotiker mit „verdrängten" kriminellen Gedanken kämpfe;
er erkranke, weil sich seine psychische Energie im Kampfe zwischen dem
Kriminellen und den ethischen Hemmungsvorstellungen aufreibe.
Ribot (4o3) hat schon die Theorie aufgestellt, daß das Wesentliche, die
Wurzel des Gefühlslebens, nicht in dem Bewußtsein von Lust und Un-
lust liege, sondern daß die Ursachen in den Tiefen des körperlichen Ge-
fühls zu suchen seien, welches seinerseits eine Resultante der Lebens-
fähigkeiten darstelle. Wichtig für die Beurteilung der Affekte ist die
Äußerung Mezgers (339), ^ *®i falsch, daß die kurze Dauer, der rasche
Ablauf ein charakteristisches Merkmal des wahren Affektes bilde, wie es
vielfach angenommen werde; genau so gut, wie es akute Affekte gebe,
kämen auch chronische Affekle vor, vor allem auf pathologischer Grund-
lage. Mezger (337) führt die Affekte zurück auf die ihnen zugrunde
liegenden Triebe; gerade in ihnen — den guten und schlechten — sei
die kriminalpsychologische Bedeutung der Affekte zu suchen. Jeden-
du: Wliikl .NG DEU EIINFLÜSSE AUFEINANDER 179
falls ist. wie Kurolla (aSS) sagt, die Erforschung der individuellen Affekt-
disposition das fundanientidc Problem der KrimLnalpsychologic, und
Fischer (yi?) verlangt mit Recht als eine der wesentlichsten Aufgaben der
Kriminal[^>sychologie die Analysierung der Verbrecher nach ihren Gha-
rakteix'igeiischaften und Trieben. Vielleicht wird es möglich sein, auf
Grund der Forschungen über imiere Sekretion bald tiefer in das Wesen
des Affekt- und Trieblcbens einzudringen und vor allem die psychopa-
thischen Verbrecher genauer zu ergründen.
Die Störiuigen des innersekretorischen Systems werden meist auf Ver-
anlagung beruhen ; doch können sie auch durch Erkrankungen, besonders
in der Kindheit oder wiUirend des embryonalen Lebens sowie durch über-
mäßigen Alkoholgenuß entstanden sein.
Außer diesen Störungen des Affektes und Trieblebens können Erkran-
kungen oder mangelhafte Veranlagung der Großhirnrinde zu Störungen,
besonders auf intellektuellem Gebiete, führen (190), die häufig Anlaß zu
Delikten geben. Das Gehirn kann primär erkrankt sein, etwa infolge
von vererbter Syphilis, oder sekundär, z. B. infolge primärer Erkran-
kung der Schilddrüse, was Myxödem und Kretinismus hervorrufen
kann (A81, 24i).
12*
II. DER VERBRECHER VOR DER TAT
UNTER BESONDERER BERÜCKSICHTIGUNG
EINZELNER DELIKTSGRUPPEN
Nachdem wir im vorigen Kapitel die Einflüsse, die zum Verbrechen
führen können, im allgemeinen besprochen haben, wenden wir uns nun-
mehr den unmittelbaren Ursachen bestimmter Deliktsgruppen zu und zu-
gleich dem Verhalten des Verbrechers vor der Tat. Gewöhnlich bezeichnet
man die unmittelbare Ursache als Motiv. Manchen ist diese Fassung
allerdings zu eng; so meint Wallner (483), man müsse unter Motiv ein-
mal jede innere und äußere Bedingung für das Zustandekommen einer
Handlung verstehen, andererseits den durch eine Handlung bezweckten
Erfolg. Hübner imd Löwenstein (221a) definieren das Motiv als die
Vorstellung eines Zweckes, sofern sie Antrieb zur Tat wird. Handelt es
sich bei Begehung eines Verbrechens nicht um eine Triebhandlung, so
ist ein Entschluß erforderlich. Kleemann (205) unterscheidet zwischen
Wahlhandlung, bei der aus zwei Motiven eines gewählt wird, und Willkür-
handlung, bei der die Wahl aus mehreren Motiven getroffen wird.
Zafita (5ii) hat die psychischen Voraussetzungen des Entschlusses ge-
prüft und sie in der zeitlichen Differenz zwischen Entschlußfassung und
Realisierung sowie in der Lösung des Wollungskonfliktes gefunden; diese
Lösung besteht bei gleichartigen Wollungsgedanken in der Überwindung
des einen durch den anderen, bei verschiedenen in der Erreichung des
relativ höchsten Intensitätsgrades des Begehrungs- bzw. Sollungselements.
Hurwicz (226) hat darauf hingewiesen, daß die Verbrechensmotive nicht
nur emotioneller, sondern auch intellektueller Art sein können, sich oft
sogar zu Rechtfertigungsgründen steigern. Eine weitere psychologische
Differenzierung hat Senf versucht (h^'j) ; er nennt als Verbr^hensmotive
die absolute Unverfügbarkeit über Hemmungsvorstellungen xmd endlich
die systematische Abstumpfung und Vernichtung der Hemmungs Vorstel-
lungen. Nicht selten findet man, daß es nicht möglich ist, einen Ein-
klang zwischen der Tat und dem später angegebenen Motiv herzustellen,
ohne daß man dem Täter eine Lüge vorwerfen könnte. In diesen Fällen
handelt es sich gewöhnlich um eine Triebhandlung, und die Motivierung
ist eine retrospektive (448).
Um Aufschluß über die Motive zu erhalten, ist es notwendig, daß alle
Hilfsmittel gesammelt werden, die auf sie Bezug haben können. Allge-
mein ist aus der Schrift (i35, 267) und Sprache (260, i5i) der Ver-
brecher manches zu entnehmen, was kriminalpsychologisch von Interesse
ist. Im einzelnen können die Aufzeichnungen von Verbrechern, die Kerker-
palimpseste (809) und Autobiographien (289) von Bedeutung sein; doch
DF.!? VERRHECHKR VOK DKR TM' ]8]
darf man iiiclil vergessen, dalS dioso Aufzeichnungen meist l)ef>timmU'
Zwecke verfolgeji ; vor allem lieben die \ erbrtx:her aus Eitelkeil oder
anderen Gründen ihre Handlungsweise zu beschönigen. Ebenso wird
man Aussagen der Verbrecher vor Gericht nur mit Vorsicht verwenden
dürfen. Dagegen wird man manchi« «rlahren können, wenn man, wie
Plvnl (<)9). kauffmann (203) und Klätr<'i' (-'-59) mit den Verbrecliern
/usanimen lebt, da sie sich natürlich in Freiheit ganz anders geben als
in Gefangenschaft.
Besonders mannigfaltig und nicht selten unklar sind die Ursachen,
die zum Morde führen ^ Einer der wichtigsten Gründe für die Unklar-
heit ist darin zu suchen, daß der Hauptzeuge der Tat, der Ermordete,
keine Angaben mehr machen kann. Besonders selten dringt man in die
Psvcho des Mörders ein. wenn es sich um einen Gattenmord handelt;
oft fehlt, wenigstens äußerlich, die Zerrüttung der Ehe, wie Keukauff
sie in 2 Fällen geschildert hat (/joi). Voß meint (479), die Ehe sei
wie mit einer chinesischen Mauer umgeben. Überhaupt ist, sobald das
Sexualleben bei der Tat eine Rolle spielt, eine Enthüllung der Motive
schwer möglich. Bei dem von mir begutachteten Gattenmörder Rein lag
der Verdacht vor, er habe ein Verhältnis mit einem Mädchen gehabt und
seine Frau ermordet, um das Mädchen heiraten zu können; der Beweis
konnte nicht erbracht werden, da sowohl der Mörder wie auch das Mäd-
chen jegliches Verhältnis zueinander bestritten, obwohl die Zeugenaus-
sagen auf ein solches hinwiesen. — Es gibt aber auch Fälle, in denen
tatsächlich kein greifbares Motiv vorliegt, so, wie es scheint, bei dem ge-
walttätigen, verschlossenen, trotzigen und zynischen Massenmörder Stephan
VVanyck (392) und dem von Huler beschriebenen jugendlichen Raub-
mörder, der schon in der Schule schlecht, verschlossen und heimtückisch
war (222). Vor allem wird dies auch bei den Giftmördern behauptet.
Hellwig (170) meint, es handle sich bei diesen Fällen lediglich um ein
dämonisches Behagen, was auch Scholz (42 4) von der Gesche Gottfried
annimmt, während Abels (3) und Wulffen (5o5) bei ihnen eine sexuelle
Komponente erkennen zu können glauben. Bloch (44) sieht bei vielen
professionellen Giftmischerinnen, vrie Jegado, Brivilliers, Gottfried in
ihren Taten eine sadistische Neigung, was auch bei der Zwanziger nicht
ausgeschlossen erscheint. Feuerbach meint allerdings (87), das Gefühl
unwiderstehlicher Macht, die Freude, eine Kraft zu besitzen, womit sie
jede Beschränkung nach Gefallen umwerfen, jeden Zweck erreichen könne,
sei der Grund für die Giftmorde der Zwanziger; sie selbst sagte dem
Untersuchungsrichter, ihr Tod sei für die Menschen ein Glück; denn es
wniirdo ihr nicht möglich gewesen sein, die Giftmischereien zu unterlassen.
Am verständlichsten dürfte der Raubmord erscheinen; er ist nur einem
moralisch tiefstehenden Individuum zuzutrauen, was auch in den zahl-
reichen beschriebenen Fällen zum Ausdruck kommt; nur gehen die An-
sichten darüber auseinander, ob die Raubmörder langsam dazu erzogen
' Das Wort Mord wird im folgenden nicht im juristischen Sinne gebraucht, sondern in
allen Fällen, in denen Tötungsabsicht bestand.
J82 GÖRING: KRIMINALPSYCHOLOGIE
werden und erst andere Delikte verüben, oder ob sie gleich mit dem Morde
beginnen (208, Agi)' ^^ ^^^ Mörder im allgemeinen gilt, daß sie
die Tat zumeist im jugendlichen Alter begehen, sich also zum Morde
sehr zeitig entschlossen haben (384). Der Raubmord wird vorher genau
überlegt; nur selten zögert der Täter vor der Ausführmig infolge von
Gewissensbissen oder ninamt Alkohol zu sich, umi genügend Kraft zur
Tat zu erlangen. Zuweilen wird nur ein Raub in erster Linie beabsich-
tigt; der Täter ist sich aber schon vor der Tat schlüssig, daß er, falls
er auf Widerstand stoßen sollte, die Ermordung des Gegners vornehmen
werde; auch für diesen Fall wird ein Plan vorher entworfen. Nicht selten
handelt es sich um mehrere Täter, unter denen meist einer — nicht selten
eine Frau (2 44) — der intellektuelle Urheber, ein anderer der Aus-
führende ist. Daß große Not zum Raubmord führt, kann nur dann
angenommen werden, wenn außerdem die endogenen Bedingungen dazu
gegeben sind, wie in Haldys Fall (i53). Psychologisch aufs engste
mit dem Raubmord verknüpft sind die Morde, die auch aus Habgier
begangen werden, ohne daß damit eine Beraubung im juristischen Sinne
verbunden ist. Gewöhnlich handelt es sich um die Erlangung eines Erbes
oder einer Versicherungsumme. Diese Morde sind meist von langer
Hand vorbereitet; so hatte Hau seinen Plan in England erdacht; er gelang
nicht vollkommen; trotzdem ließ er nicht von ihm ab; es ist sehr wahr-
scheinlich, daß ihn vor der Tat Gewissensbisse plagten, die er durch
Verkehr mit Prostituierten zerstreute (5oi). Es sind Fälle bekannt, wie
der des Frankfurter Mörders Hopf und des Grazer Zotter (459), in denen
die Mörder heirateten, um zu morden ; in den genannten Fällen gelang den
Tätern dieses Manöver mehrfach; immer wdeder brachten sie ihre Frauen
um, ohne ertappt zu werden. Auch die Engelmacherin, die für ein Ent-
gelt Kinder umbringt, gehört hierher (2 44)- Den gleichen sittlichen
Tiefstand zeigen die wenigen Mörder, die die Tat begehen, um berühmt
zu werden, wobei meist noch Habgier mitwirkt, ferner der von Höpler
geschilderte Fall (209), in dem ein Mörder im Gefängnis einen Mord
beging, um für den ersten Mord das Wiederaufnahmeverfahren durch-
zusetzen.
Verhältnismäßig zahlreich sind die Gatten- rnid Familienmorde. Mit
Recht sagt Voß (479) > daß gerade die Ehe der Nährboden für die
schwersten Konflikte und heftigsten Leidenschaften sei. Das ständige
Zusammensein steigert Widerwillen und Haß; schließlich genügt bei leicht
erregbaren Menschen ein Wort oder sonst ein unbedeutender Anstoß, um
eine furchtbare Tat hervorzurufen. Nicht selten gesellt sich zu dem Haß
eines Ehegatten seine Liebe zu einem dritten Menschen. In diesen Fällen
tötet, wenn es sich um Frauen handelt, meist nicht der Ehegatte, sondern
der Geliebte unter dem Einfluß des Ehegatten, wie der Allensteiner (428)
und andere Prozesse zeigen; oft ist der Altersunterschied zwischen den
Ehegatten sehr erheblich und der Grund für die ehelichen Zwistig-
keiten (4oi). Dem Morde könnte man gleichstellen, wenn ein Mensch
einen anderen durch gehässige, still arbeitende Verleumdung zum Selbst-
mord treibt (4oi). Meist wird der Mord vorher genau vorbereitet. Der
Haß muß sich nicht immer auf den Ehegatten beziehen: er kann sich
DER VERBRECIIKK VOR DER TAT 183
auch go^^n andere riditen, die im Hause wohnen, besonders g(^en die
Eltern uiul Sch\Niegereltern, die sich auf ihren Altenteil xurückgezogeii
haben luul den jungen Leuten zur La>t fallen, was Keukauff aus der
Geschichte und dem Lclx^n der Naturvölker zu erklären versucht {f\oi),
schließlich überhaupt gegen Leute, die im Wege sind; so ermordete
ein Neffe seine bei ihm und seiner ganzen Familie verhaßte Tante, weil
sie keine pekmiiäre l nterstützung leisten wollte (/»oi), und ein Homo-
sexueller den Onkel eines von ilim zum Sexualverkehr erwählten jungen
Mannes, weil er den Verkehr hindern wollte (33). Kaum glaublich klingt
der von zwei jugendlichen Mördern angegebene Grund, der Ermordete
habe sie so oft verklatscht (29).
Eine wichtige Rolle spielt verschmähte Liebe, Eifersucht, die, wie
Friedmann sagt (io5), zur dämonischen Gewalt wird, wenn man sie
systematisch hegt und emporzüchtet. Es sind genug Fälle bekannt,
in denen besonders der Ehemann seine Frau oder deren wirklichen oder
vermeintlichen Liebhaber umbrachte, ohne sich vorher lange zu besinnen,
als wenn es selbstverständlich sei. Reukauff (4oi) berichtet von einem
Bulgaren, der aus einer Art krankhaften Verirrung ideeller Lebensauf-
fassung sein Mädel ermordete, und Seyfarth (44o) von einer Frau,
die ihren ersten Liebhaher erschoß und dem zweiten Schwefelsäure
ins Gesicht goß, so dedi er erblindete; nach beiden Taten machte sie
Selbstmordversuche: dem zweiten erlag sie. Bei Urningen ist der Mord
aus Eifersucht eine große Ausnahme (364)- Ein Fall ist von Nema-
nitsch (4oi) beschrieben, ein anderer, in dem ein Urning merkmirdiger-
weise seine Frau aus Eifersucht tötete, von Näcke (364). Es ist übrigens
nicht nötig, daß sich die Eifersucht gegen ein bestimmtes Objekt richtet:
es gibt auch eine abstrakte Eifersucht, wie Marcuse sagt (322), aus
sinnlichem Despotismus.
Es kommen Fälle vor, bei denen infolge drückender Not zum Morde
gegriffen wird; meist beabsichtigt der Täter zugleich sich selbst zu
töten. Der Grad der Not steht dabei in der Regel in umgekehrtem Ver-
hältnis zur Schwere der Psychopathie. Muralt (355) spricht in diesen
Fällen von kompliziertem, Straßmann (463) von kombiniertem oder
erweitertem Selbstmord (487). Liebe zu den nächsten Angehörigen,
besonders zu den unmündigen Kindern, und Mitleid mit ihnen sind die
Tnebfeder zu der Tat. Der Entschluß fällt meist sehr schwer; schließlich
treibt die Verzweiflung zur Tat. Ergreifend ist die Schilderung von
dem Schicksal des Christian Holzwart (5i5), der seine Frau und Kinder
umbrachte; nichts .Abnormes konnte an ihm festgestellt werden, nur
das Unglück trieb ihn endlich zur Tat, zu der ihm, wie er selbst sagte,
die Liebe die Kraft gab; der Selbstmordversuch mißglückte. Zu dieser
Gruppe gehören die meisten Fälle von Massenmord, soweit sie nicht
von Geistesgestörten begangen werden (11 4, 494)- Das Mitleid mit
einem unheilbar kranken Kinde hat schon zum Morde geführt, wenn
die Mutter glaubte, das Kind \\äirde nach ihrem Tod unversorgt sein (364)-
Auch bei unglücklichen Ehen kommt die Tötung der Kinder und Selbst-
mord nicht so selten vor. Erfolgt die Tat gleich nach einem ehelichen
184 GÖRING : KRIMrSALPSYCHOLOGIE
Zwist, so sind die Vorbereitungen meist kurz; die Streitigkeit wäre dann
das auslösende Moment für eine schon lange beabsichtigte Tat.
Ein interessanter Fall ist von Reukauff beschrieben (4oi), in dem
ein Selbstmordversuch dem Morde vorausging; der Selbstmordversuch
erfolgte aus wirtschaftlicher Not und ehelichem Zwiste, der Mord wegen
Verbitterung, vor aJlem wohl desw^en, weil die Frau auf den Selbst-
mordversuch mit den sehr schweren Verletzungen nicht reagierte.
Der erweiterte Selbstmord kommt auch noch vor bei Liebenden, die
aus irgendeinem Grunde sich trennen müssen. In diesen Fällen ist der
Entschluß meist außerordentlich schwer. Tagelang trägt sich das Paar
mit dem Gedanken; aber immer wieder wird die Tat aufgeschoben.
Gewöhnlich ist die Frau der treibende, der Mann der ausführende, infolge-
dessen auch der hemmende Teil. Der Einfluß der Frau auf den Mann
ist unter Umständen so bedeutend, daß man von einer Hörigkeit sprechen
kann (211). Meist liegt eine schwere psychopathische Veranlagung bei
beiden Teilen vor. Seltener sind die Fälle, in denen auf Wunsch ein
Mord begangen wird, ein lanschließender Selbstmord aber nicht beabsichtigt
ist, wie im Falle Brunke (407). Psychologisch kaum verständlich sind
die Morde, die ausgeführt werden, angeblich um selbst hingerichtet zu
werden (i84).
Von anderen Ursachen sind noch zu erwähnen der Mord aus Rache,
der bei uns von Frauen ausgeübt wird, wenn der Geliebte sie verschmäht,
auch ohne daß dabei Eifersucht im Spiele zu sein braucht (4oi) ; besonders
oft finden wir ihn bei Slawen imd Südeuropäern, von denen er meist
nicht als ein entehrendes Verbrechen aufgefaßt wird (25i); es sei
nur an die korsische Vendetta erinnert. Scholz hat einen Fall beschrieben
(/|25), in dem ein 1 4 jähriges Mädchen ein 2V2 jähriges Kind in eine
Klosettgrube warf, weil es von der Mutter des Kindes eine Ohrfeige
bekommen hatte, und ein 81/2 jähriges Kind schlug und dann bewußtlos,
aber noch lebend verscharrte, weil es angeblich unartig gewesen war.
Politische Morde waren früher vor allem in den romanischen Ländern
übhch (2o4), in revolutionären Zeiten sind sie bekanntlich auch bei uns
beliebt. Selten ist der Mord aus Aberglauben. Der Lustmord wird bei
den Sexualdelikten behandelt werden. Von ihm sind die Fälle zu unter-
scheiden, in denen das Opfer getötet wird, um den Zeugen eines anderen
Verbrechens, z. B. einer Notzucht, zu verdecken. Diese Fälle sind vielleicht
auch häufiger als die Lustmorde. Man findet sie nicht nur zum Ver-
decken von Sexualdelikten, sondern auch von anderen Delikten, besonders
schwerer Diebstähle, und nicht zuletzt, um eine Schwangerschaft aus der
Welt zu schaffen; im letzteren Falle geht eine Vorbereitung meist
vorher, während bei den anderen, besonders bei den Sexualdelikten, die
Absicht, zu töten, meist plötzlich auftritt.
Bei Jugendlichen kommen Morde aus Heimweh vor (242); die psycho-
logische Erklärimg ist oft schwer; manchmal wird der Drang nach
Hause so groß sein, daß nichts, selbst ein Mord nicht, gescheut wird,
lun heimzukommen.
Bei Ermordung durch Geisteskranke (129) sind die Motive nicht
immer leicht sicherzustellen (365) ; oft sind sie durch die der Tat
DEH VEHBRECHER VOR DER TAT 185
zMgnin<l<' lU>^'eiulo WahuiiNN- erklärbar: es handelt sich gewöhnlich um
\orfolgiiiig>i(l«MMi odiT sehr schwere Dcpri'ssioiieii mit Versündigungs-
ideen; in U't/.tenMM Falle handelt <'s sich dann um Krmordung d<'r An-
gehörigen mit Selbstmordabsicht, alst) um eine Krgänzung zum normal-
psychologischen erweiterten Selbstmord. Mt)rde auf Grund von Zwangs-
gedanken sind sehr selten. Angriffe auf Personen in Schlaftrunkenheit
sind mehrfach beschrieb<Mi (36'i), ohne dalS jedoch die Ermordung
erfolgte.
Psychologisch am nächsten steht dem Mord die beabsichtigte schwere
Körperverletzimg; die Motive können dieselben .sein. .Auf den tiefsten
sittlichen Stand weisen die Kindsmißhandlungen; die Gründe dafür
sind meist darin zu suchen, daß ein Elternteil zum zweiten Male ge-
heiratet hat, das Kind ihnen lästig ist, oder daß bei unehelichen Kindern
eine Entfremdung zwischen Mutter und Kind eingetreten ist, weil es
zuerst bei Fremden aufgezogen wurde (210, f\^\2). Teils werden sie im
Affekt, teils aber auch mit der Absicht, den Tod des Kindes herbei-
zuführen, vorgenommen.
Von moralischem Defekt zeugen auch die Kastrationen (219) und auf
Entstellung hinzielende Körperverletzungen (78) aus Eifersucht. Das
Schlagen der Kinder auf das Gesäß (20) und das sogenannte Messer-
stechen (862) können auf sadistische Neigungen hinweisen; doch sagt
Näcke mit Recht (364), nicht laus der Tat, sondern nur aus den Motiven
könne erkannt werden, ob Sadismus vorliege.
Die meisten Körperverletzungen werden im Affekt begangen. Die
Epileptoiden sind vor allem gefährlich; der kleinste Anlaß genügt, um
eine Entladung herbeizuführen. Als krasser Fall einer Körperverletzung
im Affekt sei der von Altmann (7) erwähnt, in dem der Täter nach
dem Beischlaf die Dirne schwer verletzte, aus Ekel über sich selbst
und aus Wut darüber, daß die Dirne ihn verleitet hatte. Bei den Affekt-
delikten spielt der voraufgegangene Alkoholgenuß meist eine große Rolle
(274)- Sehr lehrreich sind die statistischen Mitteilungen, die darüber
veröffentlicht worden sind, vor allem die Erhebungen in Bayern (36A)
imd Belgien (186). Es sei auch auf die Gruber-Kräpelinschen Wand-
tafeln, auf Azcarates (25), Aschaffenburgs (i4) und Aulls (2/4) Aus-
fühnuigen sowde auf die Berufs- und geographische Verbrecherstatistik
(53, 217, 344) hingewiesen. Man darf aber nie vergessen, daß, wie
schon oben erwähnt, in der Statistik immer nur eine Bedingung zum
Ausdruck konmit (258) und außerdem vielfach Delikte zusammengefaßt
werden, die psychologisch nicht zusammengehören.
Natürlich reagiert nicht jeder Mensch auf Alkohol gleichstark; tritt
nach geringen Mengen eine übermäßig starke Wirkung ein, so spricht
man von pathologischem Rausch. An der Münchener Klinik habe ich
einen vielfach vorbestraften Mann u. a. mit dem Weilerschen Arbeit-
schreiber untersucht; er leistete an den alkoholfreien Tagen öög kgcm,
an den AJkoholtagen 1268 kgcm (126). Einen noch größeren Unter-
schied erreichte ein in der Gießener Klinik beobachteter Gelegenheits-
J86 GÖRING: KRIIVmVALPSYCHOLOGIE
arbeiter, nämlich an den alkoholfreien Tagen 674 kgcm, an den Vlkohol-
tagen i5i7 kgcm.
Einer besonderen Besprechung bedarf die Kindstötung. Die Mutter
ist meist in einer ungünstigen wirtschaftlichen Lage, oft in einer Not-
lage; dazu kommt die Sorge, was aus dem Kinde, das sie mangels eines
eigenen Hausstandes nicht selbst aufziehen kann, werden soll. Gleispach
(118) glaubt, die Mutter könne das Wimmern de^ Kindes als Bitte
um Tötung auffassen, der sie in ihrer Erregung nachkommt. Dazu kommt
die Furcht vor Schande, die sich natürlich nach der Ansicht der Volks-
schicht richtet, zu der die Mutter gehört. Gleispach hat darauf auf-
merksam gemacht, daß z. B. in Kärnten trotz der großen ZaM der
unehelich Geborenen sehr wenig Kindstötungen vorkommen (199), was.
er auf geringe Not und vor allem auf den wenig ausgeprägten Ehren-
notstand zurückführt. L'ber die genannten Motive kann die Mutter schon
während ihrer Schwangerschaft nachdenken, ^vie eine in der Gießener
Klinik begutachtete Magd, die ihr erstes Kind eine Stunde nach der
Geburt so, wie sie es vorgehabt hatte, tötete, während sie nach der
zweiten Geburt 16 Stunden wartete. Die Ansichten darüber, wie der Gre-
burtsvorgang auf die Psyche wirkt, gehen auseinander. Groß (iSg) hält
die physiologischen und psychologischen Momente, die zur Zeit der
Geburt auftreten, nicht für ausschlaggebend; Bischoff (4i) meint, die
Affektt? der heimlich Schwangeren würden durch den Geburlsvorgang
normalerweise nicht zu pathologischer Höhe g^teigert, sehr schwere
Ergriffenheit würde durch den Geburtsvorgang nicht gefördert, sondern
gehemmt, besondere Disposition besäßen nur geistesschwache ledige Erst-
gebärende. Die meisten anderen Autoren teilen diese Ansicht nicht.
Margarete Meier (33 1) und Plempel (38 1) halten den erschütternden
und schAvächenden Einfluß beim Geburts Vorgang für derart ver>virrend,
daß die Furcht vor Not imd Schande mit abnormer Kraft ausgestattet
wird, für das ,, Zuviel" des Reizzuwachses, das die Tat zur Ausführung
kommen läßt. Der Entschluß zur Kindstötung werde der Mutter meist
durch die Wucht der erdrückenden Tatsachen imd Verhältnisse erst
im Augenblick der Tat aufgezwungen. Gleispach (118) will gerade den
Geburtschmerzen die größte Bedeutung beimessen; er vergleicht die
häufige, heftige, wenn auch nur vorübergehende Abneigung der Mutter
gegen das neugeborene Kind mit der Wut imgebildeter Personen bei
Schmerzen gegen den Urheber oder vermeintlichen Urheber des Schmerzes,
besonders leblose Gegenstände und Tiere. Er widerspricht Groß' Ansicht
(iSg), daß stets äußere Momente mitgewirkt haben müssen. Aschaffen-
burg hat schon zweimal den Wunsch ausgesprochen (18), ein psychiatrisch
geschulter Frauenarzt möge die bei normalen ehelichen some unehelichen
Geburten auftretenden Zustände genau beobachten und analysieren, ohne
daß er, soviel ich weiß, bisher erfüllt wurde; nur Aschner ist auf die
Psyche des Weibes etwas näher eingegangen (21).
Die Kindstötung kann als eine höhere Stufe der Abtreibung aufgefaßt
werden (10). Daher findet man bei der .\b treibung im allgemeinen
dieselben Motive wie bei der Kindstötun?: nur fällt das im Geburts-
DKR VERBRECHER VOR DER TAT 187
Vorgang selbst licgeiulo Moinont fort. Dagegi^n kommt bei der Abtreibung
hinzu, (lalS sie dem sittlichen Empfinden des Volkes nicht widerspricht
(Siga). Dies gilt vor allem für inlerne Mittel, weniger für mechanische
örtliche Eingriffe.
Sowohl bei der .\btreibung als auch bei der Kindstötung gibt es
genug Eälle. in denen lediglich der moralische Tiefstand der Mutter
die Tat hervorbringt (388).
Bei den Siltlichkeitsdelikten führt in vielen Eällen ein übermäßiger
Sexualtrieb, den Moll in den Detumeszenz- und Kontrektationstrieb
zerlegt (3/i3, 3/to), und ein Mangel von Hemmungen ihm gegenüber
zur Tat, vor allem zur Notzucht und unzüchtigen Handlungen an Kindern.
Diese beiden Delikte werden besonders oft von Schwachsinnigen be-
gangen, bei denen die Hemmungen meist sehr gering, der Sexualtrieb
dagegen sehr stark ausgebildet ist. Es gibt aber auch Fälle, in denen
genügend Hemmmigen vorliegen : sie überwinden zunächst den Drang
zu sexueller Betätigung; der Kampf wird fortgesetzt, bis schließlich
die Hemmungen überwunden werden. So hat ein von mir in Gießen
begutachteter Arbeiter, der unzüchtige Handlungen an einem jungen Mäd-
chen vorgenommen hatte, angegeben, schon tagelang vor der Tat sei
er beim Anblick des Mädchens erregt gewesen: er habe seine Gesell-
schaft gemieden, damit nichts passiere, aber schließlich sei er dem
Triebe doch unterlegen. Bei besonders heftigen Kämpfen spiegelt sich
die innere Tätigkeit außen wnder; Unruhe, Zittern, Rötung des Kopfes
mid Schweißausbruch treten auf. Oft fehlt jede äußere Ursache für
die Tat, wie bei dem von Ungewdtter (477) erwähnten Manne, der
wegen seiner Frömmigkeit bekannt war und 1 1 Kinder hatte, trotzdem
aber keine Gelegenheit zm- sexuellen Betätigung vorübergehen ließ und
4o Jahre lang unzüchtige Handlimgen an Kindern vornahm. Besonders
verhängnisvoll ist die Wirkung des Alkohols; er beseitigt nicht nur
die Hemmungen, sondern steigert auch die sexuelle Begehrlichkeit (128).
Krohne schloß einen i883 gehaltenen Vortrag mit den Worten: „Die
Verbrechen gegen die Sittlichkeit, mögen sie Notzucht, Unzucht mit
Erwachsenen und Kindern heißen, haben fast ausschließlich ihre Ursache
im Branntwein.'" Baiser (26), Bonhoeffer (62) und Dannemann (66)
behaupten, daß Notzuchtsdelikte nur selten vorkämen, ohne daß Alkohol
dabei eine Rolle spiele. xAschaffenburg (i4) bringt eine statistische
Tabelle, aus der wir ersehen, daß unter 44 Sittlichkeitsverbrechern
29 Gelegenheits- imd 4 Gewohnheitstrinker waren. Ganz plötzlich auf-
tretende Triebhandlungen kommen nur bei Geisteskranken vor, vor allem
bei epileptischen Dämmerzuständen und kata tonen Erregungszuständen.
In diesen Fällen konmit dem Kranken das Unrechte der Tat gar nicht
zum Bewußtsein. Zu solchen krankhaften Handlungen gehört ein Teil
der Fälle von Exhibitionismus. Er kann aber auch andere Ursachen
haben; Mönkemöller (349) ^^^^ darauf hingewiesen, daß das Ex-
hibilionieren nicht selten bei Trinkern vorkomme und damit zu erklären
sei, daß der Alkohol nicht nur die sexuelle Begehrlichkeit steigere, sondern
auch die sexuelle Leistungsfähigkeit herabsetze. Im übrigen sieht Mönke-
^83 GÖRING : KRIMINALPSYCHOLOGIE
möUer im Exhibitionieren nur den Wunsch des Täters, eine Person
des anderen Geschlechts sexuell zu erregen; es handelt sich dabei stets
um Männer, da Frauen nur im geisteskranken Zustande exhibitionieren.
Wulffen hält den Exliibitionismus für einen abgeschwächten Sadismus
(öo/i), eine Ansicht, die wohl nur in einzelnen Fällen zutreffen dürfte.
Sadistische Akte werden entweder gut vorbereitet oder triebartig während
des Geschlechtsverkehrs ausgeübt. Es ist bekannt, daß Andeutungen
von Sadismus auch beim normalen Geschlechtsverkehr vorkommen (44)»
daß der Biß einen Kuß ersetzen kann, daß ferner sexuelle G«sten zur
Grausamkeit reizen (364) und Schreien, Schmerzen, vor allem das
Blul des Partners die Libido steigern körmen (362, i34)- So kann
es vorkommen, daß der Beischlaf begonnen wdrd ohne jede Absicht,
sadistische Handlungen vorzunehmen, und erst während der Ausführung
der sadistische Trieb zur Betätigung drängt. Den Höhepunkt sadistischer
Handlungen stellt der Lustmord dar (276, 5o4). Psychologisch ist er
nicht immer in gleicher Weise zu erklären; es gibt Lustmörder, die
im Überwältigen und Zerstören ihre sexuelle Befriedigung finden, und
solche, die erst während des Koitus den Drang zum Töten verspüren,
hyperhedonische Lustmörder, wie Ziehen sie nennt (438, 233) ; Marcuse
meint (322), beim Lustmord handle es sich oft nicht um einen reinen
Sadismus; er sucht vielmehr die Ursache in dem Haß gegen das weib-
liche Mysterium des Geschlechtlichen. Eine sexuelle Ursache hatte auch
der von Abels (3) berichtete Giftmord, der von einer Frau begangen
wurde, angeblich imi eine Leiche schmücken zu können, da bei einer
solchen Handlung stets sexuelle Erregungen auftraten. Es sollen auch
Morde vorkommen, die lediglich aus Übersexualität begangen werden,
wenn der seelische Drang nach der Geliebten zu groß wird oder die
sinnliche Begierde nach Wollust über isich selbst hinausgehen will (322);
so tötete Streffau im höchsten sexuellen Affekt seine geliebte, jung-
fräuliche Braut, weil sie ihm den Beischlaf verweigerte (436).
Auch zu Diebstählen kann der Sexualtrieb führen. Es gibt Menschen,
vor allem Männer, deren Sexualtrieb auf einen bestimmten Gegenstand,
den Fetisch, gerichtet ist; sie versuchen ihn auf jede Weise zu erhalten,
sei es durch Kauf, sei es durch Diebstahl; manchmal ist sogar der Dieb-
stahl für die sexuelle Erregung Vorbedingung. Näcke hat darauf auf-
merksam gemacht (363), daß der Fetischismus aus dem Normalen
hers^orgegangen sei ; denn es seien nicht nur die primären und sekundären
Geschlechtsmerkmale, die den Mann erregten, sondern noch viele andere
Reize, bald bewußt, bald unbewußt. In anderen Fällen ist der Trieb
nicht auf einen bestimmten Gegenstand, sondern die Beschädigung eines
solchen gerichtet; sie besteht meist in einer Besudelung von Kleidern;
es handelt sich dabei um eine Art von Sadismus; die psychologischen
Merkmale, die für den Messerstecher als typisch von Näcke angegeben
sind (362), finden auch hierauf Anwendung (47)-
Verhältnismäßig selten kommt heutzutage der Inzest vor. Als Grund
werden die merkwürdigsten Umstände angegeben, z. B. die Ähnlichkeit
der Tochter mit der verstorbenen Frau oder die unnötigen Kosten, die
der Sohn sich machen würde, wenn er mit einem Mädchen sich einlasse
DKU VKRBKKCIIKil \()U DKU TAT 189
(3 19). Meist liegt boi den Tätern eine erhebliche geistige Minderwertig-
keit vor, die sie auch daran hindert, für das Verbot den Inzestes Ver-
ständnis zu zeigen; dazu kommt eine große Verwahrlosung im allge-
meinen {'Ol'])- Besonders kraii ist der von Pollitz beschriebene F'all
(385 a). in dem die eigene Mutter von ihrtnn sittlich sehr defekten,
intellektuell beschränkten, sehr sinnlich veranlagten Sohne genotzüchtigt
wurde.
Die verbreiletste abnorme Geschlechtsbetätigung ist die homosexuelle.
Im allgemeinen haben die Homosexuellen genau denselben Trieb zum
gleichen Geschlecht wie die Heterosexuellen zum anderen. Ein von mir
begutachteter Homosexueller erklärte, so kalt, wie er vielleicht nach
aulSen erscheine, so heiß, ja wütend toll seien seine Gefühle; aber
gegen das weibliche Geschlecht habe er eine ausgesprochene Abneigung,
in seinen Träumen sehe er nur Knaben, meist umgeben von roten
Blumen. Sicher würden die Homosexuellen den Geschlechtsverkehr mit
ihresgleichen genau so regelmäßig ausüben, falls das Gesetz es nicht
verbieten würde. Bei der Sodomie handelt es sich gewöhnlich um mangel-
hafte Erziehung, geringe Begabung (i52) und einen Mangel an Ge-
legenheit zum normalen Geschlechtsverkehr (79), die g^stige Gelegen-
heit zur Betätigung an Tieren und einen starken Geschlechtstrieb (467)-
Ähnlich verhält es sich bei der Leichenschändimg ; doch spielt hier
nicht so selten die Perversion des Geschlechtstriebes eine Rolle (52/i).
Gerade bei Beurteilung der Sexualverbrechen besteht die Neigimg,
aus der Tat selbst Schlüsse auf eine Geisteskrankheit des Täters zu ziehen.
Es muß daher immer wieder darauf hingewiesen werden (127), daß
eine noch so unglaubliche Tat nicht unbedingt von einem Geisteskranken
begangen sein muß. Nur eine genaue Analyse der ganzen Persönlichkeil
kami uns Aufschluß geben.
Nach Hentig und Viernstein (52 2) soll sich nach der Beendigung
des Krieges die Zahl der Sittlichkeitsverbrecher vermindert haben; sie
schieben dieses einerseits auf die politischen Unruhen und die Möglich-
keil, rohe und destruktive Instinkte unter allen möglichen Formen aus-
zuleben, andererseits auf den großen Frauenüberschuß mit seiner weit-
gehenden Entspannung der sexuellen Abwehrstellung sowie der Möglich-
keit, ohne Schwierigkeit Geldentschädigungen zu zahlen.
Um die Vergehen gegen die Ehre richtig zu beurteilen, muß man
zunächst den Haß und Neid näher betrachten. Die häufigsten Ursachen
des Hasses sind Eifersucht, Liebe oder ein zugefügter Schmerz. Der
Neid entspringt meist aus der wirtschaftlichen Lage; er ist tiefer
eingewurzelt als der Haß, gibt aber nicht so leicht zu impulsiven Hand-
lungen Anlaß (i34)- Bei Verleumdungen und falschen Anschuldigungen
spielen Haß und Neid eine große Rolle. Während die Beleidigung
gewöhnlich in der Erregung, im Verlauf eines oft unbedeutenden Streites,
nicht selten unter dem Einfluß von Alkohol ausgesprochen wird, geht
der Verleumdung und falschen Anschuldigung meist eine Überlegung
voraus; man spricht nicht zu seinem Gegner, sondern über ihn zu
anderen, und bezweckt in der Regel, ihm einen Schaden irgendwelcher
jgQ GÖRING: KIÜMINALPSYCHOLOGIE
Art zuzufügen. Diese beiden Delikte werden besonders gern von Frauen
begangen; eine hysterische Veranlagung findet man bei den Täterinnen
häufig (378); es besteht ein Bedürfnis nach starken Gefühls- und
Phantasieerregungen (4o). Die Ursache scheint gewöhnlich darin zu
suchen zu sein, daß die Täterin von ihrem Geliebten verlassen wurde
oder wenigstens sich von ihm zurückgesetzt fülilt und sich an ihm rächen
möchte, vor allem auch verhindern will, daß der Abtrünnige bei einer
anderen sein Glück findet (Sgö). Es gibt aber auch moralisch tief-
stehende Individuen, die nur deswegen die genannten Delikte begehen,
weil sie auf das Glück anderer neidisch sind, ohne ein tieferes Interesse
au ihnen zu haben (364).
Fälle sind bekannt, in denen Verleumdungen und falsche An-
schuldigungen nur deswegen begangen wurden, damit der Täter sich
selbst vor Schaden schützt, z. B. aus Scham vor einem • mißglückten
Selbstmord (397) oder, um verlorenes Geld nicht ersetzen zu müssen.
Haldy berichtet von einem Mädchen (i54), welches einen Notzuchts-
versuch vortäuschte, weil es HeimAveh hatte imd nach Hause wollte.
In diesen Fällen wird ein Täter nicht genannt. Selbstbezichtigungen
sind vorgekommen, um sich der Militärdienstpflicht zu entziehen (364).
Beschuldigungen und Selbstanzeigen Geisteskranker infolge von Wahn-
ideen, Sinnestäuschungen, Angstzuständen, Zwangsvorstellungen u. a.
kommen oft vor (220, i58, 197). Von besonderer Wichtigkeit sind
die falschen Anschuldigungen Hysterischer nach Narkosen und Hypnosen
(197, 220); es scheint nicht ausgeschlossen, daß die Ursache in erotischen
Träumen zu suchen ist (2).
Wie schon im i. Teil beschrieben, bildet die Notlage und die Habgier
die Hauptursache für die Eigentumsdelikte. Meist wenden sie ohne
langes Besinnen begangen, besonders wenn die Gelegenheit günstig ist.
Unter den Eigentumsverbrechern findet man viele Gewohnheitsverbrecher,
die zm* Arbeit keine Neigung verspüren imd lieber auf unehrliche Weise
sich ihr Brot verschaffen. Es gibt sogar unter ihnen solche, die aus
Freude an ihrer Tätigkeit sie fortsetzen (486), wie der Wecliselfahrer,
der ims in seiner Lebensbeschreibung schildert (6), mit welchem Eifer
er seinem Handwerk nachging und, schon dem Tode nahe, trotz bester
häuslicher Pflege von ihm nicht lassen konnte. Dahin gehören auch die
mit einer besonderen Phantasie ausgestatteten Hochstapler, wie Mano-
lescu (3 16), der noch im TUter im Schwindeln auf literarischem Gebiet
und im Erfinden von Diebstählen Befriedigung fand (5o6), ferner der
von mir beschriebene hysterische Schwindler, der sich so tief in seine
Schwindlerrolle hineinversenkte, daß er vorübergehend Schauspiel und
Wirklichkeit selbst nicht mehr recht auseinander zu halten vermochte (i25).
Auch Karl May dürfte hierher zu rechnen sein; ihm gelang es aber
noch rechtzeitig, seine phantastischen Neigungen auf das literarische
Gebiet zu übertragen (179). Zu dieser Art Betrug gehört eine besondere
Begabung für einfallsmäßiges Denken (54), ein Überwiegen der lust-
vollen Betonung des Ichkomplexes (37). Für den Hochstapler ist das
Schwindeln Bedürfnis. Eine besondere Bolle spielt die Phantasie bei
DKU VERBRECHER VOR DKK lAT m
jugendlichoii Nerbrcchcni; sie wird durch Lektüre und Kinovorstellun-
gen angeregt und führt meist zu Diebstiihlen, die mit groliem Kalfine-
ment angelegt sind, während für lietrug imd Unterschlagung weniger
Neigung In^stelit, weil bei diesen das Ronumlische fehlt und d<'r Erfolg
nicht so sichtbar ist ('if\']).
Zu don iVlikton aus Leidenschaft gehören auch das Schmuggeln, Wil-
dem und Falschspielen ; bei ihnen kann natürlich die Geldgier nebenher
oder als treibende Kraft beteiligt sein. Das Schmuggeln wird, wenn wir
von dem berufsmäßigen der Grenzbevölkening^ absehen, mit besonderer
Vorliebe von Frauen betrieben; es gibt Frauen, die in den besten Ver-
hältnissen leben, aber trotzdem keine Grenze überschreiten, olme zu
schmuggeln. Abels bezeichnet solche Fälle als Sport (3, 5). Bei diesen
Delikten scheint der besondere Reiz in dem Wettstreit der Kräfte, vor
allem der geistigen Kräfte, in dem raffinierten Überwinden des Gegners
zu liegen. Beim Wildern und Falschspielen ist die Handlung aji sich
schon von Bedeutung; das Jagen und Spielen sind Leidenschaften, die
bei manchen Menschen nicht einzudämmen sind. Einen ähnlichen Reiz
findet man im Warenhausdiebstahl (74)- Nicht aus Not, nicht zur
Befriedigung eines tatsächlichen Bedürfnisses wird gestohlen, sondern
zwecklos. Es handelt sich fast nui um Frauen, nach Gudden (i5o) in
99 Prozent der Fälle. Legrand du Saulle (287) und Lombroso-Ferrero (3io)
haben darauf hingewiesen, daß der Warenhausdiebstahl sehr oft zur
Zeit der Menses begangen wird. Nebenbei hat auch die leichte Möghch-
keit zum Stehlen, ebenso wie bei den Diebstählen durch Dienstboten,
einen Einfluß auf den Entschluß des Täters (229). Eine besondere
sexuelle Grundlage finden wir bei den Diebstählen der Fetischisten, die
bei den Sexualdelikten erwähnt wurden.
Auch falscher Stolz imd Eitelkeit können die Ursache des Diebstahls sein ;
so begutachtete ich in München einen jungen Mann, der die Erlaubnis hatte,
im Nationalmuseum zu arbeiten, und bei dieser Gelegenheit wertvolle
Münzen entwendete, um sie zu verkaufen; seine Eltern hatten ihm immer
wieder vorgeworfen, daß er nichts verdiene; er konnte sich aber zu
einem Examen nicht aufraffen; andererseits wollte er auch keine anderen
als wissenschaftliche Arbeiten ausführen. Selten sind Diebstähle aus
Rache. In Gießen woirde ein Bankbeamter begutachtet, der 280 000 Mark
unterschlagen hatte, weil er sich für eine vermeintliche Zurücksetzung
seitens der Bankleitung rächen wollte, was ihm mit Gewalt nicht mög-
lich erschien.
Sogar ideale Gründe können zum Diebstahl führen, z. B. die Liebe zu
Angehörigen, welche Not leiden, der Wunsch, andere zu beschenken; bei
letzterem spielt allerdings meist Eitelkeit mit. Auch bei dem von Abels
beschriebenen Banknotenfälscher (3), welcher die Tat beging, um Ma-
lariaforschungen ausführen zu können, war wohl die Hoffnung auf Ruhm
und Belohnung ein treibender Faktor. Höpler (207) berichtet von einem
18 jährigen Manne, der stahl, um eingesperrt zu werden, weil er hoffte,,
auf diese Weise von seinem liederlichen Leben, dem er aus eigener Kraft
nicht mehr entsagen konnte, geheut zu werden. Karl Schurz hat selbst
beschrieben (/i3i), wie er aus falscher Scham fast zum Betrüger wurde.
^92 GÖRING: KRIMINALPSYCHQLOGIE
Über Diebstähle aus Aberglauben ist von Hellwig und anderen be-
richtet worden, wie im i. Teil dargelegt wurde.
Geisteskranke verüben Eigentumsdelikte infolge von Wahnideen, be-
sonders Größenideen, Dämmerzuständen, Urteilschwäche u. a.
Als Eigentumsdelikte müssen auch Kuppelei und Zuhälterei aufgefaßt
werden, da es sich bei ihnen in der Hauptsache um Gelderwerb
handelt. Allerdings gibt es auch Ausnahmen; so hat Mezger einen Fall
beschrieben (S/jo), in dem ein Mann das Verhältnis seiner Frau zu einem
Dritten begünstigte, weil er impotent war, seine Frau aber ohne Sexual-
verkehr nicht leben zu können glaubte, vor allem auch, weil ihm dieses
Verhältnis einen sinnlich-seelischen Genuß bereitete.
Sachbeschädigungen kommen viel seltener vor als Diebstähle, weil für
den Täter meist kein Vorteil damit verbunden ist; sie werden im Affekt
oder aus Rache ausgeführt und zeugen oft von großer Roheit. Gerade
sie reizen zur Nachahmung, wie man es bei der Zerstörung unserer Grab-
denkmäler durch die Franzosen gesehen hat. Die kindliche Zerstönmg-
sucht beruht meist nicht auf unedlen Motiven, sondern lediglich auf der
Lust am Unfug (347)- Nur Baumfrevel und Tierquälerei weisen auf
einen schlechten Charakter hin. Hie imd da liegt der Sachbeschädigung
doch die Erreichung eines Lustgefühls zugrunde. So besudelte eine Frau
ein Haus mit Kot, um einen Reflektanten von dem Kauf des Hauses ab-
zuhalten, da sie ihm ihr Haus verkaufen wollte (294).
Sehr schwierig kann die Beurteilung des Brandstifters sein. Am klarsten
sind die Fälle, in denen aus Rache, Haß, Habsucht oder Not gehandelt
wird; dieses sind auch die häufigsten Ursachen (472). Eine besondere
Spezialität bilden die Brände, die angelegt werden, um eine hohe Ver-
sichenmgsumme zu erhalten (4i4)- Aus ihnen spricht eine besonders
rohe Gesinnung; meist ist es den Tätern vollkommen gleichgültig, oh
bei dem Brande Menschen zugrunde gehen. Es werden auch Brände au-
g^elegt, um andere Verbrechen zu verdecken oder um während des Brandes
andere Verbrechen auszuführen (43, 62). Gerade bei der Brandstiftung
darf man den Angaben des Täters bezüglich des Motives nicht trauen.
In zahlreichen Fällen kann der Täter aber auch wirklich das Motiv nicht
angeben; manchmal scheint der Grund in der Freude am Feuer zu suchen
zu sein, z. B. bei Kindern (364). Dieser Freude am Feuer kann eine
nicht zum Bewußtsein kommende Sexualempfindung zugrunde liegen,
worauf u. a. Byloff hingewiesen hat (60) ; auffallend ist, daß die Nei-
gung zum Anlegen von Feuer besonders stark ist zur Zeit der Menstruation
und Pubertät. Bei Erwachsenen würde man von einem Rückfall in das
kindliche Spiel mit dem Feuer sprechen können (4 18). Nicht selten
spielt dabei vorheriger Alkoholgenuß eine Rolle (472). Der Brandstifter
von Trofaiach motivierte seine Taten mit der Lustempfindung, die ihn
befällt, wenn er das Feuerblasen hört, mit der Feuerwehr ausrückt,
das Feuer sieht und bei den Rettungsarbeiten mitwirkt (60). Die Freude
an den Bränden wurde besonders im Kriege, vor allem bei den Russen,
wahrgenommen, während im Inland die Zahl der Brandstiftungen zurück-
ging (472). Die Anhänger Freuds halten die Brandstiftung für eine
symbolische Handlung, die der gestauten Libido Abfluß verschafft (4 18),
DEK \i:nuiu:(:nEU vou dkk tat 193
was nach Többens Ansicht (472) entsclüedon zu weit geht. Oft wird,
besonders bei weibllclien Dienstboten, als Grund der Tat Heimweh an-
gegeben ; es macht aber nicht selten den Eindruck, als ob es .>ich um
endogene \ erstimmungen handle, die sich nach außen als Heimweh
projizieren (242); *^ Sexualleben scheint dabei nicht unbeteiligt zu
sein. Als seltene Motive seien genannt die Brandlegung aus Ruhmsucht
nach dem \orbild des Herostrat und aus /Vborglauben (175). Von Geistes-
gestörten werden nach Kraepelin (273) Brandstiftungen begangen, wenn
eine Abschweifung oder Ent^Nicklungshenunung der psychischen Funk-
tionen vorliegt oder infolge von Wahnideen und pathologischen Affekten,
bei denen die Brandstiftung eine Entlastung des psychischen Druckes
herbeiführen soll; Jaspers (242) spricht von einem unfreiwilligen Drang,
einer inneren Angst, welche durch das Sehen einer Flamme beseitigt
werden soll. Mönkemöller (348) hält die Motive für sehr mannigfach
und auch bei pathologischen Individuen sehr oft für verständlich; gerade
für sie sei die Brandstiftung das bequemste Mittel der Rache. Eine
gewisse Steigerung will er während der Pubertätszeit gefunden haben.
Többen (472) faßt die Ursachen der Brandstiftung dahin zusammen, daß
entweder normale Beweggründe vorliegen oder eine geringe Widerstands-
kraft gegen augenblickliche, mitunter vielleicht sexuell betonte .\ffekte
oder Intelligenzstöningen, Alkoholmißbrauch, Epilepsie, Hysterie, Aus-
nahmezustände in der Pubertät und bei der Menstruation oder endlich
krankhafte Störungen der Geistestätigkeit.
Den Eigentumsdelikten stehen die Urkundenfälschungen nahe, da sie
meist begangen werden, um sich an dem Eigentum anderer zu bereichern.
Selten sind andere Motive maßgebend; doch kommt es vor, daß Urkunden
gefälscht werden zwecks Erfüllung anderer Wünsche; so wurden während
des Krieges ärztliche Atteste von Kriegerfrauen gefälscht, damit der Mann
Urlaub erhalte (3i3).
Die politischen Verbrecher wollen entweder sich selbst bereichem oder
halten die bestehende Staatsform für einzelne Klassen der Bevölkerung
für ungeeignet und sind bestrebt, darin eine Änderung herbeizuführen,
aber nicht mit erlaubten, sondern mit ungesetzUchen Mitteln. Die Führer
sind, wie Robespierre (io3), meist psychopathisch veranlagte, leicht er-
regbare Menschen, die, mit suggestiver Kraft ausgestattet, jede günstige
Gelegenheit benutzen, um ihre Ideen ihrer Umgebung einzuimpfen. Streiks
sind besonders zweckmäßig für die Vorbereitungen, da durch sie die
Unzufriedenheit gewöhnlich vermehrt und infolge reichlichen Alkoholge-
nusses (i85) die Erreglichkeit gesteigert wird. Je besser das Feuer in
der Umgebung unterhalten wird, um so eher kann man es im geeigneten
Augenbhck mit wenigen Worten zur lodernden Flamme anfachen. Ist
die Lage für einen allgemeinen Aufstand nicht günstig, so findet man
immer wieder einen Fanatiker, der für sich eine Tat begeht in der Hoff-
nung, damit dem Volk oder einer Schicht desselben einen Dienst zu
erweisen, wie die Fürstenmörder (5o2). Doch spielt in diesen Fällen
häufig gekränkte Eitelkeit mit, wie bei Luccheni.
13 Kafka, Vergleichende Psychologie Hl.
jg4 GÖRLNG : klUMLNALPSVClIOLOGIE
Der Meineid wird, meist wohl überlegt, aus den verschiedensten Gründen
bc"^angen. Man schwört aus Dickköpfigkeit und Leichtsinn falsch; die
(reringe Aussicht auf Bestrafung und die Aussicht auf Sündenvergebung
durch die Beichte erleichtern den Entschluß zur Ausfühning der
Tat (5o2). Oft wird auch durch Aberglauben das Gewissen erleich-
tert (i63). Vermögensvorteile halber ^vi^d besonders oft falsch geschwo-
ren ; es sei nur an den Offenbarungseid und den Eid bei Alimenten-
prozessen erinnert. Aber auch falsches Ehrgefühl (5o2), Renommage (Sgö)
und der Glaube, einen Freundschaftsdienst erweisen zu müssen (i6/i),
führen zum Meineid.
Psychologisch von großem Interesse ist die Fahnenflucht (458). Byloff
unterscheidet zwischen echter und unechter Desertion (6i); bei der echten
liegt als Ursache der Wunsch, sich dauernd dem Heeresdienst zu ent-
ziehen, zugrunde. Als Grundstimmung ist stets ein Gefühl des Über-
drusses vorhanden. Die Ursachen für die imechte Desertion sind be-
sonders zahlreich: Pönitz (386) unterscheidet das Davonlaufen mit und
ohne Ziel; zu letzteren gehören Unlustgefühl, Angst, Freiheitsdrang, zu
ersteren Heimweh nach den Angehörigen, sexuelle Zielvorstellungen, Eifer-
sucht, der Wunsch, von der Heimattruppe ins Feld zu kommen. Außer-
dem kommen natürlich Psychosen, vor allem Dämmerzustände, als Ur-
sache in Beti'acht. Manche glaubten, der Strafe sicherer aus dem Wege
zu gehen, wenn sie sich, statt sich zu entfernen, verstümmelten, worüber
Bennecke berichtet hat (82); dies kam auch vor dem Kriege schon vor,
um nicht in den Heeresdienst eingestellt zu werden; die Gründe waren
meist materieller Art, so der Wunsch, das Geschäft weiterzuführen,
die Sorge mn die eigene Gesundheit, mag sie berechtigt oder unberech-
tigt gewesen sein; von anderen Ursachen sind sexuelle Momente und
Furcht vor Unannehmlichkeiten, vor allem vor Strafen, besonders häufig-
Bisher war nur die Rede von vorsätzlich oder in einem Zustande von
Geistesstörung begangenen Delikten; diese können aber auch aus Fahr-
lässigkeit begangen werden. Schon Feuerbach (88) hat unterschieden
zwischen bewußter Fahrlässigkeit, bei der dem Täter ein gewisser Prozent-
satz von Gefahr klar vor Augen steht, und imbewußter Fahrlässigkeit,
bei dem die Folgen der Handlung nicht in das Bereich der Möglichkeit
gezogen wurden. Nach Stern (456) liegt in der bewußten Fahrlässigkeit
der Fehler auf dem Gebiete der Erkenntnis, der logischen Wertung und
erst mittelbar auf dem der moralischen Wertung, da zunächst erwogen
wird, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß die vom Täter nicht
gewollten Folgen, deren Eintritt als möglich erkannt werden, eintreten;
erst in zweiter Linie wird erwogen, bei welchem Grade von \A^ahrschein-
lichkeit man die Tat vornehmen soll. Bei dieser Art Fahrlässigkeit wird
man genau wie beim Vorsatz eine große Zahl Unverbesserlicher
finden (i85), die immer wieder beim Urteilen leichtsinnig vorgeht.
Noch mehr als bei der bewußten tritt bei der unbewußten Fahrlässigkeit
die logische Wertung in den Vordergrund. Einmal ist für sie die Er-
klärung in der Eigentümlichkeit des menschlichen Seelenlebens zu finden.
PKK VKHBIIKCIIKK \()K DKH TM' 195
daß nur dio zu oiuor gof,'ob<Mien luuslellung passiMiden Vorstellungen zum
liewiißbNeiii konunen. wiUirend die anderen keineji «genügenden AflVklwert
besitzen, um durdizmlringen. Zweitens kann die unbewulole Fahrlässig-
keit darin L>estelien, daß der Handelnde die Folgen der Tat übcrhau)>t
nicht kannte. In beiden Fällen ist neben der logischen Wertung aber
auch <he moralische zu berücksichtigen; im ersleren Falle hätte unter
rmständen der Täter die \orstellungen zum Bew^ilitsein bringen müssen,
d.h. nicht vergessen dürfen, im anderen Falle hätte er die Folgen erkeimen
müssen. Ein Meineid kann z. B. beruhen auf mangelnder Aufmerksam-
keit und ungenügender Kritik bei Reproduktion des Beobachteten (3i5).
Ein Selbstmörder kann beim Aufdrehen des Gashahnes vergessen, daß der
Zimmergenosse zugegen ist (45). Ärzte und Apotheker können den Tod
eines Menschen herbeiführen, weil ihnen die erforderlichen Kenntnisse
oder die notwendige Zuverlässigkeit fehlen (9).
Bei der Stellungnahme zum Problem der Willensfreiheit wird sich die
Kriminalpsychologie, die sich auf endogenen und exogenen Ursachen, kos-
mischen, soziologischen und biologischen Einflüssen aufbaut, eher dem
Determinismus als dem Indeterminismus, deren Für und Wider
Messer (333) veranschaulicht hat, ohne sich für das eine oder andere zu
entscheiden, zuwenden müssen (197, 220). Jeder psychische Vorgang
ist, wie Mezger sagt (338), notwendig so und nicht anders gegeben und
steht in einem bestimmten und notwendigen Kausalnexus. Ob wir diesen
Kausalnexus immer finden werden, ob der Determinismus als Postulat
auch zum Determinismus als Forschungsergebnis werden wird, das kann
nur die Forschung selbst ergeben. Windelband (/jqS) spricht von Wahl-
freiheit, wenn bei dem Wählenden in seiner Reaktion auf die momentanen
Motive die ganze Energie der konstanten Motive des dauernden Wesens,
des Charakters zur Geltung kommt; es ist die Freiheit, von der, wie
Messer sagt (334), auch der Determinist reden kann, in ihr liegt die
Aktivität und Spontaneität des Individuums; dieses konstante Motiv kann
natürlich aus der Kausalkette nicht entfernt werden. Sommer betont (448),
daß der Wille zwar einerseits natürlich bedingt, aber andererseits ein
dynamisches Moment im Ablaufe des psychophysischen Geschehens sei. Der
Wille ist nicht ursachlos; die Willensfreiheit unseres Strafgesetzbuches
bedeutet nach Dohna (71) nur, daß der Wille ursächlich bestimmend
in die Außenwelt eingreifen kann. Er ist, wie Senf sich ausdrückt (437),
determiniert dadurch, daß ihn stets eine Vorstellung, deren Rcalisienmg
ein Lustgefühl verheißt, zum Tätigwerden und die Aussicht auf Unlust
zum Untätigbleiben veranlaßt, und daß die Summe der für die Willens-
bildung verfügbaren Vorstellungen und Gefühle bedingt ist durch die
Reize setzende Umgebung, in welcher er lebt, durch seine Natur und die
ihm angeborene und von ihm erworbene psychische Anlage. Selbst
Krauß (276) erkennt an, daß es keine absolute Willensfreiheit für den
Menschen gibt.
13*
III. DIE AUSFÜHRUNG DER TAT
Der Umstand, wie ein Verbrechen ausgeführt wird, läßt sehr oft Schlüsse
auf die Psyche des Täters zu. Deswegen dürfen die Organe der Straf-
rechtspflege keine Mühe scheuen, um alles, was zum Erkennen beitragen
kann, auszunutzen. So muß bei den Zeugenvernehmungen nicht nur da-
nach gefragt werden, ob der Täter das Delikt begangen hat, sondern
auch, wie er es begangen hat. Natürlich wird man beim Vernehmen der
Zeugen stets an die zahlreichen Fehlerquellen denken müssen, die bei
der Wahrnehmung, Erinnerung und Aussage selbst vorliegen können (i3/j),
worauf an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden kann. Neben
den Zeugenaussagen werden auch die Sachverständigenaussagen, der Lokal-
augenschein (i34) und die Besichtigung der Verbrecherwerkzeuge
(Sog, 178, 460) gute Dienste leisten können. Die Vernehmung des Täters
und sein Geständnis werden im nächsten Teile besprochen werden. Bei der
ganzen Beweisaufnahme wird man nicht vergessen dürfen, daß der Ver-
nehmende und Besichtigende psychologische Individuen sind, wie Münster-
berg sagt (354), daß ihre Ausbildung, ihr psychologisches Verständ-
nis (465), ihre Befangenheit (21 5) und ihre physischen Eigenschaften (i34)
von größter Bedeutung für das rechte Erkennen sind.
Wir wenden uns nunmehr den einzelnen Deliktsgruppen zu.
Bei Mord und Körperverletzung wird die Art der Verletzung über
manches Auskunft geben können. Man wird aus ihr erkennen können,
ob der Täter eine schnell zum Tode führende Art auswählte, wie meist
bei Familien- und Geliebtenmorden, oder ob ihm das Leiden seines Opfers
ganz gleichgültig war, ob er, was in juristischer Beziehung von besonderer
Bedeutung ist, im Affekt oder mit Überlegung gehandelt hat; bei dem
in Gießen verhandelten Falle Rein legte das Gericht großen Wert auf
die Aussage des Sachverständigen, daß die der Ehefrau beigebrachten
Verletzungen nicht stehend hätten beigebracht werden können; Rein hätte
seine Frau dazu hinwerfen müssen; der Lokalaugenschein wies aber
darauf hin, daß die Frau nicht schon auf der Straße gelegen hatte, son-
dern abseits, daß sie sich also zuerst dorthin begeben haben mußte;
daraus schloß unter Hinzuziehung von anderen Umständen das Gericht,
daß Rein seine Frau mit Überlegung getötet habe. Bei Kindsmißhand-
lungen wird das verschiedene Alter der Verletzungen sowie ihre Art
Aufschluß über den Charakter des Täters geben können, vor allem auch
darüber, ob die Absicht zu töten vorlag oder nicht; Höpler (210) warnt
aber davor, zu glauben, daß auserwählte Martern und erfinderische Züch-
tigungsmittel den Eltern nicht zuzutrauen seien. Es sei hier auch an
die Verstümmelung von Kindern, um sie zum Betteln tauglich zu machen,
erinnert. In der Art, wie der Mord begangen wird, kann man auch auf
PIK AI SFC IIIU NG PKK TAT 197
die Intelligonz dos Täters schliofien; so Avirtl ein beschränkter Mensch
kaum einen Giftrnonl begehen können oder gar einen Mord mit Rein-
kulturen von Bazillen (h, 527). Auch die Entfenmng der Spuren werden
Anhaltspunkte geben; tler eine wird beispielsweise einen Solbstmord\ er-
such geschickter als der andere vortäuschen (377). Ob ein sexuelles
Moment mitspielte, wird die Lokalisation der Wunden und die Besich-
tigung der Geschlechtsteile meist ergeben. Dagegen wird es schwer sein,
zu erkennen, ob es sich um einen Lustmord otler um eine unabsichtlich©
Tötung beim Hindern am Rufen, mn Verdecken eines Sexualdeliktes han-
delt (/|02); Groß (i4^) meint, das Erdrosseln sei mehr ein Zeichen für
Lustmord, das Zuhalten oder ^'^e^stopfen des Mundes sowie Faustschläge
auf den Kopf das Zeichen, daß ein Hindern am Schreien beabsichtigt
w;u*. Bei Körperverletzungen weist ein Stich in die Genitalgegend, der
plötzlich und unerwartet ausgefülirt wird, sowie das rasche Sichent-
fernen des Täters auf ein sexuelles Moment bei der Tat hin (862). Die
Messerstecher zeigen, ebenso wie die Zopfabschneider, meist eine sehr
große Gewandtheit. Am Verwischen der Spuren des Verbrechens kann
man auch erkennen, ob der Täter behutsam ist oder nicht; häufig findet
man bei guter Vorbereitimg der Tat nachher ein lässiges Verhalten. So
unterließen die beiden von Glos (121) beschriebenen Raubmörder die ge-
nügende Vernichtung der Verbrechensspuren aus Freude an der großen
Beute. Strafella berichtet (459) von einem Mörder, dem 4 Giftmorde
gelungen waren und der den 5. Mord aus Leichtsinn durch Erschlagen
beging und dadurch ertappt wurde. Anna Margareta Zwanziger war
beim Ausgeben von Gift sehr leichtsinnig; nachdem ihr vorher mehrere
Morde gelungen waren, verteilte sie noch am Tage der Abreise Gift, trotz-
dem ihr auf eine Vergiftung hin gekündigt worden war und sie darüber
hätte stutzig werden sollen (87). In den seltensten Fällen findet man,
daß der Täter vom Mord abläßt, wenn die erste Verletzung nicht zum
Tode führt. Meist greift er dann sein Opfer noch wütender an ; man
könnte glauben, das Sehen von Blut rege zur Tat noch an (278). Eins
der krassesten Beispiele ist die von Schütze veröffentlichte ,,Abschlach-
tung" einer Geisteskranken (432). Ein überflüssiges Drauflosschlagen
findet man sehr häufig (4oi).
Eine psychologische Deutung des Gesichtsausdruckes einer Leiche ist
unzulässig (280) ; dagegen värd es hie und da möglich sein, aus der
letzten Handlung des Ermordeten im Augenblick der Tat Schlüsse zu
ziehen auch auf die Psyche des Täters (i42).
Hat der Täter sein Verbrechen vorbereitet, so führt er es oft aus,
selbst wenn die Voraussetzungen nicht so günstig liegen, als er gedacht
hatte ; so schoß Hau auf seine Schwiegermutter, obwohl er sich beobachtet
fühlte und die alte Frau nicht allein war.
Nicht selten spiegelt sich das Geschlecht des Täters in der Tat wider.
Frauen wenden gern Mittel an, bei denen sie dem Stärkeren nicht offen
entgegenzutreten brauchen oder wenigstens ihn sofort unfähig machen,
sich zu wehren. So sind die Frauen besonders stark an Giftmorden be-
teiligt (3o8, 108), femer nicht selten der intellektuelle Urheber anderer
Morde (244)- Seltener finden wir, daß Frauen ihr Opfer erschießen
J98 GÖRLXG : KRIMLNALPSYCEIOLOGIE
(96, 119, 368). Das Bespritzen des Gesichtes mit Vitriol ist eine Lieb-
lingswaffe der Frau (igS). Geisteskranke Frauen wählen oft die den
Männern eigentümlichen Mordmittel (494)- In einem von Reukauf f
beschriebenen Falle (4oi) gelang es einer Frau sogar, ihren Mann zu
überwältigen und zu ersticken.
Für Aberglauben des Mörders würde sprechen, wenn einzelne Organe
der Leiche, z. B. Herz oder Geschlechtsteile, entfernt sind (178).
Sehr schwer wird es sein, aus der Ausführung des Kindsmordes Schlüsse
auf die Psyche der Täterin zu ziehen. Meist wird das Kind bei der
Geburt zur Erde fallen gelassen oder gleich im Anschluß an die Geburt
erstickt. Wird das Delikt mehr als einmal begangen, so wird man
allerdings daran denken dürfen, daß die Täterin roh und gemütsstumpf
ist, besonders wenn sie die Tötung in brutaler Form vornimmt, z. B.
durch Eingießen von giftigen Flüssigkeiten, wie Dörr es beschrieben
hat (69), oder durch Verbrühen, was eine in der Gießener Klinik begut-
achtete Mutter fertiggebracht hat.
Der Sexualtrieb findet seine Entladung oft auf eine dem normal
eingestellten Menschen ganz unverständliche Weise. So ist von Brock
ein Fall beschrieben (58), in dem ein junger Bursche eine 82 jährig-e
Frau notzüchtigte. Bei den Homosexuellen wird man die Päderasten
und Kinderschänder anders beurteilen müssen als die übrigen Urninge,
was sie selbst auch zugeben; ein homosexueller Lehrer sagte mir einmal,
er verurteile homosexuelle Handlungen an Kindern durchaus; sie zeugten
von einem schlechten Charakter. Für den Sadismus findet man häufig
Andeutungen im normalen Geschlechtsverkehr. Die Stufen des Sadismus
sind äußerst zahlreich. Schon das Erschrecken kann einen sadistischen
Akt darstellen; es folgen die Körperverletzungen, die in verschiedener
Schwere imd allen möglichen Variationen auftreten; den Schluß bildet
der Lustmord (275, 5o4, 3/i3, 362). Sadistische Handlungen, Notzucht
und Unzucht an Tieren werden oft mit unglaublicher Roheit begangen.
Auffallend ist, wie wenig sich die Täter durch eine ungünstige Ge-
legenheit beeinflussen lassen; das gilt besonders auch für Fetischisten,
die einen Diebstahl begehen, und für Exhibitionisten, auch dann, wenn sie
die Tat nicht in einem Dämmerzustand ausführen. Es scheint, als ob
der Sexualtrieb so mächtig sein kann, daß die notwendige Vorsicht
außer acht gelassen wird. Unzüchtige Handlungen an Kindern werden
meist vorgenommen, nachdem die Kinder in die Wohnung des Täters
gelockt worden sind; es sind aber auch Fälle bekannt, daß solche
Handlungen von einem Lehrer am Katheder begangen wurden. Sehr
beliebt sind Kinos wegen der Dunkelheit und der Enge der Sitzplätze
(32 1). Es ist nicht notwendig, daß stets ein und dieselbe perverse
Handlung von einer Person vorgenommen wird; es sind Fälle bekannt,
in denen sich der Täter von einer zur anderen wandte; so hat Gruber
einen Fall beschrieben (i46), der chronologisch folgende Reihenfolge
aufwies: Onanie, Koitus, Kunnilingus, sadistische, fetischistische Hand-
limgen, Exhibitionismus. Ein ähnlicher Wechsel woirde von Aronsohn
festgestellt (i3).
nii: \i sFüiiRiNc. Dr.u tat 199
Großes kriniinalpsycliologischcs Iiilonvsse kommt (itMi falsclien ;Vn-
schuidigungon zu. Ist ein« Frau der Täter, so sind sie meist sexuell
gefärbt (828^: Groß schiebt den Menses einen großen Einfluß zu (i^i)-
Es ist erstaunlich, von welcher Mannigfaltii^k.<»il sie sind, un<l mit welchem
Raffinement sie ausgeführt werden; man nuiß sich oft fragen, ob
man dem Täter, der nun endlich vor dem llichter steht, so viel Sclilau-
heit zutrauen darf. Notzuchtattentate werden bis ins Ideinste genau
l>\>ichriebon (21 f\). Beschädigungen werden sich beigebracht (4o), be-
sonders von Hysterischen, nur um einen bestimmten Zweck zu erreichen,
sich selbst von einer Schande oder Unannehmlichkeit zu befreien oder
einen anderen aus Rache, Haß oder Neid ins Unglück zu stürzen.
Nicht selten stellen sich die Anschuldiger nicht selbst als Objekt der
Straftat hin, sondern bezichtigen ihr Opfer eines von einem Dritten oder
nf)ch häufiger eines von ihnen selbst begangenen Verbrechens (206, 4o8).
Geschieht die Anzeige anonym, so spricht dies für eine mehr oder
minder große Feigheit des Eienunzianten (/j2i).
Bei den Eigentumsdelikten steht die Gewandtheit des Täters im um-
gekehrten Verhältnis zur günstigen Gelegenheit. Ist der Inhaber einer
\^'ohnung verreist und die Tür unkompliziert geschlossen, so wird mit
Hilfe eines Postens ein Einbruch auszuführen sein, ohne daß dem Täter
eine besondere Begabmig zugesprochen werden muß. Man muß sich
oft wundem, wie unverfroren die Diebe vorgehen, wie ein von mir begut-
achteter junger Mann, der bei hellichtem Tag in einer belebten Straße
von einem Postkarren ein Paket entwendete und mit diesem auf der
elektrischen Straßenbahn verschwand. Natürlich ist der Schluß nicht
zulässig, daß ein Verbrecher beschränkt sei, weil er primitive Mittel
angewandt habe. Strafella hat darauf hingewiesen (460), daß der Ver-
brecher nicht selten gezwungen ist, primitiv zu handeln, weil er sich alles
selbst schaffen muß. Manche besitzen allerdings eine erstaunliche Ge-
wandtheit im Verfertigen ihrer V^erkzeuge. Neuerdings gibt es auch
Sc blosser meister, die berufsmäßig Verbrecherwerkzeuge herstellen (agS).
Bei manchen Berufen führt die Gelegenheit zum Diebstahl, so bei
Dienstmädchen (229), die täglich mit dem Eigentum ihrer Arbeitgeber
umgehen, und die, besonders wenn sie jung und leichtsinnig sind, oft
den Wunsch hegen, diesen oder jenen Gegenstand selbst zu besitzen.
Auch bei den Warenhausdiebinnen spielt die günstige Gelegenheit eine
große Rolle; mehr als zwei Drittel der Täter, meist psychopathisch ver-
anlagte Frauen, betreten ohne bestehende Diebesabsicht das Kaufhaus
(i5o); der Rest ist zum großen Teil sehr gewandt; er kleidet sich
zweckmäßig und scheut sich nicht, auch in den Körperhöhlen die ge-
stohlenen Gegenstände zu verbergen. Eine große Gerissenheit besitzen die
Spezialdiebe (/J19). Die Kassendiebe und Bankräuber halten sich meist
an ein ganz bestimmtes Vorgehen, das sie genau ausgearbeitet haben.
Teils arbeiten sie lieber allein (225), teils in Banden, wie die bekannten
amerikanischen Bankräuber, die sog. Yeggs (38o). Sie sind mit dem
feinsten Werkzeug ausgestattet und meist modern bewaffnet, scheuen
Mch auch nicht davor, Störenfriede niederzuschießen. Wichtig ist die
200 GÖRING : KRIMINALPSYCHOLOGIE
Ablenkung des Publikums, z. B. durch einen Bombenanschlag auf ein
benachbartes Haus (286). Am gewandtesten benehmen sich die Hotel-
diebe, die gewöhnlich sehr elegant auftreten und mit großer Vorsicht,
aber auch mit um so größerer Ausdauer ans Werk gehen (4oo, /i74)-
Die Entwendung von Leichenteilen oder Gegenständen, die bei einer
Leiche waren, weist meist auf einen abergläubischen Täter hin (161).
Eine besondere Begabung gehört zum Betrügen; auch hier haben
sich zahlreiche Spezialitäten ausgebildet. Am nächsten dem Diebe, und
zwar dem Taschendiebe, kommt der Wechselfahrer, dem es darauf an-
kommt, durch Fingerfertigkeit und Betören des Wechselnden zuviel
ziu-ückzuerhalten (228, 6); sehr selten kann man ihm einen Betrug
nachweisen, da er stets angibt, er habe sich geirrt. Eine andere Art
von Ladenschwindelei hat Hirsch beschrieben (194): man kauft mehrere
Gegenstände ein \md läßt sie mit quittierter Rechnung an eine falsche
Adresse schicken; selbst nimmt man etwas weniger Wertvolles gleich
mit und läßt den Betrag der Rechnung hinzufügen. Von besonders
großer Bedeutung sind Betrügereien an Banken; meist handelt es sich
um große, ja enorme Summen. Die Ausführung setzt eine große Be-
gabung, Kaltblütigkeit und Gewissenlosigkeit voraus. Am bekanntesten
ist der Leipziger Bankprozeß. Der Betrug beruhte nicht auf einfachen
Buchfälschungen, sondern wurde viel raffinierter vorgenommen. Es wurde
für die Trebertrocknungsgesellschaft ein Geheimbuch angelegt, ebenso
bei dieser für die Leipziger Bank. Später wurde eine Zwischeninstanz
zwischen beide Firmen eing^choben, nämlich der Direktor und die Auf^
sichtsratsmitglieder der Trebertrocknungsgesellschaft, und diese standen
als Gläubiger bei der Leipziger Bank zu Buch. Eine ausführliche Dar-
stellung hat Weber gegeben (488). Sehr einträglich ist auch der Adels-
und Heiratschwindel; diese Betrüger treten außerordentlich gewandt
imd forsch auf, geben sehr schlagfertig Antwort und sind trotz der
schwierigsten Situationen ruhig und überlegsam (120). Vielfach bietet
eine psychopathische Veranlagung die Grundlage zu der Möglichkeit
ihres Vorgehens. Sie leben sich in die Rollen, die sie spielen, derart
ein, daß sie selbst mehr oder weniger daran glauben (i25, 16), was
ihnen eine große Sicherheit in ihrem Auftreten verleiht (464), besonders
wenn der Leichtsinn und die Leichtgläubigkeit des Publikums ihnen
ihr Tun erleichtert (42o). Es sind sogar Fälle beschrieben, in denen
solche Psychopathen schwindeln, ohne daß sie einen Vermögensvorteil
für sich erwirken wollen (SgS, 2 04); sie befriedigen dadurch ihre
Eitelkeit. Den Heiratschwindlern ähnlich sind die Betrüger, die sich
an alte, alleinstehende Damen heranmachen, ihr Vertrauen erwecken und
sie schließlich zur Herausgabe größerer Geldbeträge bewegen (Sog).
Auch die Anwendung religiöser Bräuche, das Auftreten als Geistlicher
dienen dazu, das Volk zu beeinflussen (417); gerade 'auf dem Lande
kann man durch solche Manipulationen manches harte Bauemherz er-
weichen ; gute Dienste leisten in dieser Beziehung auch die bekannten
Himmelsbriefe (482). Besonders gern wird der Spiritismus zu Schwin-
deleien herangezogen; entweder werden Trancezustände nur markiert oder
solche Zustände in leichter Form zum Betrügen verwendet (167, 427).
PIK ALSFCHRl">G DER TAT 201
In Gießen wurde ein Sclnvindlex begutachtet, der behauptete, daß er
zu UnU^rschlapunpen (hu-ch M'inen \etter vemiitteLs Hypnose; voranlaßt
worden war, was je<k)cli vom (iutachter widerlegt wurde.
Beim Wrsicherungsehwindel handelt es sich entweder um einen ab-
sichtlichen lietnig, bei «lern meist äußerst raffiniert ein Leiden, das selbst
Fachärzten Kopfzerbrechen bereiten kann (332, 12/1), oder gar ein Mord
(98) vorgeUiuscht wird, oder es handelt sich — und das ist die Regel
um ein leichtes Ix?iden, welches durch den Kranken schlimmer dargestellt
Avird. als es wirklich ist. Nicht selten glauben die Kranken selbst,
daß das Leiden so schwer ist, wie sie es darstellen ; dazu ist allerdings
eine Veranlagung notwendig; man bezeichnet diese Erkrankungen aJs
Unfalls- und Begehrungsneurosen (366). Selbstbeschädigungen sind
seltener, konunen aber auch vor.
Ein beliebtes Mittel, Betrügereien nicht aufkommen zu lassen, ist
das Abfangen von ankommenden Briefen; so wurde in Gießen eine
Frau begutachtet, die nicht nur Sendungen an ihren Mann auffing,
sondern auch einen Brief eines Bekannten, dessen Namen sie unter einen
^^'echsel gefälscht hatte, an sich zu nehmen verstand, nachdem sie gehört
hatte, daß er abgesandt worden sei, imd denselben beantwortete.
Trotz der Habgier der Eigentumsverbrecher findet man bei ihnen nicht
selten ein Mitgefühl mit Armen imd Schwachen; so hat Dolenc einen
Fall beschrieben (73), in dem weibliche Räuber ihre Opfer unter denen
aussuchten, die keine Kinder imd keine Bedürfnisse hatten, und der
Verbrecher, dessen Betrachtung Fliegenschmidt übermittelt hat (97), be-
hauptet, die Reichen geschröpft, aber die Armen geschont zu haben.
Schon Lombroso hat erwähnt (3o7), daß Bankerottierer, Spieler und
Fälscher gern Arme unterstützen und ihr Wohltätigkeitsinn oft über-
trieben ist.
Im Gegensatz zu den Betrügern gehen die Erpresser meist plump
vor unter Ausnutzung von vorgenommenen Abtreibungen (257) oder
abnormer sexueller Betätigung, vor allem der homosexuellen, was bei
uns infolge der Bestrafimg des gleichgeschlechtlichen Verkehrs zwischen
Männern besonders beliebt ist (240). Ein mehrfach beobachteter Trick
ist das Photographieren in kompromittierenden Stellungen (398). Im
Erpresser liegt stets etwas Feiges, Hinterhältiges; er nutzt die Schwächen
seiner Mitmenschen, die er möglicherweise noch selbst durch seinen
Einfluß und sein Zureden ans Tageslicht gefördert hat, aus, um sich
selbst zu bereichem.
Mancher, der sich zum Betrug nicht entschließt, wird eine Urkunden-
fälschimg nicht scheuen. Es macht den Eindruck, als ob das Gewissen
beim schriftlichen Betrug viel weiter sei als beim mündlichen (375).
Eine Fälschung ist ja auch so einfach; oft genügt ein Federstrich,
um Tausende zu gewinnen. Die Gewandtheit, mit der Fälschungen vor-
genommen werden, ist staunenswert; die Wiederherstellung durch Säuren
zerstörter, das Flicken dm*chlochter Stellen ist so tadellos, daß oft
mikroskopisch nichts sichtbar ist. Der Plan beim Ausgeben falschen Geldes
ist meist bis ins kleinste ausgearbeitet; bei der Auswahl der Helfer,
besonders der Vorzeiger, wird große Vorsicht angewandt (38oa). Den
202 GÖRING: KRIMINALPSYCHOLOGIE
Handschriftenfälschern kommt zu ^te, daß die Sachverständigen sich
sehr leicht irren (387).
Brandstiftungen werden sehr verschieden ausgeführt (60 J; handelt
€6 sich um einen Versicherungsbrand (/ii4), so ist die Anlage meist
raffiniert, ebenso bei dem. Brand zum Verdecken eines anderen Verbrechens,
wie im Falle Beckert (43), in dem der Täter zunächst einen Raubmord
beging, dann dem Opfer seine Kleidung anzog und endlich das Haus
anzündete; die verkohlte Leiche konnte aber am Gebiß identifiziert
werden. Der echte Brandstifter dagegen wird vom Feuer angezogen;
er hilft sogar oft bei den Rettungsarbeiten (472).
Andere die Allgemeinheit gefährdende Verbrechen, wie die Gefährdung
von Bahntransporten, werden sehr selten verübt; sind sie der Ausfluß
von Habgier, so zeugt es von großer Gemütstumpfheit, wenn solche
Mittel, durch die so viele Menschenleben zugrunde gehen können, gewählt
werden. Daß Geisteskranke Bahntransporte gefährden, kommt nicht so
selten vor ; in die Münchener %^linik wurde ein Lokomotivführer auf-
genommen, der mit einer Geschwindigkeit von 90 km durch Pasing
gefahren war, obwohl er dort hätte halten sollen; er litt an progressiver
Paralyse. Die gleiche Krankheit hatte ein in Gießen aufgenommener
Streckenarbeiter, der kurz vor der Durchfahrt eines Zuges Steine auf
die Schienen abgeladen hatte.
Die politischen Massenverbrechen werden meist mit ausgesuchter Roheit
ausgeführt; dabei ist das .Verantwortungsgefühl eines jeden einzelnen
herabgesetzt. Für beides bietet die Geschichte genügend Beispiele (46 1 ) ;
auch bei uns hat es sich in der letzten Zeit wieder bewahrheitet.
Selbstverstümmelungen zwecks Befreiung vom Heeresdienst werden nur
selten geschickt ausgeführt ; meist handelt es sich um geistig beschränkte
Täter, die nicht in der Lage sind, zu übersehen, wie weit ein Arzt ihre
Handlungsweise klarzustellen vermag; man findet Verletzungen durch
Beilhiebe, Messerstiche, mit Nadeln und durch Schüsse (32).
Allgemein sei bemerkt, daß viele Gewohnheitsverbrecher abergläubisch
sind und durch gewisse Handlungen, z. B. die Beschmutzung des Tat-
ortes mit Kot, dem sog. Grumus merdae (162), das Gelingen der Tat
erhoffen. Auch das Mitführen bestimmter Gegenstände (i65), wie einer
geweihten Kerze bei Brandstiftungen (107), vor allem auch von Leichen-
teilen (434) soll Erfolg bringen.
Zum Schluß sei noch darauf hingewiesen, daß Delikte durch Reflex-
(34) oder reflexoide Handlungen (i36) ausgeführt werden können.
IV. DER VKRRRECHEI.' NACH DER TAT
BIS ZUR VERURTEILING
Das Verhalten des Tälers nach der Tat ist für den Kriminal|>sychologen
ebenso >vichtig wie das \'erhalten vor und während der Tat. Stern (456)
hat an Experimenten zu erforschen versucht, ob ein Mensch im allge-
meinen bei oder nach Begehung einer Straftat an die Folgen für den
Leidenden oder nur an die ihn selbst treffenden Folgen denkt. Bei
seinen ^e^suchen hat sich herausgestellt, daß die Versuchsperson stete
an sich und meist überhaupt nicht an den Betroffenen gedacht hat.
Ganz unverständlich sind zwei von Lindau (299) beobachtete Fälle,
in denen zwei Mörder nach ihrer furchtbaren Tat für ein Kind und
einen Kanarienvogel sorgten, damit diese nicht verhungerten. In den
meisten Fällen legen Mörder eine Stumpfheit und Gleichgültigkeit an
den Tag, die ihresgleichen nicht findet. So essen und schlafen viele nach
der Tat ausgezeichnet; Reukauff (4oi) erwäJint eine Dirne, die 2 Monate
lang mit der Leiche des von ihr ermordeten Geliebten zusammen geschlafen
und gewohnt hatte (sie gab an, sie hätte sich an die Nähe der Leiche
gewöhnt, gut gelüftet und nicht geheizt), ferner einen schwaclisinnigen
Arbeiter, der neben der von ihm ermordeten Stiefmutter seine Mahlzeit
verzehrte. Peßler (876) berichtet von einem Menschen, der mit seiner Ge-
liebten, deren Mann er erschlagen hatte, gleich nach der Tat im Bett
de^ Erschlagenen den Koitus ausübte, was Reukauff allerdings lediglich
als eine Gewaltentladung seelischer Hochspannung ansieht (4oi). Nur
die Affektverbrecher sind meist sehr eoregt nach der Tat (807) und
stellen sich oft freiwillig der Polizei. Während die berufsmäßigen Diebe
und Betrüger nach der Tat vorsichtig sind, selbst ihrem Genossen, auch
wenn er für sie bezahlt, nicht gern ihre Schätze zeigen (253), findet
man bei den anderen Verbrechern, besonders auch bei den Raubmördern,
ein Gefühl von Sicherheit, als ob sie dächten, nachdem ihnen die Tat
gelungen sei, könne ihnen nichts mehr passieren. Sie geben übermäßig
Geld aus, obwohl es zu ihrem Vorlel>en nicht paßt (i33); sie veräußern
die erbeuteten Sachen in leichtsinniger Weise, besonders wenn die ersten
vorsichtig vorgenommenen Verkäufe glatt gelungen sind (384)- Nur
an eine Sicherheitsmaßnahme wird verhältnismäßig oft gedacht, das
Verschaffen des Alibibeweises (122). Mit welch kaltblütiger Ruhe er
gesucht wird, selbst nach der Ermordung der nächsten Angehörigen, ist
kaum zu glauben (278). Zuweilen ist beobachtet worden, daß Eitelkeit
dem Verbrecher zum Verderben gereichte, wie den beiden von Bosetti (55)
erwähnten Dieben, die sich photographieren ließen in der Pose, wie
einer dem anderen die Börse entwendet.
Bei Sittlichkeitsverbrechem findet man nach der Tat nicht selten
204 GÖRI.NG: KRIMINALPSYCIIOLOGIE
einen ausgesprochenen Abscheu vor der Handlungsweise, eine Empfin-
dung von dem Scheußlichen der Tat, von den Gegensätzen, die in ihnen
wirken; so berichtet Liman (298b) von einem Päderasten übelster Art
aus guter Familie, der selbst angab, er sei erschreckt über die Gegen-
sätze, die in ihm beständen: neben dem Gefallen an allem Schönen
und Edlen die Sucht, mit Männern aus der Hefe des Volkes zu verkehren.
Wie der Täter sich nach Begehung des Delikts verhält, kommt nicht
zum wenigsten auf sein Gewissen an (372), d. h. auf seine soziale Ge>-
fühlsäußening der eigenen Handlung gegenüber, die einen Mitmenschen
verletzt oder verletzen soll, wie Gerland sich ausdrückt (117)- Oppen-
heim (372) definiert das Gewissen als die Tatsache des Regewerdens
unserer sittlichen, bzw. religiösen Vorstellungen und Gefühle in bezug
auf von uns vorgenommene oder erst vorzunehmende oder in der Aus-
führung b^riffene Handlungen. Das Gewissen kann also auch vor
Begehung der Tat schlagen; es kann vorher anders sprechen als nach-
her (3o5). Wie groß die Macht des Gewissens sein kann, zeigen die
bei Lohsing (3o5), angeführten Beispiele. Schlägt das Gewissen, so
kann der Täter über die Tat Reue empfinden; d. h. es befällt ihn eine
psychische Depression, weil er sich von der Unrichtigkeit einer Hand-
lung in ihren Folgen überzeugt hat (117)- Die Reue ist ein Gefühl von
Unlust, das sich gegen den Urheber des Geschehenen selbst richtet (295,
457). Manchmal sind die Anwandlungen von Reue nur von kurzer
Dauer, hervorgerufen durch äußere Umstände. In anderen Fällen han-
delt es sich nur scheinbeir um Reue, während tatsächlich Furcht vor
Strafe der Anlaß zn dem äußerlich reumütigen Verhalten darstellt (479).
Viele Verbrecher können überhaupt keine Reue empfinden; sie sind zu
stumpf dazu; sie empfinden nicht altruistisch genug (5o2); sie sehen
gar nicht ein, daß sie ein Unrecht getan haben, z. B. .Jugendlicbei, die
aus Heimweh ein Delikt begangen haben (242). Bei gebildeten Leuten
findet man äußerst selten Reue über Zoll- imd Steuerdefraudationen ; es
darf daher auch nicht verwunderlich sein, wenn wahrend der Revo-
lutionszeit Diebstähle an Staatsgut als etwas Selbstverständliches galten
und zu Reue keine Veranlassung gaben, trberhaupt erscheinen Eigen-
tumsvergehen unpersönlicher, unschuldiger; bei Delikten gegen die Per-
son findet man häufiger Reue (226). Äußerst selten bereuen Homo-
sexuelle ihr Tun; ein Lehrer, der sich an Knaben vergangen hatte, sagte
mir, er sei sich zwar der Schwere des Vergehens bewußt gewesen, habe
aber doch keine Reue empfunden, höchstens Mitleid und Bedauern gegen-
über den Kindern , — Nicht selten ergreift einen Täter Scham; es ist
das Gefühl der Unlust, welches entsteht durcb erfolgte oder als möglich
gedachte abfällige Urteile dritter Personen (117). Häufiger als Reue
und Scham findet man Depression und Verzweiflung über die Tat ausi
rein egoistischen Gründen, wegen der schlechten Lage, in der sich der
Täter befindet (5o2).
Bei der Festnahme wehren sich nicbt viele Verbrecher. Je schwerer
das Verbrechen ist, je weniger also für den Täter auf dem Spiele steht,
wenn er dem begangenen Verbrechen noch ein neues hinzufügt, um so
leichter >\ird er sich dazfu entschließen, kein Mittel zu scheuen, um
DKU VKtlBllKCHKR NACH DHU TAT 205
der Verhaftung zu entgehen. Außerdem sind leicht erreglicho Menschen,
bosondors wenn sie .\lkohol genossen haben, geneigt, sich der Festnahnio
zu widersetzen.
Das lionohnien des Verbrechers bei der Nernehmung ist aufierordontlich
verschieden. .\us der Art des .\uflretens wird man, wenn aucli sehr
vorsichtig, manchen Schluß ziehen können. Von iKSsonderer ßodeutung
sind die Gt^tändnisse. Liegt ein solches vor, so sollte auch stets nach
seinem .Motiv geforscht werden (3o5). Nach Groß nmß nicht immer
ein Motiv vorliegen (i3/l), was Lohsing bestreitet (3o5). Die Ursachen,
die ein Geständnis henorrufen, sind sehr mannigfaltig. Lolising (3o5)
hat sie in vier verschiedene Gruppen eingeteilt. In die erste gehören
die ethischen Motive; das Gewissen, die Reue, religiöse Motive, L'i^ye,
Rücksicht auf Freundschaft und Kameradschaft, Patriotismus und Na-
tionalgefühl, endlich Ehrgefühl können die Veranlassung zu einem Ge-
ständnis geben; doch sind diese Fälle verhältnismäßig selten. Häufiger
sind unethische Motive, wie Rachie, Renonmiiersucht, Opportunismus.
Gerade der letztere spielt eine große Rolle; oft wartet der Täter mit
dem Geständnis, bis er sieht, daß die Beweise sich so verdichten, daß
das Leugnen zwecklos ist; dann schlägt er eine andere Taktik ein, ge-
steht zwar, sucht aber beispielsweise geisteskrank zu erscheinen, wie
der Lustmörder Dittrich, der sich zu diesem Zwecke sogar noch anderer
Morde, die er gar nicht begangen hatte, beschuldigte (367). Als dritte
Gruppe führt Lohsing einige andere Veranlassungen zum Geständnis an:
die Reue ohne ethische Grundlage, Resignation, Verblüffung und Zwang.
Körperlicher Zweuig wird schon lange nicht mehr angewendet; aber auch
psychischer ist verpönt; er ist jedoch noch; häufiger in Gebrauch, als
meui denkt. Das Auftreten des Vernehmenden kann auf die Psyche des
Verbrechers günstig einwirken, so daß er seine Tat zugibt. Nur darf
der Vernehmende den psychischen 'Zustand des Verbrechers nicht in
jeder Weise ausnutzen, um sein Ziel zu erreichen (436) ; wir würden
dann zu einer psychischen Folterung zurückkehren, die niemandem förder-
lich ist (469)- Ebensowenig darf durch Hypnose ein Geständnis herbei-
geführt werden. Die sog. Tatbestandsdiagnostik, die experimentell oft
erprobt worden ist (^92, io4, i8i, 19, 25o), sollte im Verfahren nicht
angewandt werden, weil, abgesehen von den zweifelhaften Ergebnissen
(45o, 109), der Vernehmende dem .Angeschuldigten nicht offen gegen-
übertrilt (182). Zweifelhaft ist auch, ob es berechtigt ist, dem Ange-
schuldigten mit Bestimmtheit die Täterschaft vorzuhalten, obwohl man
selbst noch nicht davon überzeugt ist. Macht der Vernehmende unwahre
Angaben, so kommt es oft vor, daß der Angeschuldigte aus Wut und Em-
pörung widerspricht und sich zum Geständnis hinreißen läßt (376).
Als letzte Gruppe erwähnt Lohsing das Geständnis aus psychopathischen
Gründen. Verhältnismäßig oft löst das Wiedererleben am Tatort imd
das Zugegensein bei der Obduktion ein Geständnis aus (376) ; es Ist
nicht anzunehmen, daß ein solches Geständnis auf einer ethischen Grund-
lage beruht; vielmehr scheint meist ein innerer Zwang zum Geständnis
TU treiben, wie man ihn auch bei Warenhausdiebinnen findet (74)- Über-
haupt spielt die Mystik bei Verbrechern noch eine gewisse Rolle. Aus
206 GüRl-NG : KRIMLNALPSYCliOLQGlE
Aberglauben wurden Geständnisse abgelegt (167), und ergreifende Ein-
drücke, wie ein Leichenzug mit Trauermusik, der wälirend der Verneh-
mung vorbeizog (116). haben den Täter bewogen, die Tat zuzugeben.
Wenn ein Geständnis abgelegt wird, so ist damit durchaus noch nicht
»esagt, daß der Täter die Wahrheit sagt; einmal kann er mit dem Ge-
ständnis der Tat, aber mit Leugnen von Nebenumständen eine mildere
Beurteilung bezwecken, was man bei Mördern sehr oft sieht, damit sie
wegen Totschlags verurteilt werden. Anderei-seits kommt es vor, daß
Nebensächliches aus ganz unverständlichen Gründen, z. B. aus Eitel-
keit (i3A) oder Schamhaftigkeit, die beim Täter sonst nicht bemerkt
wurden, geleugnet wird (376). Vielfach wird Sexuelles l^estritten, wäli-
rend alles andere zugegeben wird. Besondiers oft findet man bei Ver-
brechern, che zum erstenmal vor Gericht stehen, hartnäckiges Leugnen,
weil sie sich schämen, ihre Tat einzugestehen oder auch sich ihrer Lage
nicht bewußt sind; es ist daher falsch, die Strafzumessung lediglich auf
che Tatsache des Gestehens oder Leugnens aufzubauen (177).
Es kommen auch vollkommen falsche Geständnisse vor; meist sind
ausgesprochene Geisteskrankheiten, wie Melancholie, Dementia praecox
oder andere geistige Störungen, vor allem hysterischer Att mit Pseudo-
logia phantastica, die Ursache (436). Andere Gründe sind sehr selten (87).
Sie sind beobachtet aus Renommiersudit, um ein Obdach zu erlangen,
um zum Tode verurteilt zu werden, aus guten Motiven, um andere zu
retten, oder aus falschem Ehrgefühl, wie beim Leutnant de la Ron-
ciere (21 4), endlich auch auf Druck von seilen der Vernehmenden (182);
einen solchen Fall hat Kroch beschrieben (279); einem Dienstmädchen
sagte ein Schutzmann, sie allein könne diesen Diebstahl ausgeführt
haben; aus Angst leugnete sie nicht; später widerrief sie ihr Geständnis
nicht, weil sie glaubte, es hal>e doch keinen Zweck. Karmin (262) be-
richtet von einem so intensiven psychischen Einfluß auf den Beschul-
digten, der mit der Drohung, er müsse bei der Leiche schlafen, seinen
Höhepunkt erreichte, daß er schließlich die Tat, die er nicht begangen
hatte, zugab. Jugendliche sind in weit höherem Maße beeinflußbar als
Erwachsene (2/12) und sind auch über die gesetzlichen Bestimmungen
nicht so genau unterrichtet, so daßi man sie leicht einschüchtern kann;
meist genügt, wenn der vernehmende Polizeibeamte droht, er würde ihn
nicht nach Hause lassen, wenn er die Tat nicht zugebe, um ©in Ge-
ständnis zu erzielen.
Bei Beurteilung der Aussagen des Angeschuldigten ist von großer W ich-
tigkeit sein Erinnenmgsvermögen. Nach Affektverbrechen wird der Täter
kaum eine einwandfreie Erinnerung an die Tat haben ; in der Regel be-
steht eine lückenhafte Erinnerung (48o). Schon die Aufmerksamkeit
ward, worauf Pick hingewiesen hat (379), durch die überwertige Idee so
in Anspruch genommen sein, daß eine lückenlose Erinnerung nicht er-
wartet werden kann; es kann sogar zu einer förmlichen Auswahl des
zu Perzipierenden kommen und femer neben der auslöschenden Wirkung
nicht selten zu einer modifizierenden. Sturm hat darauf aufmerksam
gemacht (466), daß es durchaus nicht gleichgültig ist, über was man
aussagen soll; die Wiedererkennung z. B. von Personen ist leichter als
DKH VEHBHECllEH NACH DKH TAT 207
ciie von Sachen, selbst wenn man si© täglich gebraucht. Besonders man-
j.'elhaft kann dio He{)r<Kluklic)ii Iwi psychischon Störungen sein. Bekannt
ist, wie schlecht oll IVychojxiÜjt'n ihre Erlebnisse wiedergeben; es gibt
unter ihnen solche, die selbst an ihre unrichtigen Aussagen glauben, nacli-
(lem sie sie anderen mehrfach eriälilt haben (/|0.1j. MacJi reichlichem
Cienuß von Alkohol (271) und Gehirnerschütterung (879, 433) sind Ge-
«lächtnisstörungen die Regel.
Das äußere \erhalten eines Menschen läiil nicht selten psycliische Nor-
gänge erkennen. Kiesel (2 05) meint, die Mimik' sei ausdrucksreicher,
ausdrucksfähiger, im .\blauf nicht so kompliziert, also auch schneller
als \\orte iind Handlungen; er verkennt aber nicht, daß wegen des sub-
jektiven Einschlags der Ausdrucksdculung immer die Gefahr irriger Auf-
fassung bestehe. Große \orsicht ist zweifellos am Platze. Doch wird
man die Beurteilung der Mimik deswegen nicht vollständig beiseite lassen
dürfen. Margulies verlangt (528) für Gerichtsverhandlungen zwei Proto-
kollanten, einen zur Registrierung der sprachlichen und lautlichen, den
anderen zur Registrierung der im engeren Sinne motorischen, also vor
allem auch der mimischen Ätd^erungen. Die Lehre von dem Ausdruck
der Gemütsbewegung hat einen bedeutenden Fortschritt durch Darvvin (67)
erfahren, der drei Prinzipien aufstellte, das der zweckmäßigen, asso-
ziierten Gewohnheiten, das des Gegensatzes und das der direkten Tätigkeit
des Nervensystems. Störend bei der Beurteilung der Gesichtszüge eines
Menschen ist natürlich der Einfluß der starren Form, vor allem des
knöchernen Gerüstes (607) .
Man muß unterscheiden zwischen Mimik und Physiognomik; mimische
Ausdrucksbewegungen können in physiognomische Züge übergehen und
lassen dann dauernde Stimmungen und Temperamentlagen erkennen (266).
Skraup (445) hat eine Anleitung herausgegeben, aus der man den
Charakter eines Menschen aus seinem Äuf^ren erkennen soll. Krucken-
berg (281) hat sie speziell für den Gesichtsausdruck verfaßt. Auch Groß
gibt zahlreiche Erläuterungen (i34). Nun wird man sich fragen müssen,
ob Angeschuldigte sich nicht oft regehridrig benehmen, ob sie in der
Lage sind, ihre Gefühle nach außen hin nicht zu zeigen. Näcke hat einen
derartigen Fall beschrieben (364), in dem eine zum Tode Verurteilte allet
ihre Gefühle bis zuletzt zu maskieren verstand. Kaum verständlich ist
auch die Ruhe, mit der Grete Beier das Todesurteil vernahm und zur
Richtstätte ging; Nerlich hielt sie für echt (368). Dasselbe wurde bei
der Anna Margarete Zwanziger beobachtet (87). Groß meint (i34)r
daß Gesten viel seltener irreführen als Worte, weil, wie Kleemann
sagt (266), es viel leichter sei zu lügen, als die Mimik, die auf psycho-
physischen Gesetzen beruhe, künstlich im Zaume zu halten; selbst die
Wahl der Ausdrucksweise mache schon Schwierigkeiten. Man muß aber,
wenn man die Ausdrucksbewegungen beim Verurteilten verwenden \rill,
sie natürlich auch richtig beurteilen können. So können Erregungszu-
stände bei der Verhaftung auftreten, ohne daß der zu Verhaftende der
Täter ist (894); Kämiän (252) hat z. B. von einem Manne, der eines
Mordes verdächtig, tatsächlich aber unschuldig war, berichtet, er habe
208 GÖRING: KRIMINALPSYCHÜLOGIE
bei der Verhaftung gedroht, sich zu erschießen, falls er mit den
Polizisten über die Straße gehen müsse; wahrscheinlich erfolgte die
Drohimg aus Scham. Auch aus dem Erröten darf man nicht auf eine
Beteiligung an der Tat schließen. Wer einer Straftat verdächtigt wird und
vorher mit dem Gericht noch nichts zu tun gehabt hat, wird sicher
nicht gleichgültig dastehen, sondern intensiv auf die ßeschuldigimg
reagieren, etwa mit einem Erregungszustand oder mit Erröten, Erbleichen,
Zittern usw. Wie schwer es ist, Gesten richtig zu beurteilen, geht aus
folgendem Beispiel hervor. Bei dem schon mehrfach erwähnten Prozeß
gegen den Gattenmörder Rein wxirdo ein Mädchen vernommen, welches
das Verhältnis des Angeklagten gewesen imd vielleicht an der Tat be-
teiligt sein sollte; bei Lbreu* Vernehmung war sie ruhig, schaute im
Zuhörerraum umher und benahm sich so, als ob sie die ganze Sache
nichts angehe; daraus schloß der eine Sachverständige, daß das Mädchen
mit dem Täter gar nicht in Beziehung gestanden habe, weil das Benehmen
des Mädchens durchaus ungezwungen sei; der andere dagegen hielt das
Auftreten für dreist und frech und glaubte daraus entnehmen zu dürfen,
daß das Mädchen dadurch ihr Verhältnis zum Täter habe verdecken wollen.
Groß (i3/i) weist darauf hin, daß es besonders wichtig sei, den Gesichts-
ausdruck des Sprechenden beim Zuhören zu sehen. Es gibt aber auch
Menschen, besonders Psychopathen, die durch Miene und Geste ihre
Stimmimg beeinflussen können, die durch nachgeahmte Komplexe be-
stimmter äußerer Momente innere Bewegung wachrufen können. Bei der
Pseudologia phantastica besteht kein Gegensatz zwischen den unwahren!
Angaben und den Gesten, da diese Leute ja selbst glauben, was sie
sagen, oder zum mindesten sich derart hineingeredet haben, daß sie das.,
was sie aussprechen, miterleben.
Ein Zeichen für einen Mangel an Reue ist das Bedauern des Mißlingens
einer Tat oder das Verleumden und Verspotten des Opfers (3o6). Manche
Verbrecher zeigen ihre Mitschuldigen an, obwohl sie deren Namen ver-
schweigen könnten, teils aus Neid, teils aus Rache (i34). Trotzdem
darf man dem Verbrecher, auch dem Gewohnheitsverbrecher, nicht jedes
Ehrgefühl absprechen; die meisten halten es für unehrenhaft, ihre
Kameraden zu bemogeln oder anzuzeigen (261); allerdings glaubt Lieber-
mann v. Sonnenberg, daß das Nichtverraten nicht eine gute Regung
sei, sondern Klugheit, da sich sonst die Komplizen vom Angeklagten
abwenden; er berichtet sogar von einem Fall, in dem einer 2 Jahre
Zuchthaus unschuldig auf sich genommen hat (293). Es gibt Ver-
brecher, die gekränkt sind, wenn man sie auf Fehler, die sie beim
Begehen der Tat hätten vermeiden können, aufmerksam macht (i34)- Da-
gegen ist für sie das Eingesperrtsein durchaus ehrenhaft (261); je
mehr Jahre einer abgesessen hat, desto angesehener ist er (253). Man
könnte diesen Standpunkt mit dem der Kriegsgefangenen vergleichen,
die in den von den Feinden, besonders den Franzosen, verhängten Arrest-
strafen durchaus nichts Unehrenhaftes erblickten; im Gegenteil, man
hielt den, der noch nicht bestraft war, für einen Menschen ohne Rückgrat.
Unvorsichtigkeiten treten nicht nur gleich nach der Tat, sondern
auch noch später zutage; schon manchem hat sein Mitteilungsbedürfnis
DER VERBRECHKH NACH DER IM 209
zur Strafe verholfeii. Gerade den Mitgefangenen wird zuviel getraut (ii,
Einzelne An^t'klagtt» haben die Gab*% während der Verhandlung durch
Blicke oder Fragt-Ji auf die Zeugen einzuwirken, sie einzuschüclitem :
es sind die, die auch Ix-soiulers geeignet sind. Ixn Betrügereien die Leute
zu betören.
Auf jugendliche Angeklagte kann unter l niständen die Verhandlung
ungünstig wirken: der Richter muß daher das Rtx-ht halien, jugendliche
Übeltäter zeitweise aus dem \ erhandlungsraume zu entfernen, wenn er-
zieherische Rücksichten es erfordern (59).
14 Kafka, Vergleichende Psychologie IM.
V. DER VERBRECHER NACH DER VERURTEILUNG
Immer mehr kommt man davon ab, die Strafe als Sühne aufzu-
fassen, wenn auch die alte Straf rech tschiüe noch daran festhält. Die
neuere Richtung geht dahin, zu strafen, um z'u bessern oder, wenn das
nicht möglich ist, um die Gesellschaft zu sichern (i/j). Diese Besserung
wird zum Teil schon durch die Straf Vorstellung erreicht, zum Teil
erst durch die S traf empf in düng (i85). Es gibt aber eine ganze Anzalil
Verbrecher, abgesehen von Geisteskranken, die auch, der Strafempfindung,
selbst wenn sie erhebliche Grade erreicht, nicht zugänglich ist. Die
Methode der Rückfallstatistik war lange falsch; erst allmählich wurde
sie verbessert, nachdem Köbner (269) darauf hingewiesen hatte, daß als
Grundlage die Rückfallsfähigen gelten sollten. Warum eine Strafe oft
so wenig oder gar ungünstig auf den Verbrecher einwirkt, hat verschiedene
Gründe; einer der wichtigsten ist die Veranlagung (352); dazu kommt
das Gefängnismilieu vmd das Milieu, in das der Verbrecher nach der
Entlassung kommt. Groß (iSg) hält den Rückfall für so häufig,
weil die früher wirkenden Kräfte in der Psyche des Bestraften die-
selben geblieben und nicht durch Verbüßung der Strafe verdrängt worden
sind. Im folgenden wird auf die Gründe noch eingegangen werden.
Selten wirkt aber nur ein Faktor, wenn auch einer meist besonders
hervorsticht.
Die W^irkung einer Strafe auf einen Verbrecher zu erkennen, ist oft
nicht einfach, da er bei Unterredungen entweder verstockt ist oder un-
wahre Angaben macht. Man muß sich aus seinem ganzen Verhalten ein
Bild zu machen versuchen, und wird vor allem auch seine Briefe, Notizen,
Zeichnungen usw. (289, 809) in Betracht ziehen müssen, worauf schon
im II. Teil aufmerksam gemacht wurde.
Die Freiheitstrafen bringen dem Verbrecher eine gänzlich veränderte
Lebensweise; Freiheitsberaubung, Abgeschlossenheit von der Außenwelt
und dem regelmäßigen Verkehr mit der Familie, Schweigegebot, Ein-
tönigkeit des Lebens, Arbeitszwang imd ungewohnte Arbeitsart wirken
auf die Psyche des Verbrechers ein, dazu die Gedanken an die Zukunft
imd der Blick in die verbrecherische Vergangenheit (17); das Bewußtsein
der Schuld kommt in der Freiheit nicht so sehr zum Durchbruch wie
in der Gefangenschaft (327). Die Wirkung des Strafvollzuges ist natür-
lich nicht die gleiche für alle Gefangenen; viele ertragen Um stumpf;
andere freuen sich sogar ihrer Sorgenfreiheit (17). Waren die Stürme
draußen besonders heftig, so kann die Inhaftierung Ruhe, ein Gefühl
der Sicherheit bringen (827). Die meisten Gefangenen passen sich an;
nur wenige zeigen sich widerspenstig; unter diesen seien noch besonders
die Queridanten erwälint, die auch in der Haft nicht zur Rulie kommen
können. Ein großer Unterschied besteht zmschen der Gemeinschafts-
nr.K \kiuwu:chi:k nach dku vkiu ktkili nc 2n
uaa.d Einzelhall. Wor in Kric^^ofangcnscliafl mit Einzelhaft bestraft
wurde, weilS, <laü <lie ei'sl^Mi Ta^ (Kt Ruhe wegi^n meist angenehm
ejnpfiui<l<Mi >\ur<ion. <la(j dann alxM- ein4' Si'^hiisuchl nach don Kameraden,
nach MitleihuipMi aus der lloiniiil, nach einer AiuiS])rache immer stärker
zutap^e trat, <lie schlieüJich zu einer kaum ertiiighchen Qual wurde.
Ich kannte einen Hauptmajm, den in <ler Einzelhaft heftige Wein-
krämpfe überfielen. Die Reaktion auf die Einsamkeit ist natürlich
individuell verschieden; so erzählt Colucci (0.4) von einem Sträfling,
der sich an <len Zustand gewölmt hatte, nachdem er in don Ixnden ersten
Tagen sehr erregt gewesen war; er gab selbst an, zimächst einen solchen
Haß eanpfimden zu haben, daß er einen Menscheji hätte zerreißen können.
Nach Radbruch (89 1) macht die Gemeinschaftshaft schlechter, die Einzel-
haft sclnvächer; sie bessert angeblich nur für die Anstalt, nicht für das
Leb<Mi ; als Folgen der Einzelhaft zählt Ratlbruch auf: Gebrochene
\\illens kraft, phantastische Hoffnungen mit folgender Enttäuschung, Ver-
zweiflung, neue Schuld und neue Strafe. Diese Ansicht wird in einem
solchen Umfange durchaus nicht von allen geteilt; als gute Eigenschaften
der Einzelhaft Avird gerade der bessernde Einfluß hervorgehoben, femer
(Ue Möglichkeit der Gewährung eines humaneren Strafvollzuges und des
Fenihaltens schädigender Einflüsse (288, 385). Bei psychopathisch ver-
anlagten Individuen kimn die Einzelhaft allerdings Psychosen (4io) her-
vorrufen oder zu Selbstmordversuchen Anlaß geben (826).
Die Bestrafung Jugendlicher macht ihrer Beeinflußbarkeit wegen
Schwierigkeiten. Liepmann meint (296), ein nicht geringer Teil der
Fürsorgezöglinge würde nicht so verwahrlost in die Anstalt konunen,
wenn er nicht vorher Gefängnisstrafen abgesessen hätte.
Nicht ohne Einfluß auf die Psyche des Gefangenen ist das Anstalts-
milieu, der Ton, der in der Anstalt herrscht, die Art, wie die Gefangenen
von den Anstaltsbeamten behandelt werden. Wulffen (5o2) sagt, daß
<üe hauptsächliche Bedeutung beim Strafvollzug der sogenannten psycho-
logischen Behandlung zukomme, woran die Anstaltsgeistlichen einen Haupt-
anteil hätten. .Allerdings lehnen viele, besonders männliche Gefangene,
den Geistlichen ab, da sie, wenn sie überhaupt Religiosität haben, von
edner Vermittlung der Kirche nichts wissen wollen. Wulffen legt Wert
darauf, kirchliche Äußerlichkeiten, ästhetische und künstlerische Ein-
drücke, die Natur auf den Gefangenen einwirken zu lassen, und verspricht
sich davon Günstiges. Für die Gefangenen, die nicht stumpf und gleich-
gültig sind, trifft dies auch sicher zu, weiß ich doch aus eigener
Erfahrung, welch wehmütiges Gefühl wachgerufen wird, wenn man
nach Monaten wieder einmal irgendeine Naturschönheit sehen darf. Auf
einer Zitadelle, auf der ich als Kriegsgefangener saß, konnten wir nichts
anderes sehen als Wall und Kasemenhof ; nur wenn man auf den Speicher
unseres Pavillons ging, war es möglich, in der Feme ein paar Bärune
imd einen Streifen Meer zu sehen. Selbst die rauht*sten Krieger gingen
hinauf, um den Blick in sich aufzunehmen und sich an ihm zu erfreuen.
Inwieweit der Unterricht von Nutzen ist, wird verschieden bewertet;
nach Lombroso (3o6) hat er wenig oder gar einen schlechten Einfluß
auf die Psyche des Verbrechers, was Pollitz einen grotesken Standpunkt
14*
212 GÖRING : KRIMINALPSYCHOLOGIE
nennt (385). Der Arbeitszwang an sich ist vielen verhaßt, dagegen scheint
die „instruktive Arbeitsversorgung", wie Amerika sie in seinen „Re-
jormatories" kennt (402), auf die Verbrecher, und zwar in erster Linie
auf die jugendlichen, einen guten Einfluß auszuüben; dies ist eine
Vereinigung von Arbeit und Unterricht; es wdrd dem Verbrecher dadurch
ermöglicht, sich Kenntnisse, die er bei seiner Entlassung verwerten
kann, anzueignen, um sich in eine bessere Klasse hinaufzuarbeiten (8o).
Ein Teil der Verbrecher wirjd auch von der besten Anstaltsbehandlung
nicht beeinflußt werden, vor allem die gewerbsmäßigen Eigen timis-
verbrecher; die Zeit, die zwischen iden einzelnen Strafen liegt, ist oft
äußerst kurz (i88). Ferner kann man bei Landstreichern fast stets
mit Erfolglosigkeit rechnen (435). Endlich sind, was in der Natur
der Sache liegt, Homosexuelle durchweg bezüglich ihrer Neigung un-
verbesserlich (i4o); das ist nach den Ausführungen im L Teil
selbstvenständlich, und weist von neuem auf die Frage hin, ob man es
nicht auch bei den anderen Unver'besserlichen mit Störungen des inner-
sekretorischen Systems zu tun hat.
Daß antisoziale Individuen auch gute Regungen haben können, geht
aus den Erfahrungen von Groß hervor (i43), die er anläßlich eines
Brandes machte; er glaubt allerdings, daß die Strafanstaltsbeamten
in geschickter Weise es verstanden haben, sie wachzurufen.
Von den beeinflußbaren Verbrechern wird sicher durch die bedingte
Verurteilung und die bedingte Begnadigung mancher von neuen Straftaten
abgehalten. Nach Dohna (70) beträgt die Zahl der bedingt Begnadigten,
welche ihre Strafe nicht verbüßen, vier Fünftel. Er fügt aber hinzu,
daß die Walirscheinlichkeit des Rückfalls zuninunt, je weiter das ver-
urteilende Erkenntnis zurückliegt. Rupprecht (4ii) glaubt auch, daß
die guten Vorsätze für längere Zeit wirksam seien; eine besondere
Schwierigkeit bestehe für Mädchen, die sich der Gewerbsunzucht er-
geben hätten; sie könnten selten dem Drang der erweckten Sinnlichkeit
und dem Anreiz des bec[uemen Gelderwerbs dauernd widerstehen.
Gute Einwirkung auf die Psyche des Verbrechers scheint man in
Amerika mit der unbestimmten Verurteilung gemacht zu haben (452,
520), eine Forderung, die 1880 schon Kraepelin aufgestellt hat (272),
auf die Mayer wieder hinweist (329), wenn er kein Wählen der Zeit-
größe, sondern der Behandlungsart verlangt, und für die Sturm neuer-
dings eingetreten ist (466 a). Im amerikanischen Reformatory, das aller-
dings nach Pollitz' Ansicht (385) über G^ühr gerühmt wird, bestimmt
der Verbrecher die Länge der Haft selbst, d. h. er kann sich allmählich
heraufarbeiten und durch gutes Verhalten eine bedingte Entlassung er-
wirken, deren Dauer auch nicht von vornherein festgelegt wird. Sicher
gibt es unter den Verbrechern viele, die auf diese Weise zu brauchbaren
Menschen erzogen werden können. Reagiert ein Schwerverbrecher nicht
auf diese Behandlungsweise, so wird er durch sehr lange Freiheitstrafen
unschädlich gemacht. Durch diese Behandlungsart wird ein gewisser
Wettbewerb im guten Sinne hervorgerufen und mehr oder weniger die
ungünstige Beeinflussung der Gefangenen untereinander vermieden. Das
Drückende des Strafvollzuges, die Verbitterung, von der Oskar Wilde
DKH XKIUUU.CIIKH WCll DKlt NKHl H IKILI N« i 213
spricht (i56), wird hiiitaiigohalteii (i>5G;. Das Gerechtigkeitsgefühl, das
bei vieloii \ t'rbrivliorn, wie aus Lombrosos Hcispiclcn hervorgeht (3o6),
gut ontwicki'lt ist. wini iuhi Ix'h'bt. Dit's<'lb<'ii guten Krfahrungon, die
aus Amerika berichten werden, hat Fiiikehil>urg im Jugcndgefjüignis zu
\\ittlich gemacht (89). Das Ehr- und IMlichlgelühl wird geweckt, das
solbstäiidige Streben imd die Betätigung des Willens angespannt. Sehr
wichtig ist. daß die entlassejien Gefangenen nicht olme jetlen Halt ins
Lt^ben hinausgestoßen werden (276, i38); es kommt nicht darauf an,
ihnen ein paar Mark in die Hand zu drücken, sondern ihnen eine ge^
eignete .\rbeitstelle zu verschaffen; dann wird es einzelnen gelingen, sich
in die Höhe zu arbeiten. Die Erfolge unserer Fürsorgevereine scheinen
nicht groß m sein (5o2), was nicht zu ver>vundern ist, da es nicht leicht
ist. die richtige Auswahl zu treffen ; ein von mir begutachteter Schneider,
dem eine Stelle verschafft worden war, nachdem er eine wegen Raubes
zuerteilte 3 jährige Gefängnisstrafe verbüßt hatte, mußte nach 10 Tagen
entlassen werden, nach weiteren 8 Tagen verübte er zwei Einbruchs-
diebstähle.
Von den Verbrechern sehr gefürchtet ist das Arbeitshaus (i38); die
Scheu vor ihm geht so weit, daß eine Selbstanzeige wegen Mordes von
einem Insassen erstattet wurde, da er lieber jede andere Strafe auf sich
nehmen wollte (8).
Besonders schwer haben es die lebenslänglich Verurteilten. Többen hat
darauf hingewiesen (^']i), daß sie durchaus nicht immer zu den unver-
besserlichen gehören ; das ist einleuchtend ; denn es handelt sich ja bei
ihnen nicht um eine bestimmte Kategorie von Verbrechern, sondern um
Menschen, die ein schweres Delikt begangen haben imd wegen des Erfolges,
nicht wegen ihrer Gesinnung, nun dauernd eingesperrt bleiben. Bei
ihnen kommen sehr viele Psychosen vor (4 10), und nicht selten schreiten
sie 2rum Selbstmord, wenn sie keinen anderen Ausweg sehen (i83).
Die Prügelstrafe wird von den meisten verworfen. Sie bestand kurze
Zeit in Dänemark, wurde aber wieder abgeschafft (476) ; sie ist neuer-
dings in Ungarn eingeführt (52 1). Neben sehr großen Nachteilen (187)
bringt sie nur geringe Vorteile; Marx (32 5) sagt, daß das körperliche
Schmerzgefühl nicht nachhaltig wirke, daß man aber bei den Menschen,
die seelisch unter der Prügelstrafe litten, auch mit anderen Strafen aus-
kommen mirde. Havelock Elhs (80) hat sich energisch gegen die
englischen Bestinmiungen ausgesprochen, weil durch sie die, welche sie
erdulden, und die, welche sie ausführen, brutalisiert und herabgewürdigt
werden.
Über die Todesstrafe ist viel geschrieben worden. Schon Holtzendorff
hat sie bekämpft (2o3). Vor allem hat Liepmann ein großes Gutachten
darüber abgegeben (297), in dem er sich energisch gegen sie wendet;
andere wieder treten für sie ein (290). Sie scheint durchaus nicht
immer die kriminalitätsmindernde und abschreckende Wirkung zu haben,
die man erwarten sollte (422). Nicht selten findet man gerade bei Ver-
brechern, die es mit dem Leben anderer nicht genau nehmen, daß sie
auch auf ihr eigenes Leben nicht viel Wert legen und bis zu ihrem letzten
Augenblick gleichgültig, ja sogar zynisch bleiben (3o9). Sommer (448)
214
GÖRING : KRIMINALPSYCHOLOGIE
kann der Todesstrafe weder eine individual- noch eine sozial-pädagogische
^F!^TstrrfTrt'^''die"uns©r Strafgesetzbuch nicht kennt, die Deportation,
^r^sehr vtläen beurteilt (§.5). Auf den Verbrecher selbst schemt
sie nach dem Bericht von Heindl (i6o) keinen günstigen Einfluß aus-
zuüben; die moralische Ansteckung wirkt zu zerrüttend. . • , ,
Die Wirkung der Geldstrafe sei hier nur gestreift. Solange sie nicht
nach dem Vermögen des Täters abgestuft ist, wird sie dem Reichen
deich^ltig sein, sofern nicht die Bestrafung an sich ihn druckt; den
Armen der statt ihrer möglicherweise eine FreUieitstrafe alisitzen niuii,
wird sie verbittern. Kraepelin nennt sie eine, eminente Immorahtät,
Hentig eine eminente gesetzliche Torheit (i85).
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PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
VON
SANTE DE SANCTIS
1. DIE PHYSIOLOGISCHEN BEDINGUNGEN
DES TRAUMES
DeT Traum wurde inid muß nach einer exakten wissenschaftlichen
Methodik untersucht werden. Diese Methodik habe vor vielen Jahren
ich (89) und in der Folge verschiedene Autoren erörtert. Schließlich
nalmi ich den Gegenstand selbst wieder auf im Jahre 191 9 (gS), und
darum verweise ich den Leser auf meine jüngste Veröffentlichung. End-
lich muß ich daran erinnern, daß ich mich nicht in Übereinstimmung
mit den Forschern, wie Foucault, Havelock Ellis, L. Luciani, befinde noch
befand, welche ausschließlich die subjektive Methode verwerten, die man
rückwärtsschauende Selbstbeobachtung (auto-intro-retrospektive Methode)
nennen könnte. Ich habe immer alle Methoden verteidigt und an-
gewendet, die man in der modernen Psychologie benützt, um die psychi-
schen Tatsachen zu erforschen, und das ist nicht nur die Methode der
Seibetbeobachtung, sondern auch der Fremdbeobachtung (Verhör und
Ausfrage [Enquete oder Inquiry]), der Psychoanalyse im Sinne Freuds^
(welche darauf ausgeht, den „latenten Inhalt" im Gregensatz zum ,, mani-
festen Inhalt" des Traumes zu erforschen), der äußerlichen Beobachtung
<les Schlafenden (oder physiologische Methode 2), und die vielfältigen
und sehr reichen experimentellen Methoden, nach welchen neuerdings
Mourly Vold seine lang^vierigen und mühsamen Untersuchungen aus-
fülirte, und welche ich in weitem Umfange in den vergangenen Jahren,
besonders in der letzten Zeit, anwendete.
^ Ich hab** von der gewöhnlichen Psychoanalyse (Heteropsychoanalyse) eine Auto-
psychoanalyse unterschieden und Beweisnialerial dafür gesammelt, daß die Autopsycho-
analyse eines eigenen Traumes, die im Erwachen oder nachts im Halbschlaf oder dgl.
stattfindet, oft zur Enthüllung der verborgenen Bedeutung des Traumes selbst führt. Der
Träumer erkennt nämlich spontan, daß durch die Traumerscheinungen Ereignisse, die vom
Wachzustand recht verschieden sind, gewissermaßen allegorisch dargestellt werden. Wie
kommt er zu solchem Erkennen? Sicherlich auf affektivem Wege; er erkennt die
.Vhnlichteit des Affektzustandes im Traume mit einem Affektzustande des Wach-
l)Owußtseins. der mit anderen Vorstellungsbildein verknüpft war, und diese kehren
nach Vollzug jenes Wiedererkennens wieder ins Be\\'ußtsein zurück (assoziative
Wechselbeziehung zwischen Vorstellung und GefüM). Eigentümlicherweise kann
man zuweilen während des Traumes selbst zur Bedeutung des Traumes vordringen
(Näheres darüber im folgenden), so daß man zwei Arten von Auto-Psychoanalyse unter-
scheiden könnte, nämlich die Auto-Psychoanalyse während des Traumes {intraottirico)
und jene nach dem Traume {postoniricn); die erste findet im Zustand völligen Unter-
bewußtseins (Schlaf zustand) und daher automatisch, die zweite im Zustand des Halb-
wachens (schlafähnlicher Zustand) halbwillkürlich statt.
2 Wie ich in einer vorangehenden Arbeit nachgewiesen habe, ist die physiologische
Methode alt und klassisch. Hier möchte ich hinzufügen, daß auch Pierre Janet sie mit
Erfolg bei neuropathischen Personen anwendete, wie er in einem neuen Werk (36)
berichtet.
234 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Diese methodologische Vorbemerkung genügt, um dem Leser verständlich
zu machen, daß ich für die >vissenschaftliche Untersuchung des Traumes
die Kenntnis der Erscheinung: Schlaf für imentbehrlich halte. In der
wissenschaftlichen Traumlehre folge ich den Prinzipien und Methoden
der zeitgenössischen Psychologie. Wie es meiner Meinung nach nicht
zulässig ist, eine wissenschaftliche Psychologie ohne Rücksicht auf die
Lebenserscheinungen zu betreiben, so scheint es mir auch nicht am
Platze, bei der Untersuchung des Traumes den schlafenden Organismus
zu vernachlässigen.
Daher muß der Traum psycho-physiologisch aufgefaßt werden, indem
man ihn unter seinen natürlichen Bedingungen, am lebenden Organismus
als eine Erscheinung des Schlafes, also unter seinen physiologischen
Voraussetzungen, betrachtet.
Di^er Gesichtspunkt ist nichts weniger als neu. Schon Chr. Wolff ^
legte besonderen Wert auf die physiologischen Bedingungen des Gehirns
während der Entstehung des Traumes. Melchior Gioia (32, IL S. 2o3ff.)
schloß sich ihm an; dieser Philosoph gab sogar eine vergleichende Dar-
stellung der physischen Zustände des Träumers und der ihnen im all-
gemeinen entsprechenden Träume. So bedeutet das Bestehen einer ge-
nauen Übereinstimmung, daß die physiologischen Bedingungen sogar bis-
weilen dem individuellen Faktor das Gegengewicht halten. So füllen wir
eine Lücke aus, die sich bei einigen der jüngsten Autoren, insbesondere
bei der Freudschen Schule, in ihrer Behandlung des Traumes findet.
Freud hält zwar die Hypothese einer räimiHchen Auffassung der psychi-
schen Vorgänge nicht für nötig; er kann jedoch eine biologische Auf-
fassung dieser Vorgänge nicht für ebenso unnötig halten. Bergson er-
klärt, daß zwischen dem Gehirn und dem Gedanken dieselbe Wechselbe-
ziehung besteht wie zwischen einem Kleid und dem Nagel, an den man
es hängt. Schade, daß das Leben kein Nagel ist! — Ich bin hingegen
überzeugt, daß man über die Elemente und speziell über die Dynamik
des Traumes besonders klare Aufschlüsse erhält, wenn man die Ver-
fassung des Gehirns des Schlafenden imd im allgemeinen den physio-
logischen Zustand des Schlafes in Betracht zieht. Ich trete entschieden
den Versuchen entgegen, gewi^e Probleme zu behandeln und dabei der
Physiologie die Türe vor der Nase zu verschließen. Freud einerseits
und Bergson andererseits vergessen, daß auch der Traum eine Lebens-
erscheinung ist. Die Psychologen jedoch müssen diesen Umstand im
Gedächtnis behalten, sonst laufen sie Gefahr, hinter A. Haller, Burdach,
Job. Müller, Vierordt, ja sogar hinter Aristoteles zurückzubleiben.
A.ATMUNG, BLUTKREISLAUF UND STOFFWECHSEL IM SCHLAFE
Es wäre indessen ein Zeitverlust, sich bei den sogenannten Theorien des
Schlafes aufzuhalten. Eine große Gruppe von Schriftsteilem hat sich
schon bemüht, sie darzulegen und zu kritisieren. Ich habe selbst davon
1 PsYchologia ratlonalis melhodo scientifico pertractata usw., Frankfurt und I^ipzig,
17^0, S. 201 ff.
ATMUNG. ÜLLfkRHSLALF L'ND STOFFWKCHSEL IM SCHLAF!-: 235
cetjprochon i, und der Lcsor mag, außer bei A. Mosso, bei Luciani (49, IV),
balmon (83), Ernst Trömnier - (in, 112) und besonders bei Pieron (66)
nachlesen, der den G^^enstand erschöpfend behandelt, indem er eine
Klassifikation aller Theorien gibt und sie mit Scharfsinn und Objek-
tivität kj-itisiert, so daß er jo*len Schriflj>teller von weiteren Verpflich-
tungen entbindet.
Mir genügt es, einige Hinweise in bezug auf die physiologischen Voraus-
setzungen des Schlafes zu geben.
Dei- Zustand des Atmungsapparates wäJirend dos Schlafes wurde von
verachieilenen Physiologen boschrieben, besonders von A. Mosso (1878,
1886 und später). Die Atemfrequenz ist geringer, und der Rhythmus
kann einen intermittierenden oder auch periodischen .Vblauf annehmen,
besonders bei Kindern und Greisen (Mosso, Luciani), das Einatmen wird
verlängert, das Ausatmen verkürzt. Gleichwohl sind die Dinge nicht so
einfach, wie man glaubt. Mendicini (56) beschäftigte sich kürzlich in
meinem Laboratorium mit diesem Gegenstande (Textfig. i). Nach Mendi-
^^^vwwvvvvvvvvv\/vvvwv^
Fig. I.
Thorakales Pneumogramm einer normalen Sojährigen Frau, während des Sclilafes
(21. Apri! igiö, 12 Uhr i5 a. ni.) von A. Mendicini mit dem Brondgeestschen Pneumo-
graphen aufgenommen. Die Form der Kurve ist tatsächlich für den Schlaf typisch, weil
sie sich, abgesehen von dem Ausschluß aller Fehlerquellen (vgl. Marey, La methode
graphique), in allen wälirend des Schlafes aufgenommenen Pneumogranmien konstant er-
hält, wälirend sie in den Pneumogrammen des Wachzustandes nicht vorkommt. Im
einen wie im anderen Falle ruhte die Versuchsperson stets in Rückenlage. Überdies
wurden einige Schlafkurven im unmittelbaren Anschluß an die Wachkurven am gleichen
Abend aufgenommen, ohne daß die geringste Änderung in der Aufstellung der Apparate
stattgefunden hätte.
cini wird im Gegensatz zu andern Beobachtern die Atmung (thorakales
Pneumogramm) der normalen Frau im tiefen Schlafe tiefer und häufiger.
Mendicini fand im Schlafe niemals die periodische oder remittierende
oder intermittierende Atmung, die von Mosso und andern Physiologen
verzeichnet wurde. In bezug auf den Atmungsrhythmus (den Atmungs-
quotienten der übrigen Autoren) hatte Mosso beobachtet, daß im Schlaf
eine Umkehrung stattfinde; von 12 Teilen entfielen 10 auf die Eanat-
mung und 2 auf die Ausatmung. Nach Mendicini bestand die gleiche Um-
1 89, Notiz z. S. 333, wo ich die histologische Theorie und die jüngsten Varianten
(i. J. 1900) der vasomotorischeri Theorie zurückweise.
- Der Verfasser erörtert den Widerspruch zwischen den zwei Theorien des Blut-
andranges und der Blutleere des Gehirns, stellt der Ermüdungstheorie stichhaltige Gründe
entgegen und bekämpft die Annahme eines Schlafzentrumsgehims, sei es, daß man es
in die Stimlappen oder in die Sehhügel verlegen wolle.
Wachzustand
Schlaf
quenz Höhe
Quotient
Frequ.
Höhe
20 4,7
0,98
20 8,2
0,78
23
7'7
20 5,8
0'97
236 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
kchrung des Rhythmus, wie sie Mosso angegeben hatte, im Schlafe normaler
Personen; aber im Schlafe seiner Melancholikerinnen fehlte die Um-
kehrung, also überwog bei ihnen die Ausatmung. Bei einer Melancho-
likerin nahm indessen der Quotient zu, weil sie nach Aussage des Ver-
fassers lebhaft träimite.
Normale Person § ^.,^11./-»
3o Jahre Frequenz Höhe Quotient rrequ. Höhe Quot.
Torakales Pneumogramm
i,5o
Ich glaube, daß die Abweichungen z. T. durch den indi\dduellen
Faktor, z. T. durch die verschiedenen Phasen des Schlafes, z. T.
durch die vorhandene Traumtätigkeit verursacht sind. Mendicini findet
beim Schlafe seiner Melancholikerinnen in allen Teilen der Pneumo-
grammkurve häufige Pausen und zitternde Schwankimgen. Dies läßt
sich diu-ch das gleichzeitige Vorhandensein unlustvoller Traumeindrücke
erklären und würde mit der „Z i 1 1 e r - A t m u n g" {tremhlee) über-
einstimmen, die schon zusammen mit andern Störungen der melancho-
lischen Depression während des Wachens vermerkt wurde (Häufigkeit
der Atmungsakte, Seufzer, die sich einzeln oder in Gruppen periodisch
wiederholen, usw.).
Fig. 3.
ITiorakales Pneum»gramm einer Sojährigen Frau, wälirend der ersten Stunde des Schlafes
(21. April igiS, 12 Uhr 55 a. m.) aufgenommen. Spontanes Erwachen gegen das Ende
der Kurve, ungefähr i5 Sekunden, nachdem die Kurve regelmäßig geworden war. Die
Versuchsperson bestätigt auf Befragen, daß sie eben träumte. Die Unregelmäßigkeiten der
Kurve sind vielleicht zu erheblich, als daß sie insgesamt auf die Traumtätigkeit der
Schläferill zurückgeführt werden könnten. Die Frequenz (24 Atemzüge in der Minute)
ist nicht gesteigert. In dem Kiu~vent«il, der sich über die Abszisse erhebt, fallen drei ober-
flächliche Atemzüge auf, wie sie in Kurven vorzukommen pflegen, die während der
Bewußtseinslage der Erwartung aufgenommen werden (Material des Institutes für
experimentelle Psychologie).
Mendicini pflegte seine Patienten zu wecken, wenn sich im Pneumo-
gramm bemerkenswerte Unregelmäßigkeiten zeigten. Kaum erweckt,
fragte er sie, ob und was sie im Augenblick des Wiederenvachens ge-
träumt hätten. In einem Fall (normale Frau) hatte er ein Resultat, das
berichtet zu werden verdient (Textfig. 2).
Daß während des Schlafes der Blutkreislauf im allgemeinen und ins-
besondere im Gehirn ge^visse naturgemäße Veränderungen erleidet, ist
eine allgemein anerkannte Tatsache (Mosso, Fano imd viele andere) 1. Es
^ S. die alte Literatur über diesen Gegenstand bei Jules Soviry (101). Die neueren
Forschungen finden sich bei Ernst Weber (117), Hans Berger (8). Von den phYsiologischen
ATMUNG. BLUTKREISLAUF UND STOFFWECHSEL IM SCHLAFE 237
scheint sicher, daß Ixn kleinen Kiinlem die Differenz der Ileriwchlägo
und de>; Pulses im Wachen oder SchUifen sehr jj^ering ist'. Ms Lsl in
der Tat eine alte Beobachtung-, dali sich der PuLs im Schlafe verlang-
samt (Galen, Haller); aber auch aus meinen zahlnnchen Beobachtungen
gehl hervor, daß sich bei kleinen Kin<lem der Puls im Schlafe wenig
verändert, daß er alx^r selbst bei Kindern und Ixn Erwachsenen bemer-
kenswerte Änderungen zugleich mit Atmungsänderimgen zeigt, wenn man
aus mimischen /Vnzeichen das Vorhandensein eines lebhaften Traumes
folgern kann.
^'on der alten und wiederbelebten vasomotorischen Theorie des Schlafes
fand die Theorie der Blutleere des Gehirns (Howell, Mosso) verschiedene
Gegner unter den Physiologen und Pathologen, so daß die entgegenge-
setzte Theorie Ansehen gewann (Blutfülle: Czemy, Schleich). Experi-
mente und Kritiken von Ferramini, Rummo, Morselli, Tanzi, de Sarlo,
Riebet und besonders von H. Berger ließen darauf schließen, daß die
vasomotorischen Verändenmgen im Schlafe, die sich übrigens durch
direkte Beobachtungen an Schlafenden mit Schädelbrüchen gut feststellen
ließen, die Wirkung und nicht die Ursache oder wenigstens Begleit-
erscheinungen des Schlafes bilden. Indessen müßte man wissen, ob der
Zu- oder Rückfluß des Blutes von der Hirnrinde den verschiedenen Schlaf-
phasen und der mehr oder weniger lebhaften Traum tätigkeit des Schla-
fenden entspreche oder nicht.
Auch Varianten der vasomotorischen Theorie hatten kein größeres
Glück, wie z. B. der Vorschlag von Pilez (Blutfülle des Hirnstammes und
Blutleere des Hirnmantels) und der andere spätere von Surbled, welcher
das antagonistische Spiel der beiden vom Willisschen Polygon ausgehen-
den Gefäßsysteme (des durch die Hirnrinde und des durch die Basal-
ganglien ziehenden) ins Treffen führt.
Der organische (normale und pathologische) Stoffwechsel im Schlafe
^^■urde von allen Physiologen behandelt (Pettenkofer und Voit, Lieber-
meister, Quincke, Beaunis, Delsaux usw.) und ist auch hier zu er-
wähnen 2.
Bedingungen des Sclüafes handelt John F. Shepard (99). Nachzulesen ist besonders
Pieroo; dieser behandelt ausführlich die Herztätigkeit, den Blutdruck, die Atmung,
die Verdauungs- und Sekretionserscheinungen, die Wärmeerzeugung und die senso-
motorischen Erscheinungen des Scidafes und faßt die physiologischen Erscheinungen des
Schlafes in Kap. VI, S. i4o ff., zusanunen. Ohne die übrigen physiologischen Be-
dingungen des Sclüafes wie den Zustand der Sekretionstätigkeit und der Wärme-
erzeugung zu berücksichtigen, will ich nur noch erwähnen, daß ich mich in bezug
auf die theoretische Ansicht von Vascliide über die konstant© Temperatur im Schlafe
völlig der von Pieron geübten Kritik anschließe.
1 Dr. Bäculo (Resoconto del Brefotrofio dell'Annunziata I a clinica ,,Baliato") nahm
den Herzdruck bei Säuglingen von wenigen Tagen und Monaten im Schlaf und im
Wachen auf und gelangte sogar mit Rücksicht auf die Zalil der Pulsschläg« zu den
gleichen Ergebnissen. Der Rliythmus, der im Wachen unregelmäßig ist, bleibt im
Schlafe ebenso unregelmäßig. Bei einem kleinen Mädchen findet er Allorhythmie ent-
sprechend den Atmungsbewegungen: systolisches Plateau mit und ohne Zacken.
2 In Italien schrieb darüber schon vor vielen Jahren Belmondo (7).
238 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Es scheint natürlich, daß im Schlafe zugleich mit der Herabsetzung
der Tätigkeit der Nervenzontren die Stoffwechselprozesse gleichfalls ver-
langsamt und der Luftaustausch und folglich auch die Sauerstoffversor-
<mng der Gewebe auf ein Mindestmaß heruntergedrückt werden (Verwoni,
ßaglioni). Jedoch muß man zur Klärung und Kritik solcher Lehren
wenigstens 2 Punkte im Auge behalten: i. daß die Herabsetzung der
Tätigkeit der Nervenzentren im Schlaf ausschließlich auf zwei Faktoren
zurückgeführt werden darf, auf die Erhöhung der Reiz- und Empfindungs-
schwelle imd auf die Unbeweglichkeit ; während die psychische (kortikale)
Tätigkeit durchaus niciit ausgeschaltet ist, wie die Verfasser gewöhnlich
sagen; 2. daß ein Teil der Stoff Wechseländerungen während des Schlafes
gerade von der Traimitätigkeit abhängt. Daß diese Tätigkeit tatsächlich
zu Oxydationsvorgängen Anlaß gibt, haben die Physiologen zwar nicht
be\\iesen, aber die Tatsache ist nichtsdestoweniger gewiß, weil, wie ich
schon in meinen vorangehenden Veröffentlichungen über den Traum
zeigte, eine Traumermüdung besteht, eine Erscheinung, die schon
Tissie (109, iio) an der Hand von Beispielen klargelegt hatte. Die Er-
müdung läßt sich hinreichend erklären durch die Bewegungen und noch
mehr durch die Muskelkontraktionen, welche man zuweilen am Träumen-
den beobachten kann 1.
Ich lenke die Aufmerksamkeit auf zwei landläufige wissenschaftliche
Vorurteile, nämlich daß der Schlaf immer eine vollkommene Wiederher-
stellung der organischen Kräfte bewirke (Übergewdcht der Assimilations-
prozesse), imd daß dementsprechend die Traumtätigkeit ein psychisches
Ausruhen sei, nämlich Verminderung der psychischen Spannung. Das
trifft zu, aber nur in allgemeiner Hinsicht; denn bisweilen verbraucht
man sich im Schlaf eher, als daß man sich erholt; d. h. der Traum
kann trotz der fehlenden Wirkimg der Außenreize der Umgebimg eine
dissimilatorische anstatt eine assimilatorische Phase des Stoffwechsels dar-
stellen.
Man vergleiche ein jüngst aufgenommenes Protokoll:
Nachts, am ij. November 1919. Niederschrift um 8 Uhr.
(V. R. 9 26 J.) Ich liabe geträumt, daß M.'s Schwester von M. einen Brief bekam
(ich fühle, daß der Brief etwas Unangenehmes für mich enthält, aber ich bin nicht
sicher, ob dies Gefühl zum Traum oder zur Erinnerung des Traumes gehört). Ich
weine leidenschaftlich und lange; allmählich komme ich dazu, die Müdigkeit de»
Weinens zu fühlen (Muskelschmerzen in der Brust und an den Schläfen, Kopf\\ eh,
Druck in der Kehle). Ich wache für kurze Zeit auf: Schwere im Kopf, peinlich©
Empfindung eines bleiernen Schlafes. Ich schlafe wieder ein und träume, noch zu
weinen wie zuerst. Beim Erwachen heute morgen bin ich ruhig, aber erschöpft.
Es ist zu bemerken, daß M.'s Schwester gestern abend wirklich einen Brief von
^ Niemand wird die Ermüdung durch Vorstellungen bezweifeln (besonders durch
motorische Vorstellungen). Das praktische Leben bietet deutliche Beispiele. Jüngst habe
ich folgenden Fall beobachtet: Eine Dame, die dem Kinostück ,,Die zwei Wachtmeister"
beiwohnte, erklärte mir, daß sie bei <ler aufregenden Schwimmszene Müdigkeit der
Arme verspürte, weil sie mit der Phantasie die Bewegungen des Schwimmens verfolgte.
AJs dieselbe Dame einen Film sah, der die italienischen Truppen auf dem Adamello
darstellte, erklärte sie. Müdigkeit in der Lendengegend zu fühlen, weil sie in Gedanken
den Soldaten beim Schleppen schwerer Geschütze half.
TOXISCHE UiND CHEMISCHE THEORIEN DES SCHLAFES 23£
M. mit einer iiiiangeiirhiiicii Millcilung für inicli erhielt. Ich hatte einen selir heftigen
>cliincrzanraJl, di^stii ÄuiSorung ich gewaltsam luilerdrückte. Später Erschöpfung,
luhiger Schmerz, Schlallosigkeit oluie LiiruJie. Mehrmals unterdrückte ich mit grofier
Gewalt das Weinen; aber dann legte ich mich nieder und scldief.
B. TOXISCHE UiND CHEMISCHE THEORIEN DES SCHLAFES:
LOKALISATION IM GEHIRN
Das Studium des Stoffwechsels im Wachen und im Schlaf eröffnet
den Zugang zu den toxischen imd chemischen Theorien. Die von Preyer
erdachte Theorie (Erzeugung von Ermüdungstoffen im Wachzustande)
fand starke Unterstützung bei neueren Physiologen und auch Pathologen,
z. B. Dejerine. Die chemische Tlieorie wurde trotz mancher Gegner-
schaft oft erneuert und in veränderter Form auch von Dubois in Lyon
(1896) aufrechterhalten, so daß sie unter dem Namen „biochemische" und
..neurodyn emiische" Tlieorie von den Zeiten Purkinjes, Pflügers und
Preyers zusammen mit der Theorie Pierons, von der ich weiter unten
sprechen werde, bis heute das Feld behauptet hat.
Nach Salmon (81, 82) wäre der Schlaf eine vegetative Funktion innerer
Sekretion, die der organischen Wiederherstellung der Nervenzentren
diente; sie bestünde in der Erzeugung einer Reservesubstanz — der
Substanz der Nißlschen färbbaren Zellkörper — während des Schlafes.
Die Hypophyse löse die Funktionen des Schlafes aus. Abgesehen davon,
(laß dieser Einfluß der Hypophyse durch'aus nicht von ihm bewiesen
wurde, muß man Salmon entgegenhalten, daß er auf logischem Weg,
aber von Analogien aus zu seiner Hypothese gelangt, die alles andere
als berechtigt sind, wie z. B. die Analogie zwischen normalem Schlaf
einerseits imd pathologischem Schlaf und pathologischer Somnolenz
(Lethargie) andererseits. Daher erscheint mir die Kritik, die Gemelli
an der Hypothese von Salmon übt, durchaus überzeugend 1.
Pieron (66) und Legendre haben die chemisch-toxische Theorie des
Schlafes mit zureichenderen Gründen verteidigt. Sie machten zahlreiche
Experimente, um sich über die Natur des Schlafes zu vergewissern, imd
konnten eine Toxinsubstanz nachweisen, das Hypnotoxin, welches
sich im Wachzustande bildet und die sensomotorische Ermüdung in der
Form eines Bedürfnisses nach Ruhe und Schlaf hervorruft. Pieron meint,
daß das Hypnotoxin in denjenigen Zellgruppen der Hirnrinde wirkt,
die zur Aufrechterhaltung eines gewissen sensomotorischen Tonus und
der Aufmerksamkeit notwendig sind, indem es mehr oder weniger üire
Funktionen lähmt und ihre Gestalt verändert. Was die Frage der
Lokalisation in der Hirnrinde betrifft, so zeigt sich Pieron mit Recht
zurückhaltend, doch neigt er dazu, den Stimlappen (beim Hund die
Regio cruciata frontalis) und in dieser Gegend die großen Pyraraiden-
1 Salmon ist auf den Gegenstand im Jahre 1916 zurückgekommen (84), indem er
die „W interschlafdrüs e", welche ihren ursprünglichen Sitz in unmittelbarer
Nähe der Thymusdrüse hat, bei den Winterschläfern behandelt und vermerkt, daß dor
Winterschlaf derselben den nächtlichen Schlaferscheinungen der Tiere mit konstanter
Temperatur ent-spricht. Wir bleiben aber immer bei Analogien 1 Ähnlichkeit der Er-
scheiniongen bedeutet nicht Identität des Wesens.
240 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
»elleai (nach Shaw Bolton die Vermittler der assoziativen und will-
kürlichen Tätigkeit) oder die polymorphen Zellen (nach Shaw Bolton
die Vermittler der instinktiven Tätigkeit) oder die einen und die anderen
ins Treffen zu führen. An die Frage des Angriffspunktes der hypnotoxi-
schen Wirkung muß mit größter Zurückhaltung herangegangen werden.
Pighini (67) nimmt vorläufig die Hypnotoxinhypothese von Pieron
in Ermanglung einer besseren an, aber im Grunde nur deshalb, weil
er dieser Hypothese eine Ergänzung beizufügen hat, die für ihn von
Bedeutung ist. Diese Ergänzung ist folgende: Indem sich das Hypnotoxin
in den Nervenzellen ansammelt, versetzt es sie in den Schlaf zustand,
und wenn es aus diesen Zellen ausgezogen und bei Hunden im Wach-
zustand in die Höhle des vierten Ventrikels eingespritzt wird, so setzt
es sich in den Nervenzellen fest und versenkt sie von neuem in Schlaf-
zustand. Also wirkt das Hypnotoxin wie ein Narkotikum; aber Pighini
möchte wissen, ob jene Substanz wie die Nai'kotika lipoidlöslich
ist, imd ob ihre Lösung die Oberflächenspannung des Wassers herab-
setzt, oder ob sie vielmehr den Charakter eines Ferments oder Toxins
habe xmd chemische Veränderungen bei Berührung mit dem Zellplasma
und mit dem Blut erfahre; ob sie nicht einen Oxydations- oder Reduk-
tionsprozeß durchmachen müsse, mn gebunden oder gefällt zu werden
usw. Pighini weiß dies alles nicht; aber um bequemer folgern zu können,
nimmt er es an; und indem er sich auf die Voraussetzung stützt,
daß das Hypnotoxin als Narkotikum wirke, nimmt er weiterhin an,
daß das Narkotikum entsprechend seinem schwachen Adhäsionsdruck
aus dem wäßrigen Zustand in den komplexen Zustand der Nerven-
zellenbestandteile übergehe, sich in den oberflächlichen Schichten dieser
anhäufe und gleichzeitig deren Oberflächenspannung und das Berührungs-
potential usw. herabsetze. Und so gelingt es Pighini, so gut es geht,
sowohl den Schlaf als auch das Wiedererwachen zu erklären.
Vor ganz kurzem ist ein Arzt, Dr. M. Barbara (6), auf die Theorien
des Schlafes zurückgekommen. Die Gründe, die dieser Autor anführt,
um seine Hypothese zu verteidigen, sind einer Erläuterung würdig.
Barbara bemerkt ganz richtig, daß die Aufhebung der Beziehungen
aiwischon dem Individuum und der Umgebung nur einen Teil der
verschiedenen Erscheinungen darstellt, welche sich während der nächt-
lichen Phase abspielen, und daß der Schlaf eine Funktion des Gesamt-
komplexes alles Organischen ist. Vorausgesetzt, daß der Stoffwechsel
zwischen dem Organismus und der Umgebung, d. h. der Metabolismus,
aus zwei entgegengesetzten Prozessen besteht (aus dem synthetischen oder
aufbauenden oder anabolischen, assimilatorischen, und aus dem analyti-
schen oder abbauenden oder katabolischen, dissimilatorischen), und daß
mit dem Zyklus des Stoffwechsels der Energieaus tausch innig verbunden
ist, d. h. der energetische Zyklus (Spannkraft oder potenzielle Energie
und lebendige Kraft oder kinetische Energie), behauptet der Autor, daß
der Schlaf der Ausdruck der anabob'schen (assimilatorischen) Phase,
d. h. der Energieaufspeicherung, ist, und daß das rhythmische und
abwechselnde Ül>er\viegen der anabolischen (assimilatorischen) Erschei-
nungen bei Nacht und der katabolischen (dissimilatorischen) bei Tag
TOXISCHE UND CHEMISCHE TllKüKlEN DES SCHLAFES ' 241
nicht im entferntesten die Folge des InaktivitäLs- oder AktivitätszusUind«-«
des Gehirns, sondern unabhän^ij:^ davon ist. Er folgert auch daratus,
dalS der Schlaf eine aktive Erscheinung ist und als solche die Kurve
anderer Tätigkeiten wit^<lergelxMi kann; dali er eine Erscheinung ist,
bei welcher idle zelluläivn lüeniento beteiligt sind, und die dt^shalb
nicht einen auf dieses oder jenes Organ beschränkten Sitz haben kaiui.
Es kam jedoch darauf an, den den Rhythmus Schlaf-Wachen herbei-
führenden und regelnden Mechanismus ausfindig zu machen. Nun findet
der Autor, dalS der periodische Wechsel der zwei entgegengesetzten Phasen
des organischen Stoffweclisels diu-ch eine jjeriodische und abwecliselndo
Sekretion und ein überwiegen einzelner antagonistischer Hormongruppen
geregelt wird, deren Tätigkeit sich nach einem periodischen und inter-
mittierenden Rhytlimus abspielt. Während der Nacht überwiege die
den Aufbau erregende Hormongruppe, wie aus den Wirkungen des
Schlafes auf den Trophismus und aus der Zunahme des Tonus des
autonomen Systems hervorgeht, auf den die Hormone dieser Gruppe
eine spezifische Reizwirkung ausüben. Dieser Zustand von Hypertonie
des autonomen Systems wäre, nach dem Verfasser, verantwortlich für
die funktionellen Änderungen der Kreislaufs-, Atmungs- und Verdauungs-
organo und des Auges. Während der Nacht wäre indessen die den
.\bbau erregende Hormongruppe insuffizient, wie aus den Veränderungen
des Chemismus imd der Wärmeerzeugung hervorgeht, und auf diese
Insuffizienz wären die Veränderungen der verschiedenen Funktionsarten
des Nervensystems (Mobilität, Sensibilität, Reflexe, Psyche) ziuückzu-
führen, auf welche die Hormone dieser Gruppe eine wohlbekannte
aktivierende Wirkung ausüben. Die Hormone der den Abbau erregenden
Gruppe würden indessen mit einer gleichzeitigen Zunahme des Tonus
des sympathischen Systems während des Tages überwiegen.
Es ist kein Zweifel, daß die Hypothese von Barbara viele Tatsachen
erklärt imd deshalb als Richtlinie für das physiologische Studium des
Schlafes in Betracht kommt, .andererseits ist sie jedoch nicht in der
Lage, alle Erscheinungen des Schlafes zu erklären; sie ist schematisch,
fast möchte ich sagen — naiv. Umgekehrt läßt alles darauf schließen,
daß das Spiel des sympathisch-endokrinen Systems viel komplizierter
im Schlafe sei, zumindest mit Rücksicht auf die verschiedenen Phasen
desselben. Man muß die allzu allgemeinen Ansichten aufgeben, wenn
man die psychischen Tatsachen, die während des Schlafes vor sich gehen,
aufhellen will.
Eine Spezifizierung der Theorien und Hypothesen über den Schlaf
behufs Erklärung des Traumes ist neuerdings von Eugenio Rignano
(77, 78) versucht worden. .\ber obwohl dieser Autor vom energetischen
Zyklus ausgeht, gelangt er zu dem Schlüsse, daß eben, diesem Zyklus
zufolge, während des Schlafes die gesamte affektive Tätigkeit des Geistes
aufgehoben sein müßte, während die Verstandestätigkeit lebhaft bleibe;
nun steht diese Anschauimg nicht in Einklang mit der Psychologie des
Traumes, da die Behauptung, die Träume seien im wesentlichen nicht
affektiv, der gewöhnlichen Beobachtung widerspricht. Im Gegenteil,
es herrscht im Traume die Af fektivität ; die Anarchie im Ideenablaufe
16 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
242 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
wahrend des Traumes kann anders erklärt werden als — wie Reg^nano
will — mit dem Aufhören jeder affektiven Leitung.
Wie wir erwähnt haben, beschäftigten sich jedoch die Autoren, welche
nach dem wirksamen Bestandteil des hypnogenen Toxins suchten oder
ihn gefunden zu haben vorgaben, auch mit der Bestimmung des Punktes,
an dem das Toxin selbst angreife, um den Schlaf hervorzurufen. Wenn
auch einige anerkennen, daß im Schlafe der ganze Organismus und nicht
nur das Nervensystem schläft, so war es doch natürlich, daß alle als An-
griffspunkt des Toxins das Gehirn oder bestimmte Teile des Gehirns be^
zeichneten. So kam es, daß einzelne im Gehirn das Organ (das Zentrum)
des Schlafes suchten. Hatte nicht schon Wundt es im Apperzeptions-
zentrum lokalisiert? Diese Untersuchung erschien also allen berechtigt.
Schon im Jahre 1890 gelangte Mauthner (55), der sich wieder des
Kriteriums der Analogie (diesmal mit der Schlafkrankheit) bediente, zu
der Ansicht, daß der Schlaf durch die Müdigkeit des zentralen Höhlen-
grau veranlaßt wird, welche eine Unterbrechung der zentripetalen wie
der zentrifugalen Reizübertragnng bewirke. Er ninmit daher ein Schlaf-
zentrum im Mittelhim an. Diese Lokaüsation kam gelegentlich der
lethargischen Enzephalitisepidemie (Italien 191 9) wieder zu Ehren, welche
von vielen im wesentlichen als eine Poüomesenzephalitis betrachtet Aviu-de.
Andere (Oppenheim) lokalisierten den Schlaf in die Sehhügel.
Dr. F. Veronese (116) hat es vor einiger Zeit für nötig- gehalt^i,
die Frage d^ Schlaf Zentrums im Gehirn nachzuprüfen. Aber er geht
auf logischem Wege vor, ein Weg, dessen Gefahren allgemein bekannt
sind. Er behauptet erstens, daß der Schlaf im Verschwinden der Auf-
merksamkeit oder besser, in der Lähmung des psychophysiologischen
Vorgangs der Aufmerksamkeit bestehe. (Ich bemerke nebenbei, daß diese
Behauptung alt ist. Wir finden sie zuerst bei Leibniz, dann bei Wundt
und vielen anderen, bis zu Galasso, Claparede und Kahane.) Veronese
sucht zweitens nach dem Sitz der Aufmerksamkeit im Gehirn und
verlegt ihn, abweichend von Wimdt und all den anderen Psychophysiologen,
nicht in die Hirnrinde, sondern in den Sehhügel. Er beweist seine
Behauptung, indem er die große Wichtigkeit dieses Gehirnteiles und
seine engen Beziehungen zu der Hirnrinde anführt, auf Grund
deren der Sehhügel von Monakow als Vermittlimgsorgan der Rinde
aufgefaßt wird. Aber in dieser ganzen logischen Konstruktion fehlt
ein kleiner unentbehrlicher Punkt: der Verfasser hätte beweisen müssen,
daß nur der Sehhügel und kein anderes Organ, nicht einmal die Rinde,
fähig ist, die Fimktion der Aufmerksamkeit auszulösen. Wenn er
dies aber nicht getan hat, ist die Annahme gerechtfertigt, daß seine
Hypothese nicht ökonomisch ist; dann kann man sich aber mit gleichem
Rechte der bestehenden Meinung anschließen, um so mehr als es imer-
klärt bleibt, warum gerade der Sehhügel von jener spezifischen auf der
Anhäufung dissimilatorischer Produkte beruhenden Müdigkeit betroffen
werden soll, die dem Zustand des Schlafes 1 entspricht.
1 über die Frage des Schlaf Zentrums siehe auch eine Arbeit von Giannuli (3i). Die
Literatur über das Schlaf Zentrum ist reichhaltig, bezieht sich aber fast ausscldießlich
m.-roLor.iscHE i nd luuiiKiisciiE Theorie des Schlafes 243
Kurz: Vl>^'\t^'luMi von gcwisstMi psycliolopiachen, beeoiidcns schichten-
mäßipon Lokalisationon, die Bolton und einigen modernen Histologen so
gefallen, die jedodi erst einer Be.stätigung l)edürfen, kann man nicht
umlün, deiij<Mii^'en ruzustinunen, welche biJiaupten, dafi die Uin<le im
Schlafe tief in Mitleidenschaft gezogen ist. Das bringt jedoch noch nicht
eine topographisch aktive Lokalisation des Schlafes mit sich. Vielmehr
ist es "v\alirscheinlich, <laß die hypnogene Substanz eine hemmende Wirkung
ausübt luul daher auf die Nervenbahnen in derscJben Weise wirkt wie
gewisse» Mittel, welche das Bewußtsein nicht auflieben, sondern vielmehr
wache Delirien bewirken.
C. HISTOLOGISCHE UND BIOLOGISCHE THEORIE DES
SCHLAFES
Die Streitfrage der Lokalisation des Schlafes fuhrt jedoch zu der
histologischen Theorie des Schlafes über, die manche Physiologen in
der Tat allzu freudig begrüßten. Jene Theorie oder besser: jene
phantastische Hypothese entwickelte sich im Schatten anderer Theorien
und phantastischer Hypothesen, die aus der Neuronenlehre ^ geschöpft
waren. Die Beschreibimg des Zusammen zieh ungs- und Erschlaffungs-
zustandes der Rindendendriten im Schlaf und in anderen Zuständen,
die Demoor, Querton, Stefanowska usw. gegeben haben, sind schon wegen
der angewandten Experimentalmethode zu verwerfen (Tötung von Tieren
im Schlaf und im Wachen). Die Beschreibungen der (nach der Golgi-
Methode behandelten) Zellen und Fasern der Hirnrinde von selten anderer
Autoren kommen infolge des Umstandes, daß die Beobachtungen an
Tieren gemacht wurden, die mit giftigen Schlafmitteln und Betäubimgs-
mitteln behandelt waren, ebenfalls nicht in Betracht, weil die angenommene
Analogie zwischen physiologischem Schlaf und künstlicher Vergiftung
der Rindenzellen durchaus willkürlich ist. Noch unhaltbarer erscheinen
die histologischen Beschreibungen, Folgerungen und Hypothesen von
Rabl-Rückard, Matthias Duval, Lepine und anderen, wenn man bedenkt,
daß der erwartete Nachweis amöboider Bewegungen der Nervenzellen aus-
blieb ; sie begegneten daher auch einer scharfen Kritik von selten KöUikers
und Ramon y Cajals; doch brachte, beeinflußt durch die Hypothese M.
Duvals (1898), Ramon y Cajal selbst eine andere Hypothese vor, die
der Grundlagen nicht weniger ermangelte, und die er selbst später iesis
tan estranibotica (,,eine ziemlich abenteuerliche Hypothese") nannte. Er
schreibt der Neuroglia eine spezifische Funktion bei der geistigen Tätig-
keit zu. So glaubte er, daß im Zustand der Ruhe und des Schlafes die
Ausläufer der Neurogliazellen erschlafften, während sie im Wachzustand
imd bei geistiger Tätigkeit sich zusammenzögen, derart, daß sie im
ersten Falle den Kontakt zwischen den Ästen der Neuronen imd den
Zellkörpem sowie den Durchgang des Nervenstroms verhinderten und
auf Gehirntumoren (Righetti 1908, Lugaro 1908, Franceschi 190/») und lethargische
Encephalitisepidemien .
^ Siehe z. B. einen Artikel von Ruiz Rodriguez (79).
16»
244 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR,\UMES
im zweiten Fall ihn erleichterten. Durch diesen Mechanismus der Neu-
roglia hielt es Cajal für möglich, nicht nur den Übergang vom Schlaf
zum Wach-en und zu den Trävunen, sondern auch im allgemeinen die
Idoenassoziation histologisch zu erklären; aber neuerdings hat der spani-
sche Histologe seine unbegründete Hypothese verworfen i.
Seit imgefähr i5 Jahren spricht man von einer biologischen Theorie
des Schlafes (H. Forster und G. Brunelli). Hier jedoch muß ich die
Worte wieder anführen, die ich in meinem Werke von 1899 schrieb:
„Alles drängt dazu, daran festzuhalten, daß der Schlaf als ein Beispiel
des großen Gesetzes der Periodizität und des Rhythmus betrachtet werden
muß, der die kosmischen und vitalen Phänomene beherrscht." Ich
beabsichtige aber durchaus nicht, die Priorität in Anspruch zu nehmen!
Die biologische Betrachtungsweise des Schlafes geht bis in ferne Zeiten
zurück, und sie lag sehr nahe, wenn mian bedenkt, daß alle Lebens-
erscheinungen eine gegenseitige .\bwechselung und Verkettung von Tätig-
keit imd Ruhe miteinander erfordern, d. h. daß sie zyklische Erschei-
nungen sind. Wir finden die biologische Theorie schon bei Cabanis,
Burdach (i4)^. Wundt (2. Ausgabe der Physiol. Psychologie), von
andern ganz zu schweigen.
G. Brunelli (11, 12, i3) vertiefte das biologisch© Problem des Schlafes
im Jahre 1908. Für ihn ist der Schlaf ein Anpassungsphänomen, das
sich im Kampf ums Dasein entwickelt. Claparede führte i. J. 1906 (i5)
die Idee von H. Forster (1900), von Brunelli und von all jenen anderen
Physiologen weiter aus, von denen im folgenden die Rede sein wird. Nur
betrachtete er das Phänomen von innen heraus, übersetzte die Anpassung
in psychologische Ausdrücke und nannte sie Instinkt und Reaktion der
Interesselosigkeit. Für ihn wäre der Schlaf verursacht durch eine „reaction
de desinteret pour Ja Situation präsente." Die Ansicht von Claparede
wurde in Frankreich und Italien gut aufgenommen, aber von anderen
abschätzig beurteilt (Lugaro) und scharfsinnig kritisiert (Pieron). Daß
der Schlaf ein positives und zyklisches, biologisches Phänomen ist, läßt
sich nicht bezweifeln. Aber die Lehre von Claparede enthält, wie so viele
Lehren von heutzutage, einen teleologischen Gedanken von ausgesprochen
philosophischem Charakter und ist infolgedessen mit den Methoden und
den Zwecken der Erfahrungswissenschaft wenig vereinbar.
Die Behauptung, die G. Brimelli schon i. J. 1902/08 aufstellte, daß
nämlich jede Untersuchung des Schlafes und der verwandten Zustände
zwecklos sei, die nicht nach genetischer Methode unternommen würde.
^ (73), S. 3i8/3ig. Der Autor nennt die Theorie der amöboiden Bewegungen der
Neurogliazellen eine „osada conceptwn ctija ingenuidad me hace hol sonreir" („gewagte
Vorstellung, über deren Naivität ich heute lächeln muß").
^ Daselbst eine Geschichte der Schlaf- und Traumforschung und ein Literaturnach-
weis. Bei diesem Autor finden sich Stellen von großem Interesse über den periodischen
Ablauf der Lebenserscheinungen wie über den Schlaf der Tiere und der Menschen
und seine Träume. Schon damals betrachtete er den Schlaf als ein periodisches biolo-
gisches Phänomen, durch welches der Schlafende seinem embryonalen Leben wieder
angenähert wird.
HISTOLOGISCHE IM) hfOLOGISCHE TllHORIE DES SCHLAFES 245
fand cino weitroioheiulo Ikslätigiing in tlon bonicrkenswerton Arbeiten
und l iitersucluini^eii lV»liinantis (68, 08a). Dieser Autor untcTsuchte
den l rsprung des Schlafes bei den ticrisclien (Jaltungen, die Faktoren,
die ihn l>e^instigen, wie das Lager, die Abwesenheit von Reizen usw.,
oder welche ihn hemmen, wie der Ihmfj:er, die Verteidifrunn^ usw.; er
untersuchte seine Tiefe uiul Dauer in Ixv.uj,'' auf die anderen bioloj^ischen
Funktionen, wie die Sexualitiit, und <lie anderen inneren und äuliereii
Faktoren, z. B. die Tem|x^ratur. Nach Polimanti ist der Schlaf ein
biologisches Phänomen mit rhythmischem Ablauf wie alle biologischen
Phänomene. Es fehlt bei den Seetieren und sogar bei den Reptilien, bei
denen man niu- die .Vnfängo des Phänomens beobachtet, und zwar in
Übereinstimmung mit der schon gut eingeleiteten Entwicklung des End-
himes. Bei den \ ögeln tritt der Schlaf deutlich in Erscheinung; bei
den Säugetieren nimmt er jene Kennzeichen der Dauer, der Tiefe un<l
der Verteilung zwischen Tag und Nacht an, welche wir schließlich
beim Menschen antreffen.
Ich kann mich der Ansicht Polimantis nicht ganz anschließen, daß
der Schlaf in der zoologischen Stufenleiter mit dem Auftreten des Endhirns
beginne; vielleicht kann das zutreffen, wenn man dem Schlaf die bloße
anthropomorphe Bedeutung beilegt; aber nicht im biologischen Sinne,
den mit Recht Polimanti dem Schlafe gibt. Man bedenke indessen,
daß das Schlafbedürfnis in seinen Ursprüngen in kürzester Zeil befriedigt
werden kann und auch tatsächlich befriedigt wird, und daß daher die
Beobachtung ein Seetier schwerlich im Schlaf zustand überraschen kann.
Dazu kommt, daß meine eigenen Beobachtungen nicht ganz für die
Auffassung Polimantis sprechen. .\ber, abgesehen von einigen Vorbehalten
im einzelnen, erscheint mir je<le Kritik an der biologischen Theorie des
Schlafes unangebracht. Brunelli, Polimanti, Claparede wie die alten
Physiologen — von Burdach bis Forster — haben durchaus recht. Nur
ist jene Theorie unzulänglich und bedarf eines weiteren Ausbaues; über-
dies wird man den Schlaf trotz der biologischen Auffassung nicht ver-
stehen lernen, wenn man ihn nicht am Menschen, nämlich in seiner
höchsten Ausbildung, untersucht.
Ein erster unentbehrlicher Zusatz zur biologischen Definition des
Schlafes muß sich auf die unmittelbare Ursache desselben beziehen.
Dabei scheint es, daß die Hypnotoxintheorie Pierons ernsthaft in Betracht
gezogen werden muß, weil sie sich auf positive Untersuchungen stützt;
aber wir müssen uns auch in zwei anderen I^mkten an Pieron an-
schließen, und zwar: i. daß das Hypnotoxin, d. h. die Vergiftung,
nur mit dem unwiderstehlichen Schlafbedürfnis in Verbindung steht,
aber daß der Schlaf nach dem Gesetz der Periodizität eintreten kann,
ehe das Hypnotoxin ihn imvermeidlich macht; d. h., daß man schläft,
ohne die Vergiftung abzuwarten, ganz ebenso, wie man atmet, ohne erst
die Erstickung, und wie man ißt, ohne den äußersten Hungerzustand
abzuwarten, und daß der Schlaf von anderen Faktoren, wae Dunkelheit,
Stille, Körperlage, Wille, begünstigt sein kann; 2. daß in jedem
Falle das Hypnotoxin indirekt als Reiz wirkt, indem es einen Hemmungs-
245 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
reflex auslöst, d. h. dem Betreffenden das Interesse für die Wirk-
lichkeit entzieht, indem es, kurz g-esagt, seine Aufmerksamkeit lähmt.
Jedoch nicht einmal unter diesen Annahmen erscheint das Phänomen
des Schlafes vollständig- aufg^eklärt.
D. EINSCHLAFEN UND ERWACHEN
Wir müssen vielmehr einsehen, in welcher Art das Toxin oder die
biologische Gesetzmäßigkeit oder die Grew^ohnheit jenen hemmenden Reflex
hervorruft, der, wenn er tatsächlich eintritt, ,,Sclilaf" genannt wird. In
psychologischer Ausdrucksweise: wir müssen die Arten der Entstehung
des Traumbewußtseins (Einschlafen) imd diejenigen der Wiederkehr
des Wachbewußtseins (Erwachen) festlegen.
Es herrscht darin Übereinstimmung, daß im Schlafe die sensomotori-
schen Funktionen und noch mehr die motorische Reflextätigkeit spezifisch
herabgesetzt sind. Sicher sind während des Schlafes alle Schwellen
beträchtlich erhöht, imd je tiefer der SchJaf ist, desto höher steigen
die Reizschwellen aller Sinnesgebiete an, wenn schon in verschiedenem
Maße. Patrizi (63) untersuchte die vasomotorischen Reflexe; während
im Wachen die Reflexzeit für Sinnesreize am Arm ungefähr 3" und
am Bein 5" beträgt, ist sie im Schlafe viel länger; aber die Pieflex-
zeit nimmt vom Gehirn zum Arm allmählich ab und ist in den Gefäßen
der unteren Extremität nicht mehr festzustellen. Die Rinde ist weniger
empfindlich gegen künstliche Reize, und die Pupillen-, Hautmuskel-
und Sehnenreflexe nehmen ab (Pieron und Toulouse).
Wie die Sinne allmählich einschlafen und die Reizbeantwortung nach
und nach erlischt, ist eine ganz bekannte Tatsache. Nach Abschluß
unseres Tagewerks legen wir uns nieder, imd bald danach beginnt das
Stadium des Vorschlafes (Praedormitium) oder die hypnagoge oder
praehypnische Periode (von Baillager, Maur>, Claparede, Trömner,
Salmon u. a. untersucht). Über die hypnagogen oder prähypnischen
Halluzinationen gibt es bereits eine so umfangreiche Literatur, daß es
unnötig ist, darauf einzugehen. Wenn wir uns hingelegt haben, kommt
es entweder vor, daß die Vergiftungen und Hemmungen, die den Schlaf
hervorrufen, erheblich sind, und der Schlaf mit Notwendigkeit eintritt,
oder, wie es öfter geschieht, wir selbst vollbringen ,,den Verzicht" auf
das Bewußtsein des Wachzustandes durch einen Willensakt: das Schlafen-
wollen. Die Pforten des Wachbewußtseins schließen und die des Traum-
bewußtseins öffnen sich. Es ist richtig, daß der Schlaf oft ein der
Selbsthypnose ganz ähnlicher Prozeß ist. Wir können die gradweise
Unterdrückung der Außenreize verfolgen (wobei unser Wille helfend
eingreifen kann), nämlich die fortschreitende Abstumpfung imseres
Empfindungsvermögens und unserer Aufmerksamkeit. In einigen Fällen
empfand ich, wie nach und nach die Lähmung meiner Aufmerksamkeit
entstand: während ich mit dem Willen die Gedanken auf einen Gegen-
stand richtete, merkte ich das Eindringen fremder Bilder und Lücken
in meiner Gedankenreihe, bis diese Bilder mein oranzes Bewußtseinsfeld
einnahmen und die Gedanken endgültig verdrängt waren.
EINSCHLAFEN UND ERWACHEN 247
Der Augenblick des EinschiafonÄ ist violleicht unbewußt; wenigstens
wird jener kurze Augenblick nicht erinnert, so daß dieser „Sprung"
ininier eine L iibekannto bleibt. Nachdem der Augenblick scheinbaren
Todes über>vunden ist, sind wir in der Welt der Träume. Ist dieser
Zustand eingetreten, so ist die Phantasie frei, und die Phantasmen
ei-scheinen ; innerhalb der Trauminhalte Ix^ginnt der Prozeß der Um-
wandlung und der Dissoziation. Das \\ achl)ewußtsein verflüchtigt sich
nach und nach in das Traumbe^^'ußtsein oder lx>sser, es weicht dem
eindringenden Traumbe\N'ußtsein. Dieses herrscht seinerseits, solange der
Schlaf dauert, aber es weicht -wiederum nach und nach zurück mit
der \\iederkehr des Wachbewüßtseins.
Das Wiederenvachen kündigt sich durch den sogenannten Zustand
des allgemein als ,, Halbschlaf" bezeichneten ,, Nachschlaf es" (Post-
dormitium oder expergef actio [Haller]) an, das Traumbewußt-
sein verflüchtigt sich stufenweise in das Wachbewußtsein. Man kann
jedoch sagen, daß jeder Traum sich in den Wachzustand hinein ver-
längert. Im Postdormitium (dessen Dauer von Fall zu Fall bei
den verschiedenen Individuen imd je nach der Krankheit variiert: bei
den Epileptikern ist sie länger, >vie Neyroz und ich gefunden haben)
verharren die Spuren des Traunibe>\Tiß1seins ; gerade dann treten alle
die Nachtraumerscheinungen auf. Schon Homer sagt von Agamemnon,
daß die Stimme des Zeus, die er im Schlafe gehört hatte, noch vor
seinen Ohren widerhallte, als er schon wach war. Hier noch eine
persönliche Beobachtung, die ich meinen jüngsten Protokollen entnehme.
Protokoll: Nacht vom 3o. Mai 191 4. Ich erwache um 6.3o Uhr mit deutlicher Er-
innerung an folgenden Traum: Ich finde einen kleinen Schatz in einem alten Hause.
An den kleinen Goldklumpen ist ein Zettel geheftet, der den Namen meines reichen
alten Venvandten mit dem Datum i357 trägt; jedoch ist der Name und das Datum
mit schöner Elzeviertvpe gedruckt. Während des Schlafes bemerke ich den Widerspruch
zwischen dem Datum und dem Druck ; aber dennoch wrd der Widerspruch von
mir hingenommen. Lm 6,35 Uhr schreibe ich dieses kleine Protokoll nieder imd
sehe dabei den Widerspruch ein, merke aber noch nicht dessen Ungeheuerlichkeit.
Erst nachdem ich geschrieben habe und den gehabten Traum überdenke, lächle ich
über die Seltsamkeit eines Elzevierdruckes, der das Datum i357 trägt!
Ich führe Protokolle an, um die Erscheinungen zu erläutern, die im
Postdormitium und auch nach dem vollständigen Erwachen auftreten
können.
Protokoll: Nacht vom 19. Juni 1914. Sclmelle Niederschrift am Morgen, kaum
erwacht. Gestern ein anstrengender Tag, legte mich müde nieder. Schneller, leb-
hafter, klarer, ergreifender Traum: Ein Mädchen im Bett. Ich schaue sie an; ich
kenne sie nicht, aber ich bemerke, daß sie sich unter meinem Blick nach und nach
verändert; sie wird bläulich im Gesicht, sie erscheint mir von Binden umwickelt; ich
frage: wer bist du? Ich erkenne sie: es ist meine Frau; sie ringt mit dem Tode
und ruft mich mit sehr schwacher Stimme: ,,Santuzzo!" Ich erwache; es ist nachts
i,3o Uhr. Ich präge mir den Traum ein. Nach einigen .Minuten lege ich mich zurecht,
um weiterzuschlafen. aber nach einiger Zeit höre ich, auf der linken Seite liegend,
die Stimme meiner Frau, die mich ruft: ..Santino!" Ich war gut wach (posthvpnische
Halluzination des Gehörs).
Die Nachtraumphänomene sind selten ; aber es kommen sogar physische
Erscheinungen mit Bezug auf den gehabten Traum vor, z. B. Zittern,
248 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Lähmungen, Kontrakturen (die Fälle von P. Janet) usw., die ich in
meinen Büchern erwähnt habe.
Die Ungereimtheit des Traumes erkennt man manchmal nicht gleich
nach dem Erwachen; hier ein Beispiel:
Protokoll: Nacht vom 26. April 1916. Geschrieben am Morgen des 27., um 8 Uhr.
LtLhafter, vollständiger Traum emer Auferstehung. Der Fall wird erörtert, aber ich
überzeuge mich angesichts der Tatsache; dem Toten schlägt das Herz; ich lasse es von
einer Ärztiji, meiner Assistentin, feststellen. Es war sogar eine vor vielen .Tahren ver-
storbene bekannte Persönlichkeit, vielleicht eine historische Persönlichkeit? Im Traume
denke ich an die Theorie der drei Todesarten: Tod der Sinne (die gewöhnliche), Tod
der Seele; an die dritte Art erinnere ich mich nicht. Mehrmals in der Nacht erwache
ich und denke wieder an den Traum und verstehe gut, daß es ein Traum war, aber
korrigiere die Traimiüberzeugung von der Auferstehung nicht ganz. Jetzt — 8 Uhr —
nehme ich eine vollständige Berichtigung vor; ich verstehe die Ungereimtheit.
Das bedeutet, daß die Rückkehr zum Wachen, d. h. die Entfernung
des Schlafhindernisses, langsam imd unter Schwankungen eintritt.
Hierin gibt es bedeutende individuelle Abweichungen, aber die Art des
Erwachens ist bei allen die gleiche. Bei den Epileptikern z. B. findet
man ein verspätetes Erwachen der Sinne. Ich habe beobachtet, daß das
Erwachen im wesentlichen dadurch bestimmt wird, daß die Sinnes-
organe ihre Tätigkeit aufnehmen, und wenn das Erwachen dem Tätig-
werden der Sinne entspricht, so kann man folgern, daß der Schlaf im
allgemeinen ihrem Untätigwerden entspricht. Ich habe bemerkt, daß
sich, wenn man einer Person, die im Begriffe ist, zu erwachen, die
Sinnesreize entzieht oder fernhält, das Erwachen wenigstens für eine
gewisse Zeit hemmen, d. h. hinausschieben läi^t. Den beweiskräftigsten
Versuch kann jedermann bei sich selbst anstellen, wenn er die Augen-
lider geschlossen hält oder den Kopf unter die Decke steckt. Das
Öffnen der Augen, also das Sehen, bestinunt die Rückkehr des Be^vußt-
seins, nämlich die Entfernung des Schlafhmdernisses. Nach dem Er-
wachen mit einem lebhaften Traum im Sinne gescliieht es mir zuweilen,
daß sich, wenn ich die Augen offen halte, die Bilder und Überzeugungen
des Traumes schnell verflüchtigen; aber wenn ich dann die Augen
selbst durch einen Willensakt wieder schließe, können sie andauern, und
das Traumbe\\aißtsein bleibt durch das Verharren des Trauminhaltes
im geistigen Blickfeld erhalten.
Es ist hier nicht am Platze, sich mit den Nachtraumbildern, den
verlängerten Gemütsbewegungen des Traumes imd dem Eindringen des
T^aumbe^A'ußtseins in das Wachbewußtsein aufzuhalten. Zuweilen ver-
längert sich das Tramiibe\A-ußtsein in das Wachbe^vußtsein hinein oder
überschwemmt es; d. h., die Wirklichkeit des Trauma überdeckt wegen
der Lebhaftigkeit ihrer Inhalte die Wirklichkeit des Wachens, auch
nachdem der Schlafzustand beendet ist. Es handelt sich dabei um
pathologische Fälle, die ich ausführlich erläutert habe („Wachtraum-
zustände"), und für idie Dr. Marro^ (54) jüngst ein schönes Beispiel
erbracht hat.
1 Man beachte wohl : die Wachtraumzustände haben nichts zu tun mit den
Traumdelirien, die Regis besclireibt. Nebenher sei erwähnt, daß die von Dr. Marix)
angestellte Psychoanalyse in seinem Fall keinen Sexualkomplex enthüllte.
DIE TIKFE DES SCHLAFES IM) DIKTRÄl^ME 249
Spilta, Dclboouf und noch später Foucault (26) haben die Organi-
sa tJd 11. sarlx'it Ix^schriolH'ii, Nvflcher der Traum unterliegt, sobald der Schlaf
beendet ist. Fouciudl hat von der Evolution <les Traumes gesprochen,
die er auf den Vergleich seiner unmittelbaren Notizen über den Traum
{notes immediatcs) mit später niedergeschriebenen Erinnerungen
{difjerees) begründete. .Nach Foucault wäre somit der Traum das
Erg<4>nife einer doppelten Arl)eit, einer Arbeit logischer KonsLniktion,
welche, vor dem \\ iedererwachen begonnen, hauptsächlich in der Peri(xlo
des \\ it^lererNvachens ziLstando kommt un<l dann fortgesetzt wird, und
einer automatischen Arbeit während des Schlafes. Das bestätigt den
langsamen Übergang des Traumbewoißtseins in das Wachbewußtsein 1.^
E. DIE TIEFE DES SCHLAFES UND DIE TRÄUME
Vielleicht die wichtigste Frage ist die nach der Quantität des
Schlafes bei den Individuen unserer Himmel striche, deren Leben und
Arbeit sich nach modernen Gewohnheiten regelt. Aber das Maß der
Quantität war nur soweit von Wichtigkeit, als es das Maß der Inten-
sität einschließen konnte.
Wenn im Schlafe die Reizschwelle erhöht ist, so folgt daraus, daß
seine Intensität dadurch gemessen werden kann, daß man die Stärke eines
gegebenen Reizes mißt, den man auf den Schlafenden einwirken läßt.
Je intensiver der Reiz ist, der angewendet werden muß, um einen
Schlafenden zu wecken, desto tiefer wird sein Schlaf gewesen sein.
Auf dieses Prinzip gründen sich die Methoden, die verschiedene Autoren
venvenden, um die Tiefe des Schlafes zu verschiedenen Stunden der
Nacht zu messen und um die Schlafkurve zu konstruieren -.
Das Messen der Tiefe oder der Intensität des Schlafes war schon
in sehr früher Zeit^ ein Gegenstand der Untersuchung, aber es mußten
noch genauere Methoden zur Konstruktion der Kurve ausgearbeitet werden ;
es erschien zweckmäßiger, die Versuche anstatt an der eigenen Person
an fremden Personen, wenn auch nur zur Kontrolle, anzustellen, ver-
schiedene Reize zu verwenden, vielfältige Erregungen henorzurufen, anstatt
die Kurve nur aus 4 oder 5 Werten zu konstruieren.
1 Der von Foucault beobachteten Tatsache könnte icli entgegenstellen, daß die Evolution
bisweilen im umgekehrten Verhältnis stattfindet. In diesem Fall wacht man mit dem
klar zusammenhängenden Traum im Gedächtnis auf (notes immediates), und
sofort beginnt er sich allmählich zu verflüchtigen und dunkel und dann unbestimmt zu
werden. Wie es auch sein mag, wir führen die logische Vervollständigung des Traumes
bewußt durch; wir wissen, daß wir unsern Traum nur mit Schwierigkeit ausdrücken,
und daß wir ihn ergänzen. Dann gehört aber jener Moment nicht mehr dem Traum-
bewußtsein, sondern dem Wachbewußtsein an.
2 Über die Methode, Anhaltspunkte für die Konstruktion der Kurve zu gewinnen, siehe
89, S. 207 ff. Dort findet sich auch die betreffende Literatur und die Beschreibung
der von Kohlschütter, Mönninghoff und Piesberger, Michelson und Czemy tind be-
sonders von Lambranzi angewandten Methoden.
3 Spilta (102, S. 3i ff.). Der Verfasser spricht dort über das Messen der Schlaf-
intensität. Er wendete die Methode des Enveckens und des Akumeters (Schall-
pendels) an.
250
DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
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Gesunde Schlaf tief enkur\e (nach Kraepelin, 4o. I- S. 289). ,.Die Abszissen geben die
Nachtstunden, die Ordinate« Schallstärken in Grammzentimetern an, wie sie durch
fallende Stahlku^eln auf einer Elfenbeinunterlaare erzeugt werden."
i' I M h^^
« 5 I 3 * ; s T i
Fig. 4.
Kurve der Schlaftiefe nach F. Hacker (a. a. O.). Michelsonsche Methode. ,,E>er
Fallapparat bestand aus einem Gestell mit einem verschiebbaren Eisenring, durch den
man die Kugel auf das Fallbrett, das aus dickem Eichenliolze bestand, auffallen lassen
koimte. Die Störung, die durch die Anwesenheit des E.\perimentators bedingt war.
und die Michelson durch seine Versuchsanordnung vermieden hatte, konnte ich bei
meinen Versuchen nicht umgehen, doch war sie. glaube ich. nicht so groß, daß sie
sehr in Betracht käme. EHe Versuche ^viirden in den Monaten August und Dezember
1910 und Januar 191 1 an 3o einzelnen Tagen ausgeführt. Das Erwecken wurde in jeder
Nacht immer nur einmal herbeigeführt. Die gewonnene Kurve entspricht ungefähr
denen von Michelson. also den ausgeprägteren Morgentypen. Ich zeige auch selbst eine
starke Morgendisposition. Ich bin in der Frühe besonders frisch, dagegen abends bald
müde und gehe zeitig zu Bett. Hervortretend an der Kurve ist der rasche Anstieg imd
die relative Höhe, auf der sie sich bis zur dritten Stunde hält."
Unter den Reizen, die zum Erwecken verwendet wurden, wurde der
Gehörreiz bevorzugt (Kohlschütter, Michelson, Kräpelin [Textfig^. 3],
Hacker [Textfig. 4]), aber um ganz genau zu sein, müßte man ver-
schiedene Reize anwenden, daraus verschiedene Kurven und aus diesen
schließlich eine Mittelkurve konstruieren; denn die Schwelle des Er-
PIK TIKFK DKS SCHLAFES UND DIE TRAUME 251^
Wachens wechselt je nach den verschiedenen Reizen in den verschiedenen
Phasen des Schlafes.
Lanil)ranzi [\i)) stininite meiner Kritik bei und suchte die Methotle
zu verbessern.
Die vorschi<Hlenen Kurven liaben alle einip-e q-enieinsame Punkte, d. h.
daß trotz der \erschiedenheit <ler Methoden alle die wirklichen \erhältnisse
darstelN'ii ; aber sie zeigen erhebliche l ntei-schi<Mle, die auf die Rechnung
der angewandten MeÜiode und mehr noch vielleicht auf die der indi-
vi<luellen Verschiedenlieiten, besonders des Geschlechts und Alters, zu
setzen sind. Ich halte es fCu* überflüssig, von allen Schlafkiu-vcn zu
sprechen, die bisher konstruiert wurden, und werde nur einiges über
the Kurve von Lambranzi und die meine anführen.
Lambranzi fand, daß die Kurve der Scldaftiefe im Verlauf von
8 Stunden in der i. Stunde schnell ansteigt und den Höhepunkt
in der i. Hälfte der 2. Stunde erreicht, sodann anfänglich sehr
schnell, später langsam heraibsinkt und sich von der 2. bis 5. Stunde
auf einer geringen, von Schwankungen mehr oder weniger luiter-
hrcKrhenen Höhe hält; um die Mitte der 6. Stunde findet ein
neuer Anstieg statt, dem ein zuerst schnelles, dann langsames .Vbsinke«!
folgt. Dieser Verlauf unterscheidet sich nicht sehr von den anderen
Kurven, aber in der Periode, die etwa von der Mitte der 6. Stunde
bis zum Erwachen reicht, beobachtet man einen bemerkenswerten Unter-
!K:hied: die Kurve zeigt oft ein Wiederansteigen, das, nach Lambranzi,
in den meisten Fällen zur Traum tätigkeit in Beziehung stehen soll.
Der Schlafende soll den Gehörreiz wahrnehnnen, aber nicht ganz er-
wachen, weil er im Traum verharrt und das gehörte Geräusch in den-
selben hineinverarbeitet. Diese Annahme erscheint mir durchaus g^
rechtfertigt; wenn die Aufmerksamkeit des Schlafenden im Traum be-
schäftigt ist, erhöht sich in der Tat die Reizschwelle, und das könnte
nicht nur in der 6. Stunde, sondern auch in allen anderen Stunden
des Schlafs vorkommen.
Die Kurve von De Sanctis-Neyroz 1 (96) legt großes Gewicht sowohl
auf den Beginn des Erwachens nach einem Reiz wie auf das vollständige
Erwachen; folglich haben wir 2 Kurven konstruiert: eine der be-
wußten Reaktion auf den Reiz (vollständiges Erwachen), d. i.
die eigentliche Kurve der Schlaftiefe, und eine der unterbewußten
Reaktion (unvollständiges Erwachen). Unsere Versuche betrafen auch
psychopathische Personen ; doch gehört diese Frage mehr in das Gebiet
der pathologischen Individualpsychologie als in die allgemeine Psychologie.
Uns dagegen interessiert an der Schlafkurve am meisten der Umstand,
daß im Grunde genommen der wahre Schlaf auf die i. Phase der
Kurve beschränkt ist (Textfig. 5). Der Mensch schläft, mit Rücksicht
auf seine Gewohnheiten und besonders auf die Gewohnheit, seine weniger
dringenden geringeren Bedürfnisse völlig zu befriedigen, viel mehr, als
ihm nötig ist, und, was noch mehr ins Gewicht fällt, er gibt sich an
Stelle der vom müden Organismus geforderten Ruhe einem von för-
1 Ich gebe hier die Kurven nicht wieder, die schon in 89 dargestellt sind.
252
DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\UMES
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1
i'ig. o.
Kurve der Schlaftiefe (nach De Saudis und Neyroz, 96. S. 161/2). Versuche mit
oinem Griesbachschen Ästhesiometer mit abgestumpften Spitzen an einer normalen
mi-nnhchen Versuchsperson. Kurve der bew-ußten Reaktionen (ausgezogene Linie),
Kurve der unterbewiifSten Reaktionen (punktierte Linie). Traumkurve 'gestrichelte Linie).
Das Vorhandensein von Träumen wird durch die Erhebungen der Kurve angezeigt.
Man beachte die Seltenheit der Träume in der ersten Hälfte des Schlafes (Tiefschlaf)
und ihre verhältnismäßige Häufigkeit in der zweiten Hälfte (leichter Schlaf). Die
Zahlen auf der Ordinate geben die Größe der Druckreize nach den beiden überein-
anderstehenden Skalen des Griesbachschen Ästhesiometers an. Je höher die Kune, umso
größer daher auch die Schlaftiefe.
dernden Hilfsmitteln, ^vie Dunkelheit, Stille, Isolierung, Ünbeweglichkeit,
Lager usw., unterstützten Schlafe hin! Nur die i. Phase des
Schlafes entspringt einem biologischen Bedürfnis; die anderen Phasen
sind die des Luxusschlafes. Der Bedürfnisschlaf ist instinktiv,
die Erscheinung eine biologische, zyklische und unabwendliche; der
andere ist im Anfang als Schlaf gewollt und A\ärd dann zm* Gewohn-
heit; so "wie der Schlaf am Tage, der sich in verschiedener Hinsicht
von dem nächtlichen, erfrischenderen und tieferen Schlaf unterscheidet,
ein Produkt der Gewohnheit ist (Vaschide [11 3]). Ich finde diese
Bemerkimg bei Polimanti, der auch von diesem Gesichtspunkt aus den
Schlaf den anderen biologischen Erscheinungen annähert. Ißt man wirk-
lich immer nur aus Hmiger? Übt man den Geschlechtsverkehr immer
nur aus sexuellem Bedürfnis aus? Nein: der Wille, die Sitte, die
Gewohnheit haben die Bedürfnisse ausgedehnt. Deshalb wird der Schlaf
zum Teil vom Willen des Schlafenden beherrscht. Er kann nicht seinen
Traum beherrschen und ihn voraussehen, aber er kann seinen Schlaf
beherrschen. Das gewollte Erwachen ist eine bekannte Tatsache. Noch
geAvöhnlicher ist der gewollte \Mderstand gegen den Schlaf und der
Entschluß, einzuschlafen. Lm jedoch die Beziehungen z\\dschen Schlaf
und Willen richtig zu verstehen, darf man die Phasen des Schlafes
nicht vergessen. Nach meiner Erfahrung sind der Tagesschlaf,
der nächtliche Schlaf (im eigentlichen Sinne) und der morgend-
liche am leichtesten zu beherrschen, sch-sverer der abendliche (der
DIE TIEFE DES SCHLAFES UND ÜIE TRvL'ME 253
erste Schlaf), der zugleich der tiefste ist. Wer am Abeiul iiiclil schlafen
Nvill, g-eht iiicIil ins lielt. l lul dali der Wille bis zu einem ,ir<'!wissen
(irado den Schlaf iK^herrschen kaim, vei-stehl man, wenn man l)edenkt, daß
tho absichtliche Aufmerksamkeit EinflulS auf die Reizschwelle und auf
den Muskeltonus ausüben kann^.
Für tlen Psychologen ist jedoch die Phase des Luxusschlafes ebenso
wichtig wie die dt>s Ikxlüifnisschlafes, weil jene dem Zustand der
„Träumerei" näher konuiit als dii«e und daher mehr von erinnenmgs-
fähigen Träumen belebt ist.
Sicherlich variieren die Träume je nach der Tiefe des Schlafes,
d. h. je nach den verschiedenen Phasen der Kurve. Bekanntlich be-
haupten viele Autoren, daß die Träume imr im leichtesten Schlaf, im
hvpnagogen Zustand und im Augenblick des Erwachens auftreten. Ich
glaube es nicht. Gewiß verlangsamen und erschweren angenehme oder
interessante Träume das Erwachen. Zuweilen hat man das Gefühl,
als wolle majn den Traum hinausziehen. In diesem Fall ist der
Schlaf nicht sehr tief; hier nähert man sich dem Zustand des Prä-
oder Postdormitiums und der ,, Trau merei ". Gerade in
diesen Zuständen kann der Wille — in begrenztem Maße — auf die
Phantasie einwirken. Die am häufigsten angenommene Beziehung zwischen
den Träumen und der Tiefe des Schlafes wurde schon von Heerwagen
ausgesprochen: je leichter der Schlaf ist, desto mehr träumt mau. Die
Menge erinnerungsfähiger Träume im sommerlichen Tagesschlaf beweist
seine geringe Tiefe im Gegensatz zum nächtlichen Schlaf.
Der größte Teil der Veränderungen im Ablauf unserer Träume ist
durch die Schwankungen der Schlaftiefe veranlaßt. Gerade von dem
Grad der Tiefe hängen die Wirksamkeit oder Unwirksamkeit des un-
mittelbaren Reizes, die Abgeschmacktheit oder die Logik des Traumes
imd nach Stepanoff auch die Anzeichen von Verwunderung imd Erstaunen
ab, die der Träumer zuweilen angesichts gewisser schneller Veränderungen
in seinem Tramn erkennen läßt.
Darin liegt nichts Überraschendes. Je tiefer der Schlaf ist, desto
fester ist man im Traumbewußtsein befangen. Die Tiefenschwankungen
vermindern auch die Tiefe des Traumlse wußtsei ns und folglich die An-
näherung an das Wachbewußtsein. Diese Beziehungen zwischen Traum-
und Wachbewußtsein, w^elche den Graden der Schlaftiefe parallel laufen,
wurden von Stepanoff ausführlich bestätigt. Ich behaupte noch mehr:
Die logische Verarbeitung gewisser Einzelheiten des Traumes während
des Traumes stammt aus kurzen unvollständigen Phasen des Ei"wachens,
d. h. aus Phasen eines schnellen und tiefen Herabsinkens der Schlaf kurve '-.
Claparede beobachtete, daß die Träume des ersten Einschlafens mit der
wirklichen Situation nicht das geringste zu tun haben, als ob die Natur
jegliches Hindernis entfernen wolle, das sich der Schlaffunktion ent-
gegenstellt. Ich kann diese Selbstbeobachtung Claparedes nicht aus eigener
1 über die Beziehungen des Willens zum Schlafe über die hypnische Volition Iiat
kürzlich Dr. Georges Peyer Angaben gemacht (69. S. 89 £f.).
2 Siehe Kap. III.
254 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\LMES
Erfahrung bestätigen, aber die Angabe ist wahrscheinlich richtig, denn
gerade in der i. Stunde erreicht (wie alle Schlaf kurven zeigen) der
Schlaf seine größte Tiefe.
All das ist nicht neu; es wurde von den älteren wie von den neueren
Forschem als Tatsache hingestellt. Hier nur ein Beleg; schon A. Piloz i
gelangte im Jahre 1899, auf Selbstbeobachtungen gestützt, zu dem Ergebnis,
daß die jüngsten Ereignisse im leichten, die älteren im tieferen Schlaf
und (wenn man sich an die experimentellen Resultate hält) besonders
im abendlichen Schlafe wdeder auftauchen. Im Grunde wäre diese Be-
trachtungsweise eine durchaus wahrscheinliche Anwendung des Gesetzes
der mnemischen Regression auf den Traum. Je tiefer der
Schlaf ist, desto weniger dringt die schwache Wirklichkeit durch, und
tun so weniger können die Tageserfahrungen und die nächstliegendea
Erinnerungen wiedererweckt werden. Die Isolierung ist größer, und die
Erinnerungen sind entfernter. Je weniger das Bewußtsein von Sinnes-
eindrücken erfüllt ist, desto göttlicher scheint die Intuition.
Hacker (33) (der leicht in sehr tiefen Schlaf verfiel) hat besser
als jeder andere die Träume des tiefen Schlafes untersucht. In dieser
Periode sind die Vorstellungen fast alle visuell, aber wenig lebhaft; es
scheint, daß die Wortvorstellungen sehr verblassen, die affektiven Zustände
sind schwach und spärlich, die Wünsche schweigen, die jüngsten Er-
fahrimgen treten in den Hintergrund, und die ferner liegenden Erfahrun-
gen werden neu belebt (2. tmd 3. Tabelle von Hacker); die Kritik ist
schwach, obgleich die Urteilsfähigkeit bestehen bleibt (Köhler, 39).
Hacker hat femer beobachtet, daß die Traumbilder im Wachen um so
weniger verharren und sich um so weniger auf assoziativem Wege wäh-
rend des W^achens reprodiizieren lassen, je tiefer der Schlaf ist.
Ich bin in diesen letzten 10 Jahren darauf bedacht gewesen, soviel wie
möglich von dem aufzuzeichnen, an was ich mich von meinen Träumen
erinnern konnte, wann ich zufällig nach i oder i^/g Stunden Schlaf auf-
geweckt wurde. (Man weißi, daß die größte Tiefe des Schlafes gerade
in der i. Stunde des Schlafes oder kurz danach eintritt.) Jedoch
habe ich in 2 Jahren, 191 2 und 191 5, nur 8 ganz kurze Protokolle
gesammelt mit folgenden Resultaten: a) daß die Träume des tiefen
Schlafes sehr selten erinnert werden; b) daß der Schläfer zuweilen
sagen kann, ob er geträumt hat oder nicht; c) daß in einigen — ge>viß^
nicht in vielen — Fällen 'der Schläfer sagt, „er habe das Gefühl, sehr
ferne und tiefe Dinge geträumt zu haben: es scheine ihm, daß er beim
Erwachen aus weiter Ferne zurückkehre".
Die Vorstellung einer ,, Rückkehr aus weiter Feme" spricht für die
von einigen gewichtigen Beweisen imterstützte und auch von Pieron und
Vaschide in Betracht gezogene Hypothese, daß die unterbewußten Inhalte
der tieferen und älteren Schichten um so leichter emporsteigen, je tiefer
der Schlaf ist, wie es bei der hysterischen Regression der Fall ist. Die
Tatsache verdient genau in Erwägung gezogen zu werden; sie wäre das:
1 Schon angeführt in
l>li: TILFE DES SCHLAFES UND DU-: TKaLj.ME 255
Analogen zu anderen Tatsachen, die von einigen, z. B. <lc Rochas, im
kÜJisUicluMi Schlaf (llvpnose) iK-obachlel wunloii. WcJin icli mich an
meine Beobachtungen halle, ist das Traunibewuljtsein im Komazustundo
(z. B. im urämischen und uachapoplektischeji Koma) und im klassischen
epileptischeJi Anfall am meisten heriJ>gesetzt ; es ist wacher und tätiger
im Chlorofonnschlaf mul im hysterischeu Anfall, noch leblKÜ"ter im
leichten hysterischen und epileptischen Anfall.
Der (j<>genstand war interessant, und ich habe daher im Jidu^ 19^7
andere Selbstbeobachtungen zu Protokoll gebracht. Die einzige Tatsache»
von einiger Bedeutmig jedoch, die ich diesen Protokollen entnehme, ist
folgende : wenn ich beim Erwachen das Gefühl habe, selir tief geschlafen
und mich in meinen Gedanken von meinem gewöhnlichen psychischen
Umkreis „sehr weit entfernt" zu haben, somit gleichsam das Gefühl
der Rückkehr besitze, so erinnere ich mich in diesen Fällen ent-
weder an nichts von dem Geträumten, oder der summarisch erinnerte
Traum hat einen eigentümlich neuen, fremden und wunderbaren Charakter
und ist mit einem Gefühl von Wohlbefinden verknüpft. Im .\nschluß.
hieran scheint mir ein Protokoll meines .\ssistenten Dr. Cohen (1919)
interessant, in dem er sagt, daß, wenn das Erwachen nicht spontan ein-
tritt, sondern künstlich herbeigeführt wird, er oft das Gefühl habe,
als käme er von weit her, nämlich (so drückt er sich aus) „aus wesent-
lich andersartigen Lebensbedingimgen". Dieses Gefühl der Rückkehr
ist niemals von einem ausgeprägten affektiven Zustande begleitet, aber
es charakterisiert sich jedenfalls als ein eher unangenehmes Gefühl.
.All dieses ist verständlich, wenn man nochmals die Bedingungen des
Schlafes betrachtet. Wenn das Schlafen in einer kortikalen Hemmung'
infolge der Unwirksamkeit der Reize besteht, so muß natürUch diesem
Hemmung durch das Zunehmen der Schlaftiefe verstärkt werden. In
diesem Falle betrifft die Hemmung vornehmlich die jüngsten nervösen
Spuren und Dispositionen, während sie die älteren und die ältesten,
die sogar den subkortikalen Zentren angehören, nicht erreicht; diese
werden vielmehr entlastet imd folglich gerade durch das Dazwischen-
treten der intrakortikalen Hemmung belebt. Dadurch erhalten wir, wicf
schon angedeutet, Aufschluß über die Wiederbelebung der unterbewußten
Inhalte, die aus dem Wachzustand, aus der Kindheit und aus den Erb-
teilen von Familie und Gattung stammen imd zwangsmäßig diirch visuelle
Bilder überdeckt oder durch diese und andere Bilder abgeändert erschei-
nen, soweit ihnen der konkrete Ausdruck fehlte oder ihr alter ursprüng-
licher Ausdruck sich nicht zu reproduzieren vermochte.
In den gewagten Aufstellimgen von Durand de Gros finden wir dieselbe
Auffassimg wieder. Je tiefer man schläft, desto mehr verlieren die
Zentren der Persönlichkeit — das primäre Ich — an Kraft und desto
mehr erlangen die ^»sekundären Ich", „Ze.v .Souffleurs Caches, les sug-
gesteurs secrets de nos sentiments, de nos pensees, de nos resolutions"
(„d ie verborgenen Einbläser, die geheimen Anstifter un-
serer Gefühle, unserer Gedanken, unserer Entschlüsse"),,
das Übergewicht.
256 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\UMES
F DIE STELLUNG DES SCHLAFENDEN IM SCHLAF UND DIE
TRÄUME
Von Bedeutung für die Untersuchung der Träume, d. h. der Schwan-
kungen des Traumbewußtseins, sind aber nicht nur die Phasen der
Schlaftiefe, sondern auch alle anderen Zustände des Schlafenden, wie
die Zustände des viszeralen und des muskulären Apparates, Stellung
des Körpers und des Kopfes, die Öffnung des Mimdes, die Lage der
unteren Gliedmaßen, der Widerstand gegen das Gewicht der Decken,
die Anpassung an die Beschaffenheit des Bettes usw. Zu den Bemer-
kungen, die ich schon bei emderer Gelegenheit (89) über den Einfluß
der Lage des Schlafenden vorgebracht habe, wdll ich noch einige Punkte
iiinrufügcn. Die Angabe, daß der Körper im Schlafe dazu neigt, die
embryonale Lage einzunehmen, ist richtig. Man beobachtet diese Tat-
sache nicht so sehr bei den Säuglingen als vielmehr bei den Kindern,
besonders wenn sie irgendwie in der Entwicklung des Pyramidensystems
zurückgeblieben sind. Jene Stellung ist eine krampfhafte Beugestellung;
der Schlafende verkürzt im Liegen seinen Körper nach allen Richtungen.
Die genu-pektorale Stellung habe ich mehrmals bei Idioten beobachtet.
Es handelt sich hier allerdings um eine Stellung von fötalem Typus;
aber man muß sich darüber klar werden, daß sie durch die Unterent-
wicklung des motorischen Systems, d. h. durch die Hypertonie der
Beuger, bestimmt ist. Dies ist ein neuer Beweis für die Lehre, nach
welcher ein pathologischer Umstand die phylo- oder ontogenetischen,
morphologischen imd funktionellen Erinnerungen bestimmt.
Wenn man sich in der medizinischen Semiotik mit der Art des Liegens
beschäftigt, so unterscheidet man das „aktive" Liegen des Gesunden
von dem „passiven" des Schwerkranken und dem ,, zwangsmäßi-
gen" Emderer Kranker, die an besonderen K ran kheits formen leiden. Man
kennt wohl das Liegen der Rippenfellkranken und der Kranken mit
Lungenentzündung, der Typhus- imd Anginakranken und einiger Nerven-
leidender, aber soviel ich weiß, ist das Liegen der normalen imd der an
Entwicklungshemmungen erkrankten Kinder noch nicht in Betracht ge-
zogen worden. Und doch liegt hier eine Tatsache vor, deren biologische
Wichtigkeit nicht vernachlässigt werden darf. Burdach verzeichnete die
Stellung einiger Tiere im nächtlichen Schlafe. .Alle suchen die Dunkel-
heit oder wenigstens die Isolierung; alle verkleinern ihre Körperober-
fläche in der Art, daß sie sich der embryo- fötalen Stellung annähern.
Von allen Beobachtern wurde vermerkt, daß die Vögel den Kopf unter
dem Flügel (meistens dem linken) verbergen, und daß einige sich im
Schlaf auf ein einziges Bein stützen. Ich habe viele Beobachtungen
über die Schlaf Stellungen der Tiere in den zoologischen Gärten von Paris,
Antwerpen, Frankfurt a. M., Köln, Basel imd Rom gesammelt und mich
überzeugt, daß alle Vögel den Hals einziehen und ein Bein verbergen.
Die Ibisse, die Kraniche, die Marabus aus Indien und Senegal erscheinen
daher im Schlafe wie große, je nach der .Art graue oder rosa, auf einen
schwachen Stiel aufgepflanzte Knäuel. Auch die Papageien aller Arten,
desgleichen die Raubvögel verbergen ein Bein. Nur ist zu beachten, daß die
PIK STKLUNC; DES SCHI. AKKNDKN IM SCHLAF l .ND PIK THaIMK 257
Vögel, Ix'soiulers (lio Ilaubvö^ol. ii i c 1» l imiiiiT in s<jlclier Stellung
schlaff'ii. Diosor l iiu»^Uin<l lälil miili \«M-iiuitoii. dalS die SU'sUuiig der
IJoiuo und die Nerkür/ung (U-iS Halses (li<' Slolluiig des tiefen Schlafes
oder In^sser einer Phase des Schlafes sei.
Die Kunst bietet keinen beileuts<iinon Beitrag zur Kenntnis der Schlaf-
stellungen. Ich besitze eine ziendich reiche Sammlung von photographi-
schen \\ ie<lergalxMi und von Zeichnungen schlafender Personen. Dio
ni(xleriien Künstler geben die Stellungen vviod<^r, die man in der antiken
Bildhauerei und in der klassischen Malerei findet.
Im wirklichen Leben läßt sich die Schlafstellung im Kalten (Winter)
von derjenigen im Warmen (Sommer) unterscheiden. In der Kunst
jedoch sieht man mit Vorliebe die letztere dargestellt. Eine sehr rea-
listische Sommerstellung ist die des Hermaphroditen (Mliseo ßorghiaso,
Rom) und die andere, sehr ähnliche der Diana von Tizian. Dasselbe
gilt von der Sommerstellung im , .Schlaf des Morpheus" (französisches
Kunstwerk des 17. Jahrhunderts; Museum Cluny, Paris, Saal ili). Die
Winterstellung ist hingegen in einer Marmorstatuette (nackte Frau) aus
dem 17. Jahrhundert ,,Le sommeil" festgehalten (Saal i3 des Museums
Clunv).
Bei den Schlafenden in Winterstellung ist der Allgemeinausdruck oft
ein leidender; bei den Schlafenden in Sommerstellung hingegen bemerken
wir einen .\usdruck der Heiterkeit oder einer Entspannung der Muskeln
(wie im Tode). Eine klassische Stellung ist das Aufstützen des Kopfes
auf die geöffnete oder zur Faust geballte Hand (meistens die rechte)
und die ausgestreckte oder sitzende Lagerung des Körpers auf der Erde
oder einem Ruhebett. In der antiken Skulptur gibt es dafür ein klassi-
sches Beispiel: den „Schlafenden Putto" (Museo nazionale delle Terme,
Rom). Wir sehen sie bei Giottos ,,Der heilige Franziskus erscheint Gre-
gor IX." und „Der Traum des heiligen Franziskus vom Palast" (Chiesa
super, di San Francesco, .Assisi). Wir sehen sie auch in der „Vision
der heiligen Ursula" von Carpaccio (Accademia di Belle Arti, Venedig).
Sehr originell ist die Stellung des mit dem Gesicht auf die zum Gebet
gefalteten Hände gestützten Kopfes bei einem der Schlafenden im Fresko
,, Jesus erscheint der Magdalena" (Kapelle Scrovegni, Padua). Diese
Stellung kommt im täglichen Leben (siehe Textfigur 10) häufig vor.
Aber die Wirklichkeit bietet auch einen außergewöhnlichen Reich-
tum an Stellungen; nicht selten ist z. B. die genu-pektorale Stellung,
dio sich in der Kunst nicht findet (Textfig. 6 — 11).
Daß die Schlafstellung für die Träume Bedeutung besitzt, vermerkte
schon Radestock (72). Ich erinnere an die Angabe vieler älterer Autoren,
daß die Rückenlage besondere, meistens beängstigende Träume, ja sogar
Albdruck, hervorrufe. Im italienischen Volk erzählt man auch, daß man
beim Schlafen auf der linken Seite (auf dem Herzen) häßliche Träume
habe. All das trifft wahrscheinlich zu, weil sich der Blutkreislauf, die
Atmung, die Muskel- und Gelcnkeinpfindungen je nach der Lage des
Körpers verändern. Vermutlich wird man der Stellung» während des
Schlafes eine noch spezifischere Bedeutung beilegen müssen, wenn die
neuen Auffassungen über die Funktion des sympathischen Systems und
17 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
258
J^E-^i^I^£Ilh_I^ICHOLOGIEms TRAUMES
Fig. 6
Fig. n
-^^.
DIE STKLLl NG DES SCHLAI KNDEN IM SCIILAT l ND DIE TI'.Äl ME 259
Fiß-9
Fig. lO
Fig. II
Fig. 6— II. Schlafstellungen. Unveröffentlichte Zeichnungen nach der Natur aus Rom
und der Campagna von Querci, Prof. am Istituto di Belle Arti zu Rom, aus den Jahren
1859—61. Man beachte die Figur 7, welche zwei kleine Bauemmädchen in genu-pektoraler
Schlafstellung zeigt.
17*
260 DE SAN'CTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
der ,, postural activity" („Stellungsaktivität") von Sherrington bei tk-n
Physiologen Zustimmung findend
Ich behandle jedoch diesen Gegenstand vor allem deshalb, weil ich
zwei Tatsachen beobachtet hal>e: i. daß der Lagewechsel im Schlafe
den Traum verändert; 2. daß der Lagewechsel beim Erwachen den Traum'
schnell vergessen läßt und folglich djie wahrheitsgemäße Niederschrift
des Traumes erschwert. Diese zwei Tatsachen ergaben sich mir aus
vielen Erfahrungen. Im Traume sehen wir die Gegenstände im geistigen
Raum unter einem bestimmten, der Lage des Kopfes entsprechendi^n
Gesichtswinkel derart, daß jeder geträumte Gegenstand von einer Raum-
vorstellung begleitet ist. Der Lagewechisel des Kopfes beim Erwachen
verschiebt den Gegenstand oder die Handlung aus ihrer Szenerie, und
so verliert man eine Möglichkeit, den Traum zurückzurufen, ein wesent-
liches Element, ihn zu erinnern, nämlich die Berührungsassoziation und
die räumliche Beziehung. Infolge der fortgesetzten Ver\vandlung der
Szene selbst und ihrer Elemente verschiebt sie sich aber durch di© Be-
wegung auch nicht im Ganzen, wie dies im Wachzustande der Fall ist.
Die Veränderung des Traumes, seines Ablaufs imd seines Ausgangs im
Zusammenhang mit der Lageveränderung ergibt sich mir aus Beobach-
tungen über den sommerlichen Tagesschlaf, die ich in verschiedenen
Epochen an mir selbst angestellt habe. Die zweite Tatsache ergibt sich
mir aus den zahlreichen Erfahrungen bei der Niederschrift von Träu-
men. Diese Tatsache muß bei der Methodologie in Betracht gezogen
werden (gS).
G. DAS NERVENSYSTEM UND DIE TRÄUME
Die Physiologie des Traumes hat aber noch eine Hauptaufgabe zu lösen.
Es steht fest, daß im Schlaf eine Erhöhung aller Schwellen stattfindet,
daß infolgedessen eine sehr bedeutsame zerebrale Hemmimg (Lähmung
der Aufmerksamkeit) - und daher die Entwicklung einer Traumaufmerk-
samkeit eintritt, die von der gleichzeitigen Ausbildung von Vorstellungen
meist halluzinatorischen Charakters begleitet ist. Nunmehr fragt es sich,
ob sich diese grundlegende Tatsache des Traumes in Ausdrücken der
Gehirnphysiologie darstellen läßt. Nach meiner Meinung ist die Frage
1 über diesen Punkt lese man besonders bei I. Böke (10) (für den morphologischen
Teil) und bei Van Rynberk (80) (für den physiologischen Teil) nach. Einen Überblick
dieser Frage hat V. Ducceschi (19) gegeben.
2 Belmondo hat behauptet und bewiesen, daß die vollständige Unterdrückung der
Reize den Schlaf hervorbringt. Auch Boris Sidis hat neuerdings (100) betont, daß der
Schlaf eintritt, wenn der Organismus nicht meiir auf die Reize reagiert. Abgesehen
von der Beziehung zwischen Ursache und Wirkung steht fest, daß der Traum als
eine Hemmung betrachtet werden muß. Pawlow (64) und seine Mitarbeiter beobachteten
bei ihren Experimenten über bedingte Reflexe, daß ein Hund von Schläfrigkeit ergriffen
wurde, besonders wenn man ihn wiederholt der Einwirkung intensiver kalter und warmer
Temperaturreize aussetzte. Bei genauer Untersuchung zeigte sich, daß das fortgesetzte
Einwirken von Kalt und Warm auf denselben Punkt der Haut das Aufhören der höheren
nervösen Funktionen und damit den Schlaf erzeugte. Es handelte sich also um einen
passiven Reflex, der den Schlaf hervorrief. Das wäre die gewöhnliche all-
gemeine Hemmung.
DAS NERVENSYSTEM 1 M) Dil: TUÄlMi: 261^
zu bK'jahon. Auf die von einem (jefülil der \\ irklichkeit (cks Traumes)
iK'gleitele Well der Traumbilder lassen sich leicht diesc|l>en l'>klärunf,^en
anwenden wie auf die Halluzination im Wachen (107, I. S. ^V^ff)-
Das Sprechen im Traume kann durch die Anatomie imd Physiologie
diT Sprache Erklärung finden; darüber sammidle Mourly Vold (üi)
interessante Btxibachlungen. Schwerer zu erklären ist das grofSe Übex-
gewicht der Gesiciitsbilder im Traum imd der visuelle Symbolismus von
Kllis oder die Cbt^rtragung der aktuellen Kmpfindungen des Schlafen-
den in (lesichtsbilder. Diese Tatsache könnte zii der phylo- und onto-
g«'iietischen Bedeutung des Osichtsinnes, zu der Markhildung der opti-
schen Bahnen und des Fasciculus longitudinalis inferior, die schon in
der VortraumejK)che (von der Geburt bis zum 5. oder 6. Monat) statte
findet, imd zu der Vielfältigkeit der Verbindungen zwischen den anderen
Hirnlappen und den Hinterhaviptlapjjen in Beziehung stehen. Außerdem
muß man sich daran erinnern, daf5 die ersten assoziativen Bahnen, in
«lenen die Markbildung erfolgt, diejenigen der Gehör- und Gesicht-
sphäro (Ti und Oo) sind. Indessen müßte man noch wissen, ob außer
«ier optischen afferenten Bahn auch die Bahnen, welche die akustischen,
faktil-kinäslhetischen und gustativ-olfaktorischen Empfindungs- und Ge>-
«liichtniszentren mit den visuellen Gedäch Iniszentren verknüpfen (Er-
iniierungsfeld von Wilbrand in der äußern Oberfläche des Hinterhaupt-
la{tj>ens), zahlreich, wegsam und zu frühzeitiger Markbildung befähigt
sind.
Wichtig ist es festzustellen, ob das Nervensystem (abgesehen von der
bt^prochenen wenigstens zeitweisen Hemmung) im Schlafe nach dem-
selben fundamentalen Gesetz wie im W^achen zu funktionieren fortfährt.
Es liegt in der Tat gar kein Grund zu der Annahme vor, daß sich das
Schema des Reflexes nicht auf die Traumtätigkeit ganz ebenso wie
auf die psychische Tätigkeit im ^^achen anwenden lasse (91) ^. Die
• ifipariiio simulacrorum (Erscheinung von Bildern) im Traum
isl durch äußere (sensitive oder sensorische) und innere (Muskel-,
Gelenk-, Kreislauf-, Atmung-, sexuelle, koinästhetische [GemeinempfLn-
dung]) Reize bestimmt. Das Auftauchen aller unterbewußten vererbten
oder aus der eigenen Erfahnmg des kindlichen oder täglichen Lebens
stammenden Inhalte muß also auf besondere Erregungen unserer Organe
und des Gehirns selbst zurückgeführt werden. Die sog. ,,psychi-
schen Träume" oder , ,11 al lu zi n a tio n s träume" fügen sich
— ebenso wie die Illusionsträume — dem Schema des Reflexes
ein. Deshalb haben Psychologen wie Patini, welche an den rein soma-
tischen Ursprung des Traumes glauben, in gewisser Hinsicht recht.
1 Mail beachte wohl: mein Slandpunkt darf nicht mit anderen, wie z. B. dem von
Kostyleff, verwechselt werden. Ich halte auf psychologischem Gebiet an einem a g n o-
stischen Proportionalismus fest. Wenn ich daher behaupte, daß die
geistige Tätigkeit wie diejenige des Nervensystems nach dem Schema des Reflexes oder
besser des zyklischen Reflexes abläuft, so beliaupte ich nichts über das
Wesen und den Wirkungszusanuneniiang der Tätigkeit selbst: ein Wesen und ein
Wirkungsrusammenhang, über den die wissenschaftliche Psychologie nichts auszusagen
vermag.
262 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Die ganze moderne Bewegung der Physiologie wendet sich gegen die
sog. Theorie des Automatismus. Die Nervenzentren entwickeln
Energie nicht durch Explosion, sondern durch Reizwirkung. In der-
selben Art werden Handlungen und Gedanken durch Vorstellungen hervor-
gerufen, die als innere (dynamische) Reize wirken. Wenn das Gehirn
während des Schlafes zu funktionieren fortfährt, so läßt sich vermuten,
daß die psychische Tätigkeit überhaupt niemals aussetzt. Auch der
Schlafende lebt nicht nur, sondern denkt; und er träumt, weil er auch
im Zustand des Schlafes denkt und empfindet. Die alte Frage, ob es
einen Schlaf ohne Träume gebe, kann daber nach dem Vorgang vieler
Philosophen im allgemeinen verneinend beantwortet werden. Der Ein-
wand, daß sich die Träume erst unmittelbair im AugenbKck des Er-
wachens entwickeln (Meunier Boris Sidis, welcher meint, daß der Traum
der Hauptsache nach erst im hypnoidalen Zustand, d. h. zwischen Traum
und W^achen, zustande komme, und andere), Ist nicht auf die Erfahrung
gestützt 1.
Es gibt aber auch indirekte Bewieise für die Kontinuität der psychi-
schen Tätigkeit, selbst in den Fällen, wo der Schlafende es bestreitet,
geträiunt zu haben. Einer dieser Beweise ist schon von mir aufgestellt
und von vielen anderen bestätigt worden, daß es nämlich genügt, an
das Träumen zu denken, um sofort die Erinnerung an den Traum zu er-
wecken und zu beleben, als ob eine Brücke zwischen der Tätigkeit des
Traumes und des wachen Geistes g^chlagen würde. Ein anderer Be-
weis liegt in den auf die Traumkunde angewandten Ergebnissen der
Beobachtungsmethode. Das Gebaren des Schlafenden kann dem er-
fahrenen Auge das Vorhandensein eines Traumes auch im tiefen Schlaf
und in den Fällen offenbaren, in denen der Schläfer beim Erwachen be-
hauptet, nicht zu wissen, ob er geträumt hal>e.
Aber es erscheint auch augenfällig, wie sich im Traume die Zusammen-
setzimg und Anordnung der Reflexe durch die Verselbständigung von
Gruppen und durch die Unterbrechung von Verbindungen zwischen den
verschiedenen Serien der Reflexketten verändert. Der Traum könnte
daher auch mit Kostyleff als eine Dissoziation von Gehimreflexen be-
trachtet werden; denn im Schlaf ist die Dynamik der zerebralen Zu-
sammenhänge und folglich die koordinierende und integrierende Fimktion
des Nervensystems erheblich gestört (Sherrington) 2,
1 Jemand hat behauptet, daß ich im Anschluß an verschiedene Psychophyslologeii,
darunter an Wundt, der Ansicht sei, es gebe einen traumlosen Schlaf. Diese Auslegung
ist ungenau. Ich habe nur behauptet, daß kein Psychologe mit Sicherheit das
Vorhandensein eines Traumes bei einem Schlafenden feststellen könne, wenn der Schläfer
ilm nicht nach dem Erwachen bestätigt; denn ohne Selbstbeobachtung ist keine Gewiß-
heit möglich. Daher konnte Tiedemann glauben, daß die Ausrufe, Bewegungen,
Ausdrucksbewegungen der kleinen Kinder während des Schlafes kein Zeichen des Traumes,
sondern bloß Reflexhandlungen auf Augenblicksreize seien. Wenn jedoch eine Bestäti-
gung des Schlafenden nicht erbracht werden kann, so läßt sich gewiß auch die
physiologische oder objektive Methode mit Berechtigung anwenden.
2 An dieser Stelle wäre der physiologischen Hypothesen über die Natur der Hemmung,
der Ermüdung, imd andererseits der Verbreitung der nervösen Erregungen, des Re-
fraktärstadiums, der latenten Reizsummation, der Abwicklung der Stoff>vechselprozesse,
DAS M:RV1!:.\SY.STLM L.ND DIL TRaLMI: 263
Auch die Erscheinung der ,, Entfesselung des Unterbewußtseins" im
Traum erklärt sich genü^'oiui durch die spezielle Physiologie dos Schla-
fenden. Der selbst nur toihveisen Ilenuuung der sensorischen und psycho-
motorischen IVozesse entspricht der Knergiezuwachs anderer Prozesse,
deren Sitz in der Hirnrinde selbst und wahrscheinlich auch in subkorti-
kalen .\bschnitten des Gehirns gelegen ist. I>ie Neuropathologen wissen
sehr wohl, daß ein gewisser Antagonisnms zwischen den neuen und den
alten liewußtseinsinhalten besieht. Es genügt, daß die aktuelle Energi.^
der Hirnrinde vermindert, d. h. daß ihe j^sychische Spannung herabge-
setzt ist, damit im Bewußtsein die alten Inhalte übermächtig aufsteigen.
Tatsächlich kehren im Zustand der Ermüdung oder der Gehirnerschöpfung
die Kindheitserinnerungen mit Lebhaftigkeit wieder; wenn man durch
kortikale (senile) Atrophie das Gedächtnis für die jüngsten Ereignisse
und die Fähigkeit verliert, die Erinnerungen zu fixieren und zu bewahren,
zehrt man an alten Erinnerungen, und die Neigungen, Gedanken und iMei-
nungen der Kindheit kehren zurück. Die Tuberkulösen im letzten Sta-
dium, die Sterbenden zehren an alten Be>vußtseinsinhalten und sprechen
oft eine fremdartige Sprache, die eben durch ihre Beziehungen zu tiefen
und fernen Inhalten den Anschein von Magie oder Prophetie erweckt.
So bewahren die einfältigen Seelen und alle Menschen, die nur über
einen spärlichen Besitz an äußeren Erfahrungen verfügen, ebenso die
Unwissenden, die von der Außenwelt abgetrennt leben, jene „intuitive
Fähigkeit", von der schon der heilige Augustinus sagt, daß sie im
Traum verfeinert werde, mit größter Lebhaftigkeit. So schafft die
Entfremdung von der Sinnenwelt Raum für alte tausendjährige Vorstellun-
gen und Gedanken; dann verwandelt sich die Welt für den Betrachter,
und alles scheint ihm verändert. Das sehen wir bei den an Dementia
paranoides leidenden Kranken wie bei den Somnambulen. So gewinnt
die Behauptung einen klaren Sinn, daß der Schlaf in gewisser Hinsicht
an zurückliegende Zustände der psycho-physischen Entwicklung erinnere,
und daß auch, wie der große Physiologe Burdach bemerkte, der Schlaf
eine .\rt Rückkehr zum embryonalen Leben sei, und daß er vom psycho-
logischen Standpunkt (wie es der Theosoph Myers wiederholte) den „pri-
mitiven" Zustand darstelle, während das Wachen nur ein „sekun-
därer" Zustand sei. Es schiene also, als ob der Zustand des Schlafes
das Gehirn in jene Zeit zurückversetze, in welcher der Prozeß darr
, »psychologischen Synthese" noch nicht oder infolge unge-
nügender oder fehlender Entwicklung der Markbildung und der inter-
neuronischen zerebralen Verknüpfungen erst sehr unvollständig einge-
leitet war. Auch die Behauptung Stekels, daß im Traum der alte Kampf
der Hemmungsphänomene zu gedenken. Die ganze Umwandlung der Traumbilder wird
begleitet odei- erklärt durch Störungen der zentralen Leitung und Übertragung.
durch die ,,posthumen Entladungen" Sherringtons (Reizbeantwortungen.
weiche die Dauer der Reizwirkung überschreiten). Dies sind Phänomene, welche in
deutlicher Korrelation zur Abschwächimg oder Ausschaltung des Prozesses der logischen
Synthese un<l Verkmiiifung, zu der gehinderten Funktion des schlafenden Ich und
gleichzeitig zu der Wiederbelebung der Tätigkeit anderer Zentren stehen, die im
Wachzustande durch die überwiegende Tätigkeit der Organe, der sensorischen und
perzeptorischen Bahnen und Zentren gehemmt sind.
264 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\UMES
ums Dasein Aviederkchre und der Mensch sich in seinen primitiven In-
stinkten Luft mache, erliält jetzt ihren guten Sinn.
Wie man bei der Hysterie eine Dissoziation oder Verdopplung (Janet)
in den Systemen der viszeralen Innervation und in andern nervösen Syste-
men annimmt, um die hysterischen Symptome zu erklären, so kann mau
im Schlaf eine analoge Dissoziation annehmen. Hier treten tatsächlich
Sejunktionen (im Sinne von \\ ernicke) , I n n e r v a t i o n s k o m -
plexe. Schizothymien (Kohnstamm), die im Unterbewußten ent-
stehen, Diaschisen im Sinne von: Monakow oder besser Psycho-
schisen im Sinne von Levi-Bianchini (47) auf. Kurz, es handelt sich
auch im Traum um ,, Sequester" von Assoziationsketten, die den ,, Seque-
stern" von zerebralen Innervationsystemen entsprechen, und die wir vor-
läufig ihrem Wesen nach für dynamisch halten müssen. Da der Prozeß
der Spaltung im tiefen Schlaf intensiver ist, so läßt sich denken, daß
sich in jener Phase das Unterbewußtsein l>esonders befreit, und daß
folglich in das Traumbewußtsein die jüngste (abgespaltete) Erfahrung
nur in geringerem Maße, die aktuellen (gehemmten) Sinneseindrücke da-
gegen so gut wie gar nicht eingehen.
Wenn man bedenkt, daß nach dem Ausspruch Ribots (76) das Unter-
bewußte lein Akkumulator von Energien ist, indem es einen Vorrat auf-
speichert, aus dem das Bewußtsein verschwinden kann, so versteht man
auch leicht. Wie sich nach Verlangsamung der kortikalen Hemmungen
die in den Organen des Unterbewußten aufgehäufte potentielle Energie
aktualisiert und der Traum, d. h. ein Ausdruck des freieren Traum-
bcvAißtseins. zustande kommt. Eine derartige energetische Vorstellung der
Traumtätigkeit legt sich nicht im geringsten auf irgendeine philosophische
Doktrin fest. Einen Beweis dafür bieten die Äußerungen des Anti-
materialisten Dwelshauvers (21) über das dynamische Unbe^vußte, der
keine Schwierigkeit in der Annahme findet, daß dem dynamischen Unbe-
wußten ein Zustand der Spannung im Zentralnervensystem entspricht.
Der Versuch, die physiologischen Bedingungen des Traumes noch ge-
nauer zu bestinmien, wird daher kein eitles Bemühen sein, wenn man
sich die Nervenorgane des aufsteigenden Unterbe^^^.lßtseins im Licht
unserer heutigen Kenntnisse vorstellt.
Bei anderer Gelegenheit (91) hal>e ich vom anatomisch-physiologischen
Standpunkt zwei Entwicklungsgesetze des Nervensystems dargelegt, die
eine Anwendung des biogenetischen Grimdgesetzes bilden. Nach dem
ersten Gesetz bewaliren die höheren Tiere, w^ährend sie neue nervöse
Strukturen und Funktionen erwerben, nicht nur die elementare Struktur,
sondern auch teihveise die groben Morphologie- und die Funktionsarten
der niederen Tiere. Daß sogar im menschlichen Organismus fortgesetzt
Tropismen und instinktive Bewegungen vorkommen, ist daher sehr be-
greiflich und konnte dem Polyzoismus Durand de Gros' einen Schein
von Berechtigung geben. Der Mensch bewahrt, wie man es ausdrücken
könnte, die Spur der Formen und Strukturen der unter ihm stehenden
Tiere in seinem Nervensystem und zeigt daher in seiner Tätigkeit alle
Bewegungen und Handlungen von den einfachsten bis zu den kompli-
DAS NERVENSYSTEM IND DIE TRÄUME 265
zierteslen. Nur lial or infolge clor luWieren Entwicklung seiner ULm-
rirule ganz s|M/.ielle luolorisolie l^iiisleilimgeii und die Sprache («rworlxm.
und ist inf(t|g<> seines rtMclien lU'silzes an S\nib<)l<'n mit Vernunri iK'-gubt.
Dementsprechend gibt es ein zweites Gesetz, das sich folgendermaßen
ausdrücken läßt: die später ausgel)il(lel«^n IIiriij)arlien erben auf phylo-
genetischem Wege ilie ><>n den friiher ausgebildeten Ilirnparlien (in der
Art, wie es den IkNÜirfnissen des Tieres angepafSt ist) besorgten höheren
Funktionen und komplizieren sie inuner mehr. Indessen verbleibt doch
auch den früher ausgebildeten Gehirnpartien ein Rest der alten Funktion,
der sich frei von der Kontrolle des Be>\^ißtseins zu betätigen bereit ist.
Unter diesen Voraussetzungen wird die weitere Armahme nicht allzu
gewagt erscheinen, daß auch mit Rücksicht auf das BcNMifitsein in dem
Nervensegment, welches dem später ausgebildeten Segment seine eigent-
liche Funktion abtritt, noch die Fähigkeit zu der früher ausgeübten Funk-
tion zurückbleibt. Darum kann die Behauptung richtig sein, daß auch
bei den höhereu Tieren das Rückenmark ein rudimentäres Bewußtsein
besitzt (Luciani), und daß die Annahme eines Bewußtseins mit noch
größerer Wahrscheinlichkeit für das verlängerte Rückenmark zutrifft
(Job. Müller, Longet, ^ulpian, Luciani).
Man kann daher sagen, daß das Unterbe\vußtsein über ein nervöses
Organ verfüge, und weim dieses Organ für das persönliche Unterbewußt-
sein in den Gedächtniszentren und den Assoziationsbahnen liegen soll,
so kann das ältere Unterbewufote, das im Wachen niemals ülx^r die
Schwelle des Bewußtseins tritt, das ihm eigene Organ in andern Gehim-
leilen (dem Paläenkephalon Edingers), z. B. nach Luciani im Kleinhirn,
finden. Das Nervensystem funktioniert von seinem Auftreten in der Onto-
genese an immer wie es kann, und das Paläenkepiialon, dessen Entwicke-
lung der des Neenkephalon auch in der Ontogenese vorangeht, funktio-
niert schon in der fötalen Epoche unter dem Einfluß der Reize.
Diese Nerventätigkeit vor der Geburt bildet die erste Anlage der In-
stinkte und Intuitionen (5o) ; sie umfaßt die vorbewußte Periode des
Individuums. Die individuellen Erfahrungen, welche eigentlich erst bei
der Geburt beginnen, geben den Anstoß zur Entwicklung des Nerven-
systems nach den Entwicklungsgesetzen der Art imd komplizieren und
vervollständigen seine Funktion. Mit der Komplizierung der Funktion
entwickelt sich nach und nach das Bewußtsein, so daß die Behauptung
gerechtfertigt ist, das BeAvußltsein nehme seinen Ursprimg aus dem
Unbe>vußten. Doch ist auch die entgegengesetzte Behauptung nicht ganz
unrichtig, daß nämlich jedes unterbewußte Phänomen einmal bewußt war.
Es muß aber noch hinzugefügt werden, daß sicherlich auch das sym-
pathische System ein Zentrum der imterbe\vußten Phänomene ist (28).
Infolgedessen erscheint die viel mißbrauchte Hypothese Grassets über
das Zentrum O und das Polygon als Organ der niederen Seelentätigkeit
und daher des Schlafes ganz überflüssig.
II. STRUKTUR UND DYNAMIK DES TRAUMES'
In diesem Kapitel behandle icii zuerst die psychologischen Kompo-
nenten des Traumes oder die Bestandteile des Traumbewoißtseins und
ihren Ursprung, dann ihre Tätigkeit oder den Prozeß des Traumes und
die Kräfte, die ihn bestinunen.
A. STRUKTUR DES TRAUMBEWUSSTSEINS
Die psychischen Komponenten der Traumtätigkeit weisen gewiß sozu-
sagen quantitative Unterschiede auf, je nacn Alter, Creschlecht, Rasse.
Intelligenz, Phantasie, Art und Weise des Arbeitens, Grad der Müdigkeit,
ferner nach den Umständen, in denen sich die Organe des vegetativen
Lebens befinden, dem Krankheitszustand und nach der Lage des Körpers
des Schlafenden. Es gibt eine differenzielle Psychologie des
Traumes 2. Qualitativ bleiben jedoch die Komponenten bei allen Indi-
viduen übereinstimmend. Ja, nicht nur die einfachen Komponenten des
Traumes sind übereinstimmend, wie in jedem beliebigen Bev^aißtseins-
zustand, sondern es gibt auch bekanntlich ideoaffektive Traumkombi-
nationen und Gruppierungen, welche sich fast übereinstimmend bei allen
Träumenden wiederholen, z. B. die von S. Freud als typisch bezeich-
neten Träume: Träume vom Examen, vom Tode geliebter Personen, von
rasendem Laufen usw., mehr noch die sog. Familienträume.
Beschäftigen wir uns also mit dem Inventar des Traumbew^ßtseins.
Alle Meinungen stimmen darin überein, daß der Traum besonders reich
an visuellen Elementen (bis zu 90 Prozent aller Vorstellungen) ist; ja
man kann sagen, daß er im wesentlichen eine zum größten Teil pano-
ramische imd sehr schnell© geistige Vision ist. Individuelle Unterschiede
gibt es nicht wenige; aber im allgemeinen k^ann man sogar sagen, daß
die visuellen Vorstellungen im Traume bei allen Leuten lebhafter sind
als im Wachen. Nach Marie de Manaceine (Sa) betragen die
visuellen Trämne, welche gleichzeitig akustische Vorstellungen enthalten,
ungefähr 60 Prozent. Die rein akustischen Träume kommen nur bei
Musikern vor. Auf 35 Prozent belaufen sich diejenigen visuellen Träume,
welche mit taktilen, muskulären und thermischen Empfindungen kombi-
niert sind ; die Geruchs- und Geschmacks träume betragen 5 Prozent. Hacker
verzeichnete auf 100 persönliche Träume gS visuelle Vorstellungen, 78
1 Aus meiner Monographie (gi). Hier gebe ich daraus nur das Unentbehrliclie
wieder. Dieses Kapitel ist auf Grund neuer, seit igii von mir gemachter Erfahrungeo
verfaßt.
2 Der differenziellen Psychologie des Traumes ist fast mein ganzes, schon zitiertes
Buch (89) gewidmet. In vorliegender Arbeit komme ich darauf nur gelegentlich zurück.
STRIKU R DES TRArMREWl SSTSKINS ?67
akustische, i6 taktile, i8 kinästhetische, 3 Gcruchs-Geschniacksvorstellungen.
Diese Ziffern eiiUprei^lieii annäluTiid den Ziffern der Statistik von M. \\ .
Calkins. Auch die Be>ve^unf,'sträume sind etwas sehr Gewöhnliches. Icli
habe oftmals bei Schlafenden und sogar bei Tieren rudimentäre Be-
wegiinfren der Glieder und des Kopfes beobachtet, welche Träumen von
schnellem Laufen, von Flucht, Verteidigung usw. entsprechen. Wirklich
gibt es auch im Traume nicht mir eine Menge von Bewegungs Vorstellungen
an un<l für sich, sontlern auch Ansätze zur Ausführung derselben,
Versuche, mittels Körperbewegungen die eigenen Traumvisionen gewisser-
maßen ins Leben umzusetzen.
Wir kommen nun zu den Wortvorstellungen. Kraef>elin (4i). Meu-
mann (58) und neuerdings Hacker und Köhler beschäftigten sich mit
dem Sprechen, dem Lesen und dem Schreiben im Traume. Gestütz!
auf meine allgemeine Erfahrung kann ich mich damit einverstanden
erklären, den Vorgang des Schreibens im Traum als selten zu bezeichnen,
jedoch nicht denjenigen des Lesens.
Die Erscheinung des Sprechens im Traum ist eine sehr gewöhnliche:
ich zum Beispiel spreche viel und begleite mit Worten die Bilder und
die Ereignisse, wobei ich fast immer meine Stimme höre. Es gibt
jedoch Individuen, welche versichern, daß sie niemals im Traume geredet
haben (Stumpfheit der verbomotorischen Vorstellungstätigkeit), oder doch
zum mindesten, daß sie niemals die eigene Stimme im Traume gehört
haben (Stumpfheit der verboakustischen Vorstellungstätigkeit). Es muß
sicher große individuelle Verschiedenheiten geben. Für mich hat sich
jedoch gezeigt, daß der Fall häufiger ist, in welchem beim Sprechen
im Traume die Artikulationsbewegungen und die die eigene Rede be-
gleitenden Gebärden wahrgenommen werden. Kurz gesagt: im Traume
gehört man eher dem verbomotorischen als dem verboakustischen Typus
an. Die von Worten und Gesten begleiteten, also pantomimischen Träume
sind selten und ähneln dem Schlafwandeln (Somnambulismus). Die
ausgeübten Handlungen werden niemals im Gedächtnisse behalten, wenn
auch der Traum selbst erinnert wird. Im folgenden ein von mir be-
obachteter Fall.
1915. Ein Stubenmädchen, welches Kindermädchen gewesen war, träumt, daß ihm
das Kind aus dea Armen gefallen sei, sich verwxmdet und Blut vergossen habo.
Die Träumende steht aus dem Bette auf, geht zum Wasserkrug und wäscht \viederholt
die eigene Brust, mit lauter Stimme sprechend: ,,Ach, armes Kind, wieviel Blut!"
Am Morgen erzählte das Mädchen seinen schlimmen Traum; von den ausgeführten
Handlungen wußte es nichts.
Im Traume finden wir gewölinlich synthetische, das heißt extensive
(räumliche) und zeitliche Vorstellungen; die ersteren werden aus aktuellen
Empfindungen oder aus Erinnerungsresten von Eindrücken des Wachseins,
sei es visuellen, sei es taktilen und inneren Eindrücken oder von vorzugs-
weise akustischen Vorstellungen gebildet. Aber die räumlichen und zeit-
lichen Vorstellungen unterliegen im Traume so gründlichen Umformungen
im Vergleich zu jenen des Wachseins, daß darin eines der hervorstechend-
sten Unterscheidungsmerkmale zwischen den Bestandteilen des Traumes
und denjenigen des Wachseins besteht. Eine richtige Einteilung der
Zeit ist jedoch auch im Traum etwas Gewöhnliches.
2G8 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Protokoll, ohne Datum (E. G., 21 Jahre alt. Aufgeschrieben am Nachmittag des
Tages nach der Ps'acht des Traumes). X. telephoiiierte mir: ,, Finde dich l>ei mir
binnen einer Viertelstunde ein.*" — „Aber ich komme doch nicht mehr zurecht?!" —
..Doch: 8 Minuten, um dich anzukleiden, und 7, um herzukommen!" Das Geräusch
der Weckuhr weckt micii auf. (Vollkommen richtig.)
Es gibt bekanntlich Träume, welche als kurz, und solche, welche als
sehr lang eingeschätzt werden. Die Zeiteinschätzung im Traume \vurde
von mehreren Verfassern studiert und erörtert, besonders nach dem be^
rüJimten Traum A. Maurys von der Guillotine (Claviere, Tovolowska,
Pieron, Vaschide, Foucault, H. Ellis, Stepanoff). Viele nahmen an,
daß der Gedanke eine enorme Schnelligkeit im Traume hätte, und diese
würde dem Traume sicherlich gestatten, sich vollständig im Augenblicke
des Erwachens abzuwickeln. Ich habe diese Erklärung bereits bekämpft.
Ich glaube, daß die Sache folgendermaßen zu erklären ist: die durch
äußere Reize hervorgerufenen Wahrnehmungen (Ursache des Erwachens)
werden mit den im Traume vorangegangenen Ereignissen verknüpft,
dank der Deutung des Träumenden in dem Augenblicke, wo er erwacht
oder den Traum niedersclireibt. Wir verfügen über so manches Beispiel,
um sagen zu können, daß die Träume die Dauer haben, welche dem
Vorstellungsvorgang im Wachen zukommt. Die von einigen gegebene
Erklärung, daß die Schlußwahrnehmung die Bilder des Traumes, welche
ihm vorangingen, durch Assoziation hervorgerufen hätte, entbehrt meines
Erachtens jedweder Grundlage.
Hacker sagt, daß im Traume die Möglichkeit, sich die Vergangenheit
und die Zukunft vorzustellen, fehlt. Jaspers ist der gleichen Ansicht;
ich habe mir keine sichere Meinung gebildet.
Sehr interessant ist die Analyse des Raumes im Traume. Alle Träume
werden in das bilaterale Gesichtsfeld vollkommen so projiziert wie die
im Wachen gesehenen Gegenstände. So gibt es zweifellos ferne Visionen,
weitausgedelmte Horizonte, Himmelsräume und .Abgründe; der gewöhn-
lichere Fall ist aber der, daß sich das geträumte Ereignis in einem
kleinen Räume vollzieht, wie etwa einer Kammer, einer Straße, einem
Platze. Es versteht sich, daß bezüglich des Raumes der Traum häufig
unsinnig ist. Aber wenn man genau zusieht, findet sich diese unsinnige
Darstellung des Raumes auch in der Kunst. Beredte Beispiele zeigen
uns die Malerei und die Dichtkunst.
Der Traum ist voll von jenen Vorstellungsgruppen, welche Ziehen
J.Konstellationen" nannte. Die Ideen kehren mit ihren gewöhnlichen
Begleitideen wieder, ausgestattet mit ihrem Gefühlston, und schließen sich
in festen Gruppierungen um gewisse den Kern bildende Elemente zu-
sammen.
Sicher finden sich im Traume sogar Urteile und Überlegungen wie
im ordentlichen Bewußtsein, Es wäre unrichtig, zu sagen, daß im Traum
immer, schon dem Begriffe nach, die Logik fehlt. Köhler fand, daß
in seinen Träumen die Urteile nur selten falsch waren (nur k Prozent).
Die Schlußfolgerungen waren seltener als die Urteile und waren zu
I Prozent falsch, während zu 20 Prozent mittelbare und 80 Prozent un-
mittelbare Schlußfolgerungen waren.
snU KTüK DES TRAl MIWOWUSSTSEINS 269
Thompstm ' (io8), sich der .Nh-sinunf,'' von (ialkiiis anschlieliend, bo-
hauptot mit' (inind konkroter lUM)lxicliluii^'«'n, dalS t l)erk'^'unjL,'vii, GtMlanken
und Kritik sich, wcnti aucli .selten, in doii Träimu'ii t'ind«Mi köiiiu'n.
In dor Tal iiahnion dies auch dio allen Autoren an, jinIocIi suchten
sie <Lie tlx^rle^ung^en im Traum«' mit dem VN t\-h.s«'ls|)ielo der Bilder zu
erklären (Scholastiker). Nach meinem Dafürhalten kann diese Krklärung
in einigen FiUlen gelten; in anderen aber nicht. Wie später gesagt
werden wird, ist das, was im Traum Urteile fällt, das VVachbovußLsoin ;
demnach ist eine andere Erklänuig überflüssig-.
Ich beobachte, daß ich im Traum in den meisten Fällen Ereignisse
erfinde \Hid L rteile fälle, welche sich auf Personen und Sachen beziehen,
sogar l rteile wissenschaftlicher Art. Zuweilen aber enthalten meine
Träume unglaubliche Naivitäten, welche ich nach dem Erwachen all-
mählich verbessere. Im folgenden Traume wehrte sich das Traum-
bewußtsein gegen eine Ungereimtheit.
Protokoll. 39. November 1919, nachl.s (V. R., Studentin). Ich träume, daß sclir
schlechtes Wetter ist. Ich schaue durch die Fensterscheiben hinaus. Es regnet ia
Strömen, dann sclineit es. Ich bin höchst erstaunt; denke: Aber es ist warm! —
Ich öffne die Feiustcr. fühle die von draußen kommende warme* Luft de« Sciiirokko;
ich sage und denke: ...\ber wie ist das möglich?, der Schnee müßte auftauen!"
Lnd dennoch überzeuge ich mich, daß es schneit.
In dem folgenden Protokoll erscheint der Traum in hohem Grad
intellektuell, übrigens reich an kinästhetischen Elementen.
Protokoll. Naciit auf den 20. Juni 1914 0'. R., Studentin). Den Abend vorher
studiere ich das logarithmische Gesetz von Fechner; ich begreife es aber nicht. Ich
schlafe sofort ein. Ich habe sehr lebhafte, schnelle Träume von Gegenständen aus
der Psychologie mit undeutlichen Bildern des Raumes . . . Was darin herrscht, ist
das ,. Eilen meiner Gedanken". Ich habe den Eindruck, vorwärts zu gehen, vorwärts,
immer vorwärts . . . Ich habe außerdem den Eindruck, micli gegen jemanden aufzu-
lehnen und großen Widerstand zu finden. Ich weiß nicht, um was es sich handelt;
auf einmal rufe ich: „Ja, ja, ich begreife es. Es ist das logarithmische Gesetz."
Ich schüttle mich und bin halb wach; Gefühl großer Müdigkeit. Es gelingt mir
nicht, mich zu I>ev^egen ; ich wiederhole: ,,Das logaritlimische, das logarithmische!"
Gefühl der Anstrengung und der Ermüdung im Kopfe; immer wieder ertönt das
NNort. Endlich, wie von einem Alpdrucke erlöst, wache ich vollständig auf und
sehe das Licht. Ich habe den Beweis des logarithmischen Gesetzes höchst klar im
Kopfe. Ich bin ruhig, ich schlafe wieder ein.
Zuweilen habe ich selbst Träume, in welchen feine Kritik und genaue
ästhetische Urteile vorkommen.
Protokoll. Nacht auf den 18. Dezember 191^; eine halbe Stunde nach dem
Envachon aufgeschrieben. Ich habe geträumt, meinen Landhausgarten mit einer Aus-
schmückung versehen zu haben, welche bei joder Biegung der Pfade angebracht war.
Es ist ein großer Schild aus Lederriemen hergestellt, welche ineinander verflochten
und grün bemalt waren, jeder Riemen aus dem Schilde heraushängend. Ich findo
jedoch, daß verschiedene Einzelheiten der Verzierung nicht harmonisch sind; ich tadle
1 Diese Schrift Thompsons ist sehr interessant bezüglich der Fragen der Individual-
Psychologie des Traumes.
2 Aristoteles in dem Werke ,,Über die Träume", I, 4, schreibt folgende Worte,
welche mir sehr bedeutungsvoll erscheinen : ,.Ich halte dafür, daß nicht alles das, was
wir im Sclilafe sehen, ein Traumbild sei und daß wir mit Hilfe der Vorstellung vor-
stellen, was wir einsehen."
270 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\LMES
deshalb meinen Sohn, welcher der Ausführende meines Entwurfes war. Lebhafte
Auseinandersetzung. Ich mache eine Zeichnung, welche ich beim Erwachen ganz
klar im Gedächtnis habe. Einen Tag nach dem Traume, 19. Dezember 191 4, habe
ich die geträumle Verzierung aufgezeichnet und einem Künstler gezeigt, mit der
Bitte mir zu sagen, wer, ich oder mein Sohn, in der geträumten Auseinandersetzung
recht hatte. Der Künstler erkennt an, daß die Zeicimung schön ist und daß in
der Auseinandersetzung ich vollkommen recht hatte.
Wundl sagt, wie die Mehrzahl der Psychologen, daß im Traume der
\Ville fehlt. In gewissem Sinn ist dies wahr; der Wille, sei es, daß
er als Autonomie des Individuums, sei es, daß er als Gesamtheit aller
Willensvorgänge aufgefaßt werde, ist im Traume nicht uneingeschränkt
wiederzufinden, auch weil im Traxmie der Wille nicht über sein spezifisches
Organ, den Bewegungsapparat, verfügt. Auch die alten Philosophen er-
klärten mit Übereifer, daß im Traume die Willensfreiheit aufgehoben,
tmd daß das, was gewollt zu sein scheint, nur die Einbildung einer
Willensfreiheit sei. Dugald Stewart 1, welcher Interessantes über den
Traum schrieb, behauptete, daß im Traume der Wille nicht fehle, nur
seien ihm die Organe nicht gehorsam, und führte als Beispiel den Alpdruck
an. Der Philosoph Galuppi (29), welcher Dugald Stewart konunentiert,
setzt auseinander, daß sich im Tramne die Gefühle des Wollens, al^er
nicht das Wollen selbst darstelle. Wenn auch die Willensakte im Traum
in ihrer Entwicklung von einem beliebigen phantastischen Bilde gestört
sein können, und wenn auch eine Dissoziation zwischen Urteil und
Wille eintreten kann, so daß der Willensakt nur scheinbar ist, so ist
es doch gewiß, daß dieser Fall zuweilen nicht eintritt.
Das Vorhandensein der „Aufgabe" und einer determinierenden Tendenz
im Traum im Sinne von Ach habe ich mehrere Male erlebt (abgesehen
natürlich von der Erinnerungstäuschung).
Hacker und P. Köhler untersuchten auf Veranlassung von 0. Külpe,
ein jeder für sich, ob es im Traume Gedanken gebe. Hacker fand
in seinen Träumen sehr oft die Dissoziation zmschen Gedanken und Vor-
stellungen (Bedeutimgsbewußtsein, Beziehungsbewoißtsein usw.), ebenso
auch Köhler (Bedeutungsbe^^-ußtsein, Beziehungsbewußtsein, Regelbe\vußt-
sein, Erfindung, determinierende Tendenz usw.) -.
Hacker fand, daß gewisse Worte von ihm im Traume nicht verstanden
ANTU-den, während sie sofort nach dem Erwachen verständlich waren; das
war dadurch verursacht, daß im Traume Dissoziation zwischen dem Emp-
findungsinhalt und dem BewTißtsein von seiner Bedeutung bestand. Diese
Tatsache läßt sich bestätigen, wenn auch nicht so oft, wie Hacker meint.
Wie dem auch sei, schließt sie nicht aus, daß in anderen Momenten des
Traumes die Bedeutung jedes beliebigen, auch abstrakten Wortes genau
wie im Wachsein verstanden wird.
^ Dugald Stewart: Elements de la Philosophie de l'Esprit humain; Iraduit de
1 anglais. Tome second, Geneve, 1868, S. 80 ff.
-' Hacker legt Wert darauf, diese Traumgedanken zu unterscheiden vom
Unbewußten im Sinne von Freud, und meint, daß es sich nicht um ..Entstellung",
wohl aber um ..Abweichungen" vom Seelenleben im Wachzustande handelt,
als eine Folge des besonderen physiologischen Zustandes des Gehirns im Schlafe.
STRlkTLH DES TKAl MÜLWUSSTSEINS 271
Bew-ulitseinslagen (Bewußtheiten nach Ach, atliludes der Ame-
likanerl boobachtote auch Köhler in 5o seiner Träume. Ich fand
dies alh's durcl» meine jxM-süidiche Erfahrung bestätigt. Meine später
als i(|i'i aulgcnonunenen l'ndokolle Ix^tätigen es ebenfalls (94;- Es
versteht sich wohl, dali icli niich zurückhalle bezüglich der .Vuslegung
ähnlicher Erfahrungen, wie sie von Bühler und anderen der Külpeschen
Schule vorgebracht worden sind.
Mit den Traumvorstellungcn sind affektive Zustände verbunden, welche
zuweilen eine große Stärke erreichen.
Die intensiv affektiven oder emotionellen Träume sind sehr häufig,
ihr Vorhandensein wird nicht nur vom Träumenden beim Erwachen be-
zeugt, sondern läßt sich auch objektiv während des Traumes selbst er-
weisen. Wichtig ist die Bemerkung Hackers, daß die intensiv affektiven
Träume im tiefen Schlafe fehlen. Seit 1896 bin ich (86) überzeugt, daß
der interessanteste und sozusagen beständigste Teil des Traumes der affek-
tive Zustand ist, während die Vorstellungen überaus flüchtig und ver-
änderlich sind. Die affektiven Zustände des Traumes sind die wahre und
innere Stimme, welche die Wünsche des Schlafenden enthüllt; sie leiten
den Vorstellungsinhalt in seinem Entwicklungsgange. Es kommt im
Traume dasselbe vor wie bei den Melancholikern, bei denen die Vor-
stelltmgen die Erklärung für ein bereits bestehendes affektives Bedürfnis
liefern ; eine Auffassung, welche sich so gut schon bei Griesinger aus-
gedrückt findet.
Frau von Manaceine stellte fest (indem sie sich auf die 5 Jahre
hindurch bei 87 Personen durchgeführten Beobachtungen stützte), daß
die Eindrücke, welche die Aufmerksamkeit während des Wachseins am
meisten in Anspruch nehmen, niemals das Gewebe der Träume bilden.
Dasselbe sagten andere Beobachter vor und nach Frau von Manaceine,
Eine meiner Mitarbeiterinnen teilte mir mit: „Ich beobachte seit beinahe
einem Monate meine Träume, gerade weil mein Wachbewußtsein aus-
schließlich von einem einzigen Objekte beherrscht Avird und ich mir
Rechenschaft zu geben wünsche, ob es in meinen Träumen wiederkehrt.
Doch sind die Träume immer dürftig, sehr verblaßt und vor allem in-
different. Nur sehr selten und auch dann nur flüchtig kommen Bruch-
teile von Dingen vor, welche mein vorherrschendes Gefühl betreffen."
Dies stimmt für Objekte, welche gleichzeitig stark affektbetonte Kom-
})lexe bilden. Zweifellos werden unsere Gemütsbewegungen und gewohnten
Gedanken wieder hervorgerufen; jedoch nicht die stärksten Gemütsbe-
wegungen und auch die andauerndsten. Ich bestätige die Tatsache, daß
im Traume die Gefühle der Spannung, hingegen nicht die Gefühle
der Lösung wieder auftreten (ich bediene mich der Terminologie von
Wundt in seiner dreidimensionalen Gefühlstheorie). So träumt man die
Gemütsbewegungen des Zweifels, der Erwartung, des Wunsches, des Er-
strebens. Außerdem ist der Traum in hohem Grad egoistisch. Wenn
eine Tatsache uns nichts angeht, selbst wenn sie im Wachsein vms eine
starke Erregung erzeugt hat, so erscheint sie gewöhnlich im Traume
nicht wieder.
272 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TILVUMES
ßoi Kindern ist die Wiederholung der Tageserregungen, gleichviel von
welcher Stärke — namentlich vom vorangegangenen Tage — in den Träu-
men häufiger als bei Erwachsenen. Dasselbe kommt bei «den psychasthe-
nischen und melancholischen Erwachsenen vor, bei denen es so weit kom-
men kann, daß das Traumbewußtsein durch das Fortbestehen der Inhalte
des Wachbe\vußtseins gehemmt wird. Die von mir beobachteten Fälle
sind zahlreich. Eine schwer psychasthenische Frau träumte, nachdem sie
ihre Mutter verloren hatte, während einer langen Reihe von Nächten von
der Verstorbenen und von deren Begräbnisfeier, wobei sie Tag und Nacht
in trostloser Weise litt. Als einen der neuesten Fälle kenne ich einen
60 jährigen Mann mit Gehirnarteriosklerose, welcher mit einer Zahlen-
manie behaftet war. Dieser Kranke also träumte viele Monate hin-
durch, nämlich solange ich ihn unter Beobachtung hatte, unablässig von
Zahlen und Rechnungen; so sehr, daß ihti dieses im Schlaf ermüdete
und er deswegen von mir Erleichterung verlangte. Die Schlafmittel hatten
den Erfolg, den Kranken weniger träumen zu lassen (wahrscheinlich Ver-
tiefung des Schlafes mit verminderter Erinnerung an die Träume).
Bei gesunden Menschen kann man dieselbe Tatsache vorfinden (Berufs-
träume) ; dann aber ist der Grefühlsfaktor niedriger oder fehlt geradezu.
Bei großen Seelen ist das Fortdauern der vorherrschenden Ideen auch im
Traume hochpoetisch. Wir finden z. B. bei Homers Agamemnon und
Achilles Träume, welche die vorherrschenden Gredanken der Helden wider-
spiegeln.
Ein affektiver Zustand, der mit besonderer Häufigkeit im Traume
wiedererscheint, ist die Furcht. Man träumt das, was man fürchtet,
insbesondere das, was man im geheimen fürchtet. Zuweilen bilden die
Befürchtungen des Wachseins das Gewebe stereotyper Träume. Gewöhn-
lich werden auch die Liebe, der Hunger und der Durst im Traume wieder
lebendig, und oft wird im Traume der Wunsch des W^achseins erfüllt.
Lehrreich sind des Hungerkünstlers Succi Träume vom Hungern, welche
ich im Jahre iSgS studierte.
Es gibt keinen Zweifel darüber, daß man leicht von der Frau träumt,
um welche man vergeblich wirbt, wie auch von den Speisen und Ge-
tränken, die man sich zwar wünscht, aber nicht erhalten kann. Aus
meiner persönlichen Erfahrung ergibt sich, daß im Traume der Wunsch
wieder auftritt, der unsere Seele im Wachsein in Spannung hält, oder der
unter sonstigen affektiven Zuständen und unter gewöhnlichen Beschäfti-
gungen versteckt im Unterbew^ußtsein arbeitet. Dies will jedoch nicht
sagen, daß im Traum unsere Wünsche befriedigt werden. Die im Traum
erfolgende Wunscherfüllung ist gewiß eine gewöhnliche Tatsache; aus
meinen Beobachtungen ergibt sich aber, daß sie in Beziehiuig zu einer
eigenartigen physiologischen Verfassung steht. Es gibt Individuen, die
vom G^scldechtstrieb auch im Traume gequält werden, welche das Ver-
langen träumen, aber nicht seine Erfüllung. Es gibt hingegen andere,
bei denen das Verlangen verwirklicht wird. Der geträumte Beischlaf
(ohne physiologische Begleiterscheinung) mit Befriedigung ist etwas Sel-
tenes im Vergleiche zum häufigen Wiederträumen des begehrten Weibes.
Der Traum ist also das Reich unseres Sehnens, unserer Befürchtungen,
HERKl NFT [)I-S TRAUMMATERIALES 273
' ■
der verdrängton Rt'^'ung«n; unseres Stolzes und unserer Wollust, aber
nicht immer das glückselig© Reich der Verwirklichung unserer Wünsche.
Meine lange Erfaluning hat mir gezeigt, dali im Traum alle Gefühle
ohne Ausnahme witxierorzeugt worden; mithin auch diejenigen, welche
als moralische oder ethische bezeichnet werden'. Das will besagen, daü
im Traume die moralischen Eigenschaften des Träumers sich nicht mehr
und nicht weniger als im Wachsein enthüllen können; mit anderen Worten,
dalS es TrauminhalLe gibt, welche im Traum als moralisch oder als un-
moralisch vom Träumer bewertet werden, und dali in einem Traume,
dessen Inhalt als unmoralisch erachtet wird, vom Träumenden Reue emp-
funden werden kann. Beobachtungen vom Jahre 191 4 ab bestätigen mir,
was ich bereits früher festgestellt hatte, nämlich, daß ich bei Individuen,
die nach meiner Kenntnis und nach anderweitigem Zeugnis mit feinem
nwralischen Empfinden begabt und von tadellosem Lebenswandel waren,
verbrecherische Träume niemals beobachtet habe, die
bis zu Ende durchgeführt und ohne gleichzeitiges Ge-
fühl von Mißbilligung, von Widerstreben oder von Ge-
wissensbissen im Traum erlebt worden wären.
Protokoll einer Nacht von 191 5 (Dr. Consoni, Psycholog, 4o Jahre alt). Ich be-
finde mich in einem Kaffeehause und habe das BewTjßtsein, ein blutiges Verbrechen
begangen zu haben. Ich überlege: Ich bin also ein Mörder, demnach wird man nach
mir fahnden ... — Peinliches Gefühl wegen des Verbrechens, echte Gewissensbisse;
Angst vor der Gefahr, verhaftet zu werden.
B. HERKUNFT DES TRAUMMATERIALES ODER DER KOMPO-
NENTEN DES TRAUMES
Es ist klar, daß das Material entweder «von außen kommt (Empfindun-
gen von Reizen, die während des Schlafes einwirken) oder von innen (Er-
lebnisse, die im Wachen bereits bewußt oder unterbewußt waren). Wir
werden übrigens weiter unten sehen, daß der Traum in der Weise die
Empfindungen während des Schlafes verarbeitet, daß man von un-
mittelbarer und mittelbarer psychischer Herkunft besser als
von somatischer 2 oder psychischer Herkunft der Traumkomponenten reden
kann.
Über die Herkunft des Traummateriales herrschte unter den Psychologen
stets Meinungsverschiedenheit. Einige schätzten den Einfluß des äußeren
Reizes gering, während andere den ganzen Traum von unmittelbaren
Empfindungen abhängig sein ließen, insbesondere aber von organischen,
in dem Grade, daß sie erklärten, die Träume wären nicht Halluzinationen,
sondern eher Illusionen.
1 S. Freud widmet diesem Thema einige Seiten (27, S. /j^). Der Verfa.s.ser bet-
richtet über die Auffassung verschiedener Autoren.
2 Es ist ül>erflüssig, noch von einer somatischen Theorie, im Gegensatz zu einer
psjchogenetischen Theorie der Träume zu sprechen. Freud neigt dazu, den äußeren
Ursprung der Träume zu unterschätzen, weil er einen bestimmten Zweck im Traume
annimmt, derart, daß die unmittelbaren Empfindungen von den übrigen psychischen
Aktualitäten in sich aufgenommen und verarbeitet werden (27, S. 170 u. 171 ff.).
18 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
274 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Mir scheint, daß dieser Meinungsverschiedenheit ein Mißverständnis zu-
grunde liegt. Nach unseren Feststellungen über die physiologischen Be-
dingungen des Traumes kann man sich nicht vorstellen, daß dieser aus
der festgewordenen Erfahrung des Wachseins oder aus den unterbe-
wußten Tiefen ohne äußeren Reiz entspringt. Deshalb könnten in diesem
Sinn alle Träume „Illusionen" genannt werden, insoweit, als der Sinnes-
oder organische Reiz irgendeinen psychischen Inhalt wdederer weckte,
welcher das erste, gewiß nicht außerhalb des Inhaltes des Traumes selbst
befindliche Glied der Traumkette darstellen vmrde. Mit dem Hinweise
darauf, daß wir die Beschaffenheit der organischen Anreize nicht kennen,
wird die Gewißheit dessen nicht verringert, daß jene Reize während des
Schlafes wirken und einen Einfluß auf den Traum ausüben. Weil sich
aber die organischen Reize unserer Kontrolle entziehen, während wir
uns von der Beschaffenheit der Sinnesreize besser Rechenschaft ablegen
können, mag man inunerhin die alte Unterscheidung zwischen 1 1 1 u -
s i o n s - und Halluzinationsträumen aufrechterhalten, 'indem man
den letzteren Begriff auf die durch innere, unkontrollierbare Reize
hervorgerufenen Träume einschränkt. Doch wird der Reiz, woher immer
er stammen möge, von der individuellen Tramnphantasie verändert und
verarbeitet 1.
Es ist klassisches Wissensgut, daß der Ursprung der visuellen Vorstel-
lungen im Traume zum großen Teile peripherisch ist (Hyslop, Ellis,
de Manaceine, Weigandt und viele andere). Ladd (44) hatte mit zahl-
reichen Einzelheiten bewiesen, daß die optischen Elemente der Träume
imd die Gesichtsbilder, die uns schon erscheinen, wenn das Auge ge-
schlossen ist, zum großen Teile dem physiologischen Zustande des Or-
ganes zuzuschreiben sind: Erweiterung der Blutgefäße in der Hornhaut
oder den Lidern, Veränderung des äußeren Lichtes, Lage im Bett usw.
Die farbigen visuellen Träume werden durch subjektive Erregungen des
Auges hervorgebracht. Dies ist eine alte Beobachtung von Johannes
Müller. Baldwin nannte diese Erregungen: unterbewußte Sug-
ges tionen.
Gewiß sind die durch augenblickliche sensorische Erregungen hervor-
gerufenen Träume sehr häufig. Was die taktilen und muskulären Kom-
ponenten betrifft, sind die Beobachtungen einigermaßen unstimmig.
Wundt (ii8, S. 366 ff.) sagt, daß im Traume die Bewegungsvorstellungen
unmittelbar entstehen, d. h. von aktuellen Reizen hervorgerufen werden.
In der Hauptsache ist das richtig; aber man kann die Möglichkeit der'
Reproduktion von taktilen und muskulären Eindrücken des Wachseins
nicht leugnen, auch nicht das Wiederauftauchen kinästhetischer Bilder,
die von den Vorstellungen oder den Gedanken dissoziiert sind, mit welchen
sie im Wachsein verbunden waren. Ich habe jedoch im allgemeinen
^ Chr. Wolff schreibt: „Omne somnium initium capit a sensatione et per phan-
tasrnalum successionem continuatur" ; aber in einem anderen Paragraphen fügt er
hinzu: ,,si in duabns personis somnium initium capit ab eadem sensatione aebili^
somnia tarnen diversa sunt." Vgl. Psychologia empirica methodo scientifico pertractata
etc. Autore Christiane Wolfio etc. Francofiurti et Lipsiae, 1732. Er spricht von
den Träumen vtMi Seite 77 bis 89.
HERKUNFT DKS TKAl MMATKKIALES 275
an der Aktualität der tiiktilen und muskulären Empfindungen im Traum
und an der Ableitung der anderen Traumvorstellungen aus ihnen festge-
halten.
Icii bestätige die Einwirkung der meteorischen Verhältnisse auf die
Tramntäligkeit (meteorische Sensibilität). Greise, Demente und Idioten
sind diejenigen, welche sie am deutlichsten spüren; aufSerdem unter-
liegen den Einflüssen derartiger äußerer Bedingungen gewisse Kranke,
welche dem Weclisel der Atmosphäre, der Feuchtigkeit, dem trockenen
Wetter, den Föhn- oder Nordwinden gegenüber, auch während des Schla-
fes, äußerst empfindlich sind. Es mag seltsam erscheinen, aber ich
möchte sagen, daß wir von den atmosphärischen Kräften (und allgemein
gesagt, von unserer physischen Umgebung) am unabhängigsten sind, wenn
wir vmser Bewußtsein und unsere Hemmungsfähigkeilen voll beherrschen,
daß wir dagegen ihrem Einfluß in der entgegengesetzten Verfassung am
stärksten unterliegen.
Von einer ganz besonderen Wichtigkeit ist die Frage, ob die Sprache
im Traume peripheren oder zentralen Ursprung hat (unmittelbare Er-
regung der Sprachzentren in der Rinde). M. Vold imterscheidet verschie-
dene Arten, wie das Sprechen im Traume vor sich geht; entweder bezieht
es sich auf ein Gespräch im Wachen, insbesondere auf ein solches vom
vorangegangenen Abend, ohne daß im Traum eine Ursache für seine
Entstehung nachweisbar wäre, oder es kann sich um ein durch Asso-
ziation hervorgerufenes Sprechen handeln. Die Spur des Abends hat
andere Spuren geweckt und im Traum offenbart sich plötzlich diese
latente Energie durch das Auftauchen desselben oder eines ähnlichen
Wortes. In einigen Fällen sind die Worte des Traumes dem Klange nach
denen des Wachens ähnlich. Ein Wort kann sich einem anderen ohne
irgendein logisches Verbindungsglied anschließen, weil zwei Teile des
Sprachzentrums, diu'ch je ein von dem anderen unabhängiges Wort des
Tages beeinflußt, in demselben Augenblicke des Traumes in Tätigkeit
treten, so daß sich daraus als Synthese ein in seinen Teilen nicht zu-
sammengehöriges Wort ergibt. Ich bemerke beiläufig, daß wir dieselbe
Tatsache bei gewissen Hypophasikern beobachten. Eine andere Form
der unlogischen Wortverknüpfung ist nach M. Vold die sukzessiv-syn-
thetische, bei welcher ein in einem gewissen Momente des Traumes auf-
tretendes Wort ein anderes vermöge der Ähnlichkeit des Klanges hervorruft.
Zuweilen handelt es sich um einen Reim der Endsilben, zuweilen um
die Assonanz (den Gleichlaut der Anfangsbuchstaben von zwei oder meh-
reren Wörtern, die aufeinanderfolgen).
Einer meiner Freunde (Venezianer) träumte von Venedig (November
1919). Er befand sich in ,,C a n n areggi o" in Betrachtung versunken.
Nach und nach sieht er, daß sich der Stadtteil umgestaltet; er war in
„Viareggio". Hier scheint mir die Klangassoziation klar vorzuliegen.
Die Wortvorstellungen im Traume können auch von aktuellen peripheren
Reizen erweckt werden, natürlich nicht immer. M. Vold hat in dieser
Hinsicht sehr interessante Versuche gemacht imd Betrachtungen angestellt.
Er geht von der Beobachtung aus, daß bei Schlafenden der Mund zumeist
trocken ist, und zwar infolge des Umstandes, daß er halbgeöffnet und
18»
276 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
die Zunge leicht hervorgestreckt gehalten wird. I>er geöffnete Mund
erregt zum Teil Vorstellungen von Geschmack, Berührung, Druck, Pfeifen,
Singen, Lachen; zum Teil ruft er das Traumbild des geöffneten Mundes
bei einer anderen Person hervor, und schließlich löst er geradezu Wort-
vorstellungen aus. Der Lautbildungsapparat ist im Traume von großer
Wichtigkeit, nicht nur für die Worte, welche ausgesprochen, sondern
auch für die, welche vernommen werden. Oft ist es, wenn man beim
Erwachen ein Gespräch aus dem Traume wieder überdenkt, schwierig, zu
sagen, ob es sich um motorische oder um akustische Vorstellungen
handelt, ob um vernommene oder um selbstgesprochene Worte. Vold ist
nun der Meinung, daß die Stellungen oder die schwachen Bewegungen
des Sprachorganes che Ursache der im Traume vemonamenen Worte, wenn
auch nicht immer, bilden. Der halb geöffnete Mund mit den etwas
vorspringenden Lippen erzeugt bestimmte Laute (die labialen) ; wenn
die Zimge hinter den Zähnen belassen wird, ergeben sich andere (die
dentalen) usw. Ich besitze keine Erfahrungen, durch welche diese Be-
merkimgen Volds bestätigt würden.
Zuweilen wiederum werden die Worte des Traumes im Sprachapparate
von bestimmten peripheren Zuständen der Haut und der Muskeln hervor-
gerufen, weil das Sprachzentrum vom Zustand© der Haut und des
Muskelapparates beeinflußt werden kann. Natürlich können die von
den Muskelerregungen hervorgerufenen Worte ebensowohl der Mutter-
sprache des Träumenden als auch einer fremden Sprache angehören.
Ebenso existieren solche Worte nicht immer als im Traume gehört oder
ausgesprochen, sondern sie können auch als geschrieben geistig geschaut werden.
Mourly Vold hat also, entgegen der Meinung vieler neuerer Autoren,
die große allgemeine Bedeutung der Empfindungen während des Schlafes
als indirekter oder direkter Erreger der verschiedenartigsten Traum-
vorstellungen betont.
Wie dem auch sei, gewiß werden im Traume Wortneubildungen ge-
schaffen, wie Kraepelin (40, S. ^22 f.; /ii) und ich selbst wiederholt
gezeigt haben; und dies stellt eine zweite Analogie zwischen dem Traum
und gemssen chronischen Psychosen wie der Dementia praecox und der
Paranoia dar. Die Wortneubildungen können allerdings peripheren
Ursprung haben, zumeist aber entstehen sie aus Verschmelzungen ge-
träumter Worte (94)- In manchen Fällen gelingt es leicht, den Ursprung
der Wurzel cnler der ersten Silbe zu erkennen, während uns die Endung
oder die zweite Silbe dunkel bleibt. Ich erinnere mich hier einer meiner
Wortneubildungeni im Traume: Grad. Ich fand alsbald, daß gra . . .
aus der am Abend vor der Traum^nacht vorgenommenen Lektüre ent-
sprungen war, und zwar aus derjenigen der Legende des heiligen Grals,
konnte aber nicht die Herkunft des Endbuchstaben ,,d" begreifen.
Was die innerorganischen und die kinästhetischen Vorstellungen betrifft,
so ist es nicht ausgeschlossen, daß sie im Traume wieder aufleben können
durch unkontrollierbare (unmittelbar aus den entsprechenden Rindenge-
bieten entspringende?) Reize, wie es bei Hypnotisierten und bei Hysteri-
1 Neubildung nalürlicli nur im Italienischen.
HERKl.NFT DES THAlMM ATEHIALKS 277
sehen in der Phase der Ucfres^ion <k*r IVrMinlichkcil (S<>llier) einzu-
treten pflcfrt; iibiT auch diese \on>tellunf'on leben gewöhnlich durch
die Einwirkung {>exipherer Erri'igvyigen wieder auf. Viele Psychiater
nahmen bei H)|K»chondern einen zentralen Ursprung ihrer Wahnideen
an, andüj^ aber und ich M^lbst verzeichneten bei Melancholikern, l>enienten,
Paranoiden und Senilen den Sachverhalt, daß die Wahnideen von einer
psychisciien Umbildung durch \ orändcrungen der (lemeingefühle geschaffen
werden, welche aus Veränderungen der Empfindlichkeit einiger innerer
Organe entstehen. Es ist bemerkenswert, tlali die kinästhetischen und
von den inneren Organen herrührenden Empfindungen, da sie von einem
unverkennbaren (iefühlston begleitet werden, eine besondere Bedeutung
im Traum annehmen und daher ganz eigenartige Träume verursachen
können, z. B. : Al|)drücken, gewisse lange, traurige Träume, Träume vom
Ersticken, vom Stürzen aus großer Höhe, vom Tode usw.
Im Traum also überwiegt das Gemeingefühl über die Sinnesempfin-
dungen, aber in den meisten Fällen werden die organischen Empfindungen
nicht direkt zu Traumvorstellungen, sondern werden zumeist durch
.\ssoziation in andere Vorstellungen übersetzt, welche aber — imd das
ist von größter Bedeutung — zuweilen den Gefühlston annehmen, der
mit der lu^prünglichen Empfindung verbunden war. Bei einem Knaben
verwandelte sich eine unangenehme Empfindung am Fuß in den Traum
eines Spieles mit den eigenen Genossen um; aber das geträumte Spiel
wurde von imangenehmen Gefühlen physischer Ermüdung und Ver-
drießlichkeit begleitet. Zuweilen scheint es, daß der Gefühlston der
ursprünglichen \ iszeralempfindung vom Gefühlston der sekundären
Empfindung überwogen wird. So ist es eine gewöhnliche Tatsache,
daß der lästige Zustand der starken Anfüllung der Blase eine geschlecht-
liche Erregung hervorruft und diese wiederum einen affektiven Zustand
lustvoller erotischer Begierde. Ich habe mehrere Male bei jimgen Mädchen
die Tatsache verzeichnet, daß die Erfüllung der erotischen Begierde
gerade mit dem Abgänge von Urin während des Schlafes zusammenfällt.
In gewissen Fällen endlich tauchen Bilder begehrter Frauen aus den
aufgespeicherten Erlebnissen des Wachseins im Augenblick einer un-
angenehmen Empfindung in den inneren Organen auf, und dann nimmt
der Traum einen sehr seltsamen Charakter an.
Es ist bekannt, daß kleine, von zu starker Anfüllung des Magens
(57) erzeugte Störungen der Herztätigkeit und Atmung in sekundärer
Weise Träume von schnellem Laufen, schwerer körperlicher Arbeit oder
auch von Schweben oder von Fliegen zustande bringen (L. Strümpell).
Deshalb entspricht die Meinung derjenigen nicht den Tatsachen, welche
besondere Magen-, Atmungs- oder Herzträume beschrieben. Es ist nicht
berechtigt, so zu spezifizieren, weil das viszerale Nervensystem (sym-
pathisches System) selbst an alle anderen Teile des zerebrospinalen
Nervensystems angeschlossen ist, und wenn eine Erregung bei der Rinde
anlangt, können verschiedene psychische Vorgänge zustande kommen, welche
nicht von der Quelle, aus der die Err^rung entsprang, Kunde geben.
Und von neuem stoßen wir hier auf jenen Vorgang der Umbildung
im Traume, welche ich im nächsten Paragraphen behandeln werde.
278 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
C. INHALTE DES WAGHBEWUSSTSEINS, UNTERBEWUSSTSEIN
UND INHALT DER TRÄUME.
Zum Thema, welches wir behandeln, gehört die viel erörterte Frage
über den Einfluß der jüngsten Erlebnisse des Wachbevvußtseins auf
den Traum. Ich habe die Ansicht vertreten tuid vertrete sie noch,
daß die jüngsten Erlebnisse des Tages zu einem sehr hohen Prozentsatz
in unsere Träume eindringen, wenngleich umgebildet und manchmal nur
nach einer einfachen AutopsychoanaJyse erkennbar.
Protokoll. Nacht des 2. Dezember 191/i. Niedergeschrieben sofort nach dem Er-
wachen. Ich bin vor Gericht, es wird verhandelt, man spielt die Marseillaise; ich
sehe den Professor Dubois aus Bern, aber viel jünger; ich bleibe im G«richtssa]
mit einer jungen, brünetten Frau; ich verliere mehrere Male den Hut. Es ist ein
langer Traum, lebhaft, bis in die Einzelheiten ausgeführt, alles gut zusammenhängend.
In diesem Traum erkenne ich sofort die folgenden Elemente aus dem
Wachbewußtsein wdeder:
Gerichtshof — ich hatte bei Gericht zwei Tage vor der Nacht des Traumes
ein Gutachten abgegeben.
Marseillaise — man hörte sie ununterbrochen auf den Straßen spielen.
Professor Dubois — wegen des Aufschubes des Neurologenkongresses in Bern
hatte ich gerade einen Tag zuvor an Professor Dubois geschrieben.
Junge, brünette Frau — ich verliere den Hut — ich finde nichts
in den vorhergehenden Tagen; ich bemerke nur, daß es mir sehr oft im Traume
vorkommt, daß ich Hut und Kleider verliere, eine gewöhnliche Erscheinung, welche
die Freudianer kennen imd in ihrer Weise erklären.
Protokoll. Nacht des 17. August 191 7. Niedergeschrieben eine halbe Stunde nach
dem Aufstehen. Besuch einer unbekannten Kirche Roms in Begleitung von Freunden . . .
Die Kirche ist ganz rot tapeziert (Papier oder Damast?), drin sind zwei .\ntiquarei,
welche die Zeichnung an der Verkleidung der Wände kopieren: Es waren große Rosen;
ich halte dem Sakristan vor: ,^Das ist doch eine Papiertapete und nicht einmal
antik . . ." Papier oder Damast? Zweifel — schließlich Entscheidung, daß es
Damast ist. Der Patron der Kirche, ein Kardinal, tritt ein (ein kleiner Greis, ganz
rot gekleidet). Ich erfahre, daß die Tapete nach Meinung der Abzeichnenden von
großem Wert ist . . . (Sprung), Verlassen der Kirche mit den Freunden. Eine
fremde Frau gibt dem Sakristan ein Trinkgeld. Nahe am Ausgang befindet sich ein
offener Glasschrank mit vielen antiken Gegenständen, insbesondere etruskischen Terra-
kotten und anderen Kuriositäten. Ich bewundere sie begehrlich; mir kommt der Ge-
danke, diesen oder jenen Gegenstand zu nehmen, dann aber enthalte ich mich dessen,
aus Bedenklichkeit. Inzwischen gibt mir einer meiner Freunde von ferne ein Zeichen,
daß er eine Statuette aus etruskischer Terrakotta gestohlen habe . . . Ich weiß, daß
der Traum reicher an Einzelheiten war, aber ich erinnere mich nicht an mehr. Die
Elemente dieses Traumes gehörten alle zu den jüngsten Erlebnissen des Wachbewußtseins:
Besuch einer unbekannten Kirche . . . Am Nachmittage des der
Traumnacht vorangegangenen Tages hatte ich in Begleitung von Verwandten und des
jungen Eigentümers den Saal eines alten Schlosses mit Gemälden, Möbeln, antiken
Waffen usw. besucht.
Rot . . . Papier oder Damast . . . Drin sind zwei Antiquare.
Zwei oder drei Tage vor der Traumnacht hatte ich mich mit einem Antiquar über
den Wert eines Stückes roten Damastes mit Rosen unterhalten, welches ich dann er-
worben hatte.
Der Kardinal . . . Nichts Ähnliches in den jüngsten Erlebnissen des Wach-
seins. Vielleicht handelt es sich um eine oberflächliche Assoziation zu ,, roter Farbe".
Fremde Frau . . . Glasschrank mit antiken Gegenständen...
Ich hatte einige Tage vor dem Traume einige ausländische Kunstliebhaber beim Antiquar
Di Castro angetroffen. Ich hatte in mehreren Antiquitätengeschäften kleine Gegen-
stände im Glasschrank bewundert.
INHALT DES WACHRKWTSSTSEINS. INTKRBEWUSSTSEIN U. TRALMINHALT 279
Idoo, wegzunohnion . . . zurückgedrängt durch moralische
Erwägujigeii. Bei dorn Besuch im Saalo dos Schlosses hatte ich den Wunsch
empfuntlon, iwoi oder drei GogensUüide zu besitzen. Mein Wuiwch wird im Diebstahl
des Freundes >-orwirklicht. EHos ist oiii F\ill von Projektion eines affektiven Zustande».
Gerado durch die intimen Beziehungen, welche zwischen dem Traum-
inhalt und den jüngsten Erlebnissen des Wachbewußtseins bestehen,
werden dem Träumer die Allegorien oft sehr klar, und er erklärt sie
sogleich 1 nach dem Er>vachen durch Intuition wie in den Vorgängen
des W'iedererkennens. Bei mir kommt dies sehr oft vor; hier sind
2 Protokolle aus neuester Zeit:
Protokoll. Nacht vom 2g. August 1919. Niedergeschrieben vier Tage später. In
der Naclit auf den 29., 2I/2 Ulir, envache icli durch starkes Leibgrimmen mit ziem-
lichen Schmerzen. Ich stelle die Talsache fest, treffe meine Vorsichtsmaßregeln, wt>bei
ich zu mir selbst sage: Was für eine Revolution! (im Leibe). Ich verändere meine
Lage und scldafe sofort wieder ein. Ich träume von einer Revolution in Italien . . .
Ausschüsse, Gericlilshof, Personen . . . viele Einzelheiten. Interessanter Traum, nicht
peinlich. Ich erwache gegen 6 Uhr morgens, indem ich mich des Traumes gut
erinnere und seine Ursache sowie seine B^eutung sofort verstehe. In jenen Tagen
las ich ein Bucli über den Bolschewismus. Bei einer derartigen EHsposition der
Phantasie hatte das Leibgrimmen die Bilder einer Revolution inszeniert.
Protokoll. Nacht auf den 5. September 1919. In der Nacht auf den 5. September
l»abe ich lebhafte Träume, aus welchen ich mich beim Erwachen (7 Uhr morgens) sehr
gut folgender Bilder erinnere: Ich schlafe mit meiner ganzen Faunilie außer Haus;
es ist spät, ich stehe auf, mache allein mein Gepäck so gut wie möglich zurecht und
bin daran, auszugehen. Ich verirre mich im Hotel Ich trete in ver-
schiedene Zimmer ein. in denen andere Leute sciilafen. Beim Hinausgehen sehe ich,
me sich Reisetaschen, Bündel, Gegenstände in erschreckender Weise vermehren . . .
ein peinlicher Traum; ich weiß nicht, wie ich mir helfen soll; ich habe niemanden,
der mir Hilfe leistet, keine Transportmöglichkeiton Ich reise mit meinem
ungeheuren Gepäck ab bald befinde ich mich im Automobil, bald zu! Pferd . . .,
ich erreiche niemals ein Ziel; eine Reise voller Mißgeschick (nicht mit der Eisen-
bahn) .... Unter derartigen Bildern und mit einem Gefühl der Mutlosigkeit waclie
ich auf. Ich denke gleich über meinen Traum nach und mit einem Schlage wird
mir seine Bedeutxmg klar (niedergeschrieben 8 Uhr): Als ich mit meiner Tochter
von Salsomaggiore, wo wir ims aufhielten, abreisen mußte, sprach man oft von Koffern,
Reisetaschen und der Art, wie wir unser Gepäck auf ein Mindestmaß einschränken
könnten. Am Tag vorher wartete ich auf die Anmeldung zweier Personen zu ärztlichen
Besuchen in ihren Hotelzimmern.
Einige Tage hindurch, jedoch nicht fortgesetzt, füllte ich im Winter
1916 Formulare wie folgendes aus:
Die der Nacht des Traumes
vorangehenden Tage
Vorstellungen im Traume
4ter
3ter
2ter
Iter
1 Vgl. Kap. I, Einleitung über die Traumwassenschaftsmethoden.
?80 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Aus den 1 6 ausgefüllten Bogen entnehme ich, daß keiner der 1 6 Träume
von den Emdrücken des Wachbevvußtseins eines oder mehrerer der
4 vorangegangenen Tage frei ist; daß in 12 die Eindrücke der '
vorangegangenen Tage vorwiegen, daß in allen entstellte, ab^kürzte
oder erweiterte Eindrücke vorhanden sind, und nur in zweien aS ak
S« H t.f' /. vorangegangenen Tage. Ich bemerke jedoch, daß^ nur
das Hauptthema des Traumes niedergeschrieben wurde
Im Jahre 191 5 und 1916 verteilte ich an einige Personen (Studenten
beiderlei GescWechts und an meine Assistentin) lin Formular zur EiV
t^s'fZnr^;ZLl: -^^^-"^^^^>^-^- Nächten. Ich entnahm
a) Im Durchschnitt bestanden Träume in 3o Prozent der dächte-
T.^ t' J'^T^ ^""^'^^^u Tatsachen oder affektive Zustände von einem
Tage, 2 oder 3 Tagen vorher in 75 Prozent der Nächte zur Darstellung
c) m den anderen Fällen bezogen sich die Vorstellungen im Traum
auf Tatsachen (im Wachsein bewußt), die der Träumer in meh/^e^
w«iiger weit bis ins Knabenalter (nicht in die Kindheit) zurückreichenden
Jahren erlebt hatte, und zwar 1 5 Prozent; "i^Kreicnenaen
d) in einer Minderzahl der Fälle (10 Prozent) enthielten die Träume
VorsteUungen oder affektive Zustände, welchen im Augenblick (es v^r^e
^Wen "^^" '^"''^*^ ^""' ^^*^^^^^" desVachbivuß^ns'
Im Traume werden demnach ideoaffektive Komplexe von unmittel-
^rJT I^'"""' '^^''^' '?" J^^^^*«^ (^"^ Tage' des Traumes) und
von mel^ oder weniger weit zurückliegender (einige Tage vor dem
Traum) Entstehung verarbeitet. V ö ^«^o« vor aem
Im übrigen kann man sagen, daß im Traum ebensowohl Tatsachen
teT^r:^"' ^^"\^''^^^' geringfügige Aufmerksamkeit entgegenbrach-
heJ^t^n. ^^^"^ä^^J-hkeiten), wie Tatsachen, die uns sehr
Doch leben im Traum ausnahmsweise längst vergangene und ganz
mXn'^'T f l'^^r "^^^^ ^"^' "^^^^^ im Unterbewußtsein schlSn
^Zh :i Ich habe diesen Gegenstand früher einmal behandelt, werde
rmch daher kurz fassen. Es kehren im Traum atavistische EriebnLse
wieder, solche aus der Familie, dem frühesten Kindesalter, diT ^
auch im Traum Inhalte wieder, deren man sich aber im Wachen bereits
wieder erinnert ha te. Ich legte schon Beweise für das Wiederkehren
unbewußter atavistischer Erlebnisse vor (soweit es überhaupt mS
eni^ •' ^t^^l ^'' Beobachtmig ies Schlafenden und mit Vr-
jemgen seiner Berichterstattung beim Erwachen Beweise zu liefern),
Ina . • J'^^"^^ T^""™ Schwimmen der Neufundländer Hunde und die
Zt !l n"^ l" ^T"^^ ^f' ^^^^^" ^°^ Erwachsenen. Die Wieder-
diirrh ? U^terbewußteeins im Traume wird in unzweifelhafter Weise
^Z^n A' r"^^ äf ^^ PartieUer Amnesie behafteten Personen be-
kennen im V^'"" Wachbewußtsein) verlorengegangenen Erinnerungen
können im Traume wieder erscheinen, und dara7fhiS werden die Ereig-
IMlAl/rnKSWACilBEWUSSTSKINS. UM KUBKWl >SrSEL\ V. TRAIJMI.NHALT 2«!
uisso borirlilet (I'ali df^ Ilociiwünli':!! Ilaiina, erläutert von SidLs Im
Jahre Kjof), benihmter Fall der Mili Beauchainps von Morton Princc
und viele andere pathologische Fälle). Die Wiederkehr des IJnleirbowußton
aus der Kindheit wird durcJi die allgemeine Frlahrung Ix'wicsen. Es
ist gleichwold von Nutzen, daß icli ein pcrsönliche,s Protokoll zur
Kenntnis bringe, welchem ich besonderen Wert zuschreibe:
Protokoll. -Nacht dci i/|. Jiuu i<)i.4; niiMlorgoschriobon um "j Uhr morgens; der
Tag (i3. Juni) war ansLr»'iiptiid. UnunU'rbrfKhoiier Schlaf, im Momente des Erwachons
das Grefühl. viel geträumt zu lialnii ; Kopfsdimerz. Klare Erinnerung an eine Einzelheit
der gehöhten Träume: ein Beet mit zwei (oder vier?) langgestreckten Erhöhungen . . .
der Arbeiter hat einen Spaten . . . Leichname sind dageblieben, als andere wegge-
schafft wurden. Nach einigen Spatensticlien erscheinen in der Tat (zwei oder vier)
aixspej. treckt liegrude Skelette. Sie bestehen aber nicht alle nur aus Knoclien, zum
Teil sind »io von \\'eichteilon umhüllt, genau so wie in der ..Aiiferstehung der Toten"
von Luca Signorelli im Dome von Orvieto (dieser Vergleich ist ein Bestandteil des
Traumes). Ich be<trachfe sie mit Neugierde, aber ohne Traurigkeit; bei der Be-
trachtung bemerke ich, daß sie mimische Bewe^ngen ausführen, und lenke die Auf-
merksamkeit der .\nwesenden auf (bese Tatsache. .\lle erkennen den Sachvorhalt,
ohne sich jedoch zu wiuidem. Indem ich auch auf die Leichname schaue, sehe ich,
daß sie sich immer mehr und mehr beleben, die Arme aufheben und sich strecken ....
sie sind ernst und beachten uns nicht .... ich bemerke: der Tod ist nichts als
ein Traum, und es wäre nur erforderlich, ein Mittel zu finden, um das Envachen,
wann immer es nuch erfolge, nicht zu verhindern. Ich habe das Gefühl — im
Traume — , daß das Ereignis dieses Wiederauflelxms der Toten, dieses Wieder-
erwachens, eine von mir sclion mehrere Male beobachtete und ganz sichere Sache sei.
(Ich bemerke beiläufig, daß Auferstehungsträume bei mir oft vorkommen.) Ich sag«)
im Traume: wie wunderlich ist diese Art der Auferstehung der Toten! Das Fleisch,
welches sich nach und nach über den Knochen wieder form,t und doch ist es so.
Aufzeichnung 12 Llir am i/j. Juni: Es ist ein Traum, welcher sich vom Alltäg-
lichen entfernt; in den Ereignissen der Tage, die der Traumesnacht vorangegangen
waren, finde ich nur politische Gespräche und Gedanken aus Anlaß der Revolution!
in der Romagna, außerdem die reichliche Arbeit des i3. Juni. Dieser Traum ist aus
Elementen geoildet, welche dem Kindeealter angehöreni. In der Tat hatte ich gerade*
in meiner Kindheit oft das Fresko Signorellis vor Augen. Im Traum kehrt nicht nur
die Erinnerung an das Fresko wieder, sondern auch der Glaube, daß die Auf-
erstehung der Toten in der Weise geschehen müsse, vrie sie Signorelli vorschwebte.
In der Tat war ich als Kind vollkommen davon überzeugt, aber als ich erwachsen war,
hat sich nvir diese Überzeugung niemals wieder bewiißt aufgedrängt, nicht einmal als
Erinnerung.
Es ist wahrscheinlich, daß viele Fälle von Paramncsie im Traume
(falsche Erinnerungen an Erlebnisse des Wachbewußtseins, die man
im Traume hat) nichts anderes sind als das Wiedererscheinen von Er-
eignissen oder Anschauungen der Kindheit. Das Wiederauferstehen des
Unterbewußten aus der Kindheit, wie es sich im Traum ereignet, kann
uns über einen großen Teil der wunderbaren und von einigen Mystikern
des Altertums imd der Neuzeit für übernatürlich gehaltenen Träume
Aufschluß geben, Träume, welche gleichwohl heutzutage auch von deo
angesehensten Spiritisten und Theosophen (Steiner) ziemlich gering ge-
schätzt werden. Das Wiedererwachen der Inhalte des Unterbewußtseins
erklärt auch, warum der Traum als empfindlichstes Reagens zur Ent-
hüllung der normalen und anormalen geschlechtlichen Triebe gilt (P.
Naocke) ; weil sich im Traume das moralische Niveau des Träumenden
senkt und die sittlichsten Personen im Traum unsittlich werden können;
weil sich nicht nur gewisse Körperkrankheiten durch die vermehrte
282 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Empfindlichkeit der inneren Organe und durch das Übemdegen des
Gemeingefühls, sondern weil sich auch gewisse krankhafte Wahnideen
infantilen und ethnischen Charakters usw. im Traume früher als im
Wachsein kundgeben.
Daß also zu den Träumen Komponenten gehören, welche aus dem
Unterbewußtsein abgeleitet sind, gehört zum klassischen Wisseasgute,
welches keiner Bestätigung bedarf, insbesondere wenn man bedenkt, daß
auch in jeder unserer psychischen Tätigkeiten des Wachbewußtseins die
unterbe\\'ußten Komponenten (erbliche, neugebildete und unterbewußte
aus der Kindlieit) vorhanden sind und eine große Bedeutung besitzen,
wie z. B. bei der Empfindung, beim Wiedererkennen, in den Gewohn-
heilen, dem Charakter, in den Anlagen, in der Erfindungstätigkeit, in
den krankhaften Systembildungen der Persönlichkeit usw. Es ist das,
was Patini aktives latentes Unbewußtes (incosciente latente
attivo) und was Dwelshauvefs dynamisches Unbewußtes nennt.
Nur über folgende Punkte kann eine Kontroverse entstehen: a) ob
nämlich das Unterbewußtsein jene unbedingte Vorherrschaft im
Traume besitze, welche ihm von den Freudianern zugeschrieben wird.
Das von mir aufgenommene Inventar der Traumelemente bestätigt
diese Meinung nur teilweise, b) ob auch die Komponenten, die unmittel-
bar aus dem Traume selbst, und die Komponenten, die aus der Er-
fahrung des Wachbewußtseins stammen, eine mehr oder weniger geheim-
nisvolle Umbildung durch das Unterbewußte aus der Kindheit und über-
haupt durch die seit langer Zeit vergessenen, willkürlich oder unwill-
kürlich verdrängten Erfahrungen des Wachbewußtseins erleiden. Diese
Möglichkeit wird im allgemeinen nicht geleugnet. Es wird im folgenden
gesagt werden, mit welchen Einschränkungen sie zugegeben werden kann.
D. DYNAMIK DES TRAUMES i
In diesem Paragraphen soll auf folgende Fragen geantwortet werden:
Wie entNvickelt sich der Traumvorgang, und welchen Kräften gehorcht
er? Die Antwort der Freudschen Lehre auf diese Fragen ist bekannt.
Übrigens w^rde ich im nächsten Kapitel von ihr sprechen. Der Traum-
vorgang ist in funktioneller Hinsicht eine Metamorphose i. Die Meta-
morphose betrifft die Empfindungen des Schlafenden, die aus seiner
vergangenen bewußten Erfahrung hervorgehenden (vom Subjekte nach
dem Erwachen wiedererkannten) Erlebnisse sowie die Entwicklung der
Trauminhalte selbst, woher sie auch ursprünglich stammen mögen. Im
folgenden ist das von mir in einem anderen meiner Werke gegebene
Schema ersichtlich. Die Zusätze und Erläuterungen werde ich im Text
entwickeln.
^ Sicul aspicienti in nubibus in vi^lando apparent similitudines hominum et alionun,
quae cito permutantU|r a figura in figuram quando movetur successive post aliam, eodem
modo est de simulacris quod quolibet apparet post aliud et unum in aliud cito permutatur.
So der heilige Thomas von Aquino.
DYNAMIK DES TRAUMES 283
Metamorphose des Traumes
von einfachen VorsU'Uung^Mi, MiUh^rn, Ereignissen, wie sie bei gewissen
Vergiflnngcn vorkommen:
I. Umbildung im engeren Sinne:
a) durch Neboneinanderlagerung: schnelle Aufeinandorfolgo zweier
Bilder mit oder ohne ,,I*erscveration" des vorhergehenden Bildes. Beispiel:
doppeldeutiger Traum (sogno bi fronte);
b) durch Übereinandorle^ng, unbewegliche oder beweg-
liche; feste Übereinanderlegimg, wie in zusammengesetzten Photo-
graphien ; bewegliche Übereinanderlegung, wie in den sog. Wandelbildem :
c) durch Kontrast der Vorstellungen oder Affekte.
2. Verschmelzung:
von Silben oder Wörtern, von einfachen Vorstellungen, Bildern, Ereig-
nissen, Zeil und Baum usw.
3. Übersetzung ins Optische:
a) Umbildung aktueller Empfindungen in Gesichtsvorslellungen
(Wundl, Lipps, EUis, Mourly Vold usw.), daher der ,, Symbolismus"
des Traumes;
b) Personifikationen und geistige Ikonographie im Traume.
/(. Dissoziation (Autonomie) :
a) zwischen Empfindung und Gefühlston, zwischen Idee und ent-
sprechendem affektiven Zustande. Das ist der Vorgang der affektiven
,, Verschiebung" oder der affektiven Übertragung (,, Transitivismus") ;
b) zwischen den höheren Verknüpfungen, z. B. zwischen Urteil und
VVillensdetermination, zwischen den einzelnen Elementen des Urteiles usw\
Vor allem muß festgestellt werden, daß im Traum eine Umbildung
der Vorstellungen stattfindet, seien diese nun von unmittelbarer Herkunft,
seien sie Erinnerungen usw. Man vergegenwärtige sich den berühmten
Traum Irmas, bei Freud, wo das Angesicht einer Person sich in das-
jenige einer anderen venvandelt; man erinnere sich ferner an die Ver-
wandlungen bei Homer 1.
Protokoll. Nacht des i. März 1916 (Frl. Z., 28 JaJire alb). Ich befinde niicli
vor dem rSemi-See; ich betrachte die Landschaft in ihren kleinsten Einzelheiten. Die
Zweige der Bäume sind in zitternder, gleichsam eine verhaltene Kraft ausdrückender
Bewegimg. Ich habe zur Linken den Herrn P., zwischen uns beiden befindet sich
jemand, der bald G., bald C. ist, bald ich selbst. Wenn nicht ich es bin, die sibli
dazwisclienschiebt, so fühle ich mich durch ihn angezogen, aber durch wen? . . Ich
entdecke, daß es nicht mehr G. ist, nicht C., noch einer der anderen; es ist ein©
unbekannte Person; ich spreche mit P. über die Schönheit der Natur, aber ich fühle
mich innerlich sehr bewegt, fühle in mir den Kampf von Gefühlen. Ich leide; endlich
weine ich viel; darauf beruhige ich mich und fühle mich sehr erschöpft. Nun fühle
ich mich allein; rasch aber werde ich gewahr, daß ich selbst die ,, zitternden Bäume"
bin, daß ich die Kraft bin, welche sie zittern macht. Ich fühle mich mit der Umwelt
vollkommen verwachsen; ich spreche mit dem Herrn P.; ich sage ihm, daß icli
Ungeheueres genieße, aber er versteht mich nicht. Verzweiflung. Es schnürt mir
die Kehle tu. Ich erwache schluchzend.
1 Vgl. Ninck, Die Bedeutung des Wassers im Kult und Leben der Alten, Philologus,
Suppl. XIV. I, 192 1.
284 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUM£S
Autopsychoanalyse: Ich finde die Komponenten des Traumes in folgenden Tal-
sachen: I. Gestern war ich in der Vorlesung. Auf dem Rückweg sprach P. mit mir
in CToßer Besorgnis von seinem Sohne, den ich nicht kenne. 2. Den Tag vorher
halle ich viel an das ästhetische Gefühl gedacht und hatte den Schluß gezogen, daß
der höchste Grad dieses Gefüliles das Bewußtsein des Verschmelzens der eigenen Seele
mit der beseelten Umgebung sei. 3. Drei Tage vorher eine Unterhaltimg mit meiner
Mutter über Naturgenuß und Mystizismus. 4. Den Nemi-See hatte ich drei Jahre
vorher nur flüchtig gesehen. 5. Ich gebe mir darüber Rechenschaft, daß ich von
einem großen Liebesbedürfnis erfüllt bin, es jedoch streng und bewußt unterdrücke.
Der Traum zeigt meine Natur, wie auch die Verdrängung.
Dennoch ist die Tatsache der Umbildung nicht allein dem Traum
eigentümlich, vielmehr muß man annehmen, daß sie ein allgemeines
psychologisches Gesetz darstellt; die geistigen Inhalte sind in unab-
lässiger Tätigkeit und lösen einander ohne Unterlaß ab, immer, wenn
die physiopsychologische Spannung sich nicht auf einer gewissen
Höhe hält. Eine Beständigkeit, eine wahre Kristallisation der Inhalte
gibt es nur in einigen pathologischen geistigen Zuständen. Die Bilder
werden umgestaltet, assoziieren und dissoziieren sich auch im Wach-
bewußtsein, was der experimentellen Psychologie wohlbekannt ist (Taine,
Ribot, Janet, Peillaube usw.).
P. Janet sagt ganz richtig, daß die früheren Bewußtseinszustände
dahin drängen, sich wieder zu erzeugen, soweit es der Zustand des
augenblicklichen Bewußtseins zuläßt. Die Assoziationsgesetze des Ari-
stoteles, Hamiltons (Reinlegration), Shadworth Hodgsons (Interesse) er-
klären (wenigstens bis zu einem gewissen Grade) solche Umbildungen.
Der Umbilduugsvorgang wird im Traum und in der Träumerei
(reverie) übertrieben, weil er auf keine Hemmungen stößt. Man kann
dies auch experimentell, z. B. mit Hilfe der „cristal-vision" beweisen.
Galton gab schon einige Experimente an. Jeder beliebige Reiz kann
angewendet werden, um über die Umbildung Versuche anzustellen.
Interessant ist der Versuch, den man machen kann, indem man sich auf
ein Wort konzentriert imd es in der Stille viele Male wiederholt; nach
imd nach verliert das Wort seine Bedeutung, empfängt einen anderen
Klang und Sinn, tind wenn man mit dem Versuche fortfährt, hört
man im Geist andere Worte, welche in keiner Weise mit dem ersten
assoziiert zu sein scheinen; und schließlich stellen sich auch Personi-
fikationen ein (geistige Ikonographie).
Ganz richtig ist von mehreren Verfassern angegeben worden, daß
der Traiun der wahre Typus der „wechselnden Halluzinationen" ist,
welche bei Vergiftungen vorkommen. (Sully, Maury.) Delboeuf verglich
die Metamorphose im Traume mit den „zerfließenden Bildern".
Es ist ISO, wie wenn man auf dieselbe Bildfläche und dieselbe Stelle
mittels zweier Latema magicas zwei Bilder projizieren und das eine
erleuchten, während man das andere auslöschen wollte. Es gehören
zum Vorgange der Umbildung auch die Neben- und Übereinanderlegung
zweier Traumbilder.
Dem sehr seltenen Phänomen, daß der Träumende die Übereinander-
lagenmg erkennt, gleichwohl aber die übereinandergelagerten Geschehnisse
des Traumes wohl unterschieden empfindet, so, als wären sie neben-
DYNAMIK DES TR.\UMES 285
oinandorgola^rt, gab ich den Namen : doppeldeutiger Traum
(sogno bifrontr). In diesem Fall erkennt der Träuiu(Mide in einem
einzigen Bild otler einer Aufeinanderfolge von Bildern nicht eine, sondern
zwei verschiedene Handlungen. Es ist, um es genau zu sagen, nicht
das Bild, welduv; sich umgestalt<'*t, (>s ist <ler Zust.md des Träumenden,
der die Bedeutiuig der Handlung spaltet, und hierl)ei erscheint den
ganztMi Traum hindurch die Handlung wirklich doppell (eigene Proto-
kolle). Es ereignet sich aber auch zuweilen, dali der Träumende — im
Schlafe — die Bedeutung seines Traumes durch die phantastische Sym-
bolik hindurch erfaßt. Den Vorgang, durch welchen der Träumer zu
diesem Ergebnisse gelangt, habe ich „im Traume durchgeführte
Au to psy c hoan a 1 yse" fautopsicoanalisi intraoiiiriai) benannt. Hier
ist die Sache anders, sofern eine reine Intuition, nicht aber eine dopi)elte
Traumerscheinung vorliegt.
Es ist wunderbar, daß auch der doppeldeutige Traum ein voll-
kommenes Gegenstück in der Erfahrung des Wachbewußtseins findet,
d. h. daß es im Leben ganz ähnliche Lagen gibt. Ein Beispiel: Zwei
Gruppen von Freunden und Freundinnen spielen Tennis. Während der
Eifer des Spieles zimimmt und vielleicht Ermüdung hinzutritt, wird
der scheinbare Kampf für einen Spieler, der in eine der Spielgenossinnen
verUebt ist, zu einer Allegorie. Das Tennis ist das Wirkungsfeld zur
Eroberung der Liebe. Der nicht verliebte Spieler hingegen sieht oder
empfindet in der Partie die Allegorie des Kampfes um die Vorherrschaft
im Leben. Diese Zustände des Bewußtseins werden nicht selten in der
Kunst dargestellt.
Die Umbildung im Traume wird oft von außen her vollzogen. Eine
aktuelle Empfindiing während des Schlafes verwandelt die Personen des
Traumes und ihr Handeln wie auch ihre Gefühle, weil der Gefühlston
der Empfindung auf die Personen übergeht. Beispiel: Ein Traum
hat einen regelmäßigen Verlauf in bezug auf Personen und Geschehnisse;
in einem gewissen Moment tritt das Bedürfnis des Urinierens ein oder
eine Erektion, und dann werden die Personen und Geschehnisse andere:
das Urinieren verwandelt sich in Empfindungen und Bedürfnisse, welche
wir oder andere Personen haben; die Erektion gibt dem ganzen Traume
den erotischen Verlauf.
Der Vorgang der Verschmelzung ist einer der wichtigsten Spezialfälle
des allgemeinen Vorganges der Umbildung. In den meisten Fällen werden
die Wortneubildungen des Traumes durch eine Verschmelzung mehrerer
Wörter in eines hervorgebracht. (M. Vold, De Sanctis.) Ich berichtete
schon, daß bei 3o Prozent meiner Träume die Personen die
physiognomische und moralische Verschmelzung von zwei oder melireren
Personen darstellen, welche der Erfahrung des Wachbewußtseins ange-
hören. Eine kurze beim Erwachen vorgenommene Überlegung hat mich
davon so manches Mal überzeugt. Aber die Verschmelzung bezieht sicli
auch auf die im Wachsein erlebten Ereignisse.
Die Verschmelzung ist also nichts anderes als eine Verdichtung. In
der Tat faßt Schubert sie so auf. Nach diesem Forscher scheint dem
Traume, der in wenigen Bildern die Geschichte eines ganzen Lebens
286 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
zusammenfaßt, eine schwindelnde Schnelligkeit eigen zu sein. (So
Schubert, welcher über einen mehligen Fall von Moritz berichtet.) Die
Verdichtung vollzieht sich mit Hilfe einer allegorischen vmd zusammen-
fassenden hieroglyphischen, geistigen Sprache, sagt Schubert, die nicht
an grammatische und assoziative Regeln gebunden ist, einer Sprache,
welche aus dem Gefühl und dem Herzen hervorquillt (Sprache dos
Herzens) und von allen ohne Unterschied der Rasse oder der gesprochenen
Sprache (Wortsprache) verstanden wird.
Zweifellos erscheint der Traum, wenn er gut analysiert wird, oft wie
eine Zusammenfassung (wenn er nicht eine Übereinanderlagerung ist)
von verschiedenen Dingen und Ereignissen i.
Wahrscheinlich sind die Verwandlimgen von Ort und Zeit im Traum
als Vorgänge der Verschmelzung zu betrachten. Es ist hier am Platz,
auf eine andere Erscheinung der Metamorphose des Traumes hinzu-
weisen. Es kommt zuweilen vor, daß wir im Verlaufe des Traumes
dieselbe Persönlichkeit des Traumspieles an verschiedenen Örtlichkeiten
gleichzeitig auftreten sehen. Dies ^^^l^de auch von Dugald Stewart ^
beobachtet. Vielleicht behaupten diejenigen, welche die Anwesenheit einer
Person, z. B. eines Heiligen, an verschiedenen Orten zur gleichen Zeit
bezeugten, etwas Ähnliches.
Im Traume verkürzt sich die Zeit, der Raum verengert sich; sogar
das, was sich in einer gewissen Aufeinanderfolge ereignen sollte, wird
zuweilen in einen einzigen Augenblick zusammengefaßt. Dies ist die
Verdichtimg der Zeit, besser gesagt: die zeitliche Verschmelzung. Das-
selbe gilt für den Raum; die Raumbilder erscheinen überein ander-
gelagert. Das, was den Träumenden am meisten interessiert, wird unter
Mißachtung der Logik in den Vordergrund versetzt. Der Traum zeigt
daher dieselbe Eigenart wie das Kunstwerk: der Gefühlswert über-
trifft den Verstau des wert. Die Reise Dantes zum Mittelpunkte der Erde
(Inferno) dauert nur 24 Stunden; das ist irrationell, aber es ist künstle-
risch gerechtfertigt, väe es ein ganz gewöhnliches Geschehnis im Traume
wäre. Weder im Traume noch in der Kunst sind ungenutzte Stimden
und leere Räume erlaubt. Die Handlung gibt den Ausschlag, das Gefühl
beherrscht jede Logik. Das Heimweh beschleunigt z. B. die Zeit und
verkürzt die Entfernung an einer bestimmten Stelle des Rolandliedes
(Chanson de Rolland). Zeit und Raum haben, wie in der Kunst, so
auch im Traume, nicht dieselbe Ausdehnung wie in der Wirklich-
keit, noch auch ein gleichbleibendes Maß, wie Fraccaroli (i4) sagt.
1 In Wirkliclikeit versteht S. Freud unter ,, Verdichtung" das, was >vir Ver-
schmelzung nennen; wenn er sagt, daß jedes Element des Trauminhaltes über-
determiniert ist, so will er darunter gerade die Verschmelzung mehrerer Traum-
gedanken in ein einziges Element verstanden wissen. Es ist übrigens klar, daß sich
bei Freud der Begriff ..Verdichtung" auf die Traumgedanken bezieht und deshalb
wolü vmterschieden werden muß vom Verschmelzungsvorgange, welcher den manifesten
Trauminhalt betrifft. Über den Prozeß der Verdichtung schrieb mit Berichten über
Traumbeobachtungen E. R. Thompson (io8).
2 A. a. O. S. 100.
DYNAMIK DES TRAUMES 287
Zeit und Kaum empfangen die Gesetze von iiuem Inhalt eher, als daß
sie diesem ein Gej>etz vorsclireiben.
Die Umbildung der aktuellen Traumemplindungen in Vorstellungen
anderer Art — wovon ich weiter oben sprach — bildet einen klas-
sischen Besitz der Traurakun<le (A. Maury, Wundt. Scherner, Strüm-
pell, 11. Ellis, M. Volil usw.). Es gibt nach Vold eine halluzinatorische
Gleichwertigkeit der Empfindungen (sensorielle Äcjuivaleriz). Die Traum-
bilder (wie auch die Halluzinationen) können Folgen von verschied )nen
und insbesomlen^ kut-anoomotorischen Sinneserregungen sein. Die Um-
bildung scheint tiefer zu greifen, wenn es sich um organische Empfin-
dungen des Körpers handelt, wie schon Jastrow (87) bemerkte; aber
auch die akustischen Empfindungen werden erheblich lungcbildet, wie
die neuen Versuche Stepanoffs (io5) und eine sehr große Menge alter
Beobachtungen zeigen. Hanunond und v. a. beschreiben einige Träume,
welche von der Umbildung unmittelbarer Geruchsempfindungen hervor-
gebrach t >\Tirden ,
Aber der wichtigste Vorgang der Metamorphose des Traumes ist
zweifellos derjenige, den ich die Übersetzung in optische
Bilder {traduzione ri.sica) nennen will. H. Ellis (22) sagt, daß
die Gesichtsbilder, aus denen sich der Traum zusammensetzt, das
Symbol für Empfindimgen verschiedener Ordnung sind. Es soll, auch
nach Ellis, im Traum eine .-irt von sensorischem Symbolis-
mus ^ herrschen. Man kann sagen, daß fast alle Empfindungen im
Traum in Gesichtsbilder venvandelt werden. Der Vorgang der Über-
setzung wurde von allen Beobachtern gut beschrieben, welche sich mit
Träumen beschäftigten. Aber die Tatsache erhielt einen unwiderruf-
lichen Beweis durch die experimentelle Methode. Schon Hildebrandt
(1875) bemerkte in Versuchen an sich selbst, daß derselbe akustische
Reiz sehr verschiedenen Träumen Entstehung gab, in welchen die Um-
wandlung der Bilder ganz zweifellos war. Ich selbst hatte schon in
meinem Buche von 1899 geschrieben, daß dieselben Reize niemals voll-
kommen gleiche Träume hervorrufen, nicht einmal bei denselben Indi-
viduen. Über Art und Weise dieser Übersetzung und ihre Einwirkung
auf die Entwicklung und die Lösung des Traumspieles sind unsere
Kenntnisse dagegen nicht gleich sicher.
Es scheint, daß sich ein wahrer Kampf zwischen den von außen
eingeführten Elementen und dem autogenetischen Traum entwickelt;
ein Kampf, der sich im Traume deutlich widerspiegelt, Avie Stepanoff
gezeigt hat. Bald siegt der aktuelle Eindruck, bald unterliegt er so weit,
daß er im Traume gar nicht erscheint, zumeist paßt er sich dem Thema
des Traumes an, welches sich eben entwickelt. Ich vertrete die An-
sicht, daß diese Ergebnisse aus der Summation und der Interferenz
von Gefühlskräften hervorgehen, welche mit dem Eindrucke selbst ver-
knüpft sind, weil, wie ich später darlegen werde, die Dissoziation
^ Eine Kritik des Symbolismus (im Sinne von Freudj im Traume hat A. Kronfeld (^a)
gegeben .
288 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
zwischen Vorstellung und Gefühlston nicht die Regel, sondern die Aus-
nahme bildet 1.
Solche Konflikte sind übrigens keineswegs dem Traum eigentüm-
lich, wie Stepanoff zu glauben scheint. Ich wiederhole es noch ein-
mal: das VViderstreiten und das Sichanpassen sind Erscheinungen
allgemeiner psychologischer Gesetze. Wohlbekannt sind solche Konflikte
z. B. den Improvisatoren von Reden und Versen, sowie den Dichtem.
Es wären noch verschiedene andere Fälle zu berücksichtigen, welche
aus meinen Protokollen hervorgehen. Es handelt sich z. B. zuweilen
nicht um Umbildungen einer Vorstellung, sondern um eine vrirkliche
allegorische Übersetzung der während des Schlafes erlebten Empfindung.
Diese Tatsache ist sehr häufig. Man könnte sie phantastischen Symbolis-
mus nennen. Friert man im Schlafe, ruft diese Empfindung eine Gruppe
von Vorstellungen hervor: winterliches Feld, Schnee, der Träumende
befindet sich nackt im Freien . . .
Außer anderen Fällen scheint mir vorzugsweise eine Beobachtung
interessant. Ich bin zur Überzeugung gekommen, daß es zwei Arten
visueller Symbolismen gibt. Der erste entsteht aus der Umwandlung
der während des Schlafes erlebten Empfindungen in Gesichtsbilder,
der andere rührt vom (visuellen) Überdenken des Traumes nach dem
Erwachen her. Aber auch diese Symbolismen sind nicht imstande, uns
die Erklärung für die erhebliche Vorherrschaft der Gesichtsbilder im
Traume zu geben. Noch ein dritter Fall ist in Betracht zu ziehen:
Es werden nicht nur die unmittelbaren Empfindungen irgendwelcher
Art, sondern auch die affektiven Zustände und die Eindrücke des
Wachbewußtseins in Gesichtsbilder umgewandelt. Man muß deshalb neben
dem extraonirischen visuellen Symbolismus — außerhalb des Trauma —
(entstehend aus dem Vorgange der Rekonstruktion oder des Überdenkens
des Traumes) zwei intraonirische visuelle Symbolismen — innerhalb
des Traumes — unterscheiden : den illusorischen, den ich als
ersten erwähnte, und den halluzinatorischen, welcher im dritten
Falle zum Ausdruck kommt.
Ich gehe nun zu der vierten Art der Metamorphose des Traumes über,
nämlich zur Dissoziation oder Autonomie. Die Dissoziation beruht
auf der Möglichkeit, daß die aus Vorstellungen, Affekten und kin-
ästhetischen Empfindungen zusammengesetzten Komplexe sich mehr oder
minder vorübergehend in ihre Komponenten auflösen. Ich habe die
verschiedenen Phänomene der Dissoziation zwischen der Vorstellung und
ihrem Gefühlston oder ihren begleitenden affektiven Zuständen seiner-
zeit ausführlich behandelt. Hier muß ich auf Grund neuerer Er-
fahiungen die ganz verschiedenen Arten der Verschiebung oder Sub-
1 Meine Bemerkung scheint mir am Platze, weil Stepanoff sagt, daß der Inhalt des
vorhergeh endeji Traumes die Art und Weise bestimmt, wie der äußere Reiz wahr-
genommen wird, und dadurch eine Illusion entstehen läßt, welche der Verfasser h y p -
nische Illusion (illusfone ipnica) nennt. Es ist aber ganz klar, daß das
Traumbewußtsein (ich wende meine Bezeichnungsweise an, nicht die von Stepanoff)
nicht irgendeiner Illusion unterworfen ist, weil es in seiner Natur liegt, seine Nahrung
nicht aus derselben Wirklichkeit zu ziehen wie das Wachbewiißtsein.
DYNANUK DES TILVL.MES 289
stitution boslätig«n, die ich schon in luwnon frühoren Büchern und
Monographien bescliriebcn hal>i\ Ich l)estätige auch noch die IxÄonders
wichtige Tatsache, daß ein physischer Schmerz im Traume durch einen
seehschon Schmerz und imigekehrt ers^'tzt wird, sei es, daß der Träumer
selbst oder eine andere Person des Traumes (Objektivierung) den ge-
träumten Schmerz erleidet.
Die Dissoziation tritt in vielerlei Erscheinungen auf. Im folgenden
einige Beispiele. Ein Ereignis otler eine Person aus dem wirklichen
Leben wird im Tramno durch Ereignisse oder Personen ersetzt, wobei
dennoch im Träumenden die vom Ereignis oder von der Person des
wirklichen Lebens eingeflößten Gefühle genau dieselben bleiben. Oder
dieselbe Person, z. B. eine Frau, erscheint unverändert im Traum,
aber während sich im Wachsein an sie ein Gefühl des Widerwillens
knüpfte, erscheint sie im Traume begehrenswert und umgekehrt.
Es ist bekannt, daß eine gleichgültige Empfindung beim Träumen-
den zu einer sehr schmerzlichen (mehr oder weniger umgebildeten)
Vorstellung werden kann. Andererseits kann die Empfindung wenig-
stens annähernd unverändert bleiben, während sich der begleitende Gre-
fühlston vollständig ändert. Ich erinnere mich eines Protokolles von
1902, in welchem sich eine wohlriechende Blume, an die Nase eines
schlafenden Knaben gehalten, in die Vorstellung eines verzauberten
Gartens, voll von giftigen Blumen mit einem ekelerregenden Geruch
umwandelte. So könnte sich der Freudsche Vorgang der „Verschi^Ming"
zum Teil dem allgemeinen Dissoziationsvorgang unterordnen 1.
Es können Fälle einer nur scheinbaren Verschiebung im Traume vor-
kommen. Im Zusammenhang mit einem schönen Fall affektiver Polari-
sation, den ich in einer meiner (85) früheren Monographien (über die
psychischen Kontraste) anführte, berichtete ich, daß eine Person zwei-
mal den affektiven Zustand des Zahnziehens im Traum als angenehm
erlebte, also mit einem der Angst entgegengesetzten Affektzustand, wie
sie ihn in den ersten Tagen empfunden, nachdem sie sich zum Zahn-
ziehen entschlossen hatte. Man kann nicht sagen, daß es sich um
einen Traum mit Affektverschiebung handelte, weil die Tatsache der
Polarisation bei jener Person auch dem Wachbewußtsein angehörte.
Der Traum zeigt nur, daß entweder die affektive Polarisation auch in
das Unterbewußtsein eingedrungen war, oder daß der Traum die affek-
tive Situation des Wachbewußtseins wiedergab und nicht das Unter-
bewußtsein betraf 2. Der Vorgang der Dissoziation zwischen Vorstel-
hmgsbildern und deren begleitenden Affekten ist dem Traume gleich-
falls keineswegs eigentümlich. Das Transfert oder die affektive
1 Für Freud aber besteht die Verschiebung im Traume darin, daß die
, .psychische Intensität" sich vom latenten Inhalt auf den manifesten verschiebt und
umgekehrt. EHe Verschiebung ist eines der hauptsächlichsten Mittel, dessen sich die
,,endops)chische Zensur" für die Entstellung bedient.
2 Gerade mit Rücksicht auf die EHssoziation hat der Traum manchmal an-
scheinend alle die« Merkmale de« Denkens, welches Bleuler autistisch
(im Gegensatz zum logischen Denken) nennt. Dieser Umstand gibt uns eine Erklärung
für die Annäherung, welche einige moderne Psychopathologen zwischen dem Traume
und der schizophrenen Mentalität herstellen.
19 Kafka, Vergleicliende Psyctiologie III.
290 DE SANCTiS: PSYCII0L(3GIE DES TRAUMES
Übcrlragung (Transitivismus) ist sogar eine gewöhnliche Tatsache
auch im alltäghchen psychischen Leben. Wir sehen z. B., wie bei dem-
selljcn Individuum dieselben Leidenschaften abwechselnd an ganz ver-
schiedene politische oder philosophische Ideen gebunden sind, wie sich
bei den Bekehrten und bei den Heiligen die passio erotica in die
charilas umwandelt; und wir sehen auch, wie sich das Umgekehrte
ereignet.
Ich verhehle mir nicht, wie schwer es ist, die Tatsache der Ver-
schiebung oder der affektiven Übertragung zu erklären, die im Grund
eines der wichtigsten Phänomene der Traumtätigkeit und insbesondere
einen der Stützpunkte der Freudschen Theorie darstellt. Gewiß kann
man die Tatsache sehr wohl mit Hilfe der energetischen Hypothese
verstehen: aber es muß ein für allemal gesagt werden, daß wir nicht
wissen, was psychische Energie heißen soll, sobald wir sie als ver-
schieden von der nervösen Energie ansehen wollen. In die moderne
wissenschaftliche Psychologie dürfen neue Mythen nicht eindringen, ob
man von einer psychischen Energie im Sinne von Ostwald oder im
spiritualistischen Sinne redet. Eher können wir uns über die ideo-
affektiven Dissoziationen Rechenschaft ablegen, indem wir uns an die
Psychophysiologie wenden, diese liefert uns Beweise dafür, daß wir
an eine genetische Unabhängigkeit von Erkenntnis und Affekt denken
dürfen, indem jene den zerebrospinalen Strang, dieser das sympathisch-
endokrine System zum Organ hat.
Aus solchen Gründen versteht man ohne weiteres, warum man nicht
mit Sicherheit behaupten kann, daß die Richtung der Verschiebung
diu'ch die Richtung der Assoziation bestimmt werde. Dazu sei bemerkt,
daß in der Freudschen Lehre die Assoziation allmächtig herrscht, aber
die heutige Psychologie kann diese angebliche Allmacht nicht ohne Kritik
anerkennen.
Es ist deshalb notwendig, sich mehr an die Tatsachen als an die Theorien
zu halten.
Die Erklärung der Dissoziationsphänomene berührt die Lehre vom
affektiven Gedächtnis, die von Ribot aufgestellt worden ist und so viel
Gegnerschaft bei den Psychologen von Fouillee bis zu Titchener und bis
zu Külpe usw. gefunden hat. Über die Deutung könnte man streiten,
aber die Tatsachen bestehen.
Ich bringe hier in Erinnerung, was Dante sagt:
„Qual e colui che sommiando vede
E dopo Jl sogno la passdone impressa
Rimane e 1' altro alla mente non riede.'"
(„Wie einer Dinge sieht im Traumgesicht
Und nach dem Traumgefühl, das er empfunden,
Zurückbleibt und vom ander« weiß er nichts.")
(Übers, von Gildemeiister.)
Ich muß mich hier auf die Erklärung der Phänomene des affektiven
Gedächtnisses berufen, welche ich mehrere Male in meinen Vorlesungen
und Schriften gab, weil ich dieselbe Erklänmg auf den Traum anwende.
Die Vorstellung scheint entschwunden zu sein, während ihr Gefühlston
DYNAMIK DES TRAUMES 291
fortbci^toht, aber in U'irklichkcil ist sie nicht verlorengegangen, sondern
einfach utitergoLaucht, d. h. für den Aug«'nblick vergessen. Mithin
ist die Dissoziation vorübergehend. lieini Erwachen dauert das Vergessen
an — i\er von I)aiit<' gescliihlerte und von mir, gelegentlich der Be-
sprechung der NachtrauniphäMdineno, ausi'ührlich behandelte Fall — -
otler die \orslellung wird durch Psychoanalvsc wieder in Erinnerung
gebracht. Eine andere Erklärung nun, um die affektive Verschiebung
als Tatsache anzunehmen, ist folgende: daß es eine mittelbare
Assoziation gebe, deren Element unter der Schwelle entwtxler des VVach-
l/ewulitseans o<ler des Traumbewulilseins bleibt. Dieser Sachverhalt ist
in der Psvchopathologie etwas Gewöhnliches. Es gibt traurige und
schweigsame kranke, bei denen auf das Ausfragen eine intellektuello
Motivierung folgt, welche sofort als eine scheinbare erkannt wird; in
diesem Fall le^t das Bewußtsein des Kranken schlechtes Zeugnis ab,
und es besteht eine offensichtliche Dissoziation zwischen Vorstellung
und Affekt. Wenn daher das Bewußtsein nicht in seinem ganzen
1 mfang und seiner ganzen Geschichte betrachtet wird, gelangt man
zu keinem Ergebnis.
Aber die Phänomene der Traumdissoziation sind die denkbar ver-
schiedensten. Ein lehrreiches Beispiel ist die Projektion unseres Ange-
sichtes auf irgendeine Person des Traumspieles, die LTbertragung irgend-
eines unserer persönlichen Merkmale oder geradezu unserer ganzen Persön-
lichkeit auf ein anderes Individuimi (Tatsachen der Identifizierung oder
Objektivierung.)
Ein jungei* Mann, 2^ Jahre all, an Herzklopfen leidend, hat in der Zeit der Anfälle
Itvängs-tigende Träume von Bedrückung, erwacht stets mit Schrecken, weil er im Traume
L*ute sieht, welche jemanden seiner Familienangehörigen würgen. In einer Nacht
träumte er, daß in das Haus eingedrungene Diebe sein^i Bruder erwürgten.
M. Vold spricht von der Objektivierung des Trautmes, d. h.
iler Tatsache, daß gewisse Ereignisse des Traumes vom Subjekte nicht
auf sich selbst, sondern auf jemand anderen bezogen werden, und erklärt
sie durch die Vorherrschaft des Gesichtsinnes im Leben des Menschen.
Ein anderes Beispiel ist der ziemlich häufige Fall, daß man im
Traum ein Wort oder einen Satz ausspricht, während man einen ganz
anderen Gedanken hat, als ihn das Wort oder der Satz auszudrücken
oder nahezulegen vermöchte. Ich habe bereits im Anfange dieses Ab-
schnittes ein Phänomen beschrieben, welches sich augenscheinlich auf
eine Dissoziation beziehen und ein „vielfältiger Traum mit
parallelen Szenen" (sogno multiplo a scene parallele) genannt
werden könnte, ein Traum, welcher, nach Foucault, nach dem
Erwachen vereinheitlicht würde. Es scheint dies ein Zustand der Ver-
doppelung der Persönlichkeit zu sein, der nach meiner Theorie durch
das schnelle und vorübergehende Zusammentreffen von Inhalten des
Wachbewiißtseins (das die aktuellen Reize wahrnimmt) mit Inhalten
des in der Entwicklung begriffenen Traumes erklärlich wird^. .\ber ein
solches Phänomen verstärkt sich in gewissen Fällen erheblich, nämlich
1 Vgl. Kap. III.
19*
292 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
im „Traume mit doppelter Bedeutung" (sogno a doppio
significato). Hier hat man einen Inhalt von unmittelharer Herkunft
aus aktuellen, nur wenig lungebildeten oder symbolisierten Reizen und
einen Inhalt von alter Herkunft (Unterbewußtsein), welcher bereits alle-
gorisierl und symbolisiert ist, als wenn er ein Mythus wäre. Die beiden
Inhalte begegnen sich, vielleicht durch die 'Ab- und Zunahme der Schlaf-
tiefe, und anstatt sich beim Erwachen (in der Erinnerung an den Traum)
zu verbinden, vermischen sie sich in der Weise, daß der eine
als Allegorie des anderen erscheint und sich auf diese Art ihre Bedeutung
verdoppelt.
Diese Traumphänomene (Übereinanderlagerung von zwei oder mehre-
ren Begriffen) finden in der Kunst ein klares Gregenstück. Das Symbol
beherrscht die Kirnst. Das Dantesche „velame de li .versi strani"
(„Schleier der seltsamen Verse") weist klar auf die Allegorie hin, aber
es gibt — wie es im Traume vorkommt — auch in der Kunst niemals
einen strengen Parallelismus zwischen der buchstäblichen und der alle-
gorischen Bedeutung. Die Allegorie wechselt immer, einmal vereinigt
sie siph mit dem wörtlichen Sinne, das andere Mal entfernt sie sich
weit von ihm. Man denke an den ersten Gesang der „Göttlichen Komödie".
Hier halt Dante die beiden Bedeutungen, die wörtliche und die bild-
liche, nicht recht auseinander i. I>eshalb ist die Dichtkunst, wie der
Traum, den seltsamsten Auslegungen zugänglich. Man denke an die
Homerischen Gedichte imd an Dante. Grimm sagt, daß jede wahre Poesie
der verschiedenartigsten Auslegimg fähig ist, weil sie, dem Leben ent-
sprossen, zu ihm auch immer wieder zurückkehrt; sie trifft ims wie
das Licht der Sonne, in welchem Ort auch immer wir uns befinden.
Die Analogie zwischen Dichtkunst und Traum findet sich bei Dante
selbst; z. B. in den drei im Fegefeuer zugebrachten Nächten hatte
Dante drei Träume, alle drei waren allegorisch. Das Gedicht Goethes
,,An Schwager Kronos" wurde nach der Angabe Ben. Croces (17),
der es übersetzt und erläutert hat: „auf der Reise ersonnen, während
der Dichter im schweren Postwagen eine bergige Landschaft durch-
fuhr, im Wechsel zwischen schnellem Bergab- und langsamem und
mühevollem Bergauffahren. Dem Gefühl und der Phantasie des reisenden
und träumenden Dichters verwandelt sich bald der Wagenführer zu
Kronos, den Gott der Zeit, die Reise zur Reise des Lebens, die
flotte Abwärjsfahrt zmn jugendlichen Lauf in das Getümmel der Welt,
die ermüdende Aufwärtsfahrt zu den mühseligen Kämpfen, welche das
Lebenswerk des Menschen erfordert, die Aussicht, welche sich von
der Höhe eröffnet, zu den Freuden der Kunst und der Gedankenwelt,
der erfrischende Trunk, den ihm die Jungfrau auf der Schwelle dar-
reicht, zu Liebe und Lebenslust. Und dann vergleicht er wieder die Fahrt
talwärts bei Sonnenuntergang, dem Bestimmungsort entgegen, mit dem
Lebenslauf dem Tode zu, jenem sehnlichst erwünschten Tod ohne
Greisenalter und Kräfteverfall, in voller Glut und Trunkenheit,
welche den Sprung in den düsteren Strudel freiwillig ertragen und
1 Vgl. 26, Kap. 12.
|)\\\Mlk DES TRAl.MES 293
vollziehen, <len Gang zum Orkus nicht peinlich, nicht widerwärtig er-
scheinen liilil, weil <üese Tat. freilicli die letzte, noch immer eine Tat
des LelxMis, einen notwendigen ,\lxs<"hnitt, den Abschluß, zugleich aber
die Erfüllung (Jes Lebens bildet, ohne welche das vorangegangene
Ti-^iben weder Bedeutung noch Anlaß besäße."
Es ist die .Allegorie, welche jedem Traum und vielen Dichtungen
gemeinsam ist. Wie e;s [)oetische Allegorien genialer Individuen gibt,
so gibt es alltägliche Allegorien der gewöhnlichen Menschen.
Protokoll. Nacht des i.'i. Dezember igi^. Sofort nach dem Erwachen niederge-
*cl>ricl>oji. Am NacJimittage des i3. xinlorhalto ich mich sehr bei einem Konzerte von
Wcijcf im .\ugu.steum. In der folgenden ISacht habe ich lange, erotische Träume,
aber ohne jede Geilheit. Mädchen werden von Jünglingen unter lauten Freuden-
gefangen verfolgt; aber der Lauf ist rhythmisch, vollzieht sich in einem lichtvollen,
lebhaft gefärbten Räume .... die Vexfolgung, die Reigen, die Umarmungen tragen
rein musikalischen CKarakter im Schlafe begreife ich, daß alles dies nichts
anderes ist, als ein Geigenspiel ich fühle mich von einem Schauer durch-
rieselt und empfinde und sage zu mir selbst, daß das Leben selig ist ich]
erwache in bester Laune.
Der Vorgang der Dissoziation würde allein hinreichen, uns die Ursache
für die Zusammenhang! osigkeit oder für die Symbolik des Traumes
anzugeben. Während die affektiven Zustande, die Instinkte und die
Leidenschaften des Schlafenden mit ihren organischen und besonders
mit ihren motorischen Begleiterscheimmgen wie eine Symphonie ohne
Worte im Schlaf andauern, lagern sich die unmittelbaren Empfindungen
(imig^ildet oder nicht) imd die in der Erinnerung behaltenen und
vergessenen Dinge über die Musik; wir könnten auch sagen, daß sie
auf dem affektiven Kanevas gestickt werden. Der Affektzustand ist, kurz
gesagt, imstande, aus ein und demselben Stoff entweder eine Traum-
posse oder eine Traum tragödie zu gestalten. Die affektiven Zustände
und ihre kinästhetischen Elemente senken ihre Wurzeln in unser Dasein
ein und haben dadurch größere Beständigkeit als die Vorstellungen. Dies
hat Ribot (76) trefflich aufgeklärt.
Und nun ist es Zeit, daß wir uns folgende Fragen vorlegen: Wie ist
die Kraft beschaffen, welche das Traumbewußtsein beherrscht? Welcher
ist der Motor des Traumes?
In der Freudschen Lehre ist alles Energie mit immanenter Logik. Der
Mensch schafft in derselben Weise wie die Natur aus dem Unbewußten.
Der Traum ist für Freud ein psychischer Vorgang in dem Sinne, daß
er logisch ist und einem Ziele zustrebt. Er beschreibt den Weg des
affektiven Denkens (affektive Logik oder Logik der Werte, von welcher
auch Ribot spricht), welcher unter dem konstellierenden Einflüsse detef-
minierender unbewußter Elemente zurückgelegt wird. Die Vorstellungen
sind im freien Zustand in der Tat miteinander „konstelliert" ; sie sind
verbunden durch vermittelte Assoziationen, durch unbewußte Beziehun-
gen, einer Analogie zufolge, welche sich durch die richtunggebende Tätig-
keit des vorherrschenden „Komplexes" regelnd einstellt. Solcher Kom-
plexe, d. h. ideoaffektiv-motorischer psychischer Systeme besitzen wir
alle mehrere, aber der eine ist dem anderen untergeordnet. Den Traum
beherrschen indessen die Komplexe sexuellen Ursprungs. I>er Instinkt
294 DK SAiNCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
der Fortpflanzung ist der herrschende, nachdem der Instinkt der Er-
nährung unter dem Einfluß der Einrichtungen des sozialen Lebens usw.
an Kraft verloren hat. So begreift man, daß für Freud die Sexualität
nicht nur den Traum, sondern sogar die Kunst und Religion beherrscht.
Andere Psychologen (sogar Freudianer) gestehen freilich der Libido
nicht die Leitung im Traume zu; so gibt nach Adler der ,, Wille zur
Macht", nach Stekel der Haß, nach James und Janet die Furcht dem
Traume seine Richtung. Andere Psychologen beschränken sich darauf,
als Triebkraft der Träume den affektiven Zustand zu erklären, so unter
den neuesten Dwelshauvers.
Meine Ansicht über die Frage sei hier in wenigen Sätzen zusammen-
gefaßt: Der Motor des Traumes ist der affektive Zustand, dessen
Triebkraft die Äußerung der affektiven Energie ist. In der Psychologie
ist die affektive Energie besser verstanden als die intellektuelle. Abef
der affektive Zustand im Traum ist ein freier, er wird nämlich durch
den Schlaf von der Kette der Überlegungen und von den Forderungen
der Wirklichkeit unabhängig. Aber die affektive Freiheit im Traum er-
reicht, je nach den Phasen des Schlafes, verschiedene Grade, weil die
Annäherung an das Wachbewiißtsein oder das Abrücken von ihm (wie
im III. Kapitel gesagt werden wird) die verschiedenen Grade dieser Frei-
heit bestimmt. So lassen sich gewisse Zusammenhanglosigkeiten im
Traum erklären.
Dieser Geidanke bringt den Traum in Annäherung an die Kunst, ohne
ihn mit ihr zusammenfallen zu lassen. Der Traum ist das Reich dies
wilden Dionysos, während die Dichtkunst das Reich Apollos ist, könnte
man mit Nietzsche sagen.
Man würde das Reich des Traumes künstlich beschränken oder aus-
dehnen, wenn man behaupten woUte, daß er die Libido oder die Liebe
oder der „elan rital" oder der Hochmut oder der Haß sei. Es ist
richtiger, zu sagen, daß er das befreite Individuum ist, befreit
sowohl von Sokrates als auch von Apollo.
Man muß im übrigen dessen eingedenk sein, daß diese Betrachtungs-
weise eine sehr allgemeine ist. In jedem besonderen Traume findet man
fem er gelegentliche Züge, welche von automatischen Assoziationen, von
Interferenzen aktueller Empfindungen und von augenblicklichen und teil-
weisen Einflüssen der Überlegung und Kritik stammen, soweit diese mit
den Schwankungen der Schlaftiefe vereinbar sind.
Von dieser Eventualität soll im folgenden Kapitel ausführlich gesprochen
werden.
III. THEORIEN DES TRAUMES
Daß der Traum oiiie j^^roßc Rolle in <lor (^^schiclite aller Völker gespielt,
dalj er groISon Einfluli auf die Ausbildung von IMiüosophien und Reli-
gionen ausgeübt hat, daß er immer eine Lebensquelle für die Kunst ge-
>ve>en ist, das ist bereits eine so bekannte Tatsache, daß es nicht der
Mühe wert ist. sie in einer kurzen Zusammenfassung eines so ausge-
d»'hnlen Themas wie der Traumpsychologie in Erinnerung zu bringen'.
Soll man wenigstens von den philosophischen und wissenschaftlichen
Anschauungen sprechen, welche die angesehensten Psychologen über die
iSatur und die Redeutung des Traumes hatten oder haben?
In einer wissenschaftlichen ^Vbhandlung über den Traum könnte das
Kapitel über die Theorien freilich fehlen. Eine Darstellung der alten
und der heutigen Theorien des Traumes verliert schon deshalb an Wert,
weil sich eine solche schon in mehreren bereits veröffentlichten Werken
findet. Ich zitiere z. R. die großen Enzyklopädien - und die Werke von
Dugald Stewart 3, von Melchiorre Gioia (32), von Radestock (72) und
vielen anderen.
Immerhin könnte die vorliegende Monographie, ohne das Kapitel über
die Theorien zu berühren, als unvollständig bezeichnet werden; für man-
chen könnte es sogar eine Verzichtleistung oder Neutralitätserklärung
gegenüber dem schwierigen psychologisch-philosophischen Probleme des
Traumes bedeuten, dessen Fragestellung ganz modern ist. Femer würde
ich, wenn ich von den Theorien zu sprechen unterließe, die Erwartung
vieler Psychologen und Philosophen enttäuschen, welche auch heutzutage
weiterhin die Meinung vertreten, daß die allgemeinen Fragen, die sich
bei der Rehandlung eines jeden wissenschaftlichen Themas aufdrängen,
gerade die interessantesten sind.
Ich werde also von den Theorien des Traumes reden; aber die Leser
mögen aus den oben angeführten Gründen nur eine kurze Abhandlung
erwarten. Die Literatur über den Traum ist sehr reichhaltig, und sie
können jederzeit ihre Wißbegierde leicht befriedigen, wenn sie irgend-
eines der in meinem alten Ruch oder die in der vorliegenden Mono-
graphie angeführten Werke zu Rate ziehen.
^ Vgl. 88, 89. Ich mache die Leser darauf aufmerksam, daß ich in diesem Kapitel
fast gar nichts von dem wieder vorbringen werde, was sich in meinem Buche
vom Jahre 1899 — 1901 und den ansclilipßenden Aufsätzen findet, so daß das Kapitel
fast gänzlich neu ist.
2 So bee. Ersch und Gruber, Allgemeine Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste,
Leipzig, i8i8,ff., unter den Stichworten ,, Traum", ,, Schlaf" usw.
' Elements of the philosophy of the human mind, Eldinburgh, 1792 — 1827.
296 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
A. ÄLTERE UND NEUERE THEORIEN
Vor allem haben vnr die Theorien zu betrachten, welche die Bedeutung
des Traumes leugnen oder abschätzig behandeln; dies sind präjudizierte
Tlieorien, wie man mit einem juristischen Ausdrucke sagen könnte. Es
»ibt deren mehrere. Für einige ist der Traum nichts als eine im wachen
Zustande stattfindende Rekonstruktion aus Empfindungen und zusammen-
hanglosen Erinnerungen, die im Schlaf erlebt wurden. Dementsprechend
wären die Traumbilder von mechanischer, zufälliger Bildung, der Träumer
selbst wäre es, der nach dem Er>vachen, je nach seinen Tendenzen xmd
augenblicklichen Dispositionen, ihnen einen Zusammenhang und eine Be-
deutung verliehe. Foucault (2 5) (auch Jankelevitch) stehen dieser An-
schauung nahe. Ähnlich ist die Meinung derjenigen, welche den Traum
für nichts anderes halten als ein sehr schnelles Spiel der Phantasie im
Augenblicke des Erwachens.
Diesen Meinungen steht das Ergebnis der Beobachtungen an Schlafen-
den entgegen, die sprechen und den eigenen Traum mit Gebärden be-
gleiten ; jenen Meinungen entg^;en stehen auch die durch Erwachen unter-
brochenen und dann fortgesetzten Träume usw. Es ist nicht verständ-
lich, wie Bergson in seiner berühmten Rede von 1901 die oben erwähnte
Meinung aufrechterhalten konnte.
Andere wieder haben ausschließlicli die physiologische Seite des Traumes
in Betracht gezogen und Theorien vorgebracht, deren Schwäche oder
auch Nutzlosigkeit selbst dem oberflächlichen Beobachter in die Augeo
springt. Nur ein Beispiel: die Kurzschluß-Theorie von H. Henning (35).
Der Verfasser wendet sich gegen Freud, aber er hat sehr unrecht, dem
Traume jedwede Bedeutung abzusprechen, indem er ihn zu einem zu-
fälligen, von Kurzschlüssen im Nervensystem hervorgerufenen Phänomen
herabsetzt, davon ganz zu schweigen, daß der Kurzschluß eine Metapher
ist, die letzten Endes nichts erklärt.
Von iieueren Schriftstellern gab bereits S. Freud (27) eine Einteilung
und Übersicht über die berühmtesten Theorien (von Binz, Burdach, Wundt,
Strümpell, Delboeuf, Lipps usw^), und es erscheint mir überflüssig, sie
anzuführen oder zu kommentieren. Es möge genügen, darauf hinzuweisen,
daß dieser Autor berechtigte Einwände gegen diejenigen Theorien vor-
bringt, welche er in wenig genauer Weise „zerebrale" nennt. Viel we^
niger überzeugend sind einige der vielen Einwände, welche er selbst gegen
diejenigen Theorien erhebt, die (wie die Delboeuf sehe) annehmen, daß
die psychische Tätigkeit des Wachseins im Zustande des Traumes fortbe-
stehe, freilich unter anderen Verhältnissen. Scharfsinnig ist dagegen die
Kritik Freuds an den Theorien, welche aus dem Traum eine Art Zustand
der Verrücktheit oder Verwirrtheit und des Schwachsinns machen möchten.
Hier \vill ich nur einiges über die Theorien von Autoren vorbringen,
die ich in dem klassischen Buche S. Freuds nicht finde.
Es gab immer und es gibt noch heute Tlieorien des Traumes von rein
poetischem und hterarischem Wert (auch S. Freud spricht von solchen),
z. B. jene, die man wie folgt zusammenfassen kann: der Traum ist
der freieste Flug der von den Banden des Körpers befreiten Seele. An
ALTERE IND NEIERE THEORIKN DES TRAl.MES 297
(li«» hun<lerl S<*hrifUtollor dor alU'n iirul noiien Zeit Ix'gniigon sicli mit
dit^t^iT billigten IWiauptiing, <iio schon Priszian und 'IVrtullian verkündeten,
und die in der neueren Zeit von vielen Philt>s<»plien, unter ihnen Schelling,
in niaßj?elH^nd<^r \\'eise erhiutert wurde. Kin anderes Beispiel: <ler
Traum ist die hiUlliche Erscheinung und die IJerichlerstattung aus einer
fernen Weit, (he der Geist erkennt, wenn er für kurze Zeit den ini
Schlaf vexfallenen Körper verläßt. Das ist eine Theorie, die sich bis
in das fernste ,\llertum zurückverfolgen läl^t, aber auch mit Wärme von
allen theosophischen Schulen, annähernd auch von dem durch seine
Subliminaltluxme sehr bekannten amerikanischen Schriftsteller Myers
wieder erneuert und aufrechterhalten wurde. Ich sage annähernd, weil
Mvers mehrere Ausnahmen und Abweichungen von der erwähnten Grund-
idee macht.
In den Jahren 1900 und 1901, auch später noch einige Male, hatt©
ich Gelegenheit, mich mit einigen Meistern der Theosophie zu unterhalten
und auseinanderzusetzen (A. Bcsant, Leadbeater, Oakley, Blech), und in
der Folge habe ich die Werke Steiners gelesen. Alle versicherten, daß
während des Schlafes unser „Doppel wesen" entweicht, um in die Astral-
ebene überzutreten, wo es mit anderen zusammentreffen kann, so daß
eine Traumerinnerung so viel bedeuten vmrde, wie daß das physische
Gehirn beim Erwachen weiß, was uns in der Astralebene zugestoßen ist.
Dabei unterscheiden jene Theosophen im Einklänge mit ihrer Philo-
sophie einen automatischen Traum (Tätigkeit des physischen Ge-
hirns) imd einen luziden (Erzeugnis des astralen). Einige aber, die
gebildeteren, identifizieren das „Doppelwesen" mit dem Unterbewußtsein
(Theorie des „Subliminal" von Myers).
Die Theosophen imd Okkultisten sprechen auch von realen Träumen,
welche in den Erfahrungen des höheren Ego oder Seif oder Ich (das
höhere Marias der Inder) bestünde; aber sie erklärten, daß es sich nicht
um Träume handelt, sondern um echte und eigentliche ,, Visionen" ^. In
der Tat ist für die Okkultisten der Traum eine Bewegung oder ein Zu-
stand der Phantasietatigkeit des primitiven Bewußtseins; er weicht von
ihr nur insofern ab, als sie durch die Gegenwart des weiterentwickelten
Ich abgeändert wird. So Steiner (io3), welcher der gebildetste und
ernsteste von allen zeitgenössischen Theosophen ist. Jedenfalls kann,
da die Tätigkeit des Ich unbewußt ist, keine Traumerfahrung die Kennt-
nis einer übersinnlichen Welt vermitteln. Vielmehr treten die Spuren
der Phantasietätigkeit des primitiven Bewußtseins nicht eher in Aktion,
bevor das Ich nicht ausgeschaltet ist. Hieraus schließt Steiner, daß die
Träume keine okkultistische Bedeutung haben.
Wir werden die Vorläufer der modernen Theosophen bei den alten
Griechen finden, besonders in Pythagoras und den Pythagoräern. Nach
jenem Philosophen ist die Luft voller Geister, und von diesen werden
den Menschen die Träume und die Vorahnungen von Krankheit und Ge-
sundheit zugesandt. Hier wird die Transzendenz des Traumes unzwei-
^ Beireffend die theosophischen Theorien vgl. Blavatsky (9) und C. W. Leadbeater (46).
298 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TUVUMES
deutig ausgesprochen. Übrigens war bei den Antiken die Mehrzahl der
Meinung, daß der Traum den Menschen von außen her gegeben würde.
Heraklit, welcher glaubte, daß die Vernunft nicht im Menschen, son-
dern in seiner Umwelt (jtepiexov) liege und mittels der Atmung durch
die Poren und die Sinne in jeden Menschen eindringe, sagte: da während
des Schlafes die Wege der Sinne fast verstopft seien, sei unser Greist
von den Verbindungen mit der Umwelt abgeschnitten und mit ihr nur
durch das Mittel der Atmung gleichsam wie durch eine gemeinsame
Wurzel verbunden; in solcher Weise abgetrennt, verliere der Geist die
Gedächtniskraft, die er vorher besessen habe. Wenn nun der Geist
beim Erwachen von neuem vor die Sinne, vor seine Fenster, tritt, ver-
einige er sich dadurch mit der Umwelt und werde von neuem mit Er-
kenntniskraft ausgerüstet. Demgemäß bemerkt Sextus Empiricus, daß
wir nach Heraklit nur im Wachsein vernünftig (voepoi) im Schlafe da-
gegen erinnerungslos seien (XrjQ'aioi). So wie sich die Kohlen durch die
Veränderung ihrer Natur entzünden, wenn sie an das Feuer herange-
bracht, und verlöschen, wenn sie vom Feuer hinweggenommen werden,
so ist derjenige Teil der Umwelt, welcher in unseren Körpern beherbergt
wird, vernunftlos, soweit er abgetrennt ist, gleicht sich aber dem Ganzen
an, soweit er mit dem Ganzen durch eine sehr große Zahl von Wegen
in Verbindung steht.
Demokrit nähert sich mehr den modernen Anschauungen, aber auch
er sagt sich nicht von der Annahme eines entscheidenden, von außen her
konmienden Einflusses los. Er glaubt in der Tat, daß sich die „Bilder"
(eibcoXa) von den äußeren Körpern ablösen, in uns eindringen, und daß
so in uns die Empfindung imd die geistige Tätigkeit hervorgebracht
werden. Weil nun die Bewegung der Bilder auch während des Schlafes
andauert, so entstehen auf diese Weise die Träume.
Die Theorien der indischen Philosopliie, z. B. die der Synkretisten
Pracastapäda und Kegava-Micra ^, entbehren nicht des Interesses; etwas
Gemeinschaftliches mit unserem Gedanken bietet insbesondere der Be-
griff des Schlafes, der im Texte zwei verschiedene Namen führt, näm-
lich: Niclra und Sushupti, wobei unter dem zweiten Worte der
tiefe Schlaf ohne Traum verstanden wird.
Mit Aristoteles 2 beginnt sozusagen die moderne Betrachtungsweise des
Traumes. Wie so viele andere Lehren des Aristoteles, so ist auch seine
Lehre vom Traum erstaunlich modern. Für den großen Philosophen
ist der Traum im wesentlichen ein Werk der Einbildungskraft bzw. des
Empfindungsvermögens. Aristoteles entwarf auch eine ,,Individuar"-
Psychologie des Traumes, und seine Beobachtungen sind zutreffend.
Er bekämpfte den Gedanken des Eingreifens der Götter und der Genien
in die Träume (wobei er gleichwohl die Möglichkeit gottgesandter Träume
^ Wiedergegeben \on Luigi Sauli (97). Die Theorie des Schlafes und des Traumes,
die in diesem Buche entwickelt wird, ist mit denjenigen des Vedänta und das
Sämkhya verknüpft.
^ In den Parva naturalia, besonders in dem Abschnitt de insomniis findet sich die
Lehre des Aristoteles über die Träume recht klar dargestellt.
Äl.TF.RK r.ND NKl ERi: TUKORILN DES TIUIMKS 299
zugab) lind verwarf auch das Wahrsagen aus Träumen und die prophe-
tischen Träume'.
Cicero behandelU^ meisterhatl (1;ls l'roblem der Träume und VValir-
sagnngon. Seiner Anschauung, die übrigens die gleiche war wie die
der Philostiphen des Altertums, schlössen sich alle fast ohne Wider-
spruch an. \):i> gilt auch für Petrarca, der seinem Freunde Giovanni
d' Andna aus Bologna auf die Frage nach seiner Meinung über dio
Träume folgendes schrieb-: „Affe che a chi conoxce le dottrine degli
antichi non puö rispanuiarsi V acctisa di curioxitä se chiede ancora la mia...
Sappi che come in molte nitre coxe, cosi pure in questa io la penso
€4il mio M. TuIIio." (,, Wahrhaftig, wer die Lehren der Alten kennt,
dem kann der Vorwurf der Neugierde nicht erspart werden, wenn er
auch noch meine fordert . . . Wisse, daß ich, wie in vielen anderen
Fragen, gerade auch in dieser so wie mein M. Tullius denke.") Und
ganz in Übereinstimmung mit Cicero leugnet Petrarca in jenem Brief
alles Übernatürliche selbst in einem wirklich außerordentlichen, tele-
pathischen Traume (wie tnan heutzutage sagen würde), den er hatte, und
von dem er eine so natürliche und wissenschaftliche Erklärung gibt, daß
wir weiter unten darauf zuriickkommen werden müssen.
Die gute Hälfte der sog. Theorien des Traumes, welche die neuzeit-
lichen Autoren von wissenschaftlicher Bedeutung am Schluß ihrer Mono-
graphien über den Traum aufstellen, sind nur Varianten eines einzigen
Grundgedankens, nämlich, daß der Traum die Geschichte des Träumen-
den ist, oft ihm selbst unbewußt; eine Geschichte, welche sich mittels
d^-s Mechanismus der Ideenassoziationen in einem der Gedankenfreiheit
günstigen Moment abspielt, wenn sich nämlich der Organismus im Schlafe
befindet, durch die Gegenwart fast ungestört und nicht im Besitze
der höheren geistigen Fähigkeiten, wie z. B. des Willens.
Man könnte sagen, daß die Gelehrten, überdrüssig, bei den Alten zu
lesen, daß der Traum die Zukunft sei (Warnungen, Ein>virkung fremder
Kräfte auf den Schlafenden), sich vorgenommen hätten, zu beweisen, daß
er im Gegenteil die Vergangenheit darstelle. Nun aber haben sich, wie
wir berichteten, die Gelehrten neuerer Zeit bemüht, zu beweisen, daß der
Traum vielmehr die aktuelle Gegenwart des Träumers, d. h. ein auto-
matisches Erzeugnis des Zustandes der Sinnes- und der inneren Organe
sei (Vaschide et Pieron [ii5] und alle, die sich mit den Träumen der
gewöhnlichen Kranken und der Irren beschäftigen) und aus der Lage
^ Im Mittelalter folgt Thomas v. Aquino. rler christliche Übermitller fler Aristo-
telischen Philosophie, dem Meister und somit ist auch für ihn die (aktuelle) passio
sensus externi beim Traume .nicht von Wichtigkeit, vielmehr definiert er diesen
als apparitio simulacrorum in somno. EHe Behandlung des Gi^gpustandes boi
Thomas ist meisterhaft, besonders in den Erklärungen, warum im Traume die Bilder
die vorherrschende Rolle spielen, femer woher es komme, daß zuweilen der Schlafende-
sich dessen bewußt sei, daß er träume u. a. m.
2 I>elle cose familiari, V. Buch, 7. Brief vom 37. XII. i343 aus Parma, mitgeteilt
von Ronchini, La dimora di Petrarca in Parma, Modena, 187A. Ich sagte schon einiepes
über diesen Brief des Dichters in meinem Buche von 1899. ^&^- ^- 382.
DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
300
der Körperorgane während des Schlafes und im allgemeinen aus orga-
nischen Empfindungen hervorgehe i.
Mit mehr oder weniger persönlichen, mehr oder weniger beachtens-
werten Theorien ist die Literatur des Traumes angefüllt; im allgemeinen
wollen jedoch die Autoren mit ihrer Theorie des Traumes die eigenen
philosophischen Anschauungen zur Geltung bringen, oder sie versuchen,
aus einer oder wenigen persönlichen Beobachtungen weitgehende Schlüsse
zu ziehen, und verfallen somit in den Fehler der Verallgemeinerung, die
unter den Gelehrten, insbesondere wenn sie die induktive Methode mit
geringer Vorsicht handhaben, so weit verbreitet ist.
Den negativen Theorien, von welchen wir im Anfange gesprochen
haben, folgten andere verwandte Theorien, die in Wirklichkeit nichts
erklären. Viel Glück hatte vor 5o oder 70 Jahren die pathologische
Theorie. Beachtung wurde ihr durch Moreau de Tours (60) zuteil, der
dartun zu können glaubte, daß der Traum nichts anderes als eine geistige
Störung sei. EHese Theorie erhielt sich, allerdings unter gewissen Ab-
schwächungen, bis in die neueste Zeit hinein; die Irrenärzte bestanden
auf der Analogie zvdschen Traum und Wahnsinn, füllten aber die Lücken
mit keiner ernst zu nehmenden Theorie aus. Mit Recht wurde die patho-
logische Theorie von Freud, von N. Vaschide und R. Meoinier (ii4)
bekämpft. Gleichwohl kehren von Zeit zu Zeit die pathologischen Theo-
rien wieder; neuerdings tauchten sie unter dem Namen „toxische Theorien"
auf (57).
Andere lassen den Traum in einer Lähmung der Aufmerksamkeit oder
des Willens bestehen usw. ; aber auch hier liegt die Einseitigkeit auf
der Hand. Schwerlich können diese Auffassungen auf die Bezeichnung
oder den Rang von Theorien Anspruch erheben. Indessen gibt es deren
andere, und zwar bedeutendere.
Vaschide (ii3) behauptet, daß der Traum das Reich der Emotiyitat
und die „Vergeistigung" der Bilder genannt werden könne, d. h. daß
sich das Traumbild, das stets emotiv sei, aus einer abstrakten Synthese
von tausend im Wachbewußtsein getrennten und dissoziierten Vorgängen
zusammensetze. Abstraktion und Emotivität seien die Merkmale des
Traumcss . Diese Anschauung krankt einerseits an Unbestimmtheit, ander-
seits an Einseitigkeit. Wenn die Theorie von Vaschide (und von R. Meu-
nier) in der mißbrauchten Phrase zusammengefaßt werden soll, daß
der Traum von der Logik des Gefühls regiert wird, dann verliert sie
jedwede Originalität, weil man ja, wie schon gesagt wurde, S. Freud
die allgemeine Verbreitung dieser Anschauung verdankt.
^ übrigens glauben selbstverständlich diejenigen eher im Rechte zu sein, welche
zwischen Wahrnehmungsträumen {presentation dreams) und Vorstellungsträumen {repre-
sentation dreams der Mary Calkins, Havelock Ellis u. a.) oder, wie sich viele
Psychologen, z. B. Wundt, auszudrücken vorziehen, zwischen Illusions- und Halluzi-
natjonsträumen unterscheiden und daraus den Schluß ziehen, daß der Traum igledcbi-
zeitig der Zeuge für die Vergangenheit und die Gegenwart des Träumers sei; und noch
mehr diejenigen, welche zwar der bequemeren Analyse wegen die genannte Unter-
scheidung annehmen, im übrigen aber mit A. Maury behaupten, daß die Träume
ftcts Vorslellungsträume seien, indem die aktuellen Empfindungen stets vom Träumer
entstellt und umgeformt werden.
vl.lKfU: l NT) NKIEKKTUKOKIEN DK-J TRAUMES 301
Ich wende micli nunmehr einer Abhandlung G. L. IXiprals (20)
zu, die ich in mancher Hinsicht für bedeutsam halte. Für diesen Psycho-
logen ist der Traum ein Zustand geistiger Regression. Eis gibt leichte
Grade der Regression, wie den llalbschlaf, die hypnagogischen Zu-
stände, in welchen der Symbolismus der Sprache noch bewahrt Ist, ob-
gleich Zusammenhanglosigkeit vorherrscht; aber es gibt auch extreme
Zustände der Regression (im tiefen Schlafe). Somit erscheint der Schlaf
als Folge einer Rückbildung des normalen Ich. Die geistige Tätigkeit
im Traimi ist also, kurz gesagt, eine primitive, d. h. auf vor-
logischer Stufe stehende geistige Tätigkeit. Hieraus folgt, daß der
Träumer, auf sein ursprüngliches Ich zurückgeführt, zu dem primi-
tiven \erfahren der bildlichen Darstellung (imagerie) greift, um eine
geistige Arbeil zu verrichten, für die im Wachen geeignetere und
ökonomischere Mittel zur Verfü^ng stehen. In einem gewissen Sinn
ist der Traum der in Empfindungen übergeführte Gedanke; und Träumen
heißt, an Stelle der Wortbilder die Tatsachen, welche das Wort synthetisch
ausdrücken sollte, selbst setzen.
Die Theorie von Duprat steht nicht im Einklänge mit den langen und
mühsamen Beobachtungen über die Träume der großen Masse der Träu-
menden. Daß es in gewissen Träumen eine psychische Tätigkeit von
vorlogischem Typus gibt, ist gewiß, aber darin liegt nicht das Charak-
teristische des Traumes. Ich werde darauf weiter unten Im gleichen
Kapitel zurückkommen.
Auch Morton Prince (70) hat eine Theorie des Traumes aufgestellt,
welche aus seinen psychopathologischen Beobachtungen entstanden ist,
besonders aus Beobachtungen an der berühmten Miß Beauchamp.
Ich wollte einige der zahlreichen neueren Theorien streifen, um die
Änderung in der Richtung zu zeigen, welche sich in diesen letzten Jahren
in der Traumlehre vollzogen hat. Die von physiologischen Gesichtspunkten
und Begriffen aus gebildeten Theorien sind nach und nach durch rein
psychologische Theorien abgelöst worden, welche auf Grund der Itegriffe
des Unterbewußten und des Unbewußten gebildet wTirden und zum Teil
eine Auferstehung der Theorien Schuberts, Scherners und Volkelts be-
deuten.
Eine Ausnahme bildet die Theorie von E. Rignano, welche ich in dem
I. Kapitel 1 erwähnt habe. Der Autor setzt voraus, daß die beiden
Arten von affektiver Tätigkeit während des Wachens unausgesetzt wirksam
sind; da also die Erholung derselben zu dieser Zeit nicht stattfinden kann,
so vollzieht sie sich während des Schlafes. Aus diesen Voraussetzungen
^ E. Rignano hat seine Ideen in seinem bereits zitierten großen Werke zusammen-
gefaßt und sie dadurch der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht (gleichzeitig auch
in französischer Sprache erschienen). Der Autor unterscheidet eine primäre und
eine sekundäre Affektivität. Die primäre bestünde aus Interessen, die sekundäre aus
dem Wunsche, keine Fehler _?u machen, aus der Furcht, nicht in der wirksamsten
Weise zu handeln usw. ; während die primäre Affektivität zur Tat treibt, wird sie von
der sekundären gehemmt, welche auf diese Weise den Zustand der Aufmerksamkeit
henorruft, mit dessen Hilfe die Tat selbst vollbracht wird vmd von dem ihre größere
oder geringere Wirksamkeit abhängt.
302 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR-\UMES
ist CS Rignano ein leichtes, zu folgern, daß eines der ursprünglichsten und
hervorstechendsten Merkmale des Traumes die Eigenschaft sei, anaffektiv
zu sein. Der Verfasser drückt sich folgendermaßen aus: „/ sognl sono il
resultato di im assopimento affettivo, non accompacjnato da un corrinpon-
denfe asxopimento inteMettivo ; e, in altre parole, essi sono un' anarchia
ideatica per essere remito a cesmre ogni gorerno affettivo." („Die
Träume sind das Resultat des Einschlummerns der Affekte ohne entspre-
chendes Einschlunmiern der Gedankenwelt; in anderen Worten: es
!)errschl in ihnen Anarcliie der Ideen, da jede affektive Leitung auf-
gehört hat.")
B. DIE THEORIE EREUDS UND SEINER SCHULE
Den genialen Anstoß zu der früher erwähnten Auferstehung hat, \>ie
schon wiederholt in den vorhergehenden Kapiteln ausgesprochen wurde,
Sigmund Freud gegeben, so daß eine Besprechung der Lehre Freuds
mit einer Besprechung aller seiner Vorläufer und Epigonen gleich-
bedeiitend ist. Übrigens beabsichtige ich nicht, in diesem Kapitel das
bereits in den anderen Gresagte zu wiederholen, zumal ja die Freudsche
Traumtlieorie sehr bekannt ist ^, sondern vielmehr auf einige Teile der
Freudschen Traumtheorie einzugehen, welche mir am meisten anfechti.ar
erscheinen.
Die duich die äußerst interessanten Untersuchungen, und mehr noch
durch die kühnen Deutungen und Theorien Freuds und seiner .Vnhänger
eingeleitete Bewegung war und ist vielleicht noch jetzt eine der um-
fassendsten, welche Psychologie und Geistes^^issenschaft in der Kultur
der Gegenwart zu verzeichnen haben.
Wie schon gesagt (Kapitel II), ist für Freud der Traum weder ein
physiologischer automatischer Vorgang noch ein Gemenge von zufälligen
Assoziationen oder von körperlichen Empfindungen während des Schlafes,
wofüj' er zu allen Zeiten von vielen gehalten Avurde, und wofür er noch
jetzt bei mehreren Gelehrten gilt. Er ist ein selbständiges und sinnvolles
Erzeugnis der geistigen Tätigkeit. Die Empfindungen sind nicht Ursache
des Traumes, sondern sie Liefern nur das Material für die psychische
Arbeit. Der Traum ist, wie jedes komplizierte psychische Produkt, ein
Werk, welches seine Motive, seine vorhergehenden assoziativen Verket-
tungen hat und wie eine wohlüberlegte Handlung von einer Logik geleitet
wird; er ergibt sich aus dem Wettkampf und dem Sieg einer Tendenz
des Individuums über eine andere. Der Mangel an Zusammenhang und
die Dunkelheit der Träume ist nur scheinbar; jeder Traum hat einen
bedeutungsvollen „latenten Inhalt", weil er mit dem ganzen Leben des In-
1 Ich könnte wahrhaftig die Darslellung der S. Freudschen Traumtheorie ohne weiteres
überspringen, so bekannt ist sie heutzutage in den Ländern der deutschen, wie in
denjenigen der englischen und französischen Sprache. Auch in Italien fand sie
kritische Darsteller und Kommentatoren: .Assaggioli, Ferrari, Levi-Biancliiiii, Patini,
Sciuti, außer dem Verfasser der vorliegenden Monographie. Siehe insbesondere unter
den neuesten Veröffentlichungen die Artikel und Referate von R, Assaggioli (3), S. De
SancÜs (92). Aber Freud selbst (28) hat ein neues Büchlein geschrieben, welches ein
Auszug des größeren Werkes (27) ist.
nii: TUKoHiK frkids indskineh sciui.e 303
(lividuuins \crknri{)ft ist. IXt Traiiin wärt' doinnach in seinem ..mani-
IVsten Iiiliallo" nur die unlM'wiiljIc rhcrtraf^iin;,'' psychischer I^reii^Tiiss:',
die sich im l nbewuliten absjiiclcn, d. h. latenter Vorstellungx'n und
Getianken.
\her warum bop«'f?net uns im scheinbaren Traume der „Traump'edank ■'"
in symb<^»hscher I>inkloi<hing? Der Grund he^l in einem metaphorisch
als „Zensur" be/eichneten Vorpanj^e, der die l'^inkleidung besorgt: und
der Vorgang ist dem l mstiinde zu verdanken, dali die Gedanken (dev
latente Inhalt) durch große Widerstände verhindert werden, ins Be-
wußtsein einzutreten ; ja, die individuellen InterCvSsen des Träumenden
gestatten kaum, daß sie sich mittels Symbolen kundgeben.
Um den Begriff der latenten Gedanken noch weiter zu klären,
will ich die Freudsche Theorie in folgende Formel zusammenfassen:
Der Traum ist die maskierte Erfüllung eines im frühen
Kindesalter verdrängten unbewußten Wunsches sexu-
eller Natur (Verdrängung oder refoulenicnt). Diese Formel enthält
Vltes und Neues, Wahres und Falsches; jedenfalls liegen in ihr die Keime
zu endlosen und leidenschaftlichen Kritiken und Auseinandersetzungen.
Indessen lege ich Wert auf die Feststellung, daß man durch die Auf-
stellung des Gnmdbegriffes des latenten Inhaltes dazu neigt, den Be-
griff des manifesten Inhaltes zu unterschätzen, mit dem sich die
Psychologie bis jetzt fast ausschließlich beschäftigt hat. Eine solche
Lnterschätzung wäre jedoch ein arger Mißgriff: der manifeste Inhalt
ist die Tatsache; er bestimmt das Verhalten des Träumenden, und.
deshalb muß man ihm einen inneren Wert ersten Ranges zusprechen.
Der latente Inhalt, mit welchem sich die Freudsche oder psychoanalytische
Methode ausschließlich beschäftigt, hat gleichwohl l)eträchtlichen Wert
(vorausgesetzt, daß es uns gelingt, ihn mittels wissenschaftlicher Methode
zu bestätigen), besonders in der Psychopathologie, in der Psychotherapie
und zur Erklärung der Bedeutung des Traumes.
Im Mittelpunkte der Diskussion stand und steht der (bewußte oder
unbewußte?) Wunsch ^ seine sexuelle Natur, die willkürliche oder un-
willkürliche Verdrängung, sein infantiler Ursprung usw. Und natürlich
erweitert sich die Diskussion, wenn man auf die von Freud angewandte
Methode der Untersuchung und die Erklärung eingeht, und wenn man
seine Lehre vom Unbewußten prüft, welche die theoretische Grundlage
der Psychoanalyse als Methode wie als Theorie bildet. Die Psychoanalyse
hat eben die Aufgabe, die den manifesten Inhalt bildenden Teile, ohne
jede Rücksicht auf die manifeste Bedeutung, in ihre Elemente zu zer-
1 Freud behauptet, daß ein bewußter Wunsch nur dann zum Traumerreger wird, wenn
es ihm gi^'lingl. einen gleichlautenden unbewußten und zwar infantilen Wunsch zu
wecken, durcli den er verstärkt wird. Man weiß übrigens, daß der Freudsclie Gedanke
nach und nach so maiiche Abänderung erfuhr. Nacli Freud stammt der Wunsch im
latenten Inhalte des Traumes der Erwaclisenen aus dem Unbewußten, während jener
Iwi den Kindom aus dem wr.chen Zustande stammt, weil beim Kinde noch nicht
die Zensur zwischen Vorl>ewußtem und LInbewußlem besteht. Man vergleich© den
Beilrag von T. H. Pear zur Kritik der Freudschen Theorie über den infantilen
Wunschtraum.
304 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
spähen, und sie hat die andere Aufgabe, den Assoziationen zu folgen, die
sich aus jedem dieser Elemente entwickeln. Auf diese Weise dringt man
in die Ide<! oder den Gedanken (latenten Inhalt) des Traumes ein, d. h.
in die Sphäre der unbefriedigten Wünsche, welche gerade im Traum
ihre halluzinatorische Erfüllung finden.
Es wäre noch zu untersuchen, ob die Methode der freien /Vssoziationen,
im rückläufigen Sinn angewandt, geeignet ist, den Psychoanalytiker
bis in das Greheinmis der Ursprünge einzuführen. Sicher gelangt man
nicht immer so weit, wenn man nicht etwa um jeden Preis so weit ge-
langen will.
Die Freudsche Lehre wimmelt von philosophischen Begriffen. Unter
ihnen herrscht z. B. die Finalität des Traumes vor. Nach Freud hätte
der Traum eine Funktion der Verteidigung oder auch der Beschützung
des Schlafes. Der Schlaf würde eben gegen die im Wachzustand unbe-
friedigt geblid)enen psychischen Komponenten, d. h. gegen die unbe-
wußten Wünsche, verteidigt werden, welche den Schlafenden in dem
MafSe beunruhigen, daß, wenn ein Kampf zwischen Zensur und Traum-
gedanken entsteht, „der Fluß aus den Ufern tritt" und den Schlafenden
weckt. Aus dieser Quelle stammen die Angstträume. Diese Anschauung
Freuds wurde von mehreren aufgenommen. Einige schlössen sich ihr
einfach an i, während andere sie erörterten, weiterentwickelten oder be-
richtigten.
Zu den (eigentlich wenig disziplinierten) Schülern Freuds zählt Jung 2,
der einige Gedanken des Meisters, besonders über die ,, Libido" (sexuelle
Natur der verdrängten Gedanken), modifiziert, vor allen Dingen aber die
Dynamik des Traumes, im Freudschen Sinne, mit Feinheit erläutert hat.
Jeder unserer geistigen Zustände hängt von unserer Geschichte ab. In
unserer Vergangenheit gibt es Elemente von verschiedenem Werte, welche
die psychische Konstellation (ich glaube, daß das Wort von Ziehen
stammt) bestimmen. Die großen Leidenschaften und die Haupterlebnisse
bilden starke und dauerhafte Komplexe (Jung und Bleuler) von
Assoziationen. Der Komplex entfaltet eine große ,,konstellierende'
Kraft, und die Erzeugnisse der psychischen Tätigkeit hängen vor allem
von den stärksten „konstellierenden" Einflüssen ab.
Jung sagt, daß in den Komplexen mit starkem emotionel-
len Koeffizienten inrnier Wünsche und Widerstände eine RoUa
spielen. Das ganze Leben zielt auf eine Verwirklichung unserer Be-
strebungen ab, und diese Verwirklichimg tritt im Traum ein. Nur daß
die Wünsche, welche die Gedanken des Traumes bilden (Freuds latenter
Inhalt), uneingestandene, verdrängte, von der Überlegung wegen ihrer
Peinlichkeit ausgeschlossene Wünsche sind, die im Traume mannig-
fach verkleidet (Freuds manifester Inhalt), also in symbolischem
Gewände, wieder auferstehen. Der Träumer kennt den latenten Inhalt
1 Michele Sciuti (98) bemerkt kurz, daß, wie der Schlaf den Organismus, so auch
der Traum den Schlaf beschützt.
- Jung (38) gab ein© treffliche Zusammenfassung seiner Ideen in seinem Aufsatze
über die Aiialyse der Träume.
Din TUKOUIK FHKl PS IM) SRI.NEU SCHULE 305
solnes 'Irauni«"« nicht, da die Iloimuiin«^ (Zensur Freuds) dein (j<'dankcn
das Aultrolen nur in synibolischoin (lewande gestattet. Hieraus lolgt, dali
es nötig ist, den geheimen und wirklichen Gedanken <lc8 Traumes mittels
der Assoziationen (Jung), durch Nachforschungen über das Leben des
Träumenden, d. h. mittels der psychoanalytischen Methode Freuds', auf-
zudecken, um die Theorien Freuds zu bestätigen und zu beweisen.
Ein anderer, teilweise von ihm unabiiängiger Ausleger der Lehre
Freuds ist Adler (i) in Wien. Dieser hält den Traum, wie alle psychi-
schen Erscheinungen, für das Erzeugnis der gesamten Kräfte des Träu-
menden. Er ist ein Schwingen unserer Gedanken in der vom Charakter
eingeschlagenen llichtung. Im Traume wird der unbewußte Zweck offen-
bar; der Wille triumpliiert, während er im Wachsein durch die bewußten
Inhalte unterdrückt war. Der Traum ist aber voll von Symbolen und
^erschrobenheiten. Die Ursache von so großer Dunkelheit biTuht darauf,
daß der Traum ein Spiel von Kräften widerspiegelt. Der Traum hat eine
prophetische und vorbereitende Funktion, sagt Adler bereits im Jahre
1908. Der Sinn des Traumes, wenn er einmal verstanden ist, enthüllt
gewiß nicht die Zukunft, aber zeigt ihren Weg an. Der Traum ist wie
der Rauch — er zeigt die Richtung des Windes an. Der Traum stellt
die Meilensteine in der Gedankenwelt des Träumers dar, der Gedanken,
welche die Zukunft mittels der persönlichen Erfahrungen des Menschen
zu erkennen versuchen. Der Traum sagt nicht die Handlungen voraus,
sondern reflektiert, wie in einem Spiegel, die Ereignisse und die Ein-
stellungen, welche in enger Beziehung zu unseren Handlungen stehen.
Mäder (5i) geht davon aus, daß die wesentliche Funktion des Traumes
nach Freud darin besteht, den Schlaf zu beschützen, indem der Schlafende,
anstatt durch seine Wünsche oder seine Bedürfnisse aufgeweckt zu
werden, im Schlaf von ihrer Verwirklichung träumt und somit friedlich
schlummert. Indessen hat nach Mäder der Traum zwei Nebenfunktionen,
welche ihn dem Spiel und der Tagträumerei {j'everie) annähern, und zwar
einerseits eine vorbereitende Funktion : sie bereitet die Lösung
moralischer Konflikte vor; sie ist insofern eine vorbereitende Übung,
als die Träume die Tendenzen und Einstellungen verraten, die später
in dem Verhalten imd den Gedanken der Person erscheinen werden.
Er hat ferner eine kathartische Funktion: gewisse Träume dienen
Befürchtungen oder Wünschen zum Ventil, welche mit den Erforder-
nissen des Lebens unvereinbar sind, wie gewisse atavistische Instinkte
im Spiel oder in der Phantasie befriedigt oder erschöpft werden (Kanali-
sation der sozialen Instinkte bei Claparede). Somit stellt der Traum
eine Art Ersatz des kindlichen Spieles dar und erscheint als die Äußerung
einer und derselben Funktion: der Funktion des Spielens.
1 Ich erinnere daran, daß diese Methode im Verhören über die wichtigsten Einzel-
heiten des Traumes besteht, wobei man die Person dazu anhält, sich jeder Kritik (Zensur)
zu entJialten, die willkürliche Aufmerksamkeit aufzugeben und alles zu sagen, was ihr
einfällt (Zustand der Passivität oder hypnoider Zustand). Man muß sie über die
dunkelsten Punkte der 7\nalyse befragen und soll vor den durch „Hemmungen" erzeugten
Redepausen der Person nicht haltmachen, weil ja diese Pausen höchst bezeichnend
sind: Zeichen von Widerstand!
20 Kafka, Vergleicheade Psychologie III.
306 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Von Freud zu Stekel (lo/j) — von den Dolomiten zur Sächsischen
Schweiz, wie Hellpach so treffend sagt (34)- Stekel, der kühne Populari-
sator der Freudschcn Theorie, wandte sie auf die Erklärung der Neurose
und auf die Traumdeutung in so grober Weise an, daß er weder bei
ernsten Psychologen noch bei erfahrenen Ärzten Beifall finden konnte.
Die sexuelle Symbolik des Traumes nach Stekel ist einfach ein schlechter
Witz. Indessen ist Freud selbst von der Symbolik des Traumes, ins-
besondere der erotischen, überzeugt. Er sagt in der Tat, daß die Symbole
(manifester Inhalt) der sexuellen Komplexe bei den Träumern verschie-
dener Sprachen universell sind, was einen ungemein großen Wert für
die Technik der Traumdeutung besitzt. Er gelangt zu dem Schlüsse,
daß wir uns dadurch dem Volksideal einer Übersetzung des Traumes
nähern und uns unsererseits an die hermeneu tische Technik der Völker
des Altertums wieder anschließen.
C. KRITIK DER FREUDSCHEN LEHRE
Es ist nicht meine Absicht, mich weiterhin mit der Kritik aufzuhalten i.
Hier werde ich in aller Kürze nur folgende Punkte der Freudschen Lehre
kritisch behandeln: den Finalismiis des Traumes, das Unbewußte, die
Dynamik des Traumes, den Wunschtraum und den Pansexualismus.
I. Finalismus
Für Freud ist der Traum der Beschützer, der „Wächter" des Schlafes.
Für Adler ein affektiver Regulator, für Mäder hat der Traum außer der
Funktion des Schutzes zwei andere Nebenfunktionen, eine ,, vorbereiten de"
und eine ,,kathartische". Nun aber steht das alles im Einklänge mit
anderen teleologischen Anschauimgen, welche in der Biologie und be-
sonders in der Psychologie und Medizin gang und gäbe sind. Bereits bei
Kant finden wir den Gedanken der beschützenden Funktion des Traumes.
Der Traum sei geradezu ein von der Natur zur Wiedererweckung der zu-
weilen abgestumpften Lebenskraft vorgesehenes Mittel sowie ein Mittel
zur Vermeidung von Gefahren, die unser Leben selbst bedrohen. So
dienen z. B. beim Alpdruck die erschreckenden Bilder dazu, uns zu
heftigen Bewegungen zu veranlassen und dadurch den Kreislauf des
Blutes wieder zu beleben, der sonst Gefahr liefe, ins Stocken zu geraten.
Auch die Theorie der „Katharsis" von Breuer glänzt zwar nicht durch
Neuheit, verstößt aber nicht gegen irgendeinen wissenschaftlichen Grund-
satz. Dieser Theorie begegnet man bereits in der Ästhetik des Aristo-
^ Zahllos sind die von Philosophen und Psychologen an S. Freud und seiner
Lehre geübten Kritiken. Einige sind richtig, andere aber lassen mich sehr gleichgültig,
z. B. die von Regis und Hesnard {']^), welche zeigen will, daß Freud von Bergson,
von Morton Prince (S. 827 ff.) abhängig ist, und daß die Psychoanalyse nur
ein Versuch der Systematisierung der Ergebnisse der französischen psychologischen
Analyse (S. 33i) ist. Es dürfte vm-klich nicht vergessen werden, daß Freud seine
Lehre vor mehr als 20 Jahren aufgestellt hat. Gewiß kamen ihm P. Janet und
Charcot mit ihrer Theorie der „Souvenirs traumatiques" zuvor, aber Freud ist weit
darüber hinausgegangen. Wie dem auch sei, es ist vninderlich, daß jene Verfasser
vergessen haben, daß zu den Vorläufern Freuds Schopenhauer gehörte.
KRITIK DER FREIDSCHEN LKURK 307
(elcs. Da>^ Trauorspiol sucht <hirch I'urrlil und Mitleid die Kallrirsis
jener Affekle zu erreichen. Das Wt^en der tragischen Katharsis bestellt
demnach für Aristoteles nicht in der Ausschaltung (Kenosis) jener I)eiden
Affekle, sondern in der Mäßigung, welche auf sie durch die ästhclischo
Wirkung des Trauerspiels ausgeübt wird. Später hat die Heilkunde der
lMük)sophie Wort und liegritl' der Katharsis entlehnt (kathartische lleil-
niiltel), aber mit Breuer Ix'giiuil man die Katharsis der Philosophie oder
wenigstens der normalen und pathologischen Psychologie zurückzugehen.
Nun ist es aber zweifellos, dali der TekH)iogismas auf dem Felde des
Wissens cum grano salis zu nehmen ist, weil, je nach dem philo-
sophischen Standpunkte des Beobachters, auf dieselben Geschehnisse und
dieselbe Funktion ganz verschiedene finalistische Betrachtungsweisen an-
wendbar sind. So wird für den Physiologen (G. Riebet) der Schmerz
der Beschützer, die Schildwache des Lebens sein, während er für die
religiösen Gemüter als Beschützer des Glaubens auftreten wird, da er
von den irdischen Dingen ablenkt. Wissenschaftlich gesprochen, ist je-
doch die Annahme eines Finalismus des Traumes nichts als eine Hypo-
these, welche nicht einmal auf die Rolle einer Arbeitshypothese An-
spruch erheben kann. Sie ist als ein allgemein-biologischer Gesichtspunkt
zu betrachten, logisch zxilässig, vor allem poetisch und deshalb von an-
regendem Wert, einer jener Gesichtspunkte, in denen sich der Lyrismus
der Männer der Wissenschaft offenbart. Die finalistische Hypothese
ist mithin annehmbar, jedoch mit der Einschränkung, daß sowohl die
immanente These (im strengen philosophischen Sinne verstanden) vvie
die transzendentale These (Traumtheorien der voraristotelischen Zeiten)
die Grenzen der Wissenschaft überschreiten.
Nützlicher scheint mir ein anderer Gesichtspunkt des Freudschen Fi-
nalismus zu sein. Freud hat den Traum auf die Gresetze der allgemeinen
Psychologie zurückgeführt und ihm dadurch eine Bedeutung und einen
Wert gegeben. Dies will besagen, daß auch der Traum, weil er ein
psychischer Vorgang ist, einem Ziele zustrebt. Freud hat den Verlauf
der Überlegung (der affektiven Logik oder Logik der Werte, würde Ribot
sagen) beschreiben wollen, welcher unter dem „konstellierenden" Ein-
flüsse bestimmter unbewußter Elemente vor sich geht. Nun ist ein
solcher psychologischer Finalismus von der Wirklichkeit weniger ent-
fernt (76) und annehmbar, wenn man ihn nur von jedweder philosophi-
schen Idee befreit. Gleichwohl verändert sich die Sachlage, wenn man zu
den einzelnen Äußerungen des angenommenen Finalismus übergeht. Dann
kann die wissenschaftliche Forschung der Logik gegenüber einigen ^Vid?^-
spruch erheben. Nach der Freudschen psychogene tischen Theorie geht
der Finalismus so weit, daß der Tramn unter den Sinnesreizen, welche
auf den Schlafenden einwirken, mit Rücksicht darauf eine Auswahl
trifft, ob sie seinem Zweck gemäß anzunehmen, zu verarbeiten oder aber
zurückzuweisen seien. Hingegen könnte eine ökonomischere, auf die
Erfahrung begründete, aber deswegen noch keineswegs mechanistische
Theorie annehmen, daß der äußere Reiz je nach der Tiefe des Schlafes
aufgenommen oder zurückgewiesen, und daß er je nach der (ideativen
oder affektiven) Verwandtschaft zwischen ihm und den im Augenblicke
20«
308 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
des Traumes sich entwickelnden Vorstellungen mehr oder weniger um-
gestaltet wird.
Die äußeren Assoziationen des Traumes sind nicht wegzuleugnen;
sie bilden eine der Ursachen der scheinbaren Zusammenhanglosigkeit
des Traumes. Zugegeben auch, daß die oberflächliche Assoziation, dio
hauptsächlich durch äußere Reize hervorgerufen wird, vom Traume für
seine angenommenen Zwecke verwendet werde, so scheint mir doch diese
Verwendung sicherlich immer durch den Reiz bedingt zu sein, weil sie
nur nach der Einwirkung des Reizes und dem Eintritte <ler oberfläch-
lichen Assoziation erfolgten könnte. In der Tat zeigen die Ergebnisse
der Versuchs träume bei Kindern und /Erwachsenen, daß der Reiz wirklich
den ganzen Traum hervorrufen, zum mindesten aber I>eeinflussen oder
seine Lösung beschleunigen kann. Im Falle starker Reize fällt diese
Tatsache fast immer in die Augen. Zusammenfassend läßt sich der
Regriff des Finalismus des Traumes in einem sehr allgemeinen Sinn
anerkennen; dennoch kann die finalistische Auffassung nicht als Grund-
lage für die Deutung der einzelnen Träume dienen.
2. Das Unbewußte
Uns interessiert die Vorstellung wenig, welche sich Freud von der
psychischen Tätigkeit im allgemeinen macht. Die psychische Dynamik,
wie sie Freud ^ sich vorstellt, ist eine der so vielen Schema tischen Vor-
stellungen, deren sich die Psychologen bedienen, um der von ihnen bevor-
zugten Erklärung des untersuchten Phänomens freie Bahn zu schaffen.
Der Begriff der psychischen Energie bei Freud bietet schon deshalb der
Kritik sehr viele Angriffspunkte, weil er bereits eine Philosopliie in
sich schließt. Ich verweise bezüglich dieser Frage auf die interessante
Kritik von Kronfeld (/ja) und von Janet^. V^enn ferner Freud behauptet,
daß ein Teil des Unbewußten seiner Natur nach niemals bewußt werden
kann, während hingegen ein anderer Teil, das Vorbewußte, in Be-
ziehung zum Bewnißtsein steht, aber viel weniger inhaltsreich ist als das
Unbewußte, so macht er einen einigermaßen willkürlichen Unterschied.
Der Gelehrte hat Interesse daran, den Zusammenhang mit der Psychologie
und der Wissenschaft zu bewahren; deshalb fahre ich fort, mich des
Ausdrucks ,,U n t e r b e w u ß t s e i n" zu bedienen, unter welchem man
alles dasjenige versteht, was bewußt war, sein wird und werden kann,
während man den Ausdruck „das Unbewußte" auf die übrigen, d. h.
die rein physiologischen Erscheinungen, beschränkt. Weiter wirkt die
„Zensur" (im Sinne Freuds) im Unterbewußtsein, und dieses ist aus
dynamischen, d. h. potentielle und aktuelle Energie besitzenden ideo-
affektiven Konstellationen oder Komplexen zusammengesetzt^.
1 S. Freud (27), Paragraph „Regression".
2 P. Janet (36), Band 2, Seite 2i4 u. ff.
3 Mein Begriff vom Unbewnaßten und Unterbewußte« ist vielen Psychologen ge-
meinsam. Ein Beispiel: Das Unbewußte im Sinne von Ardigö besteht nicht eigentlich
darin, daß es nicht ein Bewußtes ist, sondern nur in der Abnahme der Stärke und!
der Lebendigkeit des Bewußten. Das Fortbestehen des Bewußtseins im Unbewußten
klUTlK DER FREUDSCHEN LEHRE 309
Aber wissen vielleicht die Bioloo^e und die Psychologie. \on welcher
Nahir die Energie ist? Wis8<Mi sie. ob die unterlx'wiiljleii Inhalte, (he irn
Traume befreit hervorbrechen, Oifenbaruiigen einer blinden kraft dar-
stellen, welche in uns wirkt? W issen sie, ob sie nach anderen Gesetzen
hervorbrechen als nach denjenigen, welche den biologischen und psycho-
logischen Haushalt des Träumenden regieren? Ich glaube nicht. Das
sind Probleme, welche das Gebiet der Psychologie und der Wissenschaft
überhaupt überschreiten, wie z. B. das Problem vom Wesen des Ich.
Nur Tatsachen fallen ins Gewicht! Ohne Zweifel sind alle über das
Interbewußte und seine unabhängigen Systembildungen in den Fällen
von Geisteskrankheiten oder Hysterie einig (niemand kann z. B. die Be-
obachtungen von P. Janet anfechten). Hier handelt es sich dagegen um
eine andere Frage, nämlich, ob bei den gesunden Personen die unter-
bewußten psychischen Gruppen systematisiert, unabhängig und tätig sind.
Freud ist dieser Meinung, ebenso Morton Prince (70, 71), der, um diesen
Begriff der Unabhängigkeit und der Verstandestätigkeit der unterbewußten
oder dissoziierten Gruppen auch bei normalen Personen auszudrücken,
das Wort M i tbe wu f5 tsei n (co-consciousness) prägte; dieses Mit-
bewußtsein wäre ein tatsächlicher (dem Be>vußtsein des Incüviduums
freilich nicht bekannter) psychischer Vorgang, für dessen physiologische
Begleiterscheinungen man den Namen (zerebrales) Unbewußtes gebraucht.
In all dem lieg^ sicherlich etwas Wahres. Schon Lipps erklärte im
Jahre 1897, ^^^ ^^^^ °^^ ^^"^ Unterbewußtsein der Psychologie ein sehr
weites Forschungsgebiet eröffnet hat; aber gleichwohl meine ich, daß
im allgemeinen die Rolle des Unterbewußten im normalen Individuum
etwas übertrieben worden ist. Was femer die Intelligenz der unter-
bewußten psychischen Gruppen und ihre psychische Energie betrifft, so
sind dies zwei Begriffe, welche die Erfahrung überschreiten.
Wie dem auch sei, vergessen wir nicht, daß im Traume dem Bewußten
und dem Unterbewußten der jüngeren Schichten wahrscheinlich größere
Energie beizumessen ist als dem Unbewußten. Die Träume, sowohl der
Kinder als der Erwachsenen, erzeugen meistens nicht nur die „imagini
del di guaste e corotte" (Guarini: ,,die verdorbenen und entstellten Bilder
des Tages") wieder, die nach Freud als bloße Elemente des manifesten
Inhaltes gedeutet werden könnten, sondern auch die Bestrebungen, die
\\ ünsche, die bestinunten Bedürfnisse des Tages; d. h. die Gedanken
(latenter Inhalt) des Traumes rühren meistens von Unterbevvußtseins-
schichten neuerer Bildung und von Vorstellungen her, welche im Wach-
sein vorherrschten.
Daß es im Traum eine Symbolik gibt (Metapher, Allegorie usw.),
ist zweifellos; alle Schriftsteller, die sich mit dem Traum beschäftigten.
ist seine, wenn auch abgeschwächte Fortsetzung. ..IVasoostamente iridescenli persistono
indcfinilivamento nell' Inconscio le sensarioni e i complessi rogitativi iina volta costella-
tivisi" (Ardigo). ,,Im \-erborgenen schimmernd bleiben undefinierbare Empfindungen und
Gfdankenkomplexe im Unbewußten bestehen, wenn sie sich einmal dort joisammen-
gruppiert haben." Ich habe diese Stelle des alten italienischen Philosophen zitiert,
aber ich hätte hundert ähnliche zitieren können. Wegen der Bedeutung des Unbe-
wußten und Unterbewußten s. Dwelshauvers, loc. cit.
3,0 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
liatten dies schon vor Freud bemerkt; man irrt nicht, wenn man sagt,
daß die Symbolik den Traum, die Kunst und alle Äußerungen unseres
Lebens einkleidet, es ist aber unwahrscheinlich, daß die Traumsymbole
eher aus den Tiefen des (ererbten, völkischen, mythischen, kindlichen)
Unbewußten als aus dem Wachbewußtsein abzuleiten seien. Das Traum-
bewußtsein ist allerdings ausgedehnter als das Wachbewußt-
sein, weil es ja zugleich das ganze unterbevvTißte psychische System mit-
umfaßl, welches während des Wachens zwar auch besteht, aber wegen
der fortwährenden Einwirkung der Außenwelt durch die Sinnespforten
hindurch und, sagen wir, wegen der willkürlichen oder automatischen
oder halbautomatischen Hemmungen (Freudsche Zensur) nicht so leicht
erregt wird ^ Daß das Traumbewußtsein ausgedehnter ist, wird klar
durch die Beobachtungen über die Hypnose, über die rerene, über die
mystischen Erfahnmgen, über die Halluzinationen und über die soge-
nannten Traumzustände (Onirismen von Regis), von denen in der Psychia-
trie die Rede ist, bewiesen. Aber daß dieses psychische System aus
dem (hypothetisch imd metaphorisch gemeinten) Kampf um die Ver-
mrklichung im Traume zumeist siegreich hervorgehe, dies scheint mir
theoretisch sehr zweifelhaft und in Anbetracht der Ergebnisse der Er-
fahrung sicherlich unwahr.
In der Psychopathologie wenigstens werden Fälle beobachtet, welche
meiner Kritik eine Stütze leihen. Bei allen Kranken, ausgenommen einige
Fälle von Hysterie, beziehen sich die Inhalte, die sich in den chaotischen
Delirien, im Schlafwandeln, in Zuständen, bei denen das Bewußtsein die
Herrschaft verloren hat, offenbaren, auf mehr oder weniger neue Ein-
drücke des Wachseins; man kann sagen, daß das Wiederauftreten von
Inhalten, die Erlebnissen aus der Kindheit angehören, niemals oder fast
niemals beobachtet wird. So bezieht sich in der lethargischen Enzepha-
litis das Deliriimi auf den Beruf; im urämischen Delirium^ in der senilen
und paralytischen Demenz betreffen die Deliriumsinhalte ausschließlich
mehr oder weniger neue, jedenfalls immer dem erwachsenen Alter an-
gehörende Eindrücke.
3. Dynamik des Traumes
Freud bringt sein Schema der psychischen Tätigkeit ungefähr mit
folgenden Worten zur Darstellung: Die Spuren der Wahrnehmungen
bleiben im psychischen Apparate zum großen Teil unbewußt, haben
aber einen großen Einfluß auf das psychische Leben; und wenn sie
im Wachsein bewußt werden, nehmen sie die Eigenschaft der Erinne-
rungen an. Die Gedanken, die im Traum onirische genannt werden
sollen und sich in den Speichern des Unbewußten befinden, werden
^ Wir wiederholen, daß das Unterbewußtsein eines Individuums sowohl diejenigen
Bestandteile enthalfen kann, die nicht gerade im gegebenen Augenblicke in das Feld
des Bewußtseins eintreten, als auch diejenigen, welche überhaupt nur in a u ß 3 r -
gewöhnlichen Augenblicken, und schließlich auch diejenigen, die niemals
in jenes eintreten, aber die Fähigkeit dazu besitzen.
KKink DKU FItKl DSCHKN LKflKK 311
während des Tages durch die Zensur verliindert. /.um Vorbewuliten und
zum Ik'wußten vorzudringen.
Uähreiul <les ScIdalV.s alx'r xcrhäll t« sich anders: nunmehr erreiclien
diu (onirisclienj (icdanktMi das Hewulitsein. .\l)er wie? Gewili nicht
auf dein gewöhnUchen Wege, sonst liätto der Traum nicht halluzina-
torischen Cliarakter, sondern nur den einer normalen Erinnerung; die
Erregung schlägt hingegen einen rückläufigen Weg ein, sie hreiUH
sich nämlich gegen das System der Wahrnehmung hin aus. Hierdurch
hat der Traum regredienten Charakter.
Diese Dynamik ist, um es gleich zu sagen, keine Eigentümlichkeit des
Tiaunies. Auch das willkürliche Wiedererinnern im Wachsein geht
in Wirklichkeit einen retrograden Weg, denn die Erregung läuft vom Un-
bewußten aus nach vorne zu; aber im Wachsein gibt es nur eine normale
Erinnerung, nämlich die Wiederbelebung dos Bildes, ohne Veränderung
des Realitätsinnes, d. h. der erlebnistreuen (,, geschichtlichen") Wahr-
nehmung. Im Traume hingegen kehrt der unbewoißte Gedanke zu seinem
Ursprünge zurück, regredierend wird er förmlich wieder zur Wahrneh-
mung. Nun fragt man sich: erklärt die regressive Dynamik zur Genüge
das Warum der neuen Wirklichkeit, die man im Traum erlebt?
Niemand wird mir bestreiten wollen, daß (abgesehen vom bereits kriti-
sierten Begriffe des Unbewußten) diese Freudsche psychische Dynamik
zu den allergewöhnlichsten Vorstellungen gehört. Freud hatte Geist
genug, einige Worte von Hobbes zu zitieren, die seinem Schema wahrhaftig
jedwede Neuheit nehmen: ,Jn aum" — sagt Hobbes — „our dreams are
the rever.se of our waking imaginations, the motiori, when we are awake,
heginning at one end, and when we dream, at another/' („Nach all dena
sind unsere Träumte die Umkehrung unserer wachen Vorstellungen, indem
die Bewegung, wenn wir wach sind, an dem einen und, wenn wir träumen,
am anderen Ende anfängt.") Es ist aber gar nicht nötig, auf Hobbes
zurückzugreifen, geschweige denn auf Albertus Magnus. Die Theorie
der Halluzinationen ist die gleiche. In Italien hat sie E. Tanzi (107)
seit 1901 entwickelt: es ist die Theorie der Umkehr des nervösen Stromes,
welche Tanzi unter Berufung auf Hypothesen und Beobachtungen von
Ramon y Cajal auch anatomisch erklärte.
Die Schwierigkeit lag anderswo, nämlich darin: warum und wie
solches im Traume (bzw. in der Halluzination) geschehen und den Stem-
pel der Wirklichkeit tragen könne. Nun ist Freud durchaus nicht klar
in seinem Bemühen, die Ursache dieser Umkehr im Traume zu erklären.
Er sagt: ,,So wird man auch für den Traum die Wahrscheinlichkeit
nicht abweisen, daß die Verwandlung von Gedanken in visuelle Bilder
mit die Folge der Anziehung sein möge, welche die nach Neube-
lebung strebende visuell dargestellte Erinnerung auf den nach Ausdruck
ringenden, vom Bewußtsein abgeschnittenen Gedanken ausübt"; und
andererseits erscheint die Regression als die Wirkung eines Widerstandes,
der sich der Ausbreitung des Gedankens auf dem normalen Wege des
Bewoißtwerdens widersetzt. Jedermann wird zugeben, daß dies keine Er-
klärung ist, wir stehen vor dem gewohnten Lyrismus der Gelehrten!
Der Sinn für die Wirklichkeit im Traume steht meines Erachtens nicht
312 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\UMES
in Beziehung zur Regression, sondern zum Zustande des Schlafes. Dieser
ist es, der die „geschichtliche" Wirklichkeit aufhebt und das Auftreten
einer anderen, der Traumwirklichkeit, erleichtert. Wenn der Traum der
Halluzination ähnlich ist, so ist er es eben insofern, als die Krankheit
dem Schlaf ähnlich ist. Das gleiche gilt für die Zensur (die nicht dem
Begriffe, sondern nur dem Worte nach neu ist). Abgesehen von der
Personifikation, die Freud der Zensur zuteil werden läßt, versteht er
offenbar unter ihr einen Widerstand, eine Hemmung. Aber Freud hätte
uns auch darüber aufklären müssen, weshalb die Zensur im Wachsein
so wohlwollend sei, mit großer Leichtigkeit und Häufigkeit in unserem
Geist Ereignisse, Gefühle, Wünsche usw. auftauchen zu lassen, die von
uns aus Gründen der psychischen Verteidigung (weil sie schmerzlich sind)
oder aus moralischen Gründen abgelehnt werden; warum sie hing^en
im Traume so gescheit werde, daß sie den Wünschen, sofern sie ver-
kleidet auftreten, einen bedingten Passierschein ausstellt.
li. Der Wunschtraum
Die Theorie des Wunschtraumes findet man schon in der Philosophie
Schopenhauers. Dem Traum wird in ihr der Wert einer Erscheinimg
der Erscheinung, eines Phänomens des Phänomens zugesprochen; er wäre
geradezu die Erfüllung der ursprünglichen Sehnsucht nach der Erschei-
nung. Aber ein näheres Eingehen auf die Theorien der Philosophen würde
uns zu weit führen. Gehen wir zu den Dichtern über. Petrarca beschließt
(am angeführten Orte) die Analyse zweier seiner Träume, welche etwas
Wunderbares an sich hatten, mit der Erklärung, daß im einen und im
andern „quel che io desiderava e quel che temeva mi venne veduto" (das,
was ich ersehnte, und das, was ich befürchtete, mir zu Gesichte kam . . .).
Die Lehre des ebenso berühmten als absonderlichen, sogar psychopathischen
Mailänder Arztes Geronimo Cardano weicht von den antiken Vor-
bildern ab. Er glaubt an die Träume wie das abergläubische Volk; aber
gleichwohl enthält seine Lehre, weil er darin seit Jahrhunderten ein
Vorläufer des Freudschen Gedankens des Wunschtraumes und der Kathar-
sis war, Bemerkungen, sei es über die beschützende Funktion des Traumes,
sei es in bezug auf die Traumsymbolik, die auch noch für moderne
Psychologen von Interesse sind. Cesare Lombroso (^8), der Darsteller
und Erklärer der Gedanken Cardanos über den Traum, drückt sich wie
folgt aus: bei Cardano tritt ,, jenes Gesetz klar zutage, welches, indem
es den Traum zum überschwenglichen Ausdruck des Wunsches macht,
als Sicherheitsventil dient, durch welches allzu aufregende Leiden-
schaften von ihrer verhängnisvollen Heftigkeit etwas verlieren können,
so daß sozusagen die erschütterte Maschine für einige Zeit ins Gleich-
gewicht gebracht wird . . ." Lombroso stützt in dem zitierten Aufsatze
seine Meinung über den Wunschtraum mit Belegen aus verschiedenen
Schriftstellern, z. B. Baillager, Morel und anderen französischen Irren-
ärzteni.
^ Audi Lombroso sieht, wie melirere seiner Zeitgenossen, im Traume das Wieder-
aufleben des instinktiven und ehemaligen Menschen (UnbewTißtes). Übrigens hatte
KHlTIk DKH FUKIDSCHKN LKHIU. 313
Kurz, es gibt kein Buch üIkt den Traum, in dem nicht von den Traumon
als der goträuniton Krfiillunf: dor mehr <Kler weniger bewußten \\ ünsche
des Träumenden die Heile wäre. Auch die Kunst ist von dickem Ci<xlanken
erfüllt. Sind <leiui in der Tal Mythus, Dichtkunst, Musik nicitt die
Erfüllung der lilx^rmächtigen Wünsche? Also haben >\ir es hier mit
einer alten Theorie zu tun, welche die Leser leicht auch in meinen
fniheron Schriflt^n finden werden. .\ußerdem alx^r habe ich selbst den
Standpunkt vortreten, daß alle Äußerungen der psychischen Tätigkeit,
besonders im Kindheitsalter, Erfüllungen oder Versuche zur Erfüllung
der Wünsche sind. Goethe sagte mit Recht, daß jeder Vater für seine
Kindex dasjenige »-ünscht, was ihm zu erlangen nicht vergönnt gewesen,
so daß die Väter, die für die Kinder arbeiten, eigentlich ihre eigenen
Wünsche erfüllen usw. Also ist das ganze Leben geschaffen, um die
W ünsche des I.,ebenden und des Arbeitenden zu erfüllen ; der Traum
ist eine dex .\nwendungen des Gesetzes von der Wunscherfüllung.
.\ber erschöpft all dies den Traum? Nein. Vor allem müssen wir
— mit Freud — den Begriff des Wunsches auf den Begriff der Be-
fürchtung ausdehnen. Und selbst das genügt noch nicht. Wir müssen
den Begriff ,, Wunsch-Furcht" bis dahin erweitem, daß wir ihn zum
SynonyTn des Bedürfnisses machen Damit >vird uns aber der Traum
wiederum zu dem, wofür er von allen gehalten >Mirde, nämlich zu einer
Befriedigung der Instinkte. Ferner bietet dieser Gedanke nichts dem
Traum Eigentümliches, weil ja auch die Poesie, wie ich vorher erwähnte,
die Erfüllung mehr oder weniger bewoißter Bedürfnisse des Dichters ist;
und die Lebensführung jedes Individuums ist ja ebenfalls die fort-
gesetzte Befriedigung von Instinkten, Bedürfnissen und Wünschen.
Nun lehrt uns aber die Erfahnmg noch anderes. Die Theorie des
Wunsch-Bedürfnis-Traumes enthält sicher noch nicht die ganze
Wahrheit. Der Traum ist nicht nur die Erfüllung bewußter oder unter-
bewoißter Wünsche oder Bedürfnisse. Er stellt die Erfüllung aller
be>\'ußten oder unterbe\A"ußten Gedanken des Wachbewußtseins dar. So
vollendet der Traum die Schöpfungen der Phantasie oder des Verstandes,
die im Wachbewußtsein begonnen wurden, und umkleidet mit Bildern
die Gedanken im eigentlichen Sinne des Wortes, indem er sie vollendet.
Der Traum wie die Dichtkunst erfüllen alles Unerfüllte. In ihm kehren
entfernte Personen wieder, auch wenn sie weder gefürchtet noch herl>ei-
ge\\-ünscht w^u-den; die Toten stehen auf. Der Traum ist der große
Er fü 1 1er.
Das ist kein Wunder, denn die Phantasie des Wachbewußtseins hat
die gleiche Aufgabe! Es gibt keine Schranke und kein Hindernis
für die Phantasie. Sie hat im Traume die gleiche Freiheit, weil das
Hindernis des Schlafes die Wahrnehmung des Wirklichen aufhebt. Die-
selbe Tatsache finden wir im pathologischen Bewußtsein, z. B. in
demjenigen der chronischen Deliranten, bei denen auf Grund der Krank-
Alfred Maury (53), einer der Begründer der modernen Traumpsychologie, schon aus-
gesprochen, daß im Traume der Instinktmensch und die bereits im Unterbewußtsein
begrabenen oder verschleierten Ideen enthüllt werden.
314 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
heit (welche die Rolle des Schlafes spielt) das Verständnis für das
wirklich erfolgte Geschehen gestört ist. Dieselbe Erfüllungstendenz lebt
im Grunde der Hysterie (Wunschhysteri© von Binswanger, Strümpell,
Lewandowsky usw.). Wenn nämlich der Hysterische Willensakte nicht
vollbringen kann, weil der Wunsch oder die Erfüllungstendenz die
psychischen Inhalte nach einer anderen Richtung hindrängt, so geht der
Traum in derselben Weise vor. Im Wachsein ist die gleiche Erfüllungs-
tendenz tätig, sie wird aber durch den Willen gehenmit, Willensakte
auszuführen. Das Individuum will wollen.
Diese Theorie der Erfüllungstendenz ist zwar richtig, wenn auch
etwas spitzfindig, hat aber schließlich wenig Nutzen, weil sie zu allgemein
ist. In der Tat sind die Zwecktheorien auf der Grundlage der Schutz-
und Wunschzwecke in der ganzen Psychopathologie überreichlich vor-
handen. Auch ist die Erfüllungstendenz jedem psychischen Inhalt eigen,
sobald die Hemmungen nachlassen oder aussetzen. Man muß jedoch
vom Allgemeinen — das von allen zugegeben wird — zum Besonderen
hinabsteigen, um festzustellen, wieweit — alle Theorie beiseite — die
Wünsche des Wachseins im Traum erfüllt werden. In den von mir
gesammelten Protokollen finde ich Tatsachen, die beweisen, daß nicht
immer der Traum als die Erfüllung des Wunsches erscheint. Hier
ist ein Beispiel:
Protokoll. Nacht auf den 22. November igiA (87 Jahre alt). ,,Der Doktor sagt mir,
daß ich an psychischer Impotenz leide. Dies währt seit 20 Monaten und ich bin dadurch
etwas beängstigt. Ich suche einmal wöchentlich ein Weib auf, aber ich ejakuliere
stets mit schlaffem Gliede. Diese Nacht hatte ich einen Traum, den ich schon,
zu anderen Malen hatte: ich träumte, bei einem Weibe zu liegen, mir war das Glied
schlaff wie gewöhnlich, aber dies verminderte mir den Genuß nicht. Ich habe auch
diesmal im Traume mit schlaffem Gliede ejakidiert. Ich schreibe dies, weil es den
Prof. Do Sanctis zu interessieren scheint."
Man muß auf Theorien hypothetischer Unterscheidungen und eventuell
auf die Theorie des Kontrastes zurückgreifen, um diesen Traum als
eine Wunscherfüllung zu deuten! Die Wahrheit offenbart sich mit
einer überzeugenden Einfachheit: mein impotenter Patient träumt die
Tagesereignisse wieder und nichts anderes.
• 5. Der Pansexualismus
Schließlich noch ein Wort über die Sexualität im Traume. Ich be-
streite die „pansexualistische" (Bleuler) Theorie nicht aus ethischen,
sondern aus empirischen Gründen. Der Kritik, welche die Psychiater
(wie Aschaffenbiirg [2], P. Janet [36], Ladame [43], Oppenheim,
Kraepelin, Wagner v. Jauregg, L. Bianchi usw.) in diesem Punkt an
Freud geübt haben, stimme ich fast durchgehen ds zu. Selbst Freud und
die ernsteren Freudianer lehnen implizite gewisse übertriebene Anschau-
ungen ab. wenn sie der „Libido" eine zu weite Bedeutung geben wollen
(die Libido bei Freud = auch die zarten und liebevollen Regungen und
Libido bei Jung = elan vitat). Ich muß aber zur Verteidigung der Pan-
KRITIK DEH FHKUDSCHEX LKHIU: 315
sexualisten bemerken, tlal.'» dio allzu allgemeinen Gesichtspunkte ganz
unnütz sind oder höchstens einen rein philosophischen Wert hal>cn '.
Als Beispiel diene die neue Theorie Mc^nakows (öq), welche Anspruch
darauf erhebt, Freuds Lehre von der ,, Libido" zu korrig^ieren, indem sie
eine ursprüngliche ,,Horme als Mutter aller Instinkte" annimmt, deren
Dvnamisierung nicht nur die Hysterie, sondern alle Psychosen hervor-
rufen soll. Viel mehr Wert für das Verständnis der Fälle, auf welche
sie anwendbar ist, hat die Sexualtheorie im engeren Sinne des Wortes.
ISur ist es der Fehler gewisser Freudianer gewesen, in der Verallgemeine-
rung zu weit zu gehen, während die Sexualtheorie, und zwar in sehr
weitgehendem Maß, auf psychopathologischem Gebiete brauchbar er-
scheint und insbesondere auf die weibliche Hystero-Psychasthenie an-
wendbar ist -.
Gegen die infantile Sexualität, die eine der Grundlagen der Freudschen
Theorie bildet, sind von vielen ernste Einwände vorgebracht worden.
V. a. berief sich P. Courbon (i6) auch auf die Psychopathologie, um
gegen die Freudsche Theorie Stellung zu nehmen. Meinerseits muß ich
erklären, daß die Erfahrung fast alle Ansichten dieses Schriftstellers
über das sexuelle Leben des Kindes bestätigt. Ich glaube, daß jedes
Alter seine besondere Intelligenz (Logik) und seine eigene Moral,
ebenso gewiß aber auch sein eigenes sexuelles Leben besitzt. Wie das
Kind in bezug auf die gültige Moral prämoralisch ^ ist, so ist es in
bezug auf die Sexualität des Erwachsenen präsexuell und besitzt
die Bisexualität und die Inzestbegierde, die Freud ihm zuschreibt;
nur daß man auch hier nicht in übertriebener Weise verallgemeinern
darf; wenn sich Auswüchse und Verirrungen auch in der Sexualität
der Kinder finden, so ist sie doch in den meisten Fällen noch kaum
angedeutet.
Durch diese meine Bedenken erhalten die Anschauungen Adlers und
Stekels eine große Wahrscheinlichkeit. Für Adler ist der unbewußte
leitende Gedanke, der am besten die Neurose und die Träume erklärt,
der Gedanke des — von uns allen erstrebten — Zweckes der Herrschaft
und der Überlegenheit (Wille zur Macht). Das Kind neige nicht zum
1 Ich habe niemals verstanden, welchen Wert der Nachweis des Vorhandenseins
sexueller Vorstellungen in allen menschlichen Äußerungen haben könne. An der Tatsache
selbst ist nichts ^vunderbares ; denn ganz ebenso, wie im Traume, kann sich auch in
der Kunst der Sexualkomplex der Persönlichkeit deutlich enthüllen. Man kann
leicht feststellen, daß es ja auch in der Architektur Paläste, Denkmäler, Türen und
Fenster von männlicher, weiblicher oder kindlicher Physiognomie, ja sogar von ge-
schlechtlicher Bedeutung gibt. Im ganzen Leben eines jeden von uns kommen die
gleichen Enthüllungen vor: die Gesten, der Ausdruck der Augen, die Handschrift,
die Stimme — alles enthält derartige Enthüllungen. Aber was soll das bedeuten?
Doch nichts anderes, als daß sich der Instinktmensch auch in seiner Sensibilität und
in seinen geistigen Produkten wiederfindet!
- Ich habe neuerdings wieder Beweise zugunsten dieser Theorie gesammelt; aber
ich lege Wert darauf, sogleich hinzuzufügen, daß in einigen Fällen, auch solchen
von weiblicher Hystero-Psychasthenie, die sexuelle Deutung keine Anwendung findet;
ferner stammt das sexuelle Trauma nicht immer aus dem Kindheitsalter.
^ Ich halie diese Ansicht in mehreren meiner Schriften vertreten. Vgl. mein
neuestes Buch (gS).
316 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TR.\UMES
Inzest, es neige vielmehr dazu, die eigene Mutter zu beherrschend Für
Slekel ist die leitende Tendenz hingegen der Haß. Also merklicher Bruder-
zwist im Hause Habsburg! Übrigens scheint es mir wohl annehmbar,
daß, wie die Liebe, auch der Haß (ihr Gegenteil) und der Hochmut
die Leitung vieler Träume übernehmen können.
Kurz gesagt: die stärksten Instinkte und Tendenzen des Träumers
bestimmen den Traum, Tendenzen, welche im Grund immer die gleichen
sind: imperium, lihido, panis (auri sacra fames); aber sie wech-
seln an Stärke je nach den Rassen, Individuen, Zeiten und Gegenden
und können in den Konflikten des Traumes von anderen höheren
Kräften auch besiegt oder in den Hintergrund gedrängt werden^.
D. THEORIE DES VERFASSERS
Ich Avill das Kapitel damit schließen, daß ich meine eigene theoretische
Auffassung des Traumes darlege. Ich messe diesen Darlegungen keinen
anderen Wert bei als allen anderen Theorien und Hypothesen, die zum
Verständnisse der Tatsachen nicht nötig sind, und die von den Tat-
sachen nicht notwendig und klar bewiesen werden.
Wenn man von den philosophischen und den auf die allgemeinste
Natur und Art der psychischen Tätigkeit bezc^enen Begriffen absieht,
so scheint mir die gegenwärtige Psychologie in der Lage, den Gedanken
Freuds über die Funktionen des Unterbewußtseins im Traume zu korri-
gieren und zu vervollständigen. Ich möchte sagen, daß der Traum ein
psychophysiologischer Vorgang ist, innerhalb dessen der Träumer die
eigenen aktuellen, jüngeren oder älteren Erlebnisse unter dem Antrieb
mächtiger affektiver Zustände in Form von Fabel, Legende und Symbolik
erzählt, als ob es sich um eine „historische" Wirklichkeit handelte.
Wenn aber der Traum ein psychischer Vorgang ist — was ich
niemals bezweifelt habe — , muß angenommen werden, daß er den
Teil eines Ganzen darstellt, das im Leben des Individuums eine Identität
und eine Kontinuität ausmacht; andernfalls wäre er anstatt eines psy-
chischen Vorganges eine bloß zufällige Äußerung der psychischen Tätig-
keit. Jenem Ganzen gab ich seit 1896 die Benennung Traumbe-
w^ußtsein3. Dieses ist kein veränderlicher Automatismus, sondern die
Quelle und die Ursache der psychischen Vorgänge im Traume, welche
deshalb, weil sie das ganze Leben hindurch in einem und demselben
1 Im Folklore findet sich der Gedanke, daß der Instinkt des Willens zur Macht
stärker ist als der geschlechtliche. Wir haben ein Sprichwort, das mir in den Marken
(einer italienischen Provinz) aulgefallen ist: „Bella COSa e lo SCOpä (USare il COlto),
ma piu bella e il comandä (comandare)".
- Vgl. das Ende des Kapitels II.
'• Ich habe schon über das Traumbewußfsein geschrieben mid werde mich möglichst
wenig wiederholen. Ich verweise betreffs der Unterscheidungsmerkmale von Traum-
be\'iTaßtsein und Wachbewußtsein und bezüglich anderer verwandter Fragen auf
meine Bücher und vor allem auf meine schon zitierte Monographie (94).
TUKOIUK l)i;s \ KHF \ SS KRS 317
Liidividiium und in oinor und dcrscllx'ti Situation cntsl«'lit'n und sich
vorwirklichen, dio liodoutung bowuliler Inhallo haben'. Übrigens hatten
schon viele Philosophen diese Wahrheit erkannt, z. H. G. Th. Fechner -.
Stopanoff folp^t im zweiten Teil seiner Arlx'it, wenn auch unter Hei-
lx?haltung st^'iiier Terminologie, <lio ich nicht annelimon kann, durchaus
meiner Auffassung über das TraumbewuliLsein im Gegensätze zum Wach-
bewußlsein. Sein ,,hypnisches Unterbewußtsein" ist tatsächlich nichts
anderes als mein WachbewufStsein. Was Stepanoff hinzufügt, halte
ich je<loch nicht für treffend, dafi nämlich das hypnische Unterlx'-
wußtsein, als schlafendes Bewußtsein, mit dorn Wachbewußlsein nicht
gänzlich identisch sei. Vielmehr ist nach unserer Auffassung das Be-
wußtsein nicht eingeschläfert, sondern wach. Es wird nur durch den
Schlaf des Gehirns gehenimt.
Die Berechtigung der Benennung „TraumJbewußtsein" gründet sich
auf dio Tatsache, daß im Traume das allen Menschen gemeinsame
Verständnis für die geschehene Wirklichkeit aufgehoben und durch ein
Verständnis für eine ganz individuelle Wirklichkeit ersetzt wird, so daß
im Traume jeder Träumer, wie schon Heraklit gesagt hatte, eine neue
Wirklichkeit besitzt. Die Inhalte sind außerdem verschieden und sogar
zuweilen entgegengesetzt und widerstreitend. Man denke nur an die
Vorherrschaft, welche im Wachsein das sensorische Ich und im Traume
das Ich der inneren Organe und des Gemeingefühles ausüben, und an
den Unterschied in den Vorstellungen von Zeit und Raum. Die relative
Selbständigkeit des Traumich scheint mir schlagend durch folgende Tat-
sachen bewiesen: durch die Unterbrechung der Tätigkeit des wachen Ich,
das infolgedessen nicht mehr Herr der psychologischen Situation ist,
durch das Träumen, daß man träume, durch die Kontinuität des Traum-
bewußtseins im Falle der vom Erwachen unterbrochenen Träume, die
dann im neuen Schlafe fortgesetzt werden, durch die Tatsache der
Erinnerung an Träume im Traume, wie selten auch diese Tatsache sein
möge, schließlich durch das Bestehen stereotyper oder sich von Zeit
zu Zeit wiederholender Träume.
Nach diesen Vorbemerkungen will ich gleich hinzufügen, daß der
Ausdruck „Traumbewußtsein" seine Bedeutung nur durch den Gegen-
satz zum Wachbewnßtsein des Individuums erhält. Es ist nichts von
diesem wesentlich Verschiedenes, weil ja im Grund unseres Wesens und
also an der Wurzel der beiden Wirklichkeiten — derjenigen des Wachens
und der des Traumes — eine einzige Wirklichkeit (die individuelle Seele),
eine Art von (musikalischer?) Disposition besteht, aus der sowohl das
Wachsein wie der Traum ihre Lebenselemente gewinnen. Auch wenn
man das Traumbewußtsein als den Zustand einer zweiten Persönlichkeit
ansehen wollte, so wäre es nur eine Erscheinungsform des individuellen
^ Treffend wird im Dictionary of Psychology von I. M. Baldwin der Traum so
definiert: ein ..bewußter Vorgang während des Schlafes" (conscious process duritlg
sUep").
2 Zit. io6, S. i6ff.
3J8 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TIL\UMES
Wachbewußtseins und nichts mehr. In der Tat ist die Wirklichkeit
des Traumes, wie schon oft genug wiederholt wurde, dieselbe Wirk-
lichkeit, welche die Phantasie des Künstlers im Zustande der Inspiration
erfüllt. Seinen eigentümlichen Charakter holt sich das Traumbewußtsein
aus der besonderen organischen Verfassung des Träumers. Denn wenn
sich die Verfassung verändert (Schlaf), so ändert sich auch das Bewußt-
sein selbst, d. h. die individuelle psychische Tätigkeit; sie bleibt jedoch
ihrem Wesen nach die gleiche. Es tritt im Traume dasselbe ein
wie in der Geisteskrankheit: hier sprechen wir vom Verluste, von der
Verdoppelung, von Substitution der Persönlichkeit; aber alle diese neuen
Zustände des BeAvußtseins werden von der Veränderung der Gehim-
zustände ,, verursacht", und anzunehmen, daß es wirkliche und eigent-
liche Persönlichkeiten seien, welche aus einer entfernten W^elt konrmien
oder wiederkehren, heißt: ein Glaubensbekenntnis ablegen.
Das Traumbewußtsein wäre also nichts anderes als das durch den
Schlaf gehemmte Wachbewußtsein. Das Ich des Schlafenden ist das-
selbe wie im wachen Individuum, aber die mehr oder weniger starke
Hemmung, die der Zustand des Schlafes bewirkt, hat zur Folge, daß
das individuelle Bewußtsein veränderliche Inhalte aufnimmt, die zuweilen
höchst originell, zuweilen unlogisch, jedenfalls aber von denjenigen
des W^achbewußtseins verschieden sind. Das ist begreiflich; die logischen
Inhalte kommen zustande, wenn der Schlaf zustand den Traum Vorstel-
lungen nicht gestattet, durch ihr Dazwischentreten den natürlichen logi-
schen Gedanken verlauf zu stören. Die wertvollen, originellen Inhalte
kommen dagegen zustande, wenn, infolge des Schlafes, keine Vorstel-
lungen und Gedanken dazwischentreten, welche die spontanen Erzeug-
nisse des Geistes zu korrigieren oder zu hemmen geeignet sind. Der
Schlaf seinerseits ist imstande, durch den Umstand, daß er die (außer-
halb der Person befindliche) Wirklichkeit verhindert, dem Bewußtsein
Nahrung zuzuführen, so große Veränderungen zu bewirken, daß die
psychophysiologische Spannung sinkt, weil die Sinneserregungen nahezu
unterdrückt sind und dadurch der nervöse Chemismus abgeändert wird^.
1 Eine Erörterung der Frage, weshalb die Traumphantasmen uns als wirklich
erscheinen, ist hier nicht am Platze. Man findet sie in jedem Buche über Psychologie
und über Philosophie behandelt. Ich beziehe mich auf die schon zitierte Monographie (9^^.
Kant (Proleg. i. Teil. Anm. II) sagt: „Der Unterschied aber zwischen Wahrheit
und Traum wird nicht durch die Beschaffenheit der Vorstellungen, die auf Gegen-
stände bezogen werden, ausgemacht, denn sie sind in beiden einerlei, sondern durch
die Verknüpfung derselben, nach denen Regeln, welche den Zusammenhang der Vor-
stellungen in dem Begriffe eines Objektes bestimmen und wiefern sie in einer
Erfahrung beisammenstehen können oder nicht." Hier möchte ich an die Ansicht Dugald
Stewarts (im angeführten Werke, S. lo/j) erinnern. Der Verfasser sagt, daß die
Träume ims als Wirklichkeit erscheinen, sofeme uns als Wirklichkeit dasjenige gilt,
was nach unserer Überzeugung nicht von unserem Willen abhängt. Im Wachsein ge-
langen wir nicht zu der Überzeugung, daß die Außenwelt von unserem Willen abhängt,
weil die unaufhörlichen sinnlichen Wahrnehmungen jede Befestigung jener Überzeugung
verhindern. Die Frage der Unterscheidung zwischen Wirklichkeit und Traum be-
handeln alle Metaphysiker. Vgl. G. Folchieri (2A), wo die Ansicht von Giovanni
GCTitile dargestellt und kritisiert wird.
THEORIE DKS VEKFASSERS 319
l rsache (K*r Trauinhafligkoit ist sicher der Mangel an sinnlicher
Nahrung für die Autopsvche. <lie deswegen erlischt. lX»r gleiche \ organg
jdlegte sich bei dem berüliinlen lO jährigen Knaben StrünijK'lls zu er-
eignen wie in aiulenMi l-älien (Sollier), in abgeschwächter Weise auch
bei den Einsiedlern und .Mystikern, bei denen die Erinnerungen und ganz
ebenso selbst die Wünsche synibohsiert wie<ler auferstehen, weil sie
in die Welt der Phantasie fallen. Der Träuniendo ist der außerhalb
der Wirklichkeit stehende Mensch, genau so wie der Verzückte, der
Dichter, der Held und wie gewisse Greisleskranke im Höhepunkte der
Erregung, die alle den Träumern ähneln. Daher stimimt der verbreitete
Glaube an tlie Analogie zwischen Traum und Kunst sowie zwischen
Traum und \\ ahnsinn i.
Im pathologischen (z. B. im hysterischen) oder im experimentellen
(durch Vergiftungen erzeugten) Schlaf und sogar im Zustande der
recerie erscheint das Bewußtsein des Schlafenden ganz ähnlich wie
im natürlicheji Schlafe verändert. Eerner gibt es zum Unterschied vom
Traumbewußtsein das träum artige (oniroide) Bewußtsein der Genies,
der Künstler, der Irren, der Neuropathen, Potatoren, Morphinisten usw.
Während jedoch die Geisteskrankheit und bis zu einem gewissen Grad
auch die traumartigen (oniroiden) Zustände des Wachseins als krank-
haft, d. h. als Ausnahmezustände für die Gattung und das Individuum
anzusehen sind, ist der Traum, d. h. der onirische Zustand, für die
Gattung und das Individuum als normal und natürlich zu betrachten.
Andererseits bleibt es dabei, daß er, wie die Geisteskrankheit, ein durch
die physiologischen Verhältnisse „verursachter" Zustand ist. Er wäre
demnach ein normaler, jedoch dem Anormalen analoger Zustand.
Das Traumbewußtsein hat eigene Merkmale, die sich jedermann leicht
vergegenwärtigt. Das hauptsächlichste Merkmal ist der Besitz einer
Willensdetermination-, die jedoch nicht wie im Wachzustand ausführ-
bar ist. Es hat Beziehungen zum Wachbewußtsein, die im leichten
Schlafe deutlich (in der reverie und im hypnagogen Zustande noch
deutlicher) erkennbar sind und so weit reichen, daß es dessen offenbarem
Einfluß unterworfen ist, wie in jenen Fällen, in denen der Träumer
erkennt, daß er träumt usw.
Sehr \vichtig ist die Untersuchung der Beziehungen zwischen beiden
Bewußtseinsarten 3. So rühren die unterbewußten Empfindungen und
1 Diese Analogie wurde ausführlich von mir in mehreren Veröffentlichungen be-
handelt (87). Kant sagt: Der Verrückte ist ein Träumer im Wachen, und Moreau
de Tours wiederholte im Jahre i8/t5: „La foUe est le reve de Vhomme cveille".
Schopenhauer nennt den Traum einen kurzen Wahnsinn und den Walmsin«
einen langen Traum. Immerhin hat Kraepelin gelegentlich der Dementia praecox
recht, gewisse Analogien gering zu bewerten, die im Grunde nichts erklären.
- Ich habe mich schon im zweiten Kapitel über den Willen im Traume geäußert.
Hier wiederhol« ich, daß die Bedeutung dessen, was mehrere Philosophen, r. ß. die
Leibnizianer, Fichte und Maine de Birein annahmen, daß nämlich im Traume der Wille
fehlt, richtig zu verstehen ist. Es fehlt der Wille des Wachbewußtseins.
3 Interessant sind in dieser Hinsicht einige Bemerkungen Stepanoffs a. a. 0.
320 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Wahrnehmungen äußerer Reize seitens des Träumenden von Verstärkungen
des Wachbevvußtscins her, welche, wie bereits erwähnt, in Beziehung
zur Verminderung der Schlaftiefe stehen. Es gibt sicher, wie ich bereits
zugegeben habe, eine Vorstellung von Willenshandlungen im Traume
(intraonirischer Wille) ; aber bisweilen ist das „Ich will" des Traumes
ein extraonirisches Erzeugnis, und dann ist es nicht das Bild des Wollens;
es ist das Wollen selbst, nämlich das Aufblitzen des wachen Willens.
Ein klassisches Beispiel dafür ist der Fall, daß man im Schlafe sagt:
es ist ein Traum, ich will fortfahren zu träumen^. Dies kommt nach
meinen Beobachtungen immer knapp vor dem Erwachen (im leichtesten
Schlafe), besonders im Tagesschlafe vor, der eine sehr große Ähn-
lichkeit mit der reverie hat. Diese Unterscheidung wurde weder von
den Psychologen noch von den Dichtern klar gesehen. Das Traum-
bewußtsein unterliegt somit vielen graduellen Schwankungen.
Man muß sich das Niveau der beiden BevmßtseLnsarten zufolge der
fortwährenden Veränderungen in der Dichte des Hindernisses (Schlaf)
"er' "* ■ ~"5 '
Fig. 12.
Traumbewußtsein (ausgezogene Linie) — Wachbewußtsein (punktierte Linie)
als fortwährend veränderlich vorstellen. Dadurch hebt jede Verminderung
des Hindernisses das Niveau des Wachbewußtseins, während sie das
Niveau des Traumbewußtseins senkt; und ihre Annäherung kann bis
zu einer Vereinigung fortschreiten, die dem ersten Augenblicke des
Erwachens entspricht, während das Erlöschen des Traumbewußtseins
dem vollständigen Erwachen entspricht. Wenn wir uns die beiden Be-
wußtseinsarten als zw^i Sinuskurven vorstellen, können wir uns von ihren
Beziehungen Rechenschaft ablegen, indem wir uns femer vorstellen,
daß die Berge der Sinuskurve des Traumbewußtseins den Tälern der
Sinuskurve des Wachbewußtseins entsprechen und umgekehrt (Text-
fig. 12).
^ Dieses Erlebnis ist bei Dante in folgender wunderbaren Terzine (Hölle, XXX. Gesang,
i36 — 138) ausgedrückt:
E quäl© e quei che suo danna^gio sogna
Che sognando desidera sognare,
Si che quel ch'e, come non fosse, agogna.
(Und dem gleich, den ein Alpdruck hält in Banden,
Daß er im Traum zu träumen wünscht, ersehnend
Was wirklich ist, als wär's nicht schon vorhanden.)
(Übers, von Zooimann.)
IMEOKIK DES VEKFASSERS 321
Dio U'rciLs »'nväliiito TaLsatlic clor \<'r\\('n<liinfr <l«'r Kiuj»fiii<Juiif,'<'ii im
Trauino iuaclil man hich doiitlicli klar, womi man sich <lic beiden
li«wuljLst»insarUMi und domgemälS die beiden Aufmerksamkeiten vergegen-
wärtigt. l>ie (dem Wachlx'wulSLsein angehörige) primäre Aufmerksam-
keit wirtl vom Schlafe gelH'niint, nWr nicht vernichtet. Sie sammelt
das extraonirische Mati'rial. Die sekundäre Aufnierks.imkeit (des Traum-
bevNuISLseins) verarbeitet es, ohne je<loch seine Herkunft zu erkennen.
Die sekundäre oder die Aufmerksamkeit im Traum ist es, welche den
\erlauf des Traumes im Auge behält. Dies erklärt die (besonders im
leichten Schlafe) sehr gewöhnliche Tatsache, daß wir von weit her und
dunkel äuliere Reize, auch komplexer Natur (z. ß. Geschrei einer
Menschenmenge), in uns aufnehmen, während wir unseren Traum fort-
setzen. In tliesem Falle verwendet die Traumaufmerksamkeit, weil sie
an dem Traum Anteil nimmt, das von der primären Aufmerksamkeit
gesanunelte Material nicht, ist aber andererseits nicht stark
^enug, um allein zu herrschen und die im Hintergründe wachende
primäre Aufmerksamkeit selbst auszulöschen. In solchen Fällen haben
wir im Traxun eine vollkommene Analogie mit gewissen pathologischen
Verdopplungen der Persönlichkeit i. Es mögen hier zwei eigene Protokolle
folgen, die mir als wirksame Erläutenmg für die Auffassung der beiden
Bewußtseinsarten erscheinen:
Protokoll. In Mailand am Nachmittag« des 2^. August 1919, unmittelbar nach dem
Firwach«! geschrieben. Mittagsschlaf von 2 Uhr bis 31/2 Uhr. Leichter .Schlaf; denn
«■bgieicii ich schlief, hörte ich alle Viertelstunden die Uhr des Gasthauses schlagen. Ich
träumte, die Entgegnungen auf gewisse Einwände vorzubereiten Ich hielt
eine Vorlesung (oder eine Rede?). Ehe Antworten formulierte ich (ich
erinnere mich nicht des Inhaltes der Antworten) in strenger (logischer und chrono-
logischer) Ordnung; eine offene und klare Antwort fiel mit je einem Schlage der Uhr
zusammen, und hin jedem Scidage gab ich eine Antwort, einfach und wirksam, wie das
Schlagen der Viertelstunde
Ich envachte um 3 Uhr 3o mit dem Bewußtsein, wenig lief geschlafen zu haben;
und sofort habe ich das Gefühl, daß der Traum von den Antworten nach den Scldäge«
der Uhr geformt worden war, und daß die Antworten dem in den Nachmittagsstunden
in der Stadt abzuwickelnden Programm entsprachen Zuerst dies tun, darauf
jenes ajidere und so fort Jeder Schlag eine Sache und eine Antwort auf die
Einwände. Ich begreife klar und sofort die Übereinstimmung. Ich bleibe ein wenig
im Bette ausgestreckt, jedoch wach.
Naclischrift um 5 Uhr nachmittags: Jetzt verstehe ich: mein .Schlaf war ober-
flächlich, der Traum war vielleicht eine reverie. Seltsam, wie der Rlijlhmus meiner
Gedanken den .Schlägen der Uhr folgte!
Protokoll. Nacht auf den 23. September 1919; der Traum wird nachts 1V2 Uhr
üufgescluieben; leichter Schlaf zwischen 11 1/2 und ii/o Uhr, durch das Geräusch der
Trambahne») und Wagen auf der Straße einigermaßen unterbrochen. Unterbewulite
Walimehmung dieser Geräusche, Traum aber fortgesetzt, wenn auch entsprechend der
Wahrnehmung der einzelnen Geräusche Mein Traum ist rhythmisch, gleichsam
musikalisch; es sind aber Erinnerungen an ein oder zwei Tage zuvor geschehene Dinge
(welche?). Ich kann sie nicht nennen, sie sind verschwommen, ich weiß aber, daß ich
sie kenne.
Nachschrift um 7 1/2 Uhr morgens nach dem Aufstehen. Die aktuellen Eindrücke
während des Schlafes laufen parallel mit dem Traum ab; doch sind die äußeren
' Vgl. den Fall der Miß Beauchamp von Morton Prince.
21 Kafka, Vergleichende PsychoIoRie III.
322 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
Geräuicho t'ut von den Traumvorstellungen unterscIiieUen ; unterschieden, aber nicht ohne
Zusaninjenliang. Sie sind vielmehr koordiniert, wie zwei Ansichten eines und desselben
Gegenstandes, vs-ie zwei parallele Linien, die zu gleicher Zeit gezogen werden
Es ist auch von Interesse, auf die Unterschiede zwischen Traum-
und Wachbewiißtseiii einzugehen, ganz abgesehen davon, daß es sich
um zwei verschiedene Inhalte und Wirklichkeiten handelt. Man kommt
damit auf all das, was die Autoren von den „psychologischen Mängeln"
des Traumes sagen. Der eine sagt, daß im Traume die Logik, andere
wieder, daß die Kritik, die persönliche Synthese, der Gedanke, der
Wille usw. fehle. Sicher mangelt ganz allgemein das Hemmungsver-
raögen, das sich im moralischen und sozialen Bewußtsein ausdrückt,
nämlich die Überlegimg. Aber tatsächlich braucht auch in gemssen
Augenblicken des Traumes nichts zu fehlen (man stelle sich gleichsam
eine Berührung der Punkte b und b ' in beiden Kurven vor [vgl.
Fig. 12]). Was hingegen stets fehlt, sind nicht die einzelnen psychischen
Elemente, sondern ihre Verknüpfung, d. h. es fehlt die psychische
Kontinuität und infolgedessen die persönliche Autonomie.
Die Frage, was in den Punkten des größten Abstandes zwischen den
beiden Kurven (a und a ') vor sich geht, ist schwer zu beantworten.
Wahrscheinlich befindet sich das Traumbewußtsein, von der Kontrolle
des Wachbewußtseins fast gänzlich befreit, in einem wahrhaft schöpferi-
schen Moment (wie es in gewissen Phasen der mystischen Verzückung
vorkommt), d. h. in der Welt des Mythus, der reinen Intuitionen, des
Instinktes imd des Strebens (Ribot), dort, wo der Gedanke keine Bilder
mehr antrifft, um sich sinnlich wahrnehmbar, also mitteilbar darzustellen.
Leider wissen wir hierüber nichts, weil begreiflicherweise die Phantasie-
welt des Schlafes in seiner größten Tiefe nicht bis in das Gedächtnis
des Schlafenden gelangt, wenn er erwacht ist, und andererseits die von
den künstlich in der tiefsten Phase des Schlafes (Ende der ersten Stunde)
auferweckten Subjekten medergegebenen Träume als Traumgesichte erklärt
werden können, die im Augenblicke des Eintrittes des weckenden Reizes
entstanden und sich von jenem Augenblicke bis zu demjenigen des voll-
ständigen Erwachens oder, richtiger gesagt, dem des mündlichen oder
schriftlichen Festlegens des Traumes entwickelten. Und, was noch mehr
wiegt, wir werden nie ausschließen können, daß der mündliche Bericht
des Träumers in dem Maße symbolisch sei, daß er uns den wahren
Inhalt des erlebten Traumes ganz verberge.
Man wird leicht verstehen, daß das Traumbewußtsein, gleich dem
des Wachseins, eine individuelle Psychologie hat. Starken Einfluß üben
Rasse, Geschlecht, Grad der Intelligenz und der Kultur, Charakter, Beruf,
Erfahrung, Vergangenheit usw. aus. Femer gibt es individuelle Unter-
schiede, deren Ursachen genau anzugeben uns schwer gelingt. Der
Traum ist der echteste Bericht vom Wesen des Individuums, von seinen
gewohnten Gedanken und Wünschen, von den mehr oder weniger be-
wußten Zielen seines Strebens. Die Individualisierung des Traumes wurde
von allen anerkannt, von Heraklit wie von Kant und Fichte; auch andere
Psychologen und Physiologen — bis zu A. Maury imd Maudsley — be-
THEORIE DES VERFASSERS 323
kannleii sich zu tleinsclben Giitlankcii. Pfaff (65) schrieb: „Erzähle
mir eine Zeitlang deine Träume, und ich will dir sagen, wie es um dein
Inneres sieht." Ich habe mich in meinem Ruche von 1899 in folgenden
Worten ausgedrückt: Sage mir deine Träume, und ich werde dir sagen,
wer du bist.
Einfach ist der Inhalt des Traumbewußtseins bei den Einfältigen im
Geist und bei den Leuten von ruhigem Temperament (3o), verwickelt
ist er bei den Intelligenten und den Unruhigen. Bei manchen Individuen
witnlerholt sich das Leben des Tages als verblichenes Bild im Traume.
Bei anderen jedoch ist das Traumhe>vußtsein reicli an stürmischen und
bizarren Inhalten. Ich habe folgende Regel aufgestellt: ,,Das Wach-
bcw^ßtsein unterscheidet sich um so mehr vom Traumbewußtsein, je
größer die Differenzierung ist, welche Erziehung und Erfahrung in der
Persönlichkeit bewirkt haben, je komplexer sich also diese ausgebildet
hat." Es gibt Ausnahmen, z. B. nach Gualino den erotischen Traum;
al>er die Regel bleibt bestehen. Beim Weibe, besonders beim heran-
wachsenden, springt, wie aus einer von mir angestellten Rundfrage hervor-
geht, der Unterschied zwischen Traum- und Wachbewußtsein oft mehr in
die Augen als beim Manne, was hauptsächlich von der vorgreifenden
Fähigkeit des Traumes, besonders mit Rücksicht auf die Geschlechtstriebe,
herrührt. Bei manchen Personen verhalten sich die beiden Bewußtseins-
arien sehr verschieden. Bei begabten Kindern ist das Phantasieleben der
Nacht ganz verschieden von dem des Tages. Bei anderen hingegen neigen
die beiden Bewußtseinsarten dazu, inhaltlich gleichförmig zu werden,
sich zu verschmelzen, z. B. bei manchen Neurasthenikern, bei den
Melancholikern und Hypochondern. Die Dichter und die Künstler z. B.,
die Präraffaeliten, die Symbolisten, aber ^uch die Potatoren, Morphi-
nisten usw. erreichen nicht selten die Verschmelzung, d. h. die Identität
beider Bewußtseinsarten, ja sie streben ihr sogar zu.
Schließlich bemerke ich die Tatsache, daß das Traumbewußtsein seine
Ontogenese, seinen Anfang, seine ersten Ansätze, seine volle Ausbildung
und sein Ende hat. Das Gedächtnis (Aussage des Träumers) ist — um
es noch einmal zu wiederholen — das Kriterium, dessen wir uns haupt-
sächlich bedienen, um die Entwicklungslinien des Traumbewußtseins nach-
zuzeichnen, aber das objektive Kriterium, nämlich die Beobachtung des
Schlafenden, weist darauf hin, daß schon die Neugeborenen und die
Tiere eine Traumtätigkeit besitzen. Allerdings Avird die Autonomie des
Traumbewußtseins nur erreicht, wenn das Selbstbewußtsein, die Unter-
scheidung des Ich vom Nichtich, genügend ent^vickelt ist; und deshalb
ist der Beginn der vom Subjekte bezeugten Traumtätigkeit als das sichere
Zeichen des Beginnes jener Unterscheidung anzusehen, welche der Aus-
bildung des Selbstbewußtseins entspricht.
Das Traumbewußtsein bildet sich, me ich vor vielen Jahren aus meinen
Rundfragen und unmittelbaren Beobachtungen sicher feststellen konnte,
und wie es neuerdings durch Untersuchungen meiner Schülerinnen Doglia
und Bianchieri (4, 5, 18) bestätigt Avurde, schon im Alter von 3 Jahren
aus. Ich kenne einige Fälle von Träumen mit 2 Jahren oder ein wenig
21*
324 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUM£S
darüber; es muß aber bemerkt werden, daß individuelle Unterschiede be-
stehen; je höher die Intelligenz entwickelt ist, in desto früherem Alter
beginnt die relative Autonomie des Traumbewußtseins. Ihre vollere Ent-
faltung steht natürlich in Wechselbeziehung zu dem lebendigeren Wuchern
des Wachbewußtseins und besonders der Lebhaftigkeit der Phantasie mid
der affektiven Erregbarkeit. Sie erlischt schließlich im Greisenalter;
die Greise träumen nur wenig, d. h. sie berichten von Träumen viel
woniger als die Jugend.
Mit der Erläuterung des Begriffes des Traumbewußtseins glaube ich die
Definition des Traumes zur Genüge erörtert zu haben. Immerhin erscheint
es mir erforderlich, zwei andere Begriffe zu erläutern, welche die Defi-
nition einschließt, und zwar zuerst den Begriff, der mit den Worten „unter
dem Antrieb mächtiger affektiver Zustände" ausgedrückt ist.
Nachdem den unterbewußten Komplexen die Intelligenz aberkannt
worden ist, bleibt zu erklären, warum gewisse Gedanken Form annehmen
und-gewisse andere nicht, und, allgemein gesagt, warum in den Träumen
gewisse Erlebnisse wieder aufleben und andere nicht. Man hat von einem
Kampf um die Verwirklichung im Traume gesprochen; aber das ist
wiederum eines jener teleologischen Trugbilder, vor denen sich der Psycho-
log nach Kräften hüten muß. Vielleicht wäre es verständlicher und ge-
nauer, zu sagen, daß sich, nachdem sich die psychische oder psychodyna-
mische Spannung infolge des Schlafzustandes verringert oder verschoben
hat, die Erinnerungen und überhaupt die unterbewußten Elemente gemäß
den ererbten oder den infantilen Tendenzen des Träumenden, die mit
s-einen früheren oder gegenwärtigen Leidenschaften oder Gremütsbewe-
gungen verknüpft sind, befreien und vorübergehende psychische Verbin-
dungen bilden.
Die neue Verbindung erlangt sofort eine neue, gerade wegen der An-
wesenheit des Gefühlstones und der kinästhetischen Elemente, die sie
enthält, beträchtliche psychodynamische Spannung, und durch das Be-
stehen einer solchen Spannung verwirklicht sich jene Verbindung im
Traumbewußlsein in der von mir angegebenen Weise.
Die Feststellung möge genügen, daß die im Traume wieder auflebenden
Eindrücke aus ideoaffektiv-motorischen „Komplexen" oder (unterbewußten
oder vordem im Wachen bewußten) „Konstellationen" hervorgehen, welche
sich mit den augenblicklich (während des Schlafes) entstandenen und,
kraft der Assoziation, nach mancherlei Richtungen entwickelten Traum-
bildern begegnen und dadurch von diesen mehr oder weniger (je nach
den einzelnen Träumen) umgeformt werden. Daher die sog. von
H. Ellis (22) geschilderte „Traumsymbolik".
Es bleibt noch der andere Begriff zu beleuchten, der in der Definition
enthalten ist: ,,. . .innerhalb dessen der Träumer die eigenen Erlebnisse . . .
in Form von Fabel, Legende und Symbolik erzählt." Woher stammt eine
so ungebräuchliche Form des Berichtes durch Symbole? Die Tatsache
kann man auf mancherlei Weise erklären; es gibt aber auch eine öko-
nomische Art der Erklärung, welche ich in folgendem kurz wiederholen
^vlll. Ein guter Teil der dem Wachsein angehörenden unterbewußten oder
THEORIK DES VKRFASSKKS 325
bewußten Krfahrung des Träumendon ist nioinals in eine zum Ausdruck
goci^net(\ wodor in eine sprachliche noch in eine visuelle Form gekleidet
worden: <lie nicht formulierten Gedanken, die Morgenröte des Gedankens,
die Intuitionen, die in der Phantasie der Persönlichkeit niemals verwirk-
licht »nirden.
Ein anderer Teil der Erfahrung ist zwar einmal in eine zum Ausdruck
und zur Mitteilung geeignete Form gekleidet worden, mit der Zeit abor
wurde die Form selbst, wie bei der Legcndcnbildung, im l nterbev^Tjßtsein
tiefgreifenden Umbildungen imterworfen (Abnützungen, Vervollständi-
gungen. Verstümmelungen. Dissoziationen). Endlich gibt es einen anderen
großen Teil der Erfahrung des Träumenden, welcher im Unterbewußtsein
lebendig und durch Bilder gut gestützt ist; er kann sich aber im Traume
nicht in seinem gewöhnlichen Kleide zeigen, weil er im Augenblicke des
Wiederauflebens im Traum in eine vom (leichten) Schlafe sehr abge^
änderte psychische Umgebung gerät: diese Umgebung wird von zahl-
reichen (bx^sonders visuellen) Bildern i geradezu beherrscht, welche durch
aktuelle Reize entstehen und aus der Sinnessphäre stammen, und deren
Einwirkung sie sich in keiner Weise entziehen kann. Auch die auf-
tauchende unterbewußte Erfahrung, sei sie mitteilbar oder nicht, muß sich,
um im Traumbewußtsein aufzuleben, notgedrungen der ungewohnten Um-
gebung anpassen, sich wenigstens des öfteren maskieren, sich ihrer Natur
entäußern, sogar mit Hilfe von Symbolen, die den aktuellen oder den
mit ihnen durch Berührungs- oder Ähnlichkeitsassoziation verknüpften
Bildern entlehnt sind.
Diese Vorstellung bedarf einer Erläuterung nur mit Rücksicht auf die
nicht formulierten Gedanken. Wie den Psychologen, besonders den deut-
schen (Ach, Külpesche Schule), bekannt ist, gibt es ein sogenanntes ,, nicht
formuliertes Denken", das wir mittels psychologischer Experimente zum
Teil kennenzulernen vermochten -. Eine solche Form des Gedankens
(die zum Teil dem vorlogischen Denken von Löwy-Brühl entspricht) be-
herrscht sicherlich den Geist des Kindes und den der höheren Tiere. Ich
glaube, daß während des Traumes gerade das nicht formulierte Denken,
welches in Beziehung zu den innersten und tiefsten biologischen Forde-
rungen (Wünschen. Bedürfnissen, Impulsen, Tendenzen) steht, und welches
während der Tätigkeit des Wachbewußtseins vom mitteilbaren Denken
unterdrückt oder beherrscht ist, während des Schlafes, also während eigene
imd fremde Sprachäußerungen verstummen, zur Gestaltung str^t. Damit
^ Man denke an die Traumbilder des hypnagogen Zustandes (Praedormitium und Post-
dormitium) und an die Tatsache, daß die Träume, die vom Träumer am besten wieder-
gegebe..a werden können, gerade diejenigen sind, die in der Anfangs- und Endphase des
Schlaf zustandes liegen. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß die Träume des tiefste«
Schlafes — gesetzt den Fall, der Träumer könnte sie wiedergeben — in einer anderen
Form (manifester Inhalf), oder (was wahrscheinlicher ist) überhaupt nicht auszudrücken
wären.
2 Betreffs der Psychologie des Denkens nach der Schule von Marbe und der
Schule von Külpe. Vgl. außer der wohlbekannten Literatur auch S. De .Sanctis (90).
326 DE SANCTIS: PSYCHOLOGIE DES TRAUMES
nähert sich der Traimi der Dichtung ^ Um dieses Streben zur Erfüllung
zu bringen, bedient sich das nichtformulierte Denken der Vorstellungen,
welche das Trauiiibewußtsein im Überflusse besitzt, weil der Vorratspeicher
auch während des Schlafes offen bleibt (besonders der Vorratspeicher der
visuellen und der kinästhetischen Vorstellungen).
Wenn nun die nicht formulierten Gedanken des Wachseins oft in sym-
bolischei" und unverständlicher Einkleidung im Traume zur Wirklichkeit
werden, so ist es doch auch wahr, daß sie zuweilen in einer dem Aus-
drucke angepaßten Einkleidung (Schöpfung und Erfindung) im Traume
zur Wirklichkeit werden und zuweilen sogar, auch im Traum, ohne
irgendeine Einkleidung erscheinen, gerade in der natürlichen Form nicht-
fonnuUerter Gedanken; diese Gedanken werden nachträglich entweder
unbe>vußl und unvollständig in der Wiedergabe des Traumes formuliert,
oder sie bleiben in statu nascendi stecken.
Mir scheint hiermit das so gewöhnliche Fehlen des formalen Zusammen-
hanges in den Träumen, das Spielen der Assoziationen im Traume zu-
reichend erklärt zu sein, ohne daß man zu der unnötigen Allegorie einer
„Zensur" seine Zuflucht nehmen müßte, welche den Traumgedanken den
Eintritt nur erlauben will, wenn sie genügend verkleidet und unkenntlich
seien. Damit könnte es scheinen, als würden wir auf die dynamische
Auffassung des Traumes verzichten. Dem ist aber nicht so; dynamisch
und finalistisch ist zweierlei. Wir wollen nur die Freudsche finalistische
Betrachtungsweise aus der Psychologie ausschalten, ohne übrigens ihre
eventuelle philosophische T^ag^veite und ihren lyrischen Gehalt zu ver-
kennen; aber >vir schließen ge>viß nicht die dynamische Betrachtungsweise
aus. Von unserem Standpimkt aus bleibt vielmehr die Einsicht in die
Bedeutung und den Wert des Traumes als eines psychischen Vorganges
grundsätzlich an eine dynamische Auffassung geknüpft.
' Nietzsche eriimert in der „Greburt der Tragödie" an die Worte von Hans Sachs in
den „Meistersingern":
Mein Freund, das grad ist Dichters Werk,
Daß er sein Träumen deut' und merk'.
Glaubt mir, des Menschen wahrster Wahn
Wird ihm im Traume aufgetan:
Air Dichtkunst imd Poeterei
Ist nichts als Wahrtraum-Deuterei.
Und an einer anderen Stelle (Kap. 2) äußert er den Gedanken, daß die Griechen, von
dionysischem! imd apollinischem Triebe erfüllt, auch in ihren Träumen von einer
„logischen Kausalität der Linien und Umrisse, Farben und Gruppen einer ihren besten
Reliefs ähnelnden Folge von Szenen" geleitet worden seien. Und Nietzsche fühlte sich
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den Griechen" zu bezeichnen.
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Veronese, F,, Saggio di una fisiologia del sonno, del sogno e dei processi
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Wandt, W., Vorlesungen über die Menschen- und Tierseele, 3, Aufl., 1897.
PSYCHOLOGIE DES
GESCHLECHTSLEBENS
VON
RUDOLF ALLERS
EINLEITUNG
Warum und in welchem Sinne eine Darstellung der Psychologie des
Geschlechtslebens in diesem Handbuche Platz findet, hat die Einleitung
des Herausgebers bereits auseinandergesetzt. Es bleibt nichts hinzuzufügen.
Über die Gliederung des Stoffes sind einige wenige Worte erforder-
lich. Eine Sexual psychologie wird vernünftigerweise ihren Gegenstand
vor allem nach zwei Richtungen zu betrachten haben. Sie wird ein-
mal versuchen müssen, eine Beschreibung sexualen Erlebens in seinen
verschiedenen Formen zu geben, zweitens den Entwicklungsgang dieser
Erlebnisphasen im individuellen Leben zu kennzeichnen. Beide Be-
trachtungsweisen, die genetische und die deskriptive, lassen sich natür-
iich nicht restlos trennen. Genetische Darstellung ist ja doch nur
möglich, wenn ihr eine Deskription des sexualen Erlebens in den ein^
zelnen Stadien der Entwicklung zugrunde gelegt wird, wenn also etwa
das Sexualleben des Kindes, das der Pubertätsperiode, das des voll-
entwickelten Individuums und vielleicht auch noch das im Stadium
der Rückbildung geschildert werden. Wenn nun auch kein Zweifel
darüber obwalten kann, daß schon in der präpuberalen Periode als
sicher sexual zu bezeichnende Regungen auftreten oder zumindest auf-
treten können, so dürfte es sich doch empfehlen, die Darstellung des
Sexuallebens bei dem vollentwickelten Individuum zum Ausgangspunkt
zu machen, die Erscheinimgen der Kindheit und die Umwandlungen
zui* Zeil der Geschlechtsreifung im Hinblick auf dieses Ziel zu be-
schreiben.
Neben diese Aufgabe träte die, auch den kulturellen und sozialen
Differenzen Rechnung zu tragen. Eine Phylogenie der Psychosexualität
zu geben, dürfte wohl eine kaum lösbare Aufgabe sein. Es mag ge-
lingen, gewisse psychische Funktionen, solche vor allem, die sich in
Reaktionen gegen die Umwelt darstellen, also z. B. intellektualer Art.
phylogenetisch-vergleichend zu betrachten, zu zeigen, wie sich die An-
passung an die Umwelt, deren Beherrschung allmählich aus Tropismen
und Instinkten über erst niedere, dann inrnier komplexere Vorgänge
des Denkens und Überlegens in der Tierreihe entfalten. Affektive Ver-
haltungsweisen entziehen sich aber, wie mir scheint, weitgehend der-
artiger Betrachtung. Eher dürfte es möglich sein, innerhalb der Mensch-
heit gewisse Stufen und Differenzen aufzuzeigen, die mit kulturellen
und sozialen Momenten zusammenhängen. Allerdings ist das Tatsachen-
material in dieser Hinsicht nicht gerade reichlich. Über die äußeren
Formen, unter denen das sexuale Leben sich vollzieht, sind wir zwar
einigermaßen unterrichtet; wir wissen von den Formen der Ehe, Arten
der Liebesbeziehung u. dgl. Wie aber in der Seele etwa des Austrainegers,
des Bewohners der Andamanen, ja des Arabers sexuales Erleben abläuft,
334 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
erfahren wir kaum. Äußere Formen und — auf höheren Kulturstufen —
künstlerische Darstellungen, Liebeslieder und Erzählungen lehren uns
freilich einiges; aber die daraus zu ziehenden Schlüsse sind doch 'wohl
mit größter Vorsicht aufzunehmen. Ja, man darf vielleicht sagen, daß
wir von diesem Erleben gelbst bei den Angehörigen unserer eigenen Kultur,
soweit sie nicht unserer Gesellschaftsklasse entstammen, nur höchst man-
gelhafte Vorstellungen haben. Auch dichterische Schilderungen, welche
etwa sich mit dem Liebesleben von Angehörigen der Arbeiterklasse, des
Bauernstandes befassen, müssen mehr weniger die mißtrauische Vermu-
tung erwecken, daß sie doch nur nach dem Muster von des Dichter»
eigenem Erleben und nicht nach der Wahrheit gestaltet wurden.
Es vrird sich also über diese Dinge kaum viel sagen lassen.
Im Zusammenhange mit der Deskription vrird auch der Abartungen
des sexualen Erlebens, dessen, was man Perversionen nennt, zu gedenken
sein. Wenn diese nicht in aller Ausführlichkeit behandelt werden, so
geschieht dies jdeshalb, weil ich nicht glaube, daß es sich hier um Unter-
schiede des Wesens der Liebes- oder Sexualregimg handelt. Wie später
noch ausführlicher darzulegen sein wird, ist auch der abnorme Ge-
schlechtstrieb gewissermaßen seiner Idee nach auf das andere Geschlecht
gerichtet und nur die Art seiner Darstellung und Einkleidung weicht
vom breiten Typus ab.
Eine weitere Aufgabe erwächst aus dem Umstände, daß das geschlecht-
liche Erleben mit den mannigfaltigsten anderen Erlebenssphären innige
Verflechtungen eingeht. Nicht nur als Gegenstand, auch als treibendes
Motiv des künstlerischen Erlebens und Gestaltens spielt das Geschlechts-
leben eine große, wohl immer anerkannte, in ihren Einzelheiten und
ihrem Wesen aber vielleicht nicht immer richtig erfaßte Rolle. Es
ist in mancher Hinsicht bestinrniend für die Formen und die Entwick-
lung gesellschaftlicher Erscheinungen und Strukturen; es können sexuale
Momente für die Lebensform einer ganzen Klasse ausschlaggebend sein.
Man denke etwa an den Frauendienst des Mittelalters, überhaupt an die
Stellung und Wertschätzung der Frau zu verschiedenen Zeiten, wodurch
auch für die geltende Rechtsordnung sexuale Motive wirksam werden,
an die Galanterie des Ancien regime und vieles andere. Beziehungen
bestehen zur Religion, da sich religiöse Gebräuche vielfach mit sexualen
Sitten dirrchkreuzen, religiöse Erlebnisse vielfach in erotischer Aus-
drucksweise darstellen. Endlich ist der Beziehungen zur Pathologie zu
gedenken, womit nun nicht jene schon zuvor zu beschreibenden ,, per-
versen" Abartungen geschlechtlichen Verhaltens gemeint werden, sondern
die krankheitssetzende Bedeutung des Geschlechtslebens und die Stellung,
die es im Erleben Geisteskranker einninmit.
Wenn ich einen eigenen Abschnitt über die Liebe eingeschaltet habe,
so deshalb, weil mir scheinen will, als sei Liebe in höherem Sinne,
auch wo sie als Geschlechtsliebe oder auf der Grundlage dieser auftritt,
doch mehr als eine Steigenmg von Zügen, die der Sexualität an sich
schon zukommen würden, was ja dort eingehender darzulegen sein wird.
Ein letzter Abschnitt soll den, freilich nur als vorläufig zu betrachten-
den Versuch unternehmen, das Wesen der Geschlechtlichkeit, soweit sich
EINLEITUNG 335
dieses im SoelLschoii darstellt, zu kciinzeichnon, dio Bczi(^hunj^on, die
zwischen dieser Erlebcnssphäro uiid anderen im letzten Grunde herrschen,
die Stellung, die ihr innerhalb der Totalität des Seelenlebens zukommt.
Alle (ües(^ Abschnitte sollen sich mögliclist auf reine Beschreibung
beschränken und erklärenden Konstruktionen nur soweit die Aufmerk-
samkeit zuwenden, als dies durch den Zusammenhang geboten erscheint.
Dies ist notwendig, weil alle Versuche, Zusammenhänge — seien sie nun
sinnhafter oder kausaler Natur — aufzuzeigen, schon irgendwie ein
über die reine Deskription hinausgehendes, auf Konstruktion und Er-
klärung abgestelltes :Verhallen implizieren. Ich hoffe nur, daß es
mir gelingen möge, wenigstens deutlich (auseinander zu halten, was
Feststellung eines Tatbestandes und was theoretisierendo Interpretation
eines solchen ist.
Fragen aber, welche über die sich im individuellen Leben spiegelnde
Geschlechthchkeit hinausgehen, sollen hier keine Erörterung finden. So-
ziale Zusammenhänge müssen gelegentlich zur Sprache kommen, weil
sie für das Erleben der Einzelseele bestimmend sind. Welchem Ende
aber letztlich die Sexualität diene, wie sich die Richtung auf Greschlechts-
genuß und die Richtung auf Erhaltung der Art als Triebe, nicht
als bewußte Erlebnisse, zueinander verhalten, alles, was in die „Meta-
physik der Geschlechtsliebe" einschlägt, bleibe außerhalb des Rahmens
dieser Ausführungen. Trotzdem werden hie und da Anklänge an eine
metaphysische Betrachtungsweise nicht vermieden werden können.
Auch in anderer Hinsicht werden ge>visse Grenzüberschreitungen, so-
wohl innerhalb des psychologischen Gebietes, als auch über dieses hinaus
nicht inuner zu vermeiden isein. Die ersteren, weil Sexualität sich nach
allen Richtungen mit anderen Sphären seelischen Geschehens verflicht,
ihre Phänomene färbt, begleitet, vielleicht auch manchmal fundiert; imd
wenn es auch keineswegs in der Absicht dieser Darstellung gelegen sein
kann, dem sexualen Moment etwa in Kunst und Religion, im Sozialen
nachzugehen, so müssen doch manche dieser Verflechtungen zumindest
aufgezeigt, imd, soweit sie unverkennbar dem sexualen Erleben angehören,
auch besprochen werden. Wenn es richtig ist — darüber zu reden wird
später der Ort sein — , daß treuisformierte, „sublimierte" Triebe ge-
schlechtUcher Natur konstitutiv in (iie Sphäre des religiösen imd ästhe-
tischen Erlebens eingehen, so gehört ihre Besprechung, streng genommen,
mcht mehr hierher. Solange sie aber ihre sexuale Natur beibehalten,
solange sie dem unmittelbaren Erleben oder der Reflexion als der Sexua-
lität zugehörig bemerkbar werden, müssen sie auch hier Beachtung finden.
Über die Psychologie hinaus weist aber eine Auseinandersetzimg über
das zu behandelnde Thema deshalb, weil offensichtlich zwischen Ge-
schlechtlichkeit und Liebe übelligiupt, nicht niu* Geschlechtsliebe, Be-
ziehungen obwalten, zimächst noch unbestimmter Art, zweifellos aber
recht innige. Mag man nun jede liebende Zuwendung als letzten Endes
im Sexualen gründend, aus demselben durch Umgestaltung entwickelt
ansehen, oder umgekehrt in der Geschlechtsliebe eine besondere
Form liebenden Verhaltens überhaupt erblicken oder eine Verschmelzung
zweier Sphären, oder sonst sich eine Meinung darüber bilden — immer
336 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
wird dieser Zusammenhang sich aufdrängen. Und so wird doch gelegent-
lich wenigstens auf die Berührungspunkte der psychologischen mit jener
anderen Problematik, mag man sie nun metaphysisch heißen oder nicht,
lunzuweisen sein.
Wiewohl es also nicht im Plane dieser Darstellung gelegen ist, die
physiologischen Ausdrucksformen, Begleiterscheinungen usw. der sexua-
len Erlebnisse zu erörtern, so muß doch mit ein paar Worten darauf
liingewiesen werden. Es ist die Meinung anscheinend recht verbreitet,
daß der Sexualaffekt überhaupt nur auf der Basis von oder zumindest
gleichzeitig mit seinen körperlichen Äußerungen auftreten könne, daß
diese zumindest anklingen müssen, um jenen entstehen zu lassen. So
meint Ribot (98), wenn man, eine nach der anderen, alle physiologischen
Erscheinungen in Gedanken unterdrücke, so bleibe nicht einmal das Be-
wußtsein einer unbestimmten Anziehung, >veil auch diese eine tatsäch-
liche oder naszierende Bewegung verlange. Vorsichtiger äußert sich
Janet (61), der anläßlich der Beobachtung einer Kranken, bei der
„Familiengefühle, Affekte, Schamhafti^keit zugleich mit der Sensibilität
der Geschlechtsteile auftraten und verschwanden", nicht zu entscheiden
wagt, welcher Vorgang der primäre sei.
Zweifellos schließt sich der Sexualaffekt außerordentlich häufig an die
Erregung der Sexualwerkzeuge an, zweifellos ist er in der überwiegenden
Mehrzahl der Fälle von ihr begleitet. Aber es liegen doch Beobachtungen
vor, welche das zwangsmäßige dieser Verknüpfung fraglich erscheinen
lassen. Daß Kastraten erotomanische W^ahnideen produzieren können,
wie eine Beobachtung von A. Marie an einem paralytischen Eunuchen
zeigt, würde noch wenig beweisen. SpätJcastraten, d. h. solche, bei
welchen die Entfernung der Keimdrüsen nach eingetretener Pubertät vor-
genommen wurde, mögen wohl solche Wahnideen und Phantasien haben,
wie etwa der Erblindete in Gesichtsbildern träumen kann. Fälle, die das
zu beweisen scheinen, haben z. B. Moebius (82) und vor ihm
Tournes mitgeteilt, daher auch ersterer der Keimdrüse nicht die Auf-
gaben zuschreiben \Nill, den Geschlechtstrieb „zu machen", sondern nur
ihn „anzuregen"!.
Ferner lehren uns Tierversuche, daß nach Entfernung selbst großer
Abschnitte des Rückenmarkes, bei offenbar vollständiger Aufhebung der
sensiblen Leitung vom Geschlechtsapparat an die höheren Zentren dennoch
ausgesprochene sexuale Erregungszustände auftreten können (L. R.
Müller) ,
Andere Versuche, die Baglioni sowie Araantea angestellt haben,
zeigen, daß die eingetretene somatische sexuelle Erregung unterbrochen
* VgL das, was Shakespeare den EunucheaL* Mardian sagen läßt:
Cleop.: Hast thou affections? ■
Mard.: Yes, gracious madam.
Cleop.: Indeed!
Mard.: Not in deed. madam; for I can do notliing,
Bul what indeed is honest to be done;
Yet have I fierce affections. and tliink
What Venus did w-ith ^Lirs.
(Anlony and Cleopatra, Akt L Sccne V.)
KI N LEITUNG 337
\vertl»ii kann, wenn ilas p'riplioro rezeptorische Feld unenipriiidlich go-
maclil wird. Als j)t>ri|)lu'ro Uozeptoreii fassoii di« Autoren wohl mit
RtM^ht ^tnvisso j)a[»illan' Hiidiiiitreii am männlichen (leschiecht.slei! auf;
ihre Ausschaltung? tlurch Lokalanästhesie (Kokain. Novokainj verhindert
<las AuflTotcn der Sexualerre^unj^ beim Hunde; nimmt man jeiloch die
Anästhesie nach dem Auftreten der Erregung- vor, so verschwinden zwar
di»* Anzeichen der körperlichen Sexualität (l*]rektion), der psychosexuale
Zustand aber, der Sexualaffekl, besieht fort.
Im gleichen Sinne sprechen die Krfalirungen, welche E. Steinach
an seinen ,,maskulierten" bzw. „feminiertcn" Ratten machen konnte.
Entfernt man einem jugendlichen, noch nicht geschlechtsreifen Tier seine
Keimdrüsen, und bringt die Keimdrüsen des anderen Geschlechtes zur
Eiidieilung, so entwickelt sich das Tier in mancher Hinsicht nach dem
Typus, welcher der implantierten Keimdrüse entspricht, d. h. es akquiriert
das ursprünglich als ^^'eibchen geborene Tier den äußeren Habitus des Männ-
chens, sein Haarkleid, seine Kopfform usw., aber auch sein psychosexnales
Verhalten, es wird von weiblichen Tieren erregt, stellt ihnen nach, während
sich das feminierte Männchen als Weibchen geriert. Da nun natürlich eine
Entwicklung der Geschlechtsteile des anderen Geschlechtes nicht oder zu-
mindest nur sehr angedeutet ( Pen isbü düng) zustande kommt, scheint auch
hier ein Sexualaffekt ohne entsprechende somatische Begleiterscheinungen
vorzubegen .
\^ährend diese Erscheinungen w^ohl zugunsten einer relativen Unab-
hängigkeit von somatischer und psychischer Sexualerregung sprechen,
scheint es mir zweifelhaft, ob der umgekehrte Tatbestand, nämlich das
Auftreten der körperlichen Phänomene ohne begleitenden oder durch sie
hervorgerufenen Sexualaffekt in diesem Sinne verwertet werden kann.
Dieses isolierte Auftreten der somatischen Vorgänge stellt zunächst
eine zwar nicht regelmäßig, aber doch häufig zu beobachtende Diu'ch-
gangsphase in der Sexualentwicklung des Kindes dar, wovon später noch
die Rede sein wird. Sie fehlt aber auch beim Vollreifen Individuum
nicht. Ganz abgesehen von krankhaften Erregxmgszuständen der Sexual-
sphäre, die einfach als quälende körperliche Erscheinungen empfunden
werden, ohne jede Beimengung eines Sexualaffektes, kommen auch ge-
legentlich bei Gesunden solche vor, denen ein psychisches, spezifisches
Erleben weder vorangeht, noch folgt, noch sie begleitet.
Denn daß ein körperlicher Symptomenkomplex eintreten kann, ohne
die ihm sonst zugeordneten psychischen Abläufe hervorzurufen oder von
ihnen begleitet zu sein, ist auch bei Annahme einer Bedingtheit dieser
durch jenen durchaus denkbar. Können wir doch erröten, ohne uns zu
schämen, ja, solche Röte des Gesichts und der oberen Rumpfgegenden
durch Einatmung gewisser Substanzen (Amylnitrit) auslösen.
Es würde aus diesen Talsachen also m. E. nicht gefolgert werden dürfen,
daß die psychische Seite von der mit ihr normalerweise so innig ver-
schränkten somatischen des Sexualerlebnisses eine grundsätzliche oder
relative Unabhängigkeit besitze, während die zuerst aufgeführten Erfah-
rungen wohl als Beweis dafür angesehen werden dürfen.
22 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
338 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Es scheint also, daß die Theorie von James-Lange, welche in den
peripheren, somatischen Prozessen nicht nur den Anlaß, sondern auch
das Wesen des betreffenden emotiven oder affektiven Ablaufes erblicken
will, sich in der Sexualsphäre ebensowenig wird halten lassen, wie sie
sich trotz immer wiederholter Verteidigung auf anderen Gebieten be-
währt hat.
Daraus folgt übrigens, daß die vielfach gemachte Annahme, es seien
Sexualität, nämlich körperliche Sexualbetätigung, und Lustgefühl von
vorneherein zwangsläufig aneinander gebunden, irrig sein muß. Wenn die
somatische Sexualerregung auch ohne entsprechenden Affekt ablaufen
kann, so ist nicht nur eine hinsichtlich der Lustbetonung indifferente,
sondern sogar eine ausgesprochen unlustbetonte Sexualbetätigung denkbar.
Es darf hier an den Ausspruch erinnert werden, nach dem schon F. J.
Gall (47) diese Beziehungen gekennzeichnet hat: „L'instinct de la
reproduction est une fonction du cerveau et nappartient nullement aux
parties sexuelles."
Etwas ganz anderes ist es natürlich, daß die Entwicklung der psychi-
schen wie der physischen Geschlechtscharaktere an die Anwesenheit spezi-
fisch funktionierender Anteile der Keimdrüsen geknüpft ist, daß das
Männchen zum Männchen durch die Wirksamkeit des innersekretorischen
Anteiles des Hodens wird, das Weibchen zum Weibchen durch die ent-
sprechenden Zellkomplexe des Eierstockes 1.
Vielleicht darf man die hier obwaltenden Beziehungen dahin formu-
lieren, daß zwar der Sexualaffekt oder das Sexualleben überhaupt in den
somatischen Sexualfunktionen im allgemeinen gründe, daß aber das einzelne
sexuale Erlebnis als solches nicht an die körperlichen Manifestationen
gebunden sei, nicht einmal an eine Andeutung, eine Skizze, wenn man
will, solcher. Nur daß in der Begel ein solches Auseinanderfallen nicht
vorkommt. Vielmehr gilt wohl, daß in der Sphäre des Sexuallebens
körperliches und seelisches Geschehen inniger verhaftet ist, als sonst
meist im Affektleben, vielleicht am allerinnigsten überhaupt.
Was die Formen der körperlichen Äußerungen des Geschlechtstriebes
anlangt und die verschiedenen Weisen, in welchen der Mensch di^em
Triebe Befriedigung verschafft oder zu schaffen versucht, so fällt deren
Erörterung außerhalb der Her gesteckten Grenzen. Es ist für die psy-
chologische Betrachtung grundsätzlich belanglos, ob das Erlebnis der
Entspannung des Sexualaffektes durch den normalen Geschlechtsver-
kehr oder irgendeine seiner Varianten, durch homosexuale, sodomitische,
autoerotische usw. Praktiken herbeigeführt wird, soferne es sich dabei
allemal um das gleiche Erlebnis der Befriedigung handelt. Und ebenso
sind alle diese Varianten irrelevant, wenn sie als unbefriedigend erlebt
^ In diesem Zusammenhange ist die Hypothese zu erwähnen, welche die homo-
sexuale Abartung au(f Funktionsanomalien, ja geradezu auf die Anwesenheit von
Zellelementen des anderen Geschlechtstypiis in den Keimdrüsen des Betreffenden
beziehen will. Man wird sich wohl, einerseits mit Rücksicht auf die klinische Er-
fahrung, die nicht gerade zugunsten der konstitutionellen Inversion spricht, andere-r-
seits mit Rücksicht auf die Schvwerigkeit der morphologischen Differenzierung, dieser
Annahme gegenüber — zmnindest vorderhand — skeptisch verhalten müssen.
Vgl. S. 177.
EINLEITUNG 339
worden, sei es, weil sie die Sexiiah'nlspannunf: iii<hl zu l)ewirkon im-
stande sind, sei os, weil sich luil ilmon l\eue, Vorwürfe, BewußUciii
der Sünde, der Charakterschwäche n. dfrl. verknüpfen. Da und dort
sU'lll die konkrete Form der S<'xualbelätin;iinn^ nur den poriy)heren
/Vnhuh für das seelisclio Geschehen dar. tli'ssen Jiesonderheit w<jhl durchwegs
von <len Ik'sonderheiten jener unal)hänpg fr*'<h»chl werden darf.
Bevor nun in die Erörtenmg: der einzehien, oben flüchtig gekenn-
zeichneten Spezialkapitel eingegangen werden kann, bedürfen zwei Fragen
noch einer einigermaßen ausführlichen Erörterung.
Dil' erste ist diese: Welche Regungen des Seelenlebens dürfen wir
überhaupt als sexuale ansehen? Diese Frage auf zuwerfen ist so müßig
nicht, wie es etwa im ersten Augenblick den Anschein haben mag. Denn
wir haben einerseits gesehen, daß zweifellos psychosexuale Erregungszu-
stände unabhängig von den sie in der Regel begleitenden oder mit ihnen
verknüpften somatischen Erscheinungen vorkommen können. Ist es dabei
schon nicht zweifelhaft, daß wir es mit sexualen Erlebnissen zu tun
haben, wenn z. B. die seelische Erregung fortdauert, während die soma-
tischen Phänomene durch periphere Anästhesierung unterbrochen wurden,
so wäre doch die Möglichkeit nicht von der Hand zu weLsen, daß psycho-
sexuale ^'orgänge überhaupt ohne jede Beziehung zu körperlichen ab-
laufen könnten. Nun wird bekanntlich von der psychoanalytischen Schule
behauptet, daß durch Verdrängung und Verschiebimg Bewußtseinsphä-
nomene ihres bewußt-sexualen Charakters entkleidet werden, ohne jedes
Be^^-ußtsein einer Beziehung auf Sexuelles erlebt werden, und dennoch
sexuale Inhalte darstellen können. Auch der Prozeß der Sublimierung,
welcher in dem gleichen Lehrgebäude eine Rolle spielt, aber auch sonst
vor und nach dem Auftreten Freuds in verschiedener Darstellung
behauptet wurde, käme hier in Betracht.
Ja, die Frage ist noch komplizierter. Nicht nur, daß sexual nicht
gefärbte Erlebnisse oder die ziunindest nicht als solche augenblicklich
erlebt werden, vorkommen können, es ist auch vielleicht nicht einmal
zulässig, alle Erlebnisse, die mit peripheren oder psychischen, ausge-
sprochen erotischen Momenten vergesellschaftet auftreten, ohne weiteres
als der geschlechtlichen Sphäre angehörend aufzufassen. Diese Mög-
lichkeit ist insbesondere angesichts der freihch sehr oft ausgesprochen
sexuell gefärbten Ausdrucks weise der Mystiker in Erwägimg zu ziehen.
Man hat sich durch diese Erscheinung dazu verleiten lassen, die mystische
Ekstase — zumindest vieler Personen — ohne weiteres mit sexualen
Erregungen zu identifizieren. Gewiß könnte jemand höchstgradige
sexuelle Zustände auch nicht anders beschreiben als die hl. Therese
von Avila, Heinrich Seuse, die hl. Mechthildis von Magdeburg oder
Rujsbroek — um nur einige Namen zu nennen — ihre Vereinigung
mit Gott schildern. Folgt aber daraus, daß die mystische Ekstase ein
sexuelles Erlebnis sei, oder auch nur, daß sie mit der Sexualsphäre irgend-
wie genetisch zusammenhängt? Das ist natürlich schwer zu entscheiden.
Ich allerdings möchte mit Scheler^ der Ansicht zuneigen, daß die
1 Vgl. den Abschnitt über die Liebe w. u.
22«
340 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Beantwortung eher verneinend auszufallen habe. Nach allem, was wir
aus den Berichten der Mystiker wissen, ist die Ekstase das Erlebnis der
innigsten und vollkommensten Vereinigung eines Ich mit einem Du,
des Individuums mit Gott. (Ob es dabei tatsächlich, wie vielfach an-
genommen wird, zu einer Aufhebung des Ich, einer Vernichtung, einem
,,Entwerden" der Individualität kommt oder nicht, ist hier nicht zu
erörtern.) Der Mensch kennt aber in seinem gewöhnlichen Erdendasein
kein Erlebnis, das an dieses der mystischen Ekstase heranreichen Avürde
oder ihm auch nur qualitativ nahe stünde, wenn es nicht die Vereinigung
der Geschlechter im sexualen Liebesakt ist. Nichts ist daher verständ-
licher, als daß der Versuch, das Unaussprechliche der „Vergottimg"
doch irgendwie in Menschenworte zu fassen, in eine überschwengliche
Verwendung der erotischen Ausdrucksweise auslaufen mußte. Und an
dieser Auffassung ändert auch die Tatsache nichts, daß der eine oder
der andere unter den Mystikern effektive körperliche sexuelle Erregun-
gen verspürte. Schließlich ist nicht nur das Wort Ausdrucksmittel, und
dienen nicht nur die Sprechwerkzeuge der Konkretisierung des Erlebens,
sondern der ganze körperliche Mensch bildet sozusagen in den ihm
eigenen Möglichkeiten die seelischen Vorgänge ab. So scheint mir auch
die geschlechtliche Erregung des Mystikers nur ein Ausdrucks mittel für
die empfundene Entzückung zu sein, nicht deren Wesen oder deren
Ursprung irgendwie zu kennzeichnen.
Abel' auch im Bereiche des alltäglichen Lebens vermag man Beispiele
dafür zu finden, daß gewisse Erlebnisse von sexuellen Begungen imd
Erregungen begleitet sein können, ohne darum selbst sexueller Natur
oder sexueller Genese zu sein. Einer Kollegin ist aufgefallen, daß das
Verhalten vieler junger Menschen bei telepathischen und hypnotischen
Schaustellungen erotische Züge erkennen lasse, wodurch sie zu der An-
nahme veranlaßt wurde, die — nicht näher zu beschreibende, aber be-
kannte — eigentümliche Stimmung, Spannung des Auditoriums bei solchen
Seancen als unmittelbar der Sexualsphäre angehörend zu deuten. Auch
hier glafube ich, daß das ein voreiliger Schluß ist, der erst durch
irgendeinen Beweis erhärtet werden müßte.
Wie aber diesen Beweis führen? Phänomenologische Analyse reicht
offenbar hierzu nicht aus. In vielen Fällen mag es allerdings gelingen,
das ursprüngliche Phänomen als nicht erotischer Natur von der sekundär
hinzugetretenen Sexualerregung zu sondern, in vielen aber auch nicht.
Bislang wird uns nur ein einziger Weg als gangbar und sicher zum Ziele
führend gepriesen, das ist die Psychoanalyse. Ohne im mindesten die
bedeutsamen Einsichten in Zusammenhänge imd Verlaufsweisen zu ver-
kennen, welche tms durch Freud eröffnet worden sind, scheint mir
dennoch die psychoanalytische Methode keineswegs geeignet, hier weiter-
zuhelfen. Erstens deshalb, weil ich — was ich anderen Ortes ausführlich
begründet habe — gerade gegen die Methode eine Beihe grundsätzlicher
Einwendungen zu erheben mich berechtigt glaube und auch der Meinung
bin, daß jene wertvollen Einsichten gar nicht mit Hilfe dieser Methode
erlangt wurden, zweitens aber, weil — selbst die Berechtigung unidi
Leistvmgsfähigkeit des psychoanalytischen Verfahrens zugegeben — auf
EINLEITUNG 341
tlicsem Wege doch mir kausale Abliäii^igkeiten aufgedockt werden kön-
nen, wir abi'r nicht inslanti ^'e>el/.l werden, über die Malur eines Erleb-
nisses an und l'ür sicli etwas auszusagen.-
Ich glauU nicht. dalS es möglich ist, in jedem konkreten Falle die auf-
geworfene Frage zu beantworten. Wollen wir Sexualpsychologie treiben,
so werden wir uns zunächst an alle jene Vorkonmmisse halten müssen,
dei-en direkte Beziehung und Zugehörigkeit zur Si'xuaisphäre unmittel-
bar fe*;tsteht. Wir werden jene Erlebnisse, die mit sexuellen Phänomenen
vergesellschaftet auftreten, amnerken und als mögliche Gegenstände
der Sexualpsychologic behandeln dürfen, wohl aber uns eines abschließen-
den Urteils über ihre sexuale iSatur und Entstehungs weise vorderhand
enthalten müssen. Von dieser Stellungnahme, glaube ich, können uns
mit noch so großer Sicherheit vorgetragene gegenteilige Äußerungen
nicht abbringen. Wenn etwa Novalis den Ausspruch tat, es fließe
die mystische Erotik aus Religion, Wollust und Grausamkeit zusammen,
so würde das erstens noch gar nicht besagen, daß er damit jegliche
Mystik schlechthin charakterisieren wollte, wie das Eulenburg (3/j) an-
zunehmen scheint, und zweitens gründen sich vielfach solche Urteile bei
Dichtern, Philosophen, Psychologen, Sexualforschern auf die bloße Kon-
statierung des Nebeneinander- oder MiteinanderAorkommens. Keineswegs
aber auf -eine, möglicherweise gar nicht erreichbare Einsicht in wesent-
liche Abhängigkeiten.
Für die hier geforderte vorsichtige Urteilsenthaltung scheint mir noch
ein Moment zu sprechen. Es gibt Individuen oder im Leben einzelner
Individuen ge\\isse Perioden, wo nahezu alles eine erotische Tinktion
annimmt. Naturgenuß und Stillung des Hungers, körperliche Bewegung
und ästhetische Erlebnisse — alles ist von einer erotischen Nuance durch-
setzt. Soll man nun wirklich annehmen, daß alle diese Erlebnisse tat-
sächlich der Sexualsphäre angehören oder zumindest mit ihr in beson-
ders intimer W'eise verknüpft sind? Oder wäre es nicht näherliegend,
zu sagen, daß die Sexualsphäre bei solchen Individuen eben besonders
ansprechbar sei und miterregt werde, wenn irgendwo und irgendwie Erleb-
nisse ablaufen, die an und für sich nichts mit Sexualität zu tun
haben? Entschließt man sich zu der ersten .\imahme, so muß die Tat-
sache, daß die gleichen Erlebnisse bei anderen Individuen oder bei dem-
selben zu anderen Zeiten ohne solche sexuale Tinktion aufzutreten ver-
mögen, dazu führen, in diesen Fällen eine vollkonunenere Umgestaltung
des ursprünglich Sexualen zu der betreffenden Erlebnisart zu postulieren.
Man gelangt dann dazu, letzten Endes alle Triebe und Regungen mit dem
Sexualen zu identifizieren, etwa im Sinne der Libido-Theorie von G. C.
Jung (62), der neuerdings auch Freud selbst zuzuneigen scheint. Damit
verliert aber die Sexualsphäre ihr Sonderdasein, ihre Regungen werden
gleichwertig allen suideren, vielmehr, um die tatsächlich bestehenden,
unmittelbar einsichtigen und durch keine theoretische Konstruktion weg-
zudisputierenden Unterschiede aufrecht zu erhalten, muß die Trennung in
einer anderen Ebene, jenseits der Aufgabelung des Urtriebes Libido
in seine verschiedenen Manifestationsweisen vollzogen werden. Die Theorie
der universalen Libido verliert aber dadurch jeden Erklärungswert und
342 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
jeden Werl als Grundlage einer Klassifikation; sie ist nur ein, vielleicht
gewisse systematisierende, theoretische Bedürfnisse befriedigender letzter
Beziehungspunkt, nicht aber ein Phänomenologie und Analyse orien-
tierendes Prinzip.
Eine Einschränkung ist vielleicht am Platze. Es könnte nämlich sein,
daß in der Erinnerung manche Erlebnisse sich ihres sexuellen Charakters
entledigen und, trotzdem sie ursprünglich der Sexualsphäre entstammten
oder ihr angehören, der Reflexion als ganz fernestehend imponieren. In
manchen Fällen wird gewissenhafte Introspektion einen solchen Zusammen-
hang aufzudecken imstande sein. Dann ist natürlich der Zweifel durch-
aus zulässig, ob nicht auch andere, dem Bewußtsein als asexual er-
scheinende Vorkommnisse nicht doch letzten Endes und ihrem tiefsten
Wesen nach sexuale Momente enthalten oder in der Sexualität gründen
könnten. Daß dem so sei, behauptet ja die Psychoanalyse. Nur scheint
mir wiederum kein Weg zur Entscheidung zu führen. Es muß aber
diese Möglichkeit hervorgehoben werden, damit klar sei, daß der Zweifel,
die Unmöglichkeit der Entscheidung sich nicht nur auf den angeblich
sexuellen Charakter von Erlebnissen erstreckt, bei welchen uns ein solcher
Zusammenhang nicht unmittelbar durchsichtig wird, sondern ebenso auf
den nicht sexuellen von solchen, die von uns als der Sexualsphäre ferne-
stehend unmittelbar erlebt werden.
In diesem Zusanmienhange ist die Frage nach den Quellen einer Sexual-
psychologie auf zuwerfen. Wie jede psychologische Betrachtung, orientiert
sie sich vor allem an introspektiven Daten. Sie ergänzt sie aus der
Fremdbeobachtung, zu der natürlich dann literarische Produkte, ethno-
logisches und kulturhistorisches Material, die Erfahrungen der Psycho-
pathologie hinzutreten. Über alle diese Dinge sind keine Worte zu ver-
lieren, mit Ausnahme der Fremdbeobachtung, insofeme sie es nicht mit
Aussagen dritter Personen, sondern wirklich nur mit der Beobachtung
des Verhaltens derselben zu tun hat.
Zweifellos gibt es Verhaltungsweisen, die den Schluß auf ihren Zu-
sammenhang mit der Sexualität rechtfertigen. Zwei sich küssende junge
Menschen werden allemal erotischer Beziehung verdächtig erscheinen
dürfen, wenn wir von den Fällen von Geschwisterzärtlichkeit oder der
Formalität etwa des Osterkusses absehen. Wobei man überdies noch die
Frage aufwerfen könnte, inwieweit auffallende Zärtlichkeit zwischen
Geschwistern nicht doch einen erotischen Zug besitze. Dasselbe gilt von
sichtlichen Zeichen der Aufregung, Freude des einen beim unerwarteten
Anblick des anderen. „Omnis consuevit amans in coamantis aspectii
pallescere", sagt der um 1170 oder 1180 verfaßte Liebeskodex des
Magisters Andreas, den Stendhal (no) zitiert. Es sind aber doch
eigentlich in diesen wie so vielen anderen, leicht auszumalenden Fällen
die äußeren Umstände, welche die Affektäui^ning zur spezifischen, als
erotisch zu erkennenden stigmatisieren. An und für sich sind es Zeichen
der Aufregung, des Affektes überhaupt, die erst durch die besonderen
Bedingungen des Auftretens ihre besondere Bedeutung erlangen. Es er-
scheint fraglich, ob es — von den auf die Genitalzone beschränkten
Flrscheinungen abgesehen — eindeutige Ausdruckserscheinungen des
EINLEITUNG 343
psychosoxuellen ZusUuules g^ibt. Schliolilich spricht ja auch nur eiiie
gewisse Wahrscheinlichkeit dafür, dalS das Verhalten eines Menschen,
der seufzt, Sehnsucht äußert, traurig oder verzweifelt usw. ist, Liebes-
kummer Ix^leulet — anderer Kummer, anderes Leiden können sich gewiß
in gleicher Weise kundgeben.
Man muß sich angesichts dieser Schmerigkeit, schon beim Erwachsenen,
dessen Seelenleben uns doch viel unmittelbarer verständlich und zugäng-
lich ist, wundern, mit welcher Sicherheit manche Autoren kindliche
Äußonmgen als solche der sexualen Erregung oder Lust auffassen. Den
Lehren der Psychoanalytiker zufolge ist der Ausdruck eines schnullenden
Kindes z. B. ohne weiteres dem des erotisch genießenden Erwachsenen
gleichzusetzen. Und so werden eine Reihe anderer kindlicher Verhaltungs-
wTeisen, etwa das Hin- und Herschaukeln des Oberkörpers, als Akte der
infantilen Sexualbetätigung angesehen — Schlüsse, die mir aus den
angeführten Gründen nichts weniger als zwingend erscheinen, wovon
noch ausführlicher die Rede sein solL
Elbensowenig bin ich von der oft gehörten Behauptung überzeugt, daß
(ho hl. Therese des Bernini einfach den Zustand erotischer Hin-
gabe darstelle. Man wird die äufJere Ähnlichkeit, ja Identität des Aus-
druckes zugeben können, ohne darum gezwomgen zu sein, jene Aufstel-
lung zu akzeptieren. Außerdem gilt ja auch hier die oben angestellte
Überlegung: gesetzt den Fall, es handle sich um die Darstellung rein
erotischer Verzückung, so brauchte deshalb noch immer nicht, weder
in Wirklichkeit, noch im Geiste des schaffenden Künstlers, ein Zusammen-
fallen der beiden Ekstasen stattgefunden zu haben. Und der Pfeil, mit
dem der hinter der Gestalt der Heiligen befindliche Engel gegen ihr Herz
zielt und der dem Psychoanalytiker die sexuale Interpretation des Kunst-
werkes so ungemein erleichtert, mag schließlich nichts anderes als die
Verkörperung eines Gleichnisses sein, das nicht mehr sexuale Bedeutung
zu haben braucht als das, welches im Stabat mater von dem das Herz
Marias durchbohrenden Schwerte spricht.
Die zweite Frage ist die nach den Elementen, aus denen die Psycho-
soxualität sich aufbaut — soweit es überhaupt statthaft ist, von Elementen
im Seelischen zu sprechen — und von der Stellung der sexualen Erleb-
nisse in der Gesamtheit des Psychischen.
Moll (83) hat den Geschlechtstrieb in zwei, zwar miteinander meist ver-
gesellschaftete, aber nicht mit zwingender Notwendigkeit verbundene
Triebregungen zerlegt. Von diesen beiden Trieben nennt er den einen
Detumeszenztrieb, jenen, welcher auf die Entledigung des Geschlechts-
produktes drängt, mid den anderen Kontrektationstrieb, dessen Ziel die
innige Berührung mit dem Sexualobjekt bildet. Dieser zunächst biolo-
gischen Zerlegung sollen auch zwei Momente der psychosexualen Abläufe
entsprechen. Man wird dem Detumeszenztrieb eine gewisse nach Lösung
drängende Spannung, dem Kontrektationstrieb den Wunsch nach An-
näherung an, Vereinigung mit dem Sexualobjekt an die Seite stellen dürfen.
Eine eingehendere psychologische Charakterisierung soll späterhin ver-
sucht werden.
344 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Es ist indes notwendig, sich schon an dieser Stelle mit einer anderen
Lehre vom Aufbau der Sexualität auseinanderzusetzen, das ist die wiederum
von Freud (43) inaugiu-ierte Anschauung von den den eigentlichen und
endgültigen Sexualtrieb aufbauenden „Partialtrieben". Es ist diese Er-
örtenmg um so notwendiger, als es sich bei dieser Lehre nicht um
eine biologische, sondern ausgesprochen um eine psychologische han-
delt. Man muß sich fragen, welche Gründe für die Anerkenniuig solcher
Partialtriebe als real vorkommender Erlebnisse oder Seiten von Erleb-
nissen sprechen, ob diese Zerfällung der Sexualität in und ihre Entwick-
lung aas solchen Partialtrieben mehr sei als eine Andeutung, eine Fik-
tion, und wenn das nicht der Fall sein sollte, welcher der heuristische
und Erklärungswert dieser Fiktion etwa sei.
Als derartige Partialtriebe bezeichnet Freud in seinen „Drei Abhand-
lungen zm* Sexualtheorie": den Trieb der Schaulust und der Exhibition
und den aktiv und passiv ausgebildeten Trieb zur Grausamkeit (a. a. O.
S. 20). Auch diese Partialtriebe sollen nichts Primäres sein, sondern
eine weitere Zerlegung zulassen. Man wird ohne weiteres zugeben, daß
die genannten Triebe auch im normalen Sexualleben angetroffen werden,
daß demselben etwa eine bald mehr, bald weniger ausgesprochene Aggres-
sionstendenz eignet, und daß die Lust am Schmerze, angetanem und er-
littenem, durchaus in die Breite des Normalen fällt; man denke etwa
an 'die genauen Vorschriften des Kamasutram hinsichtlich des Gebrauches
der Zähne und der Nägel. Ebenso ist ein gewisser exhibitionistischer
Zug anzuerkennen (s. w. u. über die Entkleidungsphantasien) und sicher-
lich eine, meist sogar deutliche Schaulust. Es fragt sich aber, ob man
berechtigt ist, diese Momente normaler Sexualität deshalb, weil sie in
manchen Fällen — Perversionen, Neurosen — manifest oder vielleicht
maskiert das Übergewicht erlangen, das Bild der Sexualität beherrschen
können, als „Partialtriebe" anzusehen, was doch schlechterdings nichts
anderes besagen kann, als daß ihnen eine relative Selbständigkeit zuer-
kannt w'erden soll und daß sie daher als an und für sich relativ un-
abhängige Konstituentien in den Gesamtsexualtrieb eingehen. Metho-
dologisch ist hierzu anzumerken, daß diese Lehre aus der Beobachtung
des Abnormen stammt, hergeleitet ist aus der analytischen Betrachtung
der Perversionen einerseits, der Psychoneurosen anderseits. Wiewohl nun
niemand bezweifeln wird, daß die Psychopathologie außerordentlich be-
deutsame Aufklärungen für die Erkenntnis der normalen Seelenvorgänge
liefern kann und geliefert hat, so darf sie doch nicht alleinige Erkenntnis-
quelle und vielleicht auch nicht Ausgangspunkt sein. Man wird m. E.
Scheler (i6i) recht geben müssen, wenn er grundsätzlich der Psycho-
analyse zum Vorwurf macht, daß sie ihre aus der Beobachtung von
pathologischem oder zumindest abgeartetem Material her abgeleiteten Er-
fahrungen und Anschauungen ohne weiteres auf die Verhältnisse beim Nor-
maleai glaubt übertragen zu können. Auf alle Fälle müßten derart ge-
wonnene Theoreme den Nachweis ihrer Gültigkeit für das normale Sexual-
leben erbringen. Die Psychoanalyse hat diesen Versuch zwar unternommen;
aber nicht, indem sie durch eine Analyse des Gesimden den Bestand gleicher
Mechanismen, Triebe usw. für dessen Sexualität nachvries, sondern indem
EINLEITUNG 345
sie gewisse, sich solcher Krkläriuig hieloiide J:^rschoiiiuiigen einlach
auf Grund der Krlahrun^-ii am I'athologiselien inlerpretierle. Icli kann
an dies^'r Stelle uiunöglieli auf eine Kritik psychoanalytischer MeÜiodik
eingelien. wiewohl es ei^'enlUch erforderlich wäre, da (he nKxlerne Sexual-
forschun^ sich vielfach dej-selhen Ix^lient, und gar manche Behauptung
nur durch diese Crt'iu'se verstämllich wird. Einiges wird zwar arüälilich
der Erörterung über die etwaigen Umgestaltungen des Sexualtriebes und
an andcTtai Stellen noch nachgetragen werden können, doch wird auch
dies schlechterdings fragmentarisch bleiben müssen, \iellcicht darf hier
auf meine anderen Ortes gegebene Würdigung psychoanalytischer Melho-
dou und Theorien verwiesen werden.
Die L*hre von den Partial trieben läßt sich also vielleicht in Kürze
folgendermafSen formulieren. Während die Sexualität des normalen Er-
wachsenen beherrscht wird von der spezifischen Geschlechtsempfindung
und dem mit ihr verquickten, auf sie aufgebauten Sexualaffekt, sehen
wir beim Kinde nicht nur die verschiedensten Körperregionen zu Quellen
sexualer Lust werden, sondern daneben auch eine gewisse Richtung auf
andere Personen, die aber natürlich nicht auf das normale Sexualziel
gehe» kann, sondern sich in Gestalt der Schau- und Zeigelust sowie der
Grausamkeil äußert. Von diesen Trieben nun heißt es, daß sie ,,in ihre
innigen Beziehungen zum Sexualleben erst später eintreten, aber schon in
den Kinderjahren als zunächst von der erogenen Sexualtätigkeit ge-
sonderte, selbständige Strebungen bemerkbar werden"; aber auch, „daß
der Schautrieb beim Kinde als spontane Sexualäußerung aufzutreten ver-
mag". Dagegen soll die Entwicklung der ,, Grausamkeitskomponente des
Sexualtriebes" eine weit größere Unabhängigkeit von der sonstigen, an
erogene Zonen gebundenen Sexualbetätigung erkennen lassen, wenn auch
hier vorzeitige Verschmelzungen vorkämen. Die Sexualität des Erwachsenen
faßt nun diese relativ unabhängigen „Partialtriebe" oder „Kompo-
nenten", die genitalen oder erogenen i. e. S., den Schau- bzw. Zeige-
trieb und die Grausamkeit in ein einheitliches Gebilde zusammen,
das also erst aus der Verschmelzung dieser Komponenten entsteht, und
innerhalb dessen diese, je nach der individuellen Beschaffenheit, am deut-
lichsten bei den Perversen, mehr oder weniger hervortreten.
Sehen wir von den oben angedeuteten methodischen Bedenken ab, und
nehmen wir an, es ließe sich das beim pathologischen Materiale aufzufindende
Tatsächliche auch beim normalen aufzeigen, so bleibt noch immer die Frage
nach der Berechtigung der Interpretation. Deskriptiv läßt sich doch zunächst
nur feststellen, daß die gegensätzlichen Triebpaare vorkommen und je nach-
dem das Gesamtbild der psychosexualen Beschaffenheit eines Individumns
nuancieren. Jede Behauptung von ihrer Sonderexistenz und konstitutiven
Bedeutung geht natürlich über das TaLsächliche hinaus und ist Theorem.
Sie kann Anspruch auf Anerkennung nur dann erheben, wenn sie
in sich logisch gerechtfertigt ist und das Tatsächliche in widerspruchs-
freier und für weitere Erkenntnis brauchbarer Weise zu ordnen vermag,
d. h. sie muß der immanenten Kritik ebenso wie der Konfrontierung
mit den phänomenologischen Tatsachen standhalten. Ich glaube nicht, daß
dies der Fall ist. Zunächst wird bei dieser Aufstellung nämlich die grund-
346 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
sätzlicho Annahme gemacht, daß der Sexualtrieb irgendwie additiv aus
Einzelteilen entstehen könne; daß mit dieser Annahme gewisse prinzipielle
Bedenken wachgerufen werden, scheint A. Adler (2) bemerkt zu haben,
da or sich bewogen sah, für das Zusammentreten der Partialtriebe zu
dem Ganzen des vollendeten Sexualtriebes den Begriff der „Triebver-
schränkung" zu schaffen, um offenbar dadurch eine über die bloße
Summation nach Analogie des Zusammenwirkens physikalischer Kräfte
hinausgehende, spezifische und Spezifisches erzeugende Verknüpfungs-
art anzudeuten. Die Aufstellung der Lehre von den Partialtrieben gründet
anscheinend in der das ganze psychoanalytische Theoriengebäude durch-
setzenden Grundannahme, daß das Seelenleben in seiner Gesetzlichkeit
nach Art naturwissenschaftlicher Erkenntnisweisen erfaßt werden könne,
daß man berechtigt sei, auch hier von Kräften zu sprechen, die sich zu-
einander addieren oder voneinander subtrahieren lassen, von Mechanismen
und dergleichen, die gewissermaßen isoliert, herausgelöst aus der Totalität
des Seelischen, einer Betrachtung unterworfen werden können, sowie
etwa die Bewegungen zweier Massen, so sehr sie letzten Endes jeden Augen-
blick vom Gesamtzustand© des Kosmos determiniert werden, für sich
behandelt werden können. G«wiß wird jede wissenschaftliche Psychologie
den jeweils sie interessierenden Aspekt seelischen Geschehens isolieren
und für sich betrachten; daraus folgt aber keineswegs, daß allemal die
MögKchkeit additiver Zusammensetzung zum Ganzen angenommen werden
müßte. Mit solchen Fragen rührt man, ^vie einzusehen, an die letzten Grund-
lagen psychologischer Forschung überhaupt, die nicht mehr der Psycho-
logie, sondern der Theorie der Psychologie, ihrer Wissenschaftslehre,
der Erkenntnistheorie, angehören, und eben darum hier auch nicht zur
Diskussion stehen können. Es sollte nur auf diese Gnmdannaiime
hingewiesen werden und auf die Notwendigkeit, sie vor dem Forulm
der Erkenntnistheorie zu rechtfertigen, darauf, daß sie nicht ohne
weiteres Gültigkeit beanspruchen darf.
Dagegen ist es an dieser Stelle wohl gestattet, die Frage nach den Be-
ziehungen der Lehre von den Partialtrieben zu den psychologischen Tat-
sachen aufzuwerfen. Es scheint zweifellos das sexuale Erleben als solches
eine Zerlegung in konstituierende Faktoren nicht zuzulassen. Die ver-
schiedenen Nuancen, in welchen es bei verschiedenen oder auch bei ein
und demselben Individuum auftritt, imponieren eben nur als Nuancen,
als qualitative Varianten einer an sich stets identischen und als identisch
stets unmittelbar erkannten Tendenz, nicht aber als ein Mehr oder Weniger
von dieser oder jener Komponente. Man vrird sogar zweifeln dürfen, ob
diese Nuancierung überhaupt den Kern des sexualen Erlebens selbst trifft.
Es hat den Anschein — wovon später noch mehr zu sagen sein wird — ,
daß die Inhalte dieses Erlebens zwar die verschiedensten Gestalten annehmen
können, daß, in der sehr treffenden Terminologie Freuds, Sexualziel
und Sexualobjekt weitgehend wechseln können, daß aber jene Momente,
welche dem Erleben die Signatur eben des Sexuellen aufprägen, sich
allemal gleichbleiben. Erst durch die ,, Verschränkung" der Schaulust,
Schmerzlust usw. mit diesem in sich unveränderlichen Sexualtrieb er-
langen die genannten Triebe eine Beziehung zu Sexuellem. Sie können
EINLEITUNG 347
also für sich keine Partialtriebe der Sexualität sein; denn, um diese
Funktion zu erfüllen, inüljte ihnen, unahhänjj^if^ von ihrem Zusammen-
tix'ten mit dem sexualen Gruntltrieh, eine Beziehung zur Sexualsphäre
innewohnen.
Warum letzten Endes diese Partialtriebe gerade befähigt sind, Kompo-
nenten des schlielilifhen Geschlechlstriebas abzugehen, wird, soviel ich
sehen kaim, von der psychoanalytischen 'llieorie nicht ersichtlich gemacht.
Nur eine — im Abschnitte über die Ontogenie der Sexualität in extenso
aufzuführende — Stelle in den Abhandlungen Freuds über infantile
Sexualtheorien weist darauf hin, daß Freud offenbar der erogenen
Sexualtätigkeit von vorneherein ein Moment der Aggression (das Kind
empfinde einen unbestinunten Drang zu allerlei aggressiven Handlungen,
so auch „ein Loch aufzureißen) zuschreiben will.
Nimmt man nun an, es sei tatsächlich solch eine Synthese aus Partial-
trieben in irgendeiner Weise vorstellbar, wogegen ja eben schwere Be-
denken auftauchten, so mrd man immer fragen müssen, ob denn mit
der Aufstellung dieser ,, Partialtriebe" wirklich etwas gewonnen ist, vor
allem, ob damit ein für die Sexualsphäre irgend charakteristisches Merk-
mal aufgefunden sein könnte, das sie vor sonstigen Bereichen seelischen
Geschehens auszeichnen, abzusondern gestatten würde.
Gerade das scheint mir aber nicht der Fall zu sein. So bestechend diese
ganze Theorie zunächst klingt, so gering deucht mich bei näherem
Zusehen ihr Erklärungswert. Geht man von der vollentwickelten Sexuali-
tät aus, so besagt die Lehre, daß Schau- bzw. Zeigelust und Aggressions-
trieb bzw. dessen Negativ in den Dienst der sexualen Lustgewdnnung ge-
stellt werden. Diese Lustgewinnung kann normalerweise nur verwirklicht
werden durch die Inbezieh ungsetzung mit einem zweiten Individuum.
Hat es nicht den .\nschein, als sei die Aufzählung jener konstituierenden
Partialtriebe mit dem eben ausgesprochenen Satz durchaus gleichbe-
deutend? Denn es kann doch wohl eine Beziehung zwischen zwei Indi-
viduen kaum anders hergestellt werden, denn durch wechselseitige Be-
trachtung, wechselseitige Berührung und Bewältigung. Überhaupt zu
keinem Gegenstande der Außenwelt ist auf andere Weise eine Beziehung
zu verwirklichen. Es heißt dann diese ganze Lehre doch nichts anderes,
als daß alle jene Verhaltungsweisen, durch die sich das Individuum der
Welt überhaupt bemächtigt, ihm auch bei der Bemächtigung eines zweiten
Individuums dienstbar werden, selbstverständlich werden müssen, weil
andere Mittel gar nicht zu Gebote stehen.
Und wenn wir hören, daß mit der Herstellung des P^jmates der
Genitalzone diese ,, Partialtriebe" nunmehr synthetisch mit dem spezifisch
erogenen Triebe verschmelzen, so kann auch diese Behauptung nur den
Sinn haben, daß eine neu sich geltend machende Richtung der Be-
mächtigung in vorhandenen, früher aber natürlich in diesem Sinne noch
nicht verwerteten — denn es fehlte das Bezugszentrum — Verhaltungs-
weisen gegenüber der Welt im allgemeinen auch diesem neuen, zumindest
in seiner Eindeutigkeit und Stärke neuen. Triebe zur Verfügung gestellt
wird. Letzten Endes scheint also die Lehre von den Parlial trieben
348 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
nicht mehr zu besagen als dieses: daß die Bemächtigung des Welt-
bestandteiles „^Vnderes Individuum" nach dem gleichen Schema versucht
wird vne die der anderen Weltbestandteile auch.
Vielleicht klären sich diese komplizierten Verhältnisse einigermaßen — ob-
wohl sie kaum je, sicherlich nicht auf Grund unserer heutigen Ein-
sichten völlig durchsichtig werden mögen — , wenn man den Sexual-
trieb wirklich phänomenologisch so gut es geht zu erfassen tfachtet.
Es scheint mir hier eine Unterscheidung möglich zu sein, welche
Stransky (112) einmal in bezug auf die Angst getroffen hat.
Stransky nämlich führt aus, daß man eine „Angstempfindung" unter-
scheiden könne von dem „Angstaffekt". „Erstere stellt eine, bzw. besser
gesagt, eine Gruppe verwandter, in das große Gebiet der sogenannten
Gemeinempfindungen, speziell zu der als Organempfindungen bezeich-
neten Unterklasse dieser letzteren gehöriger Empfindungen dar, welche
eine charakteristische spezifische Färbung besitzen." Es wdrd darauf
verwiesen, daß französische Autoren, so vor allem Brissaud, strenge
„angoisse" und „anxiete" auseinanderhalten, femer, daß die gleiche
Scheidung von mehr weniger elementaren Empfindungen und den auf
ihnen sich aufbauenden affektiven Zuständen auch anderweits aufzeigbar
sei, so beim Schmerz, beim Ekel, beim Schwindel.
Anal(^ dürfte wohl auch innerhalb der Sphäre sexualen Erlebens
zwischen der Geschlechtsempfindung und der komplexen, ihr super-
ponierten, in ihr gründenden Gesamtlage psychischer Sexualerregung
unterschieden werden können. Die Sexualempfindung braucht dabei übri-
gens keineswegs allein als Wahrnehmung spezifisch genitaler Vorgänge
angesehen zu werden, wenn auch diese — selbstverständlich — in der
Regel ausschlaggebend sind.
Wendet man diese, nicht rein begriffliche, sondern m. E. im Phäno-
menalen unmittelbar als tatsächlich zu konstatierende Scheidung auf die
oben beregte Frage nach den etwaigen konstituierenden Faktoren der
Sexualität an, so scheint sich folgendes sagen zu lassen. Für die Ge-
schlechtsempfindungen sind Parüaltriebe, welche sie konstituieren sollen,
wohl nicht denkbar. Auch die Mollsche Auseinanderlegung in Kon-
trektations- und Detumeszenztrieb kann hier nicht gelten. I)enn offen-
bar ist die Geschlechtsempfindung diu'ch diese Triebe nur ausgelöst, sie
gehen aber — glaube ich — nicht in dieselbe als Erlebnis ein. Ja,
im Lichte dieser Gegenüberstellung: Geschlechtsempfindimg — Geschlechts-
affekt erscheinen die zwei Grundtriebe Molls als gar nicht ein imd
derselben Sphäre angehörend. Denn die Organempfindungen, welche zur
Detumeszenz drängen, sind doch wx)hl nicht mit jenen Neigungen auf
eine Stufe zu stellen, die sich als Kontrektations-, als Berührungs trieb
äußern. Man wäre versucht zu sagen, jene tragen zur Geschlechtsempfin-
dung, diese zum Sexualaffekt l^i. Die Mollsche Scheidung ist eben,
wie oben schon bemerkt, wesentlich eine biologische, keine psychologische,
d. h. es entsprechen ihr zwar differente seelische Abläufe, aber deren
Unterscheidung wird durch die beiden genannten Begriffe nicht er-
schöpfend und nicht in ihrem Wesen getroffen.
EINLEITUNG 349
-Nur ii) (ItMi Si'xualafIVkl kiwiiilcn solch»* l^artiallriclx» (Hii;2:('h»Mi. Sio
köiiiH'ii sich nicht zu ilini v«M>cliräiikeii, sondern hck-hstens mit ihm,
denn er ist. wie pesa^t, die Voraussetzung, damit die Partialtrit»!x^ ühx'r-
haupt erst eine lieziehun^ auf Se\uah\s erlangen. Nun aber scheint mir
die Lehre von den Partialtrieben nichts anderes zu sein, als eine Aus-
deutung des TatlK^standcN. dalS Afi'ektziistände weile mid wechselnde
Bereiche seelischen Geschehens sozusagen an sich ziehen und durch-
driniriMi könncMi. Also, daß die Existenz solcher Nuancierungen der
Affeklauswirkung keineswegs eine Eigentümlich keil des Sexualaffektes
sei. Der Ausdruck: Auswirkung wolle nicht mifiverstanden werden. Es
ist nicht damit die Menge der konsekutiven Phänomene gemeint, die»
sich an einen manifesten Sexualaffekt anschließen oder durch ihn be-
dingt werden, sondern etwa dieses: der sich im Laufe des Lebens oder
in einem einzelnen Zeilpunkt desselben — chronisch oder akut sozu-
sagen — entfaltende Sexualaffekt zieht, je nach Konstitution und Kon-
stellation oder Kondition verschiedene Bereiche in seine Kreise, durch-
dringt sie und bedient sich ihrer gewissermaßen, um sich zu verkörpern,
natürlich in metaphorischem Sinne'. Die Parlialtriebe können dem Sexual-
affekl nur das Material liefern, in dem und an dem er sich betätigen und
gestalten soll, nicht aber ihn selbst konstituieren.
Ich will gerne gestehen, daß diese Frage noch weiterer Vertiefung
bedarf, glaube aber nicht, daß unsere tatsächlichen Kenntnisse dazu
heute ausreichen, und eine daher notwendigerweise mehr apriorische
und spekulative Betrachtung dürfte hier nicht angezeigt sein. Wie noch
an vielen Punkten muß auch hier die Diskussion sich mit einem nega-
tiven Ergebnis einstweilen zufrieden geben. Übrigens kommen wir darauf
noch zurück.
Im Anschluß an die eben gepflogenen Erörterungen ist nun noch die
letzte Frage, mit der sich dieser einleitende Abschnitt zu befassen hat,
kurz zu erörtern, die Frage nach der Stellung der Psychosexualität inner-
halb der Gesamtheit seelischen Lebens. Eben wurde angeführt, daß
die Phänomene der Sexualität sich nach zwei Richtungen scheiden lassen,
daß man /Vnlaß hat, eine Sexualempfindung neben einem komplexen
psychischen Gesamtzustand anzunehmen, welchen man wohl ohne weiteres
als Sexualaffekt bezeichnen darf. Die Sexualempfindung ist genetisch
jedenfalls an gewisse Organreize gebunden, an Spontan Veränderungen
der Organe, wie die durch die Ansammlung des Keimdrüsensekretes
gesetzt werden mögen, und an Reize, >vie sie durch Berührungen der
erogenen Zonen bewirkt werden. Sicherlich ist aber dieser Weg von
der Peripherie zum Zentrum nicht der einzige, auf welchem die Sexual-
1 Ich möchte nicht unterlassen, auf eine Verwandtschaft dieses Gedankenganges mit
solchen der Psychoanalyse hinzuweisen; man könnte hier nämlich an die ,, Traumarbeit"
denken, und meinen, sowie dort der latente Trauminhalt das Material für seine mani-
feste Gestaltung wo immer herbezieht (,,Tagesresle"), so werde hier einem an sich
noch gestaltlosen Affekt oder Trieb eine Wirkung ähnlicher Art zugeschrieben. Ich
glaube, die Analogie ist mehr äußerlich. Jedenfalls will es hier ein ungefähre« Bild,
dort eine adäcpiate Darstellung konkreter Vorgänge sein.
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
350
ernnfindung zustande kommen kann, da die alltägliche Erfahrung lehrt,
dafS auch die umgekehrte Richtung durchaus gangbar ist, daß Vor-
slelhmgcn Phantasien, sowie Reize anderer Sinnesgebiete die Sexual-
,'.„,,, findung enUstchen lassen - allerdings offenbar auf dem Umwege
üIk'i- die peripheren Mechanismen. Man ^^d^d also vielleicht sagen dürfen,
dali (li<' Sexualempfindung wesentlich an gewisse somatische Veränderungen
geknüpft sei, welche ihrerseits teils durch periphere Reize, teils durch
psychische Momente hervorgerufen werden können. Ob es Halluzina-
tionen auf diesem Gebiete gibt, ist schwer zu entscheiden. Es müßte
ülHTiiaupt erst die Vorfrage Reantwortung finden, ob halluzinatorische
Ziisländc dieser Art — also z. R. eine halluzinatorische Angstempfin-
duiiij — vorkommen; es wäre ja denkbar, daß sich bei Fällen, für welche
niaif solches anzunehmen geneigt wäre, immer vvieder die periphere
Veränderung nachweisen oder zumindest wahrscheinlich machen ließe,
bei der Angst Veränderungen des Zirkulationsapparates (vgl. Rraun,
Herz und Psyche), bei der Sexualempfindung Erregungen der genitalen
und der ihr funktional angeordneten Zonen. Freilich dürfte sich die
Reweisführung in diesem Punkte recht schwierig gestalten. Man trifft
zwar, und nicht selten, auf Geisteskranke, welche über absonderliche
Sensationen im Rereiche der Geschlechtsorgane klagen; bekanntlich sind
solche Äußerungen von Schizophrenen häufig zu vernehmen. Ich ent-
sinne mich eines solchen Kranken, welcher während der körperlichen
Untersuchung angab, jetzt eben werde ilim — durch einen komplizierten
Reeinflussungsapparat seiner Feinde, mit Hilfe von Strahlen geheim-
nisvoller Art — das Glied „verstört"; eine sichtbare Veränderung am
Genitale, etwa angedeutete Erektion, war nicht wahrzunehmen. .Aber
von diesem negativen Refimde bis zur Annahme einer Halluzination ist
doch noch ein weiter Weg.
Was nun den Sexualaffekt anlangt, so ist ja seine psychologische Um-
grenzung und Reschreibung Aufgabe eines besonderen Abschnittes der
folgender. Darstellung. Hier nur soviel: ohne uns auf Regriffsbestim-
mungeii einzulassen, ist wohl klar, daß dieser Zustand der emotiven
Sphäre angehört und Affekt genannt werden darf. Er teilt mit den
sonstigen Affekten die Eigentümlichkeit, bei einer ge>vissen Ausprägung
sozusagen die Hegemonie innerhalb der Seele an sich zu reißen, alles
andere, was inhaltlich anderweitig bestimmt daneben noch etwa abläuft,
zu durchdringen und zu färben. Mehr als irgendein anderer Affekt
vermag er in jenen chronischen Zustand überzugehen, den man Leiden-
schaft nennt. Es rechtfertigt sich aber die besondere Rehandlung gerade
dieses einen Affektes, an Stelle einer Einfügung desselben in eine Psycho-
logie des Affektlebens überhaupt, eben dadurch, daß er mehr als sonst
einei' sekundäre affektive Prozesse hervorzurufen vermag; kaum je wird
ein anderes affektives Verhalten Weiterungen zeugen, wie es die Eifer-
sucht, die Leidenschaft des Dienens u. dgl. sind; kaum je auch wird
ein anderer Affekt so umgestaltend auf die Gesamtpsyche einwirken
können, wie es die Geschlechtsliebe tut. Gewiß kommt das vor: Religion,
Vaterlandsliebe, poKtische Überzeugungen — aber wie sehr uns die
Affekte der Sexualität als Prototyp imd eigentliches Gebiet solcher Ver-
EINLEITUNG 351
haltung>i weisen erscheinen, lehrt doch der Umstand, daß wir in jenen
anderen Fällen eben von „Läebe" sprechen: Liebe zu Gott, zum \ater-
land, zur Sache.
In dieser Einleitung sei noch ein Wort über die gewälilte Darstellung, vornehmlich
über die Verwertung der Literatur angefügt. Eine wirkliche Psychologie der Sexualität
ist kaum zu finden; das Beste hat wohl Stendhal (iio) gesagt in seiner aphori-
stischen Weise. EHe wissenschaftliche Literatur ist arm an brauchbaren zusammen-
fassenden und Einzeldarstellungen. Was aus der Literatur stammt in den folgenden
Ausführungen, wird der Kundige leicht bemerken. Unaufhörlich Autoren zu zitieren,
habe ich für überflüssig und den Gang der Darstellung störend erachtet. Das Literatur-
verzeichnis ist weit davon entfernt, eine Bibliographie der Sexualpsychologie, ge-
schweige der Sexuologie überhaupt sein zu wollen. Es sind Hinweise auf die benützte
Literatur und auf jene Arbeiten, von denen aus man zu weiterer Orientierung ge-
langen kann. Insbesondere fehlt die sexualpathologische Literatur fast völlig — aus
Gründen, die sich aus den späteren Darlegungen ergeben werden — sowie alles
ethnologische Material, das, interessant an sich, zwar über Sitten und Gebräuche,
nicht aber über Seelisches Aufschluß gibt.
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN
Die Geschlechtsempfindung, d. h. die Summe aller jener
Sensationen, welche die ausg-ebildete oder abortive geschlechtliche Er-
regung mit sich bringt, ist nicht zu beschreiben. Es lassen sich einzelne
Momente an ihr wohl angeben, das G«samterlebnis aber kann nur aufge-
wiesen, nicht beschrieben werden. Überdies sind die dazu vorliegenden
Angaben außerordentlich mangelhaft und unpräzise. Die Betrachtung
der Sexualempfindimg muß deren Anstieg, Kulmination und Abklingen
berücksichtigen. In allen Stadien findet man in der Geschlechtsempfin-
dung neben den spezifisch an die Geschlechtsorgane gebundenen Sensa-
tionen eine Reihe weiterer, die doch wohl eine gewisse Scheidung in
primäre und sekundäre auch unmittelbar für das Bewußtsein des Er-
lebenden zulassen. Sekundär sind z. B. die Beschleunigung der Herz-
tätigkeit, eine gewisse muskuläre Unruhe u. dgl.
Die spezifische Organempfindung kann in ilirem Beginne und Anstiege
am ehesten als eine Spannungsempfindung gekennzeichnet werden von
eigen tümKcher Art. Ihr Zustandekommen verlangt nicht imbedingt die
manifeste Organveränderung (Erektion), indem sie zweifellos derselben
vorangehen kann. Wir wissen, daß normalerweise von xmseren Organen
in das Zentrum einströmende Reize nicht zu deutlich unterschiedenen,
wenn überhaupt zu Empfindungen "Anlaß geben. Die „Organgefühle'"
entstehen erst durch — normale oder pathologische — Zustandsänderungen
oder gelegentlich durch besondere Hinwendung der Aufmerksamkeit auf
das betreffende Organ. Sowohl letztere Einstellung als auch mechanische
Reizung, Druck, Berührung erzeugen irgendwelche spezifische Empfin-
dungen an den Geschlechtsteilen. Es wäre interessant zu wissen, ob
die Spannungsempfindimg bzw. der durch sie als hervorstechendstes
Merkmal gekennzeichnete Empfindungskomplex der beginnenden .und
ansteigenden Sexualerregung mit diesen Organempfindungen irgendwie
weeensverwandt ist oder aus ihnen hervorgeht. Dies zu entscheiden,
bin ich indes außerstande. Wohl niemals erreicht diese Empfindung
nennenswertere Ausprägung, ohne von den spezifischen Organveränderungen
begleitet zu werben. Mit diesen verbindet sich ein Drang nacsh Lösung,
nach dem Sexualziel, der aber keineswegs immer zur Krise führen muß.
Was den Gefühlswert dieser Empfindungen anlangt, so ist zu sagen,
daß die Spannung selbst bereits lustbebont ist, nicht erst deren Lösung,
daher sie auch von Individuen aufgesucht wird, welche sicherlich von
der Unmöglichkeit wdssen, in einer gegebenen Situation die Lösung herbei-
zuführen. Es gibt sogar Menschen, welcho den Lustwert der bloßen
Erregung über den der Befriedigung stellen. Indes verdient angemerkt
zu werden, daß somatische Erregungszustände der Genitalsphäre — aller-
dings wohl nur in pathologischen Zuständen — vorkommen, welche ganz
DIE SEXUALITÄT DKH (iKSCHlJ-lCHT.SRKIFEN 353
ohne Luslf^^fühle, ja mit ausgevsprocheiieri (]uäliMi(lon LnliLstf^erüliIiMi
einhorf^M>luMi (^l*ri;i|)i:>inu.s). \ on (liosen Ausnahinrii alxM* al)geseh(Mi, kr>niioii
sich l iilusL'uionioule aiicli ilein ErleJjcn der iiormahui Scxualern^^'^uiig
boiniischen. Sokundäror Natur, wenn es sich uni Reaktionen auf die
Erregung, Gefühl der Schukl, der Sünde, des Inreinon u. dgl. handelt,
auch dann, wenn die Erregung als störend eni[)fuiideti wird, als Ah-
lenkung von anderen Erlebnissen; primärer Natur, wenn die Spanining
einen gewissen Grad, ohne die Aussioht auf eine Befriedigungsmöglich-
keil, eiTeichl hat, obwohl dadurch die Auswirkung zumeist nicht auf-
gehoben erscheint. Darüber hinaus sdheint es aber, dafS eine gewisse
Unlustkomponente, zumindest bei manchen Menschen, von vorneherein
mitgegeben sei; es ist ein zugleich lust- und unlustbetonter Komplex,
eine luslvolle Unlust, unlustvolle Lust. Eine Sonderung ist wohl nicht
möglich. Die Bedeutung der Unlustkomponente für den Sexualaffekt
konimt noch zur Sprache. Für Forster ist die Sexualspannung
überhaupt wesentlich beunruhigend, schmerzlich, unlustbringend. Ob
zwischen der Geschlechtsempfindung beim Manne und bei der Frau Unter-
schiede bestehen, ist kaum zu sagen. Man wird solche wohl schon mit
Rücksicht auf die anatomischen Verschiedenheiten der Organe annehmen
dürfen, aber kaum irgendwie präzisieren können. Eher möglich scheint
es, im Bereiche der nicht an die Grenitalsphäre gebundenen Empfindungen
etwas über solche geschlechtsbedingte Differenzen auszumachen.
Diese Be^leitphänomene sind, weil sie ohne scharfe Grenze in das dunkle
Chaos der „Gemeinempfindungen" übergehen, ebenfalls schwer zu fassen,
aul^rdem an keinen anatomisch definiten Ort gebunden. Vielleicht läßt
sich ein eigenartiges Haut- und möglicherweise auch Muskelgefühl heraus-
heben. Das Hautgefühl mag mit Blutverschiebungen zusammenhängen,
die zmii Teil und gelegentlich in Rötung der Gesichtshaut deuthch werden.
Über diese Phänomene, die ja an und für sich experimenteller Analyse
zugänglich wären, fehlen begreiflicherwieise genauere Daten.
Auch die Krisis, die Lösung der Sexualspannung, ist ein spezifisch ge-
färbter Empfindungskomplex, in den nicht allein lokal ausgelöste, sondern
auch den ganzen Körper beteiligende Sensationen eingehen. Hier ist
eine genauere Analyse schon darum undurchführbar, weil in diesem
Augenblicke eine Selbstbeobachtung wohl ausgeschlossen, aber auch die
nachträgliche Erinnerung eine nur mangelhafte ist. Es scheint nicht, daß
im Nachhinein eine wirkliche Vergegenwärtigung dieses Erlebnisses ge-
länge; was erinnert wird, ist die allgemeine Quahtät, wovon beim Sexual-
affekt zu handeln sein wird, nicht aber deskriptiv zu fassende Einzelheiten.
Was hier etwa gesagt werden könnte, von Dauer des Anstieges und des.
Paroxysmus usw. gehört mehr der Sexualphysiologie an als dem hier
zu erörternden Themenkreise.
Psychologisch interessant, aber darum nicht minder unverständlich ist
die Tatsache der willensmäßigen Beeinflußbarkeit, der Hemmung nämUch
der eingetretenen oder im Eintreten begriffenen Sexualerrogung. Die-
selbe gelingt wohl nur in noch nicht weitgehend entwickelten Stadien.
In der Mehrzahl der Fälle dürfte sie nach dem Schema der „Ablenkung"
vollzogen werden, der Hinwendung an andere Gegenstände. Es gibt
23 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
354 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
aber auch eine in ihrem Mechanismus ganz unklai«, direkte wesentliche
Unterdrückung. Daß andere Affekte von hinlänglicher Heftigkeit die
Sexualerregung hemmen, nicht aufkommen lassen oder koupieren, ist
mehr weniger selbstverständlich.
Die Anlässe für das Auftreten der peripheren Sexualerregung und
mit ihr der Geschlechtsempfindung sind zweierlei. Sie sind organische
innere und äußere — nämlich in bezug auf die somatische Genital-
sphäre betrachtet. Innere Anlässe sind die im Organ selbst sich ab-
spielenden Veränderungen, also Sekretansanunlung, die den „Detumeszenz-
trieb" erwachen läßt. Äußere Anlässe in diesem Sinne sind alle Sinnes-
wahrnehmungen und Phantasien, welche die Sexualerregung herbeiführen
können, ferner die Reizung der „erogenen Zonen". Unter diesem Begriff
versteht Freud (/j3) jede Körperregion, deren Reizung imstande ist,
die Sexualerregung aiiszulösen, und zwar handelt es sich dabei eigentlich
nur um taktile Reize. Denn schließlich ist der Anblick etwa einer
„galanten" Darstellung auch eine Reizimg, des Auges, wenn man will,
oder über das Auge des Gehirnes, imd man müßte also auch diese Organe
den erogenen Zonen beizählen.
Beim Erwachsenen fungieren als erogene Zonen vor allem die Haut-
und Schleimhautpartien der Genitalorgane selbst; daneben aber eine
Reihe anderer Hautpartien, denen teils eine ursprüngliche besondere Eig-
nung in dieser Hinsicht zugeschrieben wird oder die aus individueller
Veranlagung oder infolge individueller Erfahrung diese Eigenschaft akqui-
riert haben. Wir kommen auf diese Frage anläßlich der Besprechung
der Ontogenie der Sexualität noch zurück, wde ^die psychischen Anlässe
im Abschnitte über Sexualaffekt bzw. über erotische Phantasien zur
Sprache kommen sollen.
Die durch die Reizung der erogenen Zonen erregte Lustempfindung,
welche die Phase bis zur erreichten Befriedigung beherrscht, bezeichnet
Freud als „Vorlust" im Gegensatze zu der eigentlichen sexuellen „Lust",
welche der Krisis entspringt.
Die Auslösung der sexualen Erregung kann übrigens auch durch
Muskeltätigkeit erfolgen, was die verschiedenen erotischen Tanzsitten be-
weisen. Alle diese Dinge gehören aber schon nicht mehr der Psychologie
an. Ebenso ist hier nicht von der Art der erogenen Reize zu sprechen
— Berührungen, rhythmische, streichelnde, kitzelnde; die Bedeutung der
Schmerzreize wird später zu würdigen sein.
Die Geschlechtsempfindung endet entweder kritisch oder allmählich
verklingend ly tisch. Letzteres ist der Fall, wenn es nicht zur Befriedi-
gung gekommen ist. Es bestehen auch hier Unterschiede zwischen den
beiden Geschlechtern, indem anscheinend auch die erreichte Befriedigung
bei der Frau nicht ein völliges, fast momentanes Sch\vinden wde beim
Mann mit sich bringen muß.
Über die Anspreclibarkeit des Erregungsmechanismus der spezifischen
Geschlechtsempfindung bei Mann und Frau gehen die Ansichten noch
inruner auseinander. \A'ährend vom Manne die leichte Auslösbarkeit der
Erregung bekannt und anerkannt ist, sehen die einen Autoren in der
Frau ein ebenso oder sogar noch leichter erregbares Wesen, andere
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 355
dagegeji sdireiben ihr im allgemeinen eine gelegentlich bis zur ünerreg-
barkeil, Frigidität, gesteigerte Unlerein|»fiiitllichkeit zu. Für die Periode
vor dem Eintreten positiver Sexualerfalirungen scheint es richtig zu sein,
dali die Genitalerregung bei der Frau eine mehr untergeordnete Rolle
spielt; womit keineswegrs ihre Asexualität behauptet wird. Es scheint
weiter, daß viele Frauen die Fähigkeit zu dieser spezifischen Erregung
und der daraus zu gewinnenden Lust oder Befriedigung erst allmählich
nach dem ersten Geschlechtsverkehr akquirieren.
Es ist aber bei der zweifellos sehr verschiedenen psychosexualen Artung
der beiden Geschlechter schwer zu sagen, ob das eine oder das andere
,, sinnlicher" sei, umsomehr, als ein Kriterium der Bemessung abgeht. Man
kann die Ansprechbarkeit zugrunde legen, oder aber die Leichtigkeit der
Befriedigung oder die ^Viderstandsfähigkeit bei schon aufgetretener Sexual-
erregung — immer wird man je nach der Beurteilungsgrundlage zu
anderen Elrgebnissen gelangen. Man könnte auch von der Rolle, welche
die Sexualität im Gesamtleben des Individuums spielt, ausgehen. Aller-
dings darf man sich dabei nicht allein auf die Geschlechtsempfindung
beziehen, sondern auf alle damit verbundenen Phänomene, den Sexual-
affekt und die Erotik, daher darüber im folgenden erst die Rede sein soll.
.\ls Sexualaffekt bezeichnen wir den komplexen, auf der Ge-
schlechtsempfindung oder dem ihr zugrunde liegenden zentralen Er-
regimgsprozesse (vgl. Einleitung) aufgebauten Zustand. Er ist Ausdruck
einer Bereitschaft zu diesen Verändenmgen der Seele und des Körpers,
dispositioneller Grundlagen, die im Kindesalter angelegt oder sogar schon
wirksam, ihre volle Bedeutung erst nach der Geschlechtsreife erhalten.
Diese Dispositionen klingen auch an, ohne daß ein ausgesprochener Sexual-
affekt i. e. S. zustande käme. Vielleicht darf man für dies An-
klingen ohne deutliche Greschlechtsempfindung, insbesondere ohne un-
mittelbare Richtung auf die Geschlechtsbefriedigung im Sexualakt den
Ausdruck ,, Erotik" reservieren, wenn er auch vielfach und so auch ge-
legentlich von uns im weiteren Sinne gebraucht wird. Die Gesamtheit
aller Reaktionen und Reaktionsbereitschaften, welche mit sexualen Mo-
menten in Zusammenhang stehen, und die daraus erwachsenden Erleb-
nisse bezeichnen wir als Psychosexualität. Auch der Sexualaffekt zeigt
ein Stadium des Anwachsens, eine Kulmination und eine Phase des Ver-
klingens.
Was zunächst die Anlässe für das Auftreten des Sexualaffektes an-
langt, so gilt hier das schon oben für die Geschlechtsempfindung Ange-
merkte. Es kann die affektive Seite des Gesamterlebens zuerst im Vorder-
gnmde stehen und sich daran die Entwicklung der somatischen Erregung
und der Sexualempfindung schließen; vielleicht allerdings liegt es so,
daß den psychischen Erscheinungen fast immer eine gewisse somatische
Komponente zugeordnet ist, die nur unbemerkt bleiben kann (s. indes das
über Kastraten vorhin Gesagte), oder aber die somatischen Phänomene
ziehen die psychisch-affektiven nach sich. Im allgemeinen werden wohl
beide Reihen ziemlich parallel gehen.
Sämtliche Sinnesgebiete können Anlässe für den Sexualaffekt beistellen.
Der Anblick des Geschlechtspartners, gewisser Körperteile desselben, ge-
23*
356 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
wisser Ausdruckserscheinungen spielt natürlich die Hauptrolle. Daneben
der Anblick von Bildwerken, die mehr oder weniger deutlich auf erotische
Inhalte hiowcisen, Darstellungen des Nackten, erotischer Szenen usw. Der
Mechanismus ist indes in diesen beiden Fällen nicht ganz der gleiche.
Dor Anblick des Sexualobjektes — ein Ausdruck Freuds — selbst
wirkt erregend und erzeugt in der Regel eine auf das wahrgenommene
Objekt selbst gerichtete Begierde. Nur in Ausnahmefällen, wenn die
Psychosexualität im vornherein schon auf ein bestimmtes Sexualobjekt
eingestellt ist, kann der Anblick eines beliebigen Objektes ganz oder zu-
mindest überwiegend eine auf jenes Objekt gerichtete Erregung erzeugen.
Dann nähert sich dieser Mechanismus dem im zweiten Falle typisch
wirksamen. Denn hier kann natürlich die sexuale Erregung sich kaum
auf den wahrgenommenen Gegenstand richten; schwerlich wird die
bildlich dargestellte Frau als solche begehrt. Es gibt allerdings Ab-
arluiigen der Sexualität, welche solches möglich machen, etwa Liebe
zu Statuen. Insbesondere in den Entwicklungsphasen noch ungerichteter
Sexualität (s. w. u.) kann solches vorkommen (vgl. z. B. Heines
Floren tinische Nächte). Die Regel dürfte es wohl sein, daß der Anblick
solcher Darstellungen erst durch die Verarbeitung, Vorstellungsproduktion,
Erzeugung von Phantasien insbesondere, durch das Sich-in-die-Situation-
Hinein versetzen erregend wirkt i. Durch die Umsetzung in anschau-
liche phantastische Szenen wirkt auch die Lektüre erotischer Schriften.
Gehörseindrücke spielen schon eioe weniger bedeutsame Rolle. Es gibt
zwar Menschen, für welche der Klang einer Stimme unmittelbar erotische
Werte besitzen kann. Daß die Stinmie des Geliebten erregend wirkt,
ist selbstverständlich und wohl wesentlich assoziativ bedingt. Nicht
eigentlich als Gehörseindruck, sondern durch den akustisch vermittelten
und in der Phantasie des Zuhörers anschaulich gestalteten Inhalt wirken
Erzählungen erotischer Tendenz, Zoten u. dgl. Wiederum inniger ist
die Verknüpfung zwischen Geruch und Sexualität, der Hagen (50)
eine eigene Studie gemdmet hat. Es ist bekannt, daß verschiedene Ge-
rüche des menschlichen Körpers erregend zu wirken vermögen. Die hier
obwaltenden individuellen Differenzen sind beträchtliche. Liepmann
(78) meint, daß das Dekollete der Frauen zumindest teilweise die Be-
deutung habe, einem Schornstein gleich die Körpergerüche zu sammeln
und zu leiten. Neben der von der Haut und den Schleimhäuten pro-
duzierten Riechstoffen können auch andere, teils unmittelbar, teils assoziativ
erotisch erregend wirken. Damit hängt die Verwendung von Parfüms
zusammen. Manchen Pflanzengerüchen wird eine spezifische Wirkung
in diesem Sinne zugeschrieben (eine Bemerkung dieser Art findet sich
z. B. in O. Mirbeaus „Le Jardin des supplices"). Assoziativ vrirken
natürlich Gerüche, die eine Erinnerung an irgendwelche erotische Szenen
oder Erlebnisse, an bestimmte Personen hervorrufen, an Zeiten ge-
steigerter SexuaKtät überhaupt.
Auch vom Geschmack läßt sich Ähnliches aussagen. Manche Autoren
glauben in der erogenen Wirkung des Kusses oder mancher seiner
' So wohl auch der Anblick des Sexualverkehrs dritter Personen untereinander.
Dir: SEXl ALITÄT DKR C.KSCHLKCIITSHEIFKN 357
Fomion (Ziin^M'nku(i) oin<* pistalix^ KomjKtiK'iitr annehinon zu sollen.
Gewisse, gelo^tMJÜich vorkonmiende (icpflo^^eiüieitcn, etwa wenn der
Mann den Wein im Kusse aus dem Mundo der Gfliebten schlürft,
scheinen in der Tat dafür zu sprechen.
Kinv fjanz boiontlere Hedeulung kommt den UiktiJen Reizen zu. Von
tier biolSt'ii li<>rülirung bis zur innigen Vereinigung im Geschlechtsakt
sind laklilo lU'ize \>irksam. Wie schon bemerkt, gibt es gewisse Prä-
iliJüktionsstelien — erogene Zonen — , in erster Linie Haut und Schleim-
haut der Geschlechtsorgane, die Lippenschleimhaut, die Brustwarzen usw.
Mag es sich hierbei zum Teil um physiologische Be<linglheiten handeln,
so spielen doch sicherlich assoziative Momente daneben eine große
Rolle. Vor allem dieses: die Berührung sonst nicht exponierter Haut-
partien durch den Geschlechtspartner wirkt als eine teilweise Preisgabe
des Körpers imd so als Symbol oder Vorbild, Vorspiel der Vereinigung
erregend. Daß etwa dem KulS auf die Handfläche eine größere erotische
Bedeutsamkeit zugeschrieben wird als dem gemeinhin üblichen Hand-
kuß mag damit zusammenhängen; vielleicht aber auch psychogenetische
^^ urzeln haben, indem die Hohlhand gegen die Außenwelt relativ ge-
schützter ist als der Handrücken. Die Art der Tastreize, welche er-
regend wirken, ist sehr verschieden. Alle erdenklichen Formen augen-
blicklicher oder wiederholter oder dauernder Berührung kommen in Be-
tracht. Man kann sich aus dem Kamasutiam (io3) einen Katalog zu-
sammenstellen. Psychologisch bieten sie kein Interesse. Höchstens des
Kitzels wäre zu gedenken, wenn man zu einer Deskription des dadurch
be^^i^kten Zustandes vordringen könnte, die mehr aussagen würde als
nur die Mischung von Unlust und Lust. Auch die reizauslösenden Ob-
jekte sind mannigfach. Berührungen mit der Hand, den Lippen, größeren
Hautpartien, aber auch von manchen Stoffen, Fellen u. dgl. wirken
erregend.
Selbstverständlich kommt das Hauptgewicht dem Vorstellungsleben zu.
!Nur der mehr weniger naiv dahinlebende Mensch oder jener, der seine
Gedanken absichtlich von der Sexualsphäre wegwendet, wird von der
somatogenen Erregung allein überfallen und überrascht. Schon in die
erregende Wirkung der Sinnesreize, selbst der rein körperlichen Vorgängen
so nahestehenden der taktilen Reihe, mischen sich, wie eben ausgeführt,
vorstellungsmäßige Elemente. Sie herrschen souverän überall dort, wo
Lektüre, Erinnerung, Phantasie (vgl. den betr. Abschnitt w. u.) die Er-
regung herbeiführen.
Die Mannigfaltigkeit der Vorstellungen, die derart wirksam werden
können, ist natürlich nicht auszuschöpfen. Nicht einmal eine Gruppierung
erscheint durchführbar. Tatsächlich kann durch assoziative Verknüpfungen
jede Vorstellung gelegentlich für diesen oder jenen erogene Bedeutung
annehmen. Es seien nur zwei Beispiele größerer Wichtigkeit heraus-
gegriffen.
Allgemein wird anerkannt, daß der Schönheit eine besondere erogene
Wirksamkeit zukomme. Nun wechseln die Vorstellungen, die man sich
von Schönheit macht, ungeheuerlich. Was gestern als schön galt, Avird
heute mißfallen; was bei einem Volke, in einem Klima, Avährend einer
358 \LLEIIS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Kulturepocho gefiel, findet anderswo, zu anderen Zeiten keine oder nur
absprechende Beachtung. Das orientalische weibliche Schönheitsideal,
wie es in den Versen arabischer Dichter, in Erzählungen und Märchen
tausendfach geschildert wird, stößt uns eher ab. Die „Verschönerungen"
des Körpers, in denen manche Negerstämme sich gefallen, sind uns
widerlich. Auch von Mensch zu Mensch wechselt die Meinung über
Schönheit. Zwar sind wir vorsichtig geworden; es gibt gewisse Formen,
die wir uns schön zu nennen gewöhnt haben: die Formen der Antike,
der Renaissance. So pflegt man zu hören: Ja, diese Frauengestalt, etwa
die mediceische Venus, ist schön, aber nicht mein Fall. Und so ist
der „Fall" des einen schlank und knochig, des anderen dicklich und
rund, klein oder groß, blond oder schwarz usw. Da muß man denn
fragen: Ist die Schönheit irgend etwas primär dem Objekte Zugehöriges
— es ist immer nur von Schönheit als erogener Qualität die Rede —
oder nennt nicht jeder die Gestalt schön, welche ihn sexual zu erregen
vermag? Diese Anschauung hat viele Vertreter gefunden. Insbesondere
hat man wieder einmal auf jenen dunklen „Genius der Art" rekurriert,
der die für die Fortpflanzung tauglichsten Partner auf dem Umwege des
Gefallens zusammenführe. Es dürfte schwer fallen, hier eine Ent-
scheidung zu treffen. Für den Erlebenden jedenfalls ist dieser Zusammen-
hang nicht gegeben. Oftmals fallen auch ästhetisches Schönheitsideal und
erotischer Erregungswert auseinander. Nicht nur, daß gelegentlich ein
Sexualobjekt auch von dem Begehrenden als objektiv häßlich, aber
begehrenswert bezeichnet wird, es gibt auch Menschen, welche ganz kon-
krete Einzelzüge als erotisch für sie maßgebend anzuführen wissen,
deren Fehlen die auch für sie schöne Gestalt eben nur als schön und
nicht als mögliches Sexualobjekt erscheinen läßt. Dort wo Schönheit
und erogene Qualität sich decken, wird die Schönheit als auslösendes
Moment erlebt, nicht aber so, als ob sie einer gewissen vorbereiteten
Richtung auf bestimmt geartete Objekte die Erfüllung brächte, was
doch der Fall sein müßte, wenn das Subjekt die erogene Qualität als
den Schönheitseindruck fundierend erlebte. Solcher Zusammenhang mag
bestehen, mag stammesgeschichtlich eine Rolle spielen oder gespielt haben,
aber in einer außerbe wußten Sphäre.
Das zweite Moment, das zu erwähnen ist, betrifft das Wissen um die
fremde Sexualerregung. Dieses Wissen oder diese Wahrnehmung be-
inhaltet an und für sich für viele Menschen einen Lustwert. Zum TeU
gründet sich darauf Flirt und Koketterie (s. w. u.). Das Faktum, daß man
auf einen anderen Menschen erotisch erregend einwirke, ist geeignet, die
eigene Erregimg auszulösen. Es kann aus dieser Art der Lustgewinnung
eine Abarlung der Sexualität entstehen, die in dem betreffenden Kapitel
gewürdigt werden soll. Daß aber auch die fremde Erregung abstoßend
wirken kann, wenn dem betreffenden Individuum sonstige erogene
Qualitäten abgehen oder es sogar negative solche an sich trägt, bedarf
nicht erst der Hervorhebung. Der Mechanismus dieser erogenen Wirkung
ist zumindest in manchen Fällen kein ganz einfacher. Es scheint dabei
wesentlich ein phantasiemäßiges Einfühlen vorzuliegen; man versetzt
sich in die Situation des Erregten und empfindet seine Erregung mit
DIE SEXUALITÄT DER (lESCHLRCHTSREIFEX 359
— ein Vorpaii^'. dor auch sonst bei orolLschen Phanta.sien t ino Koll«'»
spielt. Hierin drückt sich eine gleich genauer zu würdigende jxdare
Struktur der Sexualität aus.
Hierher gehört ferner auch die assoziativ l>edingte erogene Wirkung
gewisser (Jegonstände; der Liebende trachtet nach dem Handschuh,
Haarband, Taschenluch, Strumpfband der Geliebten. Man hat die diesen
(lOgenständen anhaftende erogene Qualität m. E. zu Unrecht mit der als
Fetischismus bezeichneten sexualen Abartung in Zusammenhang gebracht.
Alle diese Gegenstände haben für den Normalen eine symbolische Bedeu-
tung, aber keinen erotischen Eigenwert. Sexualobjekt und Sexualziel
werden an ihrer Hand, aber als das was sie sind, vergegenwärtigt, phanta-
siert, während — wie noch auszuführen sein wird — für den Fetischisten
sein Fetisch letztes Sexualobjekt ist^.
Es wäre vielleicht hier am Platze, von Kleidung, Mode, Schmuck u. dgl.
zu handeln. Der Hauptsache nach gehört dieser Punkt wohl mehr in
die Ethnologie und Völkerpsychologie als hierher. Darum nur einige
wenige Worte. Es ist wohl heute als sichergestellt anzusehen, daß der
primäre Zweck der Kleidung nicht die Verhüllung der erotisch durch
iliren Anblick erregenden Körperpartien war, sondern — soweit eine Be-
ziehung besteht — deren Hervorhebung. Einen ausgesprochen erotischen
Wert akquirierl die Kleidung erst dann, wenn die Verhüllung des
Körpers und seiner Formen die Regel geworden ist, gleichgültig, ob aus
klimatischer Notwendigkeit oder aus anderen Gründen. Dann wirkt die
partieüe Enthüllung, indem sie der Phantasie Anhaltspunkte gibt, erregend.
Nur dadurch, daß sie bald mehr, bald weniger vom Körper der Frau
preisgibt, erlangt die Mode erotische Bedeutung. Es drückt sich übrigens
auch auf diesem Gebiete der noch genauer darzustellende Unterschied
in der Psychosexualität der beiden (Jeschlechter aus. Nur die Mode
der Frau zeigt so auffallende Schwankungen. Was Mode des Mannes ist,
bedeutet demgegenüber recht wenig. Solche Unterschiede, wie etwa die
Länge der weiblichen Kleidung von gestern und heute, wie in der Tief©
des Dekolletes, in der Betonung der Formen oder deren Verschleierung
durch weite und enge Kleider, durch hoch gebundene Gürtel oder losen
Faltenwurf usw. gibt es dort wohl nicht. Das liegt daran, daß die Er-
scheinung der Frau in ihren Einzelheiten für den Mann als erogenes Mo-
ment mehr bedeutet als die Erscheinung des Mannes für die Frau. Auf die
spezielle Psychologie der Mode kann natürlich nicht eingegangen werden;
vieles Treffende in diesem Punkte hat übrigens G. Simmel (io6) beige-
bracht. .\ls erogenes Moment kommt, trotz aller dahingehenden Behaup-
tungen, nicht in Betracht der Fortpflanzungswille. An die Erhaltung
der Art denken die geschlechtlich erregten Menschen doch wohl nicht.
Ein Fortpflanzungstrieb als Bewußtselnselement gehört, wie das schon
Nietzsche (91) trefflich ausgeführt, in den Bereich der Mythologie. Gewiß
streben oft genug Menschen die geschlechtliche Vereinigung an, um
1 Dies« Verwechslung findet man vielfach bei Freud. R. Müller. Meisel-Heß und
vielen anderen.
360 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Kinder zu zeugen; aber das einmal zu gebärende Kind, der Gedanke
daran, ist als solcher kein erogen wirksames Moment.
Man muß zwischen einer gerichteten imd einer diffusen Psychosexualität
unterscheiden. Die eine ist auf ein bestimmtes Sexualobjekt oder Zu-
mindest doch auf einen engen Kreis bestimmt gearteter Sexualobjekte
eingestellt, die andere strebt nach und knüpft sich an beliebige Sexual-
objekle. Damit die gerichtete Psychosexualität bestehe, ist Liebe in
höherem Sinne keineswegs notwendig. Auch durchaus in der Sphäre
des Vitalen, um mit Scheler zu reden i, verbleibende Beziehungen können
einsinnig gerichtet sein. Die Richtung, Einstellung, ist im allgemeinen
ein Phänomen späterer Entwicklungsphasen der Sexualität; diese ist in
der präpuberalen Periode und den unmittelbar anschließenden Jahren
diffus, sie geht auf die Gesamtheit der möglichen Sexualobjekte über-
haupt. Diese Unterscheidung, die mis noch mehrfach beschäftigen soll,
wird damit auch eine Vertiefimg erfahren.
Hier ist zu sagen, daß je nach Gerichtetsein oder Nicht-Gerichtetsein
der Sexualität die Anlässe verschiedene erogene Wertigkeit besitzen. Für
Cherubin ist jede Frau erregend. Diese Scheidung deckt sich nicht ganz mit
einer Einteilung nach der Intensität der Erregbarkeit, deren begriffliche
Schwierigkeiten schon oben gekennzeichnet wurden. Auf diese, sowie die
andere hier sich aufdrängende Frage nach etwaigen Differenzen zwischen
Mann und Weib in der Bewertung der erogenen Motive kann erst nach Dar-
stellung weiterer Tatsachen eine — gewiß nur versuchsweise — Antwort
erteilt werden.
Der durch die gekennzeichneten Anlässe ausgelöste Sexualaffekt stellt
sich dar, einmal als ein — wie die Geschlechtsempfindung — lust-un-
lustbetonter Erregungszustand von Spannungscharakter, der nach Lösung
durch bestimmte Handlungen drängt. Es handelt sich dabei nicht um
bloße Ausdrucks- oder, wenn man will, Entladeerscheinungen, wie sie
sonst bei vielerlei Erregungen vorkommen, bei Freude, bei Zorn. Sondern
die Erfüllung der auf Handlungen drängenden Tendenz kann nur durch
solche eben der Sexualsphäre geschehen. Darin liegt das Triebhafte.
Vielleicht ist das überhaupt das Wesen des Triebes — deskriptiv gesehen — ,
daß er eine nur durch Handlungen eines bestimmten Bereiches zu lösende
Spannung erzeugt. Damit ist noch keineswegs gesagt, daß zugleich auch
schon ein Wissen mn die Art der erfüllenden Handlungen bestehen muß.
Es kann in der individuellen Entwicklung schon zum Auftreten ausge-
sprochenen Sexualaffektes kommen, ohne daß das Individuum mit dem-
selben sozusagen etwas anzufangen weiß; es wird vielmehr dadurch nur
beunruhigt, gequält.
Die charakteristische Spannung, die nach Lösung und auf Hand-
lungen drängt, kann, muß aber nicht als Weiterbildung und Überbau
der Geschlechtsempfindung erscheinen. Sie erschöpft das Wesen des
Sexualaffektes nicht. Zunächst ist der Bereich der erfüllenden Hand-
lungen näher zu umschreiben. Sie umfaßt nicht nur den Sexualakt i. e. S.,
sondern auch alles das, was als „Zärtlichkeit" begriffen wird. U. zw. handelt
1 Siehe das Kapitel über die Liebe.
DIE SEXUAIJTvT DER r.[:SCHLJ:CHTSRKIFEN 36]
es sich sowohl um ZärÜiclikeit, wek'lio onvicson, wie um sohhc, welche
enipfan^'n werden will. Es tritt darin eine auch sonst der Sexualität
eigentümliche Bipolarität zutage. VVenii auch in derselben der Drang
nach eii^Mier B<^frie<iiguiig. wenigstens soweit es sich um den eigentlichen
G<^chkx'htsakt handelt, durchaus im Vordergrund steht, so düri'te ein
danebt'ii bestehender, nach Gtnvährung d<'r Befrie<ligung an den Ge-
schUxrhtspartner, zumindest der Intention nach, kaum mangeln. Wo es
sich nicht mehr ausschließlich um den bloßen Koitus handcJt, wo mehr
angestrebt wird, ist diese zwiefache Richtung allemal deutlich wahrzu-
neiimon. Ob man sie nun als den Ausdruck eines ursprünglichen und
korustitutiven ,.Kontrektationstriebes" auffaßt oder nicht, ist psychologisch
ziemlich irrelevant.
Auch an dieser Seite des Sexualaffektes macht sich die eigentümliche
Lust-Unlust-Natur aller Sexualphänomene bemerkbar. Nicht nur, daß
dem Affekt als solchem eine derartige ,, Ambivalenz" (ein Ausdruck
Bleulers) zukommt, daß je nach determinierenden Momenten bei Abläufen
derselben Art bald die Unlust-, bald die Lustseite mehr heraustreten
können, sondern es werden über das hinaus sonst ohne weiteres als
unlusterregend zu wertende Erlebnisse aufgesucht: Schmerz. Es besteht
zwischen Schmerz und Wollust ein intimer Zusammenhang. Dieses
Aufsuchen des Schmerzes im Sexualaffekt, die erogene W^irkung und
Bedeutung der Schmerzreize zeigt die gleiche, oben charakterisierte Bi-
polarität. Denn es liegt ein erogener Wert ebensowohl ini Zufügen wie
im Erdulden der Schmerzen, woraus die als Sadismus und Masochismus,
aktive und passive Algolagnie bezeichneten Abartungen erwachsen. Es
ist bemerkenswert, daß beide Richtungen, die aktive imd die passive,
wie in den abgearteten Fällen so auch beim Normalen, regelmäßig in
einem Individuum nebeneinander angetroffen werden.
Es wäre zur Not verständlich, oder es böte sich wenigstens eine Er-
klärung dar, wenn das aktive Verhalten Prärogativ des Mannes, das passive
das der Frau wäre. Man würde dann auf die — auch in der Phylogenese
im allgemeinen bestehende — aggressive Rolle des Mannes, die Über-
wältigung der Frau, deren Verletzung beim ersten Geschlechtsverkehr
einerseits, auf die passive Rolle der Frau, deren physiologische ..Vulnera-
bilität" (Liepmann [78]) in der Menstruation, beim Koitus, liei der Geburt
andererseits hinweisen können. Abgesehen davon, daß solche biologisch-
stammesgeschichtliche Erwägungen einen Einblick in die hier offenbar be-
stehenden wesenhaften Zusammenhänge zwischen Sexuallust und Schmerz
nicht verschaffen können, sondern nur mehr oder weniger befriedigende
Konstruktionen zur genetischen Erklärung beizustellen vermögen, stimmt
die Voraussetzung gar nicht. Es ist keineswegs so, daß dem Manne eine
überwiegende Freude am Zufügen, der Frau am Erdulden von Schmerzen
zukommen würde. Mag noch ersteres vielfach zutreffen, so ist das
zweite sicherlich falsch — übrigens auch phylogenetisch nicht zu be-
gründen, denn auch die W^eibchen beißen die Männchen oder fressen
sie gelegentlich auch ganz auf. Man braucht gar nicht sich in die
Regionen der pathologischen oder, wie ich lieber sagen will, abgearteten
362 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Sexualität zu verirren, um sich davon zu überzeugen. (Vgl. die im
Kapitel über die Abartungen angeführten Stellen aus dem Kamasutram.)
Letzten Endes scheint mir hier nichts übrig zu bleiben, als die Tat-
sache dieser Verknüpfung schlicht hinzunehmen und auf ein v^eiteres
Verständnis zu verzichten. Versuche, hier tiefer zu dringen, führen m. E.
auf metaphysische Fragestellungen, zu den Problemen des Zusammen-
hanges von Sexualität und Tod, Lust und Leiden überhaupt, die zu
erörtern hier offenbar unangebracht wäre.
Zweifellos bedeutet, trotz aller Lust, die der Sexualerregung als solcher
anhaftet, die Hinausschiebimg der Befriedigung neben dem Gewinn an
, Vorlust" auch eine Unlust. Man könnte annehmen, es werde diese mit
in Kauf genommen der zu gewinnenden Vorlust wegen. Es ist aber
doch nicht so einfach. Erstens kann man sich kaum denken, daß
sozusagen eine Lustbilanz aufgestellt, die Unlust gegen die Lust abge-
wogen, von ihr abgezogen und hingenommen werde, solange noch ein
merkliches Quantum Lust übrig bleibe. Diese quantifizierende Betrach-
tungsweise, die u. a. der ganzen psychoanalytischen Theorie zugrunde
liegt, ist m. E. vollkommen unzulässig. Zweitens aber straft die phäno-
menologische Analyse diese Behauptung Lügen. Es gibt natürlich im
Leben Fälle genug, in welchen eine Unlust einer Lust zuliebe hingenommen
wird, sei es eine vorübergehende um der zu erwartenden Lust wUlen,
sei es eine gleichzeitig bestehende, mit dem lustbringenden Erlebnis innig
verknüpfte, etwa, um ein ganz triviales Beispiel zu bringen, wenn beim
Genuß von Gefrorenem die unangenehme, oft schmerzhafte Kälte um
des Wohlgeschmackes willen ertragen wird. Solche Erlebnisse sind aber
ganz deutlich von dem hier in Rede stehenden unterschieden. Von einem
In-Kauf-Nehmen, einem Abwägen, ist hier nichts zu merken. Die Unlust
selbst ist — man kann es nicht anders ausdrücken, so paradox es auch
klingen mag — irgendwie lustbringend.
Es durchzieht diese eigentümliche Beschaffenheit die ganze Sphäre
sexualen Erlebens und ist vielleicht ihr allein eigentümlich. Es scheint
nicht, daß andere Erlebensbereiche eine ähnliche Struktur aufzuweisen
hätten. Was Bleuler die Ambivalenz der Affekte, Erlebnisse überhaupt
nennt, ist eigentlich eine Möglichkeit; jedes Erlebnis kann positiven
oder negativen Gefühlston akquirieren. Die sexualen Erlebnisse sind,
scheint mir, dadurch ausgezeichnet, das in ihnen als Erlebnissen, konstitutiv,
zugleich Lust und Unlust in jener eigenartigen gegenseitigen Durchdrin-
gung vorkommen, so daß die Lust unlustbringend, die Unlust lustbringend
ist, ohne daß darum die eine ihren Charakter als Lust, die andere den
als Unlust verlöre. Wir stehen hier vor letzten phänomenalen Tatbe-
ständen, die eine weitere Zergliederung nicht mehr zuzulassen scheinen.
Man gewinnt so den Eindruck, als hebe sich die Sexualität aus den
übrigen Erlebensbereichen durch eine zweifache Eigentümlichkeit heraus,
einmal die Bipolarität des aktiv-passiven Verhaltens, das
andere Mal durch die Ambivalenz des Lust-Unlust-Cha-
rakters.
Noch einmal möchte ich hervorheben, daß es mir ganz ferne liegt
und ich es für einen argen Irrtum halte, diese wechselseitigen Beziehungen
DIE SKXÜALITÄT DER GESCffl.KrilTSREIFEN 363
irgeudwie quantiUitiv zu inlorpnHiereii, auch wenn mir in weilerer Bo-
handJuiig dieser Dinge golegenüich derarlige Ausdrücke enLschlüpien
wertlen. Ks läßt sich dies leider so wenig umgehen, wie die Benülzuiig
räunilicluT Ausdrücke in der Beschreibung des Seelischen, das doch
mit Uüiimlichkeit und räumlichen Größen gewiß nichts gemein hat.
Zum Begrit't'e der Ambivalenz noch eine Erläuterung: Für IMeuler
und seine iNachfolger — und dazu gehört so ziemlich die ganze psycho-
analytische Schule — bedeutet Ambivalenz die Möglichkeit der Sexualität
oder der mit ihr zusammenhängenden Erlebnisse, sowohl mit positivem
als mit negativem Vorzeichen aufzutreten i. Etwa: eine bestimmte Ver-
bal tu ngs weise, die uns an gleichgültigen Personen auch gleichgültig läßt,
höchstens unangenehm berührt, erregt an der geliebten Person geradezu
Haß; es schlägt sozusagen die Liebe für den Augenblick in Haß um.
Man pflegt wohl diese Reaktion rational zu begründen, indem man sagt,
gerade von der geliebten Person hätte man ein solches Verhalten am
allerwenigsten erwartet, müsse daher um so enttäuschter, um so ge-
troffener sein. Diese Motivierung ist aber doch nur eine nachträgliche
und unstichhaltige, wie alle Motivierungen in der Liebessphäre (s. unten
Abschnitt über Liebe). Zunächst ist die negative Einstellung, der Haß
da, dem dann rationale Motive recht unzulänglicher Art unterschoben
werden. Die Möglichkeit zu solch einer Umkehrung des Vorzeichens der
Grefühlsbetonung ist eben von vornherein mit und in dem ursprünghchen
Erlebnis gegeben. Ich verwende indes hier den Begriff der .\mbivalenz
in einem etwas weiteren Sinne, inso ferne ich nicht nur damit eine dyna-
mische Möghchkeit, sondern einen konkret erlebbaren Aspekt der Psycho-
sexualität bezeichnen will. Es will mir nämlich scheinen, als olj in
dem psychosexualen Erleben selbst die beiden Gefühlsrichtimgen von
entgegengesetztem Vorzeichen nebeneinander herliefen, als ob sozusagen
der Liebe eine gewisse Menge Haß beigemengt wäre, oder zumindest
als ob man immer vmßte, wissen könnte, wenn man nur wollte, daß
die Einstellung gegen die geliebte Person auch den entgegengesetzten
Gefühlston annehmen könnte. Den Unterschied der beiden Begriffs-
fassungen zu präzisieren, mag man vielleicht sagen, daß die ßleulersche
Fassung das transzendente, dispositionelle Moment in den Vordergrund
stellt, während hier ein erlebensimmanenter Charakter gemeint wird.
Man kann m. E. gar nicht daran zweifeln, daß in der Tat im Erleben
selbst beide Gefühlsrichtung'en zu koexistieren vermögen, daß ein Indi-
viduum von einem anderen zugleich abgestoßen und angezogen sein kann,
es zugleich lieben und hassen — eigenartige affektive Zwitterbildungen,
welche die schöne Literatur weit mehr beschäftigt haben als die
Wissenschaft.
1 Nicht uninteressant ist es, bei La Rochefoucauld (69) zu lesen: „Plus Oft
aime une maitresse, plus on est pres de la häire.'^'' Und bei Nietzsche (92):
„Jede große Liebe bringt den grausamen Gedanken mit sich, den Gegenstand der
Liebe zu töten, damit er ein für allemal dem frevelhaften Spiele des Wechsels ent;-
rückt sei: denn vor dem Wechsel graut der Liebe melir als vor der Vernichtung." Mit
der Motivierung wird man vielleicht nicht ganz einverstanden sein können. O,. Wilde:
„And euch man kills the thing he loves . . . The brave man does U with the sword, the
coward with a kiss." (C. 33.)
354 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Zur Psychologie dieser Gefühlszustände ist noch anzumerken, daß auch
hier die Rationalisierung entstellend einzugreifen pflegt. Ein in sich
so widerspruchsvolles und der Logik gemeinen Denkens widerstreitendes
Erlebnis wirkt beunruhigend. Der Mensch sucht sich „darüber klar
zu werden", d. h. das Erlebnis nach Art eines Vorganges der Außenwelt
in einzelne Momente zu zerlegen. Dann kommen Gedankengänge zu-
stande, >vie etwa dieser: ich liebe sie dieser oder jener Eigenschaften
wegen, obzwar sie andere, mir höchst widerwärtige an sich hat, die
mich abstoßen. Es scheint mir dies eine ganz falsche, wenn auch natür-
liche, in unserem ganzen Denkhabitus begründete Auffassimg zu sein.
Die Zerteilung einer Individualität in Einzelzüge ist an sich eine Unmög-
lichkeit; sie kann so wenig zerlegt werden, als sie aus Einzelteilen additiv
aufgebaut werden kann. Aber selbst davon abgesehen, ist der Sachverhalt
in obiger Aussage durchaus unrichtig wiedergegeben. Zuneigung und Ab-
neigung richten sich nämlich wesenhaft gar nicht auf einzelne, bestimmte
Eigenschaften, sondern auf das Ganze der Person. Dieses Ganze wird
zugleich Gegenstand der Zuneigung und der Abneigung.
Ich glaube, daß dies ganz allgemein gültig ist. Auch dann, wenn
ein Mensch sich in einen ganz bestimmten Zug, ein bestimmtes Merkmal
einer Person verliebt, oder wenn für ihn nur Träger eines solchen Merk-
males überhaupt als Sexualobjekte in Betracht kommen. In der Literatur
wird als extremer Fall dieser Art von einem Manne berichtet, dem nur
Frauen mit einem Bein begehrenswert erschienen. (Wiederum: es ist
falsch, diese einseitige Determiniertheit der Objektwahl mit dem Feti-
schismus zu identifizieren, aus dem oben schon angeführten Grunde.)
Deijn auch in diesen Fällen geht doch das Begehren nicht auf das
isolierte Merkmal, sondern durch dasselbe hindiu'ch auf dessen Träger.
Im Zusammenhange mit dieser zweifachen Dimensionierung der Sexuali-
tät: Bipolarität und Ambivalenz wäre noch einer dritten Dimension zu
gedenken, nämlich der Bisexualität, d. h. der simultanen Richtimg sowohl
auf Objekte des anderen wie des gleichen Geschlechtes. Da indes diese
Frage bei der Erörterung der Ontogenie der Sexualität ausführlich mrd
behandelt werden müssen, sei hier, um Wiederholungen zu vermeiden,
von einem weiteren Eingehen Abstand genommen.
Wenden wir uns nunmehr der Psychologie der sexualen Krise,
der Spannungslösung in der Sexualbefriedigung zu, so stehen wir, wie
natürlich, vor den gleichen Schwierigkeiten, die uns schon anläßlich der
Besprechung der Geschlechtsempfindung begegneten. In ihrer prägnan-
testen Ausbildung wird man den Bewußtseinszustand der Krise wohl als
eine Art Bewußtseinstrübung oder Bewußtseinsaufhebung kennzeichnen
können. Nicht umsonst spricht man von sexuellen Ekstasen. Wenn über
diesen Augenblick nicht mehr ausgesagt werden kann, als daß er von
einem höchst intensiven, spezifischen Lustgefühl ausgefüllt werde, so
hegt dies kaum an einer etwa sich geltend machenden Amnesie, wie sie
ge\>-issen pathologischen Be\\-ußtseinstrübungen zukommt, sondern vielmehr
daran, daß dieses Erlebnis einer begrifflichen Erfassung, einer Heraus-
hebung von Einzelmomenten essentiell unzugänglich ist. Es ist ein
Letztes, das, wie etwa die Qualität einer Empfindimg, das Rotsein einer
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 365
Farbe, einer weiteren Analyse sich entzieht. So viel ind<>s scheint sich
sagen zu lassen, daß es zu einer Aufhebung de^ Ichbewufilseins dabei
nicht kommt ^ Gelegentlich dahinzielende Äuljerung<?n dürften mehr
mela[)horisch gemeint sein.
G€wiß gibt es alle Abstufungen von der durchaus bewußt erlebt<iu
Sexualbefriedigung bis zur Ekstase. Ganz so, wie etwa das Caslillo intcrior
der hl. Therese sieben Stadien (,, Wohnungen") der religiösen I']ntwicklung
kennt-. Hier wie dort wird als höchste Beglückung in der Kegel wohl
nur die wirkliche Ekstase empfunden. Obwohl es Menschen gii>t, welche
gegenteiliger Ansicht sind, welche dem , »bewußten GenielSen" einen
höheren Beglückungswert beimessen als dem naiven Sichhingeben an
den Affekt. Es sind das, man möchte beinahe sagen, Weltanschauungs-
fragen, grundsätzlich differente Stellungnahmen dem Leben überhaupt
gegenüber, deren Berechtigung hier gewiß nicht und deren Psychologie
wohl auch nicht zm* Diskussion stehen kann.
Soferne es zulässig ist, aus diesen Stadien auf dem Wege zur Ekstase
Schlüsse auf das Erleben in dieser selbst zu ziehen, möchte man meinen,
daß die oben herausgestellten Eigentümlichkeiten der Bipolarität und
Ambivalenz auch hier noch das Erleben durchsetzen. Es ist aber dieser
Schluß kein sicherer. Trotz des Bildes der Stufen, die zur Ekstase
hinanführen, ist diese doch etwas essentiell Neues; und es ist mehr als
fraglich, ob eine Übertragung von Einsichten, gewonnen aus jenen, auf
diese zulässig sei. Vielleicht liegt gerade darin das Beglückende, daß
die Zwiespältigkeit der Sexualsituation in der Ekstase endlich vollkommen
aufgehoben erscheint.
Da das Vordringen des Sexualaffektes wie überhaupt seine zeitlichen
Verhältnisse bei beiden Geschlechtern wesentliche Unterschiede aufzu-
weisen scheinen, dürfte es zweckmäßig sein, hier eine Erörterung der
psychosexualen Differenzen einzuschalten. Es ist dies jedoch
nicht möglich, ohne zuvor den Begriff und Tatsachenbereich der Erotik
einer Betrachtung unterzogen zu haben.
Der Gebrauch des Wortes Erotik bei den Autoren ist ein sehr schwan-
kender. Für manche ist er weiter als alle anderen und umfaßt alle
Beziehungen der Geschlechter überhaupt. Andere scheiden aus seinem
Umfange gerade das sexucde Moment aus. So Löwenfeld; die sexuelle
Liebe setzt sich ihm zufolge ,,auch in ihren höchst entwickelten Formen
nur aus drei wesentlichen Elementen zusammen" (als ob Liebe sich
überhaupt ,, zusammensetzen" würde; vgl. den betreffenden Abschnitt
w. u.) und zwar aus:
1 Ich möchte nicht unterlassen anzumerken, daß ich auch für die religiöse Ekstasa
das Verschwinden des zentralen Icherlebens für durchaus unbewiesen halte. Die
dahingehende Auslegung der einschlägigen Stellen bei den verschiedenen Mystikern ist
keineswegs die einzig mögliche, und es finden sich genug solche, welche deutlich im
Sinne meiner Auffassung sprechen.
* Mit dieser Parallelisierung soll selbstverständlich der m. E. sehr oberflächlichen
Identifizierung von Religion und Sexualität in keiner Weise Vorschub geleistet sein.
366 ALLEKS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECiiTSLEBENS
,,i. Von der Sexualsphäre aus angeregten (sinnlichen) Triebelementen.
2. Gefühlen der Zuneigxing für das Objekt (Sympathiegefühlen im
Sinne Forels).
3. Gefühlen der Achtung, die bis zur Verehrung, Bewundenmg und
selbst Vergötterung sich steigern können" i.
,,Was man sonst noch in dem Gefühlskomplex der Liebe gefunden
haben will, hält einer strengen Kritik nicht stand,"
Als Erotik stellt nun Löwenfeld die beiden letzten Elemente der
sinnlichen Komponente gegenüber. Eine Deutung dieser Erotik als
Subhjnierungsprodukt der Libido sexualis im Sinne der psychoanalyti-
schen Schule lehnt er ab. Die Erotik kann „eine selbständige Existenz
führen, ohne dabei ihren Zusammenhang mit der Sexualität zu ver-
leugnen". Ich gestehe, daß mir nicht klar geworden ist, wieso diese
Erotik etwas von anderen Sympathie- und Achtungsgefühlen Unterschie-
denes sein soll. Werden diese Erlebnisse zur Erotik durch die, etwa
zufällige Verschmelzung mit der SexuaUtät, oder sind es von vornherein
besondere sexualnahe Gefühle — dies geht nicht klar aus Lövvenfelds
Darstellung hervor. Nur dies ist zu entnehmen, daß für ihn die Erotik
keinen unmittelbaren Grund in der Sexualsphäxe zu haben scheint.
Dagegen ist für andere, z.B. für M. v. Kemnitz (63 a), Erotik gleichbe-
deutend mit einer „Vergeistigung der Sexualität", würde also gewisser-
maßen zwischen dem reinen sexualen Begehren und seiner Befriedigung
und den Phänomenen stehen, die wir als Liebe in höherem Sinne be-
greifen (s. u.).
Sieht man genauer zu, so scheinen alle die verschiedenen Verwendungen
des Wortes „Erotik" doch auf eine gemeinsame Wm^zel zurückzugehen.
Erotik heißen offenbar alle jene der Sexualsphäre angehörenden oder
ihr irgendwie zugeordneten Verhaltungsweisen, die sich durch folgende
Merkmale kennzeichnen lassen : die somatische Sexualerregung bleibt unter
einer gewissen Schwelle und die damit zusammenhängende Be>vußtseins-
trübung im Sexualaffekt fehlt; dadurch ist die Möglichkeit eines be-
wußten Genießens der Situation geschaffen. Nicht nur dieses, sondern
die — zumindest zeitweise, vorübergehende, oder aber auch dauernde —
Weg\Nendung von der Ekstase und der Suche nach ihr läßt eine reichere
Nüancierung zu, ein Spiel in Halbtönen, ein Ruhen in Durchgangs-
situationen.
Diese Attitüde ist jenem erreichbarer, dem die Sexualität nicht episoden-
haft, und darum oft vielleicht um so zwingender, in sein Alltagsleben ein-
bricht. Und trotz aller individuellen Varianten und aller Übergänge,
die bei beiden Geschlechtern angetroffen werden 2, ist die Erotik die
^ Als außer dem Thema liegejid will ich die Behauptung, Achtungsgefühle ver-
möchten sich bis zur Vergötterung zu steigern, unerörtert lassen, aber nicht unwider-
sprochen. Achtung und Vergötterung gehören phänomenologisch differen"ten Sphären an.
2 Für die Frage, inwieweit die psychosexualen Geschlechtsdifferenzen wirklich
konstitutive Merkmale der Geschlechter überhaupt darstellen oder inwieweit sie Pro-
dukte des jeweiligen Kulturzustandes sind, scheinen die Untersuchungen von M. Vaer-
ting (112 b) von großem Belange zu sein. Es wird in dieser Arbeit die These ver-
treten, daß ein Vergleich der Psychologie der Geschlechter nur dann statthaft sei.
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 367
Grundposition dor Frau. Gewiß ist auch die weibliche Natur der Eruption
der Si'xualitäl fähig oder untorvvorlen. AL>er diese Eruptionen .sind die
eines \ ulkans in einem immer glülienden See von LkIvh; die des Mannes
durchbreclien die kalte Granitkruste, um nach beendetem Auswurf auf
Zeiten wieder zu versiesgen.
Es wäre m. E. falscli, wemi man — was so oft geschah — das Wesen
der Frau in die Sexualsphäre derart verlegen würde, gewissernialien
als sei sie von einem aulier ihr Stehenden, dem Sexuellen, mehr tlurch-
tränkt. Dem Ursprung dieses eigentlich doch seltsamen Gedankens,
als ob Sexualität und Persönlichkeit zweierlei wären und diese an jener
größeren oder geringeren Anteil haben könnte, wollen wir nicht weiter
nachhängen. Noch weniger der Überlegung, ob die psychosexualen Dif-
ferenzen und wie sie etwa mit biologischen Eigentümlich keilen zu-
sammenhängen, was die Phylogenese uns dazu lehren könnte, welche Be-
deutung die passive Rolle der Frau haben mag oder die von Liep-
mann (78) in den Vordergrund gestellte „Vulnerabilität", die sich in der
A'erletzung der Eizelle beim Eindringen der Spermatozoen, in der Blutung
bei der Ablösung des Eies aus dem Ovarium, in der Laesion des Hymens
beim ersten Geschlechtsverkehr, den Schmerzen und Schädigungen der
Geburl ausdrücken soll. Alle solche Betrachtungen biologischer Art,
die in der Sexualpsychologie in dieser oder jener Gestall immer wieder-
kehren, können doch für die psychologische Einsicht wenig beisteuern;
sie lehren uns, daß zwischen dem somatischen Schicksal und der seelischen
Entfaltung irgendwelche, zuweilen recht grobe und äußerlich anmutende
Parallelismen oder Zuordnungen obwalten, sie lassen uns nicht das
Mindeste der seelischen Strukturen verstehen und erlauben ims auch
eine genetische Erklärung nur dann, wenn wir uns auf irgendeine be-
stimmte Form der Abhängigkeit vorher dogmatisch festgelegt haben. Was
die Sexualpsychologie braucht, ist Beschreibung des Geschehens beim
Manne und bei der Frau. Und gerade hiermit ist es nicht gut bestellt;
nicht nur deshalb, weil Schamhaftigkeit dem Aussprechen eine Schranke
setzt und weil es immer noch ein geringeres Opfer scheint, historisch
sozusagen eine Ent^vicklung zu beschreiben, als über das Erleben selbst
eingehendere Auskunft zu geben. Daher sind alle Selbstbekenntnisse
beinahe biographisch und nicht phänomenologisch orientiert. Es hat
dies aber noch den Grund, daß jedem Menschen von vornherein sein
Erleben als das Erleben schlechthin gUt, er gar nicht auf den Gedanken
verfällt, es möchte ein anderer unter dem gleichen Worte etwas anderes
verstehen, in der gleichen Situation anders empfinden. Gilt dies schon
für die Psychologie überhaupt — ich erinnere daran, daß z. B. S. Stricker
wenn gleiche oder äquivalente soziale Zustände zugrunde gelegt würden. Man könne
also nur vergleichen die herrschende Frau — im Frauenstaat — mit dem herrschenden
Manne — im Männerstaat, dem heutzutage nahezu alle staatlichen Bildungen ange-
hören — , umgekelirt die jeweils hörigen Geschlechter. Das ,, schwache" Geschlecht
zu sein, sei nicht konstitutive Eigentümlichkeit der Frau schlechthin, sondern Ausdruck
ihrer Hörigkeit, denn im Frauenstaat kämen dem Manne die entsprechenden Merk-
male zu (übrigens auch körperliche, nicht nur seelische). Hält — was zu beurteilen
nicht Sache des Psychologen sein kann — das historische und ethnologisclie Material
der Kritik stand, so wäre allerdings ein sehr bedeutsamer Gesichtspunkt gewonnen _
368 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
aus der Selbsterfahrung heraus ohne weiteres annahm, es seien die
Sprachvorstellungen, nicht nur seine, schlechthin motorische Phänomene — ,
gilt es um so mehr für die Sexualsphäre, deren Erlebnisse ihrer Mehr-
heit nach sich einer besonderen Ichnäh© erfreuen, und daher gar nicht
für die Reflexion Gegenstand werden im Ursinne des Wortes: sie stehen
dem Ich nicht gegenüber, sondern in ihm darin.
Zu solchen allgemein psychologischen Gründen, welche eine Schil-
derung der psych osexualen Geschlechtsdifferenzen immer mehr weniger
an der Oberfläche tasten lassen, tritt noch der Umstand, daß unsere
Wertmaßstäbe und damit die Gesichtspunkte, unter denen wir an die
Beurteilung dieser Fragen herantreten, von vornherein nach dem Schema
des männlichen Prinzips gewonnen sind. (Vgl. Simmel [io6], der
diese Besonderheit unserer Gesamtmentalität scharf herausgearbeitet hat,
übrigens mit das Entscheidendste zum Problem der psychischen Ge-
schlechtsunterscliiede beibringt.)
Die psychosexualen Differenzeni machen sich in zwei Hauptrich-
tungen geltend, in der Art des sexualen Erlebens selbst tmd in der
Stellung, die das Individmmi zu seinen sexualen Erlebnissen imd der
Sexualität überhaupt einnimmt; welche zwei Richtmigen freilich nicht
von einander zu sondern sind. Was das erstere anlangt, so besteht
hier zunächst ein, jedenfalls in physiologischen Mechanismen gegrün-
deter, Unterschied in der Axt des Auftretens sexueller Regungen. Es
handelt sich nicht um die Ontogenie bis zur Pubertät, der der folgende
Abschnitt gewidmet ist, sondern um das Verhalten der Sexualität nach
erlangter Geschlechtsreife. Da scheint es denn, als ob bei Mädchen,
welchen äußere Momente — Verführung u. dgl. — keinen Anstoß zum
Erwachen spezifisch sexualer Regungen gegeben haben, in der Tat die
Sexuahtäl i. e. S., sohin auch die Geschlechtsempfindimg fehlen könne.
Erst das konkrete sexuale Erlebnis läßt akut oder chronisch die eigentliche
Sexualität erstehen. Bis dahin ist das Mädchen freilich nicht geschlechts-
los; aber ihre Sexualität tritt nicht als solche in das Bewoißtsein; sie lebt
in einer, allerdings der Sexualsphäre angehörenden Erotik ohne spezi-
fische Sexualerfahrung. Dies kann bei aller , .Aufklärung" der Fall sein;
das theoretische Wissen trägt zur Entfaltung des spezifischen .Sexuallebens
nicht unbedingt bei. G^wiß ist dieser Verlauf ein Grenzfall, aber anschei-
nend kein so selten verwirklichter. An dieser Entwicklungsweise hängt
offenbar, daß der erste Geschlechtsverkehr, die Brautnacht, so oft als
schweres Trauma wdrken kann.
Das schließt nicht nur nicht aus, daß die Frau der Geschlechtlich-
keit im Grunde tiefer verschwistert ist als der Mann, sondern es ist
sogar in gevrissem Sinne davon ein Ausdruck. Für den Mann sind
— zumindest der großen Mehrheit der Fälle nach — die sexualen Er-
lebnisse relativ, sie sind Beziehungen zum anderen Geschlecht und da-
durch bestimmt, daher auch mehr episodischen Charakters und ichferner.
„Der Mann kann durch Erlebnisse des erotischen Gebietes zur Raserei
oder zum Selbstmord gebracht werden, er fühlt dennoch, daß sie ihn
1 VgL auch Lipmann (7/i).
DIL Si:\L ALITÄT DER (.KSCHLKCHTSREIFEN 369
im tiolsUMi uichb uiigvlion - soweit solche Üinge, die ihre Beweislast
nicht tragen können, ausgesprochen werden dürfen." (Simmel [io6J.)
Für <lie Frau wird (üe liezieluing der Geschlechter zueinander ,,zum
Al)t^)lulen, iür sich SiMenden ihixis Wesens". Sie giht sicii hier
hat Sinunel sehr richtig gesehen — niemals ganz liin oder
aus, sie bleibt irgendwie und irgendwo immer in sich selbst be-
schlossen, auch wo die vollkommenste, letzte Hingabe zu walten scheint.
Ihre Sexualität genügt überhaupt sich selbst in einer freilich nicht
angt?bbaren, letzten Sphäre, und genügt sich daher auch dort, wo sie der
im eigentlichen Siime sexuell zu nennenden Manifestationen und Er-
lebnisse noch gar nicht teilhaftig geworden ist; sie bedarf dieser
gar nicht, sie kann trotzdem ihre Sinnerfüllung finden.
Ausdrücklich möchte ich darauf hinweisen, daß gar kein Grund vor-
liegt, dieses differente Verhalten im Sexualen irgendwie zu einem pri-
mären Moment für die sonstigen psychischen Geschlechtsunterschiede
zu machen. Es ist eine petitio principii, wenn man die Sexualität
als das Urphänomen erst aufstellt und nachher beweist, daß die sonstigen
psychischen Strukturen die hier gefundenen Eigentümlichkeiten wieder-
spiegeln. Älir scheint die Sache vielmehr so zu stehen — und ich glaube,
dies ist auch die Meinung Simmeis, ferner die von A. Adler (28) und
anderen — , daß sich in der Sphäre der Sexualität ebenso wie in allen
Bereichen seelischen Geschehens gewisse Eigenartigkeiten eines zentralen
Ich abbilden, dessen wir als solchen gar nicht habhaft werden und das
nur aus der Identität jener strukturalen Prinzipien in einer Art Projektion
erfaßt werden kanni.
Mit alledem ist natürlich keineswegs gesagt, daß nicht auch für
die Frau das sexuale Erleben relativen und episodischen Charakter an-
nehmen kann, daß nicht auch in der Entvricklung ganz andere Typen
sich geltend machen. Aber daß dieser oben skizzierte Grenzfall über-
haupt möglich ist, beweist den wesentlich anderen Aufbau der Sexualität
bei den beiden Greschlechtem.
Damit mögen noch weitere Unterschiede zusammenhängen, so der
sich in der oft diskutierten Frage nach der polygamen oder monogamen
Veranlagung ausdrückende. Im allgemeinen geht die Meinung dahin,
daß der Mann polygam, die Frau mehr monogam veranlagt sei. Das
wird in gewissem Ausmaße auch zutreffen. Gerade die In-sich-Ge-
schlossenheit der Frau mag ihr die Möglichkeit geben, bei einem IManne
das Auslangen und Ausharren zu finden. Anderseits scheint daraus
auch verständlich, warum bei nicht wenigen Frauen die Hingabe an mehrere
Männer — nacheinander, zugleich — ihren tiefsten Wert gar nicht zu
treffen scheint; es bleibt der Partner immer nur zufälliger Anlaß einer
doch nicht letzten Entäußerung. Nicht selten erscheint — offenbar aus
den gleichen Strukturen heraus — der Frau die Hingabe an den Mann
als eine mehr nebensächliche Äußerlichkeit in der Gesamtheit der ero-
tischen Beziehungen, selbst dann noch, wenn sie diese aus physiolo-
gischem Drange nach sexualer Befriedigung selbst begehrt; oft genug
1 Weiteres siehe den Schlußabschnitt.
24 Kafka. Vergleichende Psychologie III.
370 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
„gewährt die Frau diese letzte Gunst", wie die Redensart geht, wirklich
nur als Gunst, als etwas, das sie dem Geliebten zuliebe tut luid nicht
um des Aktes und mn ihrer selbst willen. Man könnte sag^en: für
die Frau ist die Sexualität als solche von Wichtigkeit, die Gestalt, in
der sie jeweils erlebt wird, mehr nebensächlich. Für den Mann ist
das konkrete Sexualerlebnis das Wichtige und Erstrebenswerte. Der
Mann begeht daher auch in seinen eigenen Augen Untreue oder Ehe-
bruch, wenn er mit einer anderen Frau den Geschlechtsverkehr pflegt,
oder ,,sie ansieht, ihrer zu begehren"; was er auch immer G^egen teiliges
sagen mag, sind Ausreden eines, vielleicht nicht einmal vor sich selbst
eingestandenen, schlechten Gewissens. Für die Frau kann unter Um-
ständen — wenn sie von sozialen und ethischen Anschauungen absieht —
auch der Ehebruch etwas sozusagen Irrelevantes bleiben, weil sie da
und dort nicht sich selbst, ihr Letztes hingibt i.
Auch hier wiederum ist zu sagen: es handelt sich um extreme Typen,
die nicht zur Allgemeincharakteristik der Frau schlechthin dienen soÜen,
sondern nur strukturale Grundprinzipien gewissermaßen in Reindar-
stellung aufweisen.
Denn aus den gleichen Bedingungen kann auch die oft hervorge-
hobene, von Dichtem besungene größere Treue der Frau stanmien, die
gerade nur in einem Manne die Möglichkeit der Sinneserfüllung ihrer Ge-
schlechtlichkeit erblickt. Es ist doch eigentlich eine bemerkenswerte
Tatsache, daß die Literaturen aller Zeiten und aller Völker ebensooft
die Frau als untreu und wankelmütig wie als das Paragon des treuen
Ausharrens bis über den Tod des Geliebten hinaus hingestellt haben.
Ob das daran liegt, daß die Frauen untreu all jenen sind, die ihnen
letztlich doch nicht genügen, nicht ihren Sinn, wenn man so sagen
darf, erfüllen — ähnlich wie man dies von der Frigidität der Frauen
behauptet — und treu mu- jenem, der dieser Forderung genügt, kann wohl
gefragt, schwerlich aber entschieden werden.
Aus der größeren Ichnähe der Sexualität einerseits und der relativen
Irrelevanz der jeweiligen Manifestationen anderseits, welche der Frau zu-
zuschreiben ist, erwächst die oben angeführte größere Rolle der Erotik
bei der Frau. Nicht daß die Sexualtriebe zur Erotik „vergeistigt" werden,
ist der springende Punkt, sondern daß die Sexualität in den erotischen
Manifestationen sich ebensowohl durchsetzen kann wie in spezifischen
Sexualakten.
Wenn hier stets von Unterschieden in der PsychosexuaUtät der
beiden Geschlechter die Rede war, so muß bemerkt werden, daß damit
über die Natur des eigentlichen Sexualerlebnisses bei Mann und Frau
noch nichts ausgemacht ist. Es könnte, wie schon oben angedeutet,
der Sexualaffekt, es könnte auch die Geschlechtsempfindung hier und
dort grundsätzlich verschieden sein. Bei der außerordentlichen Schwie-
rigkeit, solche Zustände zu beschreiben — vielleicht ist dies überhaupt
1 So meint auch Keyserling (Reisetagebuch eines Philosophen, S. lo): „Frauen
rechneu mit ihrer grundsätzlichen VerfüKrbarkeit als mit einem Tatbestande, der sich
von selbst versteht."
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 37]
uiiiDö^licIi — lälSl sirli kaum eine KnUclK'idiiii^' tI\^^l■en. Dali die Ab-
läufe im Cianzen, mit ilin'r lliu kwirkiiii^' .lul die ül)rif;<'ii Spliän'U der
PersiVnlichkcit, iii iliivr Anteilnahme an solchen Sphären Ixü den ixüdeii
Geschkviitern sehr verschieden sind, geht, wie ich meine, aus den bis-
herigen Ausführungx'n hervor. Dies möchte ich, im Gegensatz von
Duboc (aa), <ler auf (Inrnd m. E. wenig eindringender Analyse für die
gTuiulsiil/liche Identität <k's psychoscxualen Erlebens von Mann und Frau
eintritt, ausdrücklich betonen.
Weiterhin hängt an diesen Unterschieden der prinzipiellen Attitüde
auch <^iie Differenz der Reaktion auf die Sexualerlebnisse. Wenn auch
jener alte Spruch: omnc (ininud post coituni triste rxccptis midiere
el (jallo, so allgemein nicht richtig sein mag, so hebt er doch eine
oft zutreffende Tatsache hervor. Der Episodencharakter der Sexualität
des Mannes bringt es mit sich, daß nach Verebben des Affektsturmes
dieser als eine Überwältigung des Ich, ein Abdrängen von der gewohnten
Lebenshaltung empfunden wird. Für die Frau aber bleibt auch der
befriitligendste Sexualakt doch noch ein mehr weniger peripheres Er-
lebnis, das sie aus ihrer Zentrierung, ihrer dauernden Bezogenheit
auf ihr tiefstes Wesen nicht herauszuschleudern imstande ist.
Wie die psychische Scheidung und zum Teil auch die rein körperliche
z\\ischen Mann und Frau keine restlose und vollkommene ist, wie es
Mischtypen zu geben scheint — mag man sie nun mit einer anatomisch
begründeten bisexualen Anlage in Zusammenhang bringen oder nicht — ,
so sind auch die aufgezeigten Strukturdifferenzen keineswegs immer,
ja vielleicht nur in einer sehr kleinen Minderheit von Fällen rein vor-
handen. Vielfach bleiben sie als letzte bestimmende Faktoren zwar in
der Tiefe wirksam; in den Manifestationen der Sexualität aber erscheinen
sie verwaschen, mit Zügen des anderen Typus vermengt, sozusagen ver-
unreinigt. Daher kommt es, daß gewisse mehr weniger typische ero-
tische Charaktere bei beiden Geschlechtern angetroffen werden: etwa
die Prüden, die Mucker u. dgl. Das Volksempfinden merkt aber die
Abweichung vom reinen Geschlechts wesen recht wohl und drückt es
in der Sprache aus, wie in dem Werturteil über solche Personen. Was
hierüber zu sagen wäre, kann erst bei Besprechung der sogenannten
sekundären Phänomene gebracht werden. Nur zur Verdeutlichung sei
z. B. auf die abfällige Beurteil img männlicher Koketterie oder etwa
auf die Bezeichnung „altes Weib" für einen prüden, muckerischen Mann
u. dgl. verwiesen.
Gewisse Unterschiede bestehen auch im Verhalten der Lebensalter.
Der Sexualität der Kindheit und der präpuberalen Jahre ist der folgende
Abschnitt gewidmet. Es wären hier nur ein paar Worte über das
psycho sexuale Erleben des Alters zu sagen . Daß hier Ver-
änderungen gegenüber dem vollkräftigen Alter vorkommen können, ist
bekannt; sie müssen aber nicht auftreten. Oft genug behält die Sexualität
ihren Charakter bei; selbst bei wesentlich herabgesetzter sexualer, soma-
tischer Begierde können Anlässe und Verhaltungs weisen, zumindest beim
Manne, sich gleichbleiben. Die bemerkten Veränderungen beziehen
sich großenteils auf die Anlässe; nur gewisse Erscheinungen, Kinder,
?4»
372 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Ju'^endliche, bestimmte Typen wirken noch erogen, so daß auch eigent-
liche Abartungen zustande kommen können. Bei mangelnder soma tisch-
spezifischer Erregung wird der Lustgewinn in Berührungen usw. gesucht:
in Molls Terminologie könnte man sagen, der Kontrektationstrieb sei
noch lebendig, während der Detumeszenztrieb schon erloschen sei.
Inwieweit andere Züge, die zuweilen auftreten, eine Tendenz zur Grau-
samkeit oder zur Süßlichkeit usw. selbständig, inwieweit sie von den
allgemeinen senilen Veränderungen abhängig sind, wäre erst zu unter-
suchen. Eine ausführlichere Darstellung der Sexualität des späteren
Alters scheint nicht zu existieren. Bekannt ist, daß mancher Mann
den Schein des Erotikers auch dann noch aufrechtzuerhalten strebt,
wenn in ihm gar nichts mehr von Sexualität lebendig ist; alte Gecken
nennen wdr diese Männer. Sie sind Komödianten der Erotik, meist
recht schlechte.
Besondere Aufmerksamkeit möchte die klimakterische Krise
der Frau erfordern, der ja manche Autorein eine analoge des Mannes
an die Seite stellen wollen. Die klimakterischen Umwandlungen sind!
nicht leicht zu analysieren. Sie setzen sich aus mehreren Komponenten
Izusammen, die eHwa folgen dennaßen gekennzeichnet werden dürfen.
An erster Stelle stehen natürlich die organischen Veränderimgen und.
deren unmittelbare Rückwirkung auf die seelischen Abläufe. Die repro-
duktiven Funktionen des weiblichen Geschlechtapparates hören auf. Da-
mit geht in der Regel auch ein Schwinden der sexualen Erregbarkeit
und Begehrlichkeit einher, nicht selten nach einer Periode der Steigenmg
(,, gefährliches Mter"), die unter Umständen zu einem sogar wahllosen
Verlangen nach Sexualbefriedigung v^laß geben kann. Es muß aber
weder zu einem Erlöschen der Erregbarkeit, noch, wenn dieses statthat,
zu einem Aufhören aller Neigung zu erotischem Lustg^ewinn kommen.
Vielleicht seltener als beim Manne, aber noch häufig genug, bleibt der
Kontrektationstrieb, bleibt die Sehnsucht nach erotischer Zärtlichkeit
erhalten.
Gerade dieser Umstand kann zum Ursprung weiterer Veränderungen
werden, indem das Bewußtsein des Begehrens zusammen mit dem des
Nichl-mehr-begehrt-Werdens, eventuell auch nur des Glaubens, der Be-
fürchtung dieses, einen schweren Konflikt setzt. Dazu kommt, daß
— aus der oben gezeichneten Sexualeinstellimg der Frau heraus verständ-
lich — viele Frauen im Schwinden der Sexualfimktionen an und für
sich eine Minderung ihres Wertes empfinden oder wenigstens emp-
finden zu müssen glauben. Es dürfte kaum zweifelhaft sein, daß die
Häufigkeit depressiver Erkrankung in dieser Lebensepoche teilweise hier-
mit zusammenhängt, wodurch übrigens den somatischen Involutions-
vorgängen keineswegs die pathogenetische Bedeutung abgesprochen wer-
den soll.
Dieses Bewußtsein der Wertminderung geht in zweifache Richtung.
Einmal auf die Stellung als Geschlechtswesen neben und imter anderen.
Dies ist meist jenes Moment, dessen die alternde Frau sich bewußt
ist, dies ihre Klage, ihr Unglück, über das so manche schwer, viele
gar nicht hinwegkonunen. Zweitens auf den persönlichen, vom Ver-
DIE SEXl ALITÄT DKR r.ESCIlLECHTSKElFEN 373
gleich mil anderen unabhängigen Eigenworl, welches der tiefere Grund,
alx^r vielleichl eben tlaruin <ier weit selUMior Ix'wulito ist.
Die geringtiTO \ernociiLenheit niit <ler Si'xualität bewirkt, daiS die
IN'rsönl ichkeil des Mannes weniger von analogen Unnwandlungen be-
Lroiten wird, außer dort, wo die ganze l']xistenz sozusagen auf das
Mrotische gestellt wurde. Dies führt dann zu den oben schon er-
wähn len Entgleisungen .
Es wäre von Interesse, zu erfahren, ob die klimakterischen Verände-
nuigen bei der erwerbenden, intellektuellen Frau sich anders als beim
Durchschnitt verhalten. Doch ist mir hierüber nichts bekannt.
W as die Objekt wähl anlangt, so sind die letzten bestimmenden
Momente wohl in Dunkel gehüllt. Man kann sich natürlich auf einen
Instinkt berufen, der, im Dienste der Rassenerhaltung stehend, zwei Men-
schen zusammenführe; damit ist aber psychologisch nichts gewonnen,
abgesehen davon, daß dieser Instinkt ja nicht mehr als eine fiktive
Umschreibung des gegebenen Tatbestandes ist. Anderseits sind die Mo-
tive, welche von den Wählenden gelegentlich angeführt werden, entweder
durchaus unzulängliche oder selbst wdeder in ganz unbestimmte Formen
gefaßt, wie Sympathie u. dgl. Es steht hiermit nicht anders, wie mit
den rationalisierenden Versuchen, das Entstehen von Liebe in höherem
Sinne zu begründen, wovon unten noch die Rede sein wird. Daß es
nebenbei Fälle genu^ gibt, in welchen die Wahl aus rationalen Erwä-
gungen heraus erfolgt, ist selbst^'e^ständlich. Der Wunsch nach ein«m
eigenen Herd, nach Kindern, nach Perpetuierung des Stammes, nach
Versorgung, die Wahl der Frau lals einer Wirtschafterin usw. spielen
gewiß oft die ausschla^ggebende Rolle, vor allem, wenn es sich nicht
um die W ahl des Gesclilechtspartners, sondern um die des Ehegesponsen
handelt. Montaigne (87) u. a. war sogar der Meinung, bei der Ehe-
schließimg hätten nur diese Momente den Ausschlag zu geben, Leiden-
schaft irnd Neigung aber nicht mitzusprechen.
Ein<i Sexualpsychologie muß aber gerade darnach fragen, was denn
das eine Individuum als Sexualpartner begehrenswerter mache als das
andere, das ihm vielleicht in mancher Hinsicht überlegen sein kann,
an Schönheit usw. Eine Antwort auf diese Frage will die psychoanalytische
Theorie geben mit dem Hinweis auf das Fortwirken determinierender
Tendenzen im Unbewußten, deren Grund in den Kindheitserlebnissen zu
suchen wäre. In dem folgenden Abschnitte über die Ontogenie wird
daher ausführlicher davon zu reden sein.
In der Objektwahl drückt sich die Gerichtetheit oder Ungerichtetheit
der Sexualität deutlich aus. Dem einen ist jede Frau schlechthin Objekt,
dem anderen nur Frau eines bestimmten Typus, dem dritten nur
eine ganz bestinunte individuelle Frau. Wie schon erwähnt, ist die
erstgenannte Form anscheinend unter den Männern stärker vertreten
als imter den Frauen, deren Frigidität offenbar häufig nur eine relative,
für den zufällig vorhandenen Mann bestehende ist und dem Repräsen-
tanten des adäquaten Typus gegenüber normalem Sexualempfinden imd
Sexualgenuß Platz macht.
374 ALLEKS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Mehr noch als jeder andere affektive Ablauf beherrscht der Sexual-
affekt, sobald er einmal aufgetreten ist, das Ganze des Seelenlebens.
Nicht nur, daß alles, was irgend zur Sexualsphäre Bezug hat, sub specie
der jeweils herrschenden affektiven Einstellung gesehen und gewertet
wird, es kann — wie sattsam bekannt — gegenüber diesem Affekt alles
und jedes völlig in den Hintergrund treten, die Lebensführung voll-
kommen geändert, was sonst wichtig erscheinen mag, beiseite geschoben,
moralische Bedenken überwunden, physischen Gefahren getrotzt, Ver-
brechen begangen werden. Es ordnet sich alles in den Dienst des
Sexualaffektes, so daß das alte , »ordentliche" Verhalten zerstört wird.
Amor ordinem nescit, bemerkt schon St. Hieronymus ^. Diese Art Be-
sessenheil durch den ,, Dämon Amor", von welchem irgendein roman-
tisches Märchen zu erzählen weiß, gleicht in den Grundzügen ihrer
Struktur" dem, was wir in der Sphäre der Liebe im höheren Sinne
wiederum antreffen, ist offenbar die Substruktion dieser Liebesbesessen-
heit (vgl. indes den betreffenden Abschnitt). Deskriptiv ist hierübetr
nicht viel auszusagen. Es liegt ein übermächtiges Interesse vor, eine
Einspannung aller seelischer Tendenzen in eine und nur eine Richtung
— man hat den Zustand ja auch mit der ,, über wertigen Idee" der Psycho-
pathologie verglichen — die solange aufrecht bleibt, als der Affekt vor-
herrscht. Unter Umständen kann mit der Erreichung des Zieles diese
ganze Struktur in sich zusammenbrechen. Rein auf das Sexuale im
engeren Sinne beschränkt, scheint dieser Zustand wiederum bei Männern
häufiger vorzukonunen, was wohl aus den oben skizzierten, psycho-
sexualen Geschlechtsunterschieden verständlich ist. Natürlich mangelt
er nicht vollkommen bei Frauen.
Zwischen dieser Besessenheit imd dem sozusagen Nebenhererleben des
Sexualaffektes gibt es alle Übergänge und Grade. Deren Ausprägung
und die Einstellung, die das Imlividuimi seinem Sexualaffekt gegenüber
findet, schafft die Verschiedenheit der erotischen Typen, die noch, wenn
auch nur flüchtig imd bruchstückhaft, zur Sprache kommen werden.
In dem Zusammenhang mit dem hier angeschnittenen Thema der Typen-
bildung wäre einer Frage nicht mehr reüi psychologischer Natur noch
kurz zu gedenken, nämlich nach der Ausdrucksweise des Sexua-
len bzw. Erotischen, der sexualen Mimik u. dgl. Wie es überhaupt
fast unmöglich ist, in Worten die Merkmale anzugeben, an denen ein
bestimmter mimischer Ausdruck häjigt, so auch hier. Mancher Mensch
trägt in seinem Gesicht die Stigmata der Güte, der Unaufrichtigkeit,
Grausamkeit oder auch des ,, Sinnlichen". Wie die Liebe, so sieht jede
andere Seelenregung dem Menschen aus den Augen, sagt einmal Mark
Aurel. Es ist wohl kaum fraglich, daß wir in der Tat die Seele un-
mittelbar im Körper und dessen Ausdrucksweisen anschauen, ich glaube,
ohne irgendwie erst Einfühlung, innere Nachahmung, Analogieschlüsse
in uns zu vollziehen. Worin aber sich uns der jeweils wahrgenommene
Charakterzug ausdrückt, vermögen wir nicht oder in den allerseltensten
Fällen nm- anzugeben. Und selbst wenn wir glauben, das maßgebende
^ Ad Chromatium.
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 375
Morkmal horausf^efunden zu haben, so hallet doch dieser Aussage immer
etwas l nbt'l'ritHiip'iuli'8 an; wir spüren, <lalj wir mehr weniger willkür-
lich ein Kleinem Isolieren, wo doch nur die unaut'lösbare Totalität Träger
tles Sinne.s ist und sein kann.
Es erscheint daher wenig sinnvoll, etwa eine Schilderung des ,, sinn-
lichen Mundes" zu versuchen oder den „lüsternen Blick" zu beschreiben
und was dergleichen Dingo mehr sind. Es gibt Männer, welche die
■Sei^nig haben, bekleidete Frauen in Gedanken vorstellungsmäßig zu
entkleiden, mid es gibt Frauen, welche das ,, spüren". Woran, wie,
wissen sie selbst nicht. Gewiß gibt es einzelne Anhaltspunkte. Eine
besonders auffallend aufmerksame Betrachtung jener KörjKirregionen,
welche das Prärogativ sexualer Bedeutsamkeit besitzen, mag diesen Schluß
ermöglichen. Es bedarf dieser besonderen Beobachtung aber unter Um-
ständen gar nicht, um der Frau über das Verhalten des Mannes Klar^
heit zu geben. Ebensowenig läßt sich m. E. sagen, woran genau zwei Men-
schen, die sich nicht einmal zu sprechen, ja nicht einmal überhaupt je ge-
sprochen zu haben brauchen, wissen, daß sie einander begehren. Eß
ist das etwas anderes als die, möglicherweise auf Selbsttäuschung be-
ruhende Überzeug^ung von Gegenliebe bei der ,, Liebe auf den ersten
Blick". Es ist gar nicht anders möglich, sie muß mich wieder li^)en,
weil ich sie so liebe, lautet etwa der Gedankengang, dessen Wurzeln
vielleicht nicht allein im Wunsche zu suchen sind, vielmehr in eine
tiefere, unausgesprochene, auch gar nicht klar bewußte Überzeugung von
einem notwendigen, schicksalhaften Zusaminengehören des Liebenden
und der Geliebten hinab reichen . Hier heißt es: sie liebt mich, muß
mich lieben, auch wenn sie es nicht zeigt; hier wird nach Bestätigungen
dieser primären Überzeugimg gesucht. In dem Falle des ,, Ansehens"
wechselseitigen Begehrens aber ist sozusagen die Bestätigung das primäre
Moment: so sieht sie aus, also begehrt sie mich, wie ich sie begehre.
(Nicht als ob solche Gedankengänge klar und geordnet, als ob Schluß-
folgerungen irgendwelcher Art abliefen. Diese Sätze bedeuten selbst-
verständlich schon ein Herausdrehen des Erlebens aus der Ebene der
Unmittelbarkeit in die der rationalen Formung.)
Im Zusammenhange damit wäre die Psychologie der Liebeswer-
bung abzuhandeln. Zimi Teil werden hier'hergehörende Erscheinungen,
wie die Schamhaftigkeit und Schüchternheit, die der offenen Werbung
im Wege stehen, oder die Koketterie, welche ihr dient, unter den sekun-
dären Phänomenen besprochen.
Die Liebeswerbung ist stammesgeschichtlich relativ frühzeitig aufzu-
weisen. Psychologischen Erklärungswert besitzen alle diese Beobach-
tungen an Tieren keinen. Sie lehren nur, daß der Gewinnung des Sexual-
affektes imd der Erreichung des Sexualzieles schon bei relativ nieder
organisierten Lebewesen einleitende Akte vorangehen. Welchen Zweck
solche haben, wissen wir nicht. Wohl aber läßt sich auch für den
Menschen die Liebesworbung nach den gleichen zwei Gesichtspunkten
betrachten ; einmal handelt es sich darum, die Neigung des Sexual-
objektes bzw. bei ihm die sexuale Erregung herbeizuführen, das andere
Mal, es zum Sexualakt zu veranlassen.
376 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Demgemäß bezweckt das werbende Verhalten, die Aufmerksamkeit des
angestrebten Partners auf die dgene Person, ihre Vorzüge zu lenken,
oder aber eine zum Sexualakt führende Gesamthaltung zu bewirken.
Die Liebes Werbung kann eine naive oder eine bewußte sein, gewisser-
maßen instinktiv oder unter Anwendung einer bestimmten Technik er-
folgen. Welch letzleres Sache vor allem des Verführers, fast möchte
man sagen, des berufsmäßigen, professionellen Verführers, des Don Juan
oder Casanova ist, aber auch im Dienste einer einmaligen Liebe stehen
kann. Liebe macht erfinderisch, sagt ein Sprichwort; nicht nur in der
Überwindung von Hindernissen, sondern auch im Entdecken geeigneter
Verbal tungs weisen, um das angestrebte Ziel zu erreichen. Oftmals aber
versagt diese Erfindungsgabe durchaus; es ist dieses wie das andere
oft genug Gegenstand künstlerischer Schilderung geworden, der „blöde
Jüngling" ebensosehr wde der, welcher es versteht, die entsprechenden
Saiten in der Seele der Geliebten erklingen zu lassen.
Das werbende Verhalten kann ein sehr verschiedenartiges sein. Zwischen
dem „zarten Entgegenkommen" und der mehr weniger brutalen Aggression,
dem ,, Bezwingen der Figur durch die männliche Elementarkraft", gibt
es ungezählte Nuancen. Welche Haltung die angemessenere, erfolg-r
versprechendere ist, darüber mögen die Lehrer der Ars amandi sich ver-
breiten.
Offensichtliche Werbung ist Aufgabe des Mannes. Die Frau wird
umworben. Ihre von vornherein gar nicht so sehr auf den Sexualpartner
angewiesene Sexualität bedarf erst einer Art Weckung. Es darf ange-
merkt werden, daß manche erfolgreiche Werbung aber gar nicht bis
zu diesem Ziele gelangt. Es unterliegt der Wille der Frau unter Um-
ständen früher, als ihre Sinnlichkeit elementar beteiligt ist. Dies ist
vielfach die Technik des Professionals der Verführung. Es braucht
nicht hervorgehoben zu werden, daß zuweilen auch die Frau aktiv
werbend auftritt. Sehr häufig innerhalb einer schon bestehenden sexualen
Beziehung, wenn es sich um das Sexualziel handelt (etwa eine Szene
bei d' Annunzio im ,,Trionfo della morte" und vielen anderen). Aber
auch, wenn die Erlangung eines Sexualobjektes auf dem Spiele steht.
Entweder, getrieben durch die Intensität des Begehrens, unter Hintan-
setzung der sonst der Frau von Natur oder Sitte auferlegten Schranken,
oder aus individueller Veranlagung zu aktiverem Verhalten heraus. Die
Gegenüberstellung eines Typus Mann und eines Typus Frau ist natürlich
mehr schematisch.
Die Werbung wird eine andere sein, je nachdem ^ sich um die bloße
Erreichung des Sexualzieles, um die nur sexuale Beteiligung der Frau
handelt, oder echte Liebe dabei im Spiele ist. In allen Fällen
bedeutet die Werbung eine gewisse Preisgabe der eigenen Person. Diese
in das günstigste Licht zu setzen, müssen — wenn es sich um ein
aufrichtiges Verhalten und nicht xaa eine Pose, eine bloß gespielte Rolle
handelt — in der Tiefe wirkende Kräfte ans Licht treten. Darum ist
aucli die Abweisung demütigend und kränkend. Abgesehen davon, daß
natürlich — und das ist bei dem Falle der Pose allein das Avirksame
Moment — die Eitelkeit des Mannes eine Kränkung erfährt. Es wird
DIE SEXUALITÄT DER GESCHLECHTSREIFEN 377
aus (litM:m Vorhai t<Mi horaiis versläiullicli, warum der Verschmähte unter
Urustäiuk'ii die clx'U n<xh linworbcuo nicht nur niit seinem Hasse
verfolgt, sondern sogar sie zu \'ornichten Ix'strebt ist. Daneben spielen,
wie nicht anders nuM^lich, noch viele andere Motive mit, etwa dafS
die lietreftendc einem Dritten nicht gegönnt wird u. a. m.
iX'r LielK>i5Worbiuig dienen /um Teil äußerliche .Mittel, wie die Kleidung;
dicftie wirkt U.nls aj» sich ästhetisch, teils aber and überwiegend als
Symbol, sei es für die Angehörigkeit zu einem Ix-stinnuten Stand (Offiziere),
sei es für die ,, Eleganz", damit dem Zugehören zu sozial höheren
Schichten. Anderstnts kann auch gerade eine gewisse Nichtbeachtung
solcher Äulierlichkeit, die selbst sehr äußerlich sein kann, der VVeckung
des Interesses dienen. Für die Schaustellung köqx^rlicher \'orzüge, welche
bei anderen Völkern und zu anderen Zeiten eine große Rolle spielt,
ist unsere Tracht wenig geeignet. Immerhin kommen solche, wenn auch
nur in großen Zügen, zur Geltung: Körpergröße, breite Brust usw.
Nach wie vor haben athletische Gestalten, hochgewachsene Männer usw.
eine gewisse Chance anderen voraus. Wer dies bezweifeln wollte, der
sehe sich in der Belletristik minderer Qualität, darum aber nicht min-
deren Erfolges, um, etwa in den Romanen der Gourths-Mahler.
Deutlicher als die männliche, dient die weibliche Kleidung der Werbung,
bekanntlich weniger durch das, was sie zeigt, als durch das, was sie
verhüllt und erraten läßt. Es sind das so oft gemachte und triviale
Beobachtungen, daß sich eine weitere Ausführung wohl erübrigen dürfte.
Daß das Verhüllte erregender zu wdrken vermag, als das offen zur
Schau Getragene, mag auf mehreren Gründen beruhen. Der eine, haupt-
sächliche, ist offenbar, daß durch die Verhüllung und die phantasier
mäßige Enthüllung oder die Aussicht auf die Enthüllung jene Lust
erweckt wird, die Freud (/13) als ,,V^orlust" bezeichnet hat. Dann dürfte
die Durchbrechung der Schranken, welche Scham und Sitte errichten,
ebenfalls eine erregende Wirkung haben. Über weibliche werbende Ver-
haltungsweisen wird übrigens bei Erörterung der Koketterie noch etwelches
nachzutragen sein.
Neben den äußeren Momenten kommen als Mittel der Bewerbung
die Schaustellung der Persönlichkeit, ihrer sozialen Geltung, ihrer seeli-
schen Eigenschaften — Verstand, Mut, Charakter usw. — in Frage.
Eine besondere Rolle spielt das erotische Renommee. Der Ruf des
Siegers in Eroticis ist an sich schon eine halbe Gewähr des Sieges
— vielleicht nur beim Durchschnitt der Frauen, vielleicht bei sehr viel
mehr. Und umgekehrt ist der Ruf der Vielgeliebten ein Anlaß, sie zu
lieben. Wenn Ninon de l'Enclos nicht die gefeierte Schönheit ge-
wesen wäre, der bloße Ruf, die Kunde, daß so und so viele sie — glück-
lich oder unglücklich — geliebt haben, hätte für einen hinlänglich
großen Kreis von Anbetern gesorgt. Nicht nur die Zahl, auch wer
sie geliebt, macht in der erotischen Einschätzung der Frau etwas aus.
V'ielen ist die Geliebte eines großen Herrn eben dadurch schon be-
gehrenswert. Anderseits ist, wie bekannt, gerade die Unberührtheit,
sogar die sexuale Unwissenheit — wirkliche oder gespielte — ein wer-
bender Faktor.
378 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
In der Liebesworbiing- tritt zuweilen die Ambivalenz des psychosexualen
Affektes scharf hervor. Nicht nur, daß das Mädchen die Annäherung
des Mannes ebenso wünscht wie scheut; und zwar scheut es nicht
einen Aspekt tund wünscht einen anderen, so daß zwei Haltung-en neben-
einander oder abAvechselnd bestünden, sondern in ein und derselben
Attitüde ist zugleich Furcht und Wunsch, es ist ein fürchtendes Wünschen.
So auch der unerfahrene Jüngling. Aber neben dieser Manifestation
der Ambivalenz gibt es noch eine zweite, die man als S e x u a 1 h a ß be-
zeichnet hat. Zwischen den Geschlechtern herrscht nicht nur An-
ziehung, sondern auch Abstoßung. Diese ist wohl zum Teil beteiligt
an der im allgemeinen minder achtenden Haltung des Mannes gegen
die Frau. Aber auch den Frauen ist eine solche absprechende Haltung
nicht fremd; Frauen imter sich können in vieler Beziehung verächtlich
von Männern im allgemeinen sprechen — diese verstehen und können
ihrer Ansicht nach eine Menge von Dingen nicht: in gewissen wich-
tigen innerlichen Fragen weiß die Frau sich dem Manne überlegen.
Man wird ebensowenig sagen können, es sei diese wechselseitig ge-
fühlte Überlegenheit Ursache, wie sie sei Folge des Sexualhasses. Nebenbei
bemerkt, haben beide Seiten recht; luu- daß hier und dort verschie-
denes als Wert und als erstrebenswürdig aufgestellt wird.
Ist das mehr eine periphere Ausstrahlung, so kann der Sexualhaß
auch in ganz eigentlichen Haßregungen manifest werden. Man hat
gemeint, ihn in der Reaktion auf den Geschlechtsakt wieder finden
zu sollen. Vielleicht allerdings weniger in der unmittelbaren, als in
der weiteren. In das Wesen Ider Frau geschah ein Einbruch, dessen
sie ihrem innersten, noch jenseits des eigentlich Sexualen stehenden
Sein nach nicht bedurfte. Die Frau wirft sich, außer dort, wo echte,
höchste Liebe besteht, immer irgendwie fort; und das verargt sie dem
Manne. Natürlich liegt es nicht so, daß aus der individuellen Er-
fahrung jeweils in der einzelnen Frau durch solche Überlegung — die
auch nicht als rational, sondern höchstens emotiv gedacht werden darf —
der Haß entsteht. Es setzt diese Reaktion eine wesensmäßig gegebene
Haßbereitschaft, den Gegenpol eben der Liebesbereitschaft voraus. Der
Mann wirft sich zwar nicht weg, weil für ihn die Sexualrelation immer
Relation bleibt, nicht im zentralen Sein verankert ist; aber er gibt sich
her, gibt sich preis — und verargt es der Frau.
Es ist dieses Verhalten nur die häufigste Erscheinungsweise des Sexual-
hasses. Er kennt deren noch mehr. Vielleicht ist die Sage von den
Amazonen ein mythischer Ausdruck für diese Tatsache, die übrigens
in Kleists Penthesilea deutlich mitschwingt.
W. James (60), der Begriff und Tatsache der Ambivalenz noch nicht
kennt, macht für den Sexualhaß einen eigenen „antisexaal-inslinct,
the instinct of personal Isolation" verantwortlich, das Widerstreben gegen
intimeren körperlichen Kontakt mit den meisten Menschen unserer Um-
gebung. Er sieht darin eine wesentliche Hemmung für die Entfaltung
der Geschlechtsliebe, so daß diese , »stärkste aller Leidenschaften die
größten Schwierigkeiten schaffe, ihr freien Lauf zu lassen". Es sei
DIE SEXIALIT-VT DKR ni-SCHLRClITSREIFEN 379
(lit'Mir IsolitMiiiip^iiislinkl am ausp;<^>rä^'U>stni IxMirt Manno gegenübor
soiiuMi (it^cliloi-liLs^Miosscn, bei der Frau gof^ciiübor dem Manne.
fhrigiuis hat James das Vorkommen ambivalenter Neigungen nicht
v(>llig ülHM-sehen. da er einmal IxMnerkl: ,,77/f fKission of lovr (die er
eine Monomanie nennt, welche auch den Gesündesten befallen könne)
am coexist irith coutempt and crcn irith hatrcd for lltc .ohjecl'."
Ein<; besondeix'» Ikxleulung scheint der Sexuallialj in der Phänomeno-
logie des ersten geschlechtlichen Verkehrs, namentlich der Frau, an-
nehmen zu können. Über die ,, Psychologie der Defloration"^ wissen
wir herzlich wenig. Die Psychologie der Hochzoilsnacht ist erst zu
erfoi>chen. Sclw^u vor dem l nbt>kannten, eine, man möchte sagen,
instJnktive Abwehr, die erwachende Bebende imd anderes verschränken
sich zu einem höchst komplexen Zustand. Auch die schöne Literatur
ist m. W. arm an plausiblen Schilderungen. Vielleicht enthalten
A. Zweigs ,, Novellen um Claudia" noch die beste. Selbstverständlich wird
man auch hier die größten Verschiedenheiten antreffen.
Man würde in einer Sexualpsychologie vielleicht einen Abschnitt über
die Psychologie der Ehe erwarten. Wenn ich mich indes entschlossen
habt\ davon Abstand zu nehmen, so geschah es, weil die Ehe nicht
allein durch die sexualen Beziehungen bestimmt wird. Es sprechen hier
so viele andere Momente mit — Gewohnheit, das Faktum des Zu-
sammenlebens an und für sich, die Gemeinsamkeit der Sorgen für
den Unterhalt, für die Kinder usw. — , daß der hier gesteckte Rahmen
allzuoft und allzuweit hätte ül)erschritten werden müssen. Dazu kommt,
daß insbesondere Ehen längerer Dauer die sexualen Probleme mehr
oder weniger in den Hintergrund treten lassen.
^ Auch Rohleders (99) so überschriebenes Kapitel bringt keine Aufklärung.
DIE ONTOaENIE DER SEXUALITÄT
Man ist heute von dem lange Zeit herrschenden Dogma, daß die
Sexualität erst mit und nach der Pubertät im Leben der Menschen
auftrete, gründlich abgekommen. Es gehört nicht zu den geringsten
Verdiensten S. Freuds (43, 46 )> die Aufmerksamkeit auf die prä-
puberalen und infantilen Äußerungen der Sexualität gelenkt zu haben;
und dies Verdienst bleibt auch dann ungeschmälert, wenn es sich zeigen
sollte, daß manche Dinge anders Hegen, als er sie gesehen hat.
Es kann hier nicht unsere Aufgabe sein, die physiologischen Sexual-
phänomene, die schon in den Kindbeits jähren beobachtet werden können,
im einzelnen zu beschreiben. Es genügt der Hinweis, daß Erektionen
usw. bei männlichen Säugbngen zweifellos vorkommen. Das einschlägige
Material findet man z. B. bei Moll. Nur ein methodisch wichtiger
Punkt bedarf auch hier der Erörterung. Wenn nämlich auf der einen
Seite zweifellose somatische Sexualvorgänge festgestellt sind, so besteht
anderseits bei manchen Autoren, vornehmlich der psychoanalytischen
Richtung, die Neigung, eine ganze Reihe anderer Lebensäußerungen
als sexualer Natur aufzufassen. Dabei werden zwei Argumentations-
weisen bemerklich. Einmal wird aus den Affektäußerungen auf die
sexuale Natur imd Crenese des betreffenden Phänomens geschlossen.
In dieser Richtung ist Freud vorang^angen. Es heißt bei ihm: „Das
Ludein oder Lutschen besteht in einer rhythmisch wiederholten saugenden
Berührung mit dem Munde (den Lippen), wobei der Zweck der Nahrungs-
aufnahme ausgeschlossen ist. Ein dabei auftretender Greiftrieb äußert
sich etwa dm^ch gleichzeitiges, rhythmisches Zupfen am Ohrläppchen, tmd
kann sich eines Teiles einer anderen Person (meist ihres Ohres) zu
gleichem Zwecke bemächtigen. Das Wonnesaugen ist mit voller Auf-
zehrung der Aufmerksamkeit verbunden, führt entweder zum Einschlafen
oder selbst zu einer motorischen Reaktion in einer Art Orgasmus . . .
An der sexuellen Natur dieses Tuns hat noch kein Beobachter gezweifelt",
imd weiter: ,, Anfangs war wohl die Befriedigung der erogenen Zone
mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses vergesellschaftet. Wer
ein Kind gesättigt von der Brust zurücksinken sieht, mit geröteten
Wangen und seligem Lächeln in Schlaf verfallen, der wird sich sagen
müssen, daß dieses Bild auch für den Ausdruck der sexuellen Be-
friedigung im späteren Leben maßgebend bleibt."
Eine Anmerkung zu dem Absatz über das Lutschen sagt noch, es
erweise sich ,,hier bereits, was fürs ganze Leben Gültigkeit hat, daß
sexuelle Befriedigung das beste Schlafmittel ist".
Sehen wir davon ab, daß „noch kein Beobachter gezweifelt hat" —
der consensus omnium ist ein schlechtes Argument — und fragen wir:
Woraus folgt die sexuelle Natur der beim Trinken an der Brust oder
DIE ONTOGENIE DKR SEXUALITÄT 381
beim LuUchoii, das ja >vohl >virklich mit dem Trinken irgendwie zu-
sammenhängt, zu lx>obachten(len Bt'friedigimg? Wir hören nur, daß
der Säughng ,,mit geröteten Wangon, seiig<Mn Lächohi in Schhif sinkt".
Denn, dali dieser Ausdruck einer Befriedigung l'ür die Sexualbefriedigung
de.s späteren Ixbens maßgebend sei, kann d<)ch erst aus dem Nach-
weis der sexualen Natur jener folgen. Alles, was sich sagen läfit, ist:
tier Aufdruck der Bcfriedigumg hier und dort ist der gleiche. Man muß
schon sehr von der sexualen Natur der meisten triebhaften I-<ebens-
äußerimgen durchdrungen sein, um sich mit solcher Begründung zu-
frieden zu geben. l>enn genau genommen, kann man aus dieser, dabei
vielleicht nicht einmal so durchgreifenden Ähnlichkeit, ja sogar
aus einer etwa erweisbaren Identität des Ausdruckes nur schließen:
es kann sich um den gleichen Affekt handeln, nicht aber: es liege
unbedingt der gleiche Affekt vor. Dieser Schluß hat etwa die gleiche
Dignitäl wie folgender: hier liegt ein Schlafender; ganz so sehen die
Menschen aus, wenn sie Veronal genommen haben; also hat dieser
Mann Veronal genommen. Natürlich kann er ganz ohne Hypnotika
schlafen, oder er kann sich betrunken haben, oder in Schlaf nach
Trional, Chloral usw. verfallen sein. Es ist nur möglich, daß er Veronal
genonamen hat. Es ist nur möghch, daß die Befriedigung beim Trinken
und Lutschen mit der sexualen -wesensgleich ist.
Eine Stütze scheint Freud dieser seiner Auffassimg durch folgenden,
im obigen Zitat ausgelassenen, Passus geben zu wollen: „Nicht selten
kombiniert sich mit dem Wonnesaugen die reibende Berührung empfind-
licher Körperstellen, der Brust, der äußeren Genitalien. Auf diesem
W^ege gelangen viele Kinder vom Ludein zur Masturbation." Dieses
,,nicht seltene" Vorkonunnis beweist aber auch nichts. Denn es besagt
nichts anderes, als daß zugleich mit der Befriedigung des Lutschens
auch die durch solche autoerotische Akte gesucht wird. Man könnte
im Ge-genteil auf die Vermutung verfallen, daß auch diese mastur-
ba torischen Handlungen gar keine Sexualbefriedigung bedeuten müßten,
daß vielmehr eine undifferenzierte Körperlust erreicht werde, ein Auto-
hedonismus, wenn man will, der sozusagen noch jenseits der Trennung
in Sexuales und Nichtsexuales stehe, völlig neutral, undifferenziert sei.
Eis wird also hier, um dies klarzustellen, keineswegs behauptet, daß
all diese auf eine Befriedigung abgestellten Handlungsweisen des Säug-
lings oder kleinen Kindes nicht sexualer Natur seien oder sein könnten,
sondern nur, daß die Beweisführung eine unzureichende sei. Wie gesagt,
sie kann nur genügen, wo die Lehre von der Universalität des Sexualen,
seinem letztlichen Zusammenfallen mit dem Triebhaften überhaupt, schon
feststeht. Es ist dies eine der nicht wenigen Diallelen, mit denen die
psychoanalytische Theorie behaftet ist.
Noch mehr tritt diese Denkweise dort hervor, wo ganz heterogene
Dinge, mit der Sexualität in Zusammenhang gebracht, als deren Mani-
festationen angesehen werden. So allerlei Arten von Körperbewegung,
von den schaukelnden Bewegungen mancher kleiner Kinder angefangen
bis zu sportlichen Betätigungen. Wenn ein Kind so lange seinen Ober-
körper hin und her schaukelt, bis es einschläft, werden die Psycho-
382 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
aralytikcr natürlich — mit Rücksicht auf die oben erwähnte hypnotische
Wirkung der Sexualbefriedigung — folgern, daß es sich um einen
sexualen Vorgang handle, die dabei erreichte Lust sexualer Natur sei.
So wird auch sportliche Betätigung, jede Art körperlicher Lustge>vinnung
überhaupt letzten Endes in die Sexualsphäre einbezogen, als Äußerung
der Libido aufgefaßt. Wozu natürlich so lange kein Grund vorliegt,
als man nicht von der Identität aller Lust oder zumindest aller somato-
genen Lust mit der Libido überzeugt ist. Ein induktiver Beweis für
diese These ist aus den aufgeführten Tatsachen nicht zu führen. Postu-
liert man diese Identität, so kommt man entweder dazu, alle die frag-
lichen Erscheinungen als sexual anzusehen, oder zu einer Verdünnung
luid Erweiterung des Libido-Begriffes, der dann mit Vitalität schlechthin
zusammenfällt. Der erste Standpunkt ist, wie gesagt, nicht zu beweisen.
Den zweiten kann man einnehmen und eine letzte Einheit aller vitalen
Regungen postulieren, sie auch Libido nennen. Das Problem des Zu-
sammenhanges z^vischen eindeutig sexuellen Vorgängen und anderen wird
aber damit nicht gelöst, sondern nur verschoben; es erhebt sich eben
innerhalb des Bereiches dieser universellen Libido von neuem.
Mit dieser Einschränkung \vird man zunächst das Vorkommen sexualer
Regungen im frühesten Rindesalter ohne weiteres zugeben müssen. Ee
scheint auch, daß schon in dieser Periode eine typische Geschlechtsemp-
findung zustande kommen kann. Es scheint weiterhin, daß die Be-
friedigung spezifischer Art beim Kinde häufiger im Anschluß an rein
somatische Prozesse erscheint als beim Erwachsenen, oder, wie dies
Moll (84) ausdrückt, „daß beim Kinde verhältnismäßig häufiger Wollust-
akme vmd Befriedigungsgefühl imabhängig von den Kontrektationsvor-
gängen auftreten." Genaueres über die seelischen Abläufe in dieser
Zeit ist selbstverständlich nicht zu erfahren.
Die ersten Lebensjahre sind oft reich an sexuellen Erlebnissen. Ganz
abgesehen von Fällen abnorm frühzeitiger Geschlechtsreife, welche wohl
zumeist in ge\\"iss€n körperlichen Krankheitsprozessen ihren Ursprung
haben i, finden wir in Autobiographien und Selbstbekenntnissen sowie
in der Beobachtung der Kinder reichlich Anhaltspunkte, die diese Tat-
sache erweisen. Es bleibt dabei auch keineswegs bei autoerotischen
Erscheinungen; häufig kommt es vielmehr zu wechselseitigem Spiele
mit den Geschlechtsteilen. Da die Erinnerung an diese Jahre bei vielen
Personen eine recht lebhafte ist, scheint die Annahme gerechtfertigt,
daß die dabei empfimdene Lust qualitativ durchaus der Sexuallust des
Erwachsenen gleicht. Auch die objektive Beobachtung lehrt, daß die
körperlichen Begleiterscheinungen die gleichen sind; durch die auto-
anamnestischen Angaben erhält diese Beobachtung Beweiskraft. Daß übri-
gens diese Angaben nicht auf Erinnerungsfälschungen, nachträglichen
irrigen Identifizienmgen, gewissermaßen einer Einlegung des Erlebens
der Erwachsenen in ihre eigene Kindheit beruhen, wird durch die große
Übereinstimmung im Tenor dieser Aussagen mehr als Avahrscheinlich.
1 So bewirkt die Entartiing der im Gehirn gelegenen Epiphyse — Zirbeldrüse —
eine Pubertas praecox, anscheinend durch den Wegfall hemmender innersekretorischer
Einflüsse auf die Keimdrüsen.
DIE ONTOGENIE DER SEXl'AMTÄT 383
Allel) der eigonllkho S<'xualal't"ekt mit dt'ii ihn beglcilcndcri sekundären
Phänomenen — Schain, Eifersucht z. B. — braucht nicht zu fehlen. Ja
es kommen sogar ausgesprochene Re^ngen wahrer Liebe vor, wenn sie
sich auch, dem noch wenig entwickelten Seelenleben des Kindes ent-
spnx'hend. sozusagen in einorr relativ niexleren l-lbene bewegen. Ich
erinnere an die B<v.ieluingen des jungen Goethe zur Schwester des
Dorsenne, an eine bekannte Stelle aus der Jugendgeschichtc Hebbels.
Indes ist hier anzumerken, dali — so häufig diese Erscheinungen
sind — sie keines\\tigs allgemein vorkominen. Es gibt zweifellos Kinder,
bei welchen ein sexuelles Leben bus gegen die Pubertät nicht oder kaum
merkbar wird und auch bei eindringender Durchforschung nicht aus
der Erinnerung nachgewiesen werden kann. Der Behauptung, daß die
psychoanalytische Methode im Kindheitserleben aller Menschen sexuale
Elemente und Erlebnisse aufzudecken gestatte, kann ich keine Beweis-
kraft zuerkennen, weil ich an der Berechtigung dieser Methode als
Forschungsprinzip, wie mir scheint, aus sehr guten Gründen, zweifeln muß.
Zui Charakteristik dieser Kindersexualität gehört weiterhin, daß sie
häufig eine indifferenzierte ist, worauf m. W. zuerst Dessoir hingewiesen
hat. Diese memgelhafte Differenziertheit gilt sowohl hinsichtlich des
Sexualobjektes als hinsichtlich des Sexualzieles.
Was das erstere anlangt, so beherrscht bei vielen Menschen in diesen
Jahren eine bisexuale Einstellung das Geschlechtsleben, eine Ein-
stellung, die auch in späteren Jahren mehr oder weniger ausgeprägt im
Sexualleben auch des Normalen vielfach nachweisbar bleibt und deren
„Fixierung" auf das andere oder das gleiche Geschlecht für die Ent-
wicklung des hetero- oder homosexuellen Typus maßgebend sein soll.
Wie schon einmal bemerkt, ist es für die Psychologie belanglos, ob man
für diese psychische Bisexualität physiologische oder anatomisch-entwick-
lungsgeschichtliche Parallelen beibringen kann oder nicht. Derartige
Tatsachen ikönnen nur als ,, übrigens auch" vorhanden neben den psycho-
logischen Interesse haben, sie können aber nicht, wo eine immanent-
psychologische Entscheidung nicht gelingt, in der einen oder anderen
Richtung bestimmend werden. Eher wäre schon das Faktum bisexualer
Neigung auch jugendlicher Tiere anzuziehen, die in ihren, deutlich als
Vorbild oder Skizze künftiger Sexualbetätigung imponierenden Spielen
bald (die Rolle des einen, bald die des anderen Geschlechtes übernehmen.
Es bedarf aber gar nicht all dieser Stützen. Wiederum lehren uns
Selbstbekenntnisse iund Beobachtung ganz überzeugend, daß vielfach sich
ebenso zwischen Kindern gleichen wie verschiedenen Geschlechtes ero-
tische Beziehungen entspinnen können, daß ein und dasselbe Individuum
mit Angehörigen beider Geschlechter solche pflegen kann. Für die Be-
vorzugung des einen oder anderen Geschlechtes sind dabei vielfach
zufällige Momente ausschlaggebend; der gerade vorhandene Partner des
Spieles wird auch das Objekt der erotischen Vergnügungen.
Vielen Kindern ist es wirklich gleichgültig, welchem Geschlecht der
Partner angehört. Dasselbe Mädchen, das eben noch mit einem Knaben
Beziehungen unterhielt, wendet sich eine Woche später, aus Laime, nach
eineim Streit, infolge /Vbreise des Genossens usw. einem Mädchen zu.
384 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
mit der gleichen Intensität, dem gleichen Lustgewinn und sehr oft dena
gleichen Mangel an Beharrlichkeit.
Flüchtig, >vie auch sonst in vielen seiner Verhaltungsweisen, >vechselt
das Kind den Gegenstand seiner Neigung, auch darin eine Art Indifferen-
ziertheit seiner Sexualität ausdrückend, dEe freilich bei vielen Menschen
lange über die Kindheit hinaus, ja ein Leben lang fortbestehen, sich
niemals zu gerichteter Sexualität entfalten kann. Wie anderseits nicht
zu verkennen ist, daß viele Kinder dauernder und tiefgreifender ero-
tischer Zuneigung fähig sind, deren völlige oder zumindest an den Er-
folf^en der Erwachsenen gemessene Resultatlosigkeit unter Umständen
eine schwere und nachhaltige seelische Erschütterung bedeuten kann.
Denn unter den Sexualobjekten der Kinder erscheinen nicht nur Gre-
spielen und Altersgenossen, sondern in hervorragendem Maße die Er-
wachsenen, zumeist die der näheren Umgebung, gelegentlich auch nur
^ orübergehend gesehene, durch irgendeinen Umstand auffällig und be-
deutsam gewordene Personen. Derlei Eindrücke können für idie Richtung
der Objektwahl während des ganzen Lebens bestimmend werden i.
Hier ist nun der psychoanalytischen Lehre der inzestuösen Neigungen
des Kindes, ja beinalie des Säuglinges, der Lehre vom ,, Ödipuskomplex"
zu gedenken. Sie besagt, daß sich die Libido des kleinen Kindes natur-
geonäßerweise auf die Personen der Umgebung, daher auf die Eltern
richte, bzw. auf solche, welche Elternstatt an ihm vertreten: Ammen,
ältere Geschwister usw. Der Ödipuskomplex des Erwachsenen entstehe
durch die Verdrängung nicht nur der inzestuösen Neigungen des Sohnes
zur Mutter, der Tochter zum Vater, sondern auch der damit verbundenen
Haßreaktionen gegen den begünstigten Nebenbuhler, des Todes Wunsches,
den der Sohn gegen den Vater, die Tochter gegen die Mutter hege.
Diese Einstellimg sei typisch, sie finde sich allgemein, sie wirke zeugend
im Leben des Individuums wie der Menschheit, aus ihr gebäre sich das
Kunstwerk wie die Neurose, das Ritual wde die Sage.
Dafi in der Tat die Beziehungen zwischen Kindern und Eltern eine
sexuak« Note tragen können, ist nicht zu bezweifeln. Viele Menschen
wissen — auch ohne jede Psychoanalyse — sich derartiger Nuancen «u
erinnern, sie mit den Sexualregungen des reifen Lebens zu identifizieren.
Natürlich ist es die Frage, wieweit in die frühesten Jahre solches zurück-
reichen kann. Hier bestellen wohl auch große individuelle Unterschiede.
Übrigens ist diese spezielle Frage wohl nicht einmal so besonders bedeut-
sam. Wichtiger ist es, zu vsdssen, ob tatsächlich alle zwischen Mutter
und Kind z.B. sich spinnenden emotiven Beziehungen erotischer Qualität
oder wenigstens mit einer erotischen Nuance behaftet sind. Freud
meint: ,,eine genauere psychologische Untersuchung werde diese Identität
(sc. von Wertschätzung des Kindes für seine Pflegepersonen und ge>-
schlechtlicher Liebe) über jeden Zweifel hinaus feststellen können."
Das ist doch wohl nur dann möglich, wenn die Erinnerung die phäno-
menologische Identität des Erlebens damals und heute aufzudecken erlaubt.
1 VgL dazu: Kant, Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.
Königsberg 1764, pag. 68.
DIE OMi^GKNIl-: l)i:n sex» AMTaT 385
W »Min ahor iiuii im Laufe der Psychoanalyse „sexuelle Szenen" auftauchen,
dio ii! der Kindheit sich abspielton, so beweist dies noch lanj^^o nicht,
daß sie für das Kind auch eine sexuale Bedeutun«^ hallen. Nur für den-
jenigen wiederum ist dieser Nachweis erbracht, der von vorneh<5rein sich
auf jene Meinung von der infantilen Sexualität festgelegt hat.
IVxSsermngeachtel ist auch hier dasselbe zu wiederholen wie schon
oben. Mag es eine Überspannung bedeuten und mag die bisher beige-
brachte ArgumenUition die Boweishisl nicht tragen können, so bleibt doch
die Tatsache bestehen, daß Freud ganz recht gesehen und einen unschätz-
baren Fortschritt inauguriert hat, wenn er die sexuale Natur der Kind-
heitsbeziehimgen und die inzestuösen daraus entspringenden Kegungen
herausgestellt hat. Inwieweit solches generelle Gültigkeit habe, bleibt
zu prüfen übrig, freilich nur mit einer die petitio principii, welche aller-
orten in der Psychoanalyse herumspukt, vermeidenden Methode.
W ie schon bemerkt, erhalten sich bisexuale Tendenzen vielfach auch
im Geschlechtsleben der reifen Jahre. Manche Individuen sind wohl
ganz frei davon, bei anderen bleiben sie bewußt oder werden zumindest
bei eindringonderer Selbsterforschung dem Bewußtsein zugänglich; wieder
andere entwickeln, durch irgendwelche Einflüsse bestimmt, nur die gleich-
geschlechtliche Seite und werden zu Homosexuellen. Grundsätzlich aber
dürfte es wohl richtig sein, wenn man der Sexualität überhaupt als
Wesenszug die — zumindest mögliche — - bisexuale Einstellung zuschreibt.
Bemerkenswert ist immerhin, daß trotz der Indifferenziertheit bzw.
der Bisexualität doch schon friihzeitig eine Bevorzugung des einen oder
anderen Geschlechtes hervortritt, der Tochter für den Vater, Bruder,
männliche Gespielen, des Sohnes für die Mutter usw. Es ist aber dabei
zu erwägen, daß es sich möglicherweise nicht um rein spontane, son-
dern auch um reaktive Einstellungen handeln kann. Die ausgeprägtere
Zuneigung des Vaters zur Tochter kann deren Einstellung erst hervor-
rufen. Inwieweit hierbei von der einen oder der anderen Seite erotische
Tendenzen im Spiele sind bzw. — da solche sicher vorkommen — im
Spiele sein müssen, bleibe dahingestellt.
Es scheint mir die Bisexualität eine dritte polare Rich-
tung innerhalb der G^chlechtssphäre neben den oben gekennzeichneten
der Bipolarität und Ambivalenz darzustellen, die mit den beiden anderen
nicht zusammenfällt. Dies ist für die Ambivalenz ohne weiteres klar.
Man könnte aber auf den Gedanken verfallen, jenes aktiv-passive Ver-
halten, das als Bipolarität bezeichnet wurde, sei im Grunde mit der
Bisexualität identisch. Tatsächlich findet sich bei Freud ^ folgende Be-
merktmg (a. a. O. S. i/i4): ,,Ein durchaus analoger Vorgang (nämlich
zur Erkennbarkeit der bisexuellen Anlage des Menschen bei den Psycho-
nem-otikern und zur bisexuellen Bedeutung hysterischer Symptome) aus
dem nämlichen Gebiete ist es, wenn der Masturbant in seinen bewußten
Phantasien sich sowohl in den Mann als auch in das Weib der vorge-
stellten Situation einzufühlen versucht, und weitere Gegenstücke zeigen
^ Hvsterisclie Phantasien und ihre Beziehungon zur Bisexualität. Zeitschr. f. Soxual-
wissensch. i. 1908 und (46) II. 1909, S. i38.
25 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
386 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
gewisse hysterische Anfälle, in denen die Kranke gleichzeitig beide Rollen
der zugrunde liegenden sexuellen Phantasie spielt, also z. B.: mit der
einen Hand das Gewand an den Leib preßt (als Weib), mit der anderen
es abzureißen sucht (als Mann)." So bestechend diese Auffassung nun
auch zmiächst klingt und so gut Sie zu der traditionellen Charakterisierung
des männlichen sexualen Verhaltens als eines aktiven, des weiblichen alsl
eines passiven zu passen scheint, so glaube ich dennoch nicht, dies©
Identifizierung vollziehen zu sollen. Vor allem deshalb, weil sich die
aktiv-passive Dimensionierung auch bei solchen Individuen findet, in
deren manifestem Sexualerleben von Bisexualität nichts angetroffen wird.
Auch der männlichste Mann bat ein Bedürfnis, ebensowohl Zärtlichkeiten
zu empfangen, wie sie zu erweisen. Hier eine Identifikation vornehmen,
heißt das zu Beweisende voraussetzen.
Daß nämlich auch bei solchen Individuen mit Hilfe der Psychoanalyse
schließlich sich bisexuale »Momente, die in der Kindheit wirksam und
bewußt waren, nachweisen lassen, beweist nichts für deren tatsächliche
Bedeutung im psychosexualen Leben des Erwachsenen — außer man
gibt von vorneherein die Position der Psychoanalyse zu, daß alles über-
haupt je Erlebte, ob es nun bewußt sei oder nicht, eruierbar oder nicht,
vom Unbewußten her die Abläufe des Bewußten dynamisch gestalte,
determiniere. Den faktischen Verhältnissen scheint mir vorderhand die
— jedenfalls vorsichtigere — Annahme einer mehrfachen Dimensionierung
angemessener zu sein.
Die Sexualität des Kindesalters unterscheidet sich aber von der der
geschlechtsreifen Periode, ja schon von der der unmittelbar präpuberalen
Phase noch in anderer Hinsicht, nämlich in der des Sexualzieles. Dies
hat natürlich zunächst seinen Grund in physiologischer Unmöglichkeit,
nicht nur das normale Sexualziel tatsächlich zu realisieren, sondern auch
nur es phantasiemäßig zu erleben, vorzustellen. Auch hier kann man
von einer Undifferenziertheit sprechen, insofern die Genitalzone nicht
die alleinige oder auch nur exquisit überwiegende Quelle der Lustgewin-
nung darstellt. Nach Freud besitzt das Kind viele „erogene Zonen", deren
Erregung ihm sexuale Lust verschaffen kann: etwa die Lippenschleim-
haut, die Analschleimhaut, die Harnröhre, viele Hautpartien ^. Der Be-
weis freilich, daß es sich in der von diesen Körperstellen aus zu ge-
winnenden Lust wirklich um Sexuallust handelt, steht auf schwachen
Füßen. Ihn treffen alle jene Einwände, die oben bei Erörterung des
Lutschens geltend gemacht werden mußten. Eines ist selbstverständlich
richtig: daß das Kind mangels der Fähigkeit, mit Beihilfe eines Ge-
schlechtspartners oder an einem Isolchen Sexuallust zu gewinnen, auf
den eigenen Körper, auf die autoerotische Befriedigung verwiesen ist.
Die Umwälzung in der Pubertät bewirkt ein Zurücktreten der meisten
erogenen Zonen, vieler bis zur Bedeutungslosigkeit, anderer zu einer
^ Auf die an diese These und an Psychoanalysen neurotischer Individuen sich
knüpfende Lehre von der Analerotik usw. soll weder hier noch -später eingeg-angen
werden. Ihre Kritik würde ein zu ausführliches Eingehen auf die Grundpositionen
der Psychoanalyse notwendig machen.
DIE OMXlGEMi: DKll SEXIAI.ITaT 387
»uiltTgtHtrdnoleron Holle, und schafft den Primat der Genitalzone, wie
Freud sagt. Ik'vor jtxloch diese l'mgestaltungen besprochen werden
sollen, sei noch von einer anderen interessanten, ebenfalls erst durch
Freuds Forschungen ins Licht gerückten Frage die Rede.
Fs handelt sich um die Stellung, welche Kinder zu den Prob-
lemen der Sexualität einnehmen und um die Gedankensysteme,
welche sie daran knüpfen, die infantilen S e x u a 1 1 h e o r i o n.
frotzdem Freud und seine Schüler zu diesem Gegenstand beträchtliches
Material beigebracht haben, ist unsere Kenntnis noch eine relativ geringe.
Solche Dinge gehören zu den von Kindern zumeist sorgfältig geheimge-
haltenen Angelegenheiten, teils aus einer natürlichen Scheu, lebhaft inter-
essierende Fragen preiszugeben, teils aus anerzogener Schamhaftigkeit
heraus, grof^nteils aber weg^en des den meisten Kindern aus Erfahrmig
bekannt gewordenen Unverständnisses der Erwachsenen, die glauben, mit
ein paar ausweichenden Redensarten das Kind von seinem Interesse
abbringen und es vorderhand zufriedenstellen zu können. Dennoch sind
diese Interessen der Kinder sehr wichtig. Eine vernünftige sexuelle
Aufklärung wird überhaupt nur dann möglich sein, wenn man weiß,
was die Kinder von all diesen Dingen denken und was sie sich selbst
für Lösungen zurechtlegen. Auch in dem beharrlichen Nachdenken und
Nachforschen über sexuelle Probleme zeigt sich die ^^'irksamkeit der
Sexualität im Kindesalter.
Ganz mit Recht bemerkt Freud, ^ daß die ,, Storchfabel" nicht zu den
infantilen Sexual theorien gehöre. Kinder, welcbe diese Fabel glauben
oder zu glauben scheinen, tun dies oft eigentlich den Erwachsenen zu-
liebe, weil sie den Eindruck haben, diese legten darauf Wert. Es ist
dies ja eine Attitüde, die man bei Kindern auch sonst nicht gar so selten
antrifft, die zuweilen die etwas grotesk anmutende, im Grunde aber tra-
gische Form ge\>-innt, als bemitleideten die Kinder eigentlich die ,, Großen"
vmd täten ihnen nur den Gefallen, so zu scheinen, wie jene sich Kinder
denken. Inwieweit die Beobachtung der Tiere das Gegenteil bevNirkt,
geradezu mit ein ,\nlaß zur Suche nach einer Sexualtheorie Avird, wie
das Freud annimmt, möchte ich dahingestellt sein lassen. Denn Sexual-
theorien ent^v^ckeln auch Kinder, denen eine Gelegenheit zur Beobachtung
des Geschlechtsverkehres und des Trächtigwerdens der Tiere sich nicht
bietet.
Freud gruppiert die ihm bekannten Typen infantiler Sexualtheorien
folgendermaßen, wobei er sich wesentlich auf Beobachtungen und Anam-
nesen (bzw. Psychoanalysen) männlicher Individuen stützt: „Die erste
Theorie knüpft an die Vernachlässigung der Geschlechts unterschiede an"
(welche dem kindlichen Denken eigentümlich ist) und „besteht darin,
allen Menschen, auch den weiblichen Personen, einen Penis zuzusprechen".
Diese Anschauung löst aber für das Kind das so hauptsächlich beschäfti-
gende Problem, woher denn die Kinder kämen, nicht. Daß das Genitale
auch des Mannes an der Erzeugung des Kindes beteiligt sei, beweist dem
Kinde, meint Freud, die Miterregung des Organes bei all dieser Gedanken-
^ über infantile Sexualtheorien, Sexualprobleme /|. 1908 u. (JS) II.
25*
388 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
arbeit. (Ob über diese Miterregung irgendwelche Angaben der Betreffen-
den vorliegen oder ob sie nur erschlossen wurde, geht aus der angezogenen
Stelle nicht hervor.) Es seien weiterhin „mit cheser Erregung Antrieb©
verbunden, die das Kind sich nicht ru deuten weiß, dunkle Impulse zu
gewaltsamem Tun, zimi Eindringen, zum Zerschlagen, irgendwo ein Loch
aufzureißen". Im Verfolge dieser organbedingten Hinweise könnte eine
korrekte Anschauung vom Geschlechtsverkehr tmd dem Wesen der Kinder-
erzeugung erlangt werden, wenn dieser nicht die Unkenntnis der ana-
tomischen Geschlechtsunterschiede im Wege stünde. Auch das Mädchen
teilt nach Freuds Ansicht die Wertschätzung des Penis, beneidet den
Bruder darum, wie dieser das weibliche Genitale nur als ein, sei es noch
klein gebliebenes, sei es verkümmertes männliches auffaßt.
Auch die zweite der infantilen Sexual theorien gründet in der Unkenntnis
des weiblichen G^nitalapparates. Das Kind wächst im Leibe der Mutter
und wird aus ihr geboren, diese empirische Tatsache fordert eine Er-
klärung. Mangels jener Einsicht entsteht die Theorie, das Kind werde
wie die Fäkalien entleert. Diese Fassung gehört den ersten Kindheits-
jahren an. Sie verfällt später, in dem Maße, als die Funktion der
Stuhlentleerung entgegen den Gepflogenheiten der Kleinkinderstube den
Charakter des Anstößigen akquiriert, der Vergessenheit. An ihre Stelle
treten Annahmen, wie etwa die, das Kind werde aus dem Nabel der
Mutter geboren, der Mutter werde der Bauch aufgeschnitten, wozu etwa
die Anwesenheit des Arztes bei der Geburt den Anknüpfungspunkt abgibt.
Solche Äußerungen bekommt m.an von Kindern oft zu hören. Freud
meint, die Theorie werde frei ausgesprochen, weil sie nichts Anstößiges
mehr enthalte; daher werde sie auch in späteren Jahren frei erinnert,
während die frühere vom Kinde verheimlicht, im Laufe der Jahre ver-
drängt werde. Folgerichtig wird die Möglichkeit des Kindergebärens
auch dem Manne zugeschrieben.
Die dritte Theorie kann sich entwickeln, wenn das Kind zufälliger-
weise in der Lage war, den Geschlechtsverkehr der Eltern zu belauschen.
Dann entsteht die ,, sadistische Theorie des Koitus", die Auffassung des-
selben als eines Kampfes. Freud bemerkt, daß seiner Erfahrung nach
offenbar gerade diese Deutung des Geschlechtsverkehres als einer Gewalttat
dem Kinde es unmöglich macht, darin die Lösung der Frage nach der
Herkunft der Kinder zu erblicken.
Neben diesen Haupttypen gibt es noch andere Theorien, so die, daß
Kinder durch einen Kuß entstehen könnten, welche nach der Erfahrung
Freuds ausschließlich feminin ist. Auf alle diese Einzelheiten einzugehen,
würde doch wohl zu weit führen.
Nicht ohne Interesse ist die Reaktion der Kinder auf die ,, Aufklärung",
welche allerdings meist erst in Jahren eintritt, von denen hier nicht die
Rede war, deren Besprechung aber sich zwanglos hier anfügen läßt.
Zumeist handelt es sich nicht um eine zielbewaißte Aufklärung durch
Eltern, Erzieher, sondern um eine zufällige durch Altersgenossen oder
etwas ältere Genossen; es fallen daher auch die Mitteilungen, dem eben-
falls noch mangelhaften Wissen dieser Instruktoren gemäß, mivollständig
DIE OMOGENir: DHU SEXIAMTaT 389
aus; sie sind reichlich niil falschen Elcnicnten durchsel/t, die z. T. aus
den infantilen SexualÜieoricn stammen. Je nach <ler Art der Aufklärung
trestaltet sich die (Liran sich knüpfende CletlankiMiarbeit, die an und für
sich kein weiteres Interesse bietet. Die affektiv«* Reaktion ist im allge-
meinen eine unluslbetonte, allerdings keine einheitliche, da in ihn einer-
seits die teilweise ixler vielleicht auch für den Augenblick ganz befricdigto
Neugierde, tue ert)tische Erregung, das Bewulitsein, den Erwachsenen
in iliesem lange angestrebten Wissen zu gleichen, das Gefühl der über-
legenl)eit über den noch nicht so weit vorgeschrittenen Altersgenossen
(dessen Unwissenheit bei dem eben erst Initiierten die bedauern d-über-
legene Bemerkung: ,,bist du aber dumm" ]>rovoziert) sich mit dem Ge-
fühl des Peinlichen, Unerwarteten, eigentlich Abzulehnenden und zugleich
<lem des Wissens um Verbotenes eigenartig vermengen. Dieser Misch-
zustand scheint ein ziemlich typischer zu sein, da er in den verschie-
densten Selbstbekenntnissen wiederkehrt, wie sie z. B. bei Liepmann (73),
in dem ,, Tagebuch eines halbwüchsigen Mädchens", da mid dort bei
Moll (83, 84), H. Ellis (26, 29) u. a. zu finden sind. Oft auch begegnet
die Aufklärung, insbesondere über den Geschlechtsakt selbst, ausgesproche-
nem Unglauben und erregt den W^unsch, das Unglaubliche irgendwie be-
stätigt zu sehen, sei es durch Beobachtung etwa der Eltern, sei es durch
Selbsterfahrung. Eine andere Reaktionsweise ist die glatte Ablehnung,
wie sie Freud von einem Knaben berichtet, der auf die Mitteilungen eines
Kameraden mit der Bemerkung antwortete: ,, Möglich, daß dein Vater
so etwas tut, meiner tut es sicher nicbt." In der weiteren Verarbeitung,
in der ganzen späteren Einstellung drücken sich vielleicht diese ■ursprüng-
lichen Reaktionsweisen noch teilweise aus, je nachdem die Unlust über-
wTmden, eine Auseinandersetzung mit diesen Fragen gelungen ist oder
nicht. Zu untersuchen, inwieweit hier pathogenetisch bedeutsame Mo-
mente liegen, ist nicht unsere Aufgabe.
Eine weitere sehr bemerkenswerte Tatsache ist ebenfalls durch die
Forschungen Freuds erst ins Licht gerückt worden, wiewohl sie aufzu-
finden nicht schwer gewesen wäre und offenbar nur durch die Nicht-
beachtung kindlichen Sexuallebens überhaupt verhindert Avurde. Das ist
das Auftreten von Perioden sexueller Latenz, in welchen die
sexualen, in vorangegangenen Jahren etwa schon vorhandenen Regungen
und Äußerungen wiederum in den Hintergrund geschoben werden. Dieses
Zurücktreten ist wohl nicht allein das Werk der Erziehung, des Ver-
botes, der Heranbildung des Schamgefühles, der Anweisungen morali-
schen und ästhetischen Inhaltes, sondern irgendwie in der Gesetzlichkeit
der Sexualontogenie begründet und durch jene Einwirkungen nur ge-
fördert. Freud nimmt an, daß hier der Prozeß der ,,Sublimierung"
am Werke sei, durch den die in der Sexualität sich auswirkenden
Kräft<? teilweise diesem Bereiche entzogen und zur Schaffung anderer
Leistungen nutzbar gemacht werden sollen. Auf die Kritik dieses Be-
griffes, der nicht nur in der Sexualpsychologie des Kindes, sondern
auch dort eine große Rolle spielt, wo es sich um Zusammenhänge
zwischen sexualem und sonstigem Verhalten des Individuums sowie
imi gewisse völkerpsychologische Fragen handelt, wird in dem Ab-
390 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
schnitlo über Üm^eötaltung-en und Auswirkungen der Sexualität näher
eingegang^en werden.
Die Ausprägung dieser Latenzphasen ist offensichtlich individuell eine
sehr verschiedene. Bei manchen Menschen scheint in der Tat die Sexualität,
sowohl als Regung wie als Gegenstand des Interesses, zeitweise völlig
ausgeschaltet zu sein. In anderen Fällen treten zwar, wie sich nach-
träglich aus der Erinnerung feststellen läßt, erotische Regungen auf,
sie werden aber nicht als solche erkannt oder anerkannt und können
daher auch einem Nachforschen nach sexualen Dingen nicht zum Aus-
gangspunkte werden. Gelegentlich kommt es auch zu vorübergehenden
oder dauernden Durchbrüchen der Sexualität mit Einsicht in deren
Nalur, d. h. das Kind erkennt diese Erregungen als identisch mit
frülieren Erlebnissen, soweit '■es sich derselben zu erinnern vermag.
Denn diese Erinnerung ist vielfach, auch beim Erwachsenen, eine
merkwürdig mangelhafte. Große Erlebniskomplexe verfallen einer
Amnesie, die wiederum Freud aufgedeckt hat, und deren Zustandekommen
doch noch der Aufklärung harrt, zumindest wenn man die Theoreme
der Psychoanalyse nicht ohne weiteres akzeptieren zu können glaubt.
Es verdient indes angemerkt zu werden, daß diese Amnesie oftmals
eine nur relative ist, d. h. daß der Mensch sich vieler dieser angeblich
nicht gewußten Dinge, sobald er will, doch recht wohl zu erinnern
vermag.
In dem Maße, als sich das Individuum der Periode der Geschlechts-
reife nähert, beginnen jene Umgestaltungen Platz zu greifen, die dann
in der Pubertätskrise kulminieren. Der Hauptgegensatz zwischen
der Sexualität des frühen Kindesalters und der nach erlangter Ge-
schlechtsreife darf wohl darin erblickt werden, daß jene vorwiegend
autoerotischen Charakter trägt, diese aber mit der Aufgabe der Objekt-
findung belastet, von dem Einzelich weg auf ein Du gerichtet erscheint.
Allerdings ist auch die kindliche Sexualität trotz des Autoerotismus,
trotz der Unmöglichkeit, ein Sexualziel realiter oder phantasiemäßig
zu erreichen, keineswegs jeglicher Richtung auf ein Objekt bar. Es
wurde davon schon gesprochen; die „inzestuc^n" Neigungen, die Be-
ziehung zwischen Tochter und Vater u. dgl. wären, soweit in ihnen
erotische Momente mitschwingen, ohne eine solche über das Ich hinaus-
weisende Richtung unmöglich.
Freud sieht einen weiteren Grundzug darin, daß die erotische Lust-
gewinnung sich von den verschiedenen über den ganzen Körper ver-
breiteten erogenen Zonen abwende mid auf den Geschlechtsapparat kon-
zentriere; es entwickelt sich, wie er sagt, der Primat der Genitalzone.
Eine gewisse Prädominanz dieser Zone bestand ja, auch nach Freuds
Lehren, schon in den präpuberalen Epochen, drückt sich etwa in der
Säuglingsmasturbation imd den masturbatorischen Akten auch späterer
Jahre, in dem Interesse der Kinder für ihre Geschlechtsteile aus. Die
Ursache hierfür sieht Freud hauptsächlich in spezifischen Erregungen,
Organempfindungen, die vom Genitale herstammen, teils spontan ent-
standen, teils durch zufällige Einflüsse, mechanische Reizung beim
Reinigen, Verführung u. dgl. begünstigt oder ausgelöst.
DIE ONTOGENIE DER SEXUALITÄT Ml
Ich muß hier noch eiiunal auf die kritischen Iicmork>inf,'en über di»
ßoobachtun^ infantiler Soxualäulierungen, mit welchen ich diesen .Vb-
scluiitt einleilole, zurückgreifen. Man könnte nämlich, zumindest für
die Säuglinp-szeit, noch weitergehen und auch das Zustandekommen
echter spezifischer G<?niLalempfindungen überhaupt in Frage stellen, trotz.
der B<?obachtung, <laij der Säugling mit seinem Penis spielt, und trotz
der Talsache, daß hin und Nvieder, oder sogar oft, Erektionen gesehen
werden können. Es wurde schon einmal angemerkt, daß auch beim
Erwachsenen Erektionen ohne spezifische Geschlechtsempfindung in patlio-
logischen Zuständen vorkommon können. Das Faktum der Erektion
müßte also nicht unbedingt etwas für das tatsächliche sexuale Erleben
beweisen. Daß der Säugling mit seinem Penis spielt, ist, genau ge-
nommen, nicht wunderbarer, als daß er an seinem Ohr zupft, sich
in die Haare fährt und daran zieht, mit seinen Fingern oder Zehen
spielt, sehr bald jeden erreichbaren Zipfel von Stoffen oder was sonst
benutzt, um daran herumzuzerren. Und wer will sagen, daß die Ursache
von alledem gerade gesucht werden müsse in dem Lustgewinn aus dem
Spiel mit dem Genitale? Auch die Behauptung, es werde dieses Spiel
ebenso wie jedes andere betrieben, und es biete sich nur durch Form
und Lage dieses Körperteils als besonders günstig dar, ließe sich ver-
treten. Daß die Psychoanalyse sotche Auffassung als höchst ober-
flächlich ablehnen wird und muß, ist selbstverständlich. Darum ist
sie an sich nicht minder möglich.
Wie dem auch sei, ob nun der Primat der Genitalzone so oder so
zustande komme, dieses ist zweifellos, daß die Pubertät die somatischen
Sexualvorgänge, damit das Interesse an ihnen und allem, was damit
zusammenhängt, auftreten läljt. Zugleich vollziehen sich mannigfache
andere Umwälzungen im Körper und in der Seele. Es ist natürlich
naheliegend, die seelischen Neugestaltungen kausal mit den Vorgängen
in der Sexualsphäre in Zusammenhang zu bringen, um so mehr, als
wir ja bei Frühkastraten (d. h. solchen Individuen, denen vor Erlangung
der Geschlechtsreife die Keimdrüsen entfernt werden) manche dieser
Neugestaltungen ausbleiben sehen, geradeso wie auch ihr körperlicher
Habitus von dem des gleichaltrigen normalen Individuums abweicht.
Aber so wenig Körper und Seele des Kastraten durchaus auf infantiler
Stufe verharren, sondern doch eine Umwandlung erkennen lassen, so
wenig kann man ohne weiteres die sexualen Prozesse der Pubertät als
das allein ausschlaggebende Moment ansehen. Ich möchte fast die Be-
hauptung wagen, daß es bei Vorgängen, die, durch innere Faktoren
veranlaßt, sich in einem Organismus abspielen, überhaupt ein primäres
Moment, eine Ursache im physikalischen Sinne gar nicht geben könne.
Auch in der somatischen Pathologie können wir von primären Noxen
eigentlich nur dort sprechen, wo eine äußere Einwirkung vorliegt. Tritt
etwa nach einer Knochenfraktur eine Fettembolie, damit ein Lungen-
infarkt, ein Erguß in die Pleurahöhle usw. auf, so haben wir in dem
Trauma das primäre Moment, in dem frakturierten Knochen seinen
Angriffspunkt gegeben. So auch bei einer Infektionskrankheit, etwa
der Ansiediung von Typhusbazillen im Darme usw. Entwickelt sich
392 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
abor „endogen" ein Prozeß, so ist es unmöglich und m. E. auch
unrichtig, ein primäres Moment statuieren zu wollen. Was \vir fest-
stellen können, ist niu- das mehr oder weniger ausgeprägte Ergriffensein
dieses oder jenes Organsystems. Wenn z. B. eine Himkrankheit wie
die Epilepsie außer den zentralen Symptomen noch solche von Seiten
des Stoffwechsels, der innersekretorischen Apparate aufweist, so ist es
m. E. fast müßig, dariiber zu streiten, was denn das ,, Primäre" daran
sei. Denn ein Organismus ist eben ein Gebilde, das durch keine andere
Bestimmung gekennzeichnet werden kann, als die: es bedingen seine
Teile einander wechselseitig in ihrem Sein imd Leisten, wie das ja Kant
an einer klassischen Stelle der Kritik der Urteilskraft ausführt. So
scheint es mir auch irrig, für die puberalen Umgestaltungen schlechthin
die sich in der Genitalsphäre abspielenden Vorgänge verantwortlich zu
machen und die Unterschiede in seelischen Abläufen zwischen dem prä-
und postpuberalen Lebensabschnitt kausal aus der Entwicklimg der Psycho-
sexualitäl deduzieren zu wollen.
Dieser Exkurs schien mir für die Darstellung der Pubertätspsycho-
logic von Belang. Es kann übrigens nicht unsere Aufgabe sein, allen
psychischen Umgestaltungen dieser Phase nachzugehen, da gar manche
derselben nicht Gegenstand einer Sexualpsychologie i. e. S. sind, vielmehr
von einer Darstellung der Ontogenie seelischen Lebens überhaupt zu
behandeln wären.
Die Psychologie der Pubertät ist wiederholt ausführlich monographisch
behandelt worden, am eingehendsten wohl von Marro (79, 80), der auch
den physiologischen Umgestaltungen, Verhältnissen des Wachstums, des
Stoffwechsels u. a. seine Aufmerksamkeit zugewendet hat.
Die auffallendsten psychischen Veränderungen treten in der emotiven
Sphäre zutage. Eine eigenartige Unruhe, eine innere Unsicherheit, ein
Drang nach unbekannten Zielen, ein unbestimmtes Wünschen, Sehnen
kennzeichnen die durchschnittliche Affektlage, ein Zustand, der ja zu
unzähligen Malen in der schönen Literatur Verwertung und Schilderung
gefunden hat. (Mit zu den besten dieser Art gehören vielleicht manche
Stellen in Zolas ,,Un reve".) Damit geht eine stärkere Betonung des
Eigenwertes einher, die aber gleichermaßen positiver wie negativer Art
sein kann. Eine Neigung zur Hervorhebung der eigenen Person, sei
es durch Auftreten und Gehaben, sei es durch Körperpflege und Schmuck,
durch alles, was man Eitelkeit nennt, ist davon ebenso die Folge, wie
eine besonders leichte Verletzlichkeit, die Neigung, sich hintangesetzt
zu sehen, nicht als voll genommen zu werden. Die Reaktion gegen
diese Befürchtung führt wiederum zu einem Umschlagen in das Gegen-
teil; in dem Widerstreben gegen dieses Gefühl des Unterschätztwerdens und
zugleich auch durch das Wissen, daß man doch nicht oder noch nicht
das ist, was man so gerne schiene, \vird das selbstbewußte Auftreten
utriert, ein aggressives Verhalten, eine Trotzeinstellung eingenommen.
Hier findet sich das Adlersche (2) Schema der Überkompensation von
Minderwertigkeitsgefühlen voll und ganz verwirklicht.
Die Unbestimmtheit der Wünsche weicht einer schärferen Definition,
einer Zentrierung um das Sexualproblem. Aber auch in dieser Sphäre
DIE ONKXJEMK OKR SEXIALITÄT 393
machen sich die cIhmi aiuloutuiigswoiso gekoniizcichneten Verhallunps-
utiscn gfllond. Zuf^doicli slollt sicli oiners4nLs dor Konflikt mit den ü\yer-
iionimon<Mi nioralisolion Tendenzen ein, andersi'iUs jener zwischen dem
Dianp nadi s^'xiudem Erhöhen und der Furcht vor den neuen Erlebnissen,
die ge^jhnt, aber nicht erkannt werden. Auf der einen Seite wenleii
alle jene Reize, welche der Auslösuiifj sexualer Erregungen (ücncn können,
aufgesucht, man fahndet nach erotischer Lektüre usw.; auf der anderen
Seite haftet dieser ganzen neuen Sphäre etwas l nheimliches an, nicht
nur infolge der Inwissenheit, sondern aus einer Art Vorahnung heraus,
daß hier Mächte im Spiele sind, die das geruhige Leben der Kindheit
auf immer zu zerstören, seine relative Einfachheil zu vernichten, go-
fährlicher als alle äußere Autorität in die Willensbestimmungen einzu-
greifen berufen sein möchten.
In dieser Stimmung erscheint es begreiflich, wenn Abwehrreaktionen
versucht werden : wenn das Individuimi wenigstens teilweise, wenigstens
nach außen hin, die Existenz dieser noch mehr weniger von ferne
drohenden Kräfte abzuleugnen bestrebt ist. So kommt es zu der Negierung
des anderen Geschlechtes, zumindest vor anderen, oft genug auch vor
sich selbst, eine ISegienmg, die freilich auf die Dauer nicht aufrecht-
erhalten werden kann. Die jugendliche Spröde, das herb ablehnende
Mädchen, der Frauenverächter von fünfzehn Jahren sind bekannte Typen.
Die ihres eigentlich vorbestimmten Ausweges beraubte, noch so wenig
zielbeA>aißte Unruhe sucht sozusagen ein anderes Ventil: Flegeljahre,
Religiosität der Pubertätszeit usw.
Der unbestimmte Drang nach dem erfüllenden Du, zusammen mit
der reaktiven .\bwendung gerade von den für diese Erfüllung bestimmten
Wesen des anderen Geschlechtes, führt zu einer Verstärkung des An-
schlusses an Kameraden und Kameradinnen. Die Pubertätsperiode legt
vielfach den Grund auch zu dauernden Freundschaften, wenn auch viele,
vielleicht die Mehrzahl, nur Surrogatcharakter tragen, was man bekanntlich
insbesondere den Mädchenfreundschaften nachzusagen pflegt; obwohl ich
mich eigentlich nicht davon überzeugen kann, daß die Unbeständigkeit
solcher Freundschaften beim weiblichen Geschlecht sehr viel beträchtlicher
wäre als beim männlichen. Es soll übrigens mit der Betonung des
Surrogatcharakters keineswegs behauptet werden, daß diese Freund-
schaften allemal eine erotische Grundlage in dem Sinne hätten, daß in
die wechselseitige Zuneigung sexuale Momente als konstitutiv eingingen.
Daß das vorkommt, ist selbstverständlich. Noch einmal werden die
bisexualen Möglichkeiten ausgenützt, bevor sie — zumindest für das
bewußte Erleben — mehr weniger endgültig in den Hintergrund ge-
schoben werden. Auch das kommt natürlich vor, daß in den späteren
Phasen der Pubertät, insbesondere nach ihrer Vollendung, bei mangelnder
Gelegenheit zu normaler Sexualbefriedigung eine Sexualbetätigung am
gleichen Geschlecht angestrebt und erreicht wird, neben den autoero tischen.
Maßnahmen. Die Hemmungen können dabei äußerer oder innerer Art
sein ; das Leben in Internaten ist in dieser Hinsicht berüchtigt, vielleicht
zu Unrecht. Innere Hemmungen sind Angst und Unsicherheit, moralische
Bedenken aller Art usw. Diese ,, fakultative Homosexualität" gehört aber
394 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
schon der postpxiberalen Periode an, wird auch ziuneist wohl nicht mehr
unter dem Einflüsse eines imbestimmten Dranges, sondern in mehr
weniger klarer Einsicht und bewußt betätigt.
So groß die Unterschiede im Verhallen und Seelenleben von Knaben
und Mädchen in den präpuberalen Jahren auch sein mögen, die eigent-
liche trennende Kluft reiJBt erst mit der Pubertät auf. Hier tritt der
Gegensatz von aktivem imd passivem Verhalten auf das schärfste, schärfer
vielleicht als in späteren Jahren hervor. Der Tätigkeitsdrang, die Leb-
haftigkeit, Wildheit des Knaben scheint zu wachsen; rebellisch gegen
jegliche Autorität, versucht er, irgendwie seine eigenen Wege zu gehen,
unter Umständen auch solche, die ihm mißfallen, nur darum, weil
es der eigene, der Autorität nicht behagende Weg ist. Während dagegen
das Mädchen an Tätigkeitsdrang einbüßt und beginnt, sich auf sich und
in sich zmiickzuziehen, jene in sich beschlossene Attitüde zu gewinnen,
welche uns für die Psychosexualität der Frau als letztes Merkzeichen
erschienen ist. Das Tragen der langen Röcke ist hierfür nur das Symbol.
Es bedarf wohl nicht der Hervorhebung, daß es sich hier um Typen
handelt, von denen in Wirklichkeit alle Abweichungen und Übergänge
vorkommen.
Zugleich akquiriert das Mädchen alle jene Fähigkeiten, die es in der
Entfaltung erotischer Bezieiiungen späterhin auszunützen verstehen wird.
Die Kunst der Koketterie, der spezifisch weiblichen Liebenswürdigkeit
des Erratenlassens, halben Entgegenkommens, ohne doch einen merk-
lichen Schritt zu tim, und. die Fähigkeit, im Manne als Geschlechts-
wesen zu lesen, seine Begierden zu erraten, ja deren Dasein zu erraten,
eigentlich bevor sie selbst noch recht weiß, worauf genau diese Be-
gierden gehen, zugleich mit der Reserve, Kühle, welche die Frau — außer
im Banne überwältigender Leidenschaft — im allgemeinen auszeichnet.
DIE SEKUNDÄRP]N PHÄNOMENE
Als sekundäre Phänomene werden hier Abläufe und Verhaltungsweisen
begriffen, welche zwar zur Sexualsphäre in engerer oder weiterer Be-
ziehung stehen, dennoch aber nicht mehr als unmittelbare Äußerungen
derselben angesehen werden können.
Das Schamgefühl ist nach der wohl begründeten Überzeugung
der Autoren nicht als eine ursprüngliche Verhaltungsweise aufzufassen.
Die Psychologie der ersten Kindheitsjahre ebenso wie die Ethnologie
tun überzeugend dar, daß das Schamgefühl vollkommen fehlen kann,
auch dauernd zu vermissen ist, bzw. daß es sich je nach Kulturzustand
und Sitte auf ganz verschiedene Dinge beziehen kann. Da es hier nicht
unsere .Vufgabe ist, Sexualsitten zu beschreiben, seien nur zwei Beispiele
aufgeführt. Die Fellachin, die sich schämt, ihr Gesicht zu zeigen, und
den Körper entblößt, es zu verhüllen, die naiv-schamlosen Eingeborenen
Zentralbrasiliens, wie sie K. von den Steinen geschildert hat, sind typisch
für den Mangel und die Wandelbarkeit des Schamgefühles.
Auch in der individuellen Ent\Wcklung des Kulturmenschen scheint
das Schamgefühl anerzogen zu sein. Man weiß freilich nicht, wie sich
ein Individuum verhalten würde, das ganz ohne Anleitung, wie sie den
Kindern so bald nach den ersten Jahren zuteil vnrd, bis in das Alter
der Geschlechtsreife gelangt wäre. Aber alles spricht dafür, daß das
schamhafte Verhalten eine erlernte, nicht eine originäre Attitüde sei,
wie es denn auch unter der Herrschaft der Psychose in vielen Fällen
zu verschwinden pflegt.
Ob sich für diese Reaktion eine phylogenetische Wurzel aufzeigen
läßt, ob in der Tat, wie H. Ellis (29) meint, es sich auf der Sexual-
abwehr des weiblichen Tieres aufbaut, dem der Sexualverkehr aus bio-
logischen Gründen unerwünscht ist, muß dahingestellt bleiben. Es könnte
eine solche starmnesgeschichtliche Ableitung höchstens erklären, wieso
auch der Mensch die Fähigkeit habe, die Reaktionsweisen des Scham-
gefühles zu erwerben, schwerlich, wieso es zum Auftreten dieser Re-
aktionsweisen kommt. Sicherlich hat mit der G«nese des Schamgefühles,
wie schon oft bemerkt wurde, die somatische Verknüpfung der genitalen
und exkrementiellen Fimktionen etwas zu tun. Alles dieses aber führt
m. E. noch nicht auf den eigentlichen Grund, aus dem dieses Verhalten
erwächst. Es ist bemerkenswert, daß Schamgefühl, von einer gewissen
Kulturhöhe angefangen, aller Orten angetroffen wird, mag es sich noch
so verschiedenartig äul^rn. Auch innerhalb der abendländischen Mensch-
heit, ja in gar nicht so fernen Epochen, haben die Meinungen über das,
wessen man sich zu schämen habe, vielfache Wandlungen erfahren, die
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
396
z. T. in den Klcidungssitten ihren Ausdruck fanden ^ Trotzdem finden
wir eben immer irgend>vie ein Schamgefühl. Bei einzelnen Menschen
mancher als besonders frei von Scham in unserem Sinne bekannter
Epochen begegnen ^^^^ Äußerungen, die sich mit den strengsten An-
forderun<^en in dieser Hinsicht messen können. Es muß also wohl
irgendein recht tief liegendes Motiv die treibende Kraft für die Ent-
wicklung solchen Verhaltens abgegeben haben.
Soviel ich sehe, kommen zwei Wurzeln in Betracht, eine soziale
und eine psychologische. Das soziale Motiv ist gegeben, sobald die
Komplikation der Lebensverhältnisse einen unbeschränkt freien Ge-
schlechtsverkehr unmöglich oder imtunUch macht und zugleich auch
die Möglichkeit der Bewahrung geschlechtlicher Beziehungen vor fremden
Eingriffen erschwert. Flagitii principium est nudare inter cives Corpora
(Ennius bei Cicero). Diesen Zusammenhängen haben wir hier weiter
nicht nachzugehen.
Das psychologische Motiv scheint mir das ausschlaggebende und darin
gelegen zu sein, daß in der Sexualität, bzw. in ihren Betätigungen auch
schon in den niederen Formen, eine gewisse Preisgabe des ich statthat;
wenn man will, eine Art .\bdanken der souveränen Herrschaft über die
Lebensführung und zugleich eine, wenn auch noch so flüchtige Ver-,
schmelzimg mit einer zweiten Individualität. Damit kommt es zu einem
Verlust der sonst so sorgfältig gewahrten Stellung des einzelnen - in
der und gegen die Gesamtheit, weil die erotische Beziehung zugleich die
äußerste Anerkennung des Verpflichtetseins an die oder den anderen
beinhaltet. Daß diese Einstellung niemals be^vußt wird, braucht wohl
ebensowenig erst ausgesprochen zu werden, wie daß es sich hier um
eine Konstruktion handelt, die sich nur allerdings aus dem Wesen des
Erotischen zwanglos abzuleiten scheint.
Diesem letzten Grunde gegenüber scheinen mir alle anderen Motive
nur sekundäre Bedeutung zu haben. Etwa die Schüchternheit und die
Angst vor dem LIngewohnten, auf welche manche Autoren, so Forel, das
Hauptgewicht legen. Schon der Umstand, daß auch Erfahrung und
Gewöhnung das Schamgefühl nicht völlig aufzuheben vermögen, dürfte
gegen eine ausschlaggebende Bedeutung dieses Momentes sprechen.
Zur Deskription ist zu sagen, daß das Schamgefühl ein recht komplexes
Erlebnis ist. Es scheint mir vor allem dadurch ausgezeichnet zu sein,
daß es eine Reaktion auf ein mögliches Verhalten darstellt. Es ist
ein Hemmtmgsapparat, eine Schranke, welche aufgerichtet wird. Ich
glaube nicht, daß dort ein Schamgefühl sich entwickeln kann, wo die
Möglichkeit der Handlungen, gegen die es sich richtet, von vorneherein,
grundsätzlich sozusagen ausgeschlossen erscheint. Daraus resultiert viel-
^ Agl. etwa Montaignes (8-) Frage: „.4 qaoi faire la monstre que nous faisons ä cette
heure de nos pieces en fnrme soubs nos ^feines- et souvent, qui pis est, oultre leur
grandeur naturelle, par faulsete et imposture?"' Essais, Livre III, chap. V.
2 Vgl. W. James (6o) Jnstinct of personal Isolation" und Lou Andreas-Salomes
Bemerkungen (5), S. i8.
PIK SEKlNPAlUiN l'IKNOMKNE 397
loicht die relativ gering«, bei vielen iMonschen sogar völlig fehlende Aus-
präfrung gogcinübor Angt'horigon tlessolboii ricschhx-htcs.
Wenn als*) im SciiänuMi einerseits Neigung zu einer inögliclicn und
ilireni Wesen nach luäLbringenden, und zwar Sexuallust bringenden Hand-
lung, anderseits die lleniinung die,ser Neigung /usanunennösscn, wäro
es erklärlich, warum in die-s<Mn Erlebnis neben den |M:'inIichen Momenten
doch auch irgendwie eine {K)silive (lefühlsbetoiuiiig merkbar werden kann.
Allerdings sind die lienimungon vielfach so stark, dafS c^ auch nur zum
Anklingen einer Lustkomponente gar nicht kommt.
Man wird zwischen der dauernden Disposition, der Schamhaftigkeit,
und den jeweiligen ÄuISerungen derselben, dem Schämen, bzw. der Hintan-
haltimg alles dessen, was zum Auftreten solcher Reaktion Anlafj werden
könnte, unterscheiden müssen. Als Disposition ist die erstere niemals
bewußtes Erlebnis, >vird es erst in dem Augenblicke, als aus ihr eine
aktuelle Verbal tungs weise erfließt.
Die Verletzung der Schamhaftigkeit durch Dritte ist wiederum etwas
anderes, als die eigene Überschreitung der darin gesetzten Grenzen.
Erstere erzeugt neben dem spezifischen, wie mir scheinen will, weiterer
Zerlegung nicht recht 'zugänglichen Erlebnis eine Reaktion vom Charakter
der Empörung oder der Minderung des Eigenwertes, je nachdem also
eine aktive Reaktion, die sogar zur Rache, jedenfalls zum Bedürfnis
nach Sühne führen kann, oder aber zu einem Gefühl unverdienten Un-
wertes, das sich bis zu dem des Ausgestoßenseins zu steigern vermag.
Es scheint mir, daß nicht selten diese Reaktion dadurch zustande kommt,
daß die erduldete Verletzung der Schamhaftigkeit nicht ohne eigene
Mitwirkung, sohin nicht ohne eigene Schuld erfolgen konnte^. Damit
nähert sich dieser Fall dem zweiten, der selbsttätigen Verletzung oder
Aufgabe der Schamhaftigkeit, welche — von ganz bestimmten Ausnali-
men abgesehen — zu einer Reaktion vom Typus der Reue führt und
daher ebenfalls zu einer Minderung des Eigenwertes. Die gedachten
Ausnahmen treten dann ein, wenn idie Aufgabe der Schamhaftigkeit Opfer
der Liebe in irgendwelchem Sinn und Grad ist. (Über den Opfercharakter
des Liebesverhaltens s. w. u.)
Im allgemeinen eignet den Frauen schamhaftes Verhalten mehr als
den Männern. Anderseits ist vielfach behauptet worden, die Frau sei,
wenn sie einmal die Hemmungen überwunden habe, ,, schamloser" als
der Mann. Das ist wohl möglich und auch zu verstehen, wenn ich auch
nicht von der generellen Richtigkeit dieser Behauptung überzeugt bin,
trotzdem manche Beobachtung, u. a. die geisteskranker Frauen, dafür
herangezogen werden kann. Da nämlich die Frau, wie oben des längeren
ausgeführt wurde, sich auch in der letzten imd anscheinend vollkom-
mensten Hingabo doch nicht restlos hingibt, fällt für sie dort, wo die
Wahrung der äußeren Form schamliaften Verhaltens nicht mehr ge-
boten ist, jenes tiefliegende Motiv weg; sie gibt sich auch dann nicht
auf als einzelnes und restlos hin an den anderen.
1 In gewisser Hinsicht mag- hier an das bekannte Urteil des Sancho Pansa erinnert
werden, sowie an die oben angeführte Bemerkung Keyserlings.
398
ALLEKS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Wie komplex die Reaktionsarten der Schamhaf tigkeit sind, wie wenig man
es hier mit einem einfachen Trieb oder dergleichen zu tun hat, lehrt
auch die Betrachtung der Abwehr gegen etwa mögliche ^ arletzimgen.
Darin findet sich nämlich einmal Angst vor dem Sichschämenmüssen,
vor dem quälenden, peinlichen Schamerlebnis selbst, dann aber eine Angst
oder Flucht nicht vor diesem Affekt, sondern vor der betreffenden Hand-
lung Entblößung z. B. — selbst. Es gilt das insbesondere auch von
Aussprachen über Dinge, welche die Schamhaftigkeit tangieren. Man
kann ofl von Menschen, welche angeben, irgend etwas nicht sagen zu
können, hören, so peinlich ihnen das Gefühl des Schämens sei, so würden
sie dieses doch ube^^vinden können, aber es sei ihnen dennoch unmög-
lich, die Dinge auszusprechen. (Es deckt sich, was zu bemerken nicht
überflüssig sein mag, dieses Widerstreben nicht mit dem „Widerstand"
der Psychoanalyse; denn dieser richtet sich gegen annoch unbe\vußtes,
zmn Auftauchen in das Be>vußtsein bereites Material, während hier es
sich um ganz bewußte Dinge handelt.)
Nebenher spielen bei den Reaktionen der Scham noch andere Momente
mit. Im allgemeinen wird eine schöne Frau sich leichter zur Entblößung
verstehen bzw. bei derselben weniger Scham empfinden als eine häßliche.
Forel (Sg) behauptet, daß alte Frauen darum schamhafter seien als junge.
Offenbar liegt ein Bestreben zugrunde, das Prestige als Geschlechtswesen,
Objekt möglicher Begehrungen, zu wahren.
Eine, wohl nur durch konventionelle Motive bewirkte Verschärfung
der Schamhaftigkeit stellt die Prüderie dar, die allerdings sehr oft
kein echtes, sondern nur ein gespieltes Verhalten ist, eine Anpassung
an herrschende Tendenzen und Sitten, insoferne auch zu weiteren Be-
merkimgen kaum Anlaß gibt. (Vgl. im folgenden Abschnitt über den
jJMucker".)
Das Wesen der Prüderie ist die Kompensation einer versteckten und
— aus inneren oder konventionellen Motiven — bekämpften erotischen
Neugierde. Sie paart sich daher oft mit Lüsternheit. Schleier-
macher hat sie geradezu als einen Mangel an Schamgefühl aufgefaßt.
Im Prüden liegt die Sexualität sozusagen stets auf der Lauer; wo sie nur
den leisesten Anlaß wahrnimmt, wdrd sie rege. Und da sie sich nicht
laut äußern darf, bewirkt sie alle die bekannten Reaktionen der Ent-
rüstung. Außerdem steckt vielleicht ein Teil Neid in der Attitüde des
prüden Menschen.
Etwas anders steht es mit der ebenfalls zur Schamhaftigkeit in Be-
ziehung zu setzenden Keuschheit. Ihr Begriff ist einigermaßen
schwankend. Man spricht einmal von Keuschheit, wenn überhaupt sexuale
Regungen fehlen oder zumindest ihnen in keiner Weise stattgegeben
wird. Das ist das religiöse Keuschheitsideal, um das die Heiligen im
Kampfe mit dem Versucher rangen, dem getreu zu bleiben der hl, Gallus
sich in die Dornen und Nesseln warf, oder Heinrich Suso (Seuse) sich die
ungeheuerlichsten Martern auferlegte. Man verwendet den Ausdruck aber
auch als gleichbedeutend beinahe mit Schamliaftigkeit, insbesondere dann,
wenn ein Individuum erotisch nur von einem, ihm legitim verbundenen
anderen erregbar erscheint. Daß es sich vielfach um Pseudokeusch-
PIK SKKl \D\IU:N PIIANOMKNK 399
ht'it luuHlolt. mehr \im die Kunst, „das Gesicht zu walircn", als um
eine innerliche Kinstollun^, ist iiiolu- als selbstverständlich'. „Zwischon
Keuschheit und Sinnlicldveit gibt es keinen notwendigen Gegensatz, je<le
gute Ehe, jede eigentliche Herzensliebschaft ist über diesen (le^ensatz
hinaus" (Nietzsche [91])- Übrigens findet sich dieser Gedanke schon
bei Balzac (7). James (60) sieht in dem Instinkt der Isolierung (vgl. o.)
eine wesentliche ^^ urzel der Keuschlieit.
Einige Beachtung verlangt die Wertschätzung der Keuschheit, Unbe-
rührtheit, der Jungfräulichkeit. Ob die Forderung nach solchem Zu-
stande hygienisch oder ethisch zu begrüßen sei, ist für die Psychologie
irrelevant. Sie konstatiert das Vorhandensein dieser Wertschätzung und
Forderung, die auch heute, trotz mancher StiVnmen aus dem Lager der
Frauenbewegung, noch immer wesentlich an die Frau, nicht aber an
den Mann — auch von den Frauen nicht — gestellt wird. Auch diese
Forderung ist heute vielfach wohl nur mehr aus Tradition und Konvention
zu verstehen. Erstreckt sie sich doch zumeist wirklich nur auf die
anatomische Virginität, das Intaktsein des Hymens, während alle ero-
tischen Erlebnisse gerade nur mit Ausschluß des Koitus selbst als ge-
stattet und die Jungfernschaft nicht tangierend hingenommen werden.
In diesem Zusammenhange mag auch des Begriffes der Frauen-
ehre sowie der Entehrung gedacht werden. Es ist auffällig, daß
nur für die Frau solch eine Bewertung existiert, sowohl für sie selbst
wie für die anderen. Simmel (106) hat dieser Frage eindringende
Worte gewidmet. Es erscheint ihm diese Tatsache als ein Ausdruck der
„Passivität" der Frau, die wiederum aus der oben gekennzeichneten
Bezogenheil auf das eigene Ich, den fehlenden Trieb zu einer über das
eigene Leben hinausreichenden Aktivität herfließt. Für den Mann gilt:
.,Ein anderer kann mir meine Ehre nicht rauben." Nur die eigene
Handlungsweise entehrt. Die Frau wird entehrt, indem sie Opfer der
Handlungsweise eines anderen wird. Sie kann auch nicht, wie der
Mann, ihre Ehie wiederherstellen, indem sie den Beleidiger tötet oder
sonstwie Rache an ihm nimmt. Selbst durch ihre Opfertat ist Judith
entehrt: Bete, daß ich unfruchtbar bleibe, läßt Hebbel sie sagen, damit
wohl noch anderes, aber auch dieses ausdrückend: daß zumindest ein
dauerndes Zeichen ihrer Entehrung von ihr fernbleiben möge.
Man kann fragen, warum diese Einstellung auch für die Frau selbst
besteht. Es wäre verständlich, wenn der Mann sie hätte, vor allem aus
historischen Momenten zu verstehen. Aber ebenso, wenn die Frau, die
nur ein Opfer der Gewalt geworden, sich schuldlos, und daher auch
nicht entehrt und rein fühlte. Daß dem nicht so ist, mag verschiedene
Gründe haben. Einmal selbstverständlich die Anpassung an die Sitte,
die ja das Stigma der männlichen Herrschaft trägt. Wir wissen zur
Genüge, daß die — allerdings freiwillige — Hingabe in verschiedenen
Riten — Astartekult — nicht aJs entehrend galt. Wo die männliche
Gesellschaft keine Entehrung findet, sieht sie auch die Frau nicht.
1 übrigens vortragen sich Schamhafligkeit und Unkeuschheit vielleicht nicht nur, wenn
erstere unecht, sondern auch wenn sie echt empfunden wird.
400 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Ob aber diese Motivierung zureicht, mag bezweifelt werden. In manchen
Fällen dürfte ein Schuldbewußtsein mitbestimmend sein; nicht nur in
dem Sinne, wie os der schon berufene Sancho Pansa annahm, sondern
auch in dem, daß nicht so selten auch die Vergewaltigte sexuelle Lust
genossen imd insoferne nicht nur Opfer ge>vesen ist, damit, wenn auch
gegen ihren Willen, gewissermaßen aktiv an der Tat Anteil genommen
hat. Und wenn schon dies nicht der Fall war: das Wissen, daß eine
Lustgewinnung möglich gewesen wäre. Dann aber, weil der Sexualakt
für die Frau, trotzdem er eine restlose Aufgabe der Persönlichkeit nicht
beinhaltet, dennoch infolge der intimeren Verschränkungen ihrer Sexualität
mit dem eigentlichen Ich als Symbol eine viel tiefere Bedeutung haben
kann imd das Aufgezwung^ensein solchen Verhaltens als eine Minderung
<les Ich empfunden wird, als eine Entstellung sozusagen des Angesichts
der Seele.
Es wäre vielleicht hier der Ort, des asketischen Verhaltens zu geden-
ken. Doch ziehe ich es vor, dieses mit anderen Verhaltungsweisen
zusattimen als „erotische Typen" im folgenden Abschnitt zu behandeln.
Weitere sekundäre Phänomene beziehen sich auf das Verhalten zu
dritten Personen. An erster Stelle wäjre zu nennen die Eifersucht.
(Sie ist selbstverständlich nicht ohne Beziehung zu den anderen. Die
Forderung nach der Jimgfernschaft mag zum Teil in einer Art retrospek-
tiven Eifersucht mit einen Grund haben.)
Eifersucht kennt zwei Richtungen. Sie erstreckt sich einmal auf den
Sexualpartner, das andere Mal auf denjenigen, der mit jenem in sexuale
Beziehungen tritt oder solcher Beziehung verdächtigt wird. Die Urform
der letzteren ist wohl die einfache Tendenz, den Konkurrenten zu ver-
nichten. Als solche kommt sie schon im Tierreich vor^, ist Ausdruck
des Kampfes der Männchen um das Weibchen. Die Einstellung gegen
den wirklichen oder vermeintlichen Konkurrenten ist gemeinhin die des
Hasses mit allen seinen Abwandlungen. Sie ist keinem Geschlecht und
keinem Alter fremd.
Vielfach verbindet sich mit der Einstellung des Hasses die des Neides,
dort, wo es sich um Eifersucht gegen den begünstigten Konkurrenten
handelt, oder wo die Überlegenheit des anderen in irgendeiner Hinsicht
Anerkennung erzwingt. Diese Eifersucht kann sich nicht nur den wirk-
lichen, sondern auch schon den möglichen Konkurrenten gegenüber ein-
stellen. Jeder wird mit scheelen Augen angesehen, mehr weniger gehaßt.
Es kann diese Einstellung allein bestehen, nur der Konkurrent, nicht
aber der Geschlechts partner Ziel derselben werden. Allerdings >vird dies
relativ selten vorkommen, geradeso wie imigekehrt wohl auch die allein
auf die eigene Frau oder den Mann gerichtete Eifersucht ohne Haß auf
den Nebenbuhler selten angetroffen wird, obwohl auch solche Fälle sich
ereisTien.
VgL z. B. Hamilton, A study of sexual tendencies in monkeys and baboons,
Joum. an. behav. 4, iQi't- Eine absonderliche Anekdote findet sich bei Montaigne,
ich weiß nicht von wo entnommen: „Le pasteiir Oiratis estant tumbe en amour cVune
chevre, son bouc, ainsi qu'il dormoit, Luy veint, par jalous.e, chocquer la tete de la sienne
et la luy ecrasa.
DIE SEKUNDÄREN PHÄNOMl.NK 401
Während die Elinst4jlluiig go^n den Konkurronton durcliaus negativ
gefühlsbK'tont ist, stellt sich die gegen den Sexualparlner als ein sehr
komplexes Phänomen dar. Sie ist nämlich mit Li('lM\ Zuneigung usw.
nicht nur kompatibel, sondern setzt sie geradezu voraus. Denn jene
Eifersucht, die an dem Besitz eines ungeliebten Partners oder sogar
eines nicht einmal begelu"ten häjigt, ist im eigentlichen Sinne hier nicht
beizuzälilen : sie entspringt anderweitigen Motiven, der Eitelkeit vornehm-
lich. So spiegelt sich auch in der Eifersucht dio Ambivalenz des Sexual-
affektes. Im großen imd ganzen wird man wohl sagen dürfen, daß
Eifersucht der vitiden Sphäre, ja sogar tieferen Schichten derselben ange-
hört, im Bereiche geistiger Liebesakto, welche erst Liebe im eigentlichen
"N'erstande erzeugen, aber nicht bestehen kann. Dort gilt, daß die Liebe
nicht eifert, wie der Apostel sagt. Vielleicht läßt sich über dies Neben-
einanderbestehen von Eifersucht, die naJiezu Haß sein kann, und Liebe
noch eine nähere Bestimmung treffen. Es hat nämlich den Anschein,
als ob diese zwei Einstellungen sich nicht ganz auf die gleichen Seiten
oder Aspekte des Partners richten >vürden. Dieser wird geliebt, sofern
er Objekt eigenen Begehrens und Zielpunkt der Liebe ist, und gehaßt,
sofern er diese Bedeutung für einen Dritten hat oder haben kann.
Man könnte meinen, daß diese Beziehung auf den Dritten als Motiv
der negativen Einstellung einen Hinweis auf eine doch bestehende Einheit
der zwei Richtungen der Eifersucht erbrächte, daß Eifersucht, die sich
auf den Partner richtet, doch nur Eifersucht auf den Konkurrenten sei,
welche nach dem Schema der ,, Wertübertragung" auch das von diesem
angestrebte Objekt einbezöge. Ich glaube nicht, daß solche Verein-
heitlichimg richtig wäre. Daß natürlich hier intimere Verknüpfungen
obwalten müssen, wird niemand bestreiten wollen. Aber rein deskriptiv
genommen, scheinen mir beide Einstellungen doch Wesensunterschiede
darzubieten, die freilich in Worten schwer zu fassen sein mögen.
Von allen Konsequenzen, die Eifersucht dieser oder jener Art mit
sich bringen kann, von Mord und Totschlag, Isolierung und Verschlep-
pung usw. soll hier nicht weiter die Rede sein. Es sind das Reaktionen
auf oder, besser gesagt, Aktionen aus solcher Einstellung, die individuell
variieren, insbesondere aber mit den sozialen Möglichkeiten.
Dagegen ist noch kurz einer besonderen, soviel ich sehe, allerdings
seltenen, Nuance "zu gedenken. Es kann nämlich vorkommen, daß Eifer-
sucht sich eigentlich weder gegen den Nebenbuhler noch gegen den
Partner, sondern sozusagen allein auf die Beziehung zwischen beiden
richtet. Im allgemeinen ist der Nebenbuhler verhaßt an und für sich,
der Partner Gegenstand der Eifersucht unter allen Umständen. In dem
hier angezogenen Fall aber ist der Nebenbuhler nur in dieser seiner
Eigenschaft gehaßt, nur insofern er mit dem Sexualpartncr in Beziehung
tritt; ja, es kann sogar den Anschein erwecken, als bestände überhaupt
kein Haß gegen dio Personen, sondern nur ein, wenn auch noch so
intensives. Anstoßnehmen an der Beziehung zwischen ihnen.
Eifersucht wird überwunden oder aufgehoben durch Liebe und Ver-
trauen, wenigstens soweit sie sich auf den Partner richtet. »Echte Eifer-
sucht auf den nicht geliebten Partner gibt es anscheinend, v^ae bemerkt,
26 Kafka. Vergleichende Psychologie III.
402 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
nicht. Die g«gen den Konkurrenten gerichtete kann aufgehoben werden
durch die Überzeugung der Grundlosigkeit; meist aber sind hier, wie
im At'lektleben überhaupt, rationale Momente recht unwirksam. Wenn
irgendwo, so ist bei der Eifersucht der Übergang vom Normalen in
das Pathologische ein durchaus fließender; zwischen Eifersucht und
Eifersuchtswahn bestehen nur Unterschiede des Grades. Wie das Ver-
trauen rücksichtlich des Partners, so kann die Verachtung rücksichtlich
des Nebenbuhlers Eifersucht verliindem.
Motive zur Eifersucht geben alle jene tatsächlichen oder vermeint-
lichen Wahrnehmungen ab, welche eine Beziehung zwischen dem Partner
und dem Nebenbuhler nahelegen. Es kann aber Eifersucht auch ohne
solche Anhaltspunkte „autochthon" entstehen, und dann werden die be-
weisenden Beobachtungen im nachhinein gesucht — und imter der
Wirkung des Affektes gefunden. Aber auch das eigene Verhalten kann
der Eifersuchtsentwicklung vorarbeiten. Nicht nur, daß ein Wissen um
eigene „Seitensprünge" den Verdacht gleicher Handlungsweise auch des
Partners rege macht. Auch das Bewußtsein, in irgendwelcher Beziehung
den Ansprüchen des Partners nicht oder nicht mehr zu genügen, kann
in gleichem Sinne wdrken; daher die Eifersucht der alternden Frauen
nicht minder wie die der alten Gatten junger Gattinnen.
Auf einen anderen zielt auch jene Einstellung, welche man Koket-
terie nennt und die vornehmlich der Frau eignet, ja die beim Manne
als ungehörig, seinem Wesen vdderstreitend abgelehnt wird. So v^de
wir das aktiv-werbende Verhalten der Frau als ihr nicht zukommend
efmpfinden imd nur dort verstehen und verzeihen, wo es sich sichtlich
um eine große, wahre Liebe, nicht nur um mehr weniger flüchtige
erotische Anknüpfungen handelt^. Nur, wie schon gesagt Avurde, inner-
halb schon fixierter erotischer Beziehungen ist ein Werben der Frau
— lun das Sexualziel, nicht das Objekt — ein uns verständliches Ver-
halten, obwohl auch das vielen Menschen, Männern wie Frauen, wider-
strebt, als ,, unweiblich" erscheint. Wieviel daran nur Wirkung den
Konvention ist, dürfte sich schwer entscheiden lassen.
Das Wesen der Koketterie ist ein abwechselndes Versagen und Ver-
sprechen, wobei aber beide einen unernst-spielerischen Charakter tragen
und so in das ganze Verhalten einen schwankenden Zug bringen. „Ver-
sagen und Gewähren ist das, was die Frauen vollendet können, imd was
nur si« vollendet können" (Simmel [io6]). Der Mann wirbt, fordert,
bittet — die Frau sagt ja oder nein. Koketterie entsteht nun dann, wenn
die Frau zugleich ja und nein sagt, keines ernsthaft, und doch einen
Zweifel darüber offen läßt, ob nicht doch die eine oder die andere Ant-
wort xmd welche die ernst gemeinte sein könnte.
Der Sinn und Reiz dieses Spieles ist für die Frau wohl darin gelegen,
daß sie erstens hier zu einer Machtentfaltung gelangt, die ihr sonst im
Leben Natur und Sitte zu versagen scheinen, zweitens darin, daß die
oben erwähnte Lustgewinnung aus dem Wissen um die Sexualerregung
J Dio Briefe der Marianna Alcoforado, die der Julie de Lespinasse.
DIE SEKL.NDaIU:.N PHÄNOMENE 403
des anderen für Frauen besonders bedeutsam zu sein scheint. Dem Hinaus-
ziehen dit^ses Gesnusse* dient die Koketterie in exquisiter Weise.
Simmel (io6, io8), dex zu diesem Punkte wohl das Eindringendste
zu sagen wußte, unterscheidet droi Verlialten innerhalb der Koketterie:
„die schmeichlerische Koketterie: du wärest zwar imstande zu erobern,
aber ich will mich nicht erobern lassen; die verächtliche Koketterie:
ich würde mich zwar erobern lassen, aber du bist dazu nicht imstande;
die provokante Koketterie: vielleicht kannst du mich erobern, vielleicht
nicht — versuche es!"
Sinnbildlich für diese Attitüde ist die primitivste Gebärde der Koket-
terie: der Blick aus den Augenwinkeln, der sich auf den Betreffenden
richtet imd zusagt, während der Kopf weggewendet versagt. Grundzug
allen koketten ^'erhaltcns ist daher immer wieder das halbe Enthüllen
und Verhüllen, sei es des Körpers, sei es der Seele.
Zur Koketterie steht auch das als Schmollen bezeichnete Ver-
halten in Beziehung, insofeme es ebenfalls unernster, spielerischer Art
ist und auf eine Steigenmg des Wertes der Versöhnung, bzw. des
Ja, welches dem Nein folgt, hinzielt. Dieses Verhalten kommt zwar
auch überwiegend bei Frauen, aber auch bei Männern vor.
Zuweilen nimmt das Schmollen einen Charakter an, den man am
besten mit einem Terminus der Psychopathologie als Negativismus
benennen könnte. Jede wie immer geartete Forderung und Frage vrird
abgelehnt, oder es erfolgt überhaupt keine Reaktion. Hier verschwimmen
die Grenzen des echten und des spielerischen Verhaltens, indem an-
scheinend die Ambivalenz wirksam >vird. Auch kommt es gelegentlich
zu einer Art Festlegung auf diesen Standpunkt, den gewisse Hemmungen
trotz gegenteiliger Einsicht imd W^imsches nicht aufgeben lassen. Mit
diesem spielerischen Im-Ungewissen-Lassen über die getroffene oder zu
treffende Entscheidung der Koketterie ist die wirkliche innere Ungewiß-
heit nicht zu verwechseln. Die Kokette weiß, was sie will; sie vergreift
sich, wenn sie ihr Ziel nicht erreicht, höchstens in den Mitteln. Wer
nicht weiß, was er ynU, kann auch solch ein dualistisches Verhalten an
den Tag legen. Es ist aber nicht spielerisch, sondern das Ja und das
Nein sind allemal für den Augenblick allerdings in einer mehr oberfläch-
lichen Schichte der Persönlichkeit ernst gemeint.
Auch noch ein anderes Verhalten ist nicht Koketterie, wenngleich es
ihr in einem Zug ähnelt. Der Koketterie ist eigentümlich, die Situation
bis zu einer gewissen Klimax gelangen zu lassen, um sie plötzlich vor
Elrreichung der Lösimg, auf welche sie hinzustreben scheint, abzubrechen.
Das ist jenes Moment, worin man die „Herzlosigkeit" der Kokette sehen
will. Es gibt aber ein solches Abbrechen der Situation auch aus anderen
Motiven, vor allem aus der Scheu vor dem Mitgenommenwerden in dem
Strom des Affektes, welter als man will, kann oder darf. Es gibt über-
haupt Naturen, welche lebhaftere affektive Aufgestörtheit scheuen. Das
sind die Menschen, die gerade in Augenblicken, welche anderen als emotiv
besonders bedeutsam erscheinen, irgendeine triviale Bemerkung machen,
weil sie lieber als geschmacklos gelten (wenn sie es bewußt tun) als das
26«
404 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Risiko laufen wollen, im Affekt ihre Selhstbeheirschung, Maske zu ver-
lieren.
Man verwendet das Wort „kokettieren" auch außerhalb der Relation
der Geschlechter. Man kokettiert mit politischen Parteien, mit reli^ösen
Ideen, mit Wichtigem und Unmchtigem. Eine einseitig an der Sexua-
lität orientierte Psychologie Avürde natürlich folgern, es sei das Ver-
halten in Eroticis eben „vorbildlich" für jedes andere Verhalten des
Menschen überhaupt, sohin auch die Koketterie in diesem Falle vorbildlich
finden. Man müßte aber denn doch fragen, wieso eine so eminent
weibliche Attitüde „vorbildlich" für das Verhalten auch des Mannes
werden soll. Auch hierauf werden jene Erklärer eine Antwort wissen;
wozu gibt es die Bisexuahtät? Die weibliche Komponente findet ihren
Ausdruck durch Kokettieren im übertragenen Sinne. Ohne au dieser
Stelle näher darauf einzugehen, muß ich doch anmerken, daß auch
diese, neuerdings so beliebte Betrachtungsweise auf einer recht durch-
sichtigen Diallele, nicht aber, wie man glauben machen will, auf Beob-
achtimg fußt.
Auch der Flirt ist nicht identisch mit Koketterie und auch keine
Steigerung derselben, wie manchmal gemeint wird. Denn der Flirt ist
zwar auch spielerischen Qiarakters, aber er ist ein Spiel von zwei
Akteuren, welche miteinauder ein Spiel aufführen, während die Kokette
mit ihrem Partner, aber er nicht mit ihr, spielt. Oftmals wird man
nicht unterscheiden können, ob zwischen zwei Personen die Beziehung
des Flirts oder der Liebe besteht; vielleicht können es auch die zwei nicht
immer oder nicht immer mehr wissen. Grundsätzlich bleibt aber ein
Unterschied inuner bestehen; denn der Flirt ist ein essentiell imechtes
Verhalten, ein Sich^Gebeu und ein Nehmen, au welchem nicht die Ge-
samtindividualität, sondern nur periphere Sphären derselben beteiligt sind.
Die Schüchternheit, die keineswegs der Erotik allein angehört,
mag hier nur Ervvähnimg finden, ebenso wie die Heuchelei, welche
Forel ausführlich als Ausstrahlung der Sexualität behandelt. Sie ist
aber an diese nicht durch besondere psychologische Wesenszusammen-
hänge geknüpft, sondern nur durch soziale Bedingungen verbunden. Unter
Verhältnissen, welche etwa ein bestimmtes religiöses Verhalten ebenso
fordern, wie heutzutage die Wohlanständigkeit ein bestinmit«s sexuales,
spielt die Heuchelei auf religiösem Gebiete die gleiche hervorstechende
Rolle 1.
Das Gegenstück in gewisser Hinsicht zur Heuchelei ist die erotische
Prahlsucht, die wohl ausschließlich dem Mann eigentümlich ist.
1 Ich kann mir nicht versagen, mit einem Worte auf einen möglichen positiven
^^e^t heuchlerischen Verhaltens hinzuweisen, wenn auch an dessen Verwerflichkeit
im allgemeinen kein Zweifel bestehen kann. Es kann durch die als Maske, Pose ein-
genommene Haltung der Weg zu einem echten Verhalten gefunden werden; so wie
man sich ,,in einen Affekt hineinreden" kann, durch Spiel detr Ausdrucksweise zum
Erleben des Ausgedrückten gelangen, so kann — sicherlich selten genug — eine
erheuchelte Haltung zu einer echten führen. Wie es denn in der Bhagavadgita heißt:
,,Die Götter findet, wer sie ehrt", ein G^<lanke. der auch im Islam (Al-Ghazäli) und
in der Kirche wiederkehrt.
DIE SEKUNDÄREN PHÄNOMIONE 405
Das Sichbrüsten mit errungenen oder erlogenen Sexualerfolgcn, die Auf-
/^Üilung der Frauen, die man „gehabt" hat und was solcher angenehmer
Nuancen mehr sein mögen, kennzeichnet dieses Verhalten. Wer kein
Weibt^rheld ist, möchte doch einer scheinen, zumindest in gewissen Kreisen
und unter gewissen Betüngungen, etwa Alkoholwirkung. Man versteht
nun wohl, daß der Renommist, der sein SchürzeiijägerlatoLn debitiert,
daran Gefallen und Freude findet; er berauscht sich an der Erinnerung
an seine Erfolge, an der Überlegenheit über die woniger erfolgreiche
Lmgebung usw. \\as hat aber diese Umgebung davon, warum läßt sie
solchen Erzähler nicht nur reden, sondern findet sogar Gefallen
an ihm und seinen Geschichten? Offenbar wirkt dabei ein ähnliches
Moment, wie im Schauspiel mit: man identifiziert sich irgendwie mit
dem Redner und Helden. Es ist dies wahrscheinlich die gleiche Ein-
stellimg, die die Freude an der Zote entstehen läßt.
Ganz gut nennt Forel (3g) diese Attitüde den „pornographischen
Geist". Auch er ist nahezu ein Prärogativ der „Männerwelt", wenn-
gleich den Frauen es keineswegs immer daran mangelt. Gar manche
wird hier und da, auch bei sonst von solcher Einstellung weit entfernter
Haltung, an dem „gewagten" Witz und nicht nur des Witzes wegen
Gefallen finden.
Soweit es sich um die Wirkung des Witzes als solchen handelt, fällt
die Erörterung außerhalb des Rahmens dieser Darstellung. Es ist daher
auch nicht möglich, auf die geistreichen Ausführungen Freuds über den
Mechanismus des Witzes einzugehen.
Das Gefallen an dem sexualen Inhalt der Zote steht den erotischen
Phantasien nahe; es beruht auf einem Auftauchen und, wenn auch nur
angedeuteten. Miterleben der geschilderten Situation. Bemerkenswert ist
nur, daß der Witzgehalt solcher Anekdoten ein sehr geringer sein kann,
daß auch die völlig witzlose ^Anspielung auf sexuale Dinge Lachen zu
erregen vermag.
Die Reaktion der Frau auf die ihr erzählte Zote ist durch verschiedene
Momente bestimmt, vor allem durch die Schamhaftigkeit, weshalb die
Erzählung solcher Anekdoten und Witze zwischen Frauen zumeist auf
wenig Hemmungen stößt. Unter gewissen Umständen darf auch der
Mann der Frau oder den Frauen „anstößige" Witze erzählen; in Schichten
geringerer Kultur ist dies u. a. ein Mittel der Werbung. Bemerkenswert
ist, daß ein Kreis von Frauen oft solche Erzählungen hinnimmt, wenn
nur der Erzähler als einziger Mann gegenwärtig ist, dagegen ablehnt,
wenn mehrere Männer anwesend sind.
Im übrigen unterliegen diese Dinge ungemein den jeweils herrschenden
gesellschaftlichen Sitten, was sich ja in der Literatuir der verschiedenen
Epochen deutlich genug ausspricht.
Es wäre hier vielleicht weiterhin der Galanterie und der Ritter-
lichkeit zu gedenken. Der Begriff des Galanten hat im Laufe der
Zeiten eine Wandlung durchgemacht. Ursprünglich identisch mit dem
Sexualen, hat er sich in dieser Bedeutung, wie mir scheint, nur in der
Zusammenstellung ,, galantes Abenteuer" erhalten, während er sonst nur
406 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
einen gewissen Formalismiis des Verkehres mit der Frau meint. Zwischen
Galanterie und Ritterlichkeit besteht ein schwer faßbarer Unterschied
der Nuance. Ein und dieselbe Handlung kann, je nachdem, dem einen
oder dem anderen Verhalten zugezäMt werden. Vielleicht darf man
sagen, die Galanterie ziele stets auf die Auslösung eines Gefallens bei
der Frau ab, sei auf sie gerichtet, während die Ritterlichkeit um ihrer
selbst oder der Würde des Handelnden willen geübt wird. Daher haftet
auch jener leicht irgend etwas Süßliches an, sie ist spielerisch und kann
auch übertrieben werden und lächerlich wirken; diese hat einen mehr
herben Charakter. Auch setzt Ritterlichkeit Achtung voraus, wennschon
nicht vor der individuellen Frau, so doch vor Frauen im allgemeinen;
galant kann man auch bei Mißachtung der Frau bleiben.
EROTISCHE TYPEN
\\ahrend einerseits die Manni^altigkcit psychosexualen Erlebens bei
den verschiedenen Menschen eine außerordentlich große ist, hat sich
doch anderseits zeigen lassen, daß gewisse Grundhaltungen überall wieder-
kehren, was auch für die im folgenden Abschnitte zu behandelnden Ab-
artungen und ebenso für die höheren Phänomene der Liebe Geltung
hat. Neben diesen, der Sexualität schlechthin eigentümlichen Grund-
haltungen gibt es noch einige mehr oder weniger typische Weisen ero-
tischer Einstellung, die man herausheben kann. Selbstverständlich wird
dadurch weder die Mannigfaltigkeit sexualen Verhaltens erschöpft, noch
eine weitgehende Variation innerhalb dieser Typen ausgescldossen. Im
allgemeinen handelt es sich um verschiedene Stellungen zur und ver-
schiedene Haltungen in der Sexualität. Ein Typus steht hier allen anderen
gegenüber, jener, bei welchem die Sexualität im ganzen und a limine
abgewiesen wird, der Asket.
Die Asketen hat Nietzsche (91) mit dem Namen ,, verunglückte
Schweine" belegt, eine paradoxe Übertreibung, die aber, wie jedes echte
Paradoxon, irgendwo den Kern der Sache trifft. Tatsächlich erwächst
die Askese vielfach aus der Flucht vor den sexualen Trieben, aus der
Angst, denselben nachzugeben. Gemeinhin gründet diese Angst in reli-
giösen Überzeugungen von der radikal bösen Natur des Sexualen. Auch
diese Überzeugung weist verschiedene Nuancierungen auf. Sie ist in
der Askese des Christentums anders gefärbt als in der indischer Reli-
gionen. Einmal sieht sie im Sexualen als solchen unmittelbar das ßöse,
das Werk des Teufels, Ausfluß der Erbsünde, das andere Mal erscheint
das Sexuale nur als die mächtigste Fessel, welche das Ich an die Welt
und sohin das Leiden zu ketten droht. Daß der Asket mit der „Ver-
suchung" zu ringen hat, zu allen Mitteln greifen muß, das Fleisch
abzutöten, daß seine ganze Haltung aus dem Kampfe mit der Sinn-
lichkeil erwächst, ist aber ganz begreiflich. Wem sexuale Triebe ge-
wisser Lebhaftigkeit nicht gegeben sind, kann gar nicht in diesem Sinne
zum Asketen werden. Denn ihm fehlt vor allem der x\nstoß; ^ fehlt
ihm die Erkenntnis des „Bösen", weil er das Böse in sich nicht erlebt.
Nur derjenige, dem die dämonische Macht des Triebes Erlebnis wurde,
kann sie erkennen und mit ihr sich auseinandersetzen. Sofern jener,
der dem Triebe folgt, ein Schwein geheißen werden kann, mag das Wort
Nietzsches also zu Recht bestehen.
Die Auseinandersetzung mit der Sexualität, deren „Verdrängung", be-
wirkt, daß diese ganze Sphäre für das Bewoißtsein allmählich eine gewisse
Ichfemc erwirbt. Daher erscheint die ,, Versuchung" in Gestalt von
Halluzinationen, Visionen des Dämons und seiner Gefolgschaft. Mit
dem Kampfe gegen die Sexualität ist übrigens die Stellung des Asketen
408 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
in keiner Weise erschöpft, das Böse kennt noch andere Erscheinungs-
weisen. In der Tentation de St. Antoine von Flaubert treten sie alle
nacheinander auf, die Sucht nach Wohlleben, nach Macht, nach intellek-
tueller Geltung usw. Natürlich werden viele geneigt sein, in der Ab-
wendung vom Sexualen das Ursprünglichste der asketischen Haltung
zu sehen. Zweifellos ist dies der auffallendste Zug darin. Daraus folgt
aber nicht, dal5 es genetisch und struktural der bedeutimgsvollste ist.
Es scheint mir, als sei gewissermaßen die Sexualshpäre nur ein besonders
günstiges Feld der Betätigung für die asketische Einstellung, die aber
aus tieferen, jenseits der Scheidung in Sexuales und Nichtsexuales
stehenden Schichten der Persönlichkeit fließt. Auch hier hätte ich wieder-
um, wie schon mehrmals, den Standpunkt zu vertreten, daß das sexuale
Erleben nicht „vorbildlich", sondern, wenn man will, „abbildlich" für
seelisches Geschehen überhaupt ist, in jenem sich die formalen Besonder-
heiten der Abläufe vielleicht deutlicher ausprägen als in anderen Sphären,
nicht aber, daß eine Eigengesetzlichkeit des Sexualen bestimmend für
andere Bereiche, die nach ihrem Schema strukturiert w^ären, sein könne i.
Der reine Widerpart des Asketen ist der ausschweifende Wollüst-
ling, der, nur den augenblicklichen und rein vitalen Geschlechtsgenuß
suchend, zu psychologischen Bemerkungen wenig Anlaß bietet, nur einer
Abgrenzung gegen anscheinend verwandte Typen bedarf, nämlich gegen
den Typus des Don Juan, — ein Unterschied, den anscheinend schon
La Mettrie (68) mit seiner Gcgenüberstellimg des Debauche und Voluptueux
meint — , des Verführers und des von Blüher gezeichneten „faunischen
Menschen". Dieses wesentliche Moment trifft auch Nietzsche (92): „Die
Mutter der Ausschweifung ist nicht die Freude, sondern die Freudlosig-
keit."
Blüher kennzeichnet diesen Unterschied dahin: „Der faunische
Mensch ist Sieger, er zwingt drohende Mächte des Inneren zu Boden;
der bürgerliche Wollüstling ist immer Besiegter, er läßt sich von der
Lust kirre machen, ohne aber vom Aberglauben an die Angst- und Scham-
mächte loszukommen; daher ist er im Grunde nur ein entronnener
Mucker." Blüher (i3) meint, der Mensch habe eine Erkenntnis- und
eine Triebseele; dem Glücksgefühl, welches in der Erkenntnis das
Durchschauen der Belation von Subjekt und Welt gewähre, worin man
erst fühle, daß man eine Seele habe, entspreche ein analoges Erleben
der Triebseele. Auch ohne dem Autor in diesen Spekulationen folgen
zu wollen, insbesondere ohne seine, den psychoanalytischen Lehren ent-
nommene, mit ihnen aber vielfach nicht mehr identische Grundposition
zu teilen, wird man zugeben können, daß hier in großen Zügen ein Typus
gezeichnet ist, dessen Wesentliches in der naiven Hingabe an das Trieb-
leben, einer Schamlosigkeit liegt, die nicht aus einem Über-die-Stränge-
Schlagen und damit einem Bewußtsein der Schranken, sondern aus einer
originären Unbekümmertheit um diese entspringt. In der Sphäre des
Vitalen mag dieser Typus als Ideal gelten; er spukt vielfach in der
^ Das hier mit anklingende Problem der „Sublimierung'" kommt im letzten Ab-
schnitt zur Sprache.
LHOTISCIIE TYPEN 409
Literatur, insbcsonclei» jüJigsl verflossciuT Jahre, uhne daß man den
Kindruck hätte, os sei seine küiistlerisclie Ver>virklichung je durcliaus
gelungen.
Eine Spielart dieses Typus ist der Mensch, den man zuweilen als den
, .großen En)tiker" bezeichiien hört, eine Persönlichkeit, die, unbekümmert
aus allen Anlässen erotischen GenulS zu ziehen, jetle Situation in «lit-sem
Sinn ausziHuitzen versteht, ohne daram besonderes Gewicht auf konkrete
Sexualhandlungen im engeren Sinne zu legen. In dieser Nuance scheint
der faunische Typus auch bei der Frau vorkommen zu können, deren
U'esen dem eigentlich Faunischen widerstreiten dürfte.
Handelt es sich beim faunischen Menschen imi einen durchaus einheit-
lichen Charakter, zumindest rücksichtlich des psychosexualen Verhaltens,
so ist der Don Juan eigentlich eine „problematische Natur". Ihm
mangelt es an der letzten Befreiung, er ist ständig imbefriedigt, ständig
auf der Suche nach „dem" Erlebnis, nach ,,der" Frau, wenigstens seiner
Idee nach. Daß er genießt, was ihm auf dieser Suche begegnet, tut
nichts zur Sache, ist sozusagen ein Defekt der empirischen Realisation.
In gewisser Hinsicht weisen Don Juan ^ und Faust verwandte Züge auf.
Im Gegensatz zum wahren Don Juan ist der typische Verführer
ein Mensch, der an der Technik haftet. Jenem kommt es darauf an,
endlich die Befreiung, Erlösung, sich selbst in einer höchsten Steigerung
zu erleben, diesem ist es um den Sieg zu tun. Nicht einmal so sehr der
Besitz der begehrten Frau ist der Preis, um den er ringt, als das Besitzen-
können. Er verzichtet sogar unter Umständen auf den Besitz, er ver-
schmäht die „eroberte" Frau, sobald er sich und ihr bewiesen hat, daß
er sie erobern, besitzen könnte. Selbstverständlich vereinigen sich Don
Juan und Verführer zmneist in einer Person; jener kann ja nicht ohne
die Künste dieses >virken. Von den Mitteln der Verführung war schon
die Rede. Sie stehen dem wahren Verführer alle zu Gebote, die Maske
der Freundschaft, des Beichtigers, die brutale Aggression und Über-
rumpelung, die anscheinende Uninteressiertheit -, das Eingehen auf die
leiseren seehschen Regungen der Begehrten usw., Mittel, die nach Zeit
und Ort, nach den sozialen Schichtungen unendlich wechseln.
Schmitz (lo/i) glaubt, daß man zwischen Don Juan und Casanova
scharf unterscheiden müsse. Er sieht im Don Juan etwa den Typus,
den ich eben den Verführer nannte, dessen Wesen Lust nach Herrschaft,
nach Überwindimg, nach Gefahr ist, der aber im Grund unerotisch sei.
Don Juan ist teirflisch, ihm geht es um das Verderben der Frau. Casa-
nova liebt jeweils die einzelne, ihm gerade sich darbietende Frau; er
liebt in ge>vissem Sinn auch noch die Verlassene, er ist menschlich.
Don Juan haßt, Casanova versteht die Frau. Auch Stendhal (iio) meinte,
Don Juan sehe in den Frauen Feinde, imd stellte ihm Werther gegenüber
1 Zu seiner Charakteristik siehe auch die Bemerkungen über den Junggesellen w. u.
2 Goethe: ..Doch wem nicht daran gelegen
Scheinet, ob er reizt und rührt,
I>er beleidigt, der verführt."
410 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
als den Erotiker. Bloch (12) findet, daß der Don- Juan-Typus in England
häufig sei; er treibe Liebe als Sport.
Ohne weiter hierauf einzugehen, möchte ich nur annierken, daß mir
dieser Don-Juan-Typus nicht vollständig erscheint. In ihm findet sich
auch ein Drang nach Erlösung; er haßt die Frauen, weil er die Frau
nicht findet 1.
Es ist fraglich, ob diesen Typen des Mannes weibliche an die Seite
gestellt werden können. Ausschweifimg findet man natürlich. Es ist
aber schwer zu entscheiden, ob etwa der Messalinentypus dem Wollüst-
ling, ob er dem Don Juan entspricht oder gar dem ,, faunischen
Menschen". Überhaupt scheinen, bei allen individuellen Differenzen,
die Frauen eine weit geringere Mannigfaltigkeit an Typen darzubieten.
Vielleicht eben deshalb, weü ihr persönlichster Kern viel innigere Be-
ziehungen zu allem Verhalten nach außen eingeht, von weniger ichfemen
Schalen verhüllt wird.
Während der Asket die Sexualität auch innerlich ablehnt, muß der
Mucker, wie ihn Blüher (i3) ganz gut gezeichnet hat, die Sexualität
innerlich anerkennen imd sie nach außen ablehnen. Auch er fürchtet
sie in einem Sinn, aber er sucht sie zugleich. Daher er überall Sexuales
wittert, ob dazu ein Anlaß sei oder nicht. Diesen Typus allerdings gibt
es bei beiden Geschlechtern. Man könnte zweifeln, ob es überhaupt eine
ehrliche Haltung dieser Art gibt, ob nicht immer nur eine Maske, Pose
vorliege, was anzunehmen man sicherlich in sehr vielen Fällen allen
Grund hat. Das sind die peinlich korrekten Menschen, welche die öffent-
liche imd private ,, Moral" unter allen Umständen behüten wollen, jeden
Verstoß dagegen aufzuspüren wissen, und die dann insgeheim oder unter
irgendwelchen ungewöhnlichen Bedingungen exzedieren. Etwas Mucker-
haftes steckt noch in vielen Menschen, welche den Anschein der Be^
freiung erwecken wollen, die ihre Vorurteilslosigkeit in Eroticis betont
in den Vordergrund stellen, Nacktkultur treiben u. dgl.
Auch jene, welche ihr Gefallen an pornographischen Produktionen
allzu auffallend zur Schau tragen, haben häufig etwas dieser Geistes-
richtung Verwandtes an sich, eine Unfreiheit dem Sexualen gegenüber,
die ihre Erotik gewissermaßen jenes Ventil benützen läßt, weil ihr ein
freies Ausströmen versagt bleibt.
In solchen Typen, deren Zahl gewiß zu vermehren wäre, drückt sich
die Orientierung der Sexualität aus. Nun ist es klar, daß derartige
Menschen nicht allein auf sexualem Gebiete typische Züge aufweisen^
werden, sondern auch sonst irgendwie Gemeinsames dürften erkennen
lassen. Wir haben ja von einem Don Juan oder von einem Mucker eine
ganz bestimmte Allgemeinvorstellung, die sein Gehaben und seine Er-
scheinung, fast möchte man sagen, eindeutig kennzeichnet. Wieder
taucht jene verfängliche Frage nach dem primären Faktor auf. Es
ist freilich sehr verführerisch, wenn man zu hören bekommt: ein Mensch,
der sich mit dem Sexualproblem nicht auseinanderzusetzen verstanden
1 Bemerkungen zu diesem Thema finden sich schon bei Bahnsen (6), der den
Don Juan und den Sanguiniker kontrastiert.
EROTISCHK TYPEN 411
hat, der in allerlei Schranken und Hommunp-on verfangen blieb, zum
Teil Vorstellungen und lielürchtungen der Kindorjahre mit sich schleppt,
wird in analoger Weise sich auf anderen Gebieti'^n auch vcHuUten, Ent-
scheidungen etwa fliehen usw. ; das SoxualcrlelKMi und die Rcaklionon
auf Sexuales werden eben als ,, vorbildlich" für die Lebensgestaltung ül)cr-
haupt betrachtet. Jung hat das einmal so ausgedrückt: es sei das Schick-
sal des einzelnen identisch mit dem Schicksal seiner Sexualität. Daß
und warum ich diese These glaube ablehnen zu mässen, habe ich schon
wiederholt angedeutet. Da indes auf diesen Punkt im Schluljabschnitt noch-
mals die Aufmerksajukeit gelenkt werden soll, genüge hier der Hinweis,
daß auch die Betraclitung der erotischen Typen auf dieses Problem führt.
Mit dieser Typik kreuzt sich eine ajidere, deren Gestalten zum Teil
durch äußere Einflüsse geformt werden. Deren Repräsentanten sind der
eingefleischte Junggeselle imd die aJte Jungfer. Sie nehmen zwar äußer-
lich durch die Ehelosigkeit eine ähnliche Stellung ein, sind aber genetisch
und psychologisch sehr \erschieden.
Die Motive der Ehelosigkeit beim alten Junggesellen können sehr
mannigfaltige sein. Jene Fälle, bei welchen die Ursache ausschließlich
in äußeren Momenten gelten ist, kommen hier kaum in Betracht. Ihre
charakteristischen Züge sind wohl auch mehr Produkt der Lebensbedin-
gungen im allgemeinen, als spezifisch psychosexualcr Faktoren. Interessant
sind hier jene Menschen, die grundsätzlich jedes Eingehen dauernder
sexualer Verbindungen scheuen. Auch hier gibt es verschiedene Nuancen.
Die eine vertritt in klassischer Ausbildimg Schopenhauer; das ist der
Misogyne, dem die Frau höchstens Mittel zur Befreiung vom Geschlechts-
drang ist, dessen man sich wohl oder übel bedienen muß. Die Miso-
gynie ist Teilerscheinung einer allgemein pessimistischen Einstellung zur
Welt. Für jene oben abgelehnte Anschauung ist der Pessimismus be-
greiflicherweise die auf die Welt übertragene Einstellung zur Sexualität.
,,Welt ist Deckvorstellung für Sexuahtät. Das Schlechtsein der Welt
ist das Schlechtsein der Sexualität und der Weltschmerz daher eine der
großartigsten Formen von Zwangsneurose" (Blüher [i3]). Das andere
Extrem ist der Don Juan, dem keine Frau genug tun kann, weil keine
die gesuchte, alles vermögende ist; weil er weiß, daß es keine je sein
wird, aber trotz dieses, vielleicht nie, vielleicht nur in manchen Augen-
blicken eingestandenen Wissens immer sucht, kann er eine dauernde
Verbindung nicht eingehen. Denn dies hieße resignieren, und Resignation
ist das, was diesen Menschen am immöglichsten erscheint. Zwischen
diesen Polen stehen mancherlei andere Typen: der Mann, welcher die
Frau irgendwie fürchtet, ein potentieller Pantoffelheld, oder der die
Frau, ohne sie pessimistisch zu werten, doch nicht als voll nimmt und
sie nicht für vmrdig hält, einen so großen Raum im Leben des Manne«
auszufüllen, derjenige, der die Verpflichtungen scheut, Verpflichtungen
der Fürsorge, der Ordnung, den die Aufgabe seiner ,, Freiheit" dauernd
reut, der, welcher seiner Fähigkeit zur Treue mißtraut, und wohl noch
andere mehr.
Vielfach sind Junggesellen auch Sonderlinge. Sie sind es auf ver-
schiedene Art, je nach der Struktur ihres Junggesellentums. Manche
4,2 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ihrer Sonderbarkeiten sind offensichtlich Milieuprodukt. Manche hängen
in intimer Weise mit ihrer ganzen Lebenshaltung zusammen. Es ist
hier nicht der Ort, näher hierauf einzugehen. Wie schon die Aufzählung
der Motive erkennen läßt, handelt es sich vielfach um Individualitäten,
die in irgendeiner Richtung aus der Breite des Normalen herausragen.
So mannigfaltig solche Abweichungen sein können, so mannigfaltig auch
die Sonderbarkeiten des alten Junggesellen. Gewisse Eigentümlichkeiten
sind aber sehr oft anzutreffen. Vor allem eine Neigung, neben dem
offenbaren noch ein geheimes, abseitiges Leben zu führen, von dem
nur wenige oder niemand etwas erfährt. Vielleicht drückt sich in dieser,
im Laufe der Jahre verstärkten Führung einer Art von Doppelleben
ehi Grundzug der seelischen Struktvu- dieser Persönlichkeiten aus, der
überhaupt für die Ehelosigkeit bestimmend ist, und dem gegenüber
fast alle anderen Motive nur periphere Erscheinungen darstellen, nämlich
die Unfähigkeit, Innen- imd Außenleben in befriedigender Weise zur
Deckimg zu bringen; da aber die dauernde Verbindung mit der Frau
auch eine dauernde Preisgabe der Individualität bedeutet, oder wo solche
bewußt vermieden wird, doch die Gefahr des Erratenwerdens in sich
birgt, kann ein solcher Mensch eine Ehe unmöglich eingehen. Ich glaube,
daß ein tieferes Eindringen in die Psychologie des Junggesellen sehr
oft eine solche Struktur würde erkennen lassen. Ziemlich deutlich scheint
sie mir aus den Tagebüchern Grillparzers herauszutreten.
Ist also der echte Junggeselle ein Mensch, der die eheliche Ver-
bindung oder ihr Äquivalent scheut^ und absichtlich meidet, so ist
die alte Jungfer ein Produkt der aufgezwungenen Karenz und
dadm-ch für den Sexualpsychologen von viel geringerem Interesse. Denn
es ist bemerkenswert, daß Frauen, welche aus Überzeugung ehelos bleiben
und auch keinerlei Liebesbeziehungen je eingegangen haben, der charak-
teristischen Züge der „allen Jungfer" ermangeln können. Diese ent-
stehen offensichtlich erst durch das Erzwungene der Situation, durch
die äußeren Momente und die Reaktion darauf 2,
Daß sie ausbleiben können, hängt wohl mit der oben sattsam ge-
kennzeichneten Besonderheit weiblicher Sexualität zusammen. Es dürfte
sich ein weiteres Eingehen auf die spezielle Psychologie der alten
Jimgfem erübrigen.
Vielen von ihnen kommt indes ein Zug zu, der sich vielleicht aus
den Jugendjahren erhalten hat — nebenbei bemerkt, mit dazu beiträgt,
daß sie so vielfach als lächerlich angesehen werden — : das ist die
Schwärmerei, der noch ein paar Worte zu widmen sind.
Schwärmerei steht in zweifellosem Zusammenhang mit der Erotik.
Nicht nur derart, daß deutlich erotische Richtungen auf einen anderen
die Züge der Schwärmerei annehmen können, sondern auch so, daß die
nicht manifest erotische Schwärmerei bei näherem Zusehen doch den
^ Junggesellen gehen oft dauernde Verbindungen ohne Ehe ein ; offenbar um deren
Vorteile ohne ihre Verpflichtungen zu genießen, vor allem um sich die Illusion des Tem-
porären, oder jederzeit möglichen Ehebruches zu wahren. Das ändert natürlich nichts
an der Auffassung der Grundstruktur.
2 Zur Psychologie der alten Jungfer vgl. die feinen Bemerkung-en Kretschmers (66 b).
EROTISCHE TYPEN 413
IüikIrk k orwi'ckt, sie entstanuno irgendwie der Sexiuils[)hän^ Solches
\ frliallt'ii ist voriioliinlicli <lon .lahn'ii uiimilU^Ujar vor l'>n^icluing der
(ii'jioliltxlitsreife oigonlünilicli. Dit's ist dio Zeil, in der die Mädchen
füreinander, für den Lehrer oder die Lehrerin, für den Tenor oder
jugendlichen Liebhaber, unter Lnistäiiden auch für keine b(^tinimto
Person, für einen Stand, für Offiziere, Ärzlo usw. im allg"<'ni<'ineii
..s^'lnvännen". Es ist chese Haltung KnalxMi nicht fremd, scheint aber
Imh iiincn seltener vorzukommen; sie kann ajiderseits bei Mädchen fehlen.
Die Schwärmerei hat einige l>omerkens werte Eigenheiten. Vor allem:
sie ist wesentlich uneigennützig; sie tut sich in der Anl>elung des be-
treffenden Objektes genug, sie ist dankbar für irgendwelche lierührung
mit demselben, sie fordert aber in ihrer reinsten Ausprägung nichts.
Darin gleicht sie der höchsten Form echter Liebe. Fast wäre man
versucht zu sagen, wie in der Pubertät die vitale Liebe, Sexudität i. e. S.,
sich durclisetze, so manifestiere sich in den der Schwärmerei ergebenen
präpuberalen Jahren die geistige Liebe zum ersten Male, zumindest
bewußt ziun ersten ALile. Gegen eine solche Aufstellung einer Pubertät
der geistigen Liebe spricht aber doch sehr das so häufige Fehlen dieser
Phase beim Knaben ; man könnte dies höchstens für die Frau gelten
lassen, wozu sich noch als ^\rgument beibringen ließe, daß bei den meisten
Frauen die geistige Liebe nie wieder ganz in den Hintergrund tritt.
Die große Verwandtschaft der Schwärmerei mit der echten Liebe erhellt
auch daraus, daß sie wie diese auf eine Werterhöhung ihres Gegenstandes
abzielt, wovon in dem Abschnitt über die Liebe mehr zu sagen sein
wird .
Nun werde ich mich dort bemühen, darzulegen, daß die geistige Liebe
nicht „aus der Sexualität hervorgehe", sondern mit den Akten vitaler
Liebe zusammentrete, um das komplexe und vollendete Phänomen der
Liebe zu konstituieren. Es ist daher füglich zu fragen, ob denn diese
als Vorstufe oder erste Manifestation der geistigen Liebe aufgefaßte
Schwärmerei nicht auch in gleichem Maße von der Sexualsphäre xmab-
hängig gedacht werden müsse. Diese Unabhängigkeit ist hier oder dort
als eine wesenhafte, nicht als eine des empirischen Vorkommens zu
verstehen, indem bei den Phänomenen die Ereignisse des Sexualen als
Anhub dienen.
Rein deskriptiv läßt sich sicher feststellen, daß Schwärmerei in höchstem
Grade walten kann, ohne daß sich ihr spezifisch sexuale Momente
beigesellen würden. Daß man solches gemeinhin nicht annehmen
wall, liegt wieder einmal — wie Kemnitz mit Recht betont — daran,
daß man gewohnheitsgemäß alles Denken und Erleben nach dem Schema
des Männlichen aufbaut, wie das oben im Anschluß an Simmel ausgeführt
wurde. Dem Mann aber fehlt zumeist eine vom Sexualen unabhängige
— in obigem Sinne — Richtung auf das andere Geschlecht. Manche
Männer allerdings kennen diese Attitüde. (So scheint sie den Romantikem
geläufig gewesen zu sein.) Es scheint mir also richtig, auch für die
Schwärmerei eine Wesensgleichheit mit der eigentlichen Sexualität ab-
zulehnen.
4,4 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Dieser Auffassung widerstreitet weder der Umstand, daß Schwärmerei
und Erotik sich einander häufig gesellen, noch, daß die reine Schwärmerei
Ausdrucksformen annehmen kann, welche denen der Erotik imgemein
gleichen, und sogar zu sekimdären Phänomenen, wie Eifersucht, führt;
doch möchte ich eher glauben, daß die Neigung zu Eifersucht der
vollendeten Schwärmerei abzusprechen und darin vielmehr der Ausdruck
einer erotischen Komponente zu sehen sei.
Eine andere Eigentümlichkeit der Schwärmerei ist ihr außerordentlich
leichtes /Vbgleiten in das Spielerische. Viele Schwärmereien sind iinemst
und laufen auch mit dem Bewaißtsein dieser Unernsthaftigkeit ab.
Deutlich tritt dies zutage in dem raschen Wechsel des Gegenstandes;
der jeweils vorhandene Heldentenor — um trivial zu sprechen — ist
Zielpunkt aller Schwärmereien, die so von Saison zu Saison wechseln
können. Auch die Möglichkeit, für mehrere Personen ziemlich gleichmäßig
zu schwärmen, mag in diesem Sinne sprechen, obwohl auch echter Liebe
diese Fähigkeit nicht abgesprochen werden kann.
Aber selbst in der halb spielerischen Schwärmerei ist die Persönlich-
keit irgendwie intimer beteiligt. Man merkt das an dem Verhalten der
Betreffenden, wenn sie in späteren Jahren an diese Schwärmereien
zurückdenken. Es ist nicht nur jene halb freudige, halb wehmütige
Stimmung, die fast jeden bei Vergegenwärtigung der Jahre von Kindheit
und Jugend erfaßt. In dem überlegenen und zugleich gerührten Lächeln,
mit dem die reife Frau dieser Zeiten gedenkt, liegt noch mehr, liegt
auch eine Anerkennung dafür, daß doch — sehr oft wenigstens — bei
diesem Verhalten die ganze Persönlichkeit, soweit sie damals sich schon
entfaltet hatte, rückhaltlos eingesetzt wurde, daß damals in gewisser
Hinsicht das Ideal der Liebe vielleicht in größere Nähe gerückt war
als je nachher.
Kurz sei der asexualen Menschen Erwähnung getan. Es ist.
fraglich, ob es solche überhaupt gibt. Am ehesten erreicht diesen Typus
die frigide Frau. Nur daß Frigidität im gemeinen Verstände nicht
bedeutet oder bedeuten muß: bar jeder Erotik; und daß man sich
immer fragen muß: frigid für wen? Trotzdem dürfte es, zumindest
was den Sexualaffekt und die eigentliche Geschlechtsempfindmig an-
langt, unter den Frauen solche Individuen geben. Wie viele, ist nicht
zu sagen: denn auch hier gilt, wie für jede .Abweichung im Sinn eines
Minus, daß erst nach dem Versuche der Bewährung unter allen möglichen
Bedingungen ein Urteil zulässig sei. Begreiflicherweise ist dieser Versuch
im gegebenen Falle zumeist unausführbar. Die ganze Frage ist aber
wohl keine psychologische, wenn auch die Genese des Zustandes zu-
weilen oder oft eine psychogene sein mag.
Über die Sexualität der Kastraten ist das wenige, das anzumerken
wäre, in der Einleitung aufgeführt worden.
Interessant wäre wohl die Psychosexualität echter Hermaphro-
diten. Doch scheinen darüber keine Angaben vorzuliegen. Neug^auer
befaßt sich zwar mit dem psychischen Zustand solcher Menschen, aber
ohne die Probleme der Sexualsphäre zu berühren.
EROTISCHE TYPEN 415
In diesem Zusammenhange muß eine Einstellung nochmals berührt
werden, die schon oben Erwähimng fand, diejenige, welche Bloch (12)
gut als den ..Abfall vom \\ eibe" benannt hat, die aber auch
zmii Teil Abfall vom Gösch lechtsgenuß und der Erotik überliaupt be-
deutet. Bei SpeJicer findet sich die Bemerkung, daß die Bedeutung des
Sexualen als Lustquelle mit der durch die fortschreitende Kultur be-
wirkten Zunahme der Lustmöglichkeiten mehr und mehr zurücktrete.
(Diese Auffassung hat man aucii zur Erklärung des Geburtenrückganges
herangezogen.) Ob die These recht hat oder nicht, jedenfalls gibt es
Perioden, in welchen die \\ ertscliätzung der Frau und des Sexualen
überhaupt geringer ist, ujid zu allen Perioden Menschen, welche diese
Stellung innehaben. Schopenhauer >vurdo genannt, Strindberg, Wei-
ninger sind andere Repräsentanten. Daß von Homosexuellen eine solche
Haltung eingenommen imd propagiert wird, ist begreiflich. Bei Hetero-
sexuellen entspringt sie wohl großenteils individuellen Erfahrungen, was
bei Schopenhauer und Strindberg ziemlich durchsichtig erscheint, bei
Weininger (11 4) weit weniger 1. Aber von den Genannten hat mit dem
Weibe auch die Sexualität nur Weininger verworfen. Er stellt das
Extrem in diesem "Sinne dar. Er und seinesgleichen sind keine Asketen,
denn sie bekämpfen die Sexualität nicht als den Feind, das Böse, son-
dern sie negieren sie. Inwieweit solche Negation eine Flucht, ein Be-
helf gegen Strömungen in der eigenen Seele ist, soll imuntersucht
bleiben.
Als Anhang ist die Erscheinung der Prostitution abzuhandeln.
Dabei kommen drei Klassen von Menschen in Betracht, nämlich die
Prostituierten, die Zuhälter und jene Männer, welche bei den Dirnen
ihre Sexualbefriedigung suchen, die Kunden der Prostitution 2.
Die Kunden sind keine einheitliche Gruppe. Schon die Motive,
welche den Mann zur Prostituierten führen, sind sehr mannigfaltige.
Einen gewissen Teil machen jene aus, die, irgendwelchen Perversionen
verfallen, nur im Bordell ihrem Hange nachgehen können. Eine andere
Gruppe bilden die Männer, welchen materielle Umstände die Eheschließimg
und auch die Knüpfimg einer relativ dauernden freien Verbindung un-
möglich machen. Ferner solche, die infolge irgendwelcher körperlicher
Mängel, auffallende Häßlichkeit u. dgl., mit oder ohne Grund eine Frau
zu erringen verzweifeln. Andere, recht zahlreiche, besuchen das Bordell
eigentlich mehr aus Eitelkeit, mn sich den Sitten ihres Kreises anzu-
passen, verführt, imter dem Einflüsse des Alkohols usw. Schließlich
Menschen, denen der Verkehr mit der Prostituierten aus inneren Gründen
Bedürfnis ist. Nur sie bieten dem Sexualpsychologen ein Interesse.
Auch diese inneren Gründe können mannigfaltiger Art sein. Da sind
einmal Individuen, die ein geregeltes „bürgerliches" Leben führen, und
die von Zeit zu Zeit ein — oft scheint es, unwiderstehliches — Verlangen
1 Trotz Blochs Behauptung, „man höre aus VVeiningers Buch deutlich
heraus, daß er kein Glück bei Frauen gehabt habe", möchte ich die Genese Beiner
Einstellung nicht für so ohne weiteres als klar ansehen.
'■^ Vgl. A. Adler (3).
416 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
nach dem Bordell ergreift, Quartalexzedenten sozusagen. Was ihnen
die Venus, \ailgivaga so anziehend macht, ist nicht immer leicht zu sagen.
Bei einigen ist es teilweise Sentimentalität, der Wunsch, die „Freiheit"
ihrer ehelosen und Jugendjahre \vieder auf Momente sich vergegen-
wärtigen zu können. Es erscheint ihnen — traurig genug — gerade der
BordcUbesuch als Sinnbild dieser noch hoffnungsreichen, an Enttäu-
schuno-on, Verpflichtungen usw. armen Zeit ihres Lebens; im Freuden-
haus finden sie diese Stimmung, abgeblaßt zwar imd mit dem Hinter-
grundsbe\vußtscin des Scheines, aber doch greifbar wieder. Bei diesen
ist wohl von einer Unvväderstchlichkeit der Sehnsucht nach dem Bordell
kaum die Rede. Jene Fälle, bei welchen dies zutrifft, stehen vielleicht
einem Typus nahe, den Adler (3) in scharfen Zügen gezeichnet hat:
„Jeder Schwierigkeit gehen sie ängstlich aus dem Weg oder trachten,
sie auf listige Weise zu umgehen. Sie haben ihr ganzes Leben und
Streben auf billige Triumphe gesetzt . . . ihre Unzufriedenheit erstreckt
sich auf die Frau, die sie durchaus für eine niedrige Art von Menschen
halten. Und so wird ihnen das Weib zum Mittel . . . und sie bedienen
sich desselben dort, wo seine Widerstandslosigkeit den Aberglauben von
der männlichen Überlegenheit restlos zu erweisen scheint."
Andere -wiederum suchen die Prostituierte aus innerer Unsicherheit
auf. Sie stehen einerseits dem eben erwähnten Typus nahe, anderseits
sind sie struktural dem Junggesellen, >vie ich ihn oben zu kennzeichnen
versuchte, verwandt.
Auch innere Unfreiheit, die Unfähigkeit, sich, seine Persönlichkeit so
preiszugeben, wie es die Ehe, ja wie es schon das nur einigermaßen
dauernde ,, Verhältnis" fordert, führt manche zur Dirne; dabei ist nicht
zu verkennen, daß viele selbst hier noch eine wenn auch noch so
flüchtige ,, Wirbildung" anstreben (s. den Abschnitt über Liebe).
Eine eigenartige Menschenklasse sind die Zuhälter. An und für
sich ist in seiner Stellimg noch kein Anlaß gegeben, warum er fast
immer ein brutal-gewalttätiger, dabei offensichtlich innerlich feiger und
haltloser Mensch sein sollte. Ich glaube, Adler (3) trifft das Richtige,
wenn er auf die strukbirale Verwandtschaft des Zuhälters mit jenem
oben umrissenen Typus des Prostitutionsbedürftigen hinweist. Auch hier
„eine Neigung zu billigen Erfolgen, die Erfassung der Frau als Mittel
zum Zweck und der Hang zu müheloser Befriedigung von Herrschafts-
gelüsten", daher eine große Nähe zum Verbrechertum, die BrutaKtät
als ,,Paroxysmus eines empfindlichen Schwächegefühls". Die Doppelrolle,
die der Zuhälter zugleich als der Ausbeuter und der Beschützer der Prosti-
tuierten spielt, enthüllt diese seine Beschaffenheit auf das deutlichste.
Schließlich die Prostituierte selbst. Eine Untersuchung über die
Motive, welche zur Prostitution führen, gehört kaum hierher, auch wenn
man sich unter .\bsehung von allen sozialen Momenten auf bloß Psycho-
logisches beschränken wollte, was übrigens bei den mannigfachen Ver-
flechtungen und Wechsehvirkungen kaum durchführbar wäre. Es exi-
stiert darüber eine beträchtliche Literatur; man hat über Schwachsinn
und Psychopathie, über Alkoholismus und Verführung, über gesteigerte
EROTISCH K TYPEN 417
sinnliche Erregbarkeit und deren Gegenteil usw. als Ursachen mehr ak
genug gesclu-iebon ^.
IlitT ist zu fragen: gibt es eine die Prostituierte als Typus konnzeich-
neiuJo stvlischo Beschaffenheit? Liepmaiin (73) konstruiert einen Typus
tler Dirne nach Weiningerschcm (ii/i) Schema: D = 3/4 M -f- 1/4 V^ •
.,Uio typische Dirne ist das getreue Spiegelbild des nur triebartig nach
Lust verlangenden Mannes." Sie ist ein Mannweib, dessen männliche
Komponente nicht durch Sublimierung verwandelt wurde. Ganz abge-
sehen von der keineswegs glücklichen Anwendung der Gleichung, halte
ich diese Aufstellung für recht wenig begründet. Sie hat zur Voraus-
setzung, daß die Protistuicrte tatsächlich ein besonders entwickeltes
sexuales Triebleben habe, daß ihr — ganz im Sinne Lombrosos — ange-
borenerweise eine bestimmte, sie zu ihrer Laufbahn von vornherein
bestimmende Beschaffenheit zukomme. M. E. trifft diese, allerdings
oft genug vertretene Ansicht höchstens für einen verschwindenden Bruch-
teil zu. Im allgemeinen betreibt die Prostituierte ihr Gewerbe als Ge-
werbe eben um des Erwerbs willen, ohne Beteiligung ihrer Sexualität.
Diese kommt auf ihre Rechnung im Verkehr mit dem Zuhälter oder
— recht oft — in homosexuellen Beziehungen. Die Mädchen, deren
sinnliche Bedürfnisse von einem Manne zLun anderen treiben, sind gar
nicht in echtem Sinne Prostituierte. Sie nehmen wohl auch Geld und
Geschenke, aber nicht als Entgelt für die Hingabe; eher, wenn schon
neben der bloßen Freude an Putz und Vergnügen dabei weitere Motive
mitspielen, um der Illusion der Liebesbezeu^ng willen. Liebe will
schenken imd beschenkt werden; wo Liebe fehlt, hilft das Geschenk
der Hingabe und der Empfang von Gaben die Täuschung, das Spiel,
als ob es so sei, aufrechterhalten. Der Dirne aber ist es nicht um den
Geschlechtsgenuß, nicht lun Befriedigung von Trieben, sondern um den
Erwerb zu tun, so sehr, daß sie ihre Betätigung auch dann noch fort-
setzt, wenn sie einmal durch ihre materielle Lage dazu gar nicht mehr
gezwimgen ist. Das Wesen der Prostitution ist, daß eine seelische und
körperliche Funktion als Ware behandelt wird. Dies ist nur möglich,
wenn die Frau, ihr Körper und ihre Seele als bloße Mittel angesehen
werden, Mittel zur Befriedigung männlichen Gelüstes, innerhalb einer
Gesamtanschauung der mann- weiblichen Relationen also, welche durchaus
vom männlichen Standpunkt aus orientiert ist. So viel ist richtig an
Liepmanns (78) Auffassung, daß die Dirne zwar nicht notwendigerweise
mehr männliche Elemente enthält, wohl aber, daß sie sich den männ-
lichen Standpunkt auch sich selbst gegenüber zu eigen macht. Daß sie
dadurch unter Umständen an Weiblichkeit einbüßt, ist verständlich.
Daß sie von vornherein davon weniger besitzen müßte, aber nicht not-
wendig. Für viele beginnt die Laufbahn mit der Unterwerfimg unter
einen herrischen Verführer, dem sie blindlings ergeben sind; die einmal
gewonnene Einstellung geben sie eben sehr oft nicht wieder auf. Denn
die Aufgabe wäre vielleicht weit schmerzlicher als die fortdauernde Hin-
gabe; zumindest im Augenblick. Es hieße für die Frau, sich eingestehen,
1 Vgl. die neue Monographie von Schneider.
27 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
418 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
daß sie gerade das getan habe, was ihrem innersten Wesen am voll-
kommensten zuwiderläuft, nämlich ihien Eigenwert restlos an einen ande-
ren verschwendet zu haben.
Weitere damit zusammenhängende Fragen, nach Graden und Arten
der Prostitution, nach dem Wesen der Demimonde usw., sind nicht
psychologischen, sondern soziologischen Inhaltes.
DIE ABAliTUNGEN
Mail pflegt wohl die in diesem Abschnitte zu behandelnden Erschei-
nungen als paüiologisch zu bezeichnen, die Lehre von ihnen als dio
PsYchopatliologia sexualis. Doch ist es hier schwieriger als irgendwo
in dem ganzen Bereiche menschlichen Seelenlebens, zwischen Gesund und
Krankhaft eine Grenze zu ziehen. Überall stößt man auf fließende
Übergänge; allerhand Züge, welche diesen oder jenen pathologischen
^'e^haltlmgsweisen auf sexualem Gebiet eigentümlich sind, trifft man
bei sonst ,, normalen" Individuen an, normal nicht nur in Hinsicht auf
ihr übriges Seelenleben, sondern auch auf ihre Psychosexualität im großen
und ganzen. „Perverse" Phantasien begleiten ein äußerlich noi-males
Geschlechtsleben, und würde man die sexuellen Beziehungen in vielen
alltäglich erscheinenden Ehen und Liebesbünden durchschauen können,
so würde man sicherlich über die zahlreichen Abnormitäten erstaunen
müssen. Andrerseits, wenn man das Liebesleben von Individuen mit soge-
nannter pathologischer Sexualität psychologisch betrachtet, so kann man
nicht verkennen, daß die Abläufe und Phänomene sehr oft bis auf einen
einzigen Punkt eigentlich die gleichen sind, wie wir sie beim Normalen,
Durchschnittlichen antreffen. Es erscheint daher geboten, mit dem Aus-
drucke ,,Psychopathologia sexualis" einigermaßen vorsichtig umzugehen
und lieber von Abartimg als von Entartung zu sprechen. Dies um so mehr,
wenn man sich vor Augen hält, daß der Stempel des Pathologischen so
mancher Erscheinung nicht auf Grund einer Einsicht in besondere, als
krankhaft irgendwie zu erkennende Mechanismen aufgedrückt mrd, son-
dern aus ganz anderen Motiven heraus, auf Grund von Wertungen mora-
lischer, ästhetischer, sozialer Art.
Für eine Gruppierung der Abartungen kann wiederum jene Unterschei-
dung Freuds (I\S) als Grundlage dienen, wie er denn selbst eine Ein-
teilung nach Abänderungen des Sexualzieles und des Sexualobjektes ge-
troffen hat.
Die extreme Abweichung hinsichtlich des Sexualobjektes ist die
Homosexualität, bei der sich die Sexualität auf ein Individuum
gleichen Geschlechtes richtet. Indes läßt sich schon ganz äußerlich die
eigentliche Wesensgleichheit von Homosexualität und normaler Hetero-
sexualität in rielen Fällen erkennen. Denn die Homosexuellen zerfallen
im allgemeinen in zwei Typen, in solche Persönlichkeiten, welche sich von
Individuen gleichen Geschlechts geschlechtlich brauchen lassen, und
solche, welche eine aktive Rolle spielen, also ein männlicher und weib-
licher Typus.
Scheler hat sicherlich recht, wenn er auch für diese Abartung der
Sexualität, zumindest der Idee nach, die gleiche Struktur anerkannt
haben will wie für die erotischen Beziehungen zwischen Mann imd Frau.
27*
420 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Auch bei der Homosexualität ist — zumindest außerordentlich häufige —
eine Tendenz vorhanden nach einem Repräsentanten, man kann freilich
nicht sagen des anderen Grtjschlechtes, aber vielleicht des anderen Poles
der Sexualität ^
Dementsprechend finden wir unter den männlichen Homosexuellen teils
Individuen von normalem maskulinen Aussehen und Gehaben, teils
solche, die sich in einem mehr weibischen Wesen gefallen, Frauenkleider
zu tragen lieben und sich auch sonst ähnlich wie die Geliebte gerieren,
anspruchsvoll, launenhaft, mit einem Bedürfnis, gehätschelt, verzogen zu
werden usw. Umgekehrt stellt sich die in homosexuellen Beziehungen
die aktive Rolle übernehmende Frau oft dar als ein Individuum mit mehr
männlichem Habitus, mit Neigung zum Tragen von Männerkleidem oder
solchen, die diesen angenähert sind, mit kurzgeschnittenem Haar usw.,
wobei dieser Habitus nicht selten keineswegs nur ein durch die Kleidung
künstlich hergestellter ist, sondern physiologisch begründet erscheint
durch die tiefere Stimmlage, die stärkere Entwicklung von Skelett und
Muskulatuir, einen mehr männlichen Bewegungstypus : Virago hat man
solche Gestalten wohl auch geheißen. Die Partnerinnen dieser , .Mann-
weiber" — das Wort hier in zweifachem Verstände gebraucht — sind
dagegen hingebend, unter\\'ürfig, tyrannisch, launenhaft, dem Habitus
und Gehaben nach durchaus weibliche Typen.
Gelegentlich freilich kommt es auch vor, daß zwei Individuen des
,,männlichen" Typus — Männer oder Frauen — sich in sexualen Be-
ziehungen zueinander finden, doch zweifellos viel seltener, so daß diese
Fälle kaum imstande sein können, die Behauptung von der wesentlichen
Richtung auf ein heterosexuelles Sexualobjekt zu widerlegen.
Auch wenn man der Psychologie dieser Individuen nachgeht, wird man
— abgesehen von der W ahl des Sexualobjektes — kaum auf Züge stoßen,
die nicht den heterosexuellen Beziehungen ebenfalls eigentümlich wären.
Alle psychologischen Analysen der Literatur, Krankengeschichten, belle-
tristische Werke betonen immer wieder nur den einen Punkt: die man-
gelnde Anziehungskraft, welche die Frau auf den männlichen, der Mann
auf den weiblichen Homosexuellen ausübt, und die oft unbezwingbare
Neigung zu Individuen gleichen Geschlechtes.
Läßt man aber diesen Punkt weg, würde man in den Liebesergüssen
und Schilderungen dieser Persönlichkeiten einfach eine Frau bzw. einen
Mann als das Ziel der Wünsche substituieren — ich glaube nicht, daß
die Darstellimg sich dann irgend\\de von der eines Normalen unter-
scheiden wnürde.
Eines nxu- ist auffallend. Die meisten Homosexuellen schildern ihre
Triebe, Neigungen als überwältigend. Man hat den Eindruck, als seien
dies Persönlichkeiten, in welchen von vornherein der Sexualität ein
größerer, bestimmenderer Emfluß auf die seelischen Abläufe, das Ver-
halten, die Willensentscheidungen zugemessen, eingeräumt werde als bei
der Mehrzahl der Normalen. Gewiß gibt es unter diesen — es war
davon die Rede — eine hinlängliche Zahl, die an Überschwenglichkeit
^ \gl. die Darstellung bei Schneider (io4a) und bei Toepel (112 a).
DIE ABAHILINGEN 421
lies Gefühles, an Intensität des Verlangens, an Eifersucht usw. nicht
wolliger leisten als diese Homosexuellen. Aber es gibt eben auch andere,
\i«'l nu'Jir andere, die sich sozusagen auf <lcr mittleren Linie bewegen,
l utcr den llomosoxucllen anscheinend nicht oder /umiiulest sehr viel
seltener; <ho CberschweJiglichen, stets auf der Hohe des Gefühles Wan-
delnden, überwiegen <lurcliaus. Damit hängt auch die oft bis zur Senti-
mentalität ausartende Leidenschaftlichkeit des schriftlichen Verkehres zu-
sammen, auf die neuer<üngs Frank (4i) hingewiesen hat. Eine Senti-
mentalität, die zumindest mir einen vielfach unechten Eindruck macht,
auch dann, wenn man sich die Briefe eines Mannes nicht an einen Freund,
sondern an eine Geliebte gerichtet denkt. Selbst wenn man der Aus-
drucksweise der Epoche Rechnung trägt, die sich ja wahrlich an Gefühls-
ergüssen vielfach nicht genug tun konnte, scheinen mir die Briefe
Platens durch eine eigenartige, freilich nicht zu präzisierende Süßlichkeit
aufzufallen. Daneben findet man aber zweifellos Dokumente, die von
wahrer echter Leidenschaft sprechen, wie denn die Gedichte der — wahr-
scheinlich oder auch sicher — homosexuellen Dichter, eines Michelangelo
oder Walt Whitman, den Vergleich mit gar manchem „normalen" Liebes-
lie<l nicht zu scheuen haben.
Immerhin legt die erwähnte Tatsache den Gedanken nahe, es möchten
diese Homosexuellen denn doch von vornherein aus dem Typus des
Durchschnittsmenschen, nicht nur hinsichtlich ihres Sexualverhaltens,
herausfallen ^. Damit gelangen wir zur Besprechung einer recht schwierigen
und noch vielfach kontroversen Frage, nämlich nach der Genese der
Homosexualität. Es geht deren Erörterung natürlich über den
Rahmen einer bloß deskriptiven Psychologie hinaus, kann aber nicht
wohl vermieden werden.
Zunächst muß angemerkt werden, daß die so einfache Formulierung
durch einen Führer und Vorkämpfer der Homosexuellen: anima muliebris
in corpore virili, wenn überhaupt, doch nur für einen Teil dieser Indivi-
duen richtig sein kann. Denn im allgemeinen verhält sich der, sagen
wir, aggressive, die männliche Rolle spielende Pari;ner in einem gleich-
geschlechtlichen Verhältnis zwischen Männern keineswegs so, als hätte
er eine anima muliebris. Er ist aktiv, aggressiv, er beschützt imd sorgt
für seinen Geliebten wie ein Mann für die geliebte Frau. Auch hinsicht-
lich des Sexualzieles bestehen, Avie noch anzuführen sein wird, die gleichen
Unterschiede, zumindest zwischen Männern, während bei Frauen die
Übernahme bald der aktiven bald der passiven Rolle häufiger vorzu-
kommen scheint.
Es setzt auch jene Formel die durchgängig anlagemäßige Bedingtheit
der Homosexualität voraus. Die Akten darüber, ob es eine solche über-
haupt gibt, oder ob nicht alle Fälle der erworbenen Inversion zuzuzählen
seien, sind nicht geschlossen. Die Zahl der Verteidiger der ersteren
Anschauung hat entschieden in dem Maße abgenommen, als die genauere
Durchforschimg des Entwiclclungsganges bei immer mehr Fällen das
determinierende Moment und damit die Akquisition während des indi-
1 Vgl. dazu und zu dem Folgenden Stekels (iioa) Ausführungen.
422 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
viduellen Lebens aufzuzeigen vermochte. Jedenfalls ist die konstitutive
Homosexualität, falls es solche gibt, nur in äiner verschwindenden Minder-
zahl von Fällen anzunehmen, wie das auch Frank (4i) jüngst hervor-
gehoben hat. Viele Autoren, so z. B. KraepeHn, lehnen diese Auffassung
vollkommen ab. Ohne in dieser, psychologisch übrigens mehr neben-
sächlichen Frage eine Entscheidung fällen zu wollen, glaube ich, daß
sich endlich auch die letzten als kongenital aufgefaßten Fälle von Homo-
sexualität als lentstandeno werden erweisen lassen, wie das auch
H. Elhs (3i) meint. Trotzdem wird man die Annahme eines konstitutiven
Faktors nicht gut missen können. Denn immer muß gefragt werden,
warum denn ein und dasselbe Erlebnis, ein und derselbe Einfluß das
eine Individuum in seiner normalen Sexualentwicklung nicht behindert,
>vährend es bei einem anderen die Richtung zur Homosexualität deter-
mim'ert. Und in dem oben erwähnten emotiven Verhalten so vieler
Homosexueller scheint mir ein Hinweis auf die VV^irksamkeit konstitutiver
Faktoren gelegen zu sein, indem sich offenbar darin die Tatsache aus-
drückt, daß nicht allein die Abläufe innerhalb der Sexualsphäre, sondern
auch innerhalb anderer Bereiche des Seelenlebens von denen durchschnitt-
licher Menschen abweichen. Man wird vielleicht nicht ohne weiteres
zwischen den beiden Vorgängen: dauernde Determinierbarkeit der sexualen
Entmcklungsrichtung durch ein Erlebnis und besondere Überschwenglich-
keit des Gefühlsausdruckes — die zwar einem besonders lebhaften Ge-
fühlsleben entsprechen kann, aber nicht muß, und ebensogut einen un-
echten, eher spielerischen Qiarakter tragen kann — einen Nexus her-
stellen dürfen. Denn im allgemeinen besteht zwischen Lebhaftigkeit des
Ausdruckes und dauernder Nachwirkung emotiver Einflüsse gewiß keine
allzu enge Korrelation; man pflegt vielmehr gemeinhin — gewiß zum
Teil mindestens mit gutem Rechte — den allzu Überschwenglichen
wenig Nachhaltigkeit von Eindrücken, Gemütsbewegungen, Entschlüssen
zuzutrauen; Strohfeuer sagt man wohl. Aber als Indikator einer irgend-
wie im Grunde imd konstitutiv veränderten Mentalität mag jene Er-
scheinung doch gewissen Wert beanspruchen dürfen.
Wie schon vorhin einmal angemerkt wurde, zählt es mit zu den
größten Verdiensten Freuds, mit Nachdruck, wenn schon vielleicht nicht
als erster, auf die Bedeutung von erotischen Erlebnissen früher Kind-
heitsjahre hingewiesen zu haben. Es ist mehr als wahrscheinlich, daß Er-
lebnisse des zweiten bis fünften Lebensjahres für die künftig eingeschlagene
Richtung der Sexualentwicklung maßgebend werden können, und so auch,
daß jene Faktoren, welche die Entwicklung nach der Seite der Homo-
sexualität hin bewirken, ebenfalls in solchen Eindrücken zu suchen
sind. Damit ist nun keineswegs behauptet, daß nur solche Kindheits-
eindrücke in der Genese der Inversion eine Rolle spielen. Dagegen spricht
u. a. die Erfahrung, die man in Internaten, Pensionaten, in Gefangenen-
anstalten, auf Schiffen usw. oft genug hat machen können.
Die von Freud gegebene Erklärung des Zustandekommens der Homo-
sexualität beruft sich zimächst auf die morphologische Tatsache der
bisexuellen Anlage des Menschen, auf einen der Norm angehörenden
gewissen Grad des anatomischen Hermaphroditismus, dessen stärkere
DIE ABARTUNGEN 423
Ausprägung gelegentlich einen echten oder scheinbaren wirklichen Herm-
aphrodilismus horvomifen kann; in Analogie zu dieser anatomischen
TaU^iciio wird auch ein j)sychischer IIonna{)hr<Mlilisinu.s postuliert. Das
anatomische Argument hat schon vor Freud eine Rolle gespielt; schienen
docl) die orwälinten .\b\veichungen des äuiieren Habitus in diesem Sinne
zu sprechen. Es findet sich aber, >vie Freud hervorhebt, zwischen
psychischem und somatischem Hermaphroditismus keine Parallelität, so-
wenig >vie der Homosexuelle inuner oder auch nur überwiegend aus-
gesprochene GliaraJcterzüge des anderen Geschlechts erkennen läßt. (J rund-
sätzlich ist es für diese Hypothese gleichgültig, ob man das somatische
Zwittertum in die Genitalorgaue selbst verlegt oder mit Krafft-Ebing
(67) von männlichen und weiblichen Hirnzentren sprechen >vill.
Es scheint mir übrigens dieses ganze Arg-ument gar nicht so beweis-
kräftig zu sein. Vielleicht ist es nicht so sehr ein Umschlagen in den
Typus des anderen Geschlechts, wodurch der somatische Habitus der
Homosexuellen charakterisiert wird, als eine Konvergenz des männlichen
und weibb'chen Typus gegen eine neutrale, asexuale Z>vischenform sozu-
sagen, die im Sinne von Tandler und Groß den reinen Speziescharakter
repräsentieren >vürde, auf welchen erst durch die spezifische Wirkung
der Keimdrüsen (ihres innersekretorischen Anteiles nämlich) die Ge-
schlechtscharaktere superponiert wären.
Für Freud steht die Sache nun so, daß ihm die sexuellen Ab-
artungen überhaupt als Entwicklimgshemmungen erscheinen, als In-
fantilismen, da er ja in der kindlichen Sexualität (s. o.) sämtliche
,,Partial triebe" noch gesondert und gleichberechtigt anninmit; ander-
seits erscheint die Perversion als ein Zerfall, eine Dissoziation des
komplex aus diesen Partial trieben aufgebauten Geschlechtstriebes. Unter
den entwicklungshemmenden Momenten stehen an erster Stelle die Ver-
schiedenheiten der sexuellen Konstitution, die durch das Überwiegen
bald der einen, bald der anderen Quelle der Sexualerregung bedingt
werden. Dafür würde die Vergesellschaftung sexueller Abartung und
sonstiger psychischer Abnormität, psychoneuro tischer Symptome bei
ein und demselben Individuum nicht minder sprechen als das Vor-
kommen beider Störungen bei verschiedenen Gliedern einer Familie. Das
Entscheidende aber ist nicht das primäre, konstitutiv bedingte Verhältnis
dieser einzelnen Komponenten, sondern deren weitere Verarbeitung: „Wenn
sich alle die Anlagen in ihrem als abnorm angenommenen relativen
Verhältnis erhalten und mit der Reifung verstärken, so kann niu" ein
perverses Sexualleben die Folge sein."
Es gründet diese Anschammg natürlich in Freuds Lehre vom Aufbau
der kindlichen Sexualität, von welcher bereits die Rede war. Zweifellos
spricht in gewissem Sinne die Tatsache der fakultativen Homosexualität,
deren soeben gedacht wurde, und die auch in einem früheren Abschnitte
flüchtig Erwähnung fand, für solche These. Diese fakultative Homo-
sexualität ermöglicht es dem sonst vielleicht oder erwiesenermaßen dem
normalen Verkehr mit dem anderen Geschlecht zuneigenden Individuum,
in homosexuellen erotischen Beziehungen einen Ersatz zu finden, wenn
der Weg zur normalen Befriedigung verschlossen ist. Also in den auf-
424 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
geführten FäJlen von Ziisammenleben gleichgeschlechtlicher Menschen.
Oder aber es bietet eine homosexuelle, dann wohl meist nur flüchtige
Beziehung Gelegenheit, eine eigentlich auf das andere Geschlecht ge-
richtete aufgespeicherte Sexualerregung zur Entladung zu bringen. Es
sei an P. Verlaines Verse: Parallele ment erinnert. Auch wo die normale
erotische Beziehung und Befriedigung einstweilen versagt ist, noch nicht
für möglich erachtet wird, vermögen homosexuelle Betätigungen als
Ersatzleistungen einzutreten; daher die oft ausgesprochene erotische
Note in manchen Knaben-, noch mehr vielleicht manchen Mädchenfreund-
schaften. Es hat also durchaus den Anschein, als ob ein gewisses Quantum
homosexueller Möglichkeiten in der Seele beinahe jedes Menschen mehr
weniger verborgen wirksam wäre und, sobald nur die Bedingungen ge-
geben seien, auch zu manifester Betätigung gelangen könnte. Vielleicht
rührt auch der außerordentliche Abscheu, den manche Menschen — die
sonst gerade nicht in „moralischen" Vorurteilen befangen zu sein
brauchen — gegen alles hegen, was Homosexualität heißt oder auch
nur streift, daher, daß sie in sich eine derartige Möglichkeit über-
Avunden, vmterdrückt, „verdrängt" haben. Auf der anderen Seite muß
aber noch einmal hervorgehoben werden, daß die zwanglose Gleich-
setzting der kindlichen Erotik mit der des geschlechtsreifen Individuums
doch nicht so ohne weiteres möglich erscheint, und daß daher der
Aufbau einer Theorie der Homosexualität aus dieser annoch recht
hypothetischen Sexualpsychologie des Kindes gewissen Bedenken ausgesetzt
bleiben muß.
Für A. Adler (i, 3) stellt sich auch die Homosexualität als eine
Äußerung der von ihm angenommenen individualpsychologischen
Mechanismen dar. Es ist sicherlich berechtigt, wenn er der Theorie der
determinierenden Wirkung äußerer Momente, der Verführung, dem zu-
fälligen Eindruck in positivem oder negativem Sinne (etwa: ein Mädchen
wird dmxih den Anblick einer Geburt von Abscheu gegen die Rolle der
Frau überhaupt erfüllt) gegenüber anmerkt, daß doch auch andere
Menschen solchen Einflüssen ausgesetzt seien, daß auch anderen zum
Teil die Möglichkeit der Nachahmung gegeben sei, ohne daß sie davon
überhaupt oder dauernd Gebrauch machen. Nachgeahmt werde, meint
Adler, offenbar doch nur das, was man nachahmen will, was nach-
zuahmen für den Betreffenden sinnvoll, zweckmäßig ist. „Durch seine
Entwicklung leugnet der Homosexuelle das tragende Prinzip von der
Erhaltung der Gesellschaft, und es ist kaum denkbar, daß er — gleich-
gültig, auf welche Weise immer er zu seiner Anschauungs- und Gefühls-
weise gekommen ist — nicht die ungeheueren Widerstände empftmden,
gemerkt, verarbeitet hätte, die sich bei seiner homosexuellen Entwicklung
ihm in den Weg gestellt haben. Man kann sagen, es ist unendlich viel
schwerer, homosexuell zu sein als normal." Die Homosexuellen wenden
ungeheure Kräfte auf, um so, wie sie sind, durch das Leben gehen zu
können.
Nun findet Adler in dem gesamten Wesen der Homosexuellen Züge,
die von der Norm abweichen; sie zeigen nicht jene seelische Struktm*,
die sonst für das Leben vollauf geeignet machen und etwa nur den
DIE ABARTIJNGEN 425
geschlechtlichen Anfortleningen nicht gonü^'en \viir<lo. l>ie Homosexuellen
sind ausg't'zeichnet durch ..ülwi-sliej^'-ciieii Mlir<j:tM/. und aulfx'rordeiillicli
ausgosproi'hene \t>rsicht odrr LelK'nsfeiglirit" ; Klirf^^MZ, der nio \U>-
friodigun^ findet, Feigheit, die schon den ersten Schritt auf diese Bo-
Iriedi^anig zxi ininiö^^lich macht. Das sind Züge, welclie l>ei jtxler iNeurose
wiederkehren. Der Homosexuelle ,, bietet ein einwandfreies Bild eines
nervösen Menschen, dessen Nervosität nur deshalb nicht so deutlich zum
Ausdruck gelanj^'t, weil er seinen Wirkungskreis durch die Homosexualität
so weit eingeengt hat als dor Nervöse erst durch seine Neurose" . . .
Es ist ihin „in der Regel gelungen, durch Ausschaltung von erschwerenden
Bedingungen sich ein Leben zu schaffen, dem er entweder noch voll-
kommen genügt, oder aber, dem er doch leichter nachgehen kann
als einer, den die Heterosexual i tat immer wieder ins Leben hinausstößt,
ihn in Verbindung bringt mit allen Fragen, Forderungen und Schwierig-
keiten des gesellschaftlichen Lebens". Man findet aber bei vielen Homo-
sexuellen auch schwerwiegende psychoneurotische Symptome, in erster
Linie Zwangserscheinungen.
Stellt sich so charakterologisch auch die Homosexualität nach der
Auffassung Adlers dar als eingestellt in den Dienst des fiktiven Zweckes,
der Leitlinie des ganzen Lebens solch eines Individuums, als bedingt
durch ein Gefühl oder Erlebnis der Minderwertigkeit und aus der
Reaktion gegen dasselbe, so erscheint ihm der Anstoß zu dieser Ent-
wicklung in Schwierigkeiten der Geschlechtsfindung gelegen zu sein.
Solche Menschen sind vielfach in den ersten Kindheits jähren wie Mäd-
chen aufgewachsen und waren bereits „irrtümlich in mädchenhafter
Seelenentwicklung begriffen, wenn sie zu ihrer Überraschung auf den
Umstand gelenkt werden, daß sie eigentKch dem anderen Geschlecht
angehören". Womit natürlich ebenfalls die Annahme eines, zumindest
potentiellen, psychischen * Hermaphroditismus gemacht wird, einer bi-
sexualen Entwicklungsmöglichkeit, deren Gang durch äußere Momente
oder auch durch innere (Bewußtsein einer Minderwertigkeit) bestimmt
werden wird.
Die Theorie Adlers hat gewiß, wie überhaupt seine individualpsycho-
logische Betrachtungsweise, dies eine für sich, daß sie es unternimmt, deaa
Menschen, hier den homosexuell Abgearteten, aus einem zentralen Punkte
heraus zu verstehen, daß sie für die Gesamtstruktur der Seele mit
Hilfe dieses Puuktes imd der fiktiven Leitlinie sozusagen ein Bezugs-
system schafft. Sie versucht in einem weiteren Sinne die Genese der
Homosexualität zu ,, verstehen", als das bei der eigentlichen Psychoanalyse,
von der bekanntlich vVdler seinen Ausgang genommen hat, der Fall ist.
Diese rekurriert nämlich doch nur auf gewisse, für die menschliche
Seele überhaupt charakteristische Mechanismen, deren Wirksamkeit und
Erfolg im Einzelfall jedoch noch wenig durchsichtig sind und sehr von
äußeren Zufälligkeiten abhängig gedacht werden. Die Individualpsycho-
logie Adlers stellt dagegen wenigstens den Versuch dar, Entwicklung und
Schicksal eines Menschen aus ihm selbst, aus den immanenten Trieb-
kräften und Zielen dem Verständnis zugänglich zu machen.
426 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Insoferne beide Lehren, Psychoanalyse und Indiv-idualpsychologie, in
ihrem Ansprüche weit über den Rahmen des Sexualen hinausgreifen>
kann es nicht unsere Aufgabe sein, dieselben eingehender kritischer
Würdigung zu unterziehen oder ihre Gedankengänge in extenso darzul^n.
Wir wollen hier nur den Unterschied der beiden Auffassungen hinsicht-
lich der Entstehimg der Homosexualität noch einmal herausstellen: Wäh-
rend für die Psychoanalyse eine bestimmte Konstitution Voraussetzung
ist und auf Grund dieser durch äußere, mehr weniger zufällige Momente
die Inversion, durch Erhaltung infantil wirksamer Partial triebe, erwächst,
erscheint in der Lehre der Individualpsychologie zwar auch eine gewisse
Beschaffenheit (generell mögliche Bisexualität, spezielle Minderwertig-
keit) erforderlich, die Perversion aber wird als zweckmäßiges Ver-
halten des Individuums nicht in Reaktion gegen äußere Faktoren, sondern
im Konflikt zwischen dem Bewußtsein seiner — irgendwie minder-
wertigen — Anlage und dem Willen nach dadurch nicht oder schwer
erreichbaren Zielen verstanden. Das Nebeneinander von Inversion und
psychoneurotischen Symptomen ist für die Psychoanalyse die mehr weniger
zufällige Folge der Konstitution, welcher Neurose oder Inversion ent-
sprießen können, für die Individualpsychologie notwendiger Ausdruck
eines einheitlich zu verstehenden Verhaltens des Individuums dem Leben
und seinen Anforderungen gegenüber.
Es kann uns nicht obliegen, zwischen di^en beiden Theorien zu
wählen. Die Entscheidung wird auch nicht auf dem umgrenzten
Gebiete der sexualen Abartungen allein, sondern auf Grund des Wertes
beider Lehren für unser Verständnis des Seelenlebens und des Verhaltens
im Leben überhaupt gefällt werden müssen. Der Psychologe mag ge-
neigt sein, der Adlerschen FormuKerung, zumindest hier, den Vorzug
zu geben, weil sie mit psychologisch verständlichen Faktoren operiert,
mit Lebensmomenten, während die Psychoanalyse doch immer wieder
in eine der Naturwissenschaft nachgebildete mechanisierende Betrach-
tungsweise des Seelischen verfällt.
Eine zweite Abartung hinsichtlich des Sexualobjektes ist die eroti-
sche Beziehung zu Tieren, Sodomie genannt. Das Material, das
für eine Psychologie dieser Erscheinimg zu Gebote steht, ist außer-
ordentlich dürftig.
Zunächst scheint wohl auch diese Beziehung als Ersatzleistung auf-
treten zu können. Man weiß z. B. von Hirten, die, von menschlichem
Verkehr abgeschlossen, mit weiblichen Tieren ihrer Herde, Ziegen etwa,
geschlechtlichen Umgang gepflogen. Es ist vielleicht fraglich, ob hierbei
das Tier in der Tat unmittelbar Sexualobjekt ist. Es wäre nämlich
denkbar, daß es sich um einen, gewissermaßen spielerischen Versuch
der Verwirklichung erotischer Phantasien handeln möchte, wovon in
dem .\bschnitt über diesen Gegenstand noch mehr zu sagen sein wird,
daß das Tier das gev^-ünschte Sexualobjekt nur darstellen und nicht selbst
sein würde, ähnlich wüe etwa ein Stück Holz einem Kind eine Puppe,
eine Puppe ein Geschwisterchen darstellen kann. Es ist dies indes eine
bloße Vermutung, die sich nicht auf eine Kasuistik stützen kann, sondern
nur auf gewisse Beobachtungen über erotische Phantasien.
DIE ABARTUNGEN 427
Soviel ich sehe, konunt diese Abartung, an und fdr sich selten, noch
oh«T boi Männorn als l)ei Frauen vor. In den 'Phantasien dieser begegnet
man allerdings auch sodoniitischen Zügen. Lnd ich enläinue mich
irgentleiner Geschichte aus Tausendundeiner Naclit, die von dem Ge-
schlechtsverkehr einer Frau mit einem Affen erzählt. Auch berichtet
Virey (bei Gourmont [h^\) vom Vorkehr von Affen mit Frauen von Ein-
golwrenen.
Eine gewisse, wenn auch nicht allzu enge Beziehung besteht zwischen
dieser Abartung und der als Liebessurrogat gepflegten Zuneigung zu
Tieren, die man vornehmlich alten Jungfern zuzuschreiben pflegt, aber
keineswegs deren alleiniges Prärogativ bildet. Der wesentlichste Unter-
schied liegt natürlich darin, daß es zum Geschlechtsverkehr mit diesen
Tierlieblingen nie kommt; man kann aber füglich die Frage auf werfen,
ob dieser Unterschied nicht nur ein mehr äußerlicher sei, der Charakter
der Zuneigung aber doch als ein ausgesprochen erotischer erscheinen
müsse. Diese Vermutung wird auch dadurch nahegelegt, daß m£in oft
genug beobachten kann, wie an Tiere wahllos Liebesbezeigungen ver-
schwendet werden, die entweder einem bestimmten Menschen gelten oder
auch nur Ausfluß jener erotischen oder erotisierten Einstellung sein
können, die ich oben als nicht gerichtete Sexualität bezeiclinet habe.
Liebende sind zu Tieren zärtlich — übrigens nicht nur zu Tieren, sondern
auch für sie erotisch uninteressanten Menschen — , küssen sie mit
einer gewissen Leidenschaft, weil das Objekt ihres Liebens ihnen uner-
reichbar ist. Insbesondere scheint sich der erste Ausbruch von Ver«
liebtheil bei jungen Menschen, vielleicht mehr bei Mädchen als bei
Knaben, nicht selten in solchen Äußerungen entladen zu wollen. Es
ist aber sehr schwer, sich klar zu werden, was denn eigentlich sich in
der Seele dieser Individuen abspielt. Es kann das Tier wiederum nur
als Repräsentant des eigenthchen Sexualobjektes gedacht werden, be-
wußt, mit dem Gedanken: wenn du Tier der oder die wärest, ich würde
ihn oder sie so streicheln, küssen, lieb haben; es kann dieser Gedanke
nicht klar bewußt sein, aber doch gegenwärtig und ohne besondere
Schwierigkeiten bewußt werden oder bewußt gemacht werden; es kann
vielleicht auch dieser Gedanke vollkommen fehlen — ob er dann als
nicht vorhanden oder als in das „Unbewußte verdrängt" angesehen
wird, ist für die Ermittlung des phänomenalen Tatbestandes irrelevant —
und das Tier immittelbar als Sexualobjekt erlebt werden. Man wird
schwer bestreiten können, daß hier alle erdenklichen Übergänge möglich
sind. Anderseits fehlt es, soviel ich sehe, an Tatsachenmaterial, um
in diese Frage Klarheit zu bringen.
Vieles spricht jedenfalls dafür, daß es wie eine fakultative Homo-
sexualität auch eine fakultative Sodonüe geben dürfte, woraus man
rücksichtlich der Genese beider Abartungen wohl auch auf eine gewisse
Gleichartigkeit wird schließen dürfen.
Es sei übrigens angemerkt, daß hier Übergänge auch noch zu einer
anderen Perversion führen, nämlich zu dem Fetischismus, welcher sich
überhaupt als ein Mittelding zwischen den Abartungen hinsichtlich des
428
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Sexualobjektes und jenen hinsichtlich des Sexualzieles darstellen läßt.
Davon später. i , • ,
Es kann weiterhin dieeigenePersonals Sexua lobjekt gesetzt
werden. Diese Einstellung fällt unter den von H. Ellis (27—80) ge^
schaffenen Begriff des Autoerotismus, erschöpft ihn aber keines-
wegs. Autoerotisch können auch Sexualbetätigungen sein, bei welchen
das eigentlich intendierte Sexualobjekt eine andere Person ist, wovon in
dem Abschnitt über erotische Phantasien mehr zu sagen sein wird. Hier
handelt es sich um jene, bei welchen tatsächtlich eine erotische Verliebt-
heit in die eigene Person besteht in dem Maße, daß sie selbst letztes
Ziel der Sexualität wird. Näcke hat hierfür, eine bekannte griechische
Sage benützend, den Namen des Narzißmus geprägt, den die Psycho-
analyse übernommen hat, und dessen wir uns, trotz der etymologischen
Ungebeuerlichkeit, ebenfalls bedienen wollen.
In seiner Abhandlung ,,Zur Einführung des Narzißmus" kennzeichnet
Freud die fragliche Abartung als „jenes Verhalten, bei welchem ein In-
dividuum seinen eigenen Leib in ähnlicher Weise behandelt wie sonst
den eines Sexualobjekles, ihn also mit sexuellem Wohlgefallen beschaut,
streichelt, liebkost, "bis es durch diese Vornahmen zur vollen Befriedigung
gelangt". Weitere deskriptive Angaben scheinen sich in der psychoana-
lytischen Literatur kaum zu finden, wiewohl sie mit dem Begriffe des
Narzißmus sehr viel operiert. Auch anderwärts, so bei Kraepelin (66 a),
findet man zu dieser Frage nur wenige Worte. Für Kraepelin fließt
übrigens der Narzißmus mit der Onanie zusammen, sagt er doch aus-
drücklich, man bezeichne diese „autoerotische Abart der Onanie als Narziß-
mus", was mir keineswegs richtig zu sein scheint, da die Onanie wesent-
lich durch die Schaffung eines von dem unmittelbaren verschiedenen
(s. S. 434) Sexualzieles gekennzeichnet ist, nicht durch die Setzung eines
anderen Sexualobjektes. Daß die Befriedigung narzißtischer Neigungen
schließlich nur auf dem Wege des Autoerotismus möglich ist, tut der
prinzipiellen Scheidung keinen Eintrag.
^^'ährend extreme Fälle dieser Abartung wohl sehr selten sind — denn
die psychoanalytischen Ausdeutungen paranoischer oder schizophrener Syn-
drome als narzißtischer Genese haben uns hier nicht zu beschäftigen,
da in ihnen, wenn überhaupt, diese Triebform nur gründlich verändert
wirksam ist — , findet man Andeutungen des Narzißmus relativ häufig,
w^nn man will, sogar regelmäßig, soferne man nämlich die erotisch
tingierto Freude an dem eigenen Körper, an der eigenen Schönheit, Kraft,
Jugend hierher zählen will. Und man darf wohl zugeben, daß zwischen
dieser, insbesondere bei Frauen häufigen, Einstellung und dem aus-
geprägten Narzißmus in oben umschriebenem Sinn eine kontinuierliche
Reihe von Stufen gedacht werden kann. Auch Freud bemerkt das Über-
wiegen der narzißtischen Einstellung bei Frauen.
Auch der Narzißmus muß der psychoanalytischen Theorie konse-
quenterweise als ein Festhalten einer infantilen Stufe der Sexualität er-
scheinen. Die Gründe, die für solche Hypothese beizubringen sind, führen
sogar anscheinend größeres Gewicht bei sich, als es in Anwendung auf die
anderen Abartungen der Fall sein dürfte. Wenn man nämlich das Be-.
Üli: AÜARTL.\(JE.N 429
dürfnis dos Kindes nach erotischer Befriedig^uiifj citimal zugibt, so folgt,
daß du'so liofriodip^ing niaii<^els oinos aiuloren S<'viial()l)j«'ktos — ■ sei es,
weil ein Striches nicht erkannt, sei os, weil es nicht erreicht worden
kann — nur auf dem We^ autoerotischer Betätigung erfolgen kann.
Man darf sich wohl vorstellen, wie ausgeführt wird, dali es sich zunächst
um einen indifferenzierten Drang nach Lustgewinnung somatischer Art
handelt, daß im Laufe der Lrfahrung der eigene KörjR^r als Quelle dieser
Lust bemerkt und infolgedessen zum Se.vualobjekt gemacht wird. Man
hätte also dann in der Tat eine narzißtische Periode als normales Durch-
gangsstadium der "Sexualen twicklung anzunehmen, deren Fixation als
psychischer Infantilismus, bewirkt durch allerlei nicht ohne weiteres
durchsichtige äußere imd anlagemäßige Momente, jene Vbartung des
Sexuallebens auch beim Erwachsenen herbeiführen würde.
Die umgekehrte Richtung anzunehmen, scheint mir viel weniger plau-
sibel; d. h. anzunehmen, es entstehe der Narzißmus sozusagen aus einer
ursprünglich auf fremde Sexualobjekte gerichteten Sexualität, die infolge
der autoerotischen Befriedigungsweise schließlich auch ihr Objekt in
dem eigenen Körper finde. Dies scheint, wenn ich die Stelle richtig
verstehe, eigentlich Kraepelins Meinung zu sein^.
Während wir bei der Homosexualität und zum Teil auch (bei der Sodomie
auf keine sonderlichen Schwierigkeiten psychologischen Verstehens stoßen,
es uns relativ leicht gelingt, das Seelenleben dieser Menschen zur anschau-
lichen Vergegenwärtigung zu bringen, um einen Ausdruck von Jaspers
zu gebrauchen, scheint mir das bei der narzißtischen A erhaltungsvveise
einigermaßen schwierig. Wenn zwar ein gewisses Maß von Freude an
der eigenen Körperlichkeit wohl jedem Gesunden eigen sein dürfte, so
ist von dort zu einer ausgesprochen erotischen Einstellung gegenüber dem
eigenen Körper doch ein weiter Schritt; und die obenerwähnten gleitenden
Übergänge sind wohl dem theoretischen Denken, nicht aber einem un-
mittelbaren Nacherleben so ohne weiteres zugänglich. Es ist dies vielleicht
mit ein Grund, warum zur deskriptiven Psychologie des Narzißmus
so wenig bekannt geworden ist.
Eine Frage nicht ohne Interesse wäre es, wie denn der narzißtisch
Orientierte sich eigentlich zu seinem eigenen Körper stelle, ob er dem-
selben irgendwie als einem Objekt gegenüberstehe, oder ob Genießender
und Genossenes zu einer Identität verschmolzen seien. Letztere Haltung
scheint mir die wahrscheinlichere zu sein ; verständlich ist sie eigentlich
nicht. Selten ist der Mangel an deskriptivem Interesse, dem man bei
den Psychoanalytikern stets begegnet, so bedauerlich wie hier, wo sie
aus ihrem reichlichen Material auch zur Frage nach dem Ich-Erleben
überhaupt Wertvolles beisteuern könnten.
Ähnlich wie beim Narzißmus liegen nun die Dinge bei einer weiteren
Abartung, welche, >vie bemerkt, gewissermaßen eine Zwischenstellung
1 Im letzten Grunde müßte freilich -aucli die narzißtische Einstellung sich auf
einer Richtung auf fremde Sexualobjekte aufbauen, sofeme eine solche sich in der
Tat als konstitutiv für das Wesen der Sexualität erweisen läßt. (S. das eben zum
Problem der Homosexualität Angemerkte.) Ehe oben skizzierte Genese der narzißtischen
Einstellung würde indes sozusagen in melir peripheren Schichten zu suchen sein.
430 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES (iESCHLECHTSLEBENS
einnimmt zwischen den Abartungen rücksichtlich des Sexualobjektes
und jenen rücksichtlich des Sexualziöles, das ist der Fetischismus.
Dieser ist dadurch gekennzeichnet, dal5 an Stelle eines der üblichen
Sexualobjekte irgendein Gegenstand tritt, dessen Besitz,^ Betrachtung,
Befühlimg den Sexualaffekt auslöst. Es kann dabei etwa* das Betasten
eines solchen Fetisches gleichzeitig Sexualziel werden, es kann aber auch
tias Sexualziel ein anderes sein, etwa irgendeine autoerotische Betätigung,
oder es kann beides miteinander verschmelzen. In der Regel dienen als
Fetische allerhand leblos© Gegenstände, Kleidungsstücke, Schuhe, Haar-
bänder oder Haare, Nägel; grundsätzlich könnte auch ein Tier die
Rolle eines Fetisches übernehmen, weswegen wir oben auf die möglich©
Beziehung von Fetischismus und Sodomi© aufmerksam machten.
Was nun den Fetischismus im eigentlichen Verstände ausmacht, ist
dies, daß der Fetisch selbst, als der Gegenstand, der er eben ist, als
Sexualobjekt gesetzt wird. Er ist — zumindest für das bewußte Seelen-
leben — nicht etwa Repräsentant für ein normaleres Sexualobjekt,
sondern er selbst ist das den Affekt auslösende und zuweilen, gar nicht
selten, auch befriedigende Objekt. Das scheint wenigstens aus den An-
gaben solcher Abgearteter hervorzugehen.
Es bedarf dies deshalb besonderer Betonung, w^eil man geneigt sein
könnte, in dem Fetischismus abermals nur eine Steigerung und Ver-
zerrung normal-sexual psycho logischer Erscheinimgen zu sehen. Es ist
eine bekannte Tatsache, daß der Liebende nach dem Besitz von Gegen-
ständen begehrt, die der Liebenden angehörten, insbesondere von solchen,
die mit ihrem Körper nahe Beziehungen aufweisen imd auch sonst
erotischen Wert besitzen. Er will ,,ein Strumpfband seiner Liebeslust"
verschaffen, er stiehlt einen Handschuh, ein Bukett, ein Taschentuch,
dem „ihr" Parfüm anhaftet, vielleicht einen Schuh oder was sonst.
.Aber alle diese begehrten Gegenstände, die sorgfältig aufbewahrt und
immer wieder hervorgeholt, oder die ständig mit herumgetragen werden,
sie sind nicht selbst Sexualobjekte. Sie sind Hilfen sozusagen, um das
Bild der Geliebten wachzurufen, Hilfen vor allem zur Produktion eroti-
scher, die geliebte Person mnspinnender Phantasien, in denen das er-
^vünschte Ziel, der Sexualbesitz, vorgegaukelt werden soll. Sie spielen
kaum eine andere Rolle, als die ein Bild auch spielen könnte. Sie sind
Repräsentanten des wahren Sexualobjektes; es geht durch sie hindurch
die Intention auf dieses. Anders beim Fetischisten ; bei ihm bleibt die
Intention bei dem betreffenden Fetisch stecken, geht nicht weiter, der
Fetisch selbst ist endgültiges Objekt.
Solches läßt sich, glaube ich, aus den bekannten Fällen extremer
Ausbildung abnehmen. Auch hier wiederum sind zwischen dem be-
schriebenen normalen Verhalten und der Abartung Übergänge bemerkbar;
sie können auch beobachtet werden. Trotzdem ist ein Verständnis
fetischistischer Abstellung der Sexualität auf irgendeinen Gegenstand als
endgültiges Objekt kaum erreichbar.
Dieses Verhalten des Fetischisten bringt es mit sich, daß seine Sexualität
im allgemeinen gar nicht auf Gegenstände, die Eigentum einer be-
stimmten Person wären, gerichtet ist. Nicht die Haare eines bestimmten
DIE ABARTUNGEN 431
M;i(l»l)tMis will der Fetischist besitzen, soudorn Mä<lclu*iilia,in' ühcrliauj»!,
iiiclit ..ihr" Stnim[ifhaml. SDiidcrii irfi^<Mi<l<Miuvs, vielleicht viele Slriiinpf-
häiuior, alle, tleiiMi er habhaft werden kann usw.
Die fetischistische Einstellung kann sich mit einer auf andere Scxual-
objokte konibiniejnen. E^ kann einer zwar Frauen als Sexualobjekt
anstrelxM). alx^r sie müssen, um ihn erregen und befrie<ligen zu köiuien,
irgendwelche besondere Züge an sich tragen; in einem schon jmgeführten
Falle vermochte ein Mann nur Frauen mit einem Hein zu lieben. Die*so
fetischistischen Züge gehen indes weit mehr auf das Sexualziel als auf
<las Sexualobjekt. Es ist dann zwar die Frau Sexualobjekt, nicht aber
der normale Geschlechtsverkehr oder überhaupt ein G<\schlechtsverkehr
usw. Sexualziel, sondern etwa das Betasten des Fußes u. dgl. m.
Es muß aber, was festzuhalten ist, eine derartige Einstellung gar kein
Fetischismus in obigem Sinne sein. Man kann sich hier leicht durch
Äußerlichkeiten täuschen lassen. Es bedarf jeder einzelne Fall einer
genauen .\nalyse, um seine psychosexuale Artung zu ermitteln. Auch
der eben erwähnte absonderliche Liebhaber muß kein Fetischist ge-
wesen sein.
Insofeme beim Fetischismus die Sexualität keine Richtung auf ein
einzelnes, bestimmtes Sexualobjekt erfährt, könnte man auch hier von
einem Infantilismus oder, besser gesagt, Juvenilismus sprechen. Aber
die Theorie psychosexualer Entwicklimgshemmimg würde doch nur diese
eine Seite der Abartung, nicht aber die Verlegung des endgültigen
Sexualobjektes in den Fetisch erklären. Es geht m. E. nicht an, in dem
Fetischismus eine Steigerung einer auch normalerweise aufzeigbaren Seite
der Psychosexualität zu sehen, weil — wie ich mich zu zeigen bemühte —
hier ein tiefgreifender und m. E. grundsätzlicher Unterschied obwaltet,
der so bedeutungsvoll ist, daß man auch nicht von einem fakultativen
Fetischismus zu sprechen das Recht haben dürfte.
Man könnte noch zu einem Verständnis dieser Erscheinung gelangen,
wenn der Fetisch in der Regel oder auch nur in einer Mehrzahl von
Fällen zugleich Mittel der Sexualbefriedigung wäre, d. h. etwa zu mastur-
batorischen Praktiken benützt würde. Dann könnte man sich allerdings
vorstellen, daß hier eine allmähliche Verschiebimg der Wertung von
dem ursprünglich dabei phantasierten Sexualobjekt auf dessen Repräsen-
tanten, den Fetisch, stattgefunden hätte. Es scheint aber dies durchaus
nicht zuzutreffen.
Ich glaube, daß auch in diesem Fall unserem nachfühlenden Ver-
ständnis Schranken gesetzt sind, die wir nicht zu durchbrechen vermögen.
Daß eine kausale Erklärung aus irgendwelchen Erlebnissen heraus, wie
sie die Psychoanalyse unternimmt, ein solches Nacherleben, wirkliches
Verstehen nicht zu gewährleisten vermag, bedarf hier keiner weiteren
Ausführung. Handelt es sich doch nicht darum, zu erfahren, auf welchem
Wege der Betreffende gerade zu dieser Art psychosexualen Verhaltens
gelangt sei, sondern darum, dieses Verhalten selbst miterleben, nach-
erleben zu können. Dazu verhilft uns keine noch so lange Kette kausal
verbundener Glieder und kein Nachweis noch so frühzeitig stattgefundener
Einflüsse. Wiederum muß gesagt werden, daß wir auf solchem Wege
432 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
zwar alle Beding^ungen vielleicht erfahren können, durch welche die Ab-
artung zustande gekommen sei, aber gar nichts darüber, worin sie eigentlich
ihrem inneren VVesen nach bestehe.
Hier wäre auch einer Erscheinung zu gedenken, welche als ein negativer
Fetischismus angesehen werden kann, die Hirschfeld (56, 58) mit dem
Namen eines Horror sexualis partialis belegt hat. Gewisse Umstände,
Eigenarten, Züge des an sich normalen Sexualobjektes erregen bei der-
art Ix^chaffenen Menschen eine unwiderstehliche Abneigung, verliindern
das Zustandekommen der Sexualerregung oder bringen eine schon ent-
standene zum Verschwinden. Z. B. ist mir ein Mann bekannt, für
den jede, zuvor noch so begelirenswert erschienene Frau jegliches erotische
Interesse verliert, ja abstoßend wird, sobald er entdeckt, daß sie einen
Strumpfbandgürtel trägt. Und das nicht etwa, weil runde Sti"umpf-
bänder für den Betreffenden einen besonderen, fetischistischen Sexualwert
bedeuten wöirden; Strumpfbänder vermögen die erotisch© Anziehimgs-
kraft einer Frau in keiner Weise positiv zu beeinflussen. Dieser Fall
ist übrigens leicht aufzuklären, auch sich selbst des Grundes dieser
Idiosynkrasie voUkonunen bewoißt. Als er nämlich das allererstemal
eine Prostituierte aufsuchte, widerte ihn die ganze Szene an, insbesondere
wurde er durch den Anblick des schmutzigen Strumpfbandgürtels von
einem solchen Ekel erfaßt, daß er eilends die Flucht ergriff.
Von diesem Horror sexualis partialis führen verständliche Übergänge
zu allen jenen Verhaltungsweisen und Einflüssen, welche den Sexualaffekt
zu beeinträchtigen vermögen oder der Entfaltimg von Liebesregungen
im Wege stehen. Häufig ist es das Lächerliche, das in diesem Sinne
wirkt. G. Godwin hat in den „Begegnungen mit mir" anschaulich ge-
schildert, wie ein zuvor äußerst begehrenswerter Mann widerwärtig er-
scheint, als Sexualobjekt geradezu unmöglich, in dem Augenblicke, da
er in gestreiftem Flanellunterzeuge vor der Frau steht. Von solchen
,, Liebeshindernissen" wird auch noch die Rede sein müssen. Nicht selten
gründet in ihnen die Erscheinung der psychischen Impotenz.
Anhangsweise seien hier noch weitere Abartungen der Objekt wähl ange-
führt, mit denen sich eingehender zu befassen keinerlei besonderes
Interesse haben dürfte, wie die Sexualneigung zu alten Menschen (Geronto-
phihe), die Nekrophilie, welche übrigens Beziehungen zu dem sofort zu
besprechenden Sadismus haben mag. Ein paar \Vorte nur müssen ge-
sagt werden über die ausschließlich auf Jugendliche, ja auf
Kinder beschränkte Objekt wähl.
Es wurde schon angemerkt, daß in der Beziehung zwischen Liebenden
Züge sich geltend machen, welche an die Beziehung zwischen Eltern und
Kindern gemahnen. Es mag das ein Motiv sein, welches bei der Wahl
gerade von Kindern als Sexualobjekten eine Rolle spielt. Die Knaben-
liebe des Homosexuellen dürfte z. T. auch darin begründet sein, daß,
wie bemerkt, ja dem aktiv Homosexuellen zu tiefst eine Tendenz auf
das andere Geschlecht innewohnt und der Knabe anscheinend neben
seinen männlichen auch weibliche Züge trägt. Wieder anders ist die
Struktiu- bei der oft beschriebenen, vielfach in Romanen behandelten
Vorliebe älterer, erfahrener Frauen gerade für jugendhche, noch uner-
DIL ABAKl'UNGEN 433
fahrono Liebhabor. l)ei tlem Gefallen, den sie an der bewußt oder unbe-
wulSt orotischen Zuneigiing von Kindern finden. Abgesehen von der
Befriedi^nfj <los Maclilbodürfnisscs, welche das Bewußtsein verleiht,
als erste gelieht zu werden und vielleicht einen Menschen zu allererst
uüt dem erotischen EflelxMi bekaiuil zu machen ^ — gleichgültig, oh es
dalx'i wirklich zum Geschlechtsverkehr konniit oder kommen kann — ,
mögen als Motive mitwirken vielleicht ein s{)ielendes Sichzurückversetzen
in die eigene Jugend, intellektuelle Momente — der unerfahrene Knabe
hat noch keine der Eigenschaften des Mannes, welche die Frau auf der
Hut sein heifSen, sie mißtrauisch machen usw. — -, eine von vornherein
nicht unbedingt erotisch tingierte Liebe zu Kindern, ein mehr ästhetisches
Wohlgefallen an der ,, Reinheit", der ,, Idealität" solcher Zuneigung dieser
Knaben und anderes noch — jedenfalls eine Reihe heterogener Faktoren,
deren Konstatierung darauf hinweisen muß, daß man es hier sicherlich
mit einem sehr komplexen Phänomen zu tun hat, das nicht ohne weiteres
als ein einheitlich zu verstehender Typus der Objektwahl hingestellt
werden darf.
Ich bin mir ganz klar darüber, daß diese Ausführungen in vieler Be-
ziehung lückenhaft sind. Insbesondere ist der Mannigfaltigkeit der
äußeren Erscheinung des abgearteten Geschlechtstriebes in keiner Weise
Rechnung getragen worden. Ich glaube nicht, daß dies notwendig ge-
wesen wäre. Es ist hier kein klinischer Traktat über Sexualpathologie
zu geben; vom Standpunkte des Psychologen bedeuten alle diese Varianten
aber niu- Äußerlichkeiten. Soweit wir dies zu beurteilen vermögen, ist
das Erleben allemal dasselbe und wohl auch die Psychogenese nach den
gleichen Grundlinien erfolgt. Eine andere Sache freilich ist es um die
Mangelhaftigkeit gerade der psychologischen Deskription und der gene-
tischen Analyse. Sie ist begründet in der Unvollkommenheit unserer
Einsichten, vor allem darin, daß die meisten Autoren, die sich mit diesen
Fragen zu befassen Gelegenheit hatten, es vorzogen, die äußerlichen
Formen oder die kausalen Zusammenhänge zu untersuchen, nicht aber
die phänomenalen seelischen Abläufe. Diese Bemerkung gilt in gleichem
Maße auch von den Abartungen hinsichtlich des Sexualzieles, denen wir
uns nunmehr zuwenden wollen.
Wie der Fetischismus, so nimmt in anderem Sinne auch der Auto-
erotismus eine Zwischenstellung ein. Er stellt eine Abweichung dar
hinsichtlich des Sexualobjektes, insofeme dazu der eigene Körper wird,
hinsichtlich des Sexualzieles, insofeme der Erreichung sexualer Befriedi-
gung nicht der Verkehr mit einer anderen Person dienstbar gemacht wird.
Was aber die Setzimg des eigenen Körpers als Sexualobjekt anlangt,
so ist cüese durchaus nur eine vorläufige, d. h. es erscheint der eigene
Körper nur als Repräsentant des Sexualobjektes, das in Wahrheit inten-
diert wird. Diese Intention muß allerdings keine bewußte sein, ist es
in der Regel nicht in den Entwicklungsphasen der Sexualität, in welchen
die Realisierung des Verkehres mit einem fremden Sexualobjekt gar nicht
1 Hier besteht eine enge Beziehung zu der obenenvähnten erregenden Wirkung des
Wissens um die fremde Sexualerregung.
28 Kafka, Vergleichende Psychologie 111.
434 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
im Bereiche physischer und denkbarer Möglichkeit liegt. Dennoch aber
ist die Richtung auf das fremde Sexualobjekt durchgehends vorhanden,
wodurch der Autoerotismus (s. S. 428) sich vom oben besprochenen
Narzißmus unterscheidet. Es ist also, vde wir uns schon oben aus-
drückten, der eigene Körper uns unmittelbares, aber nicht endgültiges
Sexualobjekt ^.
Ähnliches gilt nun auch vom Sexualziel autoerotischer Betätigungen,
mögen dieselben in vk^irklichen masturbatorischen Manipulationen oder
in bloßen Phantasioerlebnissen, sogenannter psychischer Onanie, bestehen.
Auch hier erscheint die Sexualbefriedigung am eigenen Körper als ein
niir vorläufiger Behelf, indem die Hauptrolle doch unbedingt den wohl
die meisten autoerotischen Akte begleitenden Phantasien, die irgendein
anderes Sexualziel vorspiegeln, zufällt. Dafür spricht, neben den direkten
Aussagen verschiedenster Personen, auch der Umstand, daß die auto-
erotische Befriedigung, zumal wenn sich ein mehr oder weniger deut-
liches Wissen um andere Sexualziele eingestellt hat, nur relativ selten
selbst Gegenstand erotischer Phantasien oder erotischer Träume wird.
Die autoerotische Befriedigung ist ein vorläufiges Sexualziel in doppel-
tem Verstände. Einmal, weil sie an Stelle des real unerreichbaren, nur
hinzuphantasierten wirklich intendierten Sexualzieles tritt, zweitens, weil
sie dasselbe vertritt, solange physiologisch und psychologisch die Setzung
eines anderen Sexualzieles noch gar nicht möglich geworden ist.
Deskriptiv psychologisch ist wenig zu sagen. Das meiste wdrd unten
in dem Kapitel über erotische Phantasien zur Sprache konunen; was
über den Autoerotismus als Durchgangsstadium zu sagen ist, wird in
dem Abschnitt über kindliche Sexualität und Sexualentwicklung ausge-
führt. Da weder die Häufigkeit des Autoerotismus noch seine verschie-
denen Praktiken psychologisch interessieren, dürften diese wenigen Be-
merkungen an dieser Stelle genügen.
Die mutuelle Masturbation in ihren verschiedenen Formen ist entweder
eine durch äußere Umstände aufgenötigte Ersatzbefriedigung, die dem
homosexuellen Verkehr angehören kann oder auch dem heterosexuellen
als Durchgangsstufe, als Ausflucht infolge der Angst vor den Folgen
eines regelrechten Koitus usw., oder aber sie wird selbst Sexualziel, über
das hinaus keine Wünsche mehr gehen. Im homosexuellen Verkehr fallen
bisweilen beide Motive zusammen. Im Falle diese Form erotischer Be-
friedigung nur als Ersatz auftritt, liegt die Sache genau so wie bei dem
Autoerotismus; das eigentliche Sexualziel erscheint in den begleitenden,
mehr oder weniger deutlichen Phantasien.
Masturbatoi ische Handlimgen von einer Person an den Geschlechts-
teilen einer anderen ausgeübt, können entweder der Erzeugung sexueller
Erregung imd eventuell auch Befriedigung bei dieser dienen, oder sie ent-
springen dem sexualen Begehren jener, welcher man sodann einen abge-
arteten Sexualtrieb, zumindest fakultativ, wird zusprechen können. Übri-
gens läßt sich diese Form sexualer Betätigung von der mutuellen Onanie
1 über die Möglichkeit solchen Strebens ohne vorgestellte Ziele vgl. Scheler,
Der Formalismus in der Ethik, Jahrb. f. Philos. u. phänom. Forsch., L
DIi: ABARTUNGEN 435
nicht scharf trennen; schließlich ist es nur ein Unterschied des Grades,
der TixJinik und von indiviiluellon Neig-un^'(Mi abhängig, ob bei solchem
Verkelir nur tler eine Partner oder beide die (leniudien des anderen bo-
rührt^n, oder der eine sich nur init dem Herülirtwerden, seiiKMseiLs mit
KüsstMi u. dgl., begnügt. Zuweik-n ist nur Unwissenheit schuld daran,
wenn es bei <ler einseitigen passiv erdukleten Masturbation bleibt (vgl.
Ueniy de Gounnonts ,,l n coeur virginal"). Unter Umständen dient dieses
\'erfahren der Beiriotligung des einen Partners ohne sexuale Erregimg
des anderen, >vio dies etwa eine Szene im Trionfo della morte des
d'Annunzio scliildert. Hierher zälilen auch alle jene Varianten sexualen
^'erkehres, welche die i\Iun<lzone mit den Geschlechtsteilen des Partners
einseitig oder wechselseitig in Berühiimg bringen. DalKÜ braucht es
sich durchaus nicht immer um ein ,, besonderes Raffinement sexual
blasierter Individuen" zu handeln, wie vielfach angenommen wird. Mir
wurde von glaubmirdigster Seite der Fall berichtet, daß zwei junge,
erotisch recht unwissende Menschen, von der ansteigenden Erregung ge-
trieben, sich nach dem Erwachen aus dem SexuaLrausch plötzlich — zu
ihrem Erstaimen und Entsetzen — in der Lage befanden, daß jedes
den Mimd an das Genitale des andern gebracht hatte {„soixante-neuf),
ohne daß ihnen je zuvor über solche Art der geschlechtlichen Befriedi-
gung etwas bekannt gewesen wäre. Wo, wie in diesem Falle mutmaßlich,
diese Art des Verkehres nur eine Station auf dem Wege zu normalen
Beziehungen darstellt, wird man nicht einmal von einer Abartung des
Sexualtriebes sprechen können, sondern höchstens von einer Abirrung
auf der Suche nach der größtmöglichen Befriedigung und dem höchsten
Genuß.
Übrigens muß man sich vor Augen halten, daß alle Formen abge>-
artetei" Sexualbefriedigung neben der normalen bei ein und demselben
Individumn vorkommen können, ohne daß die eine oder die andere Ver-
kehrsform darum einen höheren Befriedigungswert besitzen muß.
Zuweilen scheint diese Wahl des Sexualzieles jener oben einmal ge-
kennzeichneten Einstellung zu entspringen, welche den höchsten erotischen
Genuß weniger aus der eigenen, wirklichen Sexualbefriedigung als aus
dem Wissen mn die Sexualerregung des anderen schöpft. Dabei liegt
das Gewicht auf der Erregung, nicht auf der Befriedigung des anderen.
Es mischt sich hier ein Zug einer anderen, ebenfalls das Sexualziel b^
treffenden Perversion ein, nämlich des Sadismus.
Fragen wir noch nach der G«nese der reinen Fälle dieser Abartung,
in welchen also, sei es die autoerotische Betätigung, sei es eine der er-
wähnten Verkehrsformen — die natürlich noch zu vermeliren wären, ohne
daß psychologisch dadurch etwas gewonnen würde — selbst letztes Sexual-
ziel und nicht ein Surrogat bedeuten, so scheint es mehrere Erklärungs-
möglichkeiten zu geben. Der Autoerotismus bedeutet unter Umständen
die Emanzipation vom anderen Geschlecht, in ähnlichem Sinne, wie das
die Theorie A. Adlers für die Homosexualität annimmt, damit eine ge-
wisse Selbstherrlichkeit auch in der Sexualsphäre, eine Verantwortungs-
losigkeit überdies, deren Gewinn wohl auch für manche der mutuellen
Verkehrspraktiken das treibende Motiv — bewußt oder unbewußt — ab-
28*
436 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ffeben dürfte. Wie die „demi-vierge" durch derartige Praktiken sich den
Gewinn sexualer Lust — nebenher gesagt, vielleicht noch wichtiger ist
ihnen: der Gewinn eines Liebhabers, aus mancherlei Gründen — sichert,
ohne Konsequenzen befürchten zu müssen, so auch der, vornehmlich
auf Grund psychoneurotischer Konstitution, solchen Verkehrsformen zu-
neigende Mensch. Hier handelt es sich aber nicht einmal so sehr, gewiß
nicht ausschließlich um die gemeinhin so bezeichneten Folgen — das
Kind — , sondern um alles, was drum und dran hängt an einer ehrlichen
Geschlechtsbeziehung. Damit hängt es zusammen, daß man wohl selten
derartige sexuale Abartung isoliert antrifft; sie ist meist mit allerlei
anderen psychoneurotischen Zügen und Symptomen vergesellschaftet.
Da unter Umständen die somatische, autoerotische Betätigung und Be^
friedigung völlig wegfallen kann, allein den Phantasieerlebnissen es über-
lassen bleibt, den erforderlichen Grad sexualer Spannung herbeizuführen
und zur Krisis zu steigern, ist es verständlich, daß es Abartimgen gibt,
in welchen diese ,, psychische Onanie" zur Erreichung des Zieles äußere
Hilfsmittel, gewissermaßen als Stütze der Phantasie, heranzieht. Solcher
Kunstgriffe gibt es verschiedene; einige werden später besprochen, weil
sie nicht eigentlich als Abartungen der Psychosexualität in Betracht kom-
men, zwei sind indes seit langem in der Psychopathia eexualis behandelt
worden : der Exhibitionismus und die Schaulust. Beide ge-
hören offenbar zueinander. Der Exliibitionist findet seine Befriedigung
in der Entblößung der eigenen Geschlechtsteile vor Personen anderen Ge^
schlechtes, der Schaulustige, voyenr, in dem Anblick der Entblößung
anderer, als Zuschauer fremder Sexualbetätigung und exkrementieller
Funktionen. Auch hier wäre das gleiche anzumerken wie schon zu
mehreren Malen oben; man trifft zwar im normalen Geschlechtsleben auf
Züge, welche an die gedachten Abartungen gemahnen, ja zur Annahme
eines nur graduellen Unterschiedes verleiten können, die aber dennoch
sich als davon wesensverschieden erweisen dürften. G«wdß bedeutet auch
für den Normalen z. B. der Anblick des entblößten Partners bzw. irgend-
eines Angehörigen des anderen Geschlechtes einen Sexualreiz, der auch
angestrebt, aufgesucht wird, aber doch keineswegs ein definitives Ziel,
wie für den echten Schaulustigen. Auch bedarf es nicht erst der Er-
wähnung, daß vorübergehend die Betrachtung des Nackten, lebendig oder
im Bilde, im Verlaufe der Sexualentwicklung eine bedeutende Bolle spielt
und auch Sexualziel sein kann* aber doch ebenfalls nur als Surrogat,
wobei die Intention, wie schon wiederholt ausgesprochen wurde, denn
doch auf das physiologische Sexualziel geht. Wir verstehen aus diesen
yVnalogien und Erfahrungen heraus das Sexualinteresse des Schaulustigen,
schwerlich aber den Verzicht auf sonstige Sexualziele.
Noch schwieriger wird es mir, den Exhibitionisten vollkommen zu ver-
stehen. Es ist auffallend, daß die Exhibitionisten fast durchwegs dem
männlichen Geschlecht angehören, während die den Exhibitionismus gewis-
sermaßen vorbildenden Phantasien überwiegend bei Mädchen vorkonmien.
Entkleidungsphantasien sind bei Knaben außerordentlich selten (s. w. u.).
Es fehlt für diese Abartung nahezu selbst jener Anhub für ein Verständ-
nis, den bei den anderen die genannten normalpsychologischen Erschei-
DIE AB ARTUNGEN 437
nungen zu bieten vermögen. So legt dieser Lniütand die Vermutimg
nahe, daß mau im Exhibitionismus doch eine mit größerem Recht als
kranldiaft zu bezeichnende Erscheinung vor sich habe, als dies etwa
bei auch im erwaclisenen l^ben festgehaltenen autoerotischen Gepflogen-
heiten, bei Homosexualität u. a., der Fall ist. Diese Annahme findet eine
Stütze in dem allgemein als unwiderstehlich, zwanghaft geschilderten
Trieb zm* Entblößung. Natürhch kann jede Art des Sexualtriebes ge-
legentlich oder bei manchen Personen mit unwiderstehlicher Gewalt sich
durchsetzen wollen; aber daneben wird es immer Einzelfälle und Per-
sonen genug geben, wo der Trieb der Kontrolle der Überlegung und des
Willens gehorcht. Hört man aber den Exlübitionisten zu, so gewinnt man
den Eindruck, als sei fast immer, wenn der Impuls zum Sexualakt auf-
taucht, derselbe auch unwiderstehlich, bei jeder Gelegenheit und bei
jeder Person. Man muß natürlich die Äuf^rungen solcher Individuen
mit einer gewissen Vorsicht aufnehmen ; erstens, weil vielleicht die psycho-
neurotischen Züge, welche ihnen anhaften, dazu mahnen, zweitens, weil
sie ein Interesse daran haben, den Drang als unwiderstehlich zu schildern,
aus forensischen Gründen und auch, um einer moralischen Verurteilung
zu entgehen.
Freud (43) vereinigt die Exhibitionisten mit den Schaulustigen, weil
eine Analyse ihn gelehrt hat, daß diese Menschen ihre „Genitalien zeigen,
um als Gegenleistung die Genitalien des anderen Teiles zu Gesicht zu be-
kommen". Ob diese Auffassung haltbar ist, vermag ich nicht zu ent-
scheiden. Es bietet sich übrigens, wde ich glaube, noch eine weitere
Möglichkeit, zu einer genetischen Erklärung des Exhibitionismus zu ge-
langen. Erinnert man sich an die bei Frauen so häufigen, bei Männern
so seltenen Entkleidungsphantasien, deren teilweise Verwirklichimg durch
die Exhibition stattfindet, zugleich mit der Anschauung von dem psychi-
schen Hermaphroditismus, so könnte man sich die Meinung bilden, es
handle sich hier um ein Stück weiblicher Sexualität, das sich im Manne
kundgebe, ein Überwiegen eines W-Elementes, um mit Weininger zu
sprechen. Es wäre dann der Exhibitionismus eine Art Kompromiß inner-
halb der bisexualen Tendenzen.
Mit dem Exhibitionismus sollte die als Aufforderung zum Geschlechts-
verkehr gedachte Entblößung ebensowenig verw^echselt werden wie die
gelegentlich als ,, Scherz", um Frauen zu erschrecken, geübte. In die
erste Gruppe gehören auch die Entblößungen weiblicher Geisteskranker,
die im allgemeinen nicht Selbstzweck sind — soweit sie überhaupt mit
einem Zweckbewußtsein einhergehen — , sondern eine Aufforderung be-
deuten. Sie mögen aber auch eine Art „Regression" auf Phantasien vor
dem Geschlechtsverkehr darstellen, in welchen die Entkleidungsszene eine
große Rolle spielt (s. u.).
Unserem Verständnis näher stehen, wie ich glaube, jene Abartungen,
die nach bekannten Persönlichkeiten den Namen des Sadismus und
des Masochismus tragen : beide werden auch zusammengefaßt unter
den Begriff der Algolagnie (Schrenck-Notzing, Eulenburg [34]).
Diese Vereinigung ist nicht nur dadurch gerechtfertigt, daß es sich in
beiden Fällen um eine Verquickung sexualen Genusses mit Schmerzen
438 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
handelt, sondern auch deshalb, weil in der Tat beide Züge auch neben-*
einander vorkommen können. Zumindest zeig'^n die Schriften des Marquis
de Sado selbst, daß solche Kontaminationen oder auch ein Rollentausch
stattfinden kann. Viele seiner Frauengestalten empfinden Schmerzen
oder den Gedanken daran als wollusterregend; anderseits läßt sich ge-
legentlich ein Mann von seiner Geliebten erhängen. Auch in der mit
erotischen Regungen einhergehenden Selbstpeinigung liegt die gleiche
Verquickung vor; es scheint, daß in dem Schmerz, den solche Menschen
sich zufügen, ebensosehr eine Quell© sexualer Erregung und Befriedigung
gefunden wird wie in dem Zufügen des Schmerzes.
Es wurde schon früher einmal der Anschauung Freuds gedacht, der
liierin mit H. EUis übereinstimmt, „daß die aktive und passive Form
regelmäßig bei derselben Person mitsammen angetroffen werden", welche
Meinung zweifelsohne viel für sich hat.
Es ist aber die Algolagnie nicht einfach den bisherigen Abartungen als
koordiniert an die Seite zu stellen, denn die algolagnisch© Einstellung
kann in Verbindung mit jeder Art sexualer Neigung und Betätigung
auftreten, bei heterosexuellen Beziehungen sowohl als auch bei homo-
sexuellen; die Schaulust kann auf Grausamkeitsakte gerichtet sein usw.
Es kann zwar auch das Zufügen oder Erleiden von Schmerzen — aktive
oder passive Algolagnie — endgültiges Sexualziel sein. Es scheint aber,
daß in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle dem nicht so ist, vielmehr
das algolagnische Verhalten nur der Steigerung der Sexualerregimg dient,
die dann in irgendeinem Sexualakt ihre Lösung findet. Es bilden sohin
die beiden Gegenüberstellung, Richtung auf das normale Sexualziel und
auf ein abnormes Sexualziel einerseits, normale und algolagnische Ver-
haltungsweisen anderseits gewissermaßen sich kreuzende Einteilungen.
Damit mag es zusammenhängen, daß diese Abartung verständlicher er-
scheint als die anderen.
Es hat dies aber auch einen wahrscheinlich gewichtigeren Grund darin,
daß hier in der Tat Ansätze zu dieser Abartung schon zu den Merkmalen
der normalen Sexualität gehören. Es braucht hier nicht wiederholt zu
werden, was schon oben in dem betreffenden Abschnitt angeführt (wurde.
Es sei nur daran erinnert, daß die Aggressionstendenz an und für sich
leicht zu sadistischen Akten führen kann, daß gegenseitiges Zufügen und
Erleiden von Schmerzen allerdings meist relativ geringfügigen Grades
im Ablaufe der sexuellen Betätigung nahezu in der Regel angetroffen wird.
Ich erinnere abermals an die seltsam eingehenden Vorschriften und Rat-
schläge des Kamasutram.
Man hat zur Erklärung der algolagnischen Vorgänge auf verschiedene
Analogien im Geschlechtsverkehr der Tiere hingewiesen, auch Anschau-
ungen über das Leben des Urmenschen herangezogen — Argumentei, die
vielleicht einen gewissen Erklärungswert beanspruchen können, zur Er-
weiterimg und Vertiefujig unserer psychologischen Einsicht aber nichts
beitragen. '
Zweifellos erschöpft sich das sadistische Erleben nicht einfach in dem
Lustgewinn aus der Zufügung von Schmerzen, sondern es fließt diese
Lust aus verschiedenen Quellen, und das ganze Erlebnis zeigt eine sehr
DIE ABARTUNGEN 439
komplizierte Struktur. Es ist zunächst einmal die Frage, ob die Verbin-
dunfi; von Schmerz, Grausamkeit und ^esclilechtlicher Erreg^unf,' oder
Wollust eine primäre ist, oder ob nicht eine gewisse Lustmöf^lichkeit,
die von vornherein nicht sexualer Natur zu sein brauchte, in dem aktiven
imd passiven Schmerzerleben gegeben sei. E. v. Hartmann hat z. 13.
die Anschauung vertreten, daß nicht nur jode Lust einen Schmerz ent-
halte, sondern auch, daß es keinen Sclmierz gäbe, der nicht mit Lust
verknüpft wäre. Wenn man auch vielleicht diesen Satz nicht ohne
weiteres wird unterschreiben wollen, so muß doch zugestanden werden,
daß es viele Fälle gibt, in denen er zutrifft. Es ist z. B. bekannt, daß
manchmal bei anhaltenden Schmerzen irgendwelcher Art die Steigerung
des Schmerzes als lustbrLngend empfunden wird, ja daß solche Stei-
gerungen aufgesucht werden. Gewisso Schmerzen werden von manchen
Menschen unmittelbar nicht nur als Schmerz, sondern zugleich auch
als angenehm empfunden: „es tut angenehm weh". Würden derlei
Erfahrungen dafür sprechen, daß den Schmerzen primär eine Lust-
qualität zukonmien kann, so ist damit noch nicht gesagt, daß diese
Lust nicht doch mit der Sexualsphäre zusammenhänge. Es ist mir
dies sogar recht wahrscheinlich. Ich habe junge Mädchen beobachtet,
welche sich absichtlich Verbrenmmgen — mit Zigaretten z. B. —
zufügten, nebenbei bemerkt, keineswegs hysterische Persönlichkeiten im
Sinne der Klinik, und deren Gesichtsausdruck während dieser Handlxmg
durchaus die Annahme einer erotischen Erregung nahelegte, was übrigens
eine derselben ohne weiteres zugestand.
Daneben dürften aber auch nichtsexuale Wurzeln in Betracht kommen.
So nimmt Eulenburg den Drang nach Herrschaft einerseits, nach Unter-
werfung, Dienstbarkeit, Hörigkeit andrerseits in Anspruch, der eine mehr
beim Manne, der andere mehr bei der Frau überwiegend. Sicherlich
hätte die relative Stellung der Geschlechter sich nie in der Richtung
entwickeln können, wie es die Kulturgeschichte zeigt, wenn nicht gewisse
psychologische Vorbedingungen gegeben gewesen wären. Nur könnte man
abermals auf den Gedanken verfallen, daß auch diese Einstellungen letzten
Endes im Sexualen gründen, dieses das Urphänomen wäre, von dem
alles andere sich erst ableitet. Derselbe Autor beruft sich weiterhin auf
den „frevelnden Hochmut, die Hybris, den prometheischen Drang zur
Auflehnung gegen alles Widerstrebende und nach Unterwerfung", wobei
er auf das Nebeneinandervorkommen dieses Zuges mit sadistischen Ein-
stellungen verweist, wie es bei de Sade, bei jenem Gilles de Rais, der
das Urbild des Blaubartes abgab, bei Cenci u. a. angetroffen wird. Wenn
Eulenburg (34) weiter meint, daß ,, manche der grauenhaftesten sadisti-
schen Phänomene . . . ihre letzten Wurzeln hätten, neben dem wollüstig
mystischen Spiel mit dem Grauenhaften, wohl gerade in diesem hoch-
mütigen Hinwegsetzen über alle Grenzen sittlicher und auch ästhetischer
Scheu, in der triumphatorischen Erniedrigung und Verhöhnung alles
dessen, was dem pietätvollen Glauben als vorzugsweise geweiht, ver-
ehrungswürdig, als unnahbar und unantastbar gilt", so ist dies nur in
gewissem Ausmaße richtig. Sicherlich gelangen manche Individuen aus
einer solchen Mentalität heraus auch zum Sadismus. Dieser ist aber
440 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
dann keine ursprüngliche .\bartung der Sexualität mehr. Es wird dann
das sexuale Verhalten des Menschen sozusagen zum Symbol für seine
Grundeinstellung gegenüber der Welt. Diese Grenese reiht dann den
Sadismus unter jene Erscheinimgen abgearteter Sexualität ein, welche
weiter imten kurz als unechte besprochen werden sollen.
Anerkennt man solche, den Sadismus mitbegründende Tendenzen als
selbständige Triebkräfte neben den sexualen, so kommt natürlich in die
Auffassung des ganzen Phänomens etwas Uneinheitliches. Jene Theoretiker
der Sexualität, welche den Umfang der „Libido" so weit spannen, daß
sie schheßlich, wie G. C. Jung (62), alle Aktivität überhaupt darunter
begreifen, die idso auch Herrschsucht usw. nur als Erscheinungsweisen
der „Libido" auffassen, vermögen allerdings eine geschlossene Anschauung
zu bringen — ich glaube aber, nicht ohne den Tatsachen dabei einiger-
maßen Gewalt an zutun.
Unter Umständen kann auch die Vergewaltigung, die Notzucht, als
sadistischer Akt erscheinen, keineswegs inmier. Dagegen dürfte mit
Recht der Lustmord hier seinen Platz finden, vielleicht auch die Nekro-
philie, wofür bei Eulenburg und anderweits Material gefunden werden
kann.
Nicht imwahrscheinlich ist es, daß in die sexuelle Zuneigung, vor allem
in den sexuellen Verkehr von Erwachsenen mit Kindern eine sadistische
Komponente eingeht, wofür ja auch die nicht seltenen Lustmorde gerade
an kleinen Mädchen sprechen dürften.
Die passive Algolagnie, der Masochismus, läßt mutatis mutandis die
gleichen Erwägungen zu wie die aktive. Soviel ich sehe, ist indes aus-
gesprochener Masochismus bei Frauen keineswegs so viel häufiger als
bei Männern, wie man erwarten könnte, wenn Eulenburgs Zurückführung
auf die psychologisch oder kulturell bedingte Hörigkeit der Frau all-
gemeinere Bedeutung hätte. Wir haben es zweifellos auch hier mit einer
Steigerung normaler Züge zu tun, welche schon abgehandelt wurden.
Häufig kombiniert sich die passive Algolagnie mit anderen Abartungen.
So bestand bekanntlich bei Sacher-Masoch selbst neben derselben ein
Pelzfetischismus .
Hierher gehört der Flagellantismus, sei es die Selbstgeißelung, wie
sie sozusagen epidemisch aufgetreten ist, sei es die Geißelung durch
andere. Eulenburg (34) berichtet, daß die Geißelung, insbesondere des
Gesäßes und der Lendengegend, schon lange als ein sexuelles Stimulans
bekannt sei, das von Meibom 1689 in dessen „Epistola de flagrorum usu
in re venerea et lumborum renumque officio" zuerst von medizinischer
Seite gevmrdigt worden. Als solche« Stimulans fand und findet die
Geißelung in Freudenhäusern Verwendung.
Zweifellos gehören viele Fälle, in gewisser Hinsicht vielleicht alle
dieser Art zur passiven Algolagnie. Es ist nur fraglich, ob die sexuelle
Erregung allein auf den Schmerz zurückgeführt werden soll. Denkbar
wäre es, daß die mechanische, auch nicht schmerzhafte Reizung der be-
treffenden Hautpartien als erogener Zonen an und für sich schon er-
regend wirken könnte. Ich entsinne mich einer satirischen Ab-
bildung, welche einen Mönch darstellt, der ein über seine Knie gelegtes.
DIE ABARTUNGEN 441
entblößtes Frauenzimmer auf das Gesäß peitscht — aber mit einem
husclHiriii Fuchsschwanz. Der Gesichlsauxlruck der Frau soll offen-
siclitlich die erotische Freude an dieser Züchli^ng darstellen.
Für den nahen Zusammenhang zwischen Rutenstreichen u. dgl. auf
das Gesäß und Sexualerre^ng gibt es zahlreiche Belege. .\m Ix'kann-
teslen sind die Bemerkungen .1. J. Rou-sseaus (looj in seinen Gonfessions.
Sowenig die passive Algolagnie auf die Frau beschränkt ist, sowenig
ist die aktive Prärogativ des Mannes. Ich weiß nicht, ob man tatsäch-
lich berechtigt ist, wie Eulenburg es will, der Frau eine f)riiuärc sadistische
Komponente ihrer Sexualität abzusprechen und den weiblichen Sadismus
nur als eine reaktive Erscheinimg, als provoziert und gezüchtet durch den
masochistischen Mann anzusehen. Denn auch hier scheint es richtig zu
sein, daß beide Seiten der Algolagnie gar nicht selten bei ein und dem-
selben Individuum auftreten, daß im Erleiden sowohl wie im Zufügen
der Schmerzen Lust gesucht und gefunden wird. Das schon mehrfach
zitierte Kamasutram leitet ja auch nicht nur den Mann zum Beißen und
Kratzen an, sondern, wenn auch in geringerem Maße, ebenso die Frau ^.
Eine phänomenologische Analyse der aus dem Schmerz quellenden
sexuellen Erregung, oder vielmehr des ganzen komplexen Erlebens, in das
Wollust und Schmerz beide eingehen und verschmelzen, ist wohl kaum
möglich. Es scheint nämlich nicht so, als ob Schmerz und Sexualer-
regung irgendwie nebeneinander erlebt würden, als ob der eine nur als
Untergrund für die andere diente, sondern beide fließen in ein Ganzes
zusammen, das Schmerz und Erregung, Lust und Qual gleichzeitig ist,
in dem die Lust qualvoll und die Qual lustbringend in höchstem Grade
wird.
Für den Sadisten scheint mir zu gelten, daß er die Schmerzen, welche
er seinem Partner zufügt, zugleich irgendwie selbst miterlebt und in
diesem Miterleben ebenfalls Genuß findet. Wenn schon die „Sympathie"
im Sinne von Adam Smith (Theory of moral sentiment) nicht allgemein
gefunden werden mag, wenn sie gewiß nicht geeignet ist, darauf eine
Theorie der Wertung von Leiden anderer, Mitleid, Ethik zu gründen,
soweit hat diese Lehre doch wohl recht, daß ein Miterleben fremden
Leidens eine sehr häufige Erscheinung ist. Dieses Vermögen scheinen
die Sadisten zu großer Vollkommenheit ausgebildet zu haben. Was sie
den anderen tun, erleiden sie teilweise selbst in der Phantasie (vgl. dazu
ein Beispiel in dem Abschnitt über die Phantasien) derart, daß auch das
sadistische Erleben nicht nur aus der Quelle der Grausamkeit, sondern
ebenso aus der des erduldeten Leidens schöpft.
Ob das umgekehrt auch für den Masochismus gilt, ob hier die Phanta-
sie der Grausamkeit eine Rolle spielt, vermag ich nicht zu sagen.
Die Literatur über Sadismus und Masochismus ist ungeheuer groß, so-
wohl die wissenschaftliche wie die pseudowissenschaftliche, vor allem die
belletristische. Gerade dieser Umstand muß wiederum darauf hinweisen.
^ Z. B.: „Ein Mann, der an den Stellen mit den Nägelzeichen gezeichnet ist,
bringt in der Regel selbst ein festes Frauenherz zum Gleiten." Gezeichnet = zer-
kratzt, bemerkt zu dieser Stell© der so überaus gewissenhafte Kommentar.
442 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
daß wir es hier mit einem verständlichen Phänomen zvl tun haben, daß
es aus dem Boden der normalen Sexualität irgendwie erwächst. Ich ver-
füge zwar über keine Zählungen, doch scheint mir, daß z. B. die belle-
tristischen Werke — um ihren Kunsiwert handelt es sich dabei nicht — ,
welche algolagnische Abartungen schildern oder zumindest solche Zug©
verwerten, an Zahl diejenigen ganz erheblich übertreffen, welche homo-
sexuelle Beziehungen zum Gegenstand haben, obwohl es auch an solchen
nicht mangelt.
Was sonst noch etwa vorkommende sexuale Abartungen anlangt, so
scheint mir deren Behandlung nicht die Mühe zu lohnen. Man müßte
so ziemlich immer wdeder das gleiche wiederholen.
Wirft man einen Blick auf alle diese Erscheinungen, so drängt sich
einem immer wieder die schon berührte Frage auf: warum denn der eine
Mensch auf irgendwelche Einflüsse mit der Entwicklung einer Perversion
reagiere, der andere nicht. Wir hörten, daß eine besondere sexuale
Konstitution angenommen wird. Worin sie besteht, ob sie somatischer
Natur ist, ob sie als rein seelisch gedacht werden soll, wissen wir nicht.
Ich glaube nicht, daß ims das wundernehmen kann. Wir stehen hier
vor demselben Rätsel wie bei allen anderen Lebensäußerungen auch.
Alle setzen sie eine gemsse Anlage vorauf, ohne die äußere Einflüsse
niemals wirksam werden könnten. W. Stern sagt irgendwo ganz richtig,
wir könnten niemals eine Eigenschaft erwerben, wenn wir nicht die Dis-
position zu dieser Erwerbung mitbrächten. So auch hier; was aber Dis-
positionen seien, wissen wir nicht. Darüber Hypothesen auszuspinnen,
ist kaum Aufgabe des Psychologen, sicherlich hier nicht der Ort.
Es hat sich, darüber sind einige Worte vonnöten, Löwenfeld (76) be-
müht, das Wesen der Sexualkonstitution schärfer herauszuarbeiten. Er
operiert allerdings mit einem etwas verwaschenen Konstitutionsbegriff,
insoferne ihm Konstitution nicht nur das Angeborene, durch die Erbmasse
Bestimmte ist, sondern auch erworbene Beschaffenheiten. So sagt er:
,,Die ungünstigen Sexualkonstitutionen beruhen m. E. nur zum kleineren
Teil auf angeborener Veranlagung; sie sind weit vorwaltend die Folge von
Schädlichkeiten, welche auf das Indi\dduum in den ersten Lebensdezennien
einwirken. Unter diesen spielt die Masturbation zweifellos die Hauptrolle."
W^ir haben uns heute, wesentlich auf Grund der Arbeiten von Martins,
Tandler u. a., daran gewöhnt, als Konstitution nur die ererbte Beschaffen-
heit, Avie Tandler sagt, ,,das somatische Fatum des Individuums", anzusehen,
und bezeichnen alle im Laufe des individuellen Lebens auf den Organis-
mus modifizierend einAvirkenden Faktoren als konditionale.
Löwenfeld kennt folgende Konstitutionspaare:
a) eine robuste und eine schwächliche Sexualkonstitution, bestimmt
durch die sexuelle Leistimgs- und Widerstandsfähigkeit;
b) eine erethische imd eine torpide, bestimmt durch die sexuelle Er-
regbarkeit ;
c) eine libidinöse und eine frigide, bestimmt durch die sexuelle Be-
dürftigkeit ;
I
DIE AB ARTUNGEN 443
d) eine pleüiorischo und ein© anämisch© (dürftige), bo^liinrnl durch
don niilriti\»Mi Zustand d«^ SexualapparaU's;
e) eine siulistischo und masochistischo, bzw. sadistisch-inasochislische,
algolagnischo Sexualkonstitution.
Worin alx^r letzton Kiid(\s die Besondorhoiten solcher Konstitutionen
bestehen sollen, gi'hl auch aus dieses Autors .\usfüiinin;.,a'n nicht hei-\or.
Es muß überdies angemerkt werden, daß die Aufstellung des letzten
Paares dieser Konstitutionen, wenn sie nicht als angeboren angesehen
werden sollen, eigentlich keinen Erklärungswert beanspruchen kann.
Denn, wie immer wieder von den verschiedenen Autoren hervorgehoben
wird. Einflüsse, welche die Sexualentwicklung in eine abgeartetc Richtung
drängen könnten, dürften wohl in keines Menschen Leben vermißt werden.
Warum also der eine zum Sadisten Avird, der andere nicht, bleibt so
unerklärt wie zuvor. Wie gesagt, schon die Beeinflußbarkeit in einer
l>estimmten Richtung setzt ein dispositionelles, konstitutionelles Moment
voraus. Vorderhand bewegen wir uns hier noch völlig im Dunkel. Ob
und wie hier eine Mehrung unserer Einsicht möglich ist, bleibe dahin-
gestellt.
Zum Schlüsse dieses Abschnittes noch einige Bemerkungen über die
Sexualität der Geisteskranken. Man muß dabei unterscheiden
zwischen den tatsächlichen, deskriptiv faßbaren oder aus dem Verhalten
der Kranken heraus zu verstehenden psychosexualen Abläufen und den
genetischen Überlegungen, welche im Sinne psychoanalytischer Gedanken-
gänge in den psychotischen Symptomen Auswirkungen einer veränderten
Sexualität sehen wollen.
So behauptet z. B. neuerdings 0. Groß (/ig), daß die sadistische Sexuali-
tät der Paranoia, die masochistische der Schizophrenie zugnuide liege,
während Freud u. a. die Anschauung vertreten haben, die Paranoia er-
wachse auf dem Boden homosexueller Tendenzen usw. Das sind gene-
tische Spekulationen, welche die Psychopathologie interessieren mögen,
zur Vertiefung eines psychologischen Verständnisses m. E. aber nichts bei-
tragen.
Es ist ungemein schwierig, sich ein Bild vom Sexualleben der Psycho-
tischen zu machen, insbesondere dann, wenn wir den Eindruck einer Ab-
weichung vom Normalen gewinnen. Ist es schon nicht einfach, vielleicht
in vielen Fällen überhaupt unmöglich, sich das psychotische Erleben auf
anderen Gebieten anschaulich zu vergegenwärtigen, so entzieht sich das-
jenige innerhalb der psychosexualen Sphäre l"»egreifl icherweise — ist es
ja schon im Normalen, ja in ims selbst so ungemein schwer zu fassen —
um so mehr imserem Blicke. Sicherlich gibt es zahlreiche Fälle, in welchen
von einer Abänderung psychosexualen Erlebens nicht gesprochen werden
kann. Es partizipieren die es begleitenden, sich daran knüpfenden Phäno-
mene, Gefühle, Urteile usw. natürlich an der Störung, welche die Psychose
für die Gesamtpersönlichkeit mit sich bringt, das Grundphänomen aber
ist dasselbe wie beim Normalen geblieben. Anderseits sehen war Ab-
änderungen rein quantitativer Art, wenn man so sagen darf, Herabsetzun-
gen und Steigerungen des Begehrens, eine Verflachung der Objektwahl,
444 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
indem die individualisierenden Ansprüche immer geringer werden u.
dgl. m. Schließlich aber auch begegnen \At Äußerungen, die auf eine
grundsätzHche Wandlung des Erlebens hinweisen. Die bei Schizophrenen,
aber auch bei anderen Geisteskranken häufig vorkommenden, vielleicht
auf Abänderungen der Geschlechtsempfindung zurückzuführenden Aus-
sprüche wurden schon einleitend erwähnt. Auch der Sexualaffekt scheint
von Grund auf verändert sein zu können. Freilich, in welcher Weise,
ist nicht zu sagen. Soviel ich sehe, hat man auch dieser Frage deskrip-
tiver Psychopathologie bislang recht wenig Aufmerksamkeit zugewendet.
Eine, wenn man will, ebenfalls hierher zu zählende Abartimg soll
später in dem Kapitel über Liebe zur Sprache kommen, nämlich die Disso-
ziation zwischen „Sinnlichkeit" und ,, Erotik", wie Löwenfeld (76) sagt.
Es trifft aber diese Variationsmöglichkeit gleichermaßen die normale
wie die inverse oder perverse Sexualität und kann erst in einer Ebene
des Erlebens zustande kommen, in der mit dem unmittelbar Sexualen
noch andere Erlebensmomente eine innige Verbindung eingegangen haben.
Kurz ist schließlich die Frage zu streifen, welche Stellung denn
die sexual Abgearteten zu ihrer Sexualität einnehmen.
Man hört gelegentlich von solchen Persönlichkeiten den Ausspruch,
sie Avürden sich als vollkommen normal vorkommen, ihre Art sexualer
Tendenzen für völlig selbstverständlich ansehen, wenn sie nicht wüßten,
daß andere Menschen anders empfänden, daß das Strafgesetz ihr Ver-
halten bedrohe usw. Ich bin nicht ganz von der durchwegigen Aufrichtig-
keit dieser Äußerungen überzeugt. Es zeigen ja, wie angeführt wurde,
die Invertierten trotz allem vielfach eine deutliche Tendenz auf das andere
Geschlecht, ebenso die meisten, die sich ausschließlich in autoerotischem
Gehaben gefallen. Und ähnliches gilt für die anderen Abartungen. Hält
man daneben, daß viele dieser Menschen unter ihrer sexualen Beschaffen-
heit leiden, die sie oft genug zum Arzt führt, und zwar nicht nur
aus sozialen imd moralischen Gründen leiden, sondern deshalb, weil sie
irgendwo in sich doch den Trieb auf das normale Sexualobjekt und das
normale Sexualziel finden und diesem sozusagen nur der Weg versperrt
ist, so scheint mir, daß die überwiegende Mehrzahl bei völliger Ehrlich-
keit — vor allem gegen sich selbst — ein Wissen um die Abartung hätte,
oder besser gesagt, ihre Sexualität immittelbar als abgeartet erleben \vürde.
Das weitere Verhalten hängt natürlich von einer Reihe, in erster Linie
charakterologischen, aber auch äußeren Momenten ab. Viele ringen mit
ihren Trieben, sind im Grunde Sadisten, Homosexuelle usw., ohne je
diesen Tendenzen einen Einfluß auf ihre Handlungsweise einzuräumen.
Viele leben sozusagen nach beiden Seiten, abgeartet imd normal, neben-
einander, nacheinander. Eine nicht kleine Zahl verfällt durchaus der
Abartung, aus Widerstandsschwäche, die selbstverständlich eine relative
ist, zu messen an der Stärke des Triebes. Freilich, wie kann man je
entscheiden, wie stark ein Trieb sei, wie stark der Wille sein könnte.
Die Kämpfer und Sieger erleben oftmals, daß ihre in der Wirklich-
keit überwundenen Tendenzen in Träumen und Phantasien zum Diirch-
bruch kommen.
DIE ABARTUNGEN 445
Ich erwähnte schon, daß auch die Abartung in unechter Weise,
als Spiel, als Pose auftreUMi kann. Zuweilen ist sie nur das; es kann
einmal — ich kenne solche Fälle — in irgendeinem Kreise gewissermaJjen
Mode werden, sich homosexuell zu genieren oder als Sadist. Solche
Individuen werden wohl meist den Weg zur normalen Betätigung zurück-
finden. Es ist dann, »ie in dem Falle des SadisniiLS als Ausdruck der
prometheischcn Auflehnung, die betreffende .Vbartung nur S^Tnbol für
eine bestimmte Einstellung der Gesamtmentalität, hier zumeist eine Nei-
gung zum Anderssein, Besonderssein, einer Art Ästhetentum. Solche Indi-
viduen vermehren dann die Zahl der echt Abgearteten; ich bin über-
zeugt, daß sich unter den Lesern der ,, Sonne" — Organ des Reichsfreund-
schaftsbundes der Homosexuellen, das einer Notiz der ,, Deutschen
Medizinischen Wochenschrift" zufolge eben gegründet >vurde — zahl-
reiche solche Mitläufer befinden werden.
Aus diesem Grunde, und weil Sensationslust mehr als einen in eine
Bahn locken kann, die ihn zu Schwierigkeiten und vielleicht Lebens-
unfähigkeit führt, hat Isserlin (ög) vollkommen recht, wenn er sich
energisch gegen Blühers (i3, i4) Aufstellungen wendet, deren innere
Haltlosigkeit jedem kritischen Leser sich aufdrängen muß, die aber durch
die Art der Darstellung auf Jugendliche und Unerfahrene mehr als er-
wünscht einwirken mögen. Sie beruhen übrigens auf der, wie noch ge-
zeigt werden wird, irrigen Annahme, daß alle .Arten von Liebesbeziehungen,
ja von Beziehungen zvWschen Menschen überhaupt, letztlich in der Sexual-
sphäre gründen. Sie seien daher hier nur genannt, ohne weiter behandelt
zu werden.
Ob die Abartungen Degenerationserscheinungen seien oder nicht, ist
wesentlich eine Frage der Wertung, auf die ich nicht eingehen will.
Mißt man den Wert des Menschen an seinem Anteil an der Fortpflanzung
und Vermehrung der Rasse, des Volkes, so sind sie es natürlich. Mißt
man ihn an sonstigen Leistungen, so müssen sie es nicht sein, sowenig
der asexuelle oder sexual unbedürftige Mensch darum minderwertig sein
muß.
EROTISCHE PHANTASIEN, TRÄUME,
HALLUZINATIONEN
Wie andere Wünsche, Gedanken, Erlebnisse auch, spielen erotische
Elemente im Phantasieleben ihre Rolle. Insoweit würde eine besondere
Behandlmig der erotischen Phantasien eigentlich keine Berechtigung haben.
Dringt man indes in den Inhalt und wohl auch den Mechanismus und ^
die Form dieser Phantasien etwas tiefer ein, so scheint sich heraus-
zustellen, daß ihnen in mancherlei Hinsicht besondere Merkmale eignen,
die sie, wenn schon nicht gegen alle, so doch die Mehrzahl der sonstigen
Phantasien kennzeichnen und die einer näheren Betrachtung wohl wert
sind.
Schon der Umstand, daß die erotische Phantasie einen besonderen,
in gewissem Sinn als exzeptionell zu bezeichnenden somatischen Zustand
mit einschließt, hebt sie aus der Gesamtmasse der übrigen Phantasie-
erlebnisse heraus. Mit Vorbedacht wähle ich den imbestimmten Ausdruck,
es „schließe die Phantasie den körperlichen Zustand mit ein", um über
die wechselseitigen Abhängigkeiten nichts zu präjudizieren. Es wird
von diesen alsbald einiges zu sagen sein.
Phantasieerlebnisse, mögen sie nun dauernd als solche bewußt bleiben
oder den mehr oder weniger ausgeprägten Wirklichkeitscharakter des
Tagtraumes annehmen, sind doch m. E. in der überwiegenden Mehrzahl
der Fälle dadurch ausgezeichnet, daß die in ihnen erlebten Gefühle
ebenfalls der Sphäre des Phantasierten angehören, Phantasiegefühle sind.
Nur in relativ seltenen Momenten erlangt ein solches Phantasiegefühl
durch einen hier nicht zu untersuchenden Umwandlungsprozeß den Rang
eines echten Erlebnisses, so daß auch deutliche Nach^virkungen im nicht
mehr phantasiemäßigen Erleben zustande kommen; etwa die gehobene
Stimmung, die ein Tagtraum, in dem die Erlangung einer erstrebten
sozialen Stellung vorgespiegelt wurde, dauert an, oder die gereizte Stim-
mimg, in der sich der Träumende gegen irgendeine Person befunden
hat, bewirkt, daß er dieselbe nunmehr auch in der Wirklichkeit brüskiert
u. dgl. m. Im allgemeinen aber scheinen mir die Affekte und insbesondere
ihre körperlichen Begleiterscheinungen auch in recht lebhaften Tag-
träumen wenig ausgeprägt zu sein, doch immer noch den Charakter des-
Vors teilungsmäßigen beizubehalten i.
Anders aber steht es mit den Phantasien sexuellen Inhaltes. Sie gehen
wohl immer mit einem real erlebten Sexualaffekt einher; sie stammea
entweder aus einem solchen, oder sie führen in einen solchen hinein.
^ Damit soll über die Beziehungen von Vorstellung und Wahrnehmung nichts
ausgemacht sein. Die Ausdrucksweise obigen Passus ist wohl die üblich»; inwieweit ich
auch die übliche Auffassung des Problems teile, gehört nicht hierher.
EROTISCHi; I'IUNTASIEN. TRÄUME. HALLUZINATIONEN 447
Diese Beziehungen sind aber keine ganz einfachen, auch in vioh'ii Fällen
nicht ohne woilon^s uiul /uwcilon auch nie vollkonirnon durchsiclilig'.
Soweit meine Erfahrung reicht, scheint es liier zwei extreme Ty|wn
zu geben, zwischen denen natürlich allerhand t'Jbergänge vorkommen.
Auch sind diese Typen keineswegs so zu denken, dali etwa ein und der-
selben Person nur ein Typus eigentümlich wäre; vielm<*hr können die
Phantasiei; eines Individuums b<nden Typen angehören.
Der eine, wie es scheint, beträchtlich häufigere Typus ist der, daß
(Uo Phantasie durch eine spontan oder anscheinend spontiui oder im
Anschluß an ein aktuelles Erlebnis bzw. an eine Erinnerung auftretende
sexuelle Erregung herbeigeführt wird. Die nach irgendeiner Lösung
drängende Sexualerregung gibt den Boden ab, auf dem die erotische
Phantasie erwächst. Im Ablauf dieser Phantasie gibt es unzählige
Varianten, nicht nur was den — später noch zu besprechenden —
Inhalt anlangt, sondern auch hinsichtlich der Rolle, welcher den Phan-
tasieerlebnissen in der Erledigung, „Abfuhr", der Sexualerregung zukommt.
Wie es denn überhaupt unmöglich ist, den Formenreichtum des Phantasie-
erlebens — vielleicht überhaupt, gewiß innerhalb der erotischen Sphäre —
zu erschöpfen, so entzieht sich auch hier die Mannigfaltigkeit des
Materials einer umfassenden Darstellung und Klassifizierung; ganz ab-
gesehen davon, daß unsere Kenntnisse gewiß noch außerordentlich lücken-
hafte sind.
Wiederum scheint es mir hier innerhalb dieses Typus zwei Extreme
der Verlaufsformen zu geben. In dem einen Fall erzwingt der Ablauf
der somatischen Prozesse eine entsprechende Gestaltung der Phantasie-
erlebnisse, in dem anderen Fall scheinen sie mehr selbständig eine die
Erregimg steigernde und zur Lösung führende Funktion auszuüben.
Solche Personen sind oft überhaupt nicht imstande, willkürlich erotische
Phantasien zu produzieren; sie sind sozusagen den Launen ihrer körper-
lichen Sexualität ausgeliefert.
Der zweite Typus ist durch die — anscheinend recht seltenen —
Fälle repräsentiert, in welchen den Sexualphantasien durchaus eine primäre
Stellung zukonunt und sie erst die somatische sexuelle Erregung nach
sich ziehen. Ja, es kommt sogar vor, daß der Betreffende auf alle
Weise eine solche körperliche Erregung herbeizuführen trachtet, weil
die erotischen Phantasien ihn quälen und er sie erst durch den Ablauf
des somatischen Vorganges loswerden kann. So berichtete mir ein
2/ijähriges Mädchen, sie werde zuw^eilen von Gedanken, Wünschen,
Phantasien sexuellen Inhaltes überfallen, die sie aufregten und beun-
ruhigten, ihr Denken vollständig in Anspruch nähmen ; dabei fehle
jegliche körperliche sexuelle Erregung. Sie greife vielmehr zu allerlei
Hilfsmitteln und Manipulationen, um diesen körperlichen Zustand herbei-
zuführen. Wenn einmal eine Erregung gewissen Grades eingetreten sei,
so träte sozusagen eine Verschmelzung der somatischen und psychischen
Abläufe ein, die dann geraeinsam im Orgasmus ihre Beendigung fänden.
Fast niemals aber kam es, nach den Angaben der Referentin, zu einem
spontanen Auftreten der Sexualerregung durch die Phantasien allein,
ohne Mithilfe von körperlich erregenden Eingriffen. Nun mag das
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
448 _^___
ein seltener und wdrklich extremer Fall sein ; es handelt sich dabei überdies
um eine zweifellos von der Norm immerhin einigermaßen abweichende
Persönlichkeit.
Häufiger aber scheinen Fälle zu sein, die diesem eben erwähnten doch
recht nahe stehen. Das sind Individuen, bei welchen die zunächst auf-
tretenden erotischen Phantasien auch nicht zur Erledigung im Sexual-
affekt führen, sondern die gezvmngen sind, gewisse, meist typisch wieder-
kehrende und geläufige Vorstellungen zu Hilfe zu rufen, um die somati-
schen Phänomene auftreten zu lassen. Ein 2 2 jähriger Student berichtete,
daß er öfters von einer unbestimmten, seiner Angabe nach rein psychischen
sexuellen Stimmung ergriffen werde — die Ausdrucksweise ist die des
Betreffenden — , welche ihn aufrege, die aber nie zu einer Lösung
komme, wenn er nicht eine bestimmte, sadistisch gefärbte Phantasie usw.,
immer die gleiche, mllkürlich damit verknüpfe.
Eine Mittelstellung nehmen vielleicht jene Fälle ein, bei welchen eine
körperliche sexuelle Erregung zunächst ohne begleitende Phantasien sich
einstellt und bei welchen — wiederum meist für das Individuum
typische — Phantasien mllkürlich wachgerufen werden, um die Erregung
zu steigern und der Lösung entgegenzuführen.
Umgekehrt kommt es häufig vor, daß manche Phantasien immer
wieder und wieder vor die Augen geführt werden und auf diesem W^e
ein allmähliches Ansteigen der körperlichen Erregung bewirkt wird.
Für die Psychologie dieser Vorgänge ist es, nebenbei bemerkt, ohne
Belang, ob die Erledigung der Sexualspannung allein auf dem Wege
des Phantasieerlebnisses oder unter Zuhilfenahme körperlicher Mani-
pulationen, in erster Linie masturbatorischer, oder gelegentlich auch
durch den Geschlechtsverkehr erfolgt.
Es Avürde, glaube ich, zu weit führen, hier noch weitere Beispiele von
Varianten dieser Zusammenhänge beizubringen. Es mag das Angemerkte
genügen, um auf die Polymorphie dieser Abhängigkeiten hinzuweisen,
die weiter aufzuklären eine vielleicht nicht undankbare Aufgabe wäre.
Natürlich gibt es Mischformen, bei welchen es gar nicht möglich
ist zu entscheiden, ob der Phantasie oder der körperlichen Erregimg
die Rolle des primären Momentes zukommt, bei denen beide anscheinend
vollkommen simultan auftreten. Es dürfte dies für die überwiegende
Mehrzahl der Fälle gelten.
Die Anlässe im weiteren Sinne zur erotischen Phantasie sind ebenfalls
mannigfacher Art. Genau genommen kann man hier von einem Anlaß
nur in jenen Fällen sprechen, in welchen die somatische Erregung sich
erst im Verlaufe der Phantasie einstellt. Vielfach kommt dabei der
Phantasie die Aufgabe — bewußt oder unbewußt; ich glaube, meist
ersteres — zu, die ihres Lustcharakters wegen gesuchte Erregung herbei-
zuführen.
Im übrigen fallen natürlich die Anlässe zur erotischen Phantasie-
tätigkeil vielfach mit den schon früher besprochenen Anlässen für das
Auftreten des Sexualaffektes überhaupt zusammen.
Eine Zwischenbemerkung. Die erotische Phantasie ist ein Erlebnis
der objektiven oder subjektiven Einsamkeit; wobei ich unter subjektiver
EROTISCHE PHANTASIEN, TRAUME, HALLUZINATIONEN 449
Einsamkeit das Sichallcinfühlcn auch xinter Menschen, den Abschluß
von der Umgebung vei"standcn haben will, der zuweilen als ,, Geistes-
abwesenheit" bemerkt, sehr häufig auch übersoiion wird, sich auch gar
nicht in einem besonderen Gehaben auszudrücken braucht. Auch hier
sind die Beziehungen offenbar verschiedener Art. Zuweilen scheint diese
subjektive Einsamkeit Folge des erotischen Tagtramnes zu sein, zuweilen
scheint sie ihm voranzugehen imd nur sein Auftreten zu begünstigen.
Freilich mrd man dabei immer der Möglichkeit gedenken müssen, daß
unlxMiierkto sexuelle Einstellungen schon die Herstellung der Einsamkeit
veranlassen. Ferner: die erotische Phantasie ist die Folge der physischen
oder psychischen Unmöglichkeit, den Phantasieinhalt selbst oder ein
ilim adäquates Sexualerleben zu realisieren. Über den Sinn der Be-
stinmnung „adäquat" >vird später noch zu reden sein. Einsamkeit und
Unmöglichkeit der Realisierung sind sozusagen negative Anlässe der
Phantasie.
Es ist dadier begreiflich imd ja auch allgemein bekannt, daß die eroti-
sche Phantasie dem jugendlichen Alter, vor Ermöglichung des Geschlechts-
verkehres, eigentümlich ist sowie allen jenen, die sich in analoger Lage
befinden, was weiterer Ausführung nicht bedarf.
Bemerkenswert erscheint folgender Mechanismus. Während es bei ande-
ren Affekten kaum vorkommen dürfte, daß ein zu ihrer Auslösung geeig-
netes Erlebnis in dem Augenblicke seines Auftretens sozusagen an der
Affekterzeugung verhindert, zu ihr gewissermaßen nicht zugelassen wird,
um erst später hervorgeholt, reproduziert und zur Herbeiführung des
affektiven Zustandes verwendet zu werden, ist dies in der Produktion
erotischer Phantasien ein imgemein häufiger, man kann fast sagen, all-
täglicher Vorgang. Es ist dies wohl zu unterscheiden von jenen Fällen,
in denen ein affektauslösendes Erlebnis in der Erinnerung neuerdings
den Affekt, unter Umständen sogar in verstärktem Maße, auftreten läßt.
Etwa: man ärgert sich über irgendein Vorkommnis, und wenn man
später sich desselben wieder erinnert, ärgert man sich noch einmal.
In solchen Fällen war aber allemal, auch im Augenblick des ersten
Erlebens, der betreffende Affekt, also z. B. der Ärger, da, auch wenn man
ihm nicht freien Lauf lassen konnte. Ferner ist auch nicht jenes Ver-
halten gemeint, in welchem ein Affekt bei der Erinnerung erst auftritt,
weil mmmehr erst, im Laufe des Überdenkens, eine Seite des Erlebens
hervortritt, bemerkt wird, welche affektauslösend zu wirken vermag.
Es kommt nicht so selten vor, daß einem erst später klar mrd, daß
man sich über ein bestimmtes Ereignis, eine Äußerung eines Dritten z. B.,
eigentlich hätte ärgern sollen, weil sie so oder so gemeint war, und
sich dann auch wirklich ärgert. Alles dieses gibt es natürlich auch auf
sexualpsychologischem Gebiete. Davon aber ist hier nicht die Rede.
Es verläuft das hier gemeinte Erlebnis ungefähr so: Jemand liest
einen Roman und trifft darin auf eine Stelle, die an und für sich geeignet
scheint, als Anknüpfungspunkt für erotische Phantasien oder auch unver-
ändert als deren Inhalt zu fungieren. Dies wird sozusagen nur im Vorüber-
lesen gemerkt, ohne daß es zur Produktion einer Phantasie kommt, und
sehr oft anscheinend auch, ohne daß ein Sexualaffekt selbst andeutungSr-
29 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
450 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
weise anklingt. Irgendwann einmal wdrd dann diese Romanszene hervor-
geholl und zum Anlaß genommen, eine erotische Phantasie zu entwickeln
und den Sexualaffekt zu erzeugen. Insbesondere jene Individuen, welche
die sexuelle Erregung be>vußt aufsuchen und — sei es aus mangelnder
Erfahrung oder aus sonst irgendwelchen Gründen — unmittelbar körper-
lich erregende Mechanismen meiden, bedienen sich dieses Verfahrens.
Begreif hcherweise spielt es daher auch in der Sexualpsychologie der
Jugendlichen eine nicht unerhebliche Rolle, die aber keineswegs auf diese
Altersstufe beschränkt ist.
Selbstverstiindlich bleibt immer die Möglichkeit offen, eine im Augen-
blicke des aktuellen Erlebens unbe\vußt ablaufende sexuale Erregung
anzunehmen, die dann eben in der Erinnerung manifest werde. Beweisen
läßt sich solche Behauptung nicht, es sei denn, daß man der psycho-
analytischen Methode eine Beweiskraft zuerkeimt, die ich nicht anzu-
erkennen in der Lage bin. Aber auch im Falle, daß die Dinge tat-
sächlich so lägen, schiene mir der skizzierte Mechanismus immer noch
sich aus den sonstigen, ähnlichen herauszuheben.
Ganz besonders vielgestaltig ist nun der Inhalt der erotischen Phantasien.
Bei jenen Individuen, die den Geschlechtsverkehr schon kennengelernt
haben, ist der Inhalt sehr oft — aber keineswegs immer — durch die
Erinnerung an einen konkreten Sexualakt gebildet. Beispiel: Sexual-
phantasien in der Trennung. Dabei ist die Phantasieleistung eine relativ
geringe.
Andere schon steht es mit jenen Indinduen, welche zwar den Sexual-
akt erfahren haben, ihn aber in der Phantasie mit einer anderen Person
vollziehen, als es jene war oder waren, welche im realen Erleben den
Partner abgaben. Dieser Substitutions Vorgang erfordert schon einen be-
trächtlicheren Aufwand produktiver Phantasie. Es verdient angemerkt
zu werden, daß — was ebenfalls sattsam bekannt ist — diese Phantasie
auch während des effektiven Geschlechtsverkehres mit einem ungeliebten
oder unbegehrten Partner vorkonmit, wobei dann freilich die Bewußtheit
des Aktes eine größ<ere ist als sonst.
Diese Unterschiede erstrecken sich auf das „Sexualobjekt". Es gibt
deren mehr. Die ganze Vielgestaltigkeit sexuellen Erlebens spiegelt sich
begreiflicherweise in den Inhalten der erotischen Phantasien mder.
Es gibt Menschen, für welche das phantasierte Sexualobjekt lange Zeit
hindurch immer dasselbe bleibt. Dabei kann es eine wirklich existierende
Gestall oder ein reines Phantasieprodukt sein. Eine Zmschenstellung
nehmen jene Fälle ein, bei welchen als Sexualobjekt eine zwar gesehene,
vielleicht auch gekannte Persönlichkeit fungiert, die aber dem Phanta-
sierenden im ^virklichen Leben ganz ferne steht. Es gibt z.B. Schauspieler-
schwärmereien von jungen Mädchen, wo der ,,. Angebetete" auch den Partner
der erotischen Phantasie abgibt; vielfach allerdings führt solche Schwär-
merei, auch wo sie zweifellos erotischen Charakter hat, nicht so weit.
Bemerkenswert ist vielleicht, daß dem phantasierten oder in der Phantasie
vergegenwärtigten Sexualobjekt eine auffallende „Treue", wenn man so
sagen darf, gewahrt ^vi^d. Auch Menschen, welche in ihrem sexuellen
Begehren und auch in der Befriedigung desselben mit den Objekten viel-
1
nROTiscHi: i'iixM \^ii:n. riuiMi:. hm.ij /.iwhonen 451
fach NMvhseln, halten oft in iliron IMianlasien an don altgowohnlx^ Ubjektcn
xind — wie \>'ir gleich hören werden — an den Zielen fest, so tiaß
OS zu einer Fixienmg ganz Itcsliuiinlcr, für das Individuum charakteristi-
scher IMiantasioszenen oder Szenen folgen koninien kann.
Der extreme (InMizfall des phantasierten Sexualobjektes ist wohl der
Incubus bzw. Succubus. In den ,,Nouvelles magiqut^" des Kcmy do
Gourmonl wird solch eine Incubusphantasie anschaulich geschildert.
Woher dieses Beharrungsvermögen des phantasierten Sexualobjektes
rülirt, ist eine Frage für sich, die zweckmäßig zusammen mit der nach
der Konstanz der ganzen Szenen überhaupt zu behandeln sein wird.
Hinsichtlich des Sexualobjektes der erotischen Phantasien finden sich
alle Abartungen, die das normale oder pathologische Sexualleben bietet:
hetero- und homosexuelle Phantasien, Phantasien sodomis tischen Inhaltes;
autoerotisohe Phantasien ohne Beziehimg auf einen Partner scheinen
ebenfalls vorzukommen. Sie ^^'ürden offenb<ir unter den von der Psycho-
analyse formulierten Begriff des Narzißmus fallen. Für den Psychologen
bieten indes diese Varianten deshalb kein besonderes Interesse, weil ja
die Einstellung des Phantasierenden zu seinem Objekt im Grunde dieselbe
bleibt, welcher Art immer dasselbe sein mag. Es wiederholt sich das,
was oben schon über die „Perversionen" des Sexuallebens angemerkt
werden konnte.
Dasselbe gilt für das „Sexualziel". Jegliche Form sexueller Befriedigung
zunächst kann auch in der Phantasie erlebt werden. So findet man
normal-heterosexuelle imd homosexuelle Phantasien, solche exhibitionisü-
schen Charakters, solche mit sadistischem oder masochistischem Einschlag
in mehr oder weniger deutlicher Ausprägung usw. Sehr häufig besteht
dabei eine auffällige Diskrepanz zwischen dem realen und dem phanta-
sierten Sexualleben, eine Tatsache, auf welche die Psychoanalyse wiederholt
hinge>viesen hat, die sich aber auch dem Nichtpsychoanalytiker durch-
aus aufdrängt und ohne jede psychoanalytische Technik aus den spon-
tanen Angaben entnommen werden kann. Ein völliges Auseinanderfallen
des Phantasielebens und des l'ealen Lebens ist vielleicht nicht allzu
häufig". Vielfach findet eine Art Kompromiß derart statt, daß die Sexual-
ziele der Phantasie auch bei der realen Sexualbefriedigung mitklingen,
daß z. B. den normalen Geschlechtsverkehr irgendeine Phantasie anderer
Art begleitet.
Auch die phantasierten Sexualziele jener Individuen, welche einen kon-
kreten Geschlechtsverkehr noch nicht kennengelernt haben, weisen einen
großen Formenreichtum auf. Es scheint dabei die ,, sexuelle Aufklärung"
eine recht untergeordnete Bolle zu spielen. Offenbar genügt auch ein
ausgebreitetes theoretisches Wissen um den Vorgang des Geschlechts Ver-
kehres nicht, um ihm die für die Herbeiführung der gesuchten Spannung
und Lösung nötige Durchschlagskraft zu verleihen.
Entkleidungsszenen spielen unter den Phantasien dieser Menschen eine
große Rolle. Bei jungen Mädchen scheint die Vorstellung des Sich-
entkleidens oder auch des Entkleidetwerdens durchaus zu überwiegen;
fast nie scheint die Entkleidung des Mannes vorzukommen. Auch diese
Entkleidungsphantasien sind sehr vielgestaltig. Es kann tatsächlich eine
29*
452 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ganze Entkleidungsszene erlebt werden, oder die Phantasie setzt sofort
mit dem Bilde des Entkleidetseins ein. Die phantasierte Situation ist zu-
meist die, daß das Mädchen sich vor einem bestimmten, sie erotisch
interessierenden Mann entkleidet. Ich kenne aber auch Fälle, bei welchen
der Mann zwar als gegenwärtig, man möchte beinahe sagen: nur gedacht
wird, seine Persönlichkeit aber keine weitere Bedeutung hat, sozusagen
nur den Mann überhaupt vertritt; begreiflicherweise kann bei solchen
Individuen, wenn schon das Bild des Mannes konkreter, anschaulicher
erlebt wird, sich sehr leicht ein Wechsel der Personen vollziehen. Viel-
leicht kommt es auch vor, daß die Entkleidungsphantasie allein, ganz
ohne Beziehung auf einen Zuschauer — der, nebenbei bemerkt, natürlich
bei Homosexuellen dem gleichen Geschlecht angehört — , als vollwertiges
Sexualerlebnis auftritt. Welche Beziehungen dabei zu jener Einstellung
obwalten, welche von der Psychoanalyse als „Narzißmus" beschrieben
wird, bleibe dahingestellt. Ebensowenig soll uns die Frage beschäftigen,
inwieweit hier in der Breite des Normalen etwa exhibitionistische Faktoren
am Werke sind.
Beim Manne bzw. Jüngling nimmt die Entkleidungsphantasie zumeist
die Form an, daß ein weiblicher Partner entkleidet wird oder sich vor
dem Betreffenden entkleidet. Nur d^r passiv-homosexuell Empfindende
dürfte sich der Phantasie einer Selbstentkleidung vor einem anderen hin-
geben. Es scheint mir aber die Entkleidungsphantasie beim weiblichen
Geschlecht häufiger vorzukommen, indem zwar die Nacktheit der Frau,
nicht aber die Entkleidung die Hauptrolle in den männlichen Sexualphan-
tasien spielt.
Die Gefühlsbetonung dieser Phantasien ist oft eine recht komplizierte.
Bei der Frau wird auch das Phantasieerlebnis zuweilen ebensosehr als
lustbringend als auch als peinlich empfunden, indem die Scheu vor der
Entblößung mitspricht. Vielfach allerdings fehlt den Phantasien dieser
Neben ton; sie werden geradezu deshalb aufgesucht, weil in ihnen dem
Individuum Verhaltungsweisen möglich sind, die ihm in der Wirklichkeit
nicht nur aus äußeren, sondern vornehmlich aus inneren Hemmungen
heraus versagt bleiben. Femer verdient angemerkt zu werden, daß auch
das peinhche Gefühlsmoinent seinerseits eine Lustkomponente mit sich
führen kann, wenn man will, ein masochistischer Zug, in welchem sich
eine gewisse Freude daran ausspricht, sei es als Opfer für den Geliebten
die Unannehmlichkeit auf sich zu nehmen, sei es, weil von vornherein
das Erlebnis „ambivalent" ist. Umgekehrt enthält die männliche Phan-
tasie der Entkleidung der Frau durch den Mann eine, entsprechend als
sadistisch zu bezeichnende Nuance.
In vielen Fällen genügt diese Phantasie zur Herbeiführung nicht nur
der sexuellen Erregung, sondern auch der Lösung derselben. Weder
erfälirt die phantasierte Szene eine weitere Ausgestaltung, noch muß
es zu körperlichen Eingriffen kommen. (Selbstverständlich dient oft
genug die Phantasie nur dazu, um jenen Grad sexueller Erregung zu
erzeugen, der die Erreichung der Befriedigung durch autoerotische Hand-
lungen ermöglicht.)
I
EROTISCHE PHANTASIEN. TRÄUME. HALLUZINATIONEN 453
So berichtete mir ein aajähripos Mädchtm, das an psychogcmni .\ngslriislän(len
z\v«-ifello» sexuellen Urspningt«* litt, dali sie zwar oft ihre Phantasien .lurcl» maslur^
batorische Manipulationen abschließo, aber nicht selten auch ohne solche lur Befriedi-
gung gelange. LK<ii Inlialt bildete stets die Szene des Sich-Entkleidens vor einem
Manne — infoige der außerordentlich anspreclibaren Similichkeit des Mädchens gewöhn-
lich desjenigen, den sie gerade zuletzt gesehen, gesprochoüi hatte. Sie hatte nie mil
einem Manne verkehrt, war aber über das Wesen des Geschlechtsaktes theoretisch
unterrichtet. Einmal übrigens fand sie sozusagen den Mut, ihre Phantasie zu venvirk-
lichen. Sie provozierte oder simulierte — schwer zu entscheiden — , während sie sich
im Bade befand, einen hysterischen .VnfaJl, so daß die Umgebung sie für schwer erkrankt
hielt, und fand so, wie sie selbst nachträglich mir zugestand, die Gelegenheit, tat-
sächlich sich unbekleidet den Blicken eüies Mannes, des zugezogenen Arztes, auszu-
setzen. Diese wirklich erlebte Szene verwob sie späterhin mit ihren Entkleidungsphantasien.
Oft aber schließen sich an diese Phantasien oder verbinden sich von
vornherein mit ihnen noch weitere Elemente. Etwa: die Phantasie der
Berührung, des Kusses u. dgl.; selten, vielleicht gar nicht, wie gesagt,
eine Phantasie des tatsächlich vollzogenen Aktes. Manchmal begegnet
man zwar Angaben, die zur Auffassung verleiten könnten, daß dennoch,
aus dem bloßen Wissen heraus, ohne den Geschlechtsverkehr tatsächlich
erlebt zu haben, derselbe phantasiert werde oder zumindest eine Phan-
tasie auftrete, die den Verkehr darstellen soll. Man könnte, in An-
lehnung an psychoanalytische Gedankengänge, daran denken, daß un-
bewußt gewordene, verdrängte infantile Sexualerlebnisse, so der Anblick
des Geschlechtsverkehres, dafür das Material abgeben. Das mag sein;
meine Erfahrung erlaubt mir nicht, die Entscheidung zu fällen. Indes
scheint mir zuweilen doch ein etwas anderer Sachverhalt vorzuliegen.
Es ist nämlich keine eigentliche Phantasie des Geschlechtsaktes, die den
-\bschluß bildet und die Spannungslösimg herbeiführt oder begleitet,
sondern nur ein mehr weniger unanschaulicher Wunsch: würde ich doch
den — mir im übrigen imbekannten — Geschlechtsakt erleben, welcher
mir volle Befriedigung gewähren würde.
So gab ein 26 jähriges — eines organisch-peripheren Nervenleidens wegen behan-
deltes — Mädchen an, sie habe in Augenblicken der stärksten, unmittelbar zur Lösung
drängenden geschlechtlichen Erregung den Gedanken, es sollte doch wenigstens ein
Hund kommen und sie befriedigen. Sie bestritt durchaus, irgendeine Phantasie an-
schaulichen Charakters mit diesem Gedanken zu verknüpfen, und konnte sich auch gar
keine konkrete Vorstellung davon machen, wie diese Befriedigung eigentlich vonstatten
gehen sollte.
Es darf, diese Einschaltung ist vielleicht nicht unzweckmäßig, nicht
Avundernehmen, daß die hier angezogenen Fälle überwiegend Frauen be-
treffen. Es rührt dies daher, daß man von jungen Menschen, in den
ersten Jahren nach der Pubertät, außerordentlich schwer eingehendere
Auskünfte erhält, nicht nur, weil sie eine besondere Scheu an den Tag
legen, davon zu sprechen, sondern auch deshalb, w^edl sie zu sehr noch
unter dem Eindrucke der Neuartigkeit des Sexualerlebens stehen, zu wenig
imstande sind, dazu einigermaßen objektiv Stellung zu nehmen. („Vigi-
lantis est, somnium narrare." Seneca.) Der junge Mann aber gelangt
meist recht früh zur realen Sexualerfahnmg, deren Erleben und vor
allem deren leicht erreichbare beliebige Wiederholung die erotischen Phan-
tasien in einer großen Mehrzahl von Fällen zurückdrängt, fast immer
aber die lebendige Erinnerung an die Phantasieerlebnisse der vorange-
454 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
gangenen Jahre boeinträchtigt. Dagegen sind sehr viele Mädchen gezwun-
gen, ihre Erotik auch in reiferen Jahren ausschließlich in Phantasien sich
auswirken zu lassen.
Während die Phantasien, etwa der Entkleidung oder eines irgendwie
gestalteten GeschlechUsverkehres, eine ziemlich einfache Struktur aufweisen,
gibt es anderseits solche, die ungemein kompliziert aufgebaut sind; nicht
nur insofern, als die phantasierte Szene eine reichhaltige ist, sondern
insbesondere hinsichtlich der Rolle, welche der Phantasierende selbst
dabei spielt. Es ist natürlich unmöglich, dieses hiermit aufgeworfene
Problem erschöpfend zu behandeln, vor allem deshalb, weil dadurch ein
Eingehen auf die verworrene und auch noch wenig durchforschte Frage
nach den Weisen des Icherlebens in den Phantasien notwendig \vürde.
Von der Vielgestaltigkeit und Verflochtenheit der dabei auftretenden Ele-
mente mag zunächst eine Beobachtung ein Bild geben.
Es handeil sich um einen niinmehr 27jährigen, akademisch gebildeten, nicht be-
lasteten, und, soweit sich dies ermitteln ließ, auch keineswegs psychoneurotisch kon-
stituierten Mann, verheiratet, Vater eines gesunden, einjährigen Mädchens. Trotz nor-
malen, oft ausgeübten Geschlechtsverkehrs hat er eine eigenartige, aus frühen Kind-
heitsjahren datierende Phantasie nicht aufgegeben. Diese wird folgendermaßen be-
sclirieben: Das für mich sexuell erregende Moment ist die Voi-stellung der unbefrie-
digten Erregung einer Frau, einer Erregung, die ich mir geradezu als qualvoll vor-
stelle, zuweüen von dem ausgesprochenen Charakter körperlichen Schmerzes. Ich emp-
finde dabei die eigene sexuelle Erregung als die der phantasierten Frau, meinen eigenen
Körper als den ihren. Es ist keine bestimmte Frau, wenigstens in den meisten Fällen,
obwohl es auch vorkommt, daß irgendeine Frauengestalt, die ich gegenwärtig kenne
oder einmal kannte, das Substrat abgibt. Ich befinde mich während dieser Phantasien
sozusagen in einem Doppelzustand: einmal als die sexucJerregte, darunter leidende Frau
und zugleich als ein dies genießender Zuschauer. Oft findet auch dieser szenische Kern,
den ich soeben beschrieben habe, einen Ausbau dahin, daß die betreffende Frau
ihre Unbefriedigung und Qual einem Manne — mir, aber nicht mir als dem Dr. X.»
sondern mir, als einem nicht näher definierten Zuschauer, der doch irgendwie ich bin,
gesteht, eine Art Erleichterung in diesem Geständnis und zugleich in der Entblößung
vor dem Manne, ja in der Vornahme masturbatorischer Handlungen vor ihm sucht.
Im Ablauf dieser Phantasie vollzieht sich dann eine plötzliche Wandlung, ich möchte
»a^en Umschaltung. Denn während ich zunächst als Zuschauer, und zwar auch als
erotisch erregter, aber in der Phantasie doch mehr weniger unbeteiligter, indifferenter,
durch die Indifferenz die Qual der Frau geradezu steigernder Zuschauer fungiere,
und die an mir selbst vorhandene sexuelle Erregung wesentlich als die der phanta-
sierten Frauengestalt gedacht wird, springt in dem Augenblicke, in welchem meine
eigene Erregung sich dem Höhepunkt nähert, diese sozusagen auf mich um. Zwar
M-ird noch durch einige Momente die Fiktion der erregten Frau festgehalten; zum
Schlüsse aber wird die Erregung und Befriedigung durchaus als die eigene empfunden.
Zu dieser etwas eigenartigen, wie ich glaube, aber durchaus nicht als
sexualpathologisch zu wertenden Beobachtung ist anzumerken, daß sich
hier in der Phantasie die, wie oben beschrieben, auch in der Realität
wirksame Bedeutung der Erregung des Partners kundgibt. Daran ist
nichts Merkwürdiges. Das Sonderbare liegt in der Eigenartigkeit des
Ich Verhaltens. Es scheint mir kein Anlaß vorzuliegen, von einer wirk-
lichen Ichspaltung zu reden. Es wird nur die eigene Erregung in eine
Phantasiegestalt gewissermaßen hinaus verlegt. Eine Spaltung liegt schon
deshalb nicht vor, weil der hinausverlegte Sexualaffekt doch auch irgend-
wie zugleich als der eigene erlebt wird. Es ist dies offenbar ein Ausdruck
der früher beschriebenen Bipolarität.
EROTISCHE PHANTASIEN. THÄIME. HALLIZINATIONEX 455
Eine weitere Frage ist die nach der Hi'rkunft des in den erotischen
Phantasien verwerteten MaU>riales. Es wurde schon darauf hingewiesen,
dali konkrete Sexualerlehnisse oft wiinler liervorgeholt und phantasie-
niälSig neuerdings thirchhiufen w^'rden. Dalx'i köntu'u unUjr rnisUinden
Erlebnisse, die im Augenblick ihres wirklichtMi \ (jrkonnnens gar nicht
als erotisch tingiert erlebt wurden, einen hohen erotischen Wert akqui-
rieren. Andererseits spielen auch niemals wirklich erlebte, sondern nur
angestrebte Situationen (Entkleidungsphantasie) eine Rolle. Vielfach
findet man den \organg der Identifikation mit einer Romanfigur, welche
derartige Erlebnisse hat. Darin liegt nicht zum geringsten der /Vnreiz
zur Lektüre erotischer Romanliteratur, insbesondere für jugendliche Men-
schen. Sie suchen nicht so selir die Erregung, welche ihnen durch das
Lesen unmittelbar geboten wird, als vielmehr nach Material zum Aufbau
ihrer Phantasien, die sich teils unmittelbar an die Lektüre anschließen
— abendliches Lesen im Bett, wo dann das Buch offen liegen bleibt und
nicht weitergelesen wird — , teils nach dem oben beschriebenen Mecha-
nismus zu einem späteren Zeitpunkt ausgesponnen werden. Dabei wird
entweder die betreffende Szene glatt nachgespielt oder aber ausgebaut.
Sehr oft, ich glaube, in der Melirzahl der Fälle, haben die Phantasien
etwas ungemein Eintöniges, es ist immer dieselbe Szene oder Szenenfolge,
welche auftritt. Manchmal aber wird auch ein fortlaufender Roman,
nach Art der auch sonst bekannten zusammenhängenden Tagträume, ge-
dichtet und gespielt, in den an geeigneten Stellen entweder die typische
Phantasie eingeschaltet wird, oder dessen erotische Momente, je nach der
Ent>vicklung der Geschichte, in verschiedener Gestalt erscheinen.
Die Herkunft der konstanten Szenen ist schwer auszumachen. Öfters
handelt es sich im Grunde doch um konkrete Erlebnisse, die den Kern
der Phantasie abgeben, sehr oft um solche, die recht weit zurückliegen,
aus der präpuberalen Epoche stammen.
Soviel mir scheint, spielen „Symbolisienmgen" im Sinne der Psycho-
analyse in den erotischen Phantasien keine Rolle.
Anhangsweise möchte ich einer Erscheinung gedenken, die man als
rudimentäre oder versuchsweise Verwirklichung der Phantasie bezeichnen
könnte. Der oben erwähnte Mann erfand in jüngeren Jahren einen be-
sonderen Kunstgriff, um die Übertragung der eigenen geschlechtlichen
Erregung auf die phantasierte Frauengestalt zu bewerkstelligen. Er ent-
kleidete sich nämlich und zog ein Kleid seiner Schwester an. Später
hatte er genügend Übung oder Technik erlangt, um diesen Kimstgriff
entbehren zu können. Ein anderer, der in den Jahren der Pubertät aus-
gesprochenen sadistisch gefärbten Phantasien nachhing, zeichnete nackte
Frauengestalten, schnitt sie aus und ließ sie dann langsam an der Kerzen-
flamme verkohlen, indem er bei den Füßen begann. VVar die Verkohlung
bis zu den Geschlechtsteilen der Frau vorgedrungen, so empfand er die
höchste^ Steigerung imd Lösung der Wollust. Auch die Entkleidungs-
phantasie der Mädchen wird durch tatsächliche Entkleidung, häufig
vor dem Spiegel, unterstützt, wobei dann die Betreffende eine ähnliche
PseudoVerdoppelung erleben kann, wie sie oben beschrieben wurde: sie
456 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ist zugleich das entkleidete Opfer und der, vor dem die Entkleidung
stattfindet. Damit mag übrigens die gelegentlich oder vielleicht auch
häufig vorkommende Scham vor dem eigenen Spiegelbilde zusammen-
hängen. Noch einen Schritt weiter versuchte ein iSjähriges Mädchen
zu gehen, die sich vor einem Hund entkleidete; es ist nicht ganz klar,,
ob der Hund selbst den Partner vertreten sollte oder nur als Begleiter
desselben gedacht war. Es blieb überdies bei diesem einen Versuch.
Immerhin legt solch ein Fall die Vermutimg nahe, es möchte eine in
orientalischen Märchen, so in denen von Tausendundeiner Nacht, oft
wiederkehrende Szene in solchem Verhalten ihre psychologische Wurzel
haben. Ich meine das Verschleiern von Frauen, die der Zauberei kimdig
sind und daher in einem Hund oder sonst einem Tier einen verzauberten
Mann zu erkennen vermögen.
Den erotischen Phantasien nahe steht, von ihnen in der Tat in keiner
Weise scharf abzutrennen, die Lustgewinnimg aus der Lektüre erotischer
Schriften, dem Betrachten erotischer Bildwerke, aus dem G«nuß der mit
größerem oder geringerem Recht als pornographisch verschrieenen Kunst
überhaupt, gewissen Schaustellungen in Varietes und Kabaretts, vielleicht
auch der Zote, von der schon die Rede war. Auch das solchen Erlebnissen
entstammende Material dient entweder nur als Anhub, Ausgangspunkt
selbständig entwickelter Phantasien oder bildet, unverändert übernommen,
deren Inhalt oder wirkt schließlich unmittelbar, ohne erst in eine Phantasie
eingestellt oder in einer solchen reproduziert zu werden, als erotischer
Anreiz, von welch letzterem Falle schon vorhin die Rede war. Zwischen
den Endpunkten dieser Reihe — dem Aufsparen zimi Zwecke des Phantasie-
ausbaues und der unmittelbar die Erregung auslösenden Wirkung —
stehen Erlebnisse des Mitgenießens, die zweifellos Züge der Phantasie
an sich tragen. Teils findet ein Sichhineinversetzen in die betreffende
Situation statt, eine Identifikation des Lesers oder Zuschauers mit einer
— vielleicht auch mit mehreren — der Personen der gebotenen Darstellimg,
oder der Betreffende verbleibt in der Position des Lesers, Zuschauers,
indem — wenn man will — der „Partialtrieb" der Schaulust mehr in
den Vordergrund des Erlebens tritt.
Eine besondere Stellung nehmen vielleicht die erotischen Phantasien
ein, welche durch Musik hervorgerufen werden; diese Besonderheit liegt
aber mehr in dem Zusammenhang von Musik und Erotik als in der
Art und Weise des Ablaufe und Inhaltes der Phantasien. Es kommt
daher diese Frage an anderer Stelle zur Besprechung.
Ebenso ist aber auch die Produktion erotischer Werke zu berück-
sichtigen und in gewisser Beziehung auch gewisse Spiele oder Spielereien.
Man hat bekanntlich vielfach und mit Recht die künstlerische Produktion
mit den Tagträumen und Phantasien analogisiert. Es ist verständlich,
daß jenes Individuum, dem die Fähigkeit und der Drang zur künstlerischen
Gestaltung innewohnt, auch imstande imd geneigt sein wird, seine eroti-
schen Phantasien im Werk zu konkretisieren. Dennoch vmrde ich anstehen,
alle erotischen Szenen ohne weiteres als derartige Verkörperungen solcher
Phantasien aufzufassen. Gewiß sind die Werke, etwa eines Sacher-Masoch,
eines Marquis de Sade und viele andere dieser Interpretation zugänglich.
EROTISCHE PHANTASIEN. TRÄUME. HALLUZINATIONEN 457
Einzelne weitere lieispiele anziLführen, ist wohl nicht erforderlich. Hier
handelt es sich offenbar <liirohaus um j<'ne IMianlasien, von tloiien bislang
die Ht\l<' war, welche im Dienste von und im Zusammenhang mit
erotisi'heii He<lürfnissen und denMi Befriedigung stehen. Hier erscheint
die sexuale Note, der sexuale Inhalt sozusagen als eigentlicher Zweck
und Sinn des Werkes. Es kann aber auch das sexuale Moment nur ein
Mittel innerhalb der anderen sein, um einen bestimmten künstlerischen
Zweck zu erreichen. Man denke etwa an Zola. In solchen Fällen dürfte
man wohl nicht in gleichem Sinne von einer erotischen Phantasie sprechen,
indem hier das Sexuelle sozusagen nur eine zufrdlige Inhaltsbestimmung
darstellt, nicht aber das Wesen des betreffenden Erlebnisses. Im konkreten
Einzelfalle, angesichts des vollendeten Kunstwerkes, wdrd es sich natürlich
sehr oft schwer oder gar nicht entscheiden lassen, welcher Mechanismus
zugnmde liegt, um so mehr, als selbstverständlich Mischungen und
Übergänge aller Art vorkonmien >verden. Es kann nicht unsere Aufgabe
sein. <liese Frage weiter zu verfolgen; sie führt in kunstpsychologische
Probleme hinein, in Erörterungen über Echtheit und Unechtheit, künst-
lerischen Ernst u. dgl. m., die hier nicht einmal aufzuwerfen sind.
Nur um ein Beispiel jener Fälle zu geben, bei welchen die Entscheidung
vielleicht unmöglich ist, nenne ich d' Annunzio. Wie will man feststellen,
ob die erotischen Szenen des Trionfo della morte oder des Forse che si
forse che no Selbstzweck oder Glieder eines an sich nicht einer erotischen
Phantasie gleichzusetzenden künstlerischen Gesamtplanes sind? Wieder
etwas anderes ist es, wenn das Sexuelle Gegenstand etwa einer morali-
sierenden oder sonst tendenziösen Darstellung vrird. Hier ist es ganz
aus der Ebene des emotiven Erlebens in die der intendierten Gegenstände
verlagert — sollte es wenigstens sein; denn man wird in vielen Fällen
jenen beistimmen dürfen, die in solchen Werken und den ihnen zugrunde
liegenden Verhaltungsweisen eine Reaktion, eine Abwehr gegen mächtige
erotische Triebe und Phantasien sehen wollen oder auch ein verkapptes
S i chi hne nhi n geben .
Bisher war nur von solchen Phantasien die Rede, die sich in der Ein-
samkeit abspielen. Es kommt aber gelegentlich auch zu einem Phantasieren
zu zweien — ob auch mehr Personen sich daran beteiligen können, ist
mir zweifelhaft. Ein solches Phantasieren zu zweien hat große Ähnlich-
keit mit Spielen; insbesondere nimmt es gerne die Gestalt der endlosen
Geschichte an. Bei jüngeren Kindern tritt das erotische Moment dabei
natürlicherweise mehr in den Hintergrund, obwohl ich nicht zweifle, daß
auch schon in diesem Alter solches vorkommt i. Man erfährt ja überhaupt
wenig von dem Inhalt kindlicher Phantasien. Die Kinder legen in dieser
Hinsicht eine besondere Scheu, sich mitzuteilen, an den Tag. Noch mehr
ist das der Fall bei Phantasieerlebnissen, die der Freund mit dem Freunde,
die Freundin mit der Freundin gemein hat — auch zwischen Geschwistern
kommt dies vor — , deren Verschweigen und Beschützen gegen indiskrete
(und vor allem im Sinne der Kinder unernste) Fragen durch Erwachsene
noch durch das Bedürfnis verstärkt wird, ein Geheimnis zu haben, das
^ Vgl. die interessante Geschichte einer kindlichen Beziehung bei Kläsi (65 a).
458 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
die anderen, insbesondere die Erwachsenen, nichts angeht. Es sind mir
aber auch Fälle aus späteren Lebensjahren, nach der Pubertät, bekannt,
wo die Betreffenden sich gegenseitig nicht nur ihre, dem einzelnen eigenen
Phantasien mitteilen, sondern einander behilflich sind, sie auszubauen,
und sie gemeinsam durchleben. So diente zwei jungen Mädchen von
i5 und l^ Jahren die Szene in Herders Gd, wo die beiden Töchter des
Helden entkleidet im Wald an Bäume gefesselt werden, zum immer
wieder benützten Ausgangspunkt für allerlei deutlich erotisch gefärbte
Phantasien.
Schließlich ist es im Wesen dasselbe, wenn zwei Verliebte oder Ver-
lobte sich die Zukmift gemeinsam ausmalen, wenn auch dabei zumeist
unter dem Drucke gesellschaftlicher Konvention das sexuelle Moment
nur mitschwingen darf, ohne deutlichen Ausdruck zu finden. Dennoch
wissen die beiden sehr wohl, worum es sich handelt, mid was die Worte
nicht geradeheraus bezeichnen dürfen, deutet an manchem Punkte des
gemeinsamen Tagtramnes ein Druck der Hand an, betont ein Kuß.
Anschließend wäre der erotischen Träume zu gedenken. Hier ist es
natürlich fast unmöglich, festzustellen, welches das primäre Moment war,
ob die psychosexuale Erregung oder "der somatische Vorgang. Mutmaßlich
dürfte in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle letzteres zutreffen. Dafür
spricht die allgemein geltende Anschauung von der geringen Dauer der
Träume, während die Entwicklung der somatischen Geschlechtserregung
doch eine länger© Zeit in Anspruch nehmen dürfte. Wenn man also
beim Erwachen aus solch einem Traum den körperlichen Erregungszustand
nachweisen kann oder sich bewußt ist, im Traum einen solchen erlebt
zu haben, so scheint die Annahme seines zeitlichen Vorangehens und seiner
primären Bedeutung gerechtfertigt. InhaltKch unterscheiden sich die
Träume, soweit es sich um manifest erotische Inhalte handelt, nicht
von den Phantasien.
Auch hier sind es nicht selten konkrete erotische Erfahrungen, welche
wieder reproduziert werden — mannigfach hinsichtlich der Situation
und der beteiligten Person verändert, im Wesen aber doch gleichbleibend.
Je nach der speziellen Beschaffenheit des Trieblebens überwiegt das eine
oder das andere Moment; es gibt ebenso homosexuelle Träume wie
sadistische, masochistische, solche, in denen die Schaulust sich auslebt usw.
Wie bei den Phantasien sind auch hier Entkleidungsszenen häufig.
Z. B.: ein 1 8 jähriges Mädchen träumt, sie gehe nackt durch einen
Garten auf einen Teich zu, vorbei an einem Hause. Sie weiß, an einem
der Fenster steht ein junger Mann, der ihr zusieht. Aus dem Teich soll
sie sich einen Frosch holen — wie sie selbst nachher sagt, offenbar
einen verzauberten Prinzen. Schon im Traum ist sowohl die Entblößung
vor dem — übrigens nicht gesehenen — Mann am Fenster wie die
Aufgabe, den Frosch zu fangen, ausgesprochen mit sexueller Erregung
verknüpft.
Näcke (89, 90) hat einmal gemeint, man könne die Art der Sexualität
eines Menschen am untrüglichsten aus seinen Träumen erkennen. In
gewisser Beziehung ist dies sicherlich richtig. Mutmaßlich wird etwa
ein Homosexueller, der seinen Trieben nicht freien Lauf läßt, sogar
KROTlSCilK PHANTASIEN. THvlMi:. H M.l.l/IN VTIONKN 459
in ehelicher (reineiiischafl inil eiiu'r l'raii l»'l)t, kinder gezeugt hat.
in seinen Träumen sicli «nnen Mann als Sexual/icl vorgauk<'hi lassen.
E^ gilt tlies aber elxMisosehr von <len erotischen Phantasien des W ach-
lebeiis wie für tlen Traum.
Das oben angeführte IkMspiel eines erotischen Traumes fülirt aber
nun unmittelbar in ein selir komplexes und schwieriges Problem hinein,
das in seiner Bedeutung ülx'r den Rahmen des hier zu behand<'lndon
Gegenstandes weit hinausgreift. Es war dort von einem Frosch die Hede,
welcher schon im Traum sexuelle h^rregung aaszulösen vermochte, und
der nach dem Erwachen oline weiteres als verzauberter Prinz inter-
pretiert wurde. D. h. an die Stelle des begehrten Sexualobjektes ist ein
anderes getreten, jenes wird durch dieses vertreten; diese Substitution
bleibt indes bewußt. Nun behauptet aber bekanntlich die psychoanalytische
Schule, daß solche Vertretungen — sie nennt sie nicht ganz zweckmäßig
Symbolbildungen — erstens überhaupt den Traum auszeichnen, zweitens,
daß die Beziehung von Symbol und Symbolisiertem unbewußt bleibe,
drittens, daß das Symbolisierte die Tendenz habe, sich gegen hemmende
Kräfte des Bewußtseins — Zensur — durchzusetzen, dabei einem Wider-
stand begegne, welcher die verschiedenen Transformationen durch die
„Traumarbeit" erzwinge, schließlich, daß es sich bei diesen nach Bewußt-
werdung ringenden Gebilden ausschließlich oder überwiegend um sexuelle
Regungen handle. Der latente, aus dem manifesten eben durch die Psycho-
analyse zu entwickelnde Trauminhalt erweist sich als ein Wunsch oder
ein Netz von Wünschen, und diese Wünsche sind fast immer sexuellen
Ursprungs, stammen aus Sexuellem und gehen auf solches.
Wir haben hier nicht die Aufgabe, eine Kritik dieser Lehre zu liefern,
soweit es sich darin um Träume überhaupt handelt. Wohl aber müssen
wir nach der Berechtigung fragen, die Allgemeinheit der erotischen
Inhalte zu behaupten. Die Psychoanalytiker antworten: dies ergäbe
sich aus der Psychoanalyse. Und in der Tat, geht man den Weg des
zwanglosen Assoziierens unter Befolgung der „psychoanalytischen Grund-
regel", so wird man wohl immer, früher oder später, auf sexuelle Dinge
stoßen. Es ist nur die Frage, ob erstens dadurch bevriesen wird, daß
die im Laufe der Assoziationsreihen auftauchenden sexuellen Momente
die Ursache der Traumphänomene sind, d. h. durch ihre Tendenz der
Durchbrechung jener Zensur das Auftreten dieses oder jenes Traum-
bestandteiles kausieren, und zweitens, ob sie zu den manifesten Traum-
bestandteilen tatsächlich in einem Verhältnis von Vertretung, von
Symbolisiertem und Symbol stehen. Beide Fragen halte ich für zumindest
unbeantwortbar, wenn man nicht überhaupt sie schlechthin verneinen zu
können glaubt. Die Gründe für diese Stellungsnahme kann ich nur
kurz andeuten; sie werden an anderer Stelle ausführlicher auseinander-
gesetzt i.
Die kausierende Wirkung kann nur angenommen werden, wenn erstens
überhaupt ein kausaler Zusammenhang zwischen Inhalten statuiert wird
(was die Psychoanalyse implicite tut), zweitens dargetan werden kann,
1 AUers (4 a).
460 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
daß sich sinnhafte, in Assoziationsreihen entwickelbare Zusammenhänge
ganz oder zimiindest avl weite Strecken mit kausalen Zusammenhängen
decken. Der letztere Beweis ist von der Psychoanalyse nicht erbracht
worden und m. E. auch nicht zu erbringen. Ob man aber diese Position
der Psychoanalyse akzeptiert oder bestreitet, ist ganz unabhängig davon,
ob man ein Beschlossensein des angeblich Symbolisierten im Symbol,
d. h. des durch Assoziationsreihen aufzufindenden, bedeutsamen Gliedes
in dem zum Ausgangspunkt genommenen Erlebnis, annehmen will. Ich
halte auch diese Annahme für imstatthaft, weil einmal letzten Endes in
der Seele alles mit allem zusammenhängt, also schließlich jedes Bild,
jeder Traumbestandteil alles übrige „symbolisieren" und somit in dieser
Funktion sinnlos werden müßte, sodann weil im Ablaufe der Assoziations-
reihen wir ims sehr oft mehr und mehr von dem Ausgangspunkt ent-
fernen, so daß schließlich auch kein verständlicher, sinnhafter Zusam-
menhang mehr hergestellt werden kann.
Lehnen wir also auch die psychoanalytische Lehre, als auf einer in
sich irrigen Methode gegründet, ab, so ist doch nicht zu bestreiten, daß
es derartige Symbolisierungen wirklich gibt, daß hier verständliche und
sinnhafte Zusanmienhänge sehr oft aufgefunden werden können, auf
die hingevnesen zu haben, ja die entdeckt zu haben mit zu den großen
imd dauernden Leistungen Freuds gehören wird. Nur die Ubiquität des
Sexuellen im Traiune läßt sich m. E. nicht erweisen, weder sJs Trieb-
kraft der Traumentstehimg und Traumgestaltung noch als Inhalt des
Tramnes. Es wird sich vorderhand wohl nur jeweils für den Einzelfall
entscheiden lassen, ob eine „Symbolisierung" sexueller Tendenzen, sexuellen
Materiales vorliegt oder nicht, einen allgemein gültigen Kanon der
Deutungskunst dürfen wir, glaube ich, trotz Freud (45) ^, Stekel u. a.,
uns nicht rühmen zu besitzen.
Über diese Symbole wird übrigens weiter unten noch zu reden sein. Da,
der Psychoanalyse zxrfolge, ihr Symbolcharakter außerdem weder dem
Träumenden noch dem Erwachten bewußt ist, fällt ihre weitere Be-
sprechung ohnehin nicht einer beschreibenden Psychologie zu, die zu
treiben wir uns in erster Linie vorgenommen hatten.
Ähnliches wie über die Träume wäre zu sagen über Halluzinationen
und sonstige Trugwahmehmungen sexuellen Inhaltes, deren Variationen
schier unerschöpflich sind. Schon in der Einleitung wurde angemerkt,
daß es wohl zweifelhaft erscheinen darf, ob eine halluzinierte Geschlechts-
empfindung überhaupt vorkomme oder vorkommen könne. Die abson-
derlichen Äußerungen vieler Kranker, insonderheit Schizophrener, sind
wohl eher auf eigenartige, für den Gesunden nicht nacherlebbare und
infolgedessen und infolge der diesen Kranken eigentümlichen Ausdrucks-
weise auch vmverständliche Mißempfindungen, Parästhesien, sensorische
Dysfunktionen zurückzuführen. Es ist zwar richtig, daß wir gewöhnlich
von den verschiedenen Organen unseres Körpers keine Empfindung haben,
aber ebenso, daß durch Richtung der Aufmerksamkeit auf dieselben aller-
hand Sensationen wachgerufen werden können, eine oft gemachte und
^ VgL die Ausführungen von de Sanctis in diesem Handbuche.
EROTISCHE PHANTASIEN, TRÄUME. tLVLLUZINATIONEN 461
koimnentiorto Erfaliriuig. Es wäre immerhin Jenkbar, daß ein derartiger
Mechanismus bei den fraglichen Geisteskranken im Spiele wäre, indem
eine primäre Hinwendung auf erotische Inhalte bei gleichzeitig bestehen-
den tiefgreifenden Umwandlungen der Persönlichkeit und ihrer ver-
scliiedenen Äußerungen die Entstelmng jener Dysästhesien nach sich,
ziehen NN-ürde.
Offenbar haben wir in den ausgesprochenen Trugwahrnehmungen
sexuellen Charakters den Ausdruck solch einer Hinwendung auf erotische
Inhalte zu erblicken. Auch hier finden wir die ganze Vielgestaltigkeit
sexuellen Erlebens widergespiegelt. Auch eine eingehendere Aufzählung
alles dessen, was in dieser Hinsicht vorkommt, würde uns nichts Neues
lehren.
Dasselbe gilt von den hier systematisch zwar nicht hingehörenden,
indes anhangsweise vielleicht zu erwähnenden sonstigen psychopathologi-
schen Erscheinungen sexuellen Inhaltes, wie von erotischen Wahnideen,
Zwangsvorstellungen, Zwangsimpulsen. Ihre genauere Beschreibung würde
auch kaum etwas zutage fördern, was über die aus der Betrachtung der
normalen Psychosexualität zu gewinnenden Erkenntnisse hinausginge. Es
kehren die gleichen Phänomene, Zusammenhänge wieder, verzerrt wohl,
vergröbert zum Teil und gefärbt nach der Art der pathologischen Persön-
lichkeit oder des Prozesses. Diffuse oder auf einzelne Individuen gerichtete
sexuelle Begierden, Verliebtheit, subjektive Überzeugung, geliebt zu werden
von diesem oder jenem, von hohen Persönlichkeiten oder irgendwelchen
Individuen der Umgebung, Eifersucht, Gefühl des Verschmähtseins — man
ksinn die Liste verlängern, es ist immer nur das, was wir schon kennen.
DIE LIEBE
Es ist eine mißliche Aufgabe für den Psychologen, von der Liebe zu
handeln. Ihre Vielgcstalligkeit und doch letztliche Einheit, ihr Verwoben-
sein mit dem Ganzen der Seele, ihre Bedeutung und ihr Wert im Leben
des einzelnen machen eine Deskription ebenso unmöglich wie unbe-
friedigend. Es gibt Erlebnisse, an die die Wissenschaft zu rühren Scheu
empfinden muß. Die Beziehung der Menschen zu Gott wie ihre Liebe
zueinander sind solche. Nicht zu Unrecht sprechen wir von Gottesliebe,
sagen wir: lieber Gott. Und doch kann eine Sexualpsychologie sich
der Aufgabe, von der Liebe zu reden, nicht entziehen. Es scheint mir
aber, je nüchterner sie dies tut, desto weniger wird sie Anstoß erregen,
desto weniger den Eindruck erwecken, als wollte sie letztes und tiefste^
Erleben in dürre Begriffe fassen, an das Licht zerren all das, was von
Menschen nicht gewußt oder nicht gedacht, mit profanatorischer Gebärde
auf ihr Gebäude weisen: seht nur, dies ist die Liebe — mehr nicht.
Die Schwierigkeiten beginnen schon, wenn man überhaupt sagen soll,
wovon gehandelt wird. Etwa mit Spinoza, es sei die Liebe laetitia
concomitante idea causae externae i? oder mit Augustin, vita quaedam
duo aliqiia copulans vel copulare appetens^? Soll man mit St. Thomas
vier Gattimgen unterscheiden, den amor sensitivus, intellectiviis, con-
cupiscentiae und benevolentiae^? Oder Leibniz: Der Trieb, an dem
Glück einer Person teilzunehmen, die Freude an diesem Glücke*? —
Ich will die Zitate nicht häufen. Ihre ganz verschiedenen Gesichtspunkte
zeigen nur das eine, daß sich hier eine Definition nicht bringen läßt.
Wie das Leben, so ist die Liebe ein Letztes; sie kann erlebt, sie kann
aber nicht definiert werden ^.
Was immer außerhalb philosophischer Begriffsbestimmung zu diesem
Kapitel geschrieben wurde, hilft uns ebensowenig weiter. Vielleicht am
schärfsten hat ein Mann gesehen, in dem aufklärerischer Rationalismus
und romantische Feinheit des Empfindens und Nacherlebens eine eigen-
artige Mischung bilden: Stendhal (no).
Vor allem bietet sich eine grundsätzliche imd ungemein schwierige Frage
dar, die nämlich nach der Beziehung von Sexualität und Liebe. Daß
die Sexualsphäre und Liebesphänomene miteinander zu tun haben, ist
von trivialer Selbstverständlichkeit. Aber, ob erstens jegliche Liebe letzt-
1 Eth., Iir, prop. Xlir, Schol.
2 De Prin., VIII, lo.
3 Summa Theol., I, 20, 2.
* Nouv. Ess., II, 20, S 4.
^ Am annehmbarsten erscheint Hegels Bestimmimg der Liebe als das Bewußt-
sein der Einheit mit einem anderen.
I
DIK LIEBE 463
lieh im Sexualen g^ründot, ob zweitens das Wesen der im engeren Sinne
Geschlechtsliebe zu nennenden durch die Beziehung auf das Sexuale er-
schöpft wird, bleibt strittig.
Es kann nun auch die erste Frage hier nicht aus der Erörterung aus-
geschieden werden, obwohl sie anscheinend den Rahmen einer Scxual-
psychologio überschreitet, die man vielleicht auf die bloße Beschreibung
der eigentlichen Geschlechtsliebe beschränken wird wollen. Dennoch
ist auch für unsere Zwecke eine Beantwortung unerläßlich. Ergäbe sich
nämlich, daß sich Liebesregimgcn finden, in walirem Sinne so zu nennende,
denen eine IVziehung auf die Sexualsphäre nicht zugesprochen werden
darf, so würde die Beantwortung der zweiten Frage von vornherein in
ein anderes Licht rücken.
Man hat vielfach die Meinung gehört, daß alle Liebe Geschlechtsliebe
sei, daß sich che Menschen dies entweder nur nicht eingestünden oder es
nicht wüßten, daß Eltern- und Kinderliebe, Freundschaft, Liebe zur Natur
und zu Gott alle auf dem gleichen Urgrund erwachsen seien. Entsprechend
unserem engeren Ziele, sei hier vornehmlich von der Liebe von Mensch
zu Mensch die Rede.
Zur Phänomenologie ist zunächst anzumerken, daß es Freinz Brentano
(i5) gewesen ist, welcher Liebe — imd Haß — als Akte erkannte und
zugleich ihre elementare Natur herausstellte. Allerdings glaube ich, im
Gegensatz zu Brentano, und hierin M. Scheler (loi) vollkommen bei-
pflichtend, daß man zu Unrecht diese Akte als solche des „Vorziehens"
und „Nachsetzens" ansehen ^vü^de. Diese gehören „zur Sphäre des
Werterkenne ns" (und zwar des Erkennens der Höhenstufe des Wertes),
wogegen Liebe und Haß nicht zu den erkennenden Akten zälilen. Sie
stellen ein eigentümliches Verhalten zu Wertgegenständen dar, das sicher
keine Erkenntnisfunktion ist. (Scheler S. 47-) Eine Funktion des Auf-
nehmens der Werte — Fühlen, Vorziehen — fehlt dabei ebenso \vie eine
Wertbeurteilung oder ein Vorhergegebensein des Wertes in einer beson-
deren Intention. Daher es auch "unmöglich ist, Liebe rational zu be-
gründen; nach Gründen gefragt, sucht der Liebende solche mühsam auf,
konstruiert sie, ohne je sich oind den anderen damit eine befriedigende
Antwort geben zu können. Jede Rationalisierung, auch der Versuch,
die Werte der geliebten Gegenstände unter begriffliche Kategorien zu
bringen, erscheint als Verietzung der Liebe, als eine Entvmrdigung, als
eine Zerstörung eines ursprünglich Ganzen. Daher man von „blinder"
Liebe spricht. Liebe und Haß haben ihre eigene Evidenz, die mit jener
der erkennenden Vernunft gar nichts zu tun hat. So weit Scheler.
Wenn er weiter sagt, Liebe und Haß seien nicht wesenhaft altruistisch,
man könne sich selbst lieben, ohne daß eine Phantasie des Ich als eines
anderen dabei mitspiele, so vermag ich ihm allerdings nicht zu folgen i.
Doch tut dies der weiteren Argumentation vorderhand keinen Eintrag.
1 Vgl. hierzu Nietzsche (91): „Sogar die Selbstliebe enthält die unverrriischte
Zweiheit (oder Vielheit) in einer Person als Voraussetzung." Und bei Aristoteles
schon heißt es, es sei die Liebe darin gelegen, daß war für jemand das \vx>llten,
was er für gut halte, seinetwegen, nicht unsertwegen.
464 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Liebe erscheint erst dort gegeben, wo nicht nur ein positiver Wert
erkannt oder gefühlt wird, was auch ohne Liebe möglich ist, sondern
wenn eine Bewegung auf diesen Wert erst hinzukommt, was bereits
Plato ausgesprochen hat („eine Bewegung vom Nichtseienden zum Seien-
den"), und zwar auf einen Wert, der höher ist als die qualitativ gege-
benen Werte. „Insofern zeichnet die Liebe der empirisch gegebenen
Person immer ein ,ideales Wertbild' voraus. Liebe ist ursprünglich
auf Werte gerichtet imd auch auf den Menschen nur, soweit und insofern
er Träger von Werten ist imd sofern er einer Werterhöhung fähig ist."
Pas ideale Wertbild wird nicht aus den empirischen Werten einer Person
entnommen, wohl aber auf sie aufgebaut.
Diese Be>vegung auf den höheren Wert hin hat — das ist wichtig —
nichts gemein mit BessermachenwoUen, welches eine pädagogische Ein-
stellung voraussetzt und eine Scheidung vorninmit zwischen dem, was
der Mensch ist und was ©r nicht ist, noch nicht ist, erst werden soll.
Beide Einstellungen liegen der Liebe fern. Echte Liebe liebt ihren Ge-
genstand trotz der und mit den daran gesehenen Fehlern oder Mängeln.
Das Grundphänomen ist, daß die' Liebe selbst den höheren Wert konti-
nuierlich im Lauf ihrer Bewegimg zum Auftauchen bringt. Liebe geht
auf die Gegenstände, wie sie sind. Und nur in der Liebe, durch sie
hindurch wird das unbeschreibliche, in Begriffen nicht faßbare Wesen
einer fremden Individualität ganz und rein hervortreten.
Ich möchte sogar glauben, in Weiterführung dieser Schelerschen Ge-
dankengänge, daß Liebe schlechthin nur auf Ganzheiten, wie sie die Person
eine ist, gehen kann, daß sie vielleicht eine, möglicherweise die Art und
Weise ist, in der wir solche Ganzheiten überhaupt erleben können.
Zunächst ergibt sich aus diesen Überlegungen noch kein Anhaltspunkt
für die Beantwortung der oben aufgeworfenen Frage. Es könnte dies
alles richtig sein und dennoch solche Liebe oder Liebesbewegung letzt-
lich in der Sexualsphäre gründen. Scheler kennt nun, entsprechend seiner
Gruppierung der Akte, drei Daseinsformen der Liebe: vitale oder Leiden-
schaftsliebe, welche auf den Wert des Edlen geht (der Haß auf den des
Schlechten oder Gemeinen), seelische Liebe des Ichindividuums, welche
wesenhaft an die Werte der Erkenntnis und des Schönen, Kulturwerte,
geistige Liebe der Person, welche wesenhaft an die Werte des Heiligen
gebimden ist. Angenehmes kann man nicht lieben, es ist einer Wert-
erhöhung unzugänglich. „Darum gibt es auch keine ,sinnliche Liebe',
sofern das ,sinnlich' als eine Artbestimmxmg der Liebe . . . gefaßt wird
und nicht etwa als ein Ausdruck, der nur sagen will, er sei in diesem
Falle von sinnUchem Fühlen imd Empfinden begleitet. Ein rein , sinn-
liches' Verhalten, z. B. zu einem Menschen ist gleichzeitig ein absolut
liebloses und kaltes Verhalten" (a. a. O. S. 70).
Ganz mit Recht motiviert Scheler diese These damit, daß in solchem
Verhalten der andere in den Dienst des eigenen sinnlichen Empfindens
und Genießens gestellt werde; er wird ein Mittel, wird behandelt wie
ein toter Gegenstand. In Erweiterung einer oben gemachten Bemerkung
könnte man vielleicht sagen, es sei die Liebe überhaupt jene Verhaltungs-
du: I.IKIU: 465
weise, in der uns ein SeUxUwert gegeben sein kann. Kigenwert der Person
ist uns nxir in der Liel>e erfaßbar.
Ks würde, glaubt» icb, schwer fallen, hierfür die Sexualsphäro als uner-
läßliche Tundierung nachzuweisen. \ ielinehr scheint schon jetzt klar
zu sein, dali Lielx? eine letzte \ erhaltungsweise des Men.schen ist, welche
jede andere durchdringen kann, sich ihrer sozusagen bedienen kann,
um zur \\ irklichkeit <li^ Erlebens zu gelangen. Das meint offenbar auch
Simmel (107), wenn er sagt, es sei die Erotik nur eine f>eripherste Dar-
lebung des zentralen Lielx>sakte.s.
Ohne weiter die Schelerschen Ausführungen wiederzugeben, möchte
ich nur auf seine, m. E. durchaus treffende, Kritik naturalistischer Liebes-
theorien verweisen. Abgesehen davon, daß solche Theorie glaubt, den
ursprünglichen und unzerlegbaren Akt der Liebe als Komplex, als Re-
sultante, also sunuiiativ aufbauen zu können, was ein Grundirrtiun ist
(vgl. Einleitung;, so übersieht sie die Ürspriinglichkeit jeglichen, nicht
bloß vitalen Liebesaktes. Sie übersieht, daß im Seelenleben nicht immer
alles aus den Vorangegangenen ableitbar, zusammensetzbar ist, daß jeder-
zeit, in der individuellen wie der Stammesentmcklung, Neues auftreten
kann — l'imprevisible — wie Bergson sagt.
Ich kann hier nicht die Ursprünglichkeit und Eigenart der Liebe,
welche mit Sexualem nichts, aber auch gar nichts zu tun hat, ausführ-
licher herausstellen. Die heilige Liebe hat keine Beziehung zur Sexual-
sphäre; über die sozusagen zufällige erotische Terminologie wurde schon
in der Einleitung das Erforderliche angemerkt. Wir entnehmen für unsere
Zwecke nur die Einsicht, daß Liebe als solche mit Sexualität gar keinen
Zusammenhang besitzt, in ihr weder gründet noch ihrer zur Realisierung
bedarf. Daher auch die ganze Rede von Sublimierung (s. letzter Ab-
schnitt), weil sie folgerichtig sich aus dem naturalistischen Grundirr-
tum ergibt,- eben auch grundfalsch ist.
Latent scheint diese Einsicht sogar in der die Krönung alles Naturalis-
mus bedeutenden psychoanalytischen Liebeslehre wirksam zu sein. Sie
drückt sich aus in der Überspanmmg des „Libido"-Begriffes, zu dessen
Kritik uns schon die Bemerkungen über Ent>vicklung der Sexualität An-
laß boten.
Gibt es also solche Liebe, so folgt, daß auch die Geschlechtsliebe i. e. S.
durch die Beziehung auf die Sexualsphäre nicht erschöpfend gekenn-
2eichnet sein kann. Allerdings darf man wiederum nicht sich dieses
Phänomen entstanden denken durch eine Summation von allgemeinem
Lieben und einem ebenso allgemeinen G<?schlechtstrieb, der ge\vissermaßen
durch diese Kombination erst gerichtet würde, wie das etwa Lipps sich
vorgestellt hat.
Scheler nennt die GeschlechtsKebe eine besondere Liebesart, deren Unter-
schiede begründet sind in besonderen für uns fühlbaren Qualitäten der
Gemütsbewegung selbst, unabhängig von einem Hinsehen auf die wech-
selnden Objekte und ihre gemeinsamen Merkmale. Mutterliebe, kindliche
Liebe, Heimatsliebe, Geschlechtsliebe sind solche .\rten, als Gemütsbewe-
gungen selbst untereinander verschieden, nicht erst dadurch, daß sie sich
auf verschiedene Kreise von Objekten richten. Dem ist zuzustimmen.
30 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
4GÜ
MJ.KilS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Es meint aber dieser Autor weiterhin, es sei die Geschlechtsliebe /lie „zen-
Inilstc^ Funktion der vitalen Liebe überhaupt". „Mag auch eine absolute
liKJivichi.ilisierung der Geschlechtsliebe so, daß sie auf ein Wesen allein
.M'richlel und allein in ihm befriedigt wird, nicht stattfinden, ohne das
Uinzutrelen einer Erfassung des fremden Ichindividuums in einem von
der Geschlecbtssphäi-e imabhängigen geistigen Liebesakt, so ist ohne
(las Hinzutreten eines solchen die Geschlechtsliebe bereits , Liebe', nicht
flwa ein bloß genereller Trieb und vermag auch aus sich heraus eine
Wahl an den entgegentretenden Erscheimmgen zu vollziehen, die über einen
blinden und generellen Geschlechtstrieb weit hinausgeht" (S. iio). Als
weiteres Argument macht Scheler auch geltend, daß die Sprache gewiß
nicht zufälligerweise innerhalb der vitalen Sphäre gerade die Geschlechts-
liebe als „die" Liebe schlechthin bezeichne. Es erscheint ihm in der
Sphäre des vitalen Trieblebens und der ihr entsprechenden von Liebesre-
gungen der Geschlechtstrieb und die Geschlechtsliebe der primäre Faktor
und der fundierende in dem Sinne, „daß alle anderen Arten der vitalen
Liebe und des vitalen Trieblebens in dem Maße ihre volle Lebendigkeit
verlieren, als es jener zentralste Trieb des Lebens tut", hierin Freud in
dessen Wertung der Sexualität beipflichtend. Allerdings wird man Scheler
m. E. nicht die Meinung zuschreiben dürfen, als sei hier unter Sexualität
nur der Trieb zum eigentlichen Gesclilechtsakt zu verstehen; ob sich der
Trieb in diesem Sinn oder in anderem, als Sinnlichkeit oder Erotik,
normal oder pervers äußert, ist belanglos, solange er vorhanden ist.
Ich will mich nicht unterfangen zu entscheiden, ob diese Auffassung
Schelers zu Recht besteht oder nicht. Es ist dies auch für die spezielle
uns beschäftigende Frage irrelevant. Denn es genügt uns die Feststellung,
daß die Individualisierung ohne das Hinzutreten eines geistigen Liebes-
aktes nicht vollzogen werden kann, d. h. daß es zumindest ein aus der
Sexualsphäre erwachsendes Liebesverhalten geben kann und gibt, dessen
Wesen aus dem Sexualen allein nicht erschöpfend erfaßbar ist. Damit
beantwortet sich auch die zweite der oben aufgeworfenen Fragen: es
kann vorkonunen — wie oft, ob in der Regel, ob selten, bleibt dahin-
gestellt — , daß Geschlechtsliebe durch die Kennzeichnung allein des
Sexualen nicht wesenhaft erfaßt wird.
Daraus folgt, daß eine Psychologie der Liebe mehr sein muß als ein
Kapitel einer Sexual psychologie. Es besteht dabei die Gefahr, in meta-
physische Erörterungen abzugleiten. Man könnte etwa erwägen, was es
mit der Liebe als einem Akt des Erfassens von Ganzheiten, Individualitäten
für eine Bewandtnis habe. Wenn, mit Feuerbach zu reden, der isolierte
Mensch „unterschiedslos im Chaos der Natur untergehen" müßte, wenn er
zu seiner Erfüllung nur im Erfassen eines Du gelangen kann, dieses Er-
fassen aber als ein adäquates nur im Akt der Liebe möglich wdrd: soll
man sich da nicht fragen, ob nicht das Ich selbst in diesem Akte der
Liebe allererst vollendet, ja mehr noch: gegründet, gesetzt werde? Wir
wollen diesen Gedankengängen nicht weiter folgen; sie seien nur ge-
streift, mn mögliche Zusammenhänge phänomenologischer Betrachtimg
mit letzten Fragen herauszustellen. Sie sind um so verlockender, als auch
Daten einer deskriptiven Psychologie eine besondere Bedeutung des Liebes-
DIE LIEBE 407
aktt^s für tue Ichwordung mlor Ichfirulung nalielegon. Wie oft hat man
nicht I^irlM^iido «'S auss|>iwli('n hön'ii. dali siti in (1<m' Liolx^ nicht nur den
andoron. sondern sich s<'lhst erst wahrliafl geluntlen liätten. Wir kommen
auf das Verhalten des Ich und die Stellungnahme zum Ich noch zurück.
Wenn letztlich die Liebe tmr eine sein kann, jene B<>\vegung auf den
höheren Wert hin, so sind doch ihre .Manifestationsweisen mannigfaltige.
Freilich nicht alles, was gemeinliin Liebe heißt, verdient diesen Namen.
Ste.n<lhal kennt vier verschiedene Lielx^sformen : raniour-passion, wie er
aus den Briefen der Mariana Alcoiorado, des Abelard und <ler Heloise
spricht, i(imüur-(joiit. von <lcm er sagt, er halic um i-Go in Paris ge-
herrscht und man finde ihn in der Memoiren- und schönen Literatur
dieser Epoche — Lauzun, Crebillon, INIme. d'Epinay u. a. — , l'amour
physiqiie, ramoiir de vanite. Von diesen vier Liebesformen scheiden hier
die dritte und vierte und wohl auch die zweite aus. Die reine Sinnlichkeit,
die nur ihre Befriedigung sucht, kann, wie bemerkt, auf den Namen
Liebe nicht Anspruch erheben. L'amour de vanile ist eine Pose, ein
unechtes Verhalten — Gebärden, die man spielen könnte — ■, oft sogar
ohne wahren sinnlichen Grenuß. Wenn man Stendhals (iio) Bestimmung
der zweiten folgt, wird man auch sie wohl verwerfen. Es heißt dort u. a. :
,,in liomme bien ne sali d'avance tous les procedes qu'il doit avoir et
rencontrer dans les diverses phases de cet amour; rien n'y etant passion et
irnprevu, il a souvent plus de delicatesse que d' amour veritable, aar U a
ioujours beaucoup d'esprit; c'est une froide et jolie miniature comparee ä un
lableau de Carraches; et tandis que V amour-passion nous empörte ä travers
de tout nos interets, l'amour-goüt sait toujours s'y conformer. II est vrai que,
si Von öte la vanite ä ce pauvre amour, il en reste bien peu de chose; une
fois prive de vanite c'est un convalescent affaibli qui peut ä peine se trainer."
Der Versuch einer Phänomenologie des amour-passion, der uns also
allein zu interessieren hat, wird vielleicht am zweckmäßigsten von der
Entwicklung dieses Seelenzustandes seinen Ausgang nehmen. Zwei ex-
treme Fälle bieten sich dar. Einmal die ,, Liebe auf den ersten Blick",
der coup de foudre ^, das andere Mal die schleichende Entwicklung. Ge-
legentlich wird gemeint, nur die erste Form entspreche der echten Liebe.
He never loved who loved not at first sight, heißt es bei Shakespeare.
Für richtig halte ich das nicht. Schon darum nicht, weil anscheinend
der amour-passion gar nicht von dem konkreten Anblick einer Person
abhängen m\iß, sondern auf Grund von Nachrichten, von Briefen usw.
langsam entstehen kann, wie das etwa die Beziehung zwischen Robert tmd
Elisaheth Browning zeigt.
Die Liebe auf den ersten Blick ist ein psychologisch sehr interessantes
Phänomen. Es ist von dem Standpimkte des Psychologen aus gesehen
dabei vollkonunen gleichgültig, ob man hier einen Gattungsinstinkt walten
lassen will, der, den Betreffenden unbewußt, sie zueinanderzwingt. Das
sind spekulative Ausdeutungen, die vrir auf Sinn und Berechtigung nicht
prüfen wollen. Wichtig ist, daß hier eine Individualität eine andere,
1 Der Ausdruck entstammt der Romanliteratur des 17. Jahrhunderts.
30*
\l,I.i:!!S: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
468
ein Ich ein Du, offenbar in einem instantanen Akt in seiner Totalität
erfaßt zugleich niit den darin gründenden idealen Wertmöglichkeiten.
Es soll hier übrigens nicht von dem bloßen sinnlichen Beg^ehren , die Rede
sein, das Liebe oben nie ist Und nie sein kann, weil es sich Selbst-
zweck ist. Da es sich dabei nur um eine streng individuell gerichtete
Geschlechtsliebe handeln kann, tritt die oben nach Scheler gegebene Be-
slinnnung in ihr Recht, daß hierzu ein Akt geistiger Liebe mitwirkend
erlebt werden muß.
Es scheint, daß, wenn man eine yVnalogie zu diesem Erlebnis suchen
wollte, am ehesten das des Findens in Frage käme, das Finden vornehm-
lich einer gesuchten Erinnerung. Dieses ,,ja, das ist es", welches jenen
Moment auszeichnet, scheint auch ein Merkmal des coup de foudre zu
sein. „Dieser, diese ist es; hier ist das Ziel, nach dem ich bewußt oder
unbewußt gesucht habe"; nur daß das Wissen, überhaupt gesucht zu haben,
offenbar vielfach erst mit dem Erleben des Gefundenhabens auftaucht.
Daran ändert die Tatsache nichts, daß sich auch Liebe auf den ersten
Blick, >vic man sagt, irren könne, an ein miwürdiges Objekt hängen, so-
wenig der wirkliche Irrtum die ginjndsätzliche Möglichkeit, ein fremdes
Ich in einem Akte der Liebe in seiner Totalität zu erfassen, aufhebt.
Irrtum schließlich gibt es nur dort, wo Erkenntnis möglich ist. Wir
können von elektromagnetischen Schwingungen keine irrtümliche Wahr-
nehmung haben, weU eine Wahrnehmung dieser uns überhaupt unmög-
lich ist.
Wie alle ,, intuitiven" Erlebnisse verträgt auch dieses keine weitere
Analyse. Alle Gründe, welche nachträgliche Überlegung für das Er-
lebnis beizubringen suchen, sind Ausflüchte der erklärungssüchtigen Ver-
nunft, die ohne rational formulierbare Zusammenhänge nicht glaubt aus-
kommen zu können.
Die allmähliche Ent^^icklung der Liebe verläuft nach Stendhal in sieben
Phasen: i. BeAMinderung ; 2. der Gedanke: welche Freude, die Person
zu küssen, von ihr geküßt zu werden; 3. Hoffnung; 4- Geburt der
Liebe; 5. erste Kristallisation; 6. Zweifel; 7. zweite Kristallisation.
Das was Stendhal Kristallisation heißt, was er am Beispiel des „rameau
de Sabbourg", eines in die Salzlaken von Hallein eingelegten, mit
Kristallen bedeckt ihnen wieder entnommenen Zweiges illustriert, deckt
eigentlich zwei Phänomene: einmal die Wertübertragung 1, alles was mit
der Geliebten irgend zusammenhängt, ge>vinnt an Wert, mit ihr, im G^
danken an sie ist das Meer großartiger, die Musik schöner, das Leben
tiefer, voller, zweitens die mit Schelers Worten oben herausgestellte Be-
wegung auf die Werterhöhung hin. Denn auch darin hat Scheler recht:
die Liebe macht nicht blind, sondern sehend; wer nicht liebt, ist mit
Blindheit geschlagen. Daher das immer ^^^ede^kehrende Staunen: ich
verstehe nicht, was die zwei Leute aneinander finden. Ob nun diese sieben
Stadien typisch seien, weiß ich nicht. Sicherlich hat Stendhal richtig
gesehen, wenn er auf die Kristallisation immer meder das größte Ge-
'^ Ich entlehne diesen Ausdruck dem Buche von E. Zilsel. Die Genierelig^on,
Wien-Leipzig, 1919.
DIE LIEBE 469
wicht logt. Sie bewirkt es auch, daß man oben in pir nicht anwesende
IN'i-sonen. in Verstorbono. in Bilder sich vorliolx'n kann. Hutchinson er-
zählt in seinen IMonioiron von einoni jun','oii Maiuio, der sich aus Liebe
zu einer Verstorbonoii das LoIh'u nahm: er hallo sie nie gesehen, nur
nach ihrem TcmIo von ihr gehört. Das Motiv der Liebe zu einem Bilde
kehrt in vielerlei (M»schiciiloii und Märchen wieder, so in der Erzählung
von Saif-al--Muluk und Badia-al-Djamal o<ler von Geoffroy Rudel und der
Dame von Tripolis. Wesentlich für eine Phänomenologie der Liebe ist
das Gerichtetsein auf ein Du. Zunächst ist es dabei irrelevant, ob die
Liebe erwidert wird oder nicht, man „glücklich" oder „unglücklich"
liebt 1. Denn der Intention nach sind beide Fälle einander gleich, nämlich
in der Intention auf die Bildung eines „Wir". Ich muß hier doch von
Schelers Ansichten (s. o.) abweichen, und diese Wirbildung als einen
fimdamentalen Zug der Liebe ansehen. Wie sich dieselbe vollzieht und
was dabei eigentlich herauskommt, ist schwer zu sagen. Volkmann (ii3).
bemerkt (2. S. 42o), daß Liebe auf dem Bewußtsein des Wir beruhe,
aber je mehr sie von dem ganzen eigenen Ich auf das ganze andere
Ich gerichtet sei, danach strebe, dieses Wir in ein Ich aufzulösen.
Es scheint mir der letzte Teil dieser Darstellung nicht ganz richtig zu
sein. Es besteht zwar zweifelsohne eine Tendenz, das Wir in einem
gewissen Sinn aufzulösen, aber doch nur, insofern es noch Zweiheit ist;
dagegen muß man sich ein Wir in einem höheren Sinn als Einheits-
bildung zweier Seelen erst in der Liebe entstanden denken. Diese Bildung
die eines Ich zu nennen, scheint mir unrichtig deshalb, weil ein Ich doch
stets irgendwie über sich hinausweist und hinausstrebt, die höhere Einheit
des Wir aber in sich ruhend und sich selbst genügend bestehen kann 2.
(Vielleicht trifft diese Zeichnung auch die wesentlichsten Züge der Ver-
einigung der Seele mit Gott, wie sie Meister Eckhardt meint. Die
mancherlei einander anscheinend widersprechenden Stellen in seinen
Schriften und manche Dunkelheit darin würden dann verständlicher.)
Ich glaube sogar, daß die Richtung auf solche Wirbildung das tiefste
Wesen der Liebe ausmacht, und daß sie gewissermaßen sich der Sexualität,
do«; Ahzielens auf die geschlechtliche Vereinigung nur als des zufällig
höchstmöglichen Modus der Konkretisierung des Ineinanderlebens, eines
Wir in vollendetem Verstände bedient. Die Sexualität erschiene so als
eine Möglichkeit, ein Schema, dessen Erfüllung und Sinngebung sich
erst in der durch den Liebesakt erfolgenden Wirbildung vollzieht. Die
Sexualität kann dieses Schema beistellen, weil sie wesenhaft immer auf
ein Du gerichtet ist; sie ist sozusagen Ansatz zur Liebe. Sie ist das
Strombett, in das sich die Hochflut der Liebe zu ergießen vermag.
Es scheint mir die Bildung einer Wireinheit aus der anfänglichen
Wirzweiheit auch der Grund zu sein, warum Liebende einander verstehen.
1 „Wenn ich dich liebe, was geht's dich an." Es ist das eine Liebe, die vielleicht
zwischen der Schwärmerei (s. o.) und der echten Liebe steht. Ihre Wurzeln können
mannigfache sein: Resignation, eine gewisse Mutlosigkeit, Mangel an Selbstvertrauen,
aber auch eine Beschränktheit im eigenen Ich.
2 Daher Maeterlincks Wort in ,,Aglavaine und Selysette": ,,Gott hat sicli geirrt,
als er aus uns zwei Seelen machte", doch nicht den Kern der Sache trifft.
470 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ohne je viel, ja ohne überhaupt über einen bestimmten oder irgendeinen
Gegenstand sich gegeneinander ausgesprochen zu haben. Sie verstehen
Andeutungen, halbe Worte, Gesten, Mienen, die auch solchen Menschen
entgehen oder unverständlich bleiben, die aus jahrelangem Verkehr eine,
wie mau meinen sollte, gründlichere Kenntnis des Betreffenden erworben
haben. Ein sehr hübsches Beispiel hierfür ist jene Szene in Tolstois
;Vnna Kaienina, in der Kitty Schtscherbazkij und Ljewin sich miteinander
über ihre Liebe und ihre Heiratsabsichten verständigen und nur die
Anfangsbuchstaben der Worte mit Kreide auf das Tuch eines Spieltisches
schreiben (Buch IV).
Wenn ich oben sagte, es sei zunächst irrelevant, ob die Liebe erw^idert
werde oder nicht, so meine ich, daß die Richtung auf solche Wirbildung
auch bei der unerwiderten Liebe besteht und ihr Wesen ausmacht. In
der Phantasie des Liebenden wdrd die Wirbildung allemal vollzogen. Sie
kann sogar zu halluzinatorischer Deutlichkeit herangebildet werden. (Die
„Parusie" in der Imago von Spitteler^.)
Erfaßt kann das Ganze eines Du nur durch das Ganze des Ich werden.
Im Akt der Liebe bricht der tiefe Unterstrom seelischen Lebens durch
die Oberflächenschichten durch, durchdringt sie und reißt ihre Stücke
mit sich w^eg. Daher kommt es, daß das Erlebnis des amour-passion dem
Alltags-Ich, das auf Äußeres eingestellt, nur mit der ,, Hälfte seines
Geistes" sozusagen lebt, als unvermutet, als neu, ja als fremde Gewalt
erscheint, ganz so wie der Künstler die Inspiration aus sich hervor-
quellen fühlt, ohne sein Zutun. Daher kommt es, daß Wille und Vemmift
gegen die Liebesleidenschaft nichts vermögen; denn in ihr lebt die Voll-
kraft, die Totalität der Person, gegen Vielehe Teilmanifestationen, die
doch nur Ableger ihrer selbst sind, nichts ausrichten können. Diese
relative Spaltung in ©in ratlos, erstaunt diesem neuen Erleben anwrohnenden
und dem von ihm erfüllten Ich ist bei echter Liebe nur ©ine kurze,
vorübergehende Phase, die nur so lange anlialten kann, bis auch das letzte
Stückchen jener Kruste, welche den Strom der Tiefe sorgfältig, aber
darum nicht zuverlässig deckte, mitgerissen, weggerissen ist, bis die
aus dem Ganzen der Person quellende Liebe auch alle Manifestationen
der Person durchdringt.
Dann konmit es zu einem Zustand, in welchem jede, auch di© fern-
liegendste, auch die gleichgültigste Handlung der Liebenden nur mehr
in der und durch die Liebe geschehen kann, jenem Zustande vergleichbar,
den die Mystiker Amare Deum in Deo nannten.
Sowenig aber der Mystiker dauernd im Zustande der Entrückung zu
verharren imstande ist, sowenig er das Erlebnis der Gemeinschaft mit
Gott ununterbrochen zu bewahren vermag, sowenig kann man von dem
^ Es darf nicht wundernehnien, daß ich fast immer Beispiele aus Dichtwerken
bringe. Die Liebenden selbst sind so wenig imstande, über ihr Erleben Auskunft
zn geben, wie im allgemeinen die Künstler über den Vorgang der Inspiration und des
Werdens eines Kunstwerkes. Aus den wenigen Dokumenten, die wir besitzen —
etwa der BrovMiing-Briefwechsel, die portugiesischen Briefe, die der Mlle. de Les-
pinasse — , läßt sich wenig entnehmen. Man ist fast ganz auf die künstlerische Nach-
schaffung angewiesen.
DIL: liebe; 471
Liebenden erwarten, daß der angedeutete Zustand ihn immerwährend
beherrsche. Nicht nur, daß es Schwankungen gibt, es scheinen auch
Phasen sich einzuschiel)en, die ganz dem gleichen, was die mystische
Theologie als geistliche Dürre, als acedin bezeichnet, ein Versagen der
Liebesfälligkeit, welches an der eigenen Lielxi wie an dem Werte des
Geliebten zweifeln läßt. Schließlich kann auch echte Liebe schwinden.
.\m wenigsten wohl dadurch, daß der Liebende zur Einsicht in gewisse
Eigenschaften des Geliebten kommt, die ihm bislang unbekannt, verborgen
gebbeben. Zu solcher Einsicht kann er erst gelangen, wenn die Liebe
schwindet. Der Vorgang des Versch>\indens reicht in seinen Wurzeln
ebenso tief in die verstandesmäßiger Durchdringung unzugänglichen
Schichten der Persönlichkeit hinunter wie jener der Liebesentstehung.
Es ist, möchte man sagen, so, als ob manche Naturen dauernd der
Aufgabe, sich und einen anderen voll und ganz zu erleben, nicht ge^
wachsen wären, als ob sie meder in die Verdeckung des Tiefsten durch
— um ein früher gebrauchtes Gleichnis aufzugreifen — Krustenbildung
flüchten müßten.
In diesem Zusammenhange sei auf die ,, Mittel gegen die Liebe" mit
ein paar Worten eingegangen. Eine kleine, anon}Tn erschienene, seltsame
Schrift des i8. Jahrhunderts: Des causes et des remedes ä l'amour (par
J. F., Medecin anglais) bemerkt, daß alle gemeinhin angepriesenen
Mittel, Zerstreuung, räumliche Entfernung, Aufgeben des Verkehrs usw.
recht wenig Nutzen brächten, gar keinen dort, wo es sich um wirkliche
Leidenschaft handle. Der Autor empfiehlt ein psychologisches Verfahren,
welches ge\\'issermaßen ein Negativ der Kristallisation darstellt. Man
gewöhne sich daran, an den geliebten Gegenstand immer nur in Zusam-
menhang mit einem anderen zu denken, der peinliche, quälende Gefühle
auszulösen imstande ist. Dann wird sich allmählich die Unlustbetonung
auch auf den Geliebten übertragen und so die Liebe zum V^erlöschen
bringen. Man muß sagen, das Mittel ist nicht ohne eine gemsse
Ingeniosität; ich fürchte aber, daß wenig wahrhaft Liebende sich zu seiner
Anwendung bereit finden werden — sie wollen ja ihre Liebe gar nicht
überwinden 1. W'as Stendhal zu diesem Punkte sagt, ist wenig; es
gipfelt eigentlich darin, daß ein Widerstand nur im Beginne möglich,
daß eine Art Prophylaxe — etwa bei jungen Mädchen — denkbar sei.
Folgerichtig sind hier die Hemmungen der Liebe, Hindernisse, die sich
ihrem Entstehen überhaupt oder ihrer weiteren Entfaltung entgegenstellen,
aufzuführen. Man kann eigentlich nicht sagen, daß irgend angebbare
Züge bestünden, welche einen Menschen als Gegenstand der Liebe aus-
geschlossen erscheinen lassen würden. Verbrecher und Krüppel, Dumm-
köpfe aller .Art haben schon Liebe gefunden. Man hört wohl, daß besonders
abstoßende, ekelerregende Züge Liebe verhinderten oder zum Verschwin-
den brachten. /Vber auch das muß nicht sein. Soviel ich sehe, wider-
streiten der Liebe eigentlich nur zwei Einstellungen des Subjektes, nicht
Eigenschaften des Objektes: besondere Achtung und Verachtung.
1 Natürlich gibt es Ausnahmen. Man vgl. die bei W. James zitierte Stelle aus
der Selbstbiographie Alfieris.
472 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
„Die Sterne begehrt man nicht" — dieser Satz drückt wohl aus,
daß Verehrung, Achtung eigentlich dem Aufkommen von Liebe hinderlich
sind. „Qui savise de devenir amoureax d'une reine, ä moins quelle
ne fasse des avances?" fragt Stendhal. Der Grund dürfte darin zu suchen
sein, daß Achtung jene Bemächtigung des fremden Ich, den „Einbruch"
in die Sphäre dos Du (Meisel-Heß [80 al) verhindert, indem sie von
vornherein eine zu große Distanz schafft, das Objekt außer den Bereich
solcher Annäherung zu rücken scheint. Eine Wirbildung setzt doch
irgendwo eine gemeinsame Ebene voraus. Daß damit nicht gesagt ist,
daß Achtung und Liebe schlechthin inkompatibel seien, bedarf wohl
nicht erst der Unterstreichung. Aber wo einmal Liebe Platz gegriffen
hat, ist sie auch Quelle der Achtung, wenn auch diese vorher schon
bestand. In dem Augenblick, da wirklich Liebe entsteht, wdrd sie über-
haupt Urquell, weil sie das Ich in seiner Totalität enthält.
Dieselbe Distanz in negativem Sinn erzeugt Verachtung. Auch sie
kann, wie die allzu große Achtung, von Liebe überwunden werden: es
kann die Herrin den Sklaven wirklich lieben 1.
Im Subjekt stehen der freien Entfaltung der Liebe mannigfache Hem-
mungen entgegen, deren eine durch den „Isolationsinstinkt" von James
(60), durch die Tendenz, das Ich vor dem Einbruch eines anderen zu
bewahren, gegeben ist. Daneben ungezählte rein konventionelle Momente.
Vor allem gibt die Ambivalenz einen der Liebe selbst immanenten Hem-
mungsmechanismus ab.
Noch eine zweite Zwischenbemerkung zur Frage nach den Beziehimgen
von „Liebe und Psychose"; unter diesem Titel hat G. Lomer (76a)
eine Studie veröffentlicht, in der er den Nachweis erbringen will, daß der
Liebe wesentlich die Struktur der Paranoia, zumindest der überwertigen
Idee zukommt. Es scheint mir diese Behauptung nur sehr bedingt
zulässig. Soviel ist richtig, daß manche Geisteskranken wie der Liebende
mit dem Einsatz ihrer ganzen Person eine neue Welt in sich aufbauen.
Was aber die Psychose grundsätzlich von der Liebe scheidet, ist ihre
Bezogenheit auf das eigene Ich, sie bleibt in sich verschränkt, während
Liebe wesenhaft über sich und das Ich hinausweist. Es ist indes nicht
unsere Aufgabe, hier psychopathologischen Problemen nachzugehen.
Das bisher Ausgeführte gilt wohl für die Liebe im allgemeinen.
Trotzdem darf nicht verkannt werden, daß in diesem Erleben Variationen
vorkommen, ebenso wie wir sie für die Sexualität im engeren Sinne
kennengelernt haben, Abweichungen von Individuum zu Individuum, beim
Mann und bei der Frau, bei verschiedenen Nationen und auf verschiedenen
Kulturstufen.
Was zunächst die individuellen Varianten anlangt, so ist unsere Kenntnis
noch äußerst gering. Wir nehmen zwar an, daß zumindest hoch dif-
^ La Rochefoucauld (69): ,,I1 est difficile d'aimer ceux que nous n'estimons
pomt; mais il ne Test pas moins d'aimer ceux que nous estimons beaucoup plus
que nous."
DIE LIEBE 473
foriMizierU' Menschen, jetler auf seine Art, lieben werden S wenn auch
(las Gruhdphänomen dasselbe bleibt. Worin aber diese individuellen
l nterscliiiHle bestehen niöfren. ist uns verborgen. Sic gründen Ict/tlicli
in der Eigenart und Einzigartigkeit jeder Person, die wir ja vorderhand
auch nicht zu erlassen \<'rniögen. L'anioür-pdssion in st'ineni luichsten
Sinn ist selten; die Richtung auf ihn zu allgemein und der Fortschritt
in dieser Richtung, wenn man so sagen darf,* verschitxlen grofo. ^ iel-
fach trifft man auch Ix'i Menschen, welche anscheinend nur dem reinen
sinnlichen Sexuidgenuß nachtrachten, Andeutungen davon. Auch die
Prostituierte wird nicht gar so selten nicht ausschließlich aus somatischen
oder triebhaften Motiven heraus aufgesucht ; auch hier wird eine Art
\\ irbildung, wenn auch flüchtiger Natur, angestrebt.
Über die verschiedene Art zu lieben und Liebe zu erleben des Mannes
und der Frau ist vielerlei geschrieben worden. In den Grundzügen kann
auf das oben über die Differenzen der Geschlechtlichkeit überhaupt Ange-
merkte verwiesen werden. Liepmann (78) hat sich jüngst zu dieser
Frage geäußert. Er nennt etwa das, was hier als Richtung auf den
geistigen Liebesakt bezeichnet wurde, den „Seelen trieb", ein m. E. nicht
glücklicher Ausdruck. Der Frau soll nach ihm eine weit stärkere Aus-
prägung dieses Seelentriebes eignen, während der Mann durch ein Über-
wiegen des ,, Naturtriebes" ausgezeichnet sei. Dem Seelentrieb läßt er
die Mütterlichkeit entstammen. Ja, wenn ich ihn i-echt verstehe, ist
der Seelentrieb eigentlich Alleinbesitz des Weibes und kommt dem Manne
nur insofern und insoweit zu, als in der männlichen Natur „W-Elemente"
im Sinne der Anschauungen Weiningers (ii/j) enthalten sind. Ich glaube,
daß dem eine gewisse Unscharfe phänomenologischer Analyse der ver-
schiedenen Arten von Liebe zugrunde liegt, daß zu Unrecht die geistigen
Liebesakte, welche sich auf den Geschlechtspartner richten, mit den
auf die Kinder abzielenden zusammengeworfen werden. Es besteht kein
Grund, wenn Mutterliebe und G«schlechtsliebe beide Entäußerungen des
,, Seelen triebes" sein sollen, Vaterlamdsliebe, Kunstliebe usw. davon unab-
hängig zu machen. Niemand wird aber behaupten wollen, Vaterlandsliebe
sei ein Prärogativ der Frau oder dem Manne nur nach Maßgabe seines
Besitzes an W-Elementen zuzuerkennen. Liepmann irrt, wie ich glaube,
auch darin, daß er die „Wirbildung" aus dem Mitleid herzuleiten bestrebt
ist (S. 2/jo: ,,Die Fähigkeit, sein Ich in das Objekt, das Objekt in
sein Ich zu versetzen, durch das Mitleiden können . . ."), während es mir
scheint, daß Mitleid ebensowenig eine Ethik (vgl. Scheler) wie das
Phänomen der Wirbildung zu begründen vermag. Dennoch aber wird
man nicht fehlgehen, wenn man im allgemeinen der Frau — es ist
so oft gesagt worden, daß es ein Gemeinplatz ist — ein größeres Madi
an Liebesfähigkeit beilegt. Nicht nur scheint es, daß mehr Frauen
als Männer echter, leidenschaftlicher Liebe fähig sind, sondern die Liebe
gelangt auch in jedem Stadium auf dem W^ege zu ihrer vollendeten
^ Sicherlich: jeder auf seine Art lieben will. Wenn wir bitten: „Oh, Herr, gib jedem
seinen eigenen Tod" (R. M. Rilke), um wie viel mehr wird jeder um seine eigene Liebe
bitten.
474 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Gestall bei der Frau zu viel durchgreifenderer Entfaltung. Vielleicht läßt
sich sagen, daß es in der weiblichen Seele eines -weniger revolutionierenden
Umsturzes bedarf, um die Tiefe des Ich im Akte der Liebe zur Herr-
schaft und zum Durchbruch gelangen zu lassen. Es kann das daran
Hetzen, daß in der Regel die rationale und praktische Krustenbildung
bei der Frau weniger weit fortgeschritten ist als beim Manne, was zum
Teil nichts anderes besagen will als die oft mederholte Behauptung von
der größeren Emotivität der Frau. Übrigens ist dieses Faktum, zusam-
mengehalten mit den oben beschriebenen psychosexualen Geschlechts-
differenzen, geeignet, die relative Unabhängigkeit von Geschlechtlich-
keit imd Liebe in dem hier eingangs präzisierten Sinne neuerlich zu
betonen.
Ob beim Mann oder bei der Frau die Liebe auf den ersten Blick
häufiger sei, ist mangels eines Erfährungsmaterials nicht zu entscheiden.
Vielleicht ist zwar diese Erscheinung auf beide Geschlechter gleichmäßig
verteilt, kommt aber die langsame Entwicklung echter Liebe bei der Frau
häufiger vor, als ob die einer intuitiven Erfassung des Objektes wahrhaft
Fähigen hier und dort in gleicher Zahl vorkämen, die überhaupt zu
echter Liebe Befähigten aber beim weiblichen Geschlechte überwögen.
Es scheint weiter, daß die einmal bewußt gewordene Liebe bei der Frau
dies in erhöhtem Maße bliebe als beim Manne. Das mag paradox klingen,
entbehrt aber nicht der Wahrscheinlichkeit. Auch der liebende Mann
wird, was inrnier er tue, seine Tat sozusagen in seiner Liebe tun; aber
er wird das nicht immer wissen; die Liebe wdrd bei Verrichtung seiner
beruflichen Leistungen z. B. nur einen Unterstrom bilden. Die liebende
Frau aber tut, was immer sie tue, für den geliebten Mann, gleichgültig,
ob ein unmittelbarer Zusammenhang besteht oder nicht, ob sie für ihn
kocht oder sein Heim ordnet, ob sie an der Schreibmaschine sitzt oder
die Zilien eines Infusors abzählt. Damit mag zusammenhängen, daß
die Frau durch ihre Liebe im Alltagsleben mehr gehindert wird als
der Mann.
Es ist hier an eine Bemerkung anzuknüpfen, welche in teilweisem
Anschluß an Georg Simmel in dem .Abschnitt über die Sexualität ge-
macht ^vu^de. Wie die sexuelle Frage, ist für den Mann auch die
Liebe ,,eine Relationsfrage . . ., sein Absolutes ist mit seinem Geschlecht-
lichsein nicht verbunden. Für die Frau ist dieses eine Wesensfrage,
die ihre Absolutheit sekundär auch in die aus ihr hervorgegangene
Relation hineinträgt." Wie in den Entäußerungen der Sexualität i. e. S.,
so gibt auch schließlich in der Liebe die Frau sich nicht völlig her oder
aus, sie bleibt bei allem Aufgehen in der Beziehung zum Geliebten und
in seiner Person doch irgendwie in sich selbst beschlossen.
Wiederum wäre die Frage aufzuwerfen, ob diese Unterschiede zwischen
den beiden Geschlechtern als eine Weiterbildung oder ein „Überbau"
über die Sexualität anzusehen seien, oder ob es sich hier um koordinierte
Wesensäußerungen handelt. Wie ich schon einmal sagte, ich glaube nicht,
daß SexuaUtät als ein in metaphysischem Sinne Letztes angesehen werden
kann. Und Ich halte es deshalb für eine gewisse Beschränkung, um
nicht zu sagen Beschränktheit, den ganzen Menschen aus diesem einen
DIE LIEBK 475
l*uiiktt' heraus vorsU'luMi nebenbei auch kurieren zu wollen. Weil sich
d'w gleiche (it^selzlichkeit in verschiedenen Sphären wiederfinden läßt,
folirt noch lani:re nicht deren wesenhal'ter, sicher nicht deren i^enetischer
Zusaujuienhaiif:. \ leimehr scheint mir die Sachlage die, dalj sich das
absolute ^^ eseii des Menschen in allen seinen Lebensäulierungen gleicher-
maßen ausspricht, nur daß che einen sozusagen eine größere Kernnähe
besitzen als die anderen. Was im tiefsten Verstände Mann oder Frau
sei, ist nicht zu sagen. Was immer es sei, es durchdringt alle Regionen
seelischen Lebens und seine äußerlichen Manifestationen: die Geschlecht-
lichkeit, die Liebe, das Handeln und alles andere. Ich würde nicht
einmal sagen, daß das Wesen: Frau durch die intimere Verflechtung des
Geschlechtlichen charakterisiert werden könne, eher, daß die Sexualsphärc
dem absoluten Sein der Frau irgendwie näher stehe und daher mehr
von dessen Struktur abbilde, als das beim Manne der Fall sei.
Jene eben gekennzeichnete Differenz der Geschlechter in der Wirkung
der Liebe auf ihr Verhalten erfordert noch eine Ausführung. Es darf
nämlich dies ,,In-der-Liebc-Handehi" nicht verwechselt werden damit,
daß die Liebende allesamt der eine ,,für den anderen etwas tim wollen".
Es scheint mir dieser Zug ein weiteroe Charakteristikum — allerdings
schwerlich der GeschlechLsliebo allein — zu sein; mit der Liebe ist eine
Tendenz auf das Opfer zu innig verschwistert. Diese Tendenz scheint
mir ein weiterer Stützpunkt für die Ablehnung der Schelerschen Negation
eines ursprünglichen Altruismus der Liebe. Und das, trotzdem dabei neben
der Richtung auf den anderen zweifelsohne auch eine Richtung auf das
Opfer schlechthin besteht. Liebe wünscht nicht sowohl für den anderen
etwas zu tun, als überhaupt eine Leistung auf sich zu nehmen; sie findet
im Opfer unmittelbar eine teilweise Sinnerfüllung. (Vielleicht knüpft
sich an diese Neigung und zugleich an die Einsicht, daß ethisches Ver-
halten doch vornehmlich aus Liebe nur — in weitestem Sinne selbstver-
ständlich — erwachsen kann, die vielfach vertretene Anschauung, daß
nur jene Handlungen moralischen Wert hätten, die ein Opfer bedeuten.)
Es bedarf indes einer Bestimmung mehr; die Stellung zu diesem Opfer
ist nämlich eine zmespältige. Es wird die betreffende Leistung zugleich
als Opfer angesehen und wiederum nicht. Es ist dies nicht oder nicht
immer so zu denken, daß das Opfer zwar als solches gewertet werde,
um den Geliebten oder der Liebe willen aber freiwdllig und freudig unter-
nommen werde. Natürlich kommt auch das vor; wie es scheint, ist
diese Einstellung die beim Mann überwiegende. Aber die hier gemeinte
Zwiespältigkeit liegt schon in der Sphäre der Wertung selbst: das Opfer
ist eines und ist zugleich auch keines, eine Einstellung, die eindringonderer
Erörterung kaum zugänglich erscheint. Soll eine solche dennoch ver-
sucht werden, so sind es vornehmlich negative Abgrenzungen, die man
auffinden kann. Was nicht zutrifft, ist etwa die Auffassung, es werde
die betreffende Tat als Opfer angesehen vom Standpunkte des oder der
anderen. In dem Augenblick, in welchem solcher Bezug auf die Mei-
nung anderer statthat, handelt es sich schon nicht mehr um das hier
eigentlich gemeinte Verhalten. Dieser Bezug bringt, vielleicht nicht mit
Notwendigkeit, aber mit großer Wahrscheinlichkeit, die Gefahr einer
476 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
ganz anderen, sogar wesentlich lieblosen Haltung mit sich, die sich etwa
so darstellt: wie liebe ich, daß ich dieses, jedem anderen so bedeutend
erscheinende Opfer auf mich nehme; eine Hinwendung also durchaus
auf das eigene Ich, statt über dasselbe hinaus. Sie ist deshalb im wahren
Sinn als lieblos zu bezeichnen, weil in ihr die Liebe imd damit der Ge-
liebte Mittel werden zur Erhöhung des Selbstgefühls, einer Besonderung,
Umschränkung geradezu des Ichs, statt einer Ausweitung desselben zum
Wir in der Liebe. Wer rechnet: dies habe ich für dich getan und das,
liebt nicht oder nicht mehr.
Semper crescil et decrescit amor, sagt der schon einmal zitierte
Kapellan Andreas. In der Bestimmung echter Liebe ist nichts gelegen,
was ihre Dauer in der Zeit implizieren würde. Ich halte es für falsch,
wenn man aus dem Verklingen einer Liebe schließen wollte, sie sei nicht
die wahre gewesen. Daß den im Zustande der Liebe Befindlichen ewige
Dauer Gewißheit ist, tut nichts zm- Sache.
Man kennt mannigfache Selbsttäuschungen auch in anderen Seeleo-
lagen. Vielleicht ist hier der einzige Pimkt, in dem Liebe „blind" ist.
Der Liebende kann aber unmöglich um die etwaige Vergänglichkeit seines
Zustandes wissen, sowenig wie der in Ekstase schwebende Gottsucher
in diesen Augenblicken darum weiß, daß seine Seele wiederum von Gott
lassen wird müssen.
Dauer der Liebe hängt nicht von Liebe, ihrem Grad, ihrer Echtheit, oder
wie man sagen will, ab, sondern von dem Ich, das in ihr die Außenschichten
durchbricht. Man könnte ein Gleichnis machen aus dem Verhalten von
Vulkanen, d. h. der ihnen entströmenden Lava, die das eine Mal dauernd
fließt, immer wieder neue Glutmassen über die erkaltenden Schlacken
strömen läßt, das andere Mal in ihrem Ausfluß stockt und nur die aus-
gebrannten, kalten Massen übrig läßt. Darum war es doch beide Male
echte, glühende, strömende Lava gewesen i.
Ob es überhaupt wesentliche Variationen des amour-passion zu ver-
schiedenen Zeiten und bei verschiedenen Völkerschaften gibt, wage ich
nicht zu entscheiden. Ich neige, offen gestanden, der Meinung zu, daß
die Liebe ihrem Wesen nach stets eine sei, zu allen Zeiten, in allen
Regionen. Wieso verstünden wir denn etwa die Liebeslieder eines Li-
Tai-Po, wenn nicht im letzten seine Liebe und die unsere doch dieselbe
wäre, wiewohl er schlitzäugige Chinesinnen oder Hafis steatopyge Oda-
lisken angesungen?
Dennoch gibt es Unterschiede; sie betreffen aber nicht den Kern, son-
dern einmal gev^sse Manifestationen der und sodann gewisse Urteile,
Bewertungen über die Liebe. Eine Kulturgeschichte der Liebe ist trotz des
reichen ethnologischen Materiales bei Stoll, trotz bemerkenswerter Ansätze
bei Stendhal oder auch bei Lucka (4) und etwa bei Müller-Lyer eigent-
lich erst zu schreiben. Hier ist indes weder der Ort, Bruchstücke zu
^ Der Mensch sei, meint offenbar in diesem Sinne La Rochefoucauld (69),
für die Dauer seiner Leidenschaften so wenig verantwortlich wie für die Dauer
seines Lebens. Ähnlich Lou Andreas-SaJome: ,.Das natürliche Liebesleben in allen
semen Entwicklimgen, und in den individualisiertesten vielleicht am allermeisten, ist
aufgebaut auf dem Prinzip der Untreue."
PIK LIEBE 477
einer Geschichte der Liebessitlen und Licbcsäußerungen noch zu einer
der Meinunjron von der Liolx» zusanunenzutraf^Mi. Nur der Verdeutlichimg
halber ein lieispiel. Ik^llique (8) macht darauf aufmerksam, <lali die
Liebe^lieder <ler alten italienischen Musik — .Montevertli, Scarlalti, IVt^'o-
leso. Qiris.simi und wie sie alle heilien — durchweg traurigen Inhalti39
sind. Hier erscheint die Liebe überwiegend als die Bringerin von Schmer-
zen: unerhörte Liebe, Tod der Geliebten, Flucht in den Tod ii. dgl. sind
ihre hervorstechenden Motive. In allen Zeiten natürlich gibt es scdche
Lieder auch. .\ber <lii^er Epoche f<^hlt die jub<^lndo, triumphierende Liebe,
die im deutschen Liede so oft zu Worte kommt, durchaus. Es wäre erst
zu untersuchen, wieweit dies Ausdruck einer bestimmten Mentalität, in-
wieweit es nur Mode oberflächlicherer Art gewesen. Jedenfalls, die Tat-
sache ist da und weist auf irgendwelche kulturelle .Abwandlungen der
Liebe hin.
Da ich aber an das überzeitliche und überindividuelle Gleichsein echter
Liebe glaidse, kann ich mich nicht entschließen, die ,,drei Stufen der
Erotik'" Luckas mit drei Stufen der Liebe gleichzusetzen i. Zugegeben
sei, daß Liebe in unserem Sinne zu ihrer Entfaltung einer gewissen Aus-
bildung des Geistes bedurft hat, daß der Troglodyt ihrer und vielleicht
auch noch der Pelasg^r unfähig gewesen sein mag 2. Aber ,, historische"
Völkerschaften, in dem Sinne, wie man dies Wort gemeinhin gebraucht,
dürften wohl immer Liebe gekannt haben. Ich vermute, daß mehr die
Wertschätzung, welcher die Liebe im allgemeinen begegnet ist, Schwan-
kungen unterworfen war, daß in einer Epoche eine große, in anderen
eine geringe Achtung davor bestand, daher die uns erhaltenen Berichte,
Dokumente aller Art bald mehr, bald weniger oder gar nicht davon zu
reden wissen. Es ist doch m. E. unwahrscheinlich, daß plötzlich,
etwa zur Zeit der Romantik, eine Generation liebesfähiger Menschen sollte
aufgestanden sein. Je nach der Hauptrichtung des Zeitgeistes getraute
man sich sozusagen zu lieben oder nicht, gestand es sich und den anderen
ein, ja rühmte sich dessen oder verbarg derartige Regungen sicherhch vor
der Welt, wahrscheinlich auch vor sich selbst. Eine Erscheinung, die man
ja auch im Leben des Einzelindividuums antrifft; gar mancher, durch
Neigung, vor allem diirch Erziehung und Einfluß der Umwelt dazu be-
stimmt, glaubt in seiner eigenen und der Achtung seiner Mitmenschen,
Standesgenossen zu sinken, wenn er sich einem Gefühl hingibt, anstatt
nur sachlich interessiert zu sein. Diese Einstellung auf das Objektive,
Unpersönliche ist eine spezifisch männliche und zur allgemeinen Wert-
grundlage nur geworden, weil die Menschen gewohnt sind, den männ-
lichen Standpunkt als den schlechthin maßgebenden anzusehen (Simmel),
während für die Frau dieser Konflikt in weit geringerem Ausmaße be-
steht. Daher rührt es auch, daß man Epochen und Menschen, in denen
^ Ellen Key (64) meint, die Askese des Kafiiolizismus hal)e den Geschle<;hts-
Irieb unterdrückt und dadurch ,, mittelbar das nach innen gekehrte, seelenvolle, sich
über die Sinnlichkeit erhebende Liebesgefühl entwickelt". Ich glaube aber: nur diesen
Ausweg für den Ausdruck übriggelassen.
- So soll nach Finsch (zit. l>ei Meisel-Heß [80 a]) ,,auf der Insel Ponape zwar
die Paarung und die Ehe, nicht aber die Liebe ein bekannter Zustand sein".
473 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
der Liebe Hochschätzung entgegengebracht und freie Entfaltung zuge-
standen wird, gern als Gebilde einer verweichlichten weibischen Kultur
hinstellen mll; als ob von vornherein ausgemacht wäre, daß das Ideal
des Mannes, wie es sich gemeinhin gibt, auch ohne weiteres <las der
Menschheit sein müsse.
Damit dürfte es zusammenhängen, daß Liebe sich zu verbergen trachtet.
In ihrem Wesen liegt nichts, was Öffentlichkeit ausschließen würde; eher
im Gegenteil: es findet sich darin vielleicht eine gewisse, mag sein
törichte Tendenz, andere an dem empfundenen Glück irgendwie teihiehmen
zu lassen. Anderseits empfinden die Liebenden eben nicht mit Unrecht,
daß man ihr Gehaben und Leben „nicht verstehen" würde. Und so be-
hält jenes Lied recht, das J. S. Bach seiner Magdalen© in das Noten-
büchlein schrieb: Willst du dein Herz mir schenken, so fang' es heim-
lich an . . .
Gewiß wird man aber zugeben müssen, daß die geringere Achtung, die
man der Liebe — und der Frau — da und dort entgegengebracht hat,
auch ihre Entfaltung gehemmt haben wird. Hemmnisse solcher Wirkung
gibt es noch andere. Die gewdssen Kulturen, so auch in weitem Maße
unserer Zeit, eigene Tendenz zur Maskiemng des wahren Ich, der wirklich
empfundenen Gefühle, die Konvention „gesellschaftlichen" Verhaltens
erschweren das (grundsätzlich zwar immer mögliche) Totalerfassen einer
Persönlichkeit. Ellen Key (64) niag riecht haben, wenn sie darin die
Wurzel des „Flirts" erblickt; sie nennt ihn ,,den Versuch der erwachen-
den Liebe zur Demaskienmg, zur Ablistung der schützenden Verkleidung,
eine Fechtkunst, die auf die Ritzen des dichtanschließenden Panzers zielt".
Es gilt dies wohl, wie auch Ellen Key bemerkt, nur für manche Formen
des Flirts. Denn daß er nebenbei auch eine spielerische Betätigung der
Sexualität schlechthin sein kann, zur Materialbeschaffung für erotische
Phantasien dienen \isw., ist bekannt.
Es wäre sicherlich von Interesse, könnte man die verschiedenen Ver-
wirklichungsstufen der echten Liebe, ihre größere oder geringere Annähe-
rung an das ideale Ziel genauer beschreiben. Doch fehlt es uns, glaube
ich, hier noch sehr an Wissen. Was man bringen könnte, wären doch nur
Gleichnisse recht unbefriedigender Art. Eher läßt sich über einige peri-
pherere Probleme etwas aussagen.
So über die Beziehung zwischen Liebe und Ehe. Natürlich nicht
darüber soll gesprochen werden, welche ethischen Forderungen zu er-
heben seien, noch über Ehereform, freie Liebe u. dgl. Es fragt sich viel-
mehr, ob und welche Einwirkung die Ehe auf die Liebe haben könne,
zweitens ob Liebe essentiell auf Ehe oder ein der Ehe gleichzusetzendes
Bündnis tendiere. Im Mai 1174 hat ein ,, Liebeshof" sich mit der Frage
befaßt: utrum inter conjugatos amor possit habere locum? und die
Gräfin von Champagne hat diese Frage strikte verneint. Die Urteils-
begründung sagt: „Liebende gewähren einander alles, gegenseitig und
frei\villig, ohne irgendeinen Zwang durch einen notwendigen Grund
(nullius necessitatis ratione cogente), während die Gatten durch die Pflicht
verhalten sind, sich gegenseitig ihrem Willen zu unterwerfen und einander
nichts abzuschlagen." Die Gräfin von Champagne hat den Kernpunkt
DIE LIEBE 479
der Frage ganz richtig gest^he^. Darum handelt es sich in der Tal: ob
W'rpflirhtimgon, liie sich auT »his orstn^ckcn, was Liolx» IreiwiUig g<nvährt,
nicht tli«' Lioho zu voriiichlen imslamlc wären. Zweitens aber auch darum,
wie (Icwohnheit de« Emi)fangens und Gcwälirens wirke.
Kmpirisch ist es wold so, dali oft giMmg die Liebt' in der Ehe zugrunde
gehl, auch dort, wo keine Selbsttäuschung vorgelegen. Man hat die
erfolgte Sexualbofrie<ligimg — in erster Linie dc^ Mannes — als Grund
angeführt. Ausschlaggebend scheint mir dies nicht. Denn offenbar
kann Liebe auch zwischen zwei Individuen schwinden, welche gar nicht
zum Geschlechtsverkehr gelangt sind. Aus dem Wesen der Liebe folgt
gewiß nicht die Notwendigkeit ihres Verfalles in der Ehe. Ist sie eine
Bewegung auf das ,,idc\de Wertbild" hin, so ist sie auch endlos. Der
Liebe, welche Zeit und Gewohnheit, Pflicht und Alltag überwindet, er^
scheint der geliebte Gegenstand eben immer als neu, daher auch Ge-
wohnheit ihr nicht Abbruch tim kiuin. Es scheint mir, daß der Verfall
der Liebe in der Ehe seinen tiefsten Grund in etwas anderem habe. Eis
wird der „Besitz" des oder der Geliebten zugleich als tatsächliche Er-
reichung jenes Zieles genommen, für das er höchstens Vorbild, Sinnbild
sein kann. Und das dämm, weil die meisten Naturen, wie schon gesagt,
dem dauernden Vollerleben des eigenen Ich und des geliebten Du nicht
gewachsen sind — warum, ist eine andere Frage.
Man ist hier vielfach auf Spekulation verwiesen — denn bekanntlich
sind die aus wahrer Liebe geschlossenen Ehen noch weit seltener als die
wahre Liebe selbst.
Nebenbei bemerkt: da die Intention der Liebe zweifellos auf dauernde
Verbindung der Liebenden geht, ist es sicherlich unrichtig, mit Engels
den Ursprung der Ehe im Ökonomischen (Privateigentum) sehen zu wollen.
Es liegt viel tiefer im Wesen der Liebe, sohin im eigentlichen Wesen
des Menschen selbst. Man wird daher auch bei allen praktischen Bedenken
dagegen die wesenhafte Berechtigung der Forderung nach der Unauf-
lösbarkeit der Ehe zugeben müssen. Daß sie nicht verwirkhcht werden
kann und nicht sollte, weil Gesetze nicht an phänomenologischen Ein-
sichten, sondern an sozialen Tatsachen zu orientieren sind, ist natürlich
ebenso klar.
Ein anderes Problem ist noch zu berühren: die Stellungnahme
des Individuimis zur Liebe. Es ward schon erwähnt, daß die Liebe als
etwas Fremdes, als eine dunkle Gewalt, eine Besessenheit erlebt werden
kaim; daß der Liebende dem Zuschauer besessen erscheint, gehört zu-
nächst nicht hierher. Doch dürfte dies nur ein Durcligangsstadium sein,
das Dauer nur dort gewinnen kann, wo die Bewältigung der Krustenge-
bilde nicht restlos gelingt. In solchen Fällen wird allerdings die ,, dämo-
nische Macht" der Liebe in den Vordergrund treten und wenig von der
beglückenden Befreiung entbundener Tiefenkräfte verspürt werden. Oft-
mals kann es auch nur beim Ansatz zur Liebe bleiben, die dämonische
Phase, wie man kurz sagen könnte, vm-d allein und vorübergehend erlebt.
Aus diesen wohl von sehr vielen Menschen zumindest in den Jugend-
jahren gemachten Erfahrungen heraus beurteilen sie dann den Liebenden.
Das sind jene Menschen, bei deinen die Kruste sich stärker als die
480 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Stoßkraft des Ich erwiesen hat, die Zuwendung an das Äußere, das Han-
deln, die Sache stärker als die zur eigenen Seele.
Diese Art abortiver Liebe hat nichts gemein mit einer anderen, viel-
leicht als abgeschwächte Form zu bezeichnenden Verlaufsart, die man
f^emeinhin die platonische Liebe nennt. Im strengen Sinne scheint dar-
unter eine Liebe verstanden werden zu sollen, der jegliches psychosexuala
iMoment abgeht; man versteht aber auch eine Liebe darunter, die nur ge-
rade der Tendenz zur Verwirklichung irgendeines deutlicheren Sexual-
/ieles, nicht aber eines oft ganz erheblichen erotischen Einschlages er-
mangelt: ferner sogar — aber zu Unrecht — eine ausgesprochen sexual
orienberte Beziehung, bei der es nur nicht zu Akten der Sexualität — sei
es aus inneren Hemmungen heraiis, sei es infolge äußerer Momente —
o^kommen ist. Psychologisch interessant wäre eigentlich nur der erste
Fall. Ich kann niir vorstellen, daß er nicht nur grundsätzlich möglich,
sondern auch wirklich realisierbar wäre. Freilich, ganz ohne jeden Be-
zug auf die Sexualsphäre nicht. Denn selbst, wenn im Bewußtsein — imd
auch im Unterbewußtsein — der Liebenden selbst nichts von Sexualität zu
finden wäre, so müßte doch immer, sofern deren Beziehung noch dem
Bereiche vitaler Akte angehören soll, eine immanente Richtung auf die
Sexualität vorhanden gedacht werden. Daher denn auch die platonische
Liebe gar leicht sich in nicht-platonische wandelt, so daß es ganz begreif-
lich ist, daß der Eifersüchtige und Mißtrauische auch die platonischen
.Vjiknüpfungen seines Partners mit scheelen Augen sieht.
Es kommen dabei oft schwankende, unbestimmte Situationen imd Be-
ziehungen zustande; zum Teil auch deshalb, weil die Beteiligten nicht
selten einfach die Wahrheit nicht sehen wollen, aus Scheu oder aus Be-
quemlichkeit — letzteres, um Konflikten mit sich selbst, ihrem Gewissen
auszuweichen, dem erfreulichen Genußi nicht entsagen zu müssen, sich
in den „Herzensschlampereien", wd© A. Schnitzler i einmal sagte, ausleben
2U können. Anderseits können solche Situationen einfach von den Be-
treffenden nicht durchschaut worden sein. Auch dort, wo Freundschaft
auf der einen, Liebe auf der anderen Seite besteht, bilden sich solche
Zwischenformen — amitie amoureiise".
Hier ist auch jener Beziehungen zu gedenken, welche sich zwischen
mehr als zwei Personen spinnen. Natürlich ist nicht das triviale „Dreiecks-
verhältnis" des einfachen Ehebruches gemeint. Sondern etwa der Fall,
daß zwei Frauen einen Mann, zwei Männer eine Frau lieben. Solange
der alleinstehende Teil indifferent bleibt oder sich eindeutig für einen
der Konkurrierenden entscheidet, bietet die Situation kein besonderes
psychologisches Interesse. Es ist höchstens zu bemerken, daß die Wer-
tung derselben verschieden ist. Simmel (io6) meint, man empfände es
,,von vornherein für den Mann als irgendwie ungehörig, ein bloßes
^ Das weite Land.
^ Zur Frage nationaler EHfferenzieriing des Liebeslebens bietet A. Schurigs
,, Seltsame Liebesleute, eine deutsche amitie amoureuse", den interessanten Versuch,
eineti französischen Roman sozusagen auf deutsche Art neuzuschaffen mit Beibehaltunjj
aller wesentlicher Züge. Inwieweit dies gelungen ist, und nicht nur Äußerlichkeiten
.getroffen wurden, kann ich nicht beurteilen.
DIE LIEBE 481
Objekt der Konkurrenz zweier Frauen zu sein, selbst wenn er äußerlich
ja der Wählende mm . . . der Mann spiele hier durchgehends eine ziem-
lich jämmerliche Rolle, er A>rscheino als ein halllos hin und her geworfener
Schwächling: Weislingen, Ferdinand (in der ,,wSlella"), bcinah<i sogar
Eduard", welche instinktive Reaktion des Gefühles er in der dem Mann
allein angemessenen .Vktivität begründet findet.
Auch Grete Meisel-Heß (80 a) sagt, der Mann könne sich zur Liel)e
nicht wählen lassen, indes Stendhal (iio) offenbar für gewisse Beziehungen
dieses Verhalten nicht nur als möglich, sondern sogar als notwendig an-
sieht (vgl. das Zitat im ersten Abschnitt).
Etwas anderes ist es, wenn zwischen dem einen und den beiden anderen
Teilen nicht nur rein sexuale, sondern auch geistige Liebesbande sich
knüpfen. Ist das überhaupt möglich? Kann ein Individuum zwei andere
gleichzeitig lieben? Im Sinne höchster Liebe mutmaßlich nicht; es ist
schwer vorstellbar, daß die m. E. eben das Wesen der Liebe ausmachende
Wirbildung sich nach zwei verschiedenen Richtungen vollziehen lasse.
Immerhin will ich selbst diese Möglichkeit nicht ganz von der Hand weisen.
Daß aber in Annäherungsformen derartige Situationen bei aller Aufrich-
tigkeit möglich sind, halte ich für sicher. Und nicht nur für den leicht
verständlichen Fall, daß je ein Partner eine gewisse Seite der Ich-
tendenzen zu erfüllen vermöge, in welcher der andere versagt, ohne doch
in seinem Gesamtwerte so viel einzubüßen, daß er überhaupt nicht als
Liebesziel in Betracht käme: etwa der Fall des „Seelenfreundes'" neben
einer anderen, mehr sexualbetonten Liaison. Hier wird die Ausbildung
der Liebe zu dem einen oder anderen verschiedenen Niveaus angehören.
Es scheint aber auch deakbar, daß sozusagen Liebe gleicher x\rt auf
zwei Menschen gerichtet sei ^. Vollkommen kann sie nicht sein, weil
die Vollerfüllung der Liebesintention doch nur durch den einen gegeben
werden kann. Wie solche Situationen sich gestalten oder lösen, ist schon
mehr eine soziolog^che oder sozialpsychologische als eine rein sexual-
psychologische Frage.
Damit hängt das Problem der Treue zusammen. In gewissem Sinne
hat ein frivoles Wort von O. Wilde recht: ,, Treue ist Mittelmäßigkeit;
sie ist die Unfähigkeit, einen einmal eingenommenen Standpunkt je wieder
zu verlassen 2." Dies gilt natürlich nur für jene Pseudotreue, die aus
Gewohnheit, Bequendichkeit trotz tiefer innerer Widersprüche, trotzdem
vielleicht ethische Forderungen in gegenteiligem Sinne sprechen, bewahrt
wird; ganz abgesehen davon, daß diese Treue oft nur eine scheinbare,
äußerliche ist. Man könnte vielleicht auch bei der Treue eine analoge
Scheidung von Sexualität und Liebe oder Sympathie vornehmen, wie ich
1 Dabei muß es sich m. E. durchaus nicht immer, wie das Forel (3q) anzunehmen
scheint, um hysterische Persönlichkeiten mit einer besonderen Disposition zu Ab-
spaltungen des Ich handeln.
2 Ähnlich schon La Rochefoucauld (O9). Für iiin scheint Treue überhaupt nur
dort Möglichkeit der Verwirklichung zu haben, wo die betreffende Person immer
unter verschiedenen Aspekten gesehen wird: Cette COtistance n'est qu'une inconstance
arretee et renfermee dans un meme sujet.
31 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
482 ALLKRS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
sie für den ganzen Bereich der Liebesphänomene versucht habe. Sexuale
rntreuo könnte mit Treue in einem höheren Sinne kompatibel sein.
Das Wesen dieser Treue scheint mir doch in der dauernd erhaltenen
Richtung auf den Wert einer Person gelegen zu sein. Damit verträgt
sich eine „rein sinnliche", als solche, wie oben bemerkt, exquisit lieblose
Ik'ziehimg insonderheit vorübergehender Natur recht wohl. Sie verträgt
sich damit beim Manne besser als bei der Frau, infolge jenes Verhält-
nisses, das ich die größere Kernnähe der Sexualität bei der Frau genannt
habe. Die Strukturverschiedenheit der Geschlechter bringt es aber natür-
lich mit sich, daß die Frau diese Seite männlicher Psyche wenig zu be-
greifen imstande ist; daher nehmen Frauen die Untreue des Mannes
schwer, die er selbst als eine nebensächliche, das Wesen der Beziehung
gar nicht treffende Entgleisung empfindet. Selbstverständlich gibt es
hier ungezälilte Varianten, individuelle \ne nationale.
Ein besonderes Phänomen ist der Selbstmord aus Liebe, insbesondere
aber der Doppel Selbstmord. Ich glaube indes, daß es an dem bloßen
Hinweis genug sein dürfte, da seine Psychologie gleichfalls nur in ent-
fernter Beziehung zu unserem eigentlichen Thema steht. Indes wird
durch diese Erscheinung eine andere Frage nahegelegt, die vielleicht
nicht nur psychologisches Interesse hat, vielmehr über die Psychologie
hinaus zu metaphysischen Problemen führt: nach den Berührungen von
Liebe und Tod. Mag dem Bilde des Genius mit der erhobenen und mit
der gesenkten Fackel lu'sprünglich nicht mehr zugrunde liegen als die
Einsicht des Werdens und Vergehens der Menschen und die Bedeutung
des ersten dm-ch die Entstehung des Kindes aus dem Liebesbunde, so
hat mau doch immer gefühlt, daß hier mehr noch angedeutet >vird, daß
zwischen Liebe und Tod irgendwo innigere Verbindungen bestehen müssen.
Denselben nachzuspüren, ist nun nicht eigentlich im Rahmen unserer
Aufgabe gelegen. Indes seien ©in paar Worte gestattet. Vielleicht hängt
diese Verknüpfung mit der relativen Aufhebung der Individualität in
der Wirbildung zusammen. Aber wahrscheinlicher dünkt es mich, daß
es das Faktum der Wiedergeburt im Akte der Liebe ist, welches die
Grundlage abgibt. Es stirbt ein Ich, ein neues wird geboren. Nirgends
ja ist dieses „Stirb und werde" mehr verwirklicht als gerade in der Liebe.
Zugleich ist es ein, wenn schon nicht tatsächlich verwirklichtes Hinaus-
gehen, so doch ein Hinausweisen über das eigene Ich, das in der Liebe
erlebt wird und so auf mögliche weitere Daseinsformen den Blick lenkt.
Vielleicht spielt auch die vorübergehende scheinbare Aufhebung des
Ich oder Selbst in der erotischen Ekstase dabei eine Rolle. Der Behaup-
tung Swobodas, es sei die Todessehnsucht der Liebenden eins mit der
Sehnsucht nach geschlechtlicher Vereinigung, würde ich indes nicht ohne
weiteres zustimmen. Es ist überhaupt gewagt, von einem Einssein
phänomenal differenter Strebungen zu sprechen.
Schließlich, rnn diese letzten, mehr aphoristischen Bemerkungen zu
beenden, sei noch ein Punkt gestreift. Es ist eine oft bemerkte, in Ro-
manen vielfach geschilderte Tatsache, daß Liebe in Haß „umschlagen"
kann. Ob wirklich dies bei Liebe im letzten, höchsten Sinne zutreffen
Dil: I.IKBK 483
kann, ob hier nicht doch vollentls tlas Wort <les Aik>sIoIs: sie eifert nicht,
sie suchet uidit (I;ls ilire. (H'lluiif,' hat, ma^ frafijlich bleiben. Diis empi-
rische Kakliun In'stolü. llicr/.u ist zu sa^eii, «lali Lielx' uiul Ilali phäno-
niejioK)gisch ^'•leichartiß: sind, s()W(>hl ihn^r lUthtinif:^ auf Werte nach
als auch ii. ihrem WeM*!!. Sowenig wie LielK\ ist llalS ein Akt dfs Nach-
setzens usw. (vgl. die eingangs im Anschluß an Scheler angestellten Be-
Irachtmigen). Es wäre m. E. irrig, zu glaul)en, Haß entstünde aus Liebe,
weil <ler GegensUuid der Liebe sich als unvollkonuiien erwiesen hat, weil
an ihm Eigenschaften entdeckt wurden, welche mißliebig sind u. dgl.
Es gilt hier das gleiche, was oben vom Aufhören der Liebe gesagt wurde.
Haß macht erst die Entdeckung der hassens werten Eigenschaften möglich.
Er zeichnet auch ein ideales W ertbild, aber im Sinne der negativen Werte,
(reht Liebe auf das Edle, so HafS auf das Gemeine mid Schlechte, jene
auf da.s Heilige, so dieser auf das Teuflische. Er entsteht nicht, Aveil der
(rt>genstand als so oder so beschaffen erkannt wurde, sondern, weil jene
Bewegung der Liebe einen Widerstand findet. Daher der häufigste
Fall die L^mkehr unerhörter Liebe in Haß ist. Wie wenig dieser Haß
mit einer Erkenntnis irgendwie minderer Beschaffenheit seines Objektes
zu tun hat, erhellt aus der bekannten Tatsache, daß das W iederumschlagen
in Liebe sehr möglich ist, ja daß Liebe und Haß alternieren können.
^^u^ Indifferenz ist das Ende der Liebe, weil damit jegliche Richtung
auf den ehedem geliebten Gegenstand verlorengegangen ist; im Haß
ist diese Richtung aber noch erhalten und die Liebe noch immer möglich.
In dem hiermit abzuschließenden Abschnitt ist, vielleicht mehr noch
als in allen anderen, vieles, allzu vieles problematisch geblieben. Es liegt
das wohl großenteils in der Materie, zum Teil allerdings auch in unserem
Mangel an Kenntnissen. Vieles ist auch hier Grenzgabiet, konnte nur
gestreift, angedeutet werden, durfte aber, we ich glaube, doch nicht
völlig übergangen werden. So mangelhaft die Darstellung auch ist, so
hoffe ich doch, nicht der eingangs erwähnten Gefahr verfallen zu sein, die
Stendhal mit den Worten kennzeichnet: „Je tremble toujoiirs de n'avoir
ecrit un soupir, quand je crois avoir note une verite."
Als Ajihang seien noch ein paar Worte über die Pathologie der
Liebe beigefügt. Darunter ist selbstverständlich nicht die großo Gruppe
jener Fälle zu verstehen, welche .Abweichungen hinsichtlich des Sexual-
zieles oder des Sexualobjektes erkennen lassen und die schon z\i\xa- be-
handelt wou'den. Sondern es handelt sich lun Abweichimgen im Liebee-
fühlen selbst.
Zimächst begegnen dem Psychiater nicht so selten Kranke, welche über
einen vollkommenen Mangel an Liebesfähigkeit klagen. Sie äußern ent-
w^er, sie seien überhaupt nicht mehr imstande, Liebe zu empfinden
— sei es ziun Gatten oder den Kindern usw. — , oder die Liol>e, die
sie etwa noch empfänden, sei „nicht die richtige". Solche Klagen
hört man von depressiven Kranken, insbesondere von solchen, welche
Depersonalisationserscheinungen bzw. das Symptom der ,, Entfremdung
der Wahmehmungswelt" aufweisen. Sehr oft bilden diese Klagen
nur einen Teil der über völlige Gefühlslosigkeit überhaupt; zu-
weilen bleibt aber auch diese Gefühlslosigkeit auf die Liebesgefühle
31*
484 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
insbesondere eingeschränkt. Krankengeschichten, die solches illustrieren,
finden sich bei K. Österreich! u. a., neuerdings bei Schneider 2.
Unter Umständen kann die Liebesunfähigkeit sich auf einen einzelnen
oder gewisse Personen allein beschränken. Meist handelt es sich um eine
— zumindest siibjektive — generelle Unfähigkeit.
Einmal kann eine solche Unfähigkeit anlagemäßig vorhanden sein,
und nur bei besonderen Anlässen dem Betreffenden klar werden, wodurch
dann verschiedenartige, nach Anlaß und Persönlichkeit mannigfach vari-
ierende Reaktionen gesetzt werden. Sodann kann eine solche Unfähigkeit
sich „physiologisch" entwickeln. Wird sie doch als ein häufiger Charakter-
zug des Alters vielfach erwähnt. Zu dem gleichen Ende können auch
psychopathologische Prozesse führen.
In allen diesen Fällen liegt eine tatsächliche Minderung der Liebes-
fähigkeil vor. Neben diese Gruppen, die Schneider eingehender charak-
terisiert hat, möchte ich als vierte die jener Menschen stellen, welche
bewußt imd willentlich ilire Liebeserlebnisse in den Hintergrund schieben,
ignorieren, ja gelegentlich geradezu mißachten, sich, wie die Rede geht,
„absichtlich verhärten". Die Motive dazu können natürlich wiederum
die allerverschiedensten sein: etwa Enttäuschung in einem wirklich
oder eingebildeterweise tiefgreifenden Liebeserlebnis, Motive rationaler
Art, wie die Besorgnis, von den „eigentlich wichtigen Aufgaben" durch
Liebe abgelenkt zu werden, Mißachtung der Menschen bzw. des anderen
Geschlechts u. dgl. m. In solchen Fällen wird man meist eine allge-
meine Gefühlsarmut, zumindest der oberflächlicheren Schichten der Per-
sönlichkeit, antreffen. Gelegentlich kann, wi>e das in Legenden und
Romanen mehrfach geschildert wird, unter der Einwirkung eines auf-
wühlenden Erlebnisses die ganze Konstruktion zusammenbrechen, eine
,/Wiedergebm-t" erfolgen.
Handelt es sich hier um eine Abwendung von den als der eigenen
Person angehörend erlebten oder erlebbaren Gefühlsphänomenen, so gibt
es eine andere Gruppe, bei welcher eine „Entfremdung" der eigenen
Gefühlserlebnisse eingetreten ist. Eine schwierige Frage ist die Deutung
dieser Vorgänge, die hier nicht zu versuchen ist. Es sei auf die Arbeiten
>'on Schilder 3, Österreich, Schneider u. a. verwiesen. Möglicherweise
bestehen hier, wie Schilder meinte, Beziehungen zu der Echtheit und
Unechtheit der G«fühlserlebnisse, deren Phänomenologie wir Haas sowie
Pfänder* verdanken.
Eine weitere Klasse mögen jene Persönlichkeiten bilden, bei denen eine
intensive Hinwendimg auf das eigene Erleben ein Hinausgehen auf ein
Du immöglich macht. Scheler hat gemeint, es komme infolge einer
! Die Entfremdung der Wahmehmungswelt usw. Joum. f. PsychoL u. NeuroL 7 — 9,
1905— 1907.
2 Pathopsvcholog. Beiträge zur Phänomenologie von Liebe und Mitfühlen. Z. f. d.
ges. Neurol. und Psychiatr. 65, 109, 192 1.
3 Selbstbe\\'ußtsein und Persönlichkeilsbewußtsein. Berlin igiA.
* Zur Psychologie der Gesinnungen. Jahrb. f. Philos. u. phänomenol. Forschung
I und III.
DIE LIEBE 485
dorartigeii Vcrsuiikenhcit in tlie eigenen Gefühle nicht zu einem Verstehen
von, nicht ru einer fühlenden Anteilnalune an fremden Erlebnissen,
damit auch nicht zur Entfaltung von Lidbeserlebnissen, üb ein solches
^er^teheu eine liedingung der Liebe sei, mag fraglich sein. Ich glaube
es nicht. Wohl aber ist einzusehen, daß eine solche ausschließliche
Inanspruchnaiime des Ich durch die es unmittelbar angehenden Abläufe
ein Aussichhinaus treten, wie es die Liebe erfordert, verhindern kann.
In gewisser Hinsicht sind solche Menschen ein Widerspiel der oben
erwähnten Typen, welche von den Liebeserlebnissen, diese unterdrückend,
beiseite schiebend, sich vWllküriich abwenden. Ein Widerspiel insofern^
als bei diesen die Richtung doch auf die Liebeserlebnisse, bei jenen aber
auf alle diesen von vornherein abseitigen Sphären der Persönlichkeit
geht. Andererseits — scharfe Trennungen sind ja hier nirgends zu voll-
ziehen — ähneln sich die beiden Typen darin, daß die Abwendung von
der Liebe be>virkt wird durch die ausschließliche Hinwendung auf
anderes — sei es auf das Ich, sei es auf die „Arbeit" oder auf sonstigie
Ziele. Auch gleichen sie sich darin, daß — in ausgeprägten Stadien —
die Liebesphänomene bzw. deren Mangel gar nicht erlebt wird, sondern
nur retrospektiv (nach der Wiedergeburt, nach dem Abklingen etwa
einer psychotischen Episode) vergleichsw^se konstatiert werden kann.
Eine besonders schwierige und wohl gar nicht zu beantwortende Frage
ist die nach etwaigen qualitativen Veränderungen des Liebeserlebens.
Ich glaube zwar, daß auch die bisher skizzierten Abwandlungen durch
die Bezeichmmg der Verminderung in keiner Weise gekennzeichnet sind, daß
es sich auch hier um Wesensveränderungen, nicht um solche sogenannter
„Gefühlsintensitäten" handelt. Es scheint aber, daß es daneben noch
andere Variationen geben mag, welche sozusagen auf einer anderen
Dimension der Qualitätsreihe gelegen sind. Man wird vielleicht daran
erinnern dürfen, daß die Liebe in der Ehe unter Umständen im Laufe
der Jahre Modifikationen erfahren kann, ohne daß man von einer Ver-
minderung sprechen könnte. Es ist auch nur teilweise richtig, wenn
man behauptet, die Liebe weiche der Freundschaft, oder es geselle sich
etwa zur Liebe der Gattin ein Zug von Mütterlichkeit auch dem Gatten
gegenüber usw. Alles dieses erschöpft das Problem m. E. nicht. Es
sind hier Andeutungen von qualitativen Abstufungen vorhanden, denen
auch die Pathologie einige Erfahrungen an die Seite stellen könnte. Indes
ist all dieses noch so ungeklärt und wenig beachtet, daß ein weiteres
Eingehen wohl zu viel Hypothetisches und Konstruktives bringen würde.
Man kann nur hoffen, daß die neuere, phänomenologisch orientierte
Psychopathologie auch in diesem Punkt uns einige Einsicht ermöglichen
wird.
AUSAVIKKUXGEN UND UMGESTALTUNGEN
Vielfach glaubt nian, in der populären vvie in manchen Richtungen
wissenschaftlicher Psychologie, daß die Sexualität oder die in ihr wirk-
samen Kräfte eine .Vblenkung von ihren eigentlichen Zielen erfaliren,
sich imigestalten, anderen Leistungen der Seele dienstbar gemacht werden
könnten.
Am schärfsten hat diesen Gedanken Freud (43) gefaßt; er nennt den
Vorgang dieser Transformation die „Sub 1 i m i eru ng". Mit diesem
Begriff muß mau sich auseinandersetzen. Freuds Worte lauten i;
„VVährend dieser Periode totaler oder bloß partieller Latenz werden
die seelischen Mächte aufgebaut, "die später dem Sexualtrieb als Hemm-
nisse in den Weg treten und gleichwie Dämme seine Richtung beengen
werden (der Ekel, das Schamgefühl, die ästhetischen und moralischen
Vorstellungsmassen). Man gewinnt beim Kulturkind den Eindruck, daß
der Aufbau dieser Dämme ein Werk der Erziehung ist, und sicherlich
tut die Erziehung viel dazu. In Wirklichkeit ist diese Entwicklung eine
organisch bedingte und kann sich gelegentlich ganz ohne Mithilfe der
Erziehung herstellen. Die Erziehung verbleibt durchaus in dem ihr
ange-vviesenen Machtbereich, wenn sie sich darauf einschränkt, das
organisch Vorgezeichnete nachzuzeichnen und es etwa sauberer und
tiefer auszuprägen.
Mit welchen Mitteln werden diese für die spätere persönliche Kultur
und Normalität so bedeutsamen Konstruktionen aufgeführt? Wahrschein-
lich auf Kosten der infantilen Sexualregungen selbst, deren Zufluß
also auch in dieser Latenzperiode nicht aufgehört hat, deren Energie
aber — ganz oder zum größten Teile — von der sexuellen Verwendung
abgeleitet imd anderen Zwecken zugeführt wird. Die Kulturhistoriker
scheinen einig in der Annahme, daß durch solche Ablenkung sexueller
Triebkräfte von sexuellen Zielen und Hinlenkung auf neue Ziele, ein Prozeß,
der den Namen Sublimierung^ verdient, mächtige Komponenten
1 a. a. O. (43) S. 34 der I. Auflage.
- Sache wie Ausdruck kommen übrigens schon bei einem anderen Autor vor. Es ist
mir nicht bekannt, ob Freud von diesem Vorgänger Kenntnis genommen hat.
Bei rs'ietzsche (92), Bd. II. Teil i, gS, ist die Rede von „jenen Menschen, dio
Liebe vermissen . . . namentlich aber den Menschen der sublimierten Geschlechtlich-
keit". Auch aus anderen Stelle« geht hervor, daß Nietzsche an einen ähnlichen
Mechanismus glaubte, wie ihn Freud lehrt. (Z. B. ebenda, Teil 2, 83.) Ich entnehme
weiterhin aus Keyserling (Keisetagebuch eines Philosophen, I. S. 278), daß eine
analoge Lehre der indischen Mentalität geläufig ist. EHe auch dort als wertvoll
gepriesene sexuale Enthaltsamkeit wird damit begründet, daß den zur Herrlichkeit
Reifen Enthaltsamkeit fördert, weil in seinem Fall die prokreative Energie einer Um-
setzung in spirituelle fähig ist. Aber diese Umsetzung gelingt nur den seltenen
Organisationen, die wir eben die Heilisren heißen.
AL SWIRKl .NüEN V^D UMGESTALTUNGEN 487
für allo kulturollon L«Msttinp^cn gewounon wonlon. Wir würden also
hiiizufüf^on. <lal'> der ii.imlicho I'ro/.oß In dor I'^iilwicklung des einz<'lnen
Iii(livi(lminis spielt, und seinen Beginn in die sexuelle Latenzperiode der
Kindlioil verlegen.
Auch über den Mechanismus einer solchen Sublimierung kann man
eine Vermutung wagten. Die sexuellen Regungen dieser Kinderjahrc wären
einerseits unverwenilbar, da die rortpflanzungsfunktionen aufgeschoben
sind, was den Ilauptcharakter der Latenzperiode ausmacht, anderseits wären
sie fK>rvers, d. 1\. von erogenen Zonen ausgehend und von Trieben getragen,
welche bei der Entwicklungsrichtung des Individuums nur ünlust-
empfindungen hervorrufen könnten. Sie rufen daher seelische Gegen-
kräfte (Reaktionsregungen) wach, die zur wirksamen Unterdrückung
solcher Unlust die erwähnten psychischen Dämme, Ekel, Scham und
Moral, aufbauen."
Ferner i; „Der dritte Ausgang" (neben Perversion und Neurose nämlich)
,,bei abnormer konstitutioneller Anlage wird durch den Prozeß der
.Subb'mierung' ermöglicht, bei welchem den überstarken Erregungen aus
einzelnen Sexualitätsqucllen Abfluß und Verwendung auf andere Gebiete
eröffnet wird, so daß eine nicht unerhebliche Steigerung der psychischen
Leistungsfähigkeit aus der an sich gefährlichen Verdrängung resultiert.
Eine der Quellen der Kunstbetätigung ist hier zu finden, und je nachdem
eine solche Sublimierung eine vollständige oder unvollständige ist, wird
die Charakteranalyse hochbegabter, insbesondere künstlerisch veranlagter
Personen jedes Mengungsverhältnis zwischen Leistungsfähigkeit, Perversion
und Neurose ergeben . . . Was war den , Charakter' eines Menschen
heißen, ist zum guten Teil mit dem Material sexueller Erregungen auf-
gebaut und setzt sich aus seit der Kindheit fixierten Trieben, aus durch
Sublimierung gewonnenen imd solchen Konstruktionen zusammen, die
zur wirksamen Niederhaltung perverser, als unverwendbar erkannter
Regungen bestimmt sind. Somit kann die allgemein perverse Sexualanlage
der Kindheit als die Quelle einer Reihe unserer Tugenden geschätzt
werden, insofern sie durch Reaktionsbildung zur Schaffung derselben
Anstoß gibt."
Gegen die in dem zitierten Text vorgetragene Auffassung läßt sich
vor allem ein grundsätzlicher Einwand erheben, der indes hier nicht
weiter diskutiert werden kann: es operiert diese Lehre, wie die ganze
psychoanalytische Theorie, mit einem vollkommen nach dem Schema
physikalischer Begriffe konstruierten Energiebegriff. Man wird sich fragen
dürfen, ob eine solche Übernahme physikalischer Begriffe in psycho-
logische Grebiete überhaupt zulässig sei, bzw. unter welchen Kautelen sie
zulässig sein könnte. Ich bestreite die Anwendbarkeit des Energie-
begriffes auf das Seelische durchaus. Man mag den Eindruck gewinnen,
es sei diese psychoenergetische Theorie nur als eine ,,Als-ob-Betrachtung"
gedacht, habe nur die Bedeutung eines Bildes, Gleichnisses. Vielleicht
war dies ursprünglich der Fall, obwohl schon die „Studien" von Breuer
und Freud sich einer energetischen Terminologie bedienen, ausdrücklich
1 a. a. 0. S. 76.
438 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
im Anschluß an hirnphysiologische oder hirnmechanische Vorstellmigen,
und in keiner Weise zweifeln lassen, daß die psychischen Vorgänge als
reale Energieumwandlungcn gedacht werden. Wenn aber je die Psycho-
analyse sich des fiktiven Charakters solcher Betrachtungsweise bewußt
war, so hat sie diesen Standpunkt im Lauf ihres Aufbaues sicherlich
verlassen. Für sie haben die seelischen Prozesse imd Elemente Energie,
die sich in Mengen ausdrücken, gegenseitig vertauschen, umwandeln läßti.
Was gegen diese — gewiß nicht der Psychoanalyse allein eigentümliche
und auch von ihr nicht zuerst gebrauchte — Auffassung sagen läßt,
gehört indes nicht hierher. Im folgenden wollen wir so verfahren,
als ob diese Psychoenergetik gestattet wäre — posito sed non conoesso — ,
und zusehen, was weiterhin etwa kritisch über die Lehre zu sagen wäre.
In den zitierten Stellen drückt Freud sich vielfach recht vorsichtig
aus. Zwar scheint er dafür zu halten, daß Ekel, Scham und Moral
allein durch Sublimierung der infantilen Sexualität entstünden, doch
heißt es weiter, es sei diese nur „eine Quelle" der Kunstbetätigung, der
Charakter sei „zxmi guten Teil" .aus solchem Material aufgebaut, „eine
Reihe" von Tugenden würde so geschaffen. In anderen psychoanalytischen
Arbeiten klingt aber die Lehre anders, bedeutend schärfer formuliert.
Alsbald wird fast alles, was an individuellen und kulturellen Leistungen
nur gedacht werden kann, aus Sublimierung der sexualen Triebkräfte
erklärt.
So heißt es bei Blüher z. B.: „Wo immer sich im Charakter des Men-
schen typische Strebimgen zeigen, die zwangsartig auftreten, und die nach
der Tat eine gewisse Befriedigimg auslösen, da haben wdr es mit trans-
formierter Sexualität zu tun, die Handlimg mag im übrigen in einen
Zusanmienhang gehören, wie sie wolle." An einer anderen Stelle ist
davon die Rede, daß man Sexualität in „Wissenschaft, Kunst und Lebens-
haltung sublimieren könne". Von anderen Autoren hören wir, daß der
wissenschaftliche Einfall, Kekules Konstruktion des Benzolkemes, das
Kunstwerk schlechthin, Religion, Philosophie usw. — alles durch Subli-
mierung zustande käme.
Es kann daher auch nicht wundernehmen, wenn alle Grefühlsbeziehun-
gen zwischen Menschen, Kindes- und Elternliebe, Freundschaft und Ver-
ehrung eine ebensolche Genese aufweisen sollen; dasselbe gilt für die
Liebe zu Gott, für dynastische Treue usw.
Eine solche weiteste, wenn nicht alle Sphären seelischen Geschehens
umfassende Lehre fordert zu ernstlicher Prüfung heraus.
Zwei Beweise stehen ihr zu Gebote. Erstens — der wichtigste — die
Resultate der psychoanalytischen Methode. Wer diese Methode nicht
anerkennt, wird natürlich die Beweiskraft gering schätzen. Deshalb
könnten die Behauptungen noch immer richtig sein. Die Methode halte
ich für unzulässig, weil sie kausale und sinnhafte Verknüpfungen ver-
wechselt und identifiziert. Viele Resultate kann ich anerkennen, weil
sie gar nicht durch die Methode gewonnen ^v^lrden. Denn die Auswahl
1 Ganz deutlich sieht man dies aucli in der jüngsten Schrift Freuds „Massenpsychologie
und Ichanalyse".
AUSWIRKUNGEN UND UMGESTALTUNGEN 489
dor niitoiiKuidor zu verbiiidondon Glityior In dem Ablaufe der Einfälle,
zwanglosen Assoziationen, ist durch die Metho<le an sich gar nicht be-
stimmt; sie ist Sache des individiifilen Verständnisses des Psychoana-
lytikers, trägt einen intuitiven Quirakter ^ Daher mit dergleichen, sich
als exakt-naturwissenschaftlich gerierenden MeÜiotlen, die einen ihrer An-
hänger auch dem Cregner einleuchtende, überzeugende Resultate zutage
fördern, die anderen die unmöglichsten Konstruktionen produzieren.
Dem einen eignet eben eine — bei Freud ins Geniale gesteigerte — in-
tuitive Begabung, den anderen fehlt sie gänzlich.
Das zweite Argument deutet Freud in der zitierten Stelle an, wenn er
sagt, es seien die Kulturhistoriker sich einig usw. Die damit angezogene
Meinung ist bekanntlich nicht nur die der Kulturhistoriker, sondern auch
die der Populärpsychologie, was vielleicht ihr eher Gewicht zu verleihen
als zu nehmen vermag.
Diese Überzeugung der Kulturhistoriker bzw. der Populärpsychologie
gründet sich im wesentlichen auf die Beobachtung, daß ein Ziuiicktreten
oder Zurückdrängen der Sexualität mit einem Auftreten anderer Betäti-
gungsweisen einhergeht oder einhergehen kann, so>vie auf die Fest-
stellung des umgekehrten Sachverhaltes — welche sich leichter machen
läßt und wohl zumeist den Ausgangspunkt bildet — , daß nämlich das
Auftreten anderer Betätigungen mit einem Ziu^ücktreten der Sexualität
einhergehe.
So glaubt man z. B. in der Mutterliebe transformierte, sublimierte
sexuale Energien am Werke "zu sehen, weil in der Tat diese Einstellung
sich >ielfach dort ent\vickelt, wo sexuale Triebe nicht zur Entfaltung
kommen. Sie scheint ,, überall da, wo eine volle Erotik sich — wegen
sexueller Empfindungslosigkeit — nicht entwickeln konnte, an die Stellet
derselben zu treten", (Kenmitz [63 a]). Wir sehen, daß bedeutende
Menschen zuweilen einen besonderen Mangel an erotischem Empfinden
aufweisen, etwa bei Kant. Es fragt sich nun, inwieweit solche Tatsachen
zu der oben skizzierten Theorie oder zu einer ähnlichen zwingen.
„Daß", bemerkt Löwenfeld (76), „die Libido oder überhaupt die Sexualität
einen sehr bedeutenden Einfluß als Triebkraft auf das seelische Leben
ausübt, hierüber sind alle jene, welche sich mit diesem Problem beschäf-
tigten, einig; nur über die Ausdehnung dieses Einflusses im psychischen
Gebiet rnid die Art seiner Wirkungen auf einzelne psychische Prozesse
sind die Ansichten geteilt."
Es ist nun zweierlei, ob man davon spricht, daß die Sexualität und
ihre Betätigung Anstoß zu irgendwelchen Leistungen — etwa zur Schaf-
fung eines Kunstwerkes — geben, oder ob man in den darin wirksamen
Potenzen eine transformierte Sexualität erblicken wdll. Daß das erstere
vielfach der Fall ist, bedarf keiner Erörterung. Jedermann weiß, eine
wie überragende Stellung die Sexualität und die an sie sich knüpfenden
Erscheinungen als Gegenstand der Kunst einnehmen. Sie ziehen das
Interesse auf sich, sie drängen sich dem Menschen auf, sie sind daher
1 Auch diese, in ihrer Kürze dogmatischen, Behauptungen sollen an anderer Stelle
eine ausführliche Begründung erfahren.
490 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
auch Inhalt des Kunstwerkes. Dazu konrnit, daß die — man möchte
ga^en Auflockerung des emotiven Lebens, welche mit dem Sexual-
affekl, insonderheit der Liebe, einhergehen kann, zweifellos der künst-
lerischen Produktivität günstig sein muß. Wissenschaft, deren Betrieb
emotive Kräfte nicht oder doch nur in ganz anderem Sinne beansprucht,
wird im allgemeinen nicht gefördert, wenn auch Schopenhauer behauptet,
gerade in den Zeiten heftigster sexualer Erregung seien die höchsten
Kräfte des Geistes zur größten Tätigkeit bereit.
Keinesfalls steht die Sache so, daß erotisches Erleben und Produktivität
einander in einem individuellen Leben vertreten und abwechseln onüßten,
wofüi- Goethe das beste Beispiel sein dürfte.
Als Prototyp der Sublimierung gilt die Gottesliebe, alles religiöse
Erleben überhaupt. Wie wenig die Äußerlichkeiten der Terminologie zu
einer Zurückführung dieser Phänomene auf Sexualität berechtigen, wurde
schon in der Einleitung xiargetan. Blüher (i3) formuliert die These kurz
und präzise: die Kirche verlange die Verwandlung von Brunst in In-
brunst. Eine Kritik dieses Standpunktes ist zugleich eine Kritik des
Sublimienmgsbegriffes überhaupt.
Die psychoanalytische Lehre ward indes nur verständlich, wenn man
den ihr eigentümlichen Begriff der „Libido" berücksichtigt. Ursprüng-
lich die Libido sexualis s. str. bedeutend, erfuhr dieser alsbald eine be-
trächtliche Ausweitung, insbesondere durch G. G. Jung (62), dem er
gleichbedeutend mit dem „Willen zum Leben", jeder vitalen Triebkraft
schlechthin, wurde. Daß damit jeder Sublimierungstheorie der Boden
entzogen wird, ist klar. Wenn es nur eine „seelische Energieform"
gibt und diese in leiner bestimmten Menge vorhanden ist — eine, wie
bemerkt, höchst angreifbare Position — , dann kann sie begreiflicherweise
bald als Sexualität, bald als künstlerische Produktion, religiöse Haltung,,
wissenschaftliche oder kulturelle Leistung "usw. erscheinen. Aber es be-
steht nicht der leiseste Grund, diese Libido als sexuale anzusehen und
von ihrer ,, Sublimierung zu etwas" zu reden. Wenn wiederum edles sexuale
Libido ist, müssen wir uns zunächst über das eine im höchsten Maße
wundern, wieso es überhaupt unter den Freudschen Voraussetzimgen
zu irgendwelcher Eindämmung und Zurückdrängung der Libido kommt.
Freud sagt, diese „verdrängenden Mächte" würden in der Entwicklung des
Einzellebens zum Teil selbst aufgebaut, wie z. B. Ekel und Scham, teils
bestünden sie in „moralischen Vorstellungsmassen", die dem Individuum
von außen zugeführt werden, darunter an erster Stelle in den Regeln
der in der Gesellschaft herrschenden Geschlechtsmoral, z. B. Verbot des
Inzests usw. Nun ist es aber schon schwer begreiflich, wie es — nimmt
„Libido" schließlich (wie bei Freud) den Charakter der seelischen Ge-
samtenergie überhaupt in Anspruch — aus ihr heraus zu einem Aufbau
von Mächten konmien soll, die doch gerade, wie Freud meint, zur Ver-
drängung der Libido berufen sind . . . Noch weniger kann man verstehen,
woher denn diese „moralischen Vorstellungsmassen" ihrerseits gekommen
sind, die die Libido des Individuums von außen her, seitens Gesellschaft
und Staat usw., beschränken und zurückdrängen sollen. Hier gerät Freud
in eine offenbare Zirkelerklärung. Alle höheren moralischen Gefühle
AUSWIRKUNGEN UND UMGESTALTUNGEN 491
und AufgalxMi, und datnit wohl audi die moralischen Motive selbst,
sollen ein Krgebnis suhliiiiieiUM- Libido sein. Lni diese „Subliniieruiig "
alxT ihrerseits verständlich zu inacluii, s<'tzl Freud voraus, ,,e.s gäbe eine
Moral, kraft deren Cielxtleu eine Verdrängung der Libido und tlaniit ihre
mögliche Zuleitung an , höhend Aufgaben" köinie geleistet werden. "
Durch diese Darlegungen Schelers ^ denen nichts hinzuzufügen ist,
dürfte die innere Uidialtbarkeit der Theorie wohl klargestellt sein. Indes
ist noch anderes zu sagen, wobei z. T. die Gredankengänge Schelers (loi)
Verwertung finden.
Man muß die Frage aufwerien, was denn durch die Subliniierung
aus der Libido entstellen soll. Libido ist per definitionem eine Energie.
Es kann also nur wieder Energie durch Umwandlung aus ilir in neuer
Erscheinungsweise entstehen. Wenn durch Sublimierung aus Libido
Kunstbetätigung wird, so kann höchstens die in dieser wjjj-ksame Kraft
aus der Libido stanunen, aber weder die Besonderheit der Betätigung
— malend, dichtend usw., aber auch: naturalistisch, gotisch usw. —
noch die Gegenstände, darauf sie gerichtet ist oder die sie zu erfassen
und darzustellen sucht. Es ist nun ganz klar, daß aus Libido nicht
iigendwelche iVkte werden können. Wie sich Libido etwa in ,, Denken"
mnwandeln sollte, ist einfach unverständlich und unmöglich. Sollte dies
ein Anhänger der Psychoanalyse behaupten — es ist gar nicht aus-
geschlossen, daß das geschieht! — , so wäre ihm entgegenzuhalten, daß
er nicht einmal den Schatten eines Beweises dafür erbringen könnte;
sowenig sich „Rot" etwa in „Eisen" verwandeln läßt, sowenig ist
diese Umwandlung auch nur in Gedanken vollziehbar.
„Es ist also selbstverständlich, daß nicht nur das ganze Reich dieser
Akte überhaupt auf alle Fälle vorauszusetzen ist, sondern auch, daß in
jedem Falle, da die Theorie zur Erklärung eines individuellen Lebens-
vorganges Verwendimg finden soll, die spezifischen Begabungen sowie
die spezifischen Interessenrichtungen auf Aji Wendungsgebiete dieser Be-
gabungen vorausgesetzt werden müssen" (Scheler a. gl. 0.).
Es kann sich also bei dem Prozeß der Sublimierung nur darum han-
deln, daß vorhandenen Tendenzen, Fähigkeiten „eine Energie zugeleitet
worden wäre, die ihnen bei schrankenloser Hingabe an die Libido versagt
geblieben wäre", wenn anders der Begriff der Libido überhaupt einen
vernünftigen Sinn haben soll. Auf diese Weise haben ja wohl auch
die von Freud berufenen Kulturhistoriker sich die Relation: Sexuali-
tät— Kulturleistung vorgestellt.
Aber, wie Scheler hervorhebt, diesen noch faßbaren Standpunkt nimmt
Freud gar nicht ein. Bei ihm scheint es, als käme den nicht sexualen
Akten an sich überhaupt keine Elnergie zu, und als wäre alles, was an
Energie sich in welchem seelischen Bereich immer betätigte, auf Kosten
der Sexualität mit Energie ausgestattet worden. Geistige Leistungen
kämen nur zustande, indem die Libido an Energiegehalt verlöre. Diese
1 (loi), S. 112. Merkwürdigerweise ist diese einzige, wirklich tief greifende Kritik
der psychoanalytischen Lehren von deren Anhängern und Gegnern anscheinend über-
haupt kaum beachtet worden.
492 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Annahme ist vollkommen willkürlich. Sie läßt sich auch in keiner Weise
induktiv, seihst wenn man sich auf den Boden psychoanalytischer Technik
stellt, als notwendig erweisen. Wenn man schon von seelischer Energie
redet und hierin weiche ich allerdings von Scheler, der von einer
Begrenztheit der seelischen Gesamtenergie spricht, ab — , so muß man
offenbar allen Schichten der Seele ein selbständiges Energiequantum zu-
erkennen. Schon das bloße Bestehen energieleerer Akte, die erst durch
die Sublimierung zm- Wirksamkeit gelangen wöirden, vorher nur der
Möglichkeit nach da wären, ist unvorstellbar und läuft jeglicher phäno-
menologischen Einsicht zuwider. Auch widerstreiten die Tatsachen der
Freudschen Lehre. Es ist gar nicht wahr, daß dort, wo Libido in
höchstem Ausmaß unterdrückt wird und wo doch nicht eine Neurose
resultiert, geistige Höchstleistungen gefunden würden, was nach der
Theorie zu erwarten wäre.
Es ist auch weiterhin gar nicht einzusehen, unter welchen Bedingungen
es zur Sublimierung imd unter welchen zur krankmachenden Verdrängung
konunen soll. Die Berufung aiif die „psychosexuale Konstitution" ist
eine Flucht in ©in Asylimfi ignorantiae imd die Heranziehung eines der
psychologischen Betrachtung durchaus transzendenten Momentes, dessen
Einführung dem gerade von der Psychoanalyse angeblich angestrebten
Verständnis menschlichen Seelenlebens iu keiner Weise förderlich
sein kann ^.
Was ergibt sich also? Schließlich ist die ganze „Sublimierung" nidits
als ein Wort, welches eine freilich vorhandene, aber auch längst be-
kannte Tatsache durch Verwertimg unbewiesener Annahmen verdunkelt.
Aus dem verständlichen Zusammenhang, daß das zentrale Ich nicht in
allen seinen Aspekten gleichmäßig sich manifestieren könne, es sei denn
bei manchen Ausnahmsmensch^i, daß also bei einem Individumn die
Erotik, bei einem anderen Anderes überwiegen wird, oder auch, daß
während eines individuellen Lebens Phasen verschiedener Art sich folgen
können, wird eine unverständliche und mit allem Greistesaufwand ihrer
inneren Haltlosigkeit nicht zu entkleidende Libidomythologie.
Dadurch soll das Verdienst Freuds und seiner Schide um die Aufdeckung
mancher Zusammenhänge zwischen den psychosexualen Sphären und
anderen Bereichen keineswegs geschmälert werden. Nur die Theorie
ist widersinnig. Was an verständlichen Zusammenhängen gefunden wurde,
ist eine bleibende Bereicherung unserer Einsicht. Auch ohne die Theorie
anzuerkennen, wird man z. B. in G. C. Jungs (62) „Wandlimgen imd
Symbole der Libido" vieles Wertvolle finden, dieser Arbeit eine gemsse
Größe nicht absprechen können.
Es ist unmöglich zu sagen : Beligion i s t transformierte Sexualität,
1 Natürlich kann man gelegentlich sich gezwungen sehen, in der Herstellung von
Verknüpfungen zwischen psychischen Momenten haltzumacheai und schließlich auf
Organisches zu rekiu-rieren. Das ist der Fall, wo die Psychopa Üaologie etwa mit Kron-
feld (Zaitschx. f. d. ges. Nexu-ol. und Psychiatr., 7^, 1922) von , .psychotischen,
Primärsjmptomen" sprechen kann. Hier aher handelt es sich um zweifellos als „ver-
ständlich' und aufeinander reduzierbar erlebte Momente.
AUSWIRKUNGEN UND UMGESTALTUNGEN 493
Kunst ist, Wissenschaft usw. ist letzten Endes nichts wie Sexualität.
Solche ...Vlcliiniie", wie sie Scheler nennt, ist — LiLsinn.
Wio kam aber, muß man fragen, ein Forscher von der zweifellosen
Genialität Freuds ^ zu solch einer Theorie? Ich glaube, daß er dazu
verleitet wurde, werden mußte durch tue Konsequenzen eines anderen
Bogriffes, den wir auch hier einer Erörterung zu unterziehen haben, des
Begriffes vom ,, Symbol".
Es ist nicht möglich, hier des langen und breiten die Genese dieses
Symbolbegriffes in der psychoanalytischen Lehre auseinanderzusetzen.
Den Ausgangspunkt bilden offenbar die schon in den ,, Studien" nieder-
gelegten Beobachtungen über die „Konversion", die ,, Umwandlung" eines
psychischen in ein somatisches Symptom, in welchem sich jenes irgend-
wie darstellt. Etwa nach dem Schema: Schluckbeschwerden treten auf,
weil der Kranke hat etwas hinunterschlucken müssen.
So wie hier das pathogene Erlebnis sich in dem somatischen Symptom
darstellt, so sollen überhaupt sich Erlebnisse in anderen Erscheinungen
— Träumen, Fehlhandlungen, Halluzinationen, Anfällen, Zwangsphäno-
menen, ganzen Abläufen und Verhaltungsweisen u. dgl. — darstellen
können. Gefunden wird das sich darstellende Element auf dem Wege
der zwanglosen Assoziation. An welchen Kriterien erkannt wird, ob
sich in einem manifesten Phänomen ein oder mehrere solche Elemente
darstellen, braucht hier nicht erörtert zu werden. Für die Sexualpsycho-
logie ist nur die Frage von Bedeutung, ob irgendwelche seelische Phäno-
mene, welche an und für sich nicht der Sexualsphäre angehören, Ele-
mente dieser darstellen, durch Vorgänge in dieser bedingt werden können.
Man muß hier wohl unterscheiden zwischen dem Inhalt eines solchen
Phänomens und dessen eventueller sexualer Bedeutung einerseits und dem
durch Vorgänge in der Sexualsphäre bedingten Auftreten andererseits.
Es ist nicht dasselbe, ob man sagt, dieses oder jenes Phänomen tritt über-
haupt nur deshalb auf, weil gemsse Sexualtendenzen nach Konkretisierung
streben, oder ob man sagt: daß sein Inhalt von der Sexualsphäre aus ge-
staltet werde. Eine Diskussion der ersten Frage deckt sich weit-
gehend mit der über die Sublimierung abgeführten; auch hier gilt, daß
sämtliche Aktbereiche als solche vorausgesetzt werden müssen. Es kann
sich nur um Inhaltsbestimmtheiten handeln.
Es behauptet nun die Psychoanalyse, daß es zahlreiche solche „Sym-
bole" gebe. Der Ausdruck Symbol ist sehr unglücklich. Er bedeutet
hier etwas cuideres als sonstwo. Im allgemeinen meint man unter Sym-
bol ein Gebilde irgendwelcher Art, durch welches ein anderes auf Grund
verständlicher und einsehbarer Beziehungen ausgedrückt wird. Hier aber
sind die Beziehungen gar nicht verständlich und einsehbar und oft recht
weit hergeholt. Sie werden aufgefunden durch das erwähnte zwanglose
Assoziieren. Richtiger: sie wurden aufgefunden, da heute eine große
1 Seine genialsten Leistungen sind übrigens gewiß nicht seine theoretischen Kon-
struktionen, sondern die intuitive Erfassung von Zusarrunenhängen und offenbar von
Pers-önlichkeiten. Gerade die Theorie ist vielfach reich an innerlichen Widersprüchen
und logischen Mängeln.
494 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Anzahl solcher Symbole in der Psychoanalyse als allgemein gültig und
feststehend anerkannt Avird tmd nur mehr „gedeutet", nicht aber ana-
lytisch aufgelöst zu werden braucht. Voraussetzimg der Theorie ist,
daß die von einem Element ausgehenden Assoziationsreihen zu anderen
hinführen, welche mit jenem Element in engerem Zusammenhange stehen
als mit sonstigen der seelischen Abläufe. Auf diesem Wege wurden
Sexualsymbole aller Art gefunden, solche für den männlichen oder den
weiblichen Geschlechtsteil, für den Sexualakt und seine Variationen usw.
Die Psychoanalyse ver\veist weiterhin darauf, daß die etwa im Traum,
der Psychose auffindbaren Sexualsymbole vielfach die gleichen seien, wie
die in der Mythologie, im Märchen, in der Volksprache, dem Volkslied
verwendeten. So bedeute z. B. die Schlange da und dort das männliche
Genitale.
Diesem Argument, welches zweifelsohne so weit Richtiges behauptet,
als in der Tat in Mythos, Märchen usw. derartige Symbole vorkommen,
kann indes nur so lange Beweiskraft für die These der Sexualgenese indi-
vidualpsychischer Phänomene zugemessen werden, als die grundsätzlichen
Annahmen der Psychoanalyse konzediert werden. Wem es nicht glaub-
lich erscheint, daf^ durch zwangloses Assoziieren kausal determinierende
Elemente aufgefunden werden können, der kann auch mit diesem Argu-
ment nichts anfangen.
Sobald nun die psychoanalytische Theorie zur Überzeugung gelangt
war, daß in den „Symbolen" das vermeintliche Symbolisierte irgendwie
enthalten, beschlossen sei, war nur ein Schritt zur Annahme, daß das
Sexuale auch in allen erdenklichen sonstigen seelischen imd kulturellen
Phänomenen sozusagen darin stecke, daß diese aus transformierter Sexu-
alität bestünden, durch „Sublimierimg" entstünden.
Ich glaube, wie die Lehre von der „Sublimierung" auch die von der
„Symbolbildung" in Freudschem Sinn ablehnen zu müssen. Wiederum:
die Ablehnung der theoretischen Konstruktion hindert nicht, daß die
faktischen Konstatierungen Freuds auch auf diesem Gebiet eine außer-
ordentliche Bereicherung unseres Wissens imd Verstehens bedeuten. Nur
folgt aus der Tatsache, daß Sonne, Schlange usw. phallische Symbole
sein können, keineswegs, daß sie es jedesmal, wenn sie uns in Ethno-
logie, Mythologie usw. wie auch in der individuellen Psychologie begegnen,
auch wirklich sind. Sowenig aus der Tatsache, daß man im psycho-
analytischen Verfahren im Laufe der Assoziationsreihen zu sexualen Mo-
menten gelangt, folgt, daß diese für das Ausgangselement konstitutive und
kausale Bedeutung haben, oder — wenn sie solche schon einmal hätten —
immer haben müssen. Schließlich kann man von jedem Element aus das
Ganze des Seelenlebens aufdröseln. Die Allgemeingültigkeit der symbo-
lischen Auslegung von Mythos, Märchen usw. glaubt Jung zu stützen,
indem er meint, man habe durch Lüftung des Schleiers, der über dem
Unbewaißten der individuellen Seele lag, auch den über die Völkerseele
gebreiteten gehoben. Diese Analogisierung einer ,, Völkerseele" und einer
Einzelseele ist zunächst nur ein Bild; soll sie irgendwo Beweiskraft er-
langen, so muß ihre Berechtigung eigens aufge>viesen werden. Sonst
verfällt man einem Psychologismus und Biologismus in der Soziologie.
AI SWIRKLNGEN L.ND LMGESTALTUNGLN 495
wie er — gedankenlos und ohne Prüfung der Grundlagen angewendet —
schon genug \or\virning gosliflcl hat ^
Als sichorstohoiKl dürfen wir ansehen, dali tatsächlich in der Sprache,
dem Lied oder (ieilicht, in Sago und Mythos, Kult und Religion zahl-
reiche sexuale Momente mitsprtx:hen oder ausgedrückt werden — sub rosa
sozusagen. Diese Ausdrücke sind z. T. Symbole im echten Sinne, d. h.
man weiß oder \\-ußte, was sie bedeuten, man sah gewissermaßen durch
die symbolhafte Einkleidung auf das letztlich Gemeinte hindurch. Warum
es zu solchen Symbolisienuigen überhaupt kommt, kann hier nicht unter-
sucht werden. Ein Moment, das speziell für die sexuale Symbolik von
lielang sein dürfte, ist gewiß dieses, daß das Verhüllte, aber zu Er-
ratende einen besonderen Reiz abgibt — eine Vorlust schafft, würde
Freud sagen. Nicht weil die Menschen, unter denen ein erotisch-symbo-
lisierendes Volkslied entstand, sich gescheut hätten, die geschlechtlichen
Dinge beim rechten Namen zu nennen, sondern weil die Umschreibung
einen erhöhten erotischen Wert abgab, gerade aus einer der ,, Verdrän-
gung" entgegengesetzten Haltung heraus haben sie sich der ,, Symbole"
bedient. Auch gewährleistet die Umschreibung durch ihre Zweideutigkeit
eine größere Sicherheit in der Anknüpfung erotischer Beziehungen ; wenn
der Partner nicht will, braucht er das „Symbol" nicht zu verstehen-.
Mit diesen kritischen Bemerkungen scheint mir nun der Weg frei ge-
macht, um die AusAvirkungen der Sexualität in anderen seelischen bzw.
kulturellen Gebieten kurz zu kennzeichnen. Ich begnüge mich mit der
grundsätzlichen, freilich auch nur in großen Zügen hier möglichen
Kritik ; denn wollte man alles, was die psychoanalytische Schule in den
Kreis ihrer Deutungsarbeit gezogen hat, kritisch richten, so würde ein
ungeheuerlicher Raum damit angefüllt werden, daß man wieder und
wieder die gleichen prinzipiellen Fehlschlüsse und implizierten unbegrün-
deten Annahmen aufzuweisen hätte. Ist doch dem Eifer der Psycho-
analytiker nichts entgangen: vom Sonnenhymnus des Amenophis IV.
Ichenaton bis zu den Romanen Gottfried Kellers, vom Kinderspiel bis
zur Konzeption des Benzolringes durch Kekule, vom Mithraskult bis zum
herrenhutischen Pietismus ist ihnen alles aus den Sublimierungen und
Transformationen der Sexualität erklärlich.
Daß das Erotische außerordentlich oft Gegenstand künstlerischer
Darstellung ist, bedarf nicht erst der Betonung. Fällt es uns doch geradezu
auf, wenn in einem Roman oder Drama nicht von Liebe gehandelt wird.
Hierum aber kann es sich nicht handeln; die Frage geht nach etwaigen
wesensmäßigen Zusammenhängen von Sexualität und Kunst. Krafft-
Ebing hat bezweifelt, ob überhaupt echte Kunst ohne sexuale Grundlage
denkbar wäre. Dabei kann, wie oben ausgeführt, das Verhältnis der
beiden Sphären — Sexualität und ästhetische Produktion bzw. Genuß-
fähigkeit — nicht das der Sublimierung sein. Die wenigsten Künstler
sind asexual und haben ihre Libido ,,sublimiert".
1 Vgl. dazu neuestens: H. Kelsen, Jurisprudenz und Soziologie, Tübingen, 1922.
2 Hierfür ein Beispiel in Kiplings ,,Kim", dem das womail of ShamlegH eine g-e-
spaltene Nuß reicht, Kim — Nuts indeed ; in the piain it is almonds — versteht
genau, tut aber so, als ob er das Symbol nicht, nur den realen Gegenstand erkenntei.
496 ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Bekannt ist das Erwachen und oft nur vorüber^hende Bestehen pro-
duktiver künstlerischer Tendenzen in Zeiten lebhafterer sexualer Anre-
gung, Pubertät, Verliebtheit. „Der Lenz, der sang für sie."
Wie soll man sich, nachdem die Sublimierungshypothese sachlich und
logisch unhaltbar ist, diesen Zusammenhang denken? Es scheint mir,
daß man sich wohl eine Meinung bilden könne. Wenn es erlaubt ist,
einen Vorgang der Nervenphysiologie zum Vergleiche heranzuziehen — im
allgemeinen halte ich zwar nicht viel von solchen somatisch-psycholo-
gischen Analogien, aber zur Illustration mag es einmal hingehen — , so
liegen die Dinge ähnlich, wie bei der zentralen Irradiation i. Irgendwelche
Erregungsvorgänge in der grauen Substanz erzeugen auch in zunächst
nicht beteiligten Partien Erregungen. Hierauf beruhen z. B. die Mit-
empfindungen, die Joh. Müller zuerst genauer beschrieb, sowie andere
Erscheinungen. Auch darf an das Phänomen der „Bahnung" (Exner)
erinnert werden : an sich unwirksame Reize, die eine Rindenregion treffen,
erhöhen die Erregbarkeit in anderen, mit jener in Verbindung stehenden
Rindenfeldern. Es entsteht also durch die Irradiation eine erhöhte Er-
regung oder Erregimgsbereitschaf t ; man kann das auch so ausdrücken:
die Widerstände in den betreffenden Regionen werden vermindert, Hem-
mungsmechanismen werden ausgeschaltet. Beide Formulierungen besagen
grundsätzlich dasselbe, da wir uns die Erregbarkeit abgestuft denken durch
die Widerstände an den Verbindungen zwischen den Neuronen (den Syn-
apsen Sherringtons) .
Die Analogie ist nun leicht herzustellen. Die Erregungsvorgänge in
der Sexualsphäre setzen eine Erregungserleichterung in den korrelierten
emotiven Sphären voraus. Ein gewisses Maß künstlerischer Produktivität
eignet fast jedem Menschen. Der Entfaltung dieser Begabung stehen verschie-
denartige Hemmungen im Wege, nicht niu- in dem Sinne, daß Anregungen
zur Produktion nicht Folge gegeben wird, sondern auch derart, daß
solche Anregungen überhaupt nicht wirksam werden. Infolge der in
der Sexualsphäre herrschenden erhöhten Tension sprechen auch die an-
deren Sphären leichter an.
Di^ ist selbstverständlich nur ein Bild. Es liegt mir durchaus ferne,
etwa Tension, Irradiation u. dgl. als reale psychische Vorkommnisse auf-
fassen zu wollen. Ich glaube aber, daß dieses Bild vor anderen, insbe-
sondere von den der Freudschen Theorie zugrunde liegenden Vorstellun-
gen, wie der des „libidincteen Zuschusses", der „Libidobesetzung" usw.
den Vorzug verdient.
Gerade zm- Kunst bestehen enge Beziehungen auch deshalb, weil
ein gewisses ästhetisches Moment in den psychosexualen Abläufen ohnehin
anklingt, wie oben schon bemerkt wurde.
Eine besonders enge Beziehung scheint zwischen Erotik und Musik
^ Dagegen ist die mit dem gleichen Ausdruck bezeichnete Miterregung von Netz-
hautpartien, welche größer sind als das genaue Bild des Gegenstandes, nicht auf den
obigen Mechanismus, auf eine Erregungsausstrahlung zu beziehen, wie das Plateau
wollte, sondern optisch-physikalisch aus der Aberration der Lichtstrahlen zu erklären,
was zur Vermeidung von Mißverständnissen ausdrücklich angemerkt sei. Vgl. A. v.
Tschermak: Ergebn. d. Physiol., 2. (2), 788. igoS.
AUSWIRKUNGEN UND UMGESTALTUNGEN 497
obzuwalten. „Lid» spricht in süfion Tönen." Auch an Tolstois „Kretitzer-
sonatc" ist zu erinnern. Die Art dii'ser B<'ziohungon ist ungemein .sch>N-er
zu erfassen. Man hört von „erotischer .Musik" sprechen; etwa Wag^ier,
Chopin, Puccini u. a. werden als Erotiker genannt. Es ist nun die Frage,
ob es überhaupt eine spezifisch erotische .Musik gibt, ob gewissen Ton-
verbin<lungen an und für sich erotische Qualitäten zukommen, Würde
die Trislannuisik. wenn sie eben nicht die .Musik zu Tristan wäre, so
eindeutig als erotisch empfunden werden, wie es heute geschieht? Ich
will diese Frage nicht entscheiden. Wichtiger für den Moment scheint
mir die Tatsache, daß unter gewissen Umständen jede Musik erotisch
wirken kann; so weit, glaube ich, hat Tolstoi recht gesehen. Vielleicht
macht — für uns! — die ältere klassische Musik, macht .T. S. Bach
eine .\usnahme: obwohl ich gar nicht überzeugt bin, daß manchem und
manchmal nicht auch das ,, Schlage doch, gewünschte Stunde" und ähn-
liche Stellen die Erotik anklingen zu lassen imstande sein können. Dieses
Vermögen der Musik kommt auch sonst der Kunst zu, nur jener in ganz
hervorragendem Maße. Der Grund dafür scheint mir gerade in jenem
Mechanismus gelegen zu sein, den ich oben unter dem Bilde der ,, Irra-
diation" zu zeichnen versucht habe. Es ist dies die Umkehrung der Be-
ziehung: Sexualität und Kunst. Wie die Erregung der Sexualsphäre der
Kunst — Produktion und Genuß darunter gleichermaßen verstanden i —
Vorschub leistet, so die ästhetischen Abläufe den erotischen. Und daß
gerade die Musik hierzu besonders befähigt ist, mag daher rühren, daß
sie am wenigsten unter allen Künsten einen definitiven Gegenstand meint,
daß sie nur einen Redimen, ein Schema gibt für emotive Phänomene und
die Ausfüllung dem Hörer überläßt. Ein einziges Musikstück kann je
nachdem alle Gefühlslagen für einen Menschen bedeuten oder zum Aus-
druck bringen 2. Darum — um auf die frühere Frage zurückzukommen —
gibt es keine in eigentlichem Sinn erotische Musik. Die es ist oder scheint,
verdankt diese Eigenschaft vielleicht nur einer Konvention; gewisse Tonver-
bindungen haben durch Verbindung mit erotischen Gegenständen die Be-
deutung von Zeichen für Erotisches erlangt. W^as an Tristanmusik er-
innert, ist erotisch — geworden, nicht essentiell. Anderen Zeiten, anderen
Ländern erscheinen andere Tonfolgen in diesem Lichte. Diesen Gedanken-
gängen weiter nachzuhängen, zu erörtern, ob und was die Musik denn doch
„Gegenständhches" zum .\usdruck bringen könne, ist hier wohl nicht statthaft.
Was hier im allgemeinen von Sexualität und Erotik gesagt wurde, gilt
auch für die Liebe. Nur muß dabei berücksichtigt werden, daß in ihr
nicht allein das psychosexuale Moment, sondern auch das Reich der
geistigen Liebesakte wirksam wird.
Versuchen wir schließlich, was sich über das Thema: Kunst und Erotik
sagen läßt, schlagwortartig zusammenzufassen, so kämen wir etwa zu dieser
1 Gcwölinlich denkt man nur an die Produktion; auch die Sublimierungstheorio
hat nur diese Seite im Auge. Aber das Verhältnis der ästhetischen Genußfähigkeit
zur Sexualsphäre ist ganz dasselbe. Auch eine Schwierigkeit für die Sublimierung:
was machen die libidinösen Energien im ästhetischen Genießen?
2 Die Frau des bösen Sintram in ,,Gösta Berling" von der Seima Lagerlöf
spielt eine einzige armselige Polka — ihr ist sie Ausdruck des Leides wie der Hoffnung.
32 Kafka. Vergleichende Psychologie III.
498
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
Formulierung: In beiden Lebensrichtungen versucht der Mensch seine
Einsamkeit — besser wäre, wenn das Wort erlaubt ist: Einzelsamkeit —
zu überwinden, des quälenden Subjckt-Objekt-Problems Herr zu werden,
einmal, indem er die Welt im Kunstwerk aus sich heraus aufbaut und so
in ihrem inneren Wesen erfaßt, das zweite Mal, indem er sie in Gestalt
des Anderen in sich hineinnimmt und zugleich sich an sie verschwendet,
so mit ihr eins werdend und die Kluft nicht überbrückend, sondern auf-
licbend. So erscheinen Kunst und Erotik Produkte „geschwisterlichen
Wachstums aus der gleichen Wurzel" (Lou Andreas-Salome [5]), nicht
aber die eine abgeleitet aus der anderen.
Eine kurze Bemerkung über die Auffassung von G. G. Jung sei noch
ano-efügt. Jung (62) stellt dem rezent Sexualen das genetisch bedeutsame
Sexuale gegenüber und meint, wenn auch soundsoviele Erscheinungen im
Seelenleben des Kulturmenschen nicht mehr als sexualer Natur angesehen
werden könnten, so seien sie doch genetisch an die Sexualität und deren
Transformationen gebunden. Dieser Standpunkt ist ein anderer als der
schon vordem vielfach vertretene, welcher die Entwicklung ge\\isser Er-
scheinungen aus den Bedürfnissen im Dienste der Sexualsphäre erklären
wollte. (Etwa Cabral [16], für den Sprache und Gesang sich nur wegen
der sexualen Beziehungen entwickelt hätten.) Bei Jung handelt es sich
um eine Entstehung aus dem Sexualen, nicht für dieses. Diese These
treffen natürlich alle Einwendimgen, die oben gegen die Freudsche
Fassung der Sublimierungslehre zu erheben waren in gleichem Maße.
Es ist schlechthin undenkbar, daß aus „Libido", wenn sie mehr sein soll
als Vitalität überhaupt, etwas Neues entstünde. Allerdings nimmt Jung,
wie mir scheinen will, eine etwas schwankende Haltung ein. Es entstehen
bei ihm nämlich nicht nur neue Phänomene aus Libido, sondern ge>visse
erhalten sich, weil sie — zufällig, möchte man sagen — sich zu Sexual-
symbolen eignen, oder werden gefunden, weil wiederum zufällig ein
sexualsymbolischer Vorgang auch noch eine andere Seite hat (Entstehung
des Feuers durch das Ineinanderbohren zweier Hölzer). Auch ist bei
Jung der Libidobegriff ungemein weit und verwaschen. Eine eingehendere
Kritik erübrigt sich wohl, da die Grundposition schon ihre Beurteilung fand.
Ist es also mehr als gewagt, generell die Kulturerrungenschaften nach
diesem Schema auslegen zu wollen 1, so bleibt noch zu erörtern, welche
Erscheinungen im individuellen Seelenleben etwa als Transformationen
des Sexualen aufgefaßt werden könnten, oder zumindest in ihrer Existenz
mit in demselben gründen möchten.
Erstens muß hier aller Liebesphänomene, welche nicht der
Geschlechtsliebe zuzuzählen sind, gedacht werden. Es wurde schon an-
gemerkt, daß man Mutterliebe z. B. als transformierte Sexualliebe auf-
gefaßt hat. Ebenso aber auch, daß phänomenologische Einsicht (Scheler)
uns von einem Zusammenhang und einer Wesensverwandtschaft der beiden
^ Jung sagt z. B. es „wäre . . . konsequent weiter zu schließen, daß die Er-
findung der Feuerbereitung eben dem Drange, ein Symbol für den Sexualakt einzusetzen,
zu verdanken ist"; wenn er auch zugibt, daß das nicht der einzige Weg dazu ge-
wesen ist, scheint auch die eingeschränkte Behauptung in Ansehung der schwankendea
Grundlagen noch kühn genug.
ALSNMRKINGEN UND LMGEST.\LTl'NGEN 499
Liebesarten nichts erkennen läßt. Gleichermaßen gilt dies für die Liebe
zu Gott, zum ^olke, zum Vaterland, zum Beruf usw. Als Arten der
Liebe müssen diese für sich bestehen und köimcn nicht aus Sexualität
oder Libido entslehon. Dem tut der Lmstand, dalj sich etwa mit Eltern-
txlor Kindes- oder Geschwislerliebe erotische Momente vermengen können,
tut auch das Faktum des offenen Inzestes wie der heimlichen, lj<.'\vuljten,
uidK>wuljten Inzestneigmigen keinen Abbruch. Auch niclit der Umstand,
dalS derartige inzestuöse Triebe alleinherrschend werden können, die niclit^
sexuale Geschwisterliebe z. B. vollständig zu unierdrücken vermögen
(St. Przbyszewskis De Profundis; einen ganz analogen Fall, der aber
mit dem Selbstmord des Bruders endete, habe ich beobachten können).
Auch wenn es richtig wäre, daß im Leben aller Menschen inzestuöse Ein-
stellungen gegeniüjer den Eltern (,, Ödipuskomplex") in der Kindheit eine
Rolle gespielt haben, würde an der wesensmäßigen Divergenz der Liebes-
arten nichts geändert werden können. Insbesondere ist die Liebe der
Mutter zu dem Kinde eine Liebesaxt für sich. Nicht entsteht sie aus der
sexualen Liebe, sondern sie gesellt sich sogar zu dieser in der Einstellung
auf den Greschlechtspartner hinzu. Es „redet auch schon dem Manne
gegenüber bereits etwas anderes aus ihrem (sc. der Frau) Überschwangs
als nur das Gehirnfeuervverk unbeschäftigten Sexualüberschusses. Wie
sie an ihrem Kinde mit allen sorglosen Verherrlichungen eigentlich nur
die eine, die \N-under>olle Tatsache seines kleinen Lebens feiert, so steht
hinter dem Strahlenmantel von Illusionen, die ihr den geliebten Mann
zum Einzigen machen, auch immer zugleich das Menschenkind selber,
das, wäre es so imgeschmückt und voller Fehl, nackt und bloß, wie eß
wolle, ihrem tiefsten Leben eingeboren ist. Mit allen Idealbildern, die
sie, scheinbar so anspruchsvoll und demutsvoll, ihm entgegenschickt, er-
schließt sie ihm doch nur die ungeheure Wärme, darin einmal gerastet
zu haben, die üreinsamkeit des einzelnen aufhebt, als ob er wieder vom
Allmütterlichen umfangen würde, das ihn umfing, ehe er war" i (Lou
Andreas- Salome) .
Alle Konstruktionen imd Deutungen sonstiger Liebeseinstellungen, die
Interpretation Gottes als ,,Vater-Imago" u. dgl. werden angesichts der
schlichten Tatsache grundlegender Wesensimterschiede hinfällig.
Über den Zusammenhang von Erotik und Religiosität, von dem schon
mehrfach die Rede war, darf vielleicht noch eine Bemerkung beigefügt
werden. Die Attitüde der echten Liebe wie der ihr so nahe stehenden
Schwärmerei führen nicht selten zu religiösen Einstellungen. (Es kommt
allerdings auch das Gegenteil vor, indem die dem Menschen geweihte
Anbetung den ^\eg zur Religion verlegt, der Angebetete sozusagen als|
Götze den Anblick Gottes verdeckt; es knüpft dies an eine mündliche
Bemerkung Schelers an.) Dies mag daher rühren, daß eben echte Liebe
über den einzelnen sowohl als über das entstandene Wir hinaustendiert
(nichts ist falscher als die Bestimmung des „egoisme ä deux)", daß zu-
gleich in der Liebe eine Totalität erfaßt und damit die Möglichkeit g^-
1 Daß das nichts mit der ..Multerleibphantasie" der Psychoanalyse zu tun hat,
braucht kaum angemerkt zu werden.
32*
ALLERS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
500
schaffen wird, die höchste auch zu erfassen. Selbstverständlich spinnen
sich hier noch weitere, wohl überhaupt nicht völlig zu entwirrende Fäden.
Es ist hier der Ort, einer weiteren von der Psychoanalyse gelehrten
Umwandlung der Sexualität zu gedenken: der Umwandlung in Angst.
Es ist ein abermaliges Verdienst, welches nicht gering veranschlagt werden
soll, aufgedeckt zu haben, dafS hier Beziehungen zweier heterogener Phä-
nomene vorliegen, daß Sexualeindrücke, Sexualerlebnisse Angst und diese
jene auslösen kann. Mehrfach berichten Selbstschilderungen davon, daß
die ersten sexualen — bewußt-sexualen — Regungen der Pubertät oder
der präpuberalen Periode im Anschlufj an oder während eines Angstaffektes
Prüfungsangst z. B. — aufgetreten seien. Anderseits lehrt die Patho-
logie, daß Sexualkonflikte zur Entstehung von Angstsymptomen Anlaß
geben können. Auch ohne Psychoanalyse läßt sich das gelegentlich fest-
stellen, wenn auch Freud zuerst diese Zusammenhänge durchschaute.
Manche Kranke wissen ganz gut, woher ihre Angstanfälle stammen. Es
ist nur zu fragen: ist alle Angst sexualer Genese? und weiterhin: entsteht
Angst, wie die Psychoanalyse will, aus Sexualität? Beide Fragen müssen
m. E. verneint werden. Es gibt erstens zweifellos eine ganz vitale, mit
der Sexualität in keiner Weise verhaftete Angst, die der Theorie zuliebe
als sexueller Genese auszulegen nur größten Künsteleien gelingen kann.
Zweitens entsteht Angst ebensowenig aus Sexualität, wie aus ihr Denken
oder Phantasie entsteht. Warum zwischen beiden Affekten eine so eigen-
artig nahe Beziehung obwaltet, ist nicht zu sagen. Auch die sonst so
erklärungsfreudige Psychoanalyse kann hier nur die Tatsache konsta-
tieren. Ein Erklären ist nicht möglich. Ich glaube mich indes nicht
zu täuschen, wenn ich behaupte, daß dieser Zusammenhang von den
meisten Menschen irgendwie eingesehen wird, also verständlich, nach-
erlebbar ist, auch wenn jede rationale Bewältigimg des Problems miß-
lingt. Biologisierende Auffassungen, welche die Angst mit dem Trieb
zur Erhaltung der Art u. dgl. in Zusanunenhang bringen wollen, sagen
doch gar nichts. Auch als Ausdruck der Ambivalenz läßt sich die Angst
nicht interpretieren; sie ist in keiner Weise ein Negatives zu einem im
Sexualaffekt beschlossenen Positiven. Am ehesten möchte man an die
bipolare, aktiv-passive Orientierung der Sexualität denken, ohne doch,
wie ich glaube, auf eine fruchtbare Deutung zu stoßen. Trotz allem
steht der Angstaffekt sicherlich mit der Sexualsphäre in innigem Zu-
sammenhange, so sehr, daß wir ihn berechtigterweise auch hätten unter
den sekundären Phänomenen abhandeln können.
Es sollen diese wesentlich negativen Feststellungen nicht über Gebühr
ausgedehnt werden. Daher sei nur noch einer Erscheinung gedacht,
nämlich des Spieltriebes. Auch zu seinen „Elementen gehört . . .
der Sexualtrieb im infantilen Stadimn. Es steckt in ihm ein heimliches
Sexualobjekt, von dem gerade, ohne daß dies zum Bewußtsein zu kommen
braucht, der eigentliche Reiz des ,Spielens' ausgeht" (Blüher [i3]). Wir
wollen uns mit diesem Zitat begnügen, ohne noch einmal alle jene Argu-
mente beizubringen, welche auch solche Behauptung als ebenso haltlos
erweisen würden imd als nur einer konstruktiv-rationalisierenden Psycho-
logie, die an phänomenologischen Sachverhalten achtlos vorübergeht, erreichbar.
SCHLUSS
Einige wenige Worte sollen unsere Betrachtungen abschließen. Daß
vieles problematisch bleiben mußte, vieles sich überhaupt unserer Ein-
sicht entzieht, ist bei einem Gebiete, dessen Sch^vierigkeiten sowohl in
der Materie wie in dem Material gelegen sind, begreiflich. Die Worte,
mit denen Leu Andreas-Salome (5) ihr Buch b^innt, mögen hier stehen:
,,Man mag das Problem des Erotischen auffassen, wie man will, stets
behält man die Empfindung, es höchst einseitig getan zu haben. Am
allermeisten aber wohl dann, wenn es mit den Mitteln der Logik versucht
\vurde: also von seiner Außenseite her". Ich hoffe allerdings, durch
Nutzbarmachung phänomenologischer Einsicht manches auch von innen
her zur Darstellung gebracht zu haben. Aber freilich versagen unsere
Ausdrucksmittel bei solchem Versuche, die ja, im Dienste einer Orien-
tierung nach außen stehend, so wenig dem Fließenden des Seelischen,
so wenig dem Ganzen, der Totalität des Seins adäquat sind.
.\n vielen Stellen mußte ich mich mit der einzigen, heute konsequent
ausgebauten sexuologischen Theorie, mit der Psychoanalyse auseinander-
setzen. Ich fürchte, daß trotz aller Einschränkungen, mit denen ich
meine Kritik zu umgeben bemüht war, der Eindruck erweckt wird, als
lehnte ich alles, was mit der Psychoanalyse zusammenhängt, ab. Davon
bin ich so weit entfernt, daß ich dies ausdrücklich hier nochmals heraus-
gestellt haben möchte: zwar scheint mir die psychoanalytische Methode
das, was sie wdll, nämlich kausale Zusammenhänge aufzudecken, in keiner
Weise imstande zu sein, zwar halte ich die meisten theoretischen Kon-
struktionen und Substruktionen für vollkommen verfehlt, aber was über
diese Methode hinaus, trotz ihrer, gegen sie der intuitive Scharfblick
Freuds — und einiger, recht weniger seiner Anhänger — uns an Erkennt-
nissen vermittelt hat, was wir üim in der Förderung des Verstehens
mancher seelischer Zusammenhänge verdanken, wiegt vielleicht alle diese
Mängel auf amd bedeutet jedenfalls mehr, als viele hundert andere psycho-
logische, soziologische, ethnologische Arbeiten.
An Stelle des geschlossenen, wenn auch noch ständig im Aus- und
Umbau begriffenen Systems der Psychoanalyse habe ich nichts, keine
eigene und keine fremde Theorie zu setzen. Man kann dies einen Mangel
heißen, man kann darin auch einen Vorzug erblicken. Vorzeitige Syst&-
matisierung und Schematisierung kann zur Erstarrung, zum Dogma
führen; die Psychoanalyse läuft sicherlich heute schon diese Gefahr.
Wenn ich mm doch die Stellung des Sexualen in der Gesamtheit des
Seelenlebens zu kennzeichnen versuchen soll, so möchte ich dieses sagen:
Das zentrale Ich, das immer, auch in der Psychose, auch in der Demenz
502 ALLEllS: PSYCHOLOGIE DES GESCHLECHTSLEBENS
erhalten bleibt ^ das „erlebnisimmanent, aber bewußtseinstranszendent"
ist, bildet sich in den vcrschiodenon Manifestationsweisen der Seele ab,
drückt sich darin aus. Grundsätzlich ist es in jeder derselben ganz, in
seiner Totalität enthalten. Die strukturale Durchsichtigkeit der einzelnen
Manifestationen ist eine variable; es gibt solche, in welchen das zentrale
Ich sich reicher, solche, in denen es sich weniger reich abbildet; gewisser-
maßen entsteht das eine Mal ein scharfes Bild, das andere Mal eines
in Zerstreuungskreisen, die auch alle Einzelheiten des Gegenstandes, aber
unerkennbar verschwommen in sich beschließen. Man mag die ersteren
Manifestationen, wie ich es oben tat, die Ich- oder Kernnahen nennen.
Alle verschiedenen Aspekte und Manifestationen der Seele oder des
zentralen Ich sind aufeinander durch ihr abbildliches Verhältnis zu diesem
Ich bezogen. Sofern strukturale Eigenheiten sich in ihnen ausprägen,
müssen die gleichen hier und dort wiederkehren; natürlich nicht in dem
Sinne der Identität, sondern so, wie sich etwa ein und dasselbe stereo-'
metrische Gebilde in verschiedenen Projektionsebenen verschieden ab-
bildet und doch die Abbildungen alle die gleichen Gesetzmäßigkeit^en der
gegenständlichen Konfiguration ausdrücken. Sind, um bei diesem Gleich-
nis zu bleiben, die Abbiidungsbedingungen zweier Projektionsebenen nur
wenig unterschieden, so wird es leicht sein, die in der einen erkennbaren
räumlichen Beziehungen in der anderen wieder zu finden. Niemals aber
sind die Besonderheiten einer solchen Projektion Ursache, Bedingung,
Bestimmmig für die einer anderen.
Angewendet auf die Seele heißt dies, wie ich schon einmal sagte: die
Abläufe einer Manifestation, eines Bereiches, einer Sphäre, wie man
«eben sagen will, sind niemals ,, vorbildlich" für die einer anderen oder
gar des Ganzen der Seele, sondern „abbildlich".
Der psychosexualen Sphäre eignet offenbar eine besondere Ichnähe
(bei der Frau noch deutlicher als beim Mann) ; sie läßt daher einen
besonderen strukturalen Beichtum erkennen. Dies verführt, wenn man
den eben dargelegten Standpunkt nichit leinnimmt, dazu, den psychosexualen
Abläufen kausale und determinierende Bedeutung für die Seele überhaupt
zuzuschreiben.
Wenn man alle seelischen Abläufe betrachtet, so gewinnt man m. E.
— was hier nicht weiter auszuführen gestattet ist — den Eindruck einer
durchgehenden polaren Struktur. In der Belation: Innen-Außen findet
sie sich wohl allerorten ausgedrückt. Das Sexuale zeigt diese Polarität
in besonders sinnfälliger Weise. Ich erinnere an die aktiv-passive, die
bisexuale, die ambivalente „Dimension". Vielleicht darf man diesen drei
Polaritäten eine vierte beifügen. Die Sexualität weist nämlich einerseits
über die Persönlichkeit hinaus auf den Anderen und zeigt zugleich eine
intime Bezogenheit auf das eigene Ich. Es wird die Welt mit dem Anderen,
durch ihn in das Ich hineingenonunen, und zugleich strömt das Ich
in die Welt, in den Anderen hinaus. Dies ist, wie schon oben angedeutet
^ Diese Gedanken berüliren sich enge mit den van Schilder (Selbstbewußtsein und
Persönlichkeitsbewußtsein, Berlin igih) geäußerten.
I
SCHLUSS 503
wurde, tlio tioft'n« Wurzel, aus «It'r dii' Gi'ineinsainkeittMi von Kunst
und Erotik s|)rielS«Mi.
Ks orsoluMiil mir also, um dirs noch riiiiiial zu sajiftMi, die psycho-
St^xualo Sj)häro als «miic durcli iliro Ichnähi" und den daraus flicljcndon
strukturalon Uoicliliuu besontlrrs ausg(^zoichneto Manifostation des zentralen
Ich. in der u. a. die der ganzen Seele eigene polare Struktur prägnanter
vielleicht als sonstwo iliren Ausdruck findet, nicht aber als eine Sonder-
kraft, eine Art Seele in der Seele, die man dem Ich etwa gegenülx^r-
stellen könnte.
Gerne gestehe ich ein, daii dies recht unbestimmt klingen mag. Es
zu größerer Präzision zu gestalten, ist hier aber nicht der Ort. Dennoch
glaubte ich diese .Ajideutungen nicht unterdrücken zu sollen. Denn
es scheint mir, daß die psychoanalytische Betrachtungsweise letztlich
nur dadurch aufgehoben werden kann, wenn man die in ihr implizierten
Gruiidanschauungen vom Wesen des Seelenlebens ül>erhaupt klarstellt
und als irrig nachweist, &o an die Wurzel die Axt legend. Solche
Ent\N"urzelung jener Lehre aber halte ich für geboten, weil sie mir trotz
aller ihrer Verdienste in philosophischer, psychologischer und wohl auch
ärztlicher Hinsicht eine Gefahr zu bedeuten scheint.
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102,
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lo/ia.
io5.
lOÖ.
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108.
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SACHREGISTP]K ZUM III. BAND
(Die Ziffern bedeuten die Seitenzahlen)
Abartung ii 19; A., unechte 445
Abblassungstendenz 1 1
Aberglauben 17'». i8'j, 191,
19a, 193, 198, 200, 202,
206
Abfall vom Weibe !\ib
Ablenkbarkeit 90
Abnormität, Begriff der 3, 5
Abnormität des Maßes lo;
A. der Art 29
.\breaktion 1 3 1 f .
Absperrung loi
Abtreibung 166, 186
Abulie 21, 22
Ärger 128
Äther i63
Affekt 26, 9 '1,97,1 12, 129, iSg,
i62,i7of., i78f., i85,i92f.,
196, 2o3, 206, 233, 2hl,
254, 371. 277, 283, 286,
289, 293ff., 3oi, 3o4, 3i6,
324
Affektivität, primäre und se-
kundäre 3oi
Affektverschiebung 289
Aggression 344, 34"
Agnosie 17, 86
Akte 87, 88, 94, 95, 106,
110, ii3, 118, 123
Aktivität 25, 77
Aktpsychologie 4i
Albträume 13
Alexie 1 8
Algolagnie 437
.\lkohol 81, 161, i63ff., 174.
179, 182, i85, 192!, 2o5,
207
Alkoholismus 33
Alkoholpsychosen i63
Allegorie 285, 292 £f.
Allochirie 1 6
Alter i4, 162
Alternierendes Bewußtsein 55,
76, lOI
Altersverblödung 96
Ambivalenz 122, 36 1, 362,
363, 378, 4oi, 5oo; A. der
Gefühle 84
Amnesie i5, 17, 19. 55, loi,
280
Amoklaufen i3o
Anästhesie lof., 102, io4
Analgesie 102, io4
Anatomie 20
Anfall 77, i3i
Angeregtsein 22
Angst i3, 25, 26, 94, 194, 5oo
Angstschweiß 128
Angstträume 75, 3o4
Angstzustände 190
Anlagen 127, i35; s.a. Veran-
lagung
Anschuldigungen, falsche 189,
199
Ansprechbarkeit 2I
Ansteckung 76
Apathie 80
Aphasie 17, 19, 86
Apperzeption 88, gS, 95, 97,
99- 102
Apperzeptionszentrum 242
Apraxie 1 9
Arbeitshaus 2i3
Arbeitsscheu 169
ArbeitszNvang 2 1 2
Argwohn i i i
Armut 166
Arteriosklerose i5, 93
Asexuale 4i4
Askese 60, 407
Assimilation 97, 238 ff.
Assoziationen, abnorme 86 ;
A., Lockerung der 87 ; A.,
Methode der freien 3o4
Assoziationsexperiment loi
Assoziationsgesetz 284
Atmung 129, 207; A. während
des Schlafes 235
Atmungsträume 277
Audition coloree 5i
Auffassung 18, 97
Aufgabe 66, 90, 92 f., 98, io3,
107
Aufklärung, gesrhlechtliche
388
Aufmerksamkeit 10 f., 18, 89,
loiff., 206
Auf Fühlbarkeit 21
Augenbewegungen 129
Augenschein 196
Ausdrucksbewegung 20, 59,
i28ff., 207
Ausnahmezustände 10, 16, 22,
24 ff., 37, 56. 60, Ga, 7'4,
81, 83, i32
Aussage 29, 196, 206; .\.,
Psychologie der 36, 44
Ausschaltung 16, 74f-. loi ff.
Aussprache 20
Auswirkungen der Sexualität
486
Autismus 122
Autobiographien 180
Autoerotismus38 1 , 4 28, 433 ff.
Automalismus 70, 72 ff., io5,
107, 20^
Autopsychoanalyse 233, 286
Autoskopie 53
Bandenverbrechen 171
Bankräuber 199
Beachtung n, io3
Bearbeitung der Einzelfälle
i56
Bedeutung 18
Bedeutungsbewußtsein 270
Bedeutungserlebnis 112
Bedeutungsverlust 1 7
Bedürfnisschlaf 252
Beeinflußbarkeit 162, 211
Beeinflussung 212
Beeinflussungswahn 68
Begabung i34
Begehrungsneurose 201
Begnadigung, bedingte 2 1 2
Begnadungswahn 12
Beispiel 167, 168
Bekanntheit 32
Bekanntheitscharakter 33, 35,
Bekanntheitserlebnis 36
Benehmen 119
Benommenheit 96, io3
Berührungsempfindung 18
Beruf 169
Berufskriminalität 1 59
Berufslräume 272
Besessenheit 5i, 56, 58 ff.,
68, 72 f.
Betätigung, künstlerische 1 20
Betrug 161, 164, 190, 200
Bewegung 17, 20
503
SACHREGISTER ZUM III. BAND
ßewegungstäuschung /»G
Bewegungsvorstellung i8, 19
Bevvulitheit 36, 98; B., wahn-
liafle 39, 95, 112
Bewußtlosigkeit 15,80,96, io3
Bewußtsein io3, 106
Bowußlseinslage iio, 271
Bewußtseinsspaltung 55
Bewußtseinstrübung 96
Beziehungsbewußtsein 270
Bezichungswalin 112
Bildung 166
Biogenetisches Grunclpeselz
26/1
Biologie 1 56, 1 75
Bipolarität 36 1, 302
ßisexualität 3i5, 36/i, 383,
385, /■i23, A27
Blanc 27
Blindheit 16 f.
Blutkreislauf 1 33, 257; B. im
Schlafe 236
Brandstiftung 161, 172, 192,
202
Buddhismus 80, 81
Cafard 83, 164
Casanova IxOf)
Cevennen-Bewegung 60
Charakter 73, i25ff., i3i;
Gh., abnormer 27 f.; Gh.,
übertrieben ausgeprägter
178
Christian Science 60
Chromatismen 5i
Gristal-vision 284
Dämmerzusland 55, 96, loi,
127, 191, 194, 198; D.,
epileptischer 187
Debilität 86, 97, i35
Degeneration 8, 161, i65
Degenerationszeichen 8, 1 76
Dejä vecu 33
Dejä vu 16, 32, 36
Delirium 38, 92, 93, 3 10, 3i3
Dementia paranoides 263
Dementia praecox 206
Demenz 96 ff., 118, 275, 277,
3io; s. a. Schwachsinn
Denken 92 f.; D., nicht formu-
liertes 325; D., vorlogisches
325
Denkstauung iio
Denkvorgänge i4
Denkzwang 68, 70
Depersonalisation 53, 67
Deportation 2i4
Depression 21, 23, 117, i84,
204
Derwische 76
Desertion 194
Determinismus 195
Detumeszenztrieb 343, 348,
354, 372
Diagramme 52
Diaschisen 264
Dichter 67
Diebstahl i64, 188, 199;
D. aus Rache 191
Dienstbotenkriminalität 169,
.'99 . ,
Dipsomanie i3i
Disharmonie 1 78
Dissimilation 2 38 ff.
Dissoziation 247, 262, 264,
270, 283, 287, 293, 325
Don Juan 409
Doppelgänger 54
Doppelich 53
Doppelte Persönlichkeit 66
Drohung 206
Druckempfindung 18, 29
Duell 166
Durchschnitt 3 ff.
Durchschnittstypus 126
Dynamik, psychische 3o8;
D. des Traumes 266 tf., 282,
Sioff., 326
Echolalie 122
Echopraxie 122
Egoismus 162, 170, 172;
E. im Traum 271
Ehe 379, 478
Ehre 189
Ehrennotstand 186
Ehrgefühl 193, 2o5, 206,
308, 2l3
Eifersucht i83, i85, 189,
194, 4oo
Eigennamen i5
Eigentumsdelikte 166, 170,
171, 174, 190, 199
Eigentumsverbrecher, ge-
werbsmäßige 2 1 2
Einfälle 57, 66 f., 71!, 92
Einfühlung 73, 75, 126 ff.,
i3o, i33
Eingebung 4o, 61, 64 f., 78
Einprägung 90
Einschlafen 246 ff.
Einsiedler 3ig
Einzelhaft 211
Eitelkeit 191, igS, 2o3, 206
Ekel 81
Ekstase 63, 77 f., io3, 34o, 364
Elan vital 294, 3i4ff.
Emotionsstupor 21
Empfindungen 10 ff., 17, 29,
4of., 5if., 76f, i02f.;
E., überstarke 178
Empfindungsformen 1 1
Empfindungslosigkeit io4
Endhirn 245
Energie, psychische 3o8
Engelmacherinnen 182
Entartung 8, 161, i65
Entfremdung 35 f., 70; E. der
Wahrnehmungswelt 32, 53
Entkleidungsphantasien 45 1
Entladung 1 3off .; E., posthume
263
Entrücktheit 10, 60 f., 63, 65,
, 70' 77
Entschluß 71, 180
Entschlußunfähigkeit 89
Entwicklung i34
Entwicklungsjahre i35;
s. a. Pubertät
Entzückung 80, i33
EnzephaUtis 22, 242
Epidemien 76; E., geistige
5i, 76
Epilepsie 10, 26, 62, 77, 9g,
i3i, i33, 176, 193, 248,
255
Epileptoider Typ 83, 177, i85
Erblassen 128
Erbleichen 208
Erethiker 21
Erfindung 66 f., 270; E. bei
Tieren 67
Ergriffenheit 67, 77
Erinnerung 44» 99. 206; E.
an Träume 254, 262
Erinnerungsfälschung 34, 37
Erinnerungsgewißheit 35, 72
Erinnerungstäuschungen 33,
36
Erlebnisse, atavistische 280 ;
E., intentionale 87
Erleuchtung 66, 78
Ermüdung 11, 32, 70
Ernährung i58
Erotik 355, 365 £f.
Erotische Typen 407
Erotisierung der Psyche 177
Erpresser 170, 201
Erregung 21, gi
Erregungszuslände 22, i33,
207 f.; E., katatonische 187
Erröten 128, 208
Erscheinungen 78
Erschöpfung i3, 37, 88, 92,
io3
Erwachen 246 ff., 322
SACHREGISTER ZUM III. BAND
509
Erwagungserlebiiis loi<
Envcckungen 6i, 05
Erwerbsarbeil 16«^
Ernebung a5. 1O6. 171
Eunuchen i6a
Eunuchoider Typ I76£f.
Euphorie 78
Evolution des Traumes a^Q
Exhibitionismus 27. 187, 198,
344. 436
Fahnenflucht igi
Fahrlässigkeit igi
Falschspielen 190
Familieneigentümlichkeiten
160
Familienmorde 182, 196
Familienlräume 266
Fanatiker 193
Farbe 18, 44
Farberscheinungen 46
Fasten 60. 81
Fausse reconnaissance 32, 35
Fehlerinnerung 34
Fehlhandlung 19
Fehlleistung 19
Feigheit 199. 201
Fetischismus 81, 177. 100,
191, 198, 359, 364, 43o
Feuer, Freude am 192
Fieber 10, 3i, 81, 92, i64
Fieberdelir 96
Flächenfarbe 44
Flagellantismus 44o
Flexibilitas cerea 122
Flirt 358, 4o4, 478
Folies ä deux 76
Folterung, psychische 2o5
Fortlaufen 27
Frauenehre 399
Frauenpsyche 162
Freiheitsstrafe 210
Freudsche Lehre 178, 293;
s. a. Psychoanalyse; Fr.
Theorie des Traumes 290,
3o2£f.
Fürsorgezöglinge 161 f., i6o,
211; s. a. Zwangszöglinge
Fürstenmörder 193
Fugue i3o
Funktionen 88
Furcht 294; F. vor Strafe
2o4; F. im Traum 272
Gänsehaut 128
Galanterie 4o5
Gattenmord 181, i8a
Gebann Isein 3i
Geburt i63, 186
Gedächtnis 12. i4. 34. 5i, j
71, 86. 89, 94. i3»f-; G.,
affektives 291) ■
Gedächtniskünsller i4
Gedächtnisschwäche i64 1
Gedächtnisstörungen 207
Gedächtnislücken i^yi- 1
Gedächtnisveriust i4f-- »9
Gedanken 77; G., gemachte ]
57, 68, 76, 95; G. im
Traum 270
Gedankenabziehen 3o, 53, 57,
69
Gedankenlautwerden 5o
Gedankenleere 27, 88. 89
Gedankenmachen 3o, 53, 69
Gedankenübertragung 69
Gefängnis i32
Gefängnispsychose 82
Gefühl 23. 25f., 3i, 77. 81,
118, 121
Gefühlsbetontheit, einseitige
Gefühlslähmung 24
Gefühlsleere 23, 24
Gefühlslösung 85
Gefühlsstauung i3o
Gefühlsverband 85
Gefühlsverschiebung 85
Gehirn i33
Gehimarteriosklerose 272
Gehirnblutung i5
Gehirnerschütterung i5, 207
Gehör 29
Geisteskrankheit 7, l84. 189 ff-,
206, 211; s. a. Psychosen
Geladenheit 27
Geldstrafe 2i4
Geliebtenmord 196
Gelüste 85
Gemeinempfindung 29
Gemeingefühl 277, 282, 3i7
Gemeinschaftsbewegung 60
Gemeinschaftshaft 211
Gemüt 23, 25f., 42, 118, i32
Gemütsbewegung 128, 207
Gemütskranke 34
Gemütsstumpfheit 182, i85,
202 f.
Gemütsverstimmung i33 : s. a.
Verstimmungen
Genie 7, 127, i35
Gereiztheit 26. 83 ; s. a. Reu-
barkeit
Geruch 1 8
Geruchsvorstellung im Traum
267, 287
Geruchstäuschungen 5i
Gesamtvorstellung 91
Geschichtswissenschaft 127
Geschlecht 162, 197
Geschlechtsakt i3i
Geschlechtsleben, I'sychologie
des 332, 336; G. bei Mann
und Frau 366 ü.; G- des
Geschlechtsreifen 352 ff.;
G. des Kindes 343. 345,
38off.. 422. 457; G. des
Geisteskranken 443 ; G. \m
Alter 371; G., Ontogeme
des 38o; G., Phylogeme
des 333
Geschlechtsverkehr 5i
Geschmack 18, 29
Geschmackstäuschungen 5i
Geschmacksvorstellungen im
Traum 267
Gesichte 1 2
Gesichtsausdruck 197. 207
208
Gesichtserscheinungen 46
Gesichtsfeld 18
Gesichtssinn 29
Gesichtstäuschungen 42
Geständnis 196, 2o5
Gestalt i6f.
Gestaltblindheit 17
Gestaltquahtät 11
Geste 20, i3o, 208
Gewalttaten 27
Gewandtheit 199, 201
Gewerbsunzucht 212; s. auch
Prostitution
Gewissen 2o4. 2o5
Gewissensnot 171
Gewohnheitsverbrecher i63,
172, 190, 202
Gift 70, 81
Giftmord 181, 197
Gleichgewicht 3i
Glossolalie 62, 63
Glück 78
Glücksgefühl 77, 79. 81
Gnade 77
Graphologie i3i
Größenideen 4o
Größenwahn 39, 117
Grübelsucht 108
Grübelzwang 122
Grumus merdae 202
Grundstimmung 11, 20, 26
Habgier 190, 202
Habsucht 192
Haft 82
Haftenbleiben 100
Haftpsychose, hysterische 12
Halluzinationen 3i, 43f., 54,
56, 60, 76f., 261, 287,
510
SACHREGISTER ZüM III. BAND
oiof. ; H-, erotische /|0o;
H., li)[)riagoge /|8, 2/4(3;
IL, prüliypnische 2!i6; H.,
wechselnde aS/j
Ilalluzinationslräume 201,27/1,
Handlungen, impulsive 189;
11., unzüchtige 187, ig8
Handschrift 06, i3o
Haschisch Aa, 5q, 81, i63
Haß 123, 182, 189, 192, 199,
211, 29/1, 363, 463, /183
llcilpadagogik i34i-
Heilsarinee 60
Heimweh 82 f., i32, 162, i8/i,
19O, 192, 19/i, 20/i
Heiratsschwindel 201
Hemmung i/|, 21, 23ff., 88 f.,
180, 187, 255
Heredität 160; s. a. Vererbung
Hermaphroditen /ii/1, Itz'i
Herzträume 277
Heteropsychoanalyse 233
Heuchelei /|o3
Hexen 17/4
Hilfsschule 21, i35
Hirnrinde 2/I6
Hirnschüsse 20, 22
Hörigkeit 184
Hochstapler 190
Homosexualität 81, i63, i65,
167, 177, i83, 189, 198,
212, 338, 385, 393, /jigff.
Horme 3i5
Hormone 2/1 1
Horror sexualis 432
Hoteldiebe 200
Hygiene 6
Hypästhesie 10, io3f.
Hypalgesie io3f.
Hyperästhesie 10, io4
Hyperalgesie io4
Hyperkinesie lo/i
Hypersthenie 10
Hypnose 22, 62, 72, ']!ii.,
80, loif, 173, 190, 201,
2o5, 276
Ilypnoloxin 289, 245
Hypochondrie 109, HO, 129,
"277
Hypophasiker 275
Hysterie 10, 22, 46, 58f., 62,
74, lOif., io5, i2gi., 190,
193, 199, 255, 264, 276,
309 f., 3i4f., 3 19
Ich 34o, 365, 369, 429, 454.
466, 5oi ; Ich, primäres
und sekundäres 255
Ichgefühl 52, 55 f., 66, 76
Ichlähmung 53, 56 ff., 68 f.,
75 ff.
Ichstörung 5o, 52, 53, 54, 70,
76, 109
Idealschema 6
Idealtypus 5, 8
Idee, freisteigende 67 ; I., über-
wertige 109 f.
Ideenflucht 21, 90!
Idiosynkrasie 129
Idiotie 97, 275
Illusionen i3, 4i; l-, hypno-
tische 288
Illusionsträume 261, 274, 3oo
Imagerie 3oi
Imbe2dllität 86, 97
Impulse 21, 52, 89, 122
Inaktivität 21
Incubus 45 I
Indeterminismus 195
Individualität 57, 126
Individualpsychologiei 56, 172,
424f.
Infektionskrankheiten i64
Inhalt der Träume 278; I.,
latenter 233, 3o2 ; L, mani-
fester 233, 3o3, 309
Initiative 22
Inspiration 67 f.
Inspirationsgemeinde 60
Instinkte, atavistische 3o5
Intellekt 21
Intelligenz 25, 98
Intelligenzstörung 162, 178,
193
Intention 96, 108
Interesselosigkeit, Reaktion der
244
Interessetypen i4
Intuition 67, 80, 254, 322
Involution 98; I., senile 162
Inzest i65, 188, 384, 499
Inzestbegierde 3i5
Irresein, manisch-depressives
24 ff-, 91
Jähzorn i3o, 177
JammermelanchoHe 26
Juden 159
Jugendgefängnis 2i3
Jugendliche 175, i84, 190,
2o4, 209, 211
Jungfer, alte 4i2
Junggeselle 4 1 1
Kampf ums Dasein 244
Kassen diebe 199
Kastraten 177 f., i85, 336,
391, 4i4
Katalepsie 81, 122
Katatonie 122
Katharsis 3i2
Kausalnexus 195
Kerkerpalimpseste 180
Keuschheit 098
Kinder i3, 33, 92, i34f.
Kindesalter 162
Kindheit 98, 100
Kindheitsereignisse 281 ff.
Kindheitserinnerungen 255,
263, 3o3ff., 3 10
Kindsmißhandlungen 185,196
Kindstötung 167, i85f., 198
Klassengegensätze 166
Kleidung 359, 377
Kleinheitsidee 24, 4o
Klima i58, 164, 174
Klimakterium 162, 372
Klosterepidemien 60
Klosterleben 83
Körperempfindung 18
Körperempfindungssphäre 5i
Körperlage 1 6 ; s. auch Schlaf-
stellung
Körperverletzung i85, 196,
198
Kokain 59, 81, i63
Koketterie 358, 394, 4o2
Kollektivverbrechen 171, 172
Koma 96, 255
Komplex 85, loi, 293, 3o4,
3o8, 324
Konfabulationen i5, 33
Konfession 1 74
Konstellationen 268, 293, 3o4,
3o8, 324
Kontinuität, psychische 32 2
Kontrektationstrieb 343, 348,
36i, 372, 382
Konzentriertheit 90
Kopfweh 3o
Korsakowsche Psychose 33, 37
Krampf i3i
Kiampfepidemien 61
Krankheit 4f.
Krankheitsgefühl 81
Krankheitsprozeß 127
Kretinismus 179
Kribbeln 3o
Krieg 24, 76, 170, 189, 192
Kriegsgefangene 83, 211
Kriminalanthropologie i55
Kriminalphänomenologie i55
Kriminalpolitik i55
SACllKKCISTKH ZUM Hl. HAND
511
Kriiniiiaipsychologie, System
iler K);")
Kriiniiial|)S)chologische Klini-
ken ir>7
Krirninalso/julogie i55
Kunstler ui, i'S\
kiillur iti5
kullurbeweguiif: ö
Kullurvorpaiip 0
Kuinulativverbrecheii 171,172
Kunst 6, 5(), G6, 72, i32,
187 ; K., niediumislische Ü5
Kufipelei 191
Kurzscliluß 296
Kryplomnesien 78
Lachen 129
Lachgas 81
Ladenschwindler 200
Lähmung io3
Lagesinn 29
Lage, wirtschaftliche i58, 16C,
1G9
Landstreicher 169 f., 212
Latenz, sexuelle 889
Lebendigkeit i3
LebenslängUch Verurteilte 82,
2l3
Leibhafligkeit i3
Leib und Seele .'ti
Leichenschändung 171^, 189
Leichtgläubigkeit 200
Leichtsinn 198, 197, 200, 2o3
Leidenschaft igo
Lesen im Traume 267
Lethargie 289
Libido 294, 8i/jff., 34 1, 382,
440, 490 ff.; s.a. Sexualtrieb
Liebe 128, 182 f., 189, 2o5,
434, 435, 462 ff.; L. auf
den ersten Bück 467; L.
bei Mann und Frau 478;
L., Pathologie der 483;
L., platonische 4 80; L.,
Varianten der 472 ff.
Liebesphänomene, nicht sexu-
ale 498
Liebeswerbung 875
Lösung 271
Logik, affektive 298, 800, 807
Lügen 162
Luftdruck 3i
Lust 27; L., sexuale 861
Lustaffekt g4
Lustgefühl 81
Lustmord 27, i84, 188, 197 f.
Luxusschlaf 252
Mädchenhandel 172
Magenlniume 277
Magie 2()8
Makropsie II, 43
Manie 27, 91
Masocliismus 81, 8üi, 487
NLiss('ii(.'|)idemien Go
Massenmord 188
Masseiij)s_vcliologie 171
.Massenps^cliosen öi, Gl, 172
Massensuggestion Gl, 7G, 171
Medialität 7G
Medien 16, 5g, 62, G5
Meineid 174, 198
Melancholie 20 f., 25, 89, 11 3,
iiGf., 12g, 206,286,271,
277
Melodie 1 7
Menschenkenntnis I25
Menstruation iG3, 191 ff., igg
Merkfähigkeit 87 f., g2
Mescalin 87, 42, 5g, 81
Messerstecher i85, ig7
Metamorphose des Traumes
288
Metempsychose 6i
Metliodisten 60
Methodologie derPsychopatho-
logieiSG; M. der Traumfor-
schung 288 f.
Mikropsie 1 1
Milieu i65, 174 f., 2iof.
Mimik 129, 207
Minderwertigkeit 7, 168, 188
Misogynie 4 1 1
Mißempfindung 4o, 5i
Mitbewegungen 128, i3o
Mitbewußtsein 809
Mitgefühl 28, 201
Mitleid i83, 2o4
Mitteilungsbedürfnis 208
Mitteizone 4
Moral im Traum 278, 281
Moral insanity 25
Mord 1G7, 174, 181, 196;
i\L aus Habgier 182; M.,
politischer i84; M. aus
Rache 184
Morphium 81, i63
MotÜilät 102
Motiv i24f.. i8of., i85f.,
192, 195, 2o5
Mucker 4 10
Müdigkeit 20
Musik 17, 60, 496
Mutlerliebe 499
Mystik 6, 79 ff-, 2o5, 819,
339 ff.
Myxödem 179
Nachahmung laa, 19a
Nacliahnningstrieb 107
iVaclikoninicnschaft 8
Nacl.lraum 2 '17 ff.
MachtwandclM g.'), siehe auch
Schlafwandeln
iVarkose 10, 1 90
ISar/ißinus 428
Nebeneinanderlagcrung im
Iraum 288 ff.
Meenkephalon 265
Negativismus 122
Negersekten Go
Neid 189, igg, 208
Nermwut go
Neologismen 81, 48, Gi, 119
Neugeborenes 108
Neurasthenie 129
Neuroglia 243
Neuronen 243
Neurose io4
Nichtigkeitswahn 24
Nihilismus 26
Nonn 3
Nostalgie 82; s. a. Heimweh
Not i82f., 186, 191 f.
Notlage 16G, 1G7, igo
Notzucht 27, 187, 198
Oberflächlichkeit 2 1
Obervorstellung 91
Objektivierung des Traumes
291
Objektwahl 378; O. des Kin-
des 482
Ödeme 129
Ödipuskomplex 384, 499
Ohnmacht 81, 96, 128
Okkultismus t\2, 5g, 6g, 2g7
Onanie ig8
Ontogenese i34
Opfer 475
Opium 42, 5g, 81, i63
Opportunismus 2o5
Organempfindung 80
Organisationsarbeit des Traums
24g
Orientierung 16, g2
Pädagogik 20, 28, i35
Paläenkeplialon 265
Panik 76
Pansexualismus 8i4
Paralyse i5, 27, 98, 99, io4,
iG?tf., 202
Paramnesie 16, 88, 84, 281
Paranoia 35, 11 1, 118, 116
512
SACHREGISTER ZUM III. BAND
Paranoide 277
Paraphasie 19
Parapraxie 20
PareicJolie 1 3 f ., fii
Parese lo/i
Parlialtriebe 3/i/j£.
Passivität 21
Patliograpliien i36, 1^9
Pavor nocturnus i3, 128
Perseveration 100, 288
Persönlichkeit 7/1, 10 1, 106,
i35£f.; P., gespaltene 53;
P., verdoppelte 76
Person, Verbrechen gegen die
i64
Personifikation 283
Pflichtgefühl 2i3
Phantasie 12, 33, 36, Sg, 72 f.,
75, 106
Phantasien, erotische 446 ff.
Phantasma 44
Phlegma 20
Phobien io8, iio
Phrase i32
Phylogenese i34
Physiognomik 207
Physiologie 20
Pönologie 1 55
Politische Verbrechen 203
Postdormitium 247, 253
Postural activity 260; s. auch
Stellungsaktivität
Praedormitium 246, 253
Präsexualität 3i5
Prahlsucht, erotische 4o3
Presentation dreams 3oo
Priapismus 353
Primat der Genitakone 347,
387, 390
Prophezeiungen 33, 62, 263
Prostitution 167 ff., 4i5ff.
Prüderie 898
Prügelstrafe 2i3
Pseudohalluzinationen i3, 43,
45, 49. 53
Pseudologia phantastica 33, 36,
190, 206, 208
Psychasthenie 26, 108, 109
Psychiatrie i36
Psychismen 72, 78
Psychoanalyse 71, 100 f., 109,
ii3, 233, 291, 3o2ff., 339,
340, 342, 344, 38i, 386,
423, 43i, 459, 486ff., 5oi
Psychogene Störungen 102 f.
Psychologische Analyse 3o6
Psychopathen 26 f., 162, 172,
207 f.
Psychopathie i83; Ps., Be-
griff der 7
Psychopatischer Typ 178
Psychopathologia sexuaUs 419
Psychopathologie i36
Psychoschisen 264
Psychosen 38, 92, 118, 127
Psychosexualität, Elemente der
342; Ps., gerichtete 36o
Pubertät 81 f., 182, i35, 162,
198, 386, 390 ff.
Puls 129
Pupille io3
Quartalssäufer i3i
Querulanten 210
Rache 162, 192, 199, 2o5, 208
Raptus, melancholicus 25, 94
Rasse 7, i58
Ratlosigkeit 26
Raubmord 181, 202 f.
Raumfarben 44
Raumvorstellung im Traum
260
Rausch 22, 27, 3i, 59 f., 80 f.,
i3o, 161 ; R., pathologischer
i85
Reagibilität 20
Reaktionslosigkeit 2 1
Realitätsbewußtsein 58
Realitätsurteil 112
Rechnen i85
Rededrang 91
Reflexe io3f., 246, 261 ff.
Reflexhandlungen 202
Reflexkrampf io4
Reflexphänomen, psycho-
galvanisches 129
Reformatory 212
Regelbewußtsein 270
Regression 254, 277, 801, 3ii
Regsamkeit 20
Reichtum 166
Reifung i34
Reinigung i3i
Reiz 10
Reizbarkeit 162, 177, 178
Reizschwelle 246, 249, 253,
260
Religiöse Bewegung i3o
Religion 170, 490
Religionspsychologie 42, 59,
62 f., 76, 112
Religiosität 211
Renommiersucht 198, 2o5,
206
Representation dreams 3oo
Reptilien 245
Resignation 2o5
Reue 2o4f., 208
Reverie 3 10, 819
Revival 61
Revolution 166, 171, 2o4
Richtigkeitsbewußtsein 82 f.,
35 f.
Ritterlichkeit 4o5
Ritualmord 174
Roheitsdelikte 170
Rückbildung i5
Rückdatierung 34
Rückenmarksseele 265
Rückfall bei Verbrechen 210,
212
Rückkehr, Gefühl der (im
Traum) 255
Sachbeschädigungen 192
Sachverständigenaussagen 196
Sadismus 81, 177, i8i, i85,
188, 198, 861, 437
Säugetiere 245
Sanguinisch 21
Schachwunderkind i34
Schädelbruch i5
Scham igof., 2o4, 206, 208
Schamgefühl 167, 895
Schamhaftigkeit 897
SchlafsteUung 256 ff.
Schande 186, 199
Schauen 77
Schauer 79
Schaulust 844, 436
Schauspieler i5, 72
Schizophrenie 10, 24. 27, 33,
35 f., 42, 49ff., 57f., 62.
68 ff., 76 ff., 84, 95, 97,
III, ii8f., ii7f., i2o£f.,
124. 129
Schizothymie 264
Schlaf 22, 67, 81, 284
Schlafenwollen 246
Schlafkrankheit 242
Schlafkurve 249ff-
Schlaf theorien 289 ff.; Schi.,
biochemische 289; Schi.,
biologische 243; Schi., che-
mische 289; Schi., histo-
logische 248; Schi., neuro-
dynamische 289; Schi.,
vasomotorische 287
Schlaftiefe 249 ff-, 807, 819
Schlaftrunkenheit i85
Schlafwandeln 267, 810;
s. auch Nachtwandeln
Schlafzentrum 289 ff.
Schlußfolgerung im Traum
2 68 ff.
SACHKKGISTKR ZI:M III. BAND
513
Sclimene i8, a(j, 5i, loaff., 189,
36 1 ; Schill, im Trauin 289
Schmollen Jio3
Schmuggeln 190
Schönlicit, erogeil e Wirkung
der 357
Schreck a5, laS
Schreiben im Traum 267
Schreihzwang 65
Schreikjämpfe ia8
Schnfl 18. 180
Schüchternheit '4o3
Schule 76
Schundfilm 173, 190
Schundhteratur 173, 190
Schwachsinn i'i, 25, 16a, 17C,
296; Schw., moralischer l^,
s. auch Moral insanity
Schwärmerei 4i2
Schwangerschaft 85
Schweri'älhgkcit 21
Schwermut i3, 21, 23 ff., 89,
i3a
Schwindel 3i, 4 7
Schwindler, hysterische 190
Second sight 56, s. auch
Zweites Gesicht
Seelenblindheit 17, 18, 35
Seelenwanderung Sa, 61
Seetiere 2^5
Sejunktionen 26^
Sekretion, innere 161, 176 f.,
212, 239
Sekten 60
Selbstbeschädigung 201
Selbstbezichtigung 190
Selbstmord 82, i32, 211;
S., erweiterter 1 83 f.; S.aus
Liebe 482
Selbslverslüinmelung 202
Selbstvertrauen 2G
Seligkeil 78
Senium 27, 33, 93, 9^4,99, 277
Sensibilität, meteorische 275
Sexualaffekt 3^,8, 349, 355 ff.,
383
Sexualausdruck 37^
Sexualempfindung 3^8, 3^9,
352
Sexualerregung, .\usdruck der
3.42; S., fremde 3/42, 358;
S., somatische 336 f.
Sexualkonstitution 4^2
Sexualhaü 378
SexuaUtät 60, 77 ; s. auch Ge-
schlechtaleben; S., infantile
3i5; S. im Traum 3i3ff.
Sexualkrisen 82
Sexualobjekt 3/46, 356, 4 19
Sexualphaenomcne, sekundäre
395
Sexualsphäre 27
Sexualtlieorien, infantile 387
Sexualtrieb 188, 192, 198,
3 '46, 386. 433
Simulation io'4
Sinnbeziehung 17, laA
Sinneseindrücke im Traum
2/48, 25/4, 261, 26^4 ff., 273,
276, 287, 307, 3i8ff.
Sinnesorgane 10
Sinnestäuschungen i 2 f., 29,
!io, /|2, ',5, '48 ff., 65, 68,
95, ii2f., ii7f., 190; S.,
Inhalt der ^6
Sinnzusammenhänge I25
Sittlichkeit 25
SittlichkeiUdehkte 161, 1 64 f.,
167, 17/i, 187, 2o3
Situationspsychosen 82
Sodomie 189, 198, '126
Somnambulismus 22, 61, 267
Somnolenz 96
Sonntag-Nachmittag- Stim-
mung 83
Soziologie 7
Spannungsempfindung 18
Spannungsgefühl 271
Sperrung 21 f., 122
Spezialgedächtnis 1/4
Spiellrieb 5oo
Spiritismus '42, 60, 65, 200
Spontaneität 20, 88, 97 ff.
Sprache i5, 17, 19, 3of., 44 ,
62, 65, 73 f., 91, 97, 99 f.,
119 f., 128, i3o, iSo
Sprachstörung 20
Sprachverwirrtheit 96, iigf.
Sprechen im Traume 261,
267, 275 ff.
Spruiighafligkeit 2i
Slacheldrahtpsychose 83, 182
Statistik 4, i56, i58, 160,
168, i85
Stellungsaktivität 2G0; s. auch
Postural activity
Stereoagnosie 18
Stereotypie 122
Steuerdefraudationen 2o4
Stigmata (Stigmatisierte) io5,
129 f.
Stimme 48 ff., 69, 91, 95,
ii3, i3o
Stimmung 89; 5t., labile 178
Stimmungslage 42
Stoffwechsel 1 33 ; St. im
Schlafe 237, 24o
Stoff« echselstürung 70
Stolz igi
Stottern 20, I aS
Strafe, Uirkung der aio
Sirafempfindung 210
StrafNolIzug 21 I f.
Straf Vorstellung 210
Streik 166, uj'A
Strukturen 1 1
Stupor 21 ff., 89, 91, 12a
Sublimierung 335, SSg, 389,
465, 486 ff.
Subliminaltheorie 297
Sühne 210
Suggestion 74, 76, 172 f.
Symbol 106, 459, 493 ff.
Symbolik (Symbolismus) des
Traumes 283, 287 f., 293,
3o3ff., 309 f., 319, 32 2 fl'.;
S., visuelle 261
Sympathisches IS'enensystem
24i, 257, 277
Synästhesien 5i
Synergismus io3
Synopsien 5i
Syphilis 164, 174, 179
Tagesereignisse im Traum 272,
278, 3o9
Tagträumereien 73, gi
Taktgefülil 99
Talent 127, i34
Tanzepidemien 61
Tastsinn 29
Tatbeslandsdiagnosfik loi, 2o5
Taubstummlicit i4
Tendenzen, determinierende
72, 90, 98, 107, 270
Theosopliie 297
Teiiiperaiiient 2of., 25
Temperaturempfindung 18, 29
Tempowechsel 38
Tiefsclilaf 74 ; s. auch Schlaf-
tiefe
Tierexperiment 176
Tierliebe 427; s. a. Sodomie
Tobsucht 22, i3o
Todesstrafe 2 1 3
Topagnosie 35
Topik 16, 43
Torpidität 20
Trägheit 20
Träumerei 253 ; s. auch Tag-
traumerei
Trancezustände acMD
Transilivismus 290
Transplantation von Ge-
schlechtsdrüsen 177
Trauer 20
33 Kafka, Vergleichende Psychologie III.
514
SACHREGISTER ZUM III. BAND
Traum i3, 33, 37, /17, 53,
73 f., 75, 85, 128, iSgf.;
Tr., aiitoiiiatischer 297 ; Tr.,
doppeldeutiger 288, 285,
•2(j2 ; Tr., erotischer /i58;
'In, luzider 297; Tr., pro-
plictischer 299; Tr., ty-
pischer 26O; Tr., vielfältiger
mit parallelen Szenen 291 ;
Tr., physiologische Bedin-
gungen des 28/1 ff. ; Tr.,
Dauer des 2G8, 286; Tr.,
Finalisnius des 3oG ; Tr. und
Dichtung 325; Tr. und
Geisteskrankheit 3i8
Trauma 33, 99
Traumhewußtsein 247£f., 253,
26'\, 288, 291, 010, 3i6ff.
Tramu'^rmüdung 238
Traumfunktionen, beschüt-
zen i.'e ooG, 3i 2 ; Tr., kathar-
lische oo5ff.; Tr., vorbe-
reitende 3o5
Trauniloser Schlaf 263
Traumspraclie 75
Traumtheorien 295ff.; Tr., pa-
thologische 3oo ; Tr., psycho-
logische 3oi ; Tr., toxische
3oo
Treue 3 70, /ISi
Triebhandlung 180, 1S7
Triebleben 25, 1G2 ;Tr.,sexuel-
Triebverschränkung 34G, 3^9
Trinker 92 ; s. auch Quartals-
säufer und Trunksucht
Tropenkoller 83, iG.I
Trübsinn 25
Trunksucht i63
Übereinanderlagcrung im
Traum 283 ff., 292
Überlegung 19G
Überschwang 1 3 3
Übersetzung ins Optisclie 288,
287
Übertragung, affektive 299ff.
Umbildung im Traum 277, 283
Umgestaltungen der Sexualität
Umwandlung 2/17
Unbesinnlichkeil 27
Unbewußtes 3oi, 3o3, 3o8ff.,
3io
Uneheliche Kinder 168
Unfälle 9^4, 9G
Unfallsneurose 201
Ungereimtheit des Traumes
2 ',8. 253, 268, 3o5
Unlust 27, i3i, 194; U.,
sexuale 36 1
Unruhe 21, 89
Unstetheit 21
Unterbewußtsein 7^, 2 55,
263 ff.. 278, 3oi, 3o8tf..
3i6; l'.. hypnisches 817
Unterricht in der Strafanstalt
21 1
Unterschlagungen 190
Unverbesserlichkeil 25, 212
Unwillkürliches Handeln 71
Urkundenfälschung 198, 201
Ursachen des Verbrechens 180
Urteilsaktc 33, 8G. 98, 98;
U. i)n Traum 2G8ff., 288
Urteilsschwäche 191
Urticaria 129
Urvölker 8"!
Veranlagung i65, 168 f., i']!iL,
179, 210; V., hysterische
189; V., psychopathisclie
i8/'4, 198, 200
Verbitterung 212
Verblödung 96 ff.
Verblüffung 2o5
Verbrecher 5, 25; V.. Ein-
teilung der 1 75 ;V., geborene
25, I7G;V., jugendliche 162;
\. mit moralischen Defekten
178
Verbrecherfamilien iCo
Verbrechermotive 180
Verbrecherstatistik i85
Verbrechertypen 1 75 f .
Verbrecherwerkzeuge 1 99
Verdauung 129
Verdichtung im Traume 285 ff.
Verdoppelungen der Persön-
liclikeit 821; s. auch Per-
sönlichkeit, verdoppelte
Verdrängung loi, 008
Vererbung 8, 160
Vererbungsgesetze 160
Verfall 5
Verfolgungswahn 12
Verführer 409
Vergessen 100
Vergiftungen 10, 27, 07, f\2,
59, 88. 96, i33
Verleumdung 189
Vernachlässigung 168
Vernehmung 196, 2o5
Veronal 81
Verrücktheit 58, 296
Verschiebung im Traum 283.
289
Verschmelzunff 288 ff.
Verschrobenheit 87
Versenkung 80, 81
Versicherungsbrand 192, 202
Versicherungsschwindel 172,
201
Verständnis 81
Verstellung 72
Verstinunungen 10, 26, 81 ff.,
127, 139, 182, 192
Verstimmungstendenz 11
Verurteilung, lebenslängliche
21 3, s. auch Lebenslänglich
Verurteilte; V., bedingte
212; V., unbestimmte 212
Verwahrlosung i35, iG5, 188
Verwandlungen 46
Verwirrtheit 9 2 ff., i64. 296
Verzückt! leit 65, 79
Verzweiflung 188, 2o4, 211
Vision 65, 77 ff., 297; V.,
intellektuelle 112
Vividität II, i3
Vögel 245
Vorahnungen 297
Vorbewußlsein 3o8. 808 ff.,
Sil
Vorstellungen 1 1 ff., 17, 25 f.,
/lo, 43f., 129; V., frei-
steigende 67, 71; V. im
Traum : akustische 266,
287; kinästhetische 267,
274, 276ff., 298; optische
266, 274, 825 : räumliche
267 ff., 286, 817; taktile
267, 274; zeitliche 267££.,
286, 817
Vorstellungsarmut 1 4
Vorslellungserleichterung i3
Vorstellungsformen 16
Vorstellungskonirast 288
Vorstellungstätigkeit, verbomo-
torlsche 267
Vorstellungsträume 800
Wachbewußtsein 24 7 ff., 253,
271, 278, 288, 291, 3io,
8x3, 81G
Wachsuggestion 178
Wachträumerei 12, s. auch
Träumerei u. Tagträumerei
Wahlhandlung 180
Wahn 10, 3o, 34, 5i, 56,
68f., Ulf., 117, 122, 129
W^ahnerlebnis Ii4f.
Wahnidee 24, 89, 4o, 98,
112, ii4. 116, 118, i63,
184. i9of., 193, 277, 282
Wahninhalte ii3
Wahnmeciianl-smen n3
SACHUKdlSTER ZUM III. HAM)
5!i
WaluiÄinii ij
Waliiisystein Ii6f.
Walirnelimuiig lof., lO. 02,
07, 76. 93, I 13
Wahrsagen aus TräiiiiuMi 29«)
N\ aiiderlricb 1 3o
\\ arcnliausdiebstahl 85, igi,
.'99
VN echselfalirer 190. aoo
Wcilersclnveifen go
VN ollanschauung 6
\\ eltsvstem 1 2 1
NN elluiitergangscrlebnis 11^
NN ert 5 : NV., biologisclier 6, 8
NVertung .">. 8: NN'., logische
ig4; NN'., moralische igl
NVerturteile 7
NN iderstandslosigkeit 1 78
NViderwillen 182
VViedererkennung 206
NVildern 190
NVille zur Macht 29 '1, Jo5,
3i5
Willen 30, 52, 69, 66, 78 ff.,
89, io4, 118, 122, 128;
NV. im Traum 270, 288,
Sigff.
NVillensfreiheit ig.^
NVillenskraf t 211
NVillenslage 52
NVillensschwäche 8g
NVillensstörung 22
NN illfiisunfreiheil 58
NVillkürhandlung 180
NVirüildung .'169
NVirlarhafl 171
NVullüsÜing /io8
NN ortbilder i \
NVortncubildungen 3i, 276
NN ortsalat i 2t)
NN Ortverknüpfung 275
Wortvorstellung 251, 267
NVunder 22
NVundergedächtnis 80
NN underkinder i3-\
Wundmale i2gf.; s. auch Stig-
mata
NVunschakte 106
NNunsch - Bedürfnis - Traum
3l2
NVunscherfüUung 85; NV. im
Traum 272
NVunschmeclianisnius io5
NVunschtraum 3o3, 01 2 ff.
NVutausbruch i3o
ZärtUchkeit 36o
Zaiil 1 7
Zeichensprache 116
Zeichentalent 120
Zeichnungen li-j
Zeitsinn 87 f.
Zensur tles Traumes 3o3, 3o5,
3oM, 3iü, 3ia, 826
Zentralnervensystem 3u, 161
Zerfahrenheil 87
Zerstörungssuciil 192
ZersIrcuÜieit 57, g'j, i64
Zeugenvernehmung igO
Zeugung iCi
Zielvorstelhing 86; Z., sexuelle
Aigeuner lOg
Zittern 128, 208
Zoildefraudationen 2o4
Zonen, erogene 3/15, 35^, 386
Zopfabschneider ig7
Zorn 162
Zote ^o/j
Zuhälter 4 16
Zungenreden 61, 63, 78
Zwang 2o5
Zwangsempfindungen 3o
Zxvangserlebnisse 108
Zwangsgedanken i85
Zwangsimpulse 107
Zwangssymptome log, iio
Zwangsvorstellung 70, 100,
107 f., 190
ZwangszögUnge 1 65
Zweifeln 122
Zweifelsucht 108
Zweites Gesicht 38; s. auch
Second sisriit
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