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^ot^-^
HAT KANT HÜME WIDERLEGT?
EINE ERKENNTNISTHEORETISCHE UNTERSUCHUNG.
INAUGURAL- DISSERTATION
DER HOHEN PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT
DER
UNIVERSITÄT BERN
ZUR
ERLANGUNG DER DOCTORWÜRDE
VORGELEGT VON
ISAAK MIRKIN
AUS RUSSLAND.
VON DER PHILOSOPHISCHEN FAKULTÄT AUF ANTIIAG DES HERRN PBOF.
DR. STEIN ANGENOMMEN.
BERN, DEN 17. MAI 1901.
PROF. BR. £. FRGYXOIVB,
Z. 25. PÄKAN.
HALLE A. S.
HOFBUCHDRUCKEREI von C. A. KAEMMERER & CO.
1902.
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MEINEM HOCHVEREHRTEN LEHRER
HERRN PROFESSOR DR. LUDWIG STEIN IN DERN
IN INNIGER DANKBARKEIT GEWIDMET.
228127
Wenn Kant sagt, Denken ist so viel als Urteilen, wenn ein
jedes Urteil aber eigentlich die Beantwortung einer Frage ist, so
können wir sagen: richtig Denken, oder erkennen besteht immer
in der richtigen Beantwortung einer Frage. Es giebt aber Fragen,
die, wenn auch in wenig Worten enthalten, so schwerwiegend und
von solcher Tragweite sind, dass man ganze Bücher schreiben
muss, um sie richtig und erschöpfend zu beantworten. Und in der
That verhält es sich so mit Kants Kritik der reinen Vernunft.
Dieser komplizierte Gedankenapparat, dieses gewaltige, in allen
seinen Teilen wundervoll konstruierte Lehrgebäude will nichts
mehr sein, als die Antwort, freilich die richtige und erschöpfende,
einer in sechs Worten enthaltenen Frage. Es ist die Frage: Wie
sind synthetische Urteile a priori möglich ? In diesen paar Worten
ist das ganze erkenntniskritische Problem ausgedrückt. Wenn
aber, um eine richtige und erschöpfende Antwort auf eine Frage
zn geben, unbedingt erforderlich ist, dass erst diese selbst klar
und bestimmt gestellt wird, so ist es ebenso unbedingt notwendig,
dass man erst die Frage, das Problem richtig erfasst und ver-
standen hat, wenn man die Antwort, die Lösung richtig verstehen
und gründlich erfassen will. Verstehen bedeutet aber in diesem
Falle, das historische Entstehen begreifen. Um Kant richtig zn
verstehen, muss man die Philosophie Humes kennen. Denn sie ist
in Bezug auf Kant die historische conditio sine qua non. Kant
ohne Hume ist einfach nicht denkbar. Zuerst musste ein grosser,
scharfsinniger und tiefbohrender, vor keiner Konsequenz zurück-
scheuender Denker, wie Hume, den Kationalismus völlig zerstören
und den Empirismus zu einem folgerichtigen, in Phänomenaüsmus
und Skeptizismus sich auflösenden Abschluss bringen : um in einem,
1
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seiner Natur nach, zum Aufbauen geneigten philosophischen Heros,
wie Kant, das mächtige, unabweisbare Bedürfnis hervorrufen zu
können, aus den noch brauchbaren Materialien der gestürzten
Lehrgebäude einen grandiosen Neubau der Philosophie aufzuführen,
der Anhänger und Gegner zu gleich Ungeteilter Bewunderung hin-
riss. Es ist daher eine interessante Aufgabe, die beiden grössten
Erkenntnistheoretiker der neuern Zeit, den Zerstörer und den
Wiederaufbauer, einander gegenüber zu stellen und vergleichende
Betrachtungen an ihnen anzustellen. Es wird sich dabei zeigen,
dass Hume in vielen Stücken Kant antizipiert hat, freilich ohne
dass letzterer es immer wusste, weil das Hauptwerk Humes, wie
später öfter hervorgehoben werden wird, Kant unbekannt blieb.
Es wird sich aber auch zeigen, und das ist die Hauptaufgabe
dieser Untersuchung, dass Kant in den wichtigsten Punkten, in
denen beide Philosophen verschiedene, ja entgegengesetzte Wege
wandeln, Hume nicht endgültig widerlegt hat.
Die neuere Philosophie vor Kant und Hume zerfällt bekannt-
lich in zwei Hauptrichtungen, in die rationalistische und die em-
piristische. Der konsequente Empirismus führte zum Phänomena-
lismus, der konsequente Rationalismus zum Realismus, allerdings
im weitesten Verstände des Wortes. Die Empiristen waren aber
mit den Rationalisten darin einig, dass eine Erkenntnis von Be-
gebenheiten, von Thatsachen, wenn gleich nicht durch reinen Ver-
stand, so doch durch Erfahrung möglich sei. Da kam Hume und
zeigte, dass wir weder durch reinen Verstand, noch durch Er-
fahrung eine solche Erkenntnis haben können. Die mächtige Er-
schütterung, die die wissenschaftliche Erkenntnis durch Hume er-
fahren hat, charakterisiert Kant in den Prolegomenen (Reclamsche
Ausgabe, S. 31) in folgenden Worten. „Seit Lockes und Leib-
nizens Versuchen, oder vielmehr seit dem Entstehen der Meta-
physik, soweit die Geschichte derselben reicht, hat sich keine Be-
gebenheit zugetragen, die in Ansehung des Schicksals dieser
Wissenschaft hätte entscheidender werden können, als der Angriff,
den David Hume auf dieselbe machte".
Es ist sehr zu bedauern, dass Kant nur Humes Essays und
daher, was Humes Erkenntnislehre betrifft, nur den Enquiry, aber
nicht sein Hauptwerk, Treatise on human nature, gekannt hat")-
') Vergl. Prolegomena (Reclamsche Ausg.), S. 32, Anm. derFussnote.
Vergl. auch B. Erdmann, Kant und Hume um 1762, Arch. für Gesch. der
- 3 -
Im Enquiry giebt Hume nur eineu Auszug aus seiner Lehre von
der Wahrscheinlichkeit, also vom Kausalbegriff. Die Lehre von
Raum und Zeit und von dem Substanzbegriff, die er im Haupt-
werk ausführlich und gründlich behandelt hat, wird im Enquiry
gar nicht berührt. Ebenso wird der Unterschied zwischen der
Evidenz der Arithmetik und der Geometrie, den er in seinem
Hauptwerk so scharf betont, im Enquiry nicht mehr hervorge-
hoben. Es ist anzunehmen, dass es auf Kants eigenen Standpunkt
einen nicht abzusehenden Einfluss gehabt hätte, wenn ihm alles
dieses bekannt gewesen wäre. Bei der Wiedergabe der Haupt-
gedanken Humes halten wir uns sowohl an das Hauptwerk, wie
an den Enquiry.
I.
Hume und Kant.
1.
Ursprung der Begriffe. Einbildungskraft.
Hume beginnt seine Untersuchungen mit der Frage nach
dem Ursprung der Ideen oder Vorstellungen. Dass uns nichts
mehr als Vorstellungen gegeben sind, steht für ihn von vornherein
fest. Er unterscheidet allererst sämtliche Vorstellungen des
Geistes dem Grade ilu'er Intensität nach in zwei Klassen, in Im-
pressionen (oder Eindrücke) und Ideen (oder Begriffe, d. h. Vor-
stellungen im engeren Sinne). Die ersteren sind Eindrücke, die
wir, wir wissen nicht wie, empfangen. Die letzteren sind Copien
der Eindrücke, aber weniger stark und lebhaft als diese i).
„Jedermann wird einsehen, dass ein bedeutender Unterschied ist,
ob man die Pein übermässiger Hitze fühlt, oder ob man nachher
an diese Empfindung zurückdenkt, oder sie durch seine Einbildung
Philos. I (1888) und F. Panlsen, Versuch einer Entwicklungsgeschichte der
Kantischen Erkenntnistheorie, S. 7, Anm., sowie Riehl, Kriticismus, I, 69 und
Groos, Hat Kant Humes Treatise gelesen?, „Eantstudien^, V, 177—181.
1) Über die menschliche Natur (Jakobs Übersetzung), I. Bd., 1. Teil,
1. Abschn., S. 21, und Untersuchung über den menschl. Verstand (Enquiry,
Nathansohns Übersetzung), 2. Abschn., S. 15. — Diese beiden Übersetzungen,
auf die sich die Gitate aus Hume in der vorliegenden Abhandlung be-
ziehen, sind an den betr. Stellen mit dem englischen Text verglichen
worden; einige Ungenauigkeiten sind beseitigt.
1*
- 4 -
vorausempfindet". Den Unterschied, den Locke zwischen äusserer
und innerer Wahrnehmung gemacht hat, nimmt Hume auf, aber
in etwas anderer Gestalt. Zu allererst empfängt die Seele Ein-
drücke»), wie Hitze und Kälte u. s, w., die mit Gefühlen von
Lust und Unlust verbunden sind. Diese Eindrücke lassen eine
Spur, oder einen Abdruck in der Seele zurück und dieser Abdruck
wird Idee oder Begriff genannt. Wenn nun dieser Begriff von
Lust oder Unlust wieder in die Seele kommt, so bringt sie die
neuen Eindrücke von Begierde oder Abscheu, Hoffnung oder Furcht
hervor, welche daher Impressionen der Reflexion genannt werden.
So sind also die Impressionen, welche von der Reflexion herrühren,
zwar eher als die ihnen entsprechenden Begriffe, aber doch später
als die Begriffe, die Abdrücke äusserer Empfindungen sind. Hume
stellt daher den Satz auf, der das Fundament seiner ganzen Er-
kenntnislehre ist und den er immer wieder und wieder betont: Es
giebt im ganzen Bereich unserer Erkenntnis keine einzige Vor-
stellung, die nicht entweder ein Eindruck, oder der schwächere
Abdruck, die Copie eines Eindrucks sei. Begriffe aus sich selbst
hervorzubringen, ist die Seele nicht imstande. Trotzdem ist es
der Seele möglich, innerhalb dieser gesetzten Schranken selbst-
thätig zu verfahren. Sie kann Vorstellungen, die immer zusammen
gegeben sind, trennen und jede für sich vorstellen, und umgekehrt,
Vorstellungen, die niemals zusammen gegeben sind, mit einander
verbinden und, wenn sie nur nicht confradictorisch entgegengesetzt
sind, als verbunden vorstellen. Wir können nicht ein rundes
Dreieck, wohl aber einen goldenen Berg vorstellen. Diesen
letztern setzen wir aber zusammen aus Berg und Gold, also aus
Vorstellungen, die einzeln den Sinnen gegeben waren. Dieses
Vermögen, Vorstellungen selbstthätig zu trennen und zu verbinden,
nennt Hume Einbildungskraft''). Die Einbildungskraft ist aber
nicht allein in Bezug auf den Stoff auf das Material beschränkt,
das ihr die sinnlichen Eindrücke liefern, sondern auch in Bezug
auf ihre Funktion kann sie nicht, wie es auf den ersten Augen-
blick vielleicht scheinen mag, willkürlich verfahren. Sie ist viel-
mehr an drei Associationsgesetze in ihrer Thätigkeit gebunden.
Die Einbildungskraft kann verschiedene Vorstellungen nach ihrer
1) über d. menschl. Natur, I. Bd., 1 Tl., 2. Absch., S. 32.
2) Über die menschl. Natur, I. Bd., 1. Tl., 3. Abschn., S. 34 ff.,
Untersuchung über den menschl. V., 3. Abschn., S. 22 ff .
— 5 —
Ähnlichkeit, nach Contiguität in Zeit und Raum und nach dem
Verhältnis von Ursache und Wirkung verknüpfen^). Wenn wir
ein Bild sehen, so denken wir unwillkürlich an das Original (Ähn-
lichkeit); wenn wir ein Zimmer vorstellen, so bringt die Einbil-
dungskraft die Vorstellung des ganzen Hauses mit hervor (Conti-
guität); denken wir an eine Wunde, so müssen wir auch an den
Schmerz denken, den sie verursacht (Ursache und Wirkung). „Das
ist also eine Art von Anziehungskraft", sagt Hume, „die in der
geistigen Welt nicht weniger ausserordentliche Wirkungen hervor-
bringt, als in der körperlichen" 2).
Zur Vervollkommnung der Struktur des psychologischen
Unterbaues der Humeschen Lehre von der Erkenntnis füge ich
noch hinzu, dass Hume der Berkeleyschen Ansicht über die ab-
strakten oder allgemeinen Begriffe rückhaltlos zustimmt. Die
Nominalisten in der Zeit der Scholastik und die englischen Erfah-
rungsphilosophen haben behauptet, es existiere nichts Allgemeines
ausser uns. Berkeley fügte hinzu, abstrakte, allgemeine Begriffe
sind nicht einmal vorstellbar. „Ich glaube", sagt Hume, „dass
dieses eine der grössten und wichtigsten Entdeckungen sei, die in
den letzten Jahren in der Republik der Wissenschaften gemacht
worden ist"**). Alle allgemeinen Begriffe sind im Grunde nichts
als individuelle Begriffe, die man an einen gewissen Ausdmck
hängt, der ihnen eine ausgedehntere Bedeutung giebt und macht,
dass man sich, bei Gelegenheit, anderer Individuen erinnert, die
ihnen ähnlich sind. Denn es ist unmöglich, ein Dreieck, z. B.,
vorzustellen, das zugleich recht- und schiefwinklig ist. Kant sucht
diesen schwierigen Gegenstand in der Lehre vom Schematismus
auf folgende Weise zu erklären. Der individuelle Begriff ist ein
Bild, der allgemeine Begriff ist das Schema für verschiedene
Bilder derselben Art. „Der Begriff vom Hunde bedeutet eine
Regel, nach welcher meine Einbildungskraft die Gestalt eines vier-
füssigen Tieres allgemein verzeichnen kann, ohne auf irgend eine
einzige besondere Gestalt, die mir die Erfahrung darbietet, oder
auch ein jedes mögliche Bild, was ich in concreto darstellen kann,
eingeschränkt zu sein"*). Trotzdem meint Kant weiter: „Dieser
^) Über die menschl. Natur, ebenda, 4. Abschn., S. 37 ff. Über den
menschl. Verstand, 3. Abschn., S. 22 ff.
^ Über die menschl. Natur, ebenda, S. 42.
3) Ebendaselbst, 7. Abschn., S. 51.
^) Kritik d. r. Vernunft (Eeclamsche Ausg.); S. 144 15.
Schematismus unseres Verstandes, in Ansehung der Erscheinungen
und ihrer blossen Form, ist eine verborgene Kunst in den Tiefen
der menschlichen Seele, deren wahre Handgriffe wir der Natur
schwerlich jemals abraten und sie unverdeckt vor Augen legen
werden". „So viel können wir nur sagen: Das Bild ist ein Pro-
dukt des empirischen Vermögens der produktiven Einbildungskraft;
das Schema sinnlicher Begriffe ein Produkt und gleichsam ein
Monogramm der reinen Einbildungskraft a priori, wodurch und
wonach die Bilder allererst möglich werden, die aber mit dem Be-
griffe nur immer vermittelst des Schema, welches sie bezeichnen, ver-
knüpft werden müssen, und an sich demselben nicht völlig congruieren".
Dieser Unterschied der Ansichten in Betreff der allgemeinen
Begriffe, der in der Verschiedenheit einer psychologischen Auf-
fassung zu wurzeln scheint, ist, wie ich glaube, von entscheiden-
dem Einfluss auf den Standpunkt und die ganze Art des Denkens
der beiden Philosophen geworden. Ist ein allgemeiner Begriff gar
nicht vorstellbar und bedeutet er nur so viel, dass die Einbildungs-
kraft nach dem Gesetze der Association durch ein gegebenes
Stichwort ähnliche, aber sonst verschiedene Vorstellungen succes-
sive, eine nach der andern hervorruft: so können wir auch keine
allgemeinen Urteile haben. Unsere Urteile sind allemal, um in
der Kantischen Terminologie zu sprechen, keine Erfahrungs-, son-
dern bloss Wahrnehmungsurteile. Wenn wir sagen, um wiederum
^in Beispiel Humes zu gebrauchen, Brod ernährt, so kann es nur
so viel bedeuten, dass wir von jedem Stück Brod, das wir succes-
sive vorstellen, behaupten, es ernährt. Das Urteil ist also eine
Reihe von einzelnen, also Wahmehmungsurteilen. Wenn nun ge-
fragt wird: mit welchem Rechte setzen wir diese Reihe ins Un-
endliche fort und behaupten es von allem möglichen Brode und
für alle Zukunft? so wird uns nichts anders übrig bleiben, als
eine psychologische Erklärung dafür zu suchen. Ist aber ein all-
gemeiner Begriff mit Hilfe des transscendentalen Schemas vor-
stellbar, so haben wir auch allgemeine, also nicht bloss Wahr-
nehmungs-, sondern auch Erfahrungsurteile. Wenn nun die Frage :
quid juris in Bezug auf das gestellt wird, was doch de facto ein-
mal feststeht, so sind wir darauf hingewiesen, nach dem Grunde
dieser Thatsache, also der Erfahrungsurteile zu suchen. Wir
werden uns Mühe geben, die Bedingungen der Möglichkeit der
Erfahmng ausfindig zu machen, und wir haben somit den Weg*
der kritischen oder transscendentalen Methode eingeschlagen.
— 7 —
Wir sind nun eigentlich damit schon in das Hauptproblem
der Humeschen und auch der Kantischen Philosophie eingetreten
und wir könnten sogleich zu den Humeschen Betrachtungen über
den Begriff der Kausalität, der Kr^ft und der Notwendigkeit über-
gehen. Aber um diese BetrachtUDgen besser verstehen^ und auch
um viele Stücke der Kantischen Erkenntnislehre besser begreifen
und beurteilen zu können, müssen wir die Aufzählung und Ein-
teilung der philosophischen Verhältnisse vorausschicken.
2.
Die sieben philosophischen Verhältnisse.
Bisher hatten wir es eigentlich mit der psychologischen Basis
der Humeschen Lehre zu thun, jetzt beginnt nun die eigentliche
Erkenntnislehre. Im Anschluss an die drei Associationsprinzipien,
nach welchen die Einbildungskraft verschiedene Vorstellungen
verknüpft, lassen sich sieben Verhältnisse aufzählen, vermöge
deren wir uns berechtigt halten, verschiedene Vorstellungen mit
einander zu vergleichen. Es sind das: Ähnlichkeit, Identität, Ver-
hältnisse der Berührung und des Abstandes in Raum und Zeit,
Proportionen bei Grössen und Zahlen, Grade der Qualitäten,
Widerstreit und Kausalität^). Hume nennt sie, im Gegensatze zu
den Associationsprinzipien, philosophische Verhältnisse. Ich glaube,
man kann die Sache so formulieren: Sind Vorstellungen bloss
durch ein Associationsprinzip verbunden, so stehen sie zu einander
in einem psychologischen, werden sie aber unter einem der sieben
Gesichtspunkte mit einander verglichen, so stehen sie zu einander
in einem logischen Verhältnis.
Es ist bei einigem Nachdenken nicht schwer zu finden, dass
diese Humeschen philosophischen, oder, wie ich sie genannt, logi-
schen Verhältnisbegriffe sich so ziemlich mit der Kantischen Kate-
gorientafel decken. Die Kantischen Kategorien zerfallen, nach
Kants eigener Einteilung, in zwei Klassen 2), in eine mathema-
tische, es sind die Kategorien der Quantität und Qualität, und in
eine dynamische, es sind die Kategorien der Relation und Moda-
lität. Die Kategorien der mathematischen Klasse sind, wie Kant
dies in der Analytik der Grundsätze auseinandersetzt, intuitiv, die
1) Über die menschl. Natur, I. Bd., 1. Tl., 5. Abschn., S. 43 ff. und
3, Tl., 1. Abschn., S. 146 ff.
2) Kritik d, r, Vernunft (Ausg. Kehrbach), S, 99 und 168,
— 8 —
der dynamischen Klasse diskursiv. Die ersteren bestimmen die
Form der Anschauung und die Art der Wahrnehmung und liefern
unter dem Titel „Axiome der Anschauung" und „Antizipationen
der Wahrnehmung" zwei Grundsätze. Erstens: „Alle Erschein-
ungen sind ihrer Anschauung nach extensive Grössen", nach den
Kategorien Einheit, Vielheit, Allheit. Diesen Kategorien ent-
sprechen die Humeschen Proportionen der Grössen und Zahlen.
Zweitens, den Grundsatz: „In allen Erscheinungen hat die Em-
pfindung und das Reale, welches ihr an dem Gegenstande ent-
spricht, eine intensive Grösse, das ist einen Grad", nach den
Kategorien Realität, Negation. Diesen Kategorien entsprechen bei
Hume die Grade der Qualitäten. Von den Kategorien der dyna-
mischen Klasse bestimmen die der Relation die Art des Daseins
der Dinge in ihrem Verhältnisse untereinander, es sind das die
Kategorien Substanz und Kausalität, denen die Humeschen Ver-
hältnisbegriffe Identität und Kausalität vollkommen entsprechen.
Den Kategorien der Modalität, die das Verhältnis der Dinge zu
unserem Erkenntnisvermögen bestimmen, Möglichkeit — Unmög-
lichkeit, Dasein — Nichtsein, entspricht bei Hume das Verhältnis
des Widerstreites. Allerdings entspricht der Kantischen Kategorie
Notwendigkeit bei Hume nichts, weil er keine logisqhe Notwendig-
keit anerkennt, es sei denn im negativen Sinne, Unmöglichkeit
und das ist also was sich selbst widerspricht, was aber im Ver-
hältnisse des Widerstreites ausgedrückt ist. Die Kategorien Limi-
tation und Wechselwirkung haben zwar auch kein Entsprechendes
bei Hume. Aber es wäre wahrlich nicht schlimm gewesen, wenn
sie auch bei Kant weggeblieben wären. Er hat sie doch nur des-
halb in die Kategorientafel aufgenommen, um die Dreizalhl in allen
vier Abteilungen voll zu machen. Dies gilt ebenso von der
Wechselwirkung, die entweder die Kausalität in sich enthält, oder
in ihr enthalten ist, wie schon Schopenhauer ausführlich nachge-
wiesen hat^}, wie von der Limitation. Nun sind noch in der
Humeschen Aufzählung zwei Verhältnisbegriff e, die bei Kant nicht
vertreten sind. Es sind das: Ähnlichkeit und das Verhältnis der
Berührung und des Abstandes in Raum und Zeit. Dies ist aber
auch erklärlich. Hume zählt alle möglichen Verhältnisbegriffe
auf, auch solche, die nur ein singuläres Urteil gestatten. Kant
*) Kritik der Kantischen Philosophie. Sämtliche Werke (Berliner
Ausgabe), S. 459 ff. Vgl. auch Cohen, Kmt^ Theorie der Erfahrung,
1. Aufl., S. 231 t
— 9 —
aber nimmt natürlich nur solche Verstandesbegriffe auf, die Be-
dingungen zu allgemeinen Urteilen abgeben. Denn als Bedingung
für alle möglichen singulären Urteile sieht er die Kategorie Ein-
heit an, was eigentlich erkenntnistheoretisch nicht ganz einwand-
frei ist, denn auch singulare Urteile können sich in der Art der
Erkenntnis, die sie ausdrücken, wesentlich unterscheiden. Dass
zwei Dinge ähnlich sind, ist aber eine Aussage, die nur von den
betreffenden Dingen gilt. Das Verhältnis der Berührung und
Entfernung in Raum und Zeit liefert ebenfalls bloss singulare Ur-
teile, sofern die Ursachen der Berührung und Entfernung nicht
berücksichtigt werden.
Hätte Kant das Hauptwerk Humes gekannt, so wäre man
versucht anzunehmen, Kant sei bei der F'eststellung seiner Kate-
gorien durch die sieben Verhältnisprin/ipien Humes beeinflusst ge-
wesen, da die Kategorien mit den Verhältnisprinzipien sich so
ziemlich decken und sie bei beiden Philosophen als oberste, letzte
Gesichtspunkte aufgestellt werden, unter denen der Verstand
Gegenstände mit einander vergleicht und Aussagen über sie macht.
Wir wissen aber bereits, dass Kant Humes Hauptwerk nicht ge-
kannt hat, im Enquiry aber hat Hume die Aufzählung der sieben
Verhältnisse nicht wiederholt. Es ist daher höchst interessant zu
sehen, wie die beiden Denker unabhängig von einander im Grunde
dieselbe Tafel aller obersten und letzten Gesichtspunkte ausfindig
machen, nach welchen der Verstand über die Dinge Aussagen
macht, über sie urteilt. Nur ist die Art der Auffindung dieser \
Prinzipien nach der entgegengesetzten Methode ihres Philoso- ^
phierens bei den beiden Denkern verschieden. Hume verfährt
psychologisch-empirisch und stellt sie so zusammen, wie er sie in
der Erfahrung vorfindet. Kant leitet sie, um die Sicherheit ihrer
Vollständigkeit zu erlangen, von den verschiedenen Urteilsformen
ab. Ob er aber damit seinen Zweck erreicht hat, ist sehr frag-
lich. Denn er muss doch auch so erst alle Urteilsformen aus-
findig machen. Das kann er und thut es auch auf dem empirisch-
psychologischen Wege. Nun bleibt es sich im Grunde gleich, ob
man erst auf diesem Wege alle möglichen Urteilsformen aufsucht
und von ihnen die Verstandesbegriffe, oder, wie Hume sie nennt,
alle philosophischen Verhältnisse ableitet, oder ob man erst auf
eben demselben Wege die philosophischen Verhältnisse, d. h. die
Verstandesbegriffe aufsucht und die Urteilsformen von ihnen ab-
- 10 —
leitet. Die Gewähr für die Vollständigkeit kann uns so oder so
nur die Induktion, die Erfahrung geben.
Die nächste Aufgabe Humes ist nun, die Natur und den
Grad der Evidenz zu untersuchen und festzustellen, die uns diese
sieben philosophischen Verhältnisbegriffe liefern. Hume findet
nun, dass vier von diesen Verhältnissen so geartet sind, dass sie
ganz von den Dingen oder Begriffen abhängen, die man mit ein-
ander vergleicht, so dass sie sich nicht verändern, so lange die
Dinge oder Begriffe selbst unverändert dieselben bleiben. Die
andern drei Verhältnisse aber können verändert werden, ohne
dass eine Veränderung in den Dingen, oder Begriffen vorgegangen
ist^). Die ersteren werden durch eine einmalige Anschauung der
Dinge, oder Betrachtung der Begriffe erkannt, die letztern nicht.
Zur ersten Klasse gehören die Verhältnisse Ähnlichkeit, Grade
der Qualitäten, Proportionen der Grössen und Zahlen und Wider-
streit. Zur zweiten gehören Identität, Ursache und Wirkung und
Berührung und Entfernung in Raum und Zeit. Wir können durch
eine einmalige Anschauung erkennen, ob zwei Dinge ähnlich sind,
ob dieselbe Qualität an zwei Dingen ihrem Grade nach verschieden
ist. Ebenso ist es mit dem Verhältnis des Widerstreites. Kein
Mensch kann daran zweifeln, dass Sein und Nichtsein sich wider-
sprechen und einander, völlig aufheben. Was die Proportionen der
Grössen und Zahlen betrifft, also die mathematischen Sätze, so ist
Humes Ansicht darüber nicht so wie Kant und alle Welt ihm in
den Mund legt und wie aus einer Stelle im Enquiry hervorzugehen
scheint^), als ob sie durchweg analytischer Natur wären. (Vergl.
weiter unten S. 29 f.). Vielmehr betont Hume an zwei Stellen
seines Hauptwerkes^) sehr nachdrücklich und ausführlich, dass,
wenn auch die abgeleiteten Sätze der Mathematik analytisch
folgen, was übrigens auch Kant nicht bestreitet *), die Grundsätze
der Mathematik nur durch sinnliche Anschauung eingesehen werden
können, das heisst in der Kantischen Sprache, dass sie synthetisch
sind. Daher macht Hume einen Unterschied zwischen der Evidenz
der Geometrie und der der Arithmetik und Algebra. Die Grund-
1) Über die menschl. Natur, I. Bd., 3. Tl., 1. Abschn., S. 145 f.
2) Unters, über den menschl. Verst., Anf. des 4. Abschn., S. 34.
3) Über d. menschl. Natur, I. Bd., 2. Tl., Abschn. 4, S. 106 ff. und
3. Tl., S. 148 f. u. 164.
4) Vergl. Kritik d. r. Vern., S. 160 und Einleitung (Supplement II),
S. 652 und Prolegomena, S. 43 f.
— 11 —
Sätze der Geometrie, wie z. B. die gerade Linie ist die kürzeste
Verbindung zwischen zwei Punkten, ein Beispiel, das Kant so oft
gebraucht, sind aus der Erfahrung geschöpft und es mangelt ihnen
deshalb, wie Hume meint, an uneingeschränkter Sicherheit. „Dieser
Mangel, meint Hume, wird die Geometrie auf immer abhalten, An-
sprüche auf eine ganz vollkommene Gewissheit zu machen". Aus
dem Begriff der geraden Linie, sagt Hume merkwürdigerweise
ganz wie später Kant, folgt keineswegs, dass sie die kürzeste
Verbindung zwischen zwei Punkten sei. Ich komme übrigens
später darauf zurück. Anders verhält es sich, wie Hume meint,
mit der Arithmetik und Algebra. Wir haben da einen sichern
Massstab, den klaren und bestimmten Begriff der Einheit. Bei
kleineren Zahlen können wir die Proportionen mit einem Blick
feststellen. Bei grösseren müssen wir zu einer mehr künstlichen
Methode schreiten. Da aber die grossen Zahlen aus kleinen, alle
beide aus gleichen Einheiten zusammengesetzt sind, so können wir
eine Kette von Schlüssen bis zum höchsten Grad der Feinheit und
Genauigkeit fortführen, ohne irgend eine Möglichkeit zu irren. Ob
es wirklich nötig ist, mit Kant Eaum und Zeit zu ausschliessend
subjektiven Formen der Anschauung zu machen, um die Apodikti-
zität der Arithmetik und der Geometrie zu sichern, werden wir
später bei Kant untersuchen.
Können nun diese vier Verhältnisse durch die Anschauung
der Dinge, oder Betrachtung der Begriffe erkannt werden, so ist
es nicht so bei den andern drei Verhältnissen i). Ich kann un-
möglich die Identität zweier Objekte erkennen, wenn sie auch
vollkommen ähnlich und an derselben Stelle befindlich sind, da
ich doch,' sobald ich sie zu verschiedenen Zeiten wahrnehme, nicht
wissen kann, ob sie nicht numerisch verschieden sind. Ebenso
kann ich unmöglich durch Anschauung eines Dinges wissen, welche
Wirkungen es hervorbringen kann. Verhältnisse der Berührung
und Entfernung in Eaum und Zeit können sich ebenfalls ver-
ändern, ohne dass die Objekte selbst sich verändert haben. Ich
kann es also durch Vergleichung der Objekte nicht einsehen, ohne
die Ursache zu kennen, die diese Veränderung herbeigeführt haben
könnte. Es fällt also zusammen mit dem Verhältnis von Ursache
und Wirkung.
Die Verhältnisse von Ursache und Wirkung und Identität
haben sich also durch die bisherige Betrachtung als die schwie-
1) Über die menschl. Natur, 3. Tl., 1. Abschn., S. 146.
— 12 —
rigsten und eigentlichen Probleme der Philosophie erwiesen, denen
nun Hume den grössten Teil des ersten Buches seines Hauptwerkes
widmet. Anfangs versuchte Hume eine noch weitere Vereinfachung.
Das Verhältnis der Identität, nach welchem wir zwei Objekte, die
unseren Sinnen zu verschiedenen Zeiten gegeben sind, für eins
und dasselbe halten, wenn sie uns vollkommen ähnlich erscheinen,
hänge im letzten Grunde vom Begriff der Ursache und Wirkung
ab. Denn „wo immer wir eine solche vollkommene Ähnlichkeit
entdecken, untersuchen wir, ob sie dieser Art von Objekten natür-
lich sei; ob möglicher- oder wahrscheinlicherweise eine Ursache
wirken und den Wechsel und die Ähnlichkeit hervorbringen konnte,
und nach dem, was wir über diese Ursachen und Wirkungen be-
stimmen, formieren wir unser Urteil über die Identität des Ob-
jekts" 1). Das besagt aber nur, dass selbst wenn wir den Begriff
der Identität annehmen und gelten lassen, wir noch den Begriff
der Ursachö und Wirkung zu Hilfe nehmen müssen, um jedesmal
unser Urteil über die Identität, oder die numerische Verschiedenheit
von Objekten bestimmen zu können. Wie wir aber dazu kommen,
den Objekten, die uns doch bloss als Vorstellungen gegeben und
als solche immer numerisch verschieden sind, Identität, d. h. con-
tinuierliche und von uns unabhängige Existenz beizulegen, ist eine
andere Frage. Es ist doch möglich, dass der Begriff der Identi-
tät selbst dann noch eine logische Berechtigung habe, wenn sich
auch herausstellen - sollte, dass der Begriff der Kausalität keine
objektive Gültigkeit beanspruchen könne und nur auf einem sub-
jektiven Moment, wie etwa Gewohnheit, beruhe. Ich glaube, eine
derartige Erwägung wird es gewesen sein, die Hume, trotz der
anfangs versuchten Identifizierung der Identität mit der Kausali-
tät, bestimmt hat, nachdem er über die Kausalität in einem grossen
Kapitel über die Wahrscheinlichkeit gehandelt, über den Begriff
der Identität, oder der continuierlichen und unabhängigen Existenz
der Objekte unserer Vorstellungen, kurz der Substanz, ausführliche
und gründliche Betrachtungen anzustellen.
3.
Kausalitätsbegriff.
Die Wiedergabe der Hume'schen Betrachtungen über das
Verhältnis von Ursache und Wirkung, des bekanntesten Teils seiner
1) Ebenda, 2. Abschn., S. 164/6.
- 13 -.
Philosophie, will ich so einrichten, dass ich die weniger bekannten
Partien mehr, die mehr bekannten weniger ausführlich behandle.
Es ist uns jetzt klar, dass das Verhältnis von Ursache und Wirkung
nicht durch Wahrnehmung und Vergleichung der Dinge erkannt
werden kann. Es ist denkbar, dass dieses Verhältnis sich ändere,
obwohl die Dinge selbst unverändert bleiben. Es ist wahr, dass
all unsere Erkenntnis von Thatsachen, von einem regelmässigen,
natürlichen Geschehen auf diese Relation sich gründet. Wie
kommen wir aber zu der Behauptung, dass ein bestimmtes Ding
allemal ein anderes bestimmtes hervorbringen, dass auf einen ge-
wissen Zustand immer ein anderer von bestimmter Art folgen
wird? Die Wirkung ist jederzeit von der Ursache gänzlich ver-
schieden, sie kann von dem einsichtsvollsten Menschen, selbst bei
der grössten Anstrengung, in ihr nicht entdeckt werden. Wenn
uns ein neues, bisher unbekanntes Objekt gegeben wird, so ist es
uns absolut unmöglich, im Voraus zu wissen, welche Wirkungen
es hervorbringen könne. In den Dingen selbst, wie sie uns er-
scheinen, ist also nichts enthalten, woraus sichschliessen liesse,
dass sie Ursachen von irgend welchen Wirkungen sein können.
Wie kommen wir überhaupt dazu, den allgemeinen Satz aufzustellen,
dass alles, was anhebt zu sein, auch eine Ursache seines Daseins
haben muss. Es ist ein allgemein angenommener Grundsatz in
der Philosophie, und wird als selbstverständlich angesehen. Von
welcher Impression rührt er her? Oder lässt er sich irgendwie
logisch beweisen? Das wäre nur dann möglich, wenn die Un-
möglichkeit des Gegenteils sich beweisen liesse. Nun kommt ein
Satz, den Hume bei seinen Demonstrationen sehr oft gebraucht.
Alle Begriffe, die als verschieden vorgestellt werden können, sind
auch verschieden. Die Begriffe, die im Verhältnis von Ursache
und Wirkung stehen, sind also verschieden. Denn man kahn sich
ein Ding in dem einen Augenblick als nichtexistirend, in dem
andern als existirend denken, ohne mit ihm den von ihm völlig
verschiedenen Begriff einer Ursache, oder eines produktiven Ver-
mögens zu verbinden. Wenn nun die Vorstellung des Gegenteils
für die Einbildungskraft möglieh ist, so ist der Satz unmöglich zu
beweisen. Demnach werden wir bei genauer Untersuchung finden,
dass jeder Beweis für die Notwendigkeit eiuer Ursache falsch und
sophistisch ist. Nun werden drei Beweise vorgeführt und wider-
legt»). Der erste, von Hobbes, lautet: Alle Punkte der Zeit und
1) Über d. menschl. Natur, I. Bd., 3. Tl., 3. Abschn., S. 166 ff.
— 14 —
des Raumes sind an und für sich gleich. Wäre nun keine Ursache
da, die den Zeit- und Raumpunkt für den Anfang eines Daseins
fixirt und bestimmt, so müsste es ewig in der Schwebe bleiben
und könnte nie anfangen zu sein. Die Hinfälligkeit des Beweises
liegt auf der Hand. Wenn wir für die Existenz eines Dinges
keine Ursache brauchen, so brauchen wir auch keine für die Be-
stimmung des Zeit- und Raumpunktes seines Existenzanfangs.
Wenn es denkbar ist, dass irgend eine Zeit und ein Raum sich
ohne Ursache mit einem Dasein erfüllt, so ist es auch denkbar,
dass eine bestimmte Zeit und ein bestimmter Raum sich ohne
Ursache mit einem Dasein erfüllt. Mit den anderen Beweisen von
Locke und Clarke ist es nicht besser bestellt. Der erste argumentiert:
Was ohne Ursache hervorgebracht wäre, das wäre durch Nichts
entstanden. Nun kann Nichts ebensowenig eine Ursache sein, als
es Etwas, oder zwei Rechten Winkeln gleich sein kann. Der
zweite argumentiert: Jedes Ding muss eine Ursache haben, denn
wenn es keine hätte, so würde es sich selbst hervorgebracht haben,
das heisst, es würde existirt haben, ehe es existirte, was unmöglich
ist. In allen diesen Beweisen steckt eine handgreifliche petitio
principii. Wenn ein Ding ohne Ursache anfangen kann zu existiren,
so braucht es weder ein Nichts, noch sich selbst, noch etwas An-
deres zu seiner Ursache. Es ist also klar, dass weder die Wahr-
nehmung,* noch ein logischer Schluss die Notwendigkeit einer
Ursache bei jeder neuen Erzeugung einleuchtend machen kann.
Die Meinung von der Notwendigkeit einer Ursache muss also aus
der Erfahrung entsprungen sein.
Was lehrt uns nun die Erfahrung? Wir beobachten, dass zwei
Dinge, oder Zustände stets auf einander folgen. Wir bemerken, dass
sie in einem zeitlichen Verhältnis des Nacheinander stehen. Die
Ansicht, dass die Wirkung gleichzeitig mit der Ursache gegeben
ist, wird widerlegt i). Denn wenn das der Fall wäre, so wäre
Succession gar nicht möglich, so wäre alles auf einmal und zu
gleicher Zeit, da mit der Ursache die Wirkung und mit dieser eine
andere Wirkung, deren Ursache sie ist, u. s. w. gegeben sein
würde. Wenn nun Succession möglich sein soll, so muss die Ur-
sache der Wirkung allemal vorhergehen. Wir bemerken noch femer,
dass Ursache und Wirkung auch im Räume an einander grenzen.
Ein anderes Verhältnis aber bemerken wir nicht. Wie kommen
1) Ebenda, 2. Abschn., S. 158.
— 15 —
wir nun dazu, von einem Nacheinander auf ein Durcheinander, von
einem post hoc auf ein propter hoc zu schliessen? Die Viellieit
der Fälle, die uns die Erfahrung bietet, kann das nicht bewirken.
Denn durch die Vielheit der Fälle wird unsere Einsicht nicht be-
reichert. Mehrere Wiederholungen desselben Vorgangs verändern
die Natur des Vorgangs nicht. Die Frage ist, wie wir sehen,
^ine doppelte : Wie kommen wir zu dem Begriff der Ursache,
der Kraft und der Notwendigkeit? Und welches ist der Grund,
dass wir bei der Wahrnehmung eines Gegenstandes das Eintreffen
eines bestimmten andern mit Gewissheit voraussagen? Eine be-
friedigende Lösung der zweiten I>age wäre auch eine solche für
die erste, umgekehrt aber nicht. Denn wäre auch eine Impression
ausfindig zu machen, deren Copie der Begriff der Kraft, der Ur-
sache und der Notwendigkeit sein könnte, so hätten wir immer
noch nicht das Recht, den Dingen gewisse Wirkungen mit Be-
stimmtheit zuzuschreiben, da wir doch nicht die Kräfte der Dinge
kennen. Zwei Dinge, die uns vollkommen ähnlich erscheinen,
können doch noch ganz verschiedene geheime Kräfte besitzen, die
uns unbekannt bleiben. Aber eine solche Impression ist uns gar
nicht gegeben, weder durch äussere, no:ih durch innere Erfahrung.
Wenn wir den Arm bewegen wollen und er sich auch gleich darauf
bewegt, so haben wir auch da bloss ein Verhältnis des Nachein-
ander. Denn wir haben absolut keinen Begriff davon, wie der
Wille die Bewegung des Arms bewerkstelligt, bewirkt.
Von diesem Punkt aus haben Beneke i) und nach ihm Friedrich
Jodl eine Lösung des Problems versucht, aber, ich glaube, mit
wenig Erfolg. Denn die inneren Vorgänge, von denen sie aus-
gehen, sind für uns noch unbestimmbarer und dunkler, als die
äusseren. Die Medien, die z. B. zwischen einem Willensakt und
der darauf folgenden Bewegung unserer Glieder liegen, sind für
uns unerforschlicher, als die Kette von Ursachen und Wirkungen
in der Aussenwelt. Hume hebt mit Recht hervor, dass die That-
sache, dass wir absolut keinen Grund dafür anzugeben wissen,
warum wir die einen Glieder nach unserm Willen bewegen können,
die anderen nicht, beweise, dass auch die Vorgänge in uns That-
1) Beneke, System der Metaphysik, S. 265 ff., Jodl, D. Hume's Lehre
von der Erkenntnis, Seite 34. Vergl. auch Reininger, Das Causalproblem
bei Hume und Kant, „Kantstudien" VI, 429 t Anm. und 455 f.
— 16 —
Sachen sind, über die uns die Erfahrung belehren muss und deren
Wesen wir nicht kennen, i)
Es wundert mich aber, dass die Lösung des Problems nicht
von einer anderen, sehr naheliegenden Seite unternommen worden
ist. Ist es wirklich wahr, dass das, was wir Ursache und Wirkung
nennen, sich auf Vorgänge bezieht, die uns bloss in einem zeit-
lichen Verhältnis des Nacheinander gegeben sind, und dass die
Wirkung völlig verschieden von der Ursache ist? Ich meine,
nein! Wir bemerken zwischen Ursache und Wirkung nicht bloss
ein zeitliches, sondern allemal noch ein mathematisches Verhältnis.
Die Wirkung ist von der Ursache nicht in jeder Beziehung völlig
verschieden, sondern ist ihr quantitativ sogar vollkommen gleich,
indem die Wirkung immer so viel Energie verbraucht, als
die Ursache abgiebt. Man wird freilich einwenden: wie können
wir von Kraft oder Energie sprechen, solange wir nicht wissen,
woher wir diese Begriffe haben! Aber warum ist es denn nicht
möglich, dass durch Erfahrung, d. h. Beobachtung eines beständigen
mathematischen Verhältnisses zwischen aufeinander folgenden Vor-
gängen die Menschen auf den Gedanken gekommen sind, dass die
Vorgänge ausser in einem zeitlichen, noch in einem andern, innigeren
Verhältnis zu einander stehen, das nun Ursache und Wirkung ge-
nannt wurde? Die gesuchte Impression für den Begriff Ursache
kann demnach die Beobachtung des beständigen quantitativen,
mathematischen Verhältnisses sein.
Aber wir wollen uns nunmehr der Hume'schen Lösung des
Problems zuwenden. Und wir thun das am besten, wenn wir mit
seiner Erklärung des Existenzbegriffs beginnen. „Der Begriff der
Existenz, sagt Hume^), ist vom Begriff eines Dinges nicht ver-
schieden". Es ist merkwürdig, dass Hume hier ganz dieselbe
grosse Wahrheit vorträgt, durch welche Kant in der Widerlegung
des ontologischen Beweises für das Dasein Gottes den dogma-
tischen Rationalismus aus den Fugen hebt'»). Die Übereinstimmung
ist so gross, dass Hume und Kant dabei fast dieselben Ausdrücke
gebrauchen. Wir wollen daher Hume selbst sprechen lassen.
„Es ist demnach ferner offenbar, dass der Begriff der Existenz
1) Vergl. auch Riehl, Kriticismus, I. Bd., S. 107.
2) Über die menschl. Natur, I. Bd., 3. Tl., 7. Abschn., S. 193 f. Siehe
^uch 2. Tl., 6. Abschn., S. 140 f.
8) Kritik d. r. Vernunft (Ausg. Kehrbach), S. 472 1 Siehe auch
S. 207.
- 17 -
von dem Begriff eines Dinges gar nicht verschieden ist, und dass,
wenn wir nach der simplen Vorstellung eines Dinges uns dasselbe
noch als existierend denken wollen, wir in der That mit dem
ersten Begriffe gar keine Vermehrung oder Änderung vornehmen.
So, wenn wir sagen, Gott existiert, formieren wir bloss den Be-
griff eines solchen Wesens, als wir es uns vorstellen; und die
Existenz, welche wir ihm beilegen, wird nicht als ein besonderer
Begriff gedacht, welchen wir noch zu dem Begriffe seiner übrigen
Eigenschaften hinzufügten, und den wir wieder wegnehmen und
von ihm trennen könnten. Aber ich gehe noch weiter, fährt
Hume fort; und nicht zufrieden mit der Behauptung, dass der Be-
griff der Existenz eines Dinges keine Vermehrung des simplen
Begriffs desselben ist, behaupte ich noch, dass der Glaube der
Existenz keine neuen Begriffe zu solchen hinzufügt, welche den
Begriff des Objekts ausmachen. Wenn ich an Gott denke, wenn
ich ihn als existierend denke, und wenn ich glaube, dass er
existiert, so wird mein Begriff von ihm weder vermehrt, noch ver-
mindert. Aber da es ganz gewiss ist, dass ein gi'osser Unterschied
zwischen der simplen Vorstellung der Existenz eines Objekts und
dem Glauben an dieselbe ist, und da dieser Unterschied nicht in
den Teilen, oder in der Zusammensetzung des Begriffs liegt, den
wir uns vorstellen, so folgt, dass er in der Art liegen müsse, in
welcher wir uns ihn vorstellen". Also, es hängt von der Art der
Vorstellung eines Objekts ab, ob wir an seine Existenz glauben,
oder nicht. Nach Kant muss uns das Objekt durch Empfindung
gegeben sein, wenn es uns als real, als existierend erscheinen
soll; nach Hume ebenso. Damit ist ein für allemal klar und
deutlich ausgesprochen und festgestellt, dass Existenzialsätze, oder,
was dasselbe ist, synthetische Urteile nicht durch Zergliederung,
durch Analyse von Begriffen, sondern nur durch Erfahrung ge-
wonnen werden können. Damit war dem dogmatischen Rationalis-
mus ein Schlag versetzt, der ihn hätte tötlich verwunden müssen.
Der dogmatische Rationalismus war schon vor Kant durch Hume
überwunden, und nur der Umstand, dass sein Hauptwerk bei
seinen Lebzeiten zu wenig beachtet wurde, war schuld daran,
dass man es nicht wusste.
Nun ist uns der Schlüssel zur Lösung unseres Problems, so-
wie zu der ganzen Erkenntnislehre Humes gegeben. Der Glaube
an die Existenz eines Dinges ist nicht durch ein, oder mehrere
Merkmale seines Begriffs bedingt, sondern hängt von dem Grade
2
— 18 —
der Stärke und Lebhaftigkeit seiner Vorstellung ab. Kant drückt
fast denselben Gedanken in seiner Weise mit anderen Worten aus.
Das zweite Postulat des empirischen Denkens bei Kant lautet:
„Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung (der Em-
pfindung) zusammenhängt, ist wirklich'* »). Hume sagt: „Glauben
heisst so viel als eine unmittelbare Impression der Sinne, oder die
Wiederholung dieser Impression im Gedächtnisse fühlen"*). Die
Impressionen sind im lötzten Grunde doch nur unsere Vorstel-
lungen, und „es ist völlig unmöglich mit Gewissheit zu entscheiden,
ob sie unmittelbar von den Objekten selbst, oder von der eigenen
schaffenden Kraft des Gemüts, oder von dem Urheber unseres
Wesens herrühren'*'^). Nur der hohe Grad von Stärke und Leb-
haftigkeit, der diesen Vorstellungen eigentümlich ist, bewirkt, dass
wir an ihre Existenz glauben. Die Vorstellungen hingegen, die
uns die Einbildungskraft vorführt, besitzen einen sehr geringen
Grad von Stärke und Lebhaftigkeit und wir glauben deshalb nicht
an ihre Existenz. Die Gedächtnisbilder, die treuen Copien der
Impressionen, besitzen, weil sie im engeren Zusammenhange mit
diesen stehen, einen höheren Grad von Stärke und Lebhaftigkeit
als Vorstellungen der Einbildungskraft. In je engerer Verbindung
eine Vorstellung mit einer Impression steht, desto lebhafter und
stärker wird sie auf unser Gemüt einwirken. Wenn uns nun
zwei Dinge oder Vorgänge in einem Verhältnis des Neben- und
Nacheinander gegeben sind, so wird, nach dem Gesetze der Asso-
ciation, die Wahrnehmung oder Vorstellung des einen die Vor-
stellung des andern hervorrufen. Wenn wir aber dieses Verhält-
nis des Neben- und Nacheinander zwischen zwei Dingen oder
Vorgängen in einer grossen Anzahl und in allen uns je vorgekom-
menen Instanzen wahrgenoumien haben, so wird das Band der
Association so stark und vollkommen sein und der Übergang von
der einen Vorstellung zur andern mit einer solchen Leichtigkeit
und Schnelligkeit vor sich gehen, dass diese beiden Vorstellungen
von einander werden gar nicht getrennt werden können. Diese
vollkommene Association wird noch ferner bewirken, dass die Leb-
haftigkeit und Stärke der einen durch Impression oder Gedächtnis
gegebenen Vorstellung sich jedesmal auf die andere, so mit ihr
verbundene vollständig übertragen wird, und wir werden daher
^) Kritik d. r. Vernunft, S. 202.
2) über die menschl. Natur, I. Bd., 3. -Tl., 5. Absch., S. 178.
3) Ebenda, S. 173 f.
- 19 -
an die Existenz der letztem, das heisst in diesem Falle, an das
Eintreffen derselben glauben. Dieses Gefühl der Nötigxing, von
der einen Vorstellung zur andern überzugehen, wirkt nun auf
unser Gemüt und wird so zu einer inneren Impression, von welcher
der Begriff der Notwendigkeit herrührt und der durch die Ein-
bildungskraft auf die Objekte selbst übertragen wird. Auf diese
Weise entsteht durch Erfahrung und Gewohnheit .der Glaube an
eine notwendige Verknüpfung zwischen den Objekten, entsteht der
Begriff der Ursache und Wirkung.
Es ist also kein Vernunftschluss, kein Produkt des Ver-
standes, was uns bei der Wahrnehmung des einen Dinges oder
Ereignisses das Eintreffen des andern, immer mit ihm verbunden
gewesenen erwarten lässt, sondern ein Produkt der zum Instinkt
gewordenen Gewohnheit, und nicht vom Begriff der notwendigen
Verknüpfung rührt dieser Schluss her, sondern die notwendige
Verknüpfung von diesem auf Gewohnheit beruhenden Schluss.
Damit ist auch alle objektive Erkenntnis von Thatsachen, von
einem natürlichen Geschehen gänzlich aufgehoben. Was noch be-
stehen bleibt ist subjektiver, instinktailiger Glaube, der für das
praktische Leben zwar ausreicht und, wie Hume meint, sogar
nützlicher und förderlicher ist, als Vernunfteinsicht, der aber für
die wissenschaftliche Erkenntnis nichts mehr als Wahrscheinlich-
keit übrig hat. Hume war der Zerstörer des Rationalismus und
Empirismus zugleich, er war der Allzermalmer. Und wenn
Mendelssohn diese Bezeichnung auf Kant anwendet, so würde sie
auf Hume besser passen. Denn Kant hatte eigentlich nicht mehr
was zu zermalmen. Dieses Geschäft war de facto schon von
Hume gründlich besorgt. Und in der That erblicken wir jetzt in
der Philosophie Kants nicht sowohl ein Werk der Zerstörung, als
vielmehr ein solches des Aufbauens.
II.
Kant und Hume.
1.
Übergang auf Kant.
Die Rationalisten glaubten, dass wir durch reinen Verstand
das Wesen und den notwendigen Zusammenhang alles Seins und
Geschehens ergründen können; die Empiristen Bacon und Locke
2*
— 20 ^
glaubten, dass wir durch Erfalu'uug den uotwendigen Zusammen-
hang der Objekte der Erfahrungswelt wissenschaftlich erkennen
können. Da zeigte Hume, dass beide Parteien imirrtume befangen
sind, dass der Verstand a priori über Sein und Geschehen nichts
ausmachen, dass die Erfahrung keine notwendige allgemein gültige
Erkenntnis liefern kann. Jetzt verstehen wir die Kantische
Frage: Wie sind synthetische Urteile a priori möglich? Der Ver-
stand kann zwar Sätze a priori aussprechen. Was er einsieht, ist
zwar notwendig und allgemeingültig. Seine Einsicht ist aber, sehr
beschränkt, er kann nur gegebene Begriffe definieren und analy-
sieren, er kann aber über sie nicht hinausgehen, er ist nicht im-
stande über Sein und Geschehen Aussagen zu machen, kurz, er
ist unfähig, synthetische Urteile auszusprechen. Die Erfahrung
wiederum giebt uns zwar die Möglichkeit, Existenzialsätze, das
heisst synthetische Urteile auszusprechen. Aber die Erfahrung
bleibt auf sich selbst eingeschränkt. Wir können nur wissen, was
wir erfahren haben, nicht aber, was wir erfahren werden. Die
Erfahrung liefert uns keine notwendige, allgemeingültige Erkennt-
nis, kurz keine Urteile a priori. Wenn nun Kant fragt : Wie sind
synthetische Urteile a priori möglich?, so werden die Ergebnisse
der Hume'schen Philosophie wieder in Frage gestellt. Und noch
mehr, Kant fragt nicht, ob synthetische Urteile a priori möglich
sind, sondern wie sie möglich sind. Denn, dass solche Urteile
möglich sein müssen, steht für ihn von' vornherein fest. Die
Frage ist nur, Wie? Welches sind die Bedingungen, welches die
Erkenntnismittel, die sie möglich machen? Reiner Verstand kann
es nicht sein, Erfahrung kann es auch nicht sein, das hat bereits
Hume gezeigt, was ist es also denn? Wir sehen also, schon in
der Formulierung des Problems macht sich die neue transscenden-
tale Methode geltend. Manche Kantcommentatoren suchen zwar
die Frage im skeptischen Sinne zu deuten, damit der Kritiker
Kant nicht schon gleich bei der Problemstellung in gewissem
Sinne als Dogmatiker erscheine. Diese Auslegung ist aber un-
haltbar. In den Prolegomenen und in der umgearbeiteten Ein-
leitung der zweiten Auflage der Kritik erklärt Kant ausdrücklich,
dass es eine unbez weifelbare Thatsache sei, dass wir synthetische
Urteile a priori besitzen, in der Mathematik und in der Natur-
wissenschaft ebensowohl, wie in der Metaphysik. Allerdings ist
in Bezug auf die Metaphysik die Frage anders gemeint, als in
Bezug auf die Naturwissenschaft und die Mathematik, weshalb auch
— 21 --
bei der erstem die Frage eine doppelte Gestalt bekommt: Wie ist
Metaphysik als Naturanlage und wie als Wissenschaft möglich?
Eine Stelle in den Prolegomenen ^) beweist die Richtigkeit meiner
Auffassung. „Wir haben also einige, wenigstens unbestrittene
synthetische Erkenntnis a priori und dürfen nicht fragen, ob sie
möglich sei (denn sie ist wirklich), sondern nur, wie sie mög-
lich sei".
2.
Die Apodiktizität der Mathematik.
Um die Ergebnisse der Hume'schen Philosophie sozusagen ad
absurdum zu führen, bemüht sich Kant nachzuweisen, dass die
Grundsätze der Geometrie und alle Sätze der Arithmetik synthe-
tisch seien. Die Zweifel, die den Kausalitätsbegriff und damit
die gesamte Naturwissenschaft treffen, erschüttern nun auch die
Mathematik. Das aber, meint Kant, wäre selbst dem Skeptiker
Hume zu viel. Hätte Hume eingesehen, dass die Mathematik
synthetische Sätze enthält, so hätte er durch seine Philosophie zu
dem Schluss kommen müssen, dass es auch keine reine Mathematik
geben könne, „vor welcher Behauptung ihn alsdann- sein guter
Verstand wohl würde bewahrt haben"*). Er hätte, vor dieser
Konsequenz zurückschreckend, meint Kant weiter, einen ganz an-
deren Weg, etwa den Kantischen, eingeschlagen und wäre
alsdann auch in Betreff der Kausalität zu ganz anderen Ergeb-
nissen gekommen. Wir wissen bereits, dass sich die Sache in der
That ganz anders verhält. „Hume schnitt" nicht „vom Felde der
Erkenntnis", wie Kant in einer andern Stelle meint"), „unbedacht-
samerweise eine ganze und zwar die erheblichste Provinz, nämlich
reine Mathematik, ab, in der Einbildung, ihre Natur und so zu
reden ihre Staatsverfassung beruhe auf ganz andern Piinzipien,
nämlich auf dem Satze des Widerspruches". Hume untersuchte
vielmehr, wie wir beieits wissen, in seinem Hauptwerk sehr ein-
gehend die Geltungsgründe der Geometrie und Arithmetik. Er
sah sehr wohl ein, dass die Grundsätze dieser Wissenschaften
nicht aus reiner Vernunft, sondern aus der sinnlichen Anschauung,
also aus Erfahrung geschöpft sind, und konnte trotzdem, ohne zu
^) Reclamsche Ausgabe, S. 51. Vgl. Vaihinger, Commentar zu Kants
Kr. d. r. V. 1 , 314 ff.
2) Prolegomeua, S. 48|9, Kritik d. r, Vem.^1 Supplement 11, S, 654.
3) Prolegomena, S. 48.
- 22 -
apriorischen Formen seine Zuflucht zu nehmen, wie Kapt es that,
den arithmetischen Sätzen vollkommene, den geometrischen für den
Erfahrungsgebrauch ausreichende Sicherheit und Gewissheit zu-
schreiben, und, ich glaube, mit vollem Recht. Kant glaubte, und
das ist einer seiner Grundirrtümer, dass alle apodiktische Erkenntr
nis, wenn sie synthetisch ist, von Begriffen, oder Formen a priori
stammen müsse. Alle allgemein und notwendig gültigen Sätze
tragen, nach Kants Meinung, den Stempel des a priori an sich,
d. h. sie müssen ihren Grund und Ursprung in irgend etwas haben
was vor aller Erfahrung und unabhängig von dieser gilt. Wollen
wir, um diese Meinung zu widerlegen, mit den arithmetischen
Sätzen beginnen.
Gesetzt, der Satz, 5 + 7 = 12, sei ein synthetischer Satz
und es sei uns durch Analyse der Begriffe 5 und 7 unmöglich, die
Einsicht der Gleichheit ihrer Summe und der Zahl 12 zu erlangen.
Wir müssen nun die Erfahrung, die Anschauung zu Hilfe nehmen
und zu der Zahl 7 fünf Finger, oder fünf Punkte zuzählen, um
auf diesem empirischen Wege die Zahl 12 zu bekommen. Ist es
aber einmal geschehen, so können wir, ohne die Widerholung
dieser Operation nötig zu haben, mit der grössten Gewissheit und
vollkommensten Sicherheit von allen möglichen Dingen behaupten,
dass ihrer 5 + 7 = 12 sein werden und sein müssen. Denn was
wir da behaupten ist gar nichts Neues, das erst durch erneute
Erfahrung eingesehen werden musste. Denn der Satz, 5 + 7 = 12,
ist eigentlich ein singuläres Urteil, das nichtsdestoweniger für alle
möglichen Dinge gilt. Wir berücksichtigen in unserm Urteil gar
nicht die Dinge, sondern bloss die Zahlen b -}- 7, die als solche,
auf welche Dinge sie sich auch beziehen mögen, immer dieselben
bleiben und daher auch derselben Zahl 12 gleich sein müssen.
Bei Ursache und Wirkung hat die Sache ieine ganz andere Be-
wandtnis. Wenn wir ein oder mehrere mal die Erfahrung ge-
macht haben, dass Feuer Hitze von sich giebt, so können wir
nicht im Voraus mit Sicherheit behaupten, dass alles Feuer die-
selbe Wirkung haben wird, da jedesmal ein neues Geschehen vor
sich gehen rauss, das mit dem ersten gar nichts zu thun hat. Es
kann ja sein, dass in allen wahrgenommenen Fällen zufällig das
Gefühl der Hitze auf die •Annäherung an das Feuer folgte, was
aber in der Zukunft nicht der Fall zu sein braucht. In dem Ur-
teil 5 + 7 = 12 aber sprechen wir immer von denselben Zahlen,
von denen wir einmal erfahren haben, dass sie gleich 12 sind.
- 23 -
Ihr Verhältnis muss also wie sie selbst gleich bleiben. Es ist mir
daher unbegreiflich, wozu wir die Zeit und den Raum zu aprio-
rischen Formen machen müssen, um die allgemeine und notwendige
Gültigkeit der arithmetischen Sätze zu sichern.
Die Richtigkeit dieser Betrachtung lässt sich sogar aus einer
Stelle bei Kant selbst darthun. Kritik d. r. Vernunft (Ausgabe
Kehrbach, S. 160 f.) 0» ini Abschnitt „von den Axiomen der An-
schauung" sagt Kant: „Denn dass Gleiches zu Gleichem hinzu-
gethan, oder von diesem abgezogen, ein Gleiches gebe, sind ana-
lytische Sätze, indem ich mir der Identität der einen Grössener-
zeugung mit der andern unmittelbar bewusst bin". Dann weiter
Seite 161: „Dagegen sind die evidenten Sätze der Zahlenverhält-
nisse zwar allerdings synthetisch, aber nicht allgemein, wie die der
Geometrie, und eben um deswillen auch nicht Axiomen, sondern
können Zahlformeln genannt werden. Dass 5 -f- 7 ==: 12 sei, ist
kein analjiiischer Satz. Denn ich denke weder in der Vorstellung
von 7, noch von 5, noch in der Vorstellung von der Zusammen-
setzung beider die Zahl 12". Wir sehen also, dass Gleiches zu
Gleichem hinztigethan, ein Gleiches gebe, in uöserem Beispiel aus-
gedrückt: 5 zu 7 hinzugethan, immer die gleiche Summe x ergeben
wird, ist ein analytischer Satz. Synthetisch ist bloss der Satz,
der dieses x = 12 setzt. Wenn nun dieser synthetische Satz, die
Bestimmung des x = 12 durch eine einmalige Erfahrung, durch
Zuzählung der 5 Einheiten zu der Zahl 7 erlangt ist, so muss er
auf Grund des analytischen Satzes, Gleiches ' zu Gleichem hinzu-
gethan giebt Gleiches, unbedingte Geltung für alle Fälle haben.
Hiermit ist also erwiesen, dass ein synthetischer Satz a posteriori,
durch blosse Erfahrung allgemeine und notwendige Gültigkeit er-
langen kann«).
Ähnlich, wenn auch nicht ganz so, verhält es sich mit den
Grundsätzen der Geometrie. Aus dem Begriff der geraden Linie
folgt zwar nicht, dass sie die kürzeste Verbindung zwischen zwei
Punkten ist. Aber aus dem Begriff der Linie überhaupt, und also
auch der geraden folgt, dass sie überhaupt eine Verbindung
zwischen zwei Punkten ist. Von einem gegebenen Punkte zu
einem gegebenen andern kann man auf verschiedenen Wegen ge-
langen, von denen entweder einer der kürzeste ist, oder mehrere
') Vgl. auch Prol^gomena (Reclamsche Ausgabe), S. 44,
2; Siehe auch weiter uuten, S. 30,
— 24 —
gleich gross, also gleich kurz sind. Das sind alles analytische
Sätze. Wenn wir nun durch Erfahrung, das heisst durch wieder-
holte Messungen gefunden haben, dass die gerade Linie und nur
diese der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten ist, so können wir
den Satz aufstellen : Die gerade Linie ist die kürzeste Verbindung
zwischen zwei Punkten. Denn wenn wir von einer Geraden
sprechen, abstrahieren wir von allen ihren sonstigen Eigenschaften,
wie etwa Farbe und dergleichen und berücksichtigen nur die Eigen-
schaft der Geradheit. Da der Raum für uns unendlich teilbar ist,
so ist es zwar unmöglich, zwei gleich gerade Linien zu zeichnen.
Aber in der Idee sind alle geraden Linien in Ansehung der Gerad-
heit vollkommen gleich, und selbst in der Erfahrung ist die Dif-
ferenz unbedeutend, sobald wir sie durch genaue Messung und
Vergleichung gleich gerad finden. Die Geometrie spricht immer
von einer geraden Linie, die als solche überall und immer dieselbe
ist. Da wir durch Erfahrung gefunden haben, dass die gerade
Linie die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten ist, so
können wir mit Sicherheit behaupten, dass jede Gerade ebenso die
kürzeste sein wird. Denn jede Gerade, wo und wann sie sich
auch befinden mag, ist als solche immer dieselbe. Allerdings
können gleich gerade Linien der Länge nach verschieden sein.
Aber auch die denkbar längste, die uns je in der Erfahrung ge-
geben sein kann, muss aus gleichartigen Teilen zusammengesetzt
sein. Was aber von den Teilen in Ansehung ihrer Eigenschaft
der Geradheit gilt," das muss auch von der ganzen in Betracht
derselben Eigenschaft gelten. Durch Vermehrung der Quantität
kann eine Eigenschaft, die durch die Qualität bedingt ist, nicht
verändert werden. Denn wäre es nicht so, wäre es möglich, dass
eine gerade Linie bei fortgesetzter Verlängerung einmal die Eigen-
schaft verlöre, die kürzeste Verbindung zwischen zwei Punkten zu
sein, so müsste doch diese Abweichung an irgend einer Stelle be-
ginnen, diese Stelle ist aber ein Teil der ganzen geraden Linie,
d. h. eine kleinere Gerade, von dieser wissen wir aber durch Er-
fahrung, dass sie die kürzeste ist.
Bei Ursache und Wirkung verhält sich die Sache ganz anders.
Jede Wirkung ist eine neue Erzeugung, die mit irgend einem an-
dern Fall gar nichts zu thun hat. Wir können nicht im Voraus
wissen, ob ein Ding in der Zukunft überhaupt etwas hervorbringen,
und wenn schon, so können wir nicht wissen und voraussehen,
welcher Art diese Erzeugung sein wird, Die möglichen Erzeug-
— 25 —
ungen sind unendlich. Zwischen zwei Punkten aber, wann und
wo sie uns auch gegeben sein mögen, sind immer jedenfalls poten-
tiell mehrere Verbindungen vorhanden. Eine neue Erzeugung ist
dabei nicht nötig. Wenn wir nun gefunden haben, dass die gerade
Linie und nur diese die kürzeste Verbindung zwischen ihnen ist,
so können wir mit Gewissheit behaupten, dass sie es auch immer
und zwischen allen möglichen Punkten, die uns je in der Erfahrung
gegeben sein mögen, sein wird. Wir brauchen also keine aprio-
rischen Formen, um die Apodiktizität der Mathematik sicher zu
stellen.
Wollen wir ein wenig tiefer in dieses Problem eindringen,
um den Kantischen Irrtum bei seiner Wurzel zu fassen. Das ganze
Problem der Apodiktizität der mathematischen Sätze entstand durch
diiö von Kant entdeckte Einteilung aller Urteile in analytische und
synthetische und durch die Behauptung, dass alle arithmetischen
Sätze und die Grundsätze der Geometrie zur zweiten Klasse ge-
hören. Diese Einteilung ist an und für sich sicherlich genial und
eines Kants würdig. Aber sie ist doch, wie mich dünkt nicht voll-
ständig, weil sie ihren Gegenstand nicht erschöpft. Die ana-
lytischen Urteile, sagt Kant, thun durch das Prädikat zum Begriffe
des Subjekts nichts hinzu, was nicht im selbigen schon gedacht
war, hingegen fügen die synthetischen Urteile durch das Prädikat
etwas zum Begriffe des Subjekts hinzu, was in ihm nicht gedacht
war und durch keine Zergliederung desselben hätte herausgezogen
werden können. Sein gut gewähltes Beispiel hierfür ist, als ana-
lytisches Urteil: alle Körper sind ausgedehnt, als synthetisches:
alle Körper sind schwer. Suchen wir, uns die Sache klar zu
machen. Das Urteil, alle Körper sind ausgedehnt, behauptet weder
ein Sein, noch ein Zusammen-, oder Nacheinandersein von Objekten,
Eigenschaften, oder Zuständen, sondern stellt sich bloss als De-
finition eines Begriffs oder richtiger eines Wortes dar. Es wird
nicht behauptet, dass irgend ein Körper oder Ausgedehntes da
ist oder irgend einmal dasein wird, sondern es wird die Erklärung
abgegeben, dass wenn wir das Wort „Körper" gebrauchen, wir
mit dieser Bezeichnung etwas Ausgedehntes und nur solches meinen.
Altes Andere, was nicht ausgedehnt ist, es mag in der Erfahrung
gegeben, sein oder nicht, jedenfalls würden wir es nicht Körper
nennen, weil wir mit diesem Worte nur das, was ausgedehnt ist,
bezeichnen und zum. Zwecke der Verständigung bezeichnen wollen.
Etwas ganz Anderes aber drückt das synthetische Urteil aus, alle
- 26 —
Körper sind schwer. Es wird nämlich damit auch behauptet, dass
alles, was Körper, d. h. ausgedehnt ist, auch die Eigenschaft der
Schwere hat. Es wird also die Behauptung von dem ständigen
Zusammensein zweier Eigenschaften, der Ausdehnung und der
Schwere aufgestellt. Es ist klar, dass eine solche Behauptung
einen Grund, ein Etwas erfordert, worauf sie sich stützen kann.
Dieser Grund, dieses Etwas ist nun die Erfahrung, in der uns das
Zusammensein der beiden Eigenschaften stets gegeben ist. In der
Erfahrung aber können wir nur die Thatsache des Zusammenseins
der beiden Eigenschaften konstatieren, nicht aber die Einsicht ge-
winnen, dass es in ihrer Natur begründet sei, stets so mit ein-
ander verbunden zu sein. Daher bleibt der Satz, alle Körper sind
schwer, ein Erfahrungsurteil, ohne allgemeine und notwendige
Gültigkeit in transscendentalem Sinne ^). Der mathematische Grund-
satz, die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten,
ist sicherlich kein Definitions- also kein analytisches Urteil, wie
schon Hume richtig erkannt hat. Ich will hier zum bessern Ver-
ständnis der Sache eine Stelle bei Hume zitieren*). „Es ist wahr,
die Mathematiker behaupten eine ganz genaue Definition von einer
geraden Linie zu geben, wenn sie sagen: sie ist der kürzeste Weg
zwischen zwei Punkten. Aber zuerst merke ich an, dass dieses
mehr die Entdeckung einer Eigenschaft der geraden Linie ist, als
eine genaue Definition derselben. Denn ich frage einen jeden, ob
er bei einer geraden Linie nicht unmittelbar an eine solche be-
sondere Erscheinung denkt, und ob es nicht bloss zufällig ist, dass
er noch diese Eigenschaft erwägt? Eine gerade Linie kann
für sich gedacht werden; aber um diese Definition zu verstehen,
müssen wir eine Vergleichung mit anderen Linien vornehmen, die
wir uns mehr ausgedehnt vorstellen." Also, der kürzeste Weg
zwischen zwei Punkten zu sein, ist bloss eine Eigenschaft, die
man an der geraden Linie entdeckt; die Definition der letztern
aber ist nur durch das unmittelbare Vorstellen derselben möglich.
Soweit sind nun die beiden Urteile, alle Körper sind schwer, und
die gerade Linie ist der kürzeste Weg zwischen zwei Punkten,
von gleicher Art, indem sie beide keine Definition sondern eine
Synthesis, die Behauptung des Zusammenseins zweier Eigen-
schaften ausdrücken. Die Natur der Synthesis selbst ^aber ist
1) Vergl. übrigens über das Beispiel, alle Körper sind schwer,
Cohen, Kants Theorie d. Erfahr. S. 191 unten u. f.
2) Über d. menschl. Natur, Bd. I, T. 2, Abschn. 4, S. 109 f.
- 27 ~
in den beiden Urteilen grundverschieden. In dem ersten Urteil
hat der Subjektbegriff Körper -Ausdehnung gar keine logische
Beziehung zum Prädikatbegriff der Schwere, im zweiten aber doch
insoweit, als die gerade, wie die Linie überhaupt, ohne Grösse
nicht gedacht werden kann. Ferner drückt im ersten Urteil der
Prädikatbegriff eine Eigenschaft für sich aus, im zweiten aber das
Verhältnis einer mit dem Subjekt selbst gegebenen Eigenschaft
zu derselben eines ähnlichen Objekts. Der Unterschied wird ganz
klar, wenn man erwägt, dass es für uns denkbar. ist, dass das-
selbe ausgedehnte Objekt, das soeben mit der Eigenschaft der
Schwere verbunden war, später es nicht sein wird, und ebenso,
dass zwei ausgedehnte Objekte, von denen soeben eines schwerer
war, als das andere, später im umgekehrten Verhältnis zu ein-
ander stehen werden, ohne dass dabei die Identität der Objekte
in unserer Vorstellung aufgehoben zu werden braucht. Dagegen
ist es ganz undenkbar, dass das Verhältnis der Grösse von zwei
Linien, die zwei bestimmte Punkte verbinden, sich in der Zeit
ändere. Wie ist dieser Unterschied zu erklären? Sehr einfach.
Die Eigenschaften der Ausdehnung und der Schwere sind sonst
einander ganz fremde Begriffe, deren für unsere Erkenntnis zu-
fälliges Zusammensein uns die Erfahrung zeigt und daher selbst
bei einem und demselben Objekt von derselben immer wieder be-
stätigt werden muss. Die Begriffe einer Linie und der Grösse
sind nicht einander fremd, denn eine Linie kann ohne Grösse nicht
gedacht werden. Es liegt daher in der Natur der Sache, dass
zwei Linien, deren jede an und für sich eine bestimmte Grösse
haben muss, mit einander in Bezug auf das Maass dieser Grösse
verglichen werden können. Das Gleich- und Kürzersein muss zwar
als Eigenschaft für sich gedacht werden, weil es nur durch An-
schauung, oder Messung, also durch Erfahrung festgestellt werden
kann. Wenn nun gefunden wird, dass eine Linie, die doch eine
bestimmte Grösse haben muss, kürzer ist, als eine andere, die
doch ebenfalls ihre bestimmte Grösse haben muss; so ist damit
nur das richtige Mass des Verhältnisses einer und derselben an
zwei Objekten vorhandenen und mit ihrem Begriffe schon gegebenen
Eigenschaft (der Grösse) durch Erfahrung klar und bestimmt heraus-
gestellt. Was da die Erfahrung zu leisten hat, ist nur, die genaue
Bestimmung eines Verhältnisses, das an und für sich mit den Ob-
jekten gegeben und in Wirklichkeit durch sie selbst bestimmt ist,
zu unserer Erkenntnis zu bringen. Die Erfahrung ist da also nur
— 28 —
ein Erkenntnismittel, das real Bestehende zum Gegenstand unserer
genauen Einsicht zu machen. Wenn daher die Erkenntnis des an
und für sich real Vorhandenen erlangt ist, so bleibt für irgend
einen Zweifel mehr kein Platz übrig. Hingegen ist die Behauptung,
dass Ausgedehntes schwer ist, eine Synthesis, deren Erkenntnis-,
wie Realgrund für unsere Einsicht in dem thatsächlichen Zusammen-
sein beider Eigenschaften in der Erfahnmg zu suchen und zu finden
ist. Ist uns die Bestätigung dieser für unsere Erkenntnis zufälligen
Thatsache für einen Moment entzogen, so fehlt uns jeder Anhalts-
punkt für die Annahme einer realen Fortdauer des Zusammen-
seins von Eigenschaften, die sonst keine logische Beziehung zu
einander haben und die einander fremde Begriffe sind.
Es sind also zwei Arten von synthetischen Urteilen zu unter-
scheiden. Die synthetischen Urteile der einen Art behaupten ein
Sein, (ein beständiges Zusammensein, oder ein Nacheinandersein
in regelmässiger Folge), von Objekten, Eigenschaften, oder Zu-
ständen; die synthetischen Urteile der andern Art bestimmen ein
Verhältnis zwischen Objekten in Bezug auf eine Eigenschaft, die
ihnen gemeinsam und mit ihren Begriffen schon gegeben ist. Die
Urteile der zweiten Art drücken aber immerhin eine Synthesis
aus, da sie einem Objekt die Eigenschaften „gleich", „kürzer",
oder „mehr", „weniger" beilegen, was als hinzugekommenes Merk-
mal gedacht werden muss, weil es nicht durch Definition der Be-
griffe, sondern durch Anschauung, Messung, oder Zählung, also
durch Erfahrung eingesehen werden kann. Kant hat also, wie
uns jetzt klar geworden ist, den Unterschied zwischen a posterio-
rischen Seins- und Verhältnisurteilen in Bezug auf ihren Erkennt-
niswert übersehen. Da er fand, dass sie beide keine analytischen
d. h. Definitionsurteile sind, mit anderen Worten, dass im Prädikat
mehr ausgesagt wird, als im Subjekt gedacht war, glaubte er,
dass daher auch der Erkenntniswert beider Urteilsarten gleich zu
bemessen sei. Er erwog dabei nicht, dass in den Seinsurteilen
die Erfahrung, worauf sich die Synthesis stützt, für uns zugleich
Erkenntnis- und Realgrund ist, daher problematisch bleiben müssen ;
in den Verhältnisurteilen aber die Erfahrung, als Anschauung,
Messung, Zählung, bloss der Grund für unsere Erkenntnis der Be-
stimmung des Verhältnisses ist, das Verhältnis selbst hingegen auch
ohne unsere Einsicht in dasselbe an und für sich doch schon
(potentiell) bestimmt war.
— i
- 29 —
Durch diese ganze Betrachtung werden wir auf die ursprüng-
liche Hunie'sche Einteilung seiner sieben philosophischen Verhält-
nisse in zwei Klassen zurückgeführt. Denn Hunie will mit dieser
seiner Einteilung und Unterscheidung zweier Erkenntnisarten im
Wesentlichen dasselbe sagen, was wir im Vorhergehenden entwickelt
haben. Und wenn wir es in seinen Worten beim ersten Durchlesen
nicht finden zu können glaubjBn, so kommt es daher, dass er eine
andere Terminologie hatte, als die unsrige, welche die Kantische
ist. Ich habe schon im Laufe dieser Abhandlung wiederholentlich
den Irrtum zu beseitigen gesucht und, wie ich hoffe, durch die
angeführten Stellen afts Hume's Hauptwerk wirklich beseitigt ^),
als ob Hume die mathematischen Sätze durchweg für analytische
Urteile gehalten hätte. Diese irrtümliche Ansicht, die noch jetzt
vornehmlich in den Lehrbüchern für Geschichte der Pliilosophie
zu finden ist, rührt von Kant her. Kaut hat nur Hume's Enquiry,
aber nicht sein Hauptwerk gekannt. Aber selbst die Stelle im
Enquiry, die wahrscheinlich Kant zu dieser Meinung veranlasst
•
hat, beweist, wenn man sie nach meinen bisherigen Ausführungen
zu deuten sucht, durchaus nicht, dass Hume diese Ansicht Von den
mathematischen Sätzen hatte, so dass die Annahme, Hume habe
seine Ansicht betreffs der mathematischen Sätze im Enquiry ge-
ändert, nicht unabweisbar ist. Und in der That lässt Kant in
den Prolegomenen durchblicken, dass es nicht so ganz sicher ist,
dass Hume die mathematischen Sätze durchweg für analytische
Urteile gehalten habe. Die Stelle in den Prolegomenen lautet-):
„Und ob er zwar die Einteilung der Sätze nicht so förmlich und
allgemein, oder unter der Benennung gemacht hatte, als es von
mir hier geschieht, so war es doch gerade so viel, als ob er ge-
sagt hätte: reine Mathematik enthält bloss analytische Sätze,
Metaphysik aber synthetische a priori." Wir wollen nun auch die
betreffende Stelle im Enquiry hier wiedergeben^). „Alle Gegen-
stände menschlicher Vernunft, oder Forschung können ungekünstelt
in zwei Gruppen eingeteilt werden: Beziehungen (Relationen)
von Ideen, und Thatsachen. Mit der ersten Gruppe beschäftigen
sich die Wissenschaften der Geometrie, Algebra und Arithmetik;
kurz jede Behauptung, die entweder anschaulich (intuitiv), oder
1) Vergl. S. 10 u. 26.
2) Prolegomena u. s. w. (Reclam'sche Ausgabe) S. 48.
3) Untersuchung über d. mensch}. Verstand (Nathansohn^s Übers.),
4. Abschn., S. 34.
- 30 -
abgeleitet (demonstrativ) sicher ist. Dass das Quadrat der Hypo-
tenuse gleich den Quadraten der beiden Seiten, ist ein Satz, der
eine Relation zwischen diesen Figuren ausdrückt. Dass dreimal
fünf gleich der Hälfte von dreissig, drückt eine Relation zwischen
diesen Zahlen aus. Derartige Sätze sind durch die reine Wirk-
samkeit des Verstandes zu entdecken, ohne von etwas irgendwo
im Weltall Existierendem abzuhängen. Hätte es auch niemals in
der Natur einen Kreis, oder ein Dreieck gegeben, so würden doch
die von Euklid abgeleiteten Wahrheiten immerfort ihre Gewissheit
und Evidenz behalten. Thatsachen, die andere Klasse von Gegen-
ständen der menschlichen Vernunft, sind nicht in derselben Weise
gesichert, noch ist unsere Evidenz ihrer Wahrheit, wie gross auch
immer, von gleicher Beschaffenheit mit der vorhergehenden. Von
jeder Thatsache ist stets das Gegenteil möglich, weil es nie einen
Widerspruch enthalten kann, und es wird von dem Geist mit der-
selben Leichtigkeit und Deutlichkeit dargestellt (concipiert), als
wenn es mit der Wirklichkeit übereinstimmte. Dass die Sonne
■
morgen nicht aufgehen wird, ist kein weniger verständlicher Satz
und enthält nicht mehr Widerspruch als die Bejahung: sie wird
aufgehen." In diesen Sätzen ist durchaus nicht gesagt, dass alle
Urteile über Proportionen von Grössen und Zahlen analytisch
seien, d. h. durch Analyse und Definition der in Beziehung ge-
setzten Begriffe eingesehen werden können. Hume sagt vielmehr:
„kurz jede Behauptung, die entweder anschaulich (intuitiv), oder
abgeleitet (demonstrativ) sicher ist". Also nicht durch Definition,
sondern durch Anschauung ist die Behauptung sicher. Allerdings
kann auf Grund einer durch Anschauung sichern Behauptung eine
andere demonstriert werden, was doch auch Kant nicht bestreitet
und nicht bestreiten kann, wie schon aus den oben») angezogenen
Stellen der Kritik d. r. Vern. Seite 160 und der Prolegomena
Seite 44 hervorgeht^). Weiss man durch Zuzählung von 5 Einheiten
ztr der Zahl fünf, dass 2 X 5 = 10 und durch ebendasselbe Ver-
fahren, dass 10X10 = 100, so kann man nun ohne Hilfe der
Anschauung, durch blosse Demonstration, auf Grund des auch nach
Kant analytischen Satzes: Gleiches zu Gleichem u. s. w. wissen,
dass 2 X 5 X 10 = 100 und dass 100 : 10 : 2 = 5 u. s. w. Und
ebenso ist es auch in der Geometrie. Darin besteht ja die ganze
1) S. 10 dieser Abhandlung, Anm. 4 u. S. 23.
2) Vergleiche übrigens dazu Vaihinger*s Commenfcar I, S. 302. f.
- 31 -
Kunst des mathematischen Verfahrens, von durch Anschauung er-
langten Erkenntnissen andere abzuleiten. Die Frage ist nur, ob
die letzten Elemente durch Anschauung oder AnaJyse der Begriffe,
d. h. Definition eingesehen werden. Hume behauptet hier sogar
das erstere, keineswegs das letztere, also ist aus dieser Stelle nicht
bewiesen, dass Hume die mathematische Erkenntnis durchweg für
analytisch gehalten habe, wenn nicht gar aus derselben das Gegenteil
bewiesen ist.
Nun sagt da noch Hume weiter: „Hätte es auch niemals in
der Natur einen Kreis, oder ein Dreieck gegeben, so würden doch
die von Euklid abgeleiteten Wahrheiten immerfort ihre Evidenz
und Grewissheit behalten". Was kann nun Hume damit meinen?
Offenbar dasselbe, was auch Kant so scharf betont. Er weist
nämlich darauf hin, dass wir die geometrischen Figuren selber
konstruieren, um in concreto zu betrachten, was in ihnen liegt.
Denn hätte es in der Natur niemals einen Kreis, oder ein Dreieck
gegeben und wir dennoch im Besitze der Euklidischen Wahrheiten
vom Kreis und Dreieck wären, so müssten wir ja den Kreis und
das Dreieck selbst konstruiert haben. Nun ist gerade die That-
sache, dass der Geometer seine Figuren konstruiert, um auf Grund
der Konstruktion seine Sätze, nicht durch Analyse der Begriffe,
sondern durch Anschauung und Demonstration zu gewinnen, ein
Hauptmotiv für Kant, den synthetischen Charakter der Geometrie
zu behaupten und zu betonen»). Wie soll es nun auf einmal,
wenn Hume auf die konstruktive Methode der Geometrie hinweist,
beweisen, dass Hume die geometrischen Sätze durchweg für ana-
lytisch gehalten hat?
Es besteht aber doch in diesem Punkte in anderer Hinsicht
ein gewaltiger Unterschied zwischen Hume und Kant. Kant
meint, wenn der Mathematiker aus sich heraus räumliche Figuren
und Zahlen konstruiert und auf Grund dieser Konstruktion Sätze
» >
aufstellt, die für die Wirklichkeit Gültigkeit haben, so kann er es
nur deshalb, weil dasjenige, was der Mathematik zu Grunde liegt,
der Raum und die Zeit, apriorische Formen der Anschauung sind
und als solche a priori konstruiert und erkannt werden können.
Hume würde aber darauf erwidern : Erstens ist der von mir kon-
struierte Kreis ebenso ein empirisches Objekt, wenn ich ihn be-
1) Vergl. Kritik d. r. Vem. (Ausgabe Kehrbach), Methodenlehre,
S. 648 ff.
~ 32 -^
trachte, um über ihu etwas auszusagen, wie der Kreis, den ich
an der Sonne und am Monde fertig vorfinde. Und nicht deswegen,
weil ich die räumlichen Figuren selbst konstruiere, kann ich all-
gemein gültige Sätze von ihnen aussagen, sondern weil ich durch
die Anschauung und Betrachtung dieser Figuren, ganz gleich ob
ich sie fertig in der Natur vorfinde, oder selbst konstruiere, finde,
dass sie gewisse Eigenschaften haben, die von ihnen untrennbar
und also mit ilirem Begriffe schon gegeben sind. Es liegt schon
im Begriffe des Dreiecks, dass es drei Winkel, ebenso im Begriffe
des Winkels, dass er eine gewisse Grösse hat. Diese Sätze sind
allerdings analytisch, was auch Kant nicht bestreitet und nicht
bestreiten kann»). Ich kann mir überhaupt keinen Winkel und
ebenso keine Linie ohne eine bestimmte Grösse vorstellen. Es
kommt also nur darauf an, die Grösse der Summe aller Winkel
eines Dreiecks, die doch an und für sich schon potentiell bestimmt
ist, herauszustellen, d. h. das an und für sich real Bestehende zu
meiner Erkenntnis zu bringen. Zu dieser Erkenntnis des real Be-
stehenden kann ich allerdings durch Analyse, d. h. Definition des
Begriffes vom Dreieck nicht gelangen. Ich muss die Anschauung
herbeiziehen und vermittels derselben mit Hilfe von Demonstra-
tionen auf Grund ebenfalls durch Anschauung bereits feststehender
Grundsätze erlange ich die Einsicht, dass diese an und für sich
potentiell bestimmte Summe der Winkel eines Dreiecks gleich zwei
Rechten ist. Nun ist noch die Frage, ob dies bloss von diesem
Einzeldreieck gilt, oder auch von allen möglichen Dreiecken, die
mir je in der Erfährung gegeben sein können. Da ich aber weiss,
dass jedes Dreieck als solches, gleich dem, das ich vor mir habe,
drei Winkel und die Summe dieser Winkel eine bestimmte Grösse
haben muss, so kann nur die Frage sein, ob nicht durch Änderung
der Länge der Seiten und der Grösse der einzelnen Winkel dieses
• •
selben Dreicks eine Änderung der Summe der Winkel eintreten
kann. Da zeigt mir aber die Anschauung, dass die gleichmässige
Vergrösserung, oder Verkleinerung aller Seiten gar keine Verän-
derung der Winkel hervorrufen kann; bei Vergrösserung, oder
Verkleinerung von einer Seite eine andere durch Drehung zurück-,
oder vorgeschoben werden muss; durch diese Drehung aber die
beiden an derselben sich befindlichen Winkel gleichmässig in um-
gekehrter Proportion sich vergrössern, resp. verkleinern müssen:
^) Vergl. Vaihingers Commentar I, S. 293 t.
^ 33 ^
so kann ich den allgemeinen synthetischen Satz aufstellen, die
Summe der Winkel eines jeden Dreiecks gleich zwei Rechten.
Bei all diesem ist es durchaus nicht nötig, dass der Raum eine
apriorische Form der Anschauung sei. Noch mehr, diese An-
nahme würde uns dabei absolut keinen Nutzen bringen. Ob der
Raum a priori, oder a posteriori sei, die Sätze der Geometrie
können nur durch Anschauung, also Erfahrung mit Hilfe von De-
monstrationen eingesehen werden und ebenso ist es mit den Sätzen
der Arithmetik.
Die Thatsache nun, dass wir räumliche Figuren und Zahlen
aus uns heraus erzeugen, d. h. konstruieren können, beweist nun
auch nicht, dass Raum und Zeit apriorische Formen der An-
schauung sind, die aller Erfahrung vorhergehen. Wenn wir die
Vorstellung des Raumes a posteriori erworben haben, so können
wir natürlich durch Einschränkung und Begrenzung des letzteren,
der überall vorhanden, weil er eine Eigenschaft aller uns bis jetzt
gegebenen äusseren Objekte ist, räumliche Figuren konstruieren,
wie wir beliebige Zahlen vorstellen können, nachdem wir durch
Erfahrung den Zahlenbegriff ausgebildet haben. Können wir doch
ebenso beliebige Farbenschattierungen vorstellen, ja auch solche,
wie Hume in einem andern Zusammenhange bemerkt«), die wir
1) Vergl. Über die menschl. Natur, Bd. I, Tl. 1, Abschn. I, S. 27 f.
und Unters, über den menschl. Verstand, 2. Abschn., S. 19 f. — Ich möchte
hier beiläufig bemerken, dass die Schwierigkeit, die Hume an dieser SteUe
gefunden zu haben glaubt, sich doch auflösen lässt. Hutoe sagt: ,,Nun
setze man, dass jemand dreissig Jahre lang sein Gesicht gebraucht hat
und mit den Farben aUer Art auf das genaueste bekannt ist, eine einzige
Nuance dei' blauen Farbe ausgenommen, die ihm nie zu Gesicht gekommen
sein soll. Man halte ihm alle verschiedenen Nuancen dieser Farbe, die
einzige nur ausgenommen, vor und lasse ihn von der untersten bis zur
höchsten stufenweise hinaufsteigen ; so ist nicht zu zweifeln, dass er die
Lücke, wo die Nuance fehlt, wahrnehmen und merken wird, dass zwischen
den angrenzenden Farben, an dieser Stelle ein grösserer Abstand sei, als
an allen übrigen. Nun frage ich, ob er wohl im stände sein wird, diese
Lücke durch seine eigene Einbildungskraft zu ergänzen und die Idee jener
besonderen Nuance aus eigener Kraft zu erzeugen, ob gleich ihm der
Eindruck davon niemals durch seine ^ Sinne vermittelt worden ist? Ich
glaube, es werden wenige sein, die nicht der Meinung wären, dass er es
könne; und dieses mag zum Beweise dienen, dass die einfachen Ideen
nicht immer von ihnen entsprechenden Impressionen abgeleitet sind". Ich
glaube, diese Schwierigkeit lässt sich folgendermassen auflösen. Die ver-
schiedenen Schattierungen einer Farbe sind bedingt, wie jetzt psycholo-
gisch feststeht, durch die verschiedenen Grade der Intensität, d. i. der
3
^ 34 — .
nie wahrgenommen haben. Jedenfalls können wir durch Mischung
verschiedener farbiger und nichtfarbiger Lichtstrahlen, wie der
Maler in seiner Weise, aber andere Resultate erzielend, neue
Farbentöne erzeugen. Das Gleiche ist auch im Reiche der Töne
möglich. Mit Hilfe verschiedener Instrumente können durch Com-
bination von Grund- und Obertönen neue Tongebilde von verschie-
dener Klangfarbe hervorgerufen werden. Was wir da machen, ist
folgendes: Wir lassen äussere Reize, die wir selbst vorher be-
stimmen, auf unsere Sinne einwirken und rufen also selbst Erfah-
rung hervor, aber immer mit Hilfe äusserer Objekte und auf
Grund ihrer Eigenschaften, die wir manchmal erst auf diesem ex-
perimentellen und empirischen Wege entdecken. Und ebendasselbe
und nichts anderes thun wir, wenn wir räumliche Figuren kon-
struieren. Nur ist der uns bekannte Raum, als Eigenschaft aller
uns bis jetzt gegebenen äusseren Objekte, überall, so weit bis
jetzt unsere Erfahrung reicht, vorhanden. Es ist uns daher mög-
lich, überall und zu jeder Zeit räumliche Figuren zu konstruieren,
d. h. zu zeichnen. Der Stoff dazu, die Räumlichkeit, ist uns ja an
jedem uns bis jetzt bekannt gewordenen äusseren Objekte, als
seine Eigenschaft, gegeben, was bei Farben und Tönen nicht in
dieser Allgemeinheit und Gleichartigkeit der Fall ist. Aber ebenso
wie wir verschiedene Farben- und Tongebilde selbst hervorbringen
können, obwohl Farben und Töne a posteriori erworbene Begriffe
sind, so kann es auch bei dem Raum (und der Zeit) der Fall sein,
d. h. die Möglichkeit der Konstruktion von räumlichen Gebilden,
d. i. Figuren beweist nicht die Apriorität der Raumvorstellung.
Helligkeit und Sättigung, die sie aufweist. Im ersten Falle entstehen die
verschiedenen Schattierungen durch stetige Verminderung der Helligkeit,
oder, was dasselbe ist, durch Hinzuthun von Schwarz, im andern Falle,
wenn der Sättigungsgrad die Schattierung bestimmt, durch stetiges Hinzu-
thun von Weiss. Wenn man nun eine gewisse Schattierung des Blau, zum
Beispiel, noch nicht in der Erfahrung wahrgenommen hat, so bedeutet
das, dass man die blaue Farbe mit einem gewissen Mass von Schwarz,
oder Weiss gemischt, noch nicht in der Erfahrung angetroffen hat. Da
man aber in andern Fällen alle Grade der Helligkeit und der Sättigung,
des Schwarz und des Weiss, kennen gelernt hat, so ist in unserem Falle
nur nötig, einen gewissen Grad davon, den man schon kennt, mit der
blauen Farbe gemischt vorzustellen. Dieses braucht aber nicht so genau
wissenschaftlich gemacht zu werden. Wenn alle Materialien zu einer
Vorstellung der Einbildungskraft gegeben sind, so besorgt sie die Kombi-
nation fast unbewusst und so geschickt, dass die VorsteUung nachher als
eine ganz einfache (nicht zusammengesetzte) angesehen werden kann.
^ S5 -
Wir haben gesehen, nichts kann uns zu der Annahme zwingen,
dass Eaum und Zeit, im Gegensatz zu den anderen Sinnesquali-
täten, apriorische Formen der Sinnlichkeit sind, die aller Erfahrung
vorhergehen. Die Möglichkeit der aUgemein gültigen, notwendigen
Sätze der Mathematik lässt sich, selbst bei Einräumung ihres
synthetischen Charakters, sehr wohl auch ohne diese Annahme
erklären. Noch mehr, diese Annahme allein würde uns ganz und
gar nichts nützen, wenn wir nicht den sehr wichtigen Unterschied
in Bezug auf die Art und die Natur der Synthesis bei den eigent-
lich mathematischen, d. i. Verhältnis- und bei den eigentlich natur-
wissenschaftlichen, d. i. Seins-, oder Geschehensurteilen konstatieren
könnten. Ob Eaum und Zeit apriorische, oder aposteriorische
Vorstellungen sind, ist bei Feststellung mathematischer Propor-
tionen ganz gleichgültig. Die Hauptsache ist dabei, dass die
Synthesis, die da mit Hilfe der Anschauung, Zählung, Messung,
also der Erfahrung, vollzogen wird, nur dazu dient, die genaue
Bestimmung eines Verhältnisses zu unserer Erkenntnis zu bringen,
dessen reales Bestehen, ja dessen (potentielles) Bestimmtsein durch
die Objekte selbst gegeben ist. Wenn nun das, was die Erfahrung
zu leisten hat, bloss darin besteht, das an und für sich Bestehende
und mit den Objekten selbst Gegebene zu unserer Erkenntnis zu
bringen; so muss die erlangte Erkenntnis unbeschadet ihres em-
pirischen Hilfsmittels allgemein und notwendig sein. Dass 6 und 7
eine bestimnite Summe, die uns aber vorläufig noch unbekannt ist,
also eine Summe = x zusammen ausmachen, wissen wir ohne
jede Erfahrung. Nur um dieses x ausfindig zu machen und zu
bestimmen, müssen wir die Erfahrung heranziehen. Haben wir
einmal durch Erfahrung, duich Zusammenzählung der beiden Zahlen
die Erkenntnis erlangt, dass die gesuchte Summe, die sie zusammen
ausmachen, dass das x gleich 12 ist, so muss es auf Grund des
analytischen Satzes, Gleiches zu Gleichem u. s. w., von allen Ob-
jekten gelten, von denen uns 6 -f- 7 jemals gegeben sein werden.
Dass die Winkel eines Dreiecks zusammen eine an und für sich
bestimmte Grösse = x ausmachen, wissen wir ebenfalls ohne jede
Erfahrung. Diese an und für sich bestimmte Grösse machen wir
für unsere Erkenntnis ausfindig mit Hilfe von Anschauung und
Demonstrationen auf Grund ebenfalls durch Anschauung, also Er-
fahrung bereits erlangter Erkenntnis. Bei dieser Operation wird
uns klar, dass die bestimmte Grösse, die die Winkel eines jeden
Dreiecks ausmachen, weder von der Länge der Seiten, noch von
3*
-se-
der Grösse eines jeden einzelnen Winkels für sich abhängt, sondern
von dem Verhältnis aller Winkel zu einander in einer solchen
Figur. Daher gilt in Bezug darauf von allen Dreiecken, was wir
von dem einzelnen ausfindig machen. Und wenn Hume in seinem
Hauptwerk den Satz, die gerade Linie ist die kürzeste Verbindung
zwischen zwei Punkten, für schwankend und unsicher hält; so ist
der Grund davon in seiner Behauptung zu suchen, dass wir weder
in der Vorstellung, noch irgendwo in der Erfahrung eine wirkliche
Gerade und daher keinen einheitlichen Massstab für eine solche
haben. Ist diese Behauptung richtig, so hilft uns die Annahme
der Apriorität des Raumes ebenfalls nicht. Hätten wir einen sichern
Massstab für eine gerade Linie, so könnten wir ihr Verhältnis der
Grösse zu einer zwischen denselben Punkten gezogenen Krummen mit
vollkommener Sicherheit auf Grund von Messungen bestimmen und
diese Bestimmung würde von dem Verhältnis aller Geraden zu ihren
Krummen gelten, da die Gerade immer und überall dieselbe wäre.
Denn der Unterschied der Länge könnte dann auf das Verhältnis
der Grösse zur Krummen gar keinen Einfluss haben, da wir doch
wüssten (was ich schon oben S. 24 dargelegt habe), dass die
längere eine Zusammensetzung von gleichartigen Teilen sei, und
was von den Teilen in Bezug auf eine Eigenschaft gilt, die ihnen
und dem Ganzen in gleicher Weise geraeinsam ist, auch vom
letztern gelten muss. Die Annahme der Apriorität des Raumes
wäre also dann ebenso unnötig, wie sie jetzt, da doch Hume mit
seiner Behauptung, dass wir keinen genauen Massstab für die Ge-
rade haben, Recht hat, ohne Nutzen ist. Aber wenn auch die
Geometrie keinen so sichern Massstab für die gerade Linie hat,
wie ihn die Arithmetik für ihre Operationen in der Einheit besitzt,
so besitzt sie doch immerhin einen annähernd sichern Massstab
für dieselbe. Und deswegen konnte Hume von den Grundsätzen
der Geometrie sagen ^) : „Aber weil diese Fundamen talsätze von
den leichtesten und der Täuschung am wenigsten unterworfenen
Erfahrungen abhängen, so gewähren sie ihren Folgerungen einen
Grad von Genauigkeit, dessen diese Folgerungen allein genommen
keineswegs fähig sind". Und weiter: „Und dieses ist eigentlich
die Natur und der Vorteil der Geometrie, dass sie uns immer
solche Erfahrungen vorhält, die uns, vermöge ihrer Simplizität, in
keinen beträchtlichen Irrtum führen können".
1) Über die menschl. Natur, Bd. I, Tl. 3, Abschn. 1, S. 150.
— 37 —
3.
Die Apriorität des Raumes und der Zeit.
Lässt sich nun, nach unseren vorhergehenden Ausführungen,
zeigen, dass die Apodiktizität von Sätzen über Proportionen bei
räumlichen Grössen und bei Zahlen, ihren synthetischen Charakter
selbst zugegeben, gar nicht davon abhängt, ob Raum und Zeit
apriorische, oder aposteriorische Vorstellungen sind; so enthält
doch die Geometrie einige Axiome, deren Bedeutung als solche,
d. h. deren unbedingte Geltung für uns Menschen, wenigstens was
den Raum betrifft, doch davon abhängt. Ich meine die Axiome,
die die Beschaffenheit des Raumes selbst betreffen: Der Raum hat
nur drei Dimensionen, zwei gerade Linien schliessen keinen Raum
ein. Es sind nämlich in Bezug auf die Apodiktizität der Geometrie
zwei Fragen scharf von einander zu trennen. Wird giefragt, ob
auf Grund des uns gegebenen Raumes mit allen seinen Beschaffen-
heiten eine apodiktische geometrische Wissenschaft mit allen ihren
synthetischen Sätzen durch Erfahrung möglich ist; so muss diese
Frage, nach allem, was wir bis jetzt darüber vorgebracht haben,
mit Ja beantwortet werden. Ob der Raum selbst a priori, oder
a posteriori ist, kann dabei gar nicht in Betracht kommen. Wird
aber gefragt, ob der uns gegebene Raum mit allen seinen Beschaffen-
heiten der einzig mögliche ist, der uns Menschen je in der Er-
fahrung gegeben sein kann und daran eine andere Frage geknüpft,
ob unsere Geometrie mit allen ihren Sätzen für alle möglichen
Dinge, die uns je in der Erfahrung gegeben sein können, unbe-
dingte Gültigkeit hat; so wird die Beantwortung dieser Frage
allerdings davon abhängen, ob der Raum, den wir haben, a priori,
oder a posteriori ist. Hume, der nur die erste Frage aufgeworfen
hat, konnte dieselbe in unserem Sinne mit Ja beantworten, wenn
auch mit der einzigen, für die Zwecke der Erfahrung ganz un-
bedeutenden Einschränkung: so weit der Raum für unsere Sinne
bestimmbar, d. h. messbar ist. Abgesehen aber von dieser, wie
gesagt für die Zwecke der Erfahrung ganz unbedeutenden Ein-
schränkung, gilt alles, was wir einmal von räumlichen Verhältnissen
ausmachen, für alle Dinge, die dieselben räumlichen Beschaffen-
heiten aufweisen, d. h. für alle Dinge, die uns bekannt sind. Für
ihn ist ja der Raum nichts anderes, als die Vorstellung der Ge-
samtheit aller gegebenen räumlichen Dinge. Und ebenso wie es
ihm zwecklos erscheinen würde zu untersuchen, ob es möglich
— 38 —
und denkbar ist, dass uns jemals Dinge mit ganz anderen Quali-
täten, als die wir kennen, in der Erfahrung gegeben sein können,
so müsste ihm jede Untersuchung darüber als vergebliche Mühe
und Zeitverschwendung vorkommen, ob der Raum, oder die Dinge
mit den räumlichen Verhältnissen, die wir kennen, die einzig mög-
lichen und denkbaren sind, die Gegenstand unserer Erfahrung
werden können. Möglich und denkbar ist nach Hume alles, was
keinen inneren Widerspruch in sich enthält. Bei Kant finden
wir die beiden oben aufgestellten Fragen durcheinander gewürfelt.
Jedenfalls glaubte Kant, wie aus zahlreichen Stellen hervorgeht,
dass die Beantwortung der ersten Frage ebenso wie die der
zweiten von der Entscheidung darüber abhängt, ob der Raum
apriorischen, oder aposteriorischen Ursprungs sei. Darin hat er
eben geirrt. Aber auch die andere Frage, ob es denkbar und
möglich ist, dass uns Dinge mit ganz anderen räumlichen Be-
schaffenheiten, als die wir kennen, jemals in der Erfahrung gegeben
werden könnten, für die alsdann unsere Geometrie keine Gültig-
keit haben würde, war auf die Entscheidung Kants über den
Ursprung des Raumes von grossem Einfluss. Der Gedanke einer
solchen Möglichkeit war ihm unerträglich und für seine Auffassung
eine Beeinträchtigung und Beschränkung der Apodiktizität der
Mathematik. Unter apodiktisch gewiss verstand er überhaupt die
uneingeschränkte und unbedingte Gültigkeit für alle mögliche Er-
fahrung. Und eine solche apodiktische Gewissheit forderte er für
die Mathematik. Bei einer solchen Forderung blieb ihm natürlich
nichts anderes übrig, als den Raum, den wir haben, (und die Zeit)
selbst zu einer Bedingung aller für uns Menschen möglichen An-
schauung und somit aller möglichen Erfahrung überhaupt zu
stempeln. Der Raum (und die Zeit) durfte demnach nicht wie die
anderen Sinnesqualitäten, Farben, Töne u. s. w., als zur Materie
der Empfindung gehörig angesehen, sondern musste im Gegensatz
zu diesen als Form der Anschauung erklärt werden. Und als
Form durfte er nicht, wie Farben und Töne, zu äusseren, wenn
auch ganz ungleichartigen Vorgängen, oder Beschaffenheiten in
irgend einem Connexus stehen. Er musste in einem ganz andern
Sinne als Farben und Töne und andere Sinnesqualitäten subjektiv
sein. Er musste also zu einer ausschliessenden , nur und bloss
subjektiven Form der Anschauung gemacht werden, in die sich die
Materie der Empfindung wohl oder übel einfügen muss. Es soll
aber damit keineswegs gesagt sein, dass Kant Raum und Zeit als
— 39 —
fertige Formen im Subjekt, als unendliche, leere Gefässe, wie.
Herbart spottend sagt, hingestellt hat. Es ist das Verdienst haupt-
sächlich Cohen's^), diese irrige Ansicht über Kants Theorie von
Raum und Zeit aus dem Grunde widerlegt zu haben. Kant hat
zweifellos die Raum- und Zeitformen als Handlungen des Gemüts
gefasstj. die durch äussere, respektive innere Einwirkungen
empfangeneu Empfindungen, aber von diesen selbst unabhängig in
bestimmter Weise zu ordnen. Cohen selbst giebt aber zu, dass
die von Kant behauptete Subjektivität von Raum und Zeit in
einem ganz andern Sinne gemeint ist, als die schon vor Kant, von
Locke und vielen anderen, behauptete Subjektivität der Empfin-
dungsqualitäten^). „Die Farben sind subjektiv, sagt Cohen, aber
sie beruhen nichtsdestoweniger auf dem objektiven Schwingungs-
verhältnisse der Moleküle. Der Raum soll a priori sein, d. h. im
Subjekte seinen Sitz haben." Und ich füge noch hinzu nur und
bloss subjektiv, ohne jede Beziehung zu äusseren, wenn auch ganz
ungleichartigen Vorgängen oder Beschaffenheiten'*). Ja, das hat
Kant behauptet und rausste das behaupten, wenn anders die Apo-
diktizität der Mathematik, in dem Sinne, wie er sie fordert sicher
gestellt sein soll. Denn nur wenn der Raum eine apriorische
Form ist, die einzig und allein im Subjekte und in seiner Art,
gegebene Empfindung zu fassen und zu ordnen begründet ist, ohne
dass dabei irgend welche Bestimmung der Objekte der Empfindung
in Betracht kommt und kommen kann — also nur wenn die Ob-
jekte der Empfindung in gar keinem Connexus zu ihrem Räumlich-
gefasst-werden stehen: kann der uns bekannte Raum selbst als
uneingeschränkte Bedingung aller möglichen äusseren Erfahrung,
(und ebenso die Zeit aller möglichen innern Erfahrung), angesehen
worden; nur dann kann die Apodiktizität der Mathematik, wie
Kant sie fordert, sicher gestellt sein. Wenn nun Kant in einigen
Stellen, wo er sich gegen die Identifizierung seiner Theorie mit
dem materialen Idealismus Berkeley's wehrt, diese seine Theorie
vom Raum mit der Locke's von den sekundären Qualitäten ver-
gleicht*), so war Kant in dem Augenblick, als er es niederschrieb,
über seine eigene Theorie nicht ganz im Klaren, natürlich ohne
1) Kants Theorie d. Erfahr. S. 39 f. u. öfter.
2) Vergl. ebenda S, 48.
3) Vergleiche auch Vaihinger's Comm. II, Exkurs über die möglichen
Fälle, S. 134 ff. besonders S. 141 f.
*) Vergl. Prolegomena (Bedamsche Aus^.), S» 67 t
— 40 —
dass seine Abwehr des materialen Idealismus deshalb an und für
sich unberechtigt wäre. Die Subjektivität des Raumes (und der
Zeit) nach Kant hat eine durchaus andere Bedeutung, als die der
sekundären Qualitäten nach Locke. Und wenn Kant in derselben
Stelle sagt: er müsste, wenn er seine Theorie vom Räume auf-
gäbe, sagen, „dass die Vorstellung vom Räume nicht bloss dem
Verhältnisse, was die Sinnlichkeit zu den Objekten hat, sondern
dass sie sogar dem Objekt völlig ähnlich sei, womit er aber so
wenig Sinn verbinden kann, als mit der Behauptung, dass die Em-
pfindung des Roten mit der Eigenschaft des Zinnobers eine Ähn-
lichkeit habe": so ist es nicht ganz richtig, denn Kant hat in der
That vom Räume etwas anderes behauptet, als das, was von der
Empfindung des Roten durch die Einwirkung des Zinnobers all-
gemein zugegeben wird. Die Empfindung der roten Farbe hat
allerdings keine Ähnlichkeit mit einer Eigenschaft des Zinnobers,
aber nichtsdestoweniger ist sie von einer Eigenschaft desselben
bedingt, von der Eigenschaft nämlich, solche Atherschwingungen
auf unsere Netzhaut einwirken zu lassen, die in uns die Empfin-
dung der roten Farbe hervorrufen. Die Vorstellung des Raumes
aber darf im konsequenten Sinne Kants, entgegen Leibniz und
Hume, weder von, wenn auch ganz ungleichartigen Eigenschaften,
noch Verhältnissen äusserer Objekte abhängig, oder bedingt sein,
wenn anders der Raum, nach Kants Forderung, als uneinge-
schränkte Bedingung aller möglichen äusseren Anschauung und
eben darum die Geometrie für alle möglichen Dinge äusserer Er-
fahrung gelten soll»).
Nachdem wir festgestellt, was die eigentliche, konsequente
Ansicht Kants von der Idealität und Subjektivität des Raumes
und der Zeit in sich schliesst, wollen wir nun untersuchen, ob er
mit dieser seiner Hypothese wirklich das erreicht hat und er-
1) Ich möchte hier wenigstens eine der vielen Stellen citieren, wo
Kant seine Ansicht über die Apriorität und Subjektivität des Raumes und
der Zeit ganz konsequent vorträgt: „Raum und Zeit sind die reine
Form derselben (der Receptivität der Sinnlichkeit), Empfindung über-
haupt die Materie. Jene können wir allein a priori, d. i. vor aller wirk-
lichen Wahrnehmung, erkennen, und sie heisst darum reine Anschauung;
diese ist aber das in unserm Erkenntnis, was da macht, dass sie Erkennt-
nis a posteriori, d. i. empirische Anschauung heisst. Jene hängen unserer
Sinnlichkeit schlechthin notwendig an, welcher Art auch unsere Empfind-
ungen sein mögen; diese können sehr verschieden sein". Kritik d. r. V.,
S. 66 unten femer.
M-
— 41 —
reichen konnte, was er eigentlich woUte und woran ihm haupt-
sächlich gelegen war. Es ist ein missliches Unternehmen, fest-
stellen zu wollen, was überhaupt jemals Gegenstand unserer Er-
fahrung werden, oder nicht werden kann. Wir können höchstens
die Erfahrung, die wir schon haben, zu analysieren und die Be-
dingungen der Möglichkeit eben dieser Erfahrung aufzufinden
suchen, wir können aber nicht die Bedingungen aller möglichen
Erfahrung überhaupt ein für allemal feststellen. Denn die Be-.
griffe, Bedingungen der Möglichkeit der Erfahrung und Beding-
ungen aller möglichen Erfahrung, sind durchaus zweierlei, die aber
leider Kant und auch Cohen und viele andere Kantianer sehr oft
mit einander verwechseln. Die Bedingungen aller möglichen Er-
fahrung feststellen zu können, ist nur dann Aussicht vorhanden,
wenn diese Feststellung selbst a priori geschehen könnte. Das
versucht Kant in der That und glaubt es durchführen zu können,
indem er von dem Begriffe der Möglichkeit der Erfahrung aus-
geht und die Bedingungen für dieselbe aufzuweisen und festzu-
stellen sucht. Er bemerkt aber dabei nicht, dass er, indem er
dies thut, doch schon etwas und zwar sehr vieles voraussetzt,
nämlich die ganze Erfahrung, die wir haben. Er dreht sich da-
her, wie es bei einem solchen Unternehmen gar nicht anders sein
kann, im Kreise herum. Von der Möglichkeit der Erfahrung, die
wir haben, kann nimmermehr auf alle mögliche Erfahrung über-
haupt geschlossen werden. Die Bedingungen der Erfahrung, die
wir schon haben, können am Ende, wie es sehr wahi'scheinlich ist,
in gleicher Weise von den Dingen an sich, wenn man solche an-
nimmt, oder von der Beschaffenheit der gegebenen Impressionen,
wie von unserer Erkenntnisthätigkeit abhängen und bedingt sein.
Diese Bedingungen, oder vielmehr wichtigsten Bestandteile der
Erfahrung müssen uns, solange uns keine anderen Dinge und so-
mit auch keine andere Erfahrung, als die wir haben, gegeben
sind, als notwendige Vorstellungen, oder Begriffe erscheinen.
Eine solche Notwendigkeit kann aber nicht anders, als psycholo-
gisch erklärt werden. Es bleibt daher immer denkbar und mög-
lich, dass uns einmal ganz anders geartete Dinge gegeben sein
und wir alsdann auf Grund und unter dem Einfluss derselben eine
ganz andere Erfahrung mit ganz anderen Bedingungen, oder rich-
tiger Hauptbestandteilen ausbilden könnten. Die Feststellung von
apodiktisch gewissen P>kenntnissen und Bedingungen für alle mög-
liche Erfahrung, wie Kant sie fordert und durchzuführen sucht.
— 42 —
ist daher eine vergebliche Bemühung und ein Ding der Unmög-
lichkeit. Begnügt man sich aber mit der Feststellung von apo-
diktischen Erkenntnissen innerhalb der uns bis jetzt gegebenen
Erfahrungswelt, so braucht man wiederum keine Theorien von
apriorischen Formen der Anschauung. Jedenfalls braucht man sie
nicht, wie ich im vorangehenden Abschnitt gezeigt habe, für die
Mathematik. Denn die Apodiktizität der Mathematik innerhalb
einer Erfahrungswelt, wie wir sie bis jetzt kennen gelernt, inner-
halb eines Eaumes von drei Dimensionen, ist, wie ich gezeigt
habe, auch ohne etwas Apriorisches im Kantischen Sinne anzu-
nehmen, sehr wohl zu erklären. 'Noch mehr, eine jede derartige
Annahme kann für ihre Erklärung voji gar keiner Bedeutung sein,
weil sie den Gegenstand, der erklärt werden soll, im Grunde gar
nicht berührt. Der transscendentale Beweis für die Apriorität
und Idealität des Raumes und der Zeit im Kantischen Sinne, d.h.
für ihre ausschliessende Subjektivität, als nur und bloss im Sub-
jekte begründete Formen, ist daher jedenfalls verloren. Die im
Grunde von niemand geleugnete Thatsache der Apodiktizität der
Mathematik soll beweisen, dass die Vorstellungen von Raum und
Zeit, die der letzteren zu Grunde liegen, apriorische Formen der
Anschauung sind, die in keiner Weise von irgend welchen Ob-
jekten, oder deren realen Eigenschaften, oder Verhältnissen ab-
hängig sind und nur und bloss im Subjekte ihren Sitz und Ur-
sprung haben. Wie wird nun die Apodiktizität der Mathematik
selbst gef asst ? Bedeutet sie die notwendige Gültigkeit der mathe-
matischen Sätze für alle Gegenstände, die wir bis jetzt in unserer
Erfahrungswelt kennen gelernt haben, also für alle Gegenstände,
die gemäss ihrer Beschaffenheit für uns räumliche und zeitliche
Eigenschaften haben: so ist eine solche Apodiktizität der Mathe-
matik auch ohne die Annahme einer Apriorität im Sinne der aus-
schliessenden Subjektivität von Raum und Zeit sehr wohl zu er-
klären und sicherzustellen. Ja, eine solche Annahme hat gar
nichts, wie ich es bereits dargethan, mit der Erklärung und Sicher-
stellung der Apodiktizität der Mathematik in diesem Sinne zu
schaffen. Bedeutet aber die Apodiktizität der Mathematik die
notwendige Gültigkeit der mathematischen Sätze für alle möglichen
Dinge, die uns jemals in der Erfahrung gegeben sein könnten, so
muss die Behauptung einer solchen Apodiktizität der Mathematik
noch erst selbst bewiesen werden. Dieses ist aber nur auf dem
einzigen Wege möglich, indem bewiesen wird, dass die Vorstel-
— 43 —
lungen von Raum und Zeit in gar keiner Weise von realen Eigen-
schaften und Verhältnissen der Dinge abhängen und nur und
bloss, einzig und allein im Subjekte ihren Ursprung haben, als
Formen seiner Fassungsart, in die sich die Eindrücke aller mög-
lichen Dinge wohl oder übel einfügen müssen, wenn sie überhaupt
Gegenstände unserer Anschauung werden sollen. Wie soll nun
das, was allein die Apodiktizität der Mathematik in dem jetzt
gewollten Sinne erst beweisen und sicherstellen kann, selbst aus
dieser Apodiktizität der Mathematik bewiesen werden?! Einen
handgreiflicheren Zirkelschluss giebt es kaum! Und dieser
Zirkelschluss wurzelt in dem Grundirrtum des ganzen Unter-
nehmens, in dem Versuch, von dem Begriff der Möglichkeit der
Erfahrung die Bedingungen für alle mögliche Erfahrung ab-
zuleiten und festzustellen. Mit dem transscendentalen Beweise
ist es also nichts.
Aber Kant hat ja in der metaphysischen Erörterung des Be-
griffes vom Räume (und im entsprechenden Abschnitt von der
Zeit) versucht, die Apriorität und Subjektivität des Raumes (und
ebenso der Zeit) auch auf anderem Wege zu beweisen. Vielleicht
gelang es ihm da besser. Und wenn das der Fall sein sollte, so
wäre damit auch zugleich die Apodiktizität der Mathematik, wie
er sie fordert, sicher gestellt. Wir wollen daher auch diese Be-
weise untersuchen, um zu zeigen, dass der Grundirrtum, die Ver-
wechslung der Begriffe der Möglichkeit der Erfahrung und aller
möglichen Erfahrung, auch da alle seine Bemühungen scheitern
lässt. Wir verzichten aber füglich darauf, nach Art der Kant-
philologen, jedes Wort einzeln zu interpretieren und zu unter-
suchen. Es genügt für unsem Zweck bloss zu untersuchen, ob
nicht in diesen Argumenten vielleicht etwas enthalten ist, was zur
Annahme einer Apriorität von Raum und Zeit im Sinne einer aus-
schliessenden Subjektivität zwingen kann. Die Voraussetzung, auf
die sich das erste Argument stützt, besagt zweierlei. Ich bemerke
aber gleich, dass der eigentliche Beweisgrund der zweite Punkt
der Voraussetzung ist. Erstens, dass wir die Dinge ausser und
neben einander, zweitens, dass wir sie allesamt in einem Räume,
in dem wir uns auch selbst befinden, wahrnehmen. Was den
ersten Punkt betrifft, so besagt er, dass wir die Dinge räumlich
wahrnehmen und um das zu können, muss die Fähigkeit dazu be-
reits vor der Wahrnehmung in uns vorhanden sein. Das wird
niemand bestreiten, Aber ganz dasselbe gilt auch von Farben
— 44 —
und Tönen und andern Sinnesqualitäten. Um die Dinge farbig
und tönend wahrnehmen zu können, muss die Fähigkeit dazu be-
reits vor der Wahrnehmung in uns vorhanden sein. Aber nichts-
destoweniger ist die Wahrnehmung des Farbigen und Tönenden
(samt der Befähigung dazu) von gewissen Beschaffenheiten der
Dinge selbst abhängig und ebenso kann es auch mit der Wahr-
nehmung des Räumlichen be wandt sein. Dieses soll aber, wie ge-
sagt, als eine Bemerkung nebenbei gelten, die den Zweck hat,
das Folgende leichter verständlich zu machen. Der zweite Punkt,
der eigentliche Beweisgrund, besagt, dass wir die räumlichen
Dinge alle insgesamt in einem Räume wahrnehmen, und also ausser
denselben die Vorstellung eines allgemeinen Raumes haben, in
dem wir sie und uns selbst wahrnehmen. Es ist nun die Frage, was
ist das Primäre und was das Sekundäre, was die Bedingung und
was das Bedingte. Hume lehrte: Die räumlich, farbig u. s. w.
gearteten Dinge sind uns zuerst als Impressionen gegeben. Wenn
wir von allen sonstigen Eigenschaften der Dinge abstrahieren und
nur ihre Eigenschaft des Räuinlichen vorstellen, so erlangen wir
die Vorstellung vom Räume. Eine ähnliche Ansicht vertritt auch
Leibniz. (Der Unterschied zwischen Leibniz' Lehre vom Räume
und der Hume'schen braucht hier nicht erörtert zu werden, weil
er in diesem Zusammenhang gleichgültig ist.) Da sagt Kant, die
räumlichen Dinge können wir nur im Räume wahrnehmen, also
muss die Vorstellung des Raumes der Wahrnehmung der räum-
lichen Dinge vorhergehen und sie allererst möglich machen. Da-
rauf ist zu erwidern: allerdings, nachdem wir die Vorstellung des
Raumes durch Erfahrung ausgebildet haben, müssen wir die räum-
lichen Dinge im Räume wahrnehmen. Wie mag es aber mit den
ersten Wahrnehmungen des Kindes bestellt sein? Nimmt es auch
gleich die räumlichen Dinge im Räume wahr? Wer kann darüber
entscheiden ? Jedenfalls ist es nicht wahrscheinlich. Das Kind
wird wahrscheinlich zuerst bloss räumliche Dinge wahrnehmen
und erst nach und nach die Raumvorstellung ausbilden, indem es
allmählich und stetig beobachtet, dass diese räumlichen Dinge von
anderen räumlichen und diese wieder von anderen u. s. w. um-
geben sind. Die Vorstellung des Raumes ist eigentlich nichts an-
deres, als die Vorstellung der Gesamtheit der uns bis jetzt durch
Impressionen gegebenen räumlichen Dinge. Sie ist daher poten-
tiell unendlich, weil wir, wenn wir überhaupt vorstellen, immer
ein Etwas, also nichts Leeres und Inhaltsloses vorstellen können.
--1
- 45 -
Wir müssen daher, sobald unsere Einbildungskraft thätig ist, die
Dinge als von anderen umgeben vorstellen, die, solange uns Iceine
anders gearteten, äusseren Impressionen gegeben sind, ebenfalls
räumlich vorgestellt werden müssen. Nur auf diese und keine an-
dere Weise wird unsere Raumvorstellung gebildet. Geht man aber
vom Begriffe der Möglichkeit der Erfahrung aus — der Erfahrung,
die im letzten Grunde unter dem Einfluss der uns bis jetzt ge-
gebenen Impressionen ausgebildet worden ist; so wird natürlich
die Raumvorstellung als notwendige Bedingung, oder richtiger als
wesentlicher Bestandteil eben dieser Erfahrung angesehen werden
müssen. Daraus ist aber nimmermehr die Vorstellung des Raumes
mit allen seinen Beschaffenheiten als notwendige Bedingung für
alle mögliche äussere Erfahrung überhaupt zu beweisen. Damit
ist nun auch das zweite Argument hinfällig geworden. Dieses
Argument ist ohnehin durch Herbart gründlich widerlegt, und
auch die Anstrengungen Liebmanns und Cohens vermögen nicht,
ihm wieder aufzuhelfen'). Das zweite Argument ruht auf der
Behauptung: Wir können alle Gegenstände aus dem Räume weg-
denken, den Raum selbst aber nicht. Daraus soll folgen, der
Raum muss als eine notwendige Vorstellung a priori, die allen
äusseren Anschauungen zum Grunde liegt, als die Bedingung der
Möglichkeit der Erscheinungen und nicht als eine von ihnen ab-
hängende Bestimmung angesehen werden. Wir können alle Gegen-
stände aus dem Räume wegdenken, den Raum aber können wir
nicht wegdenken, sondern müssen ihn stets vorstellen. Was sind
Gegenstände? Vorstellungen von gewisser Gestalt, Farbe u. s. w.
Wir können also einen leeren, farblosen Raum vorstellen. Hume
aber behauptet gerade das Gegenteil. Wir können zwar unaus-
gedehnte farbige Punkte vorstellen. Räumliches ohne Farbiges,
oder Tastbares nicht*). In der That haben beide zur Hälfte
Recht und zur Hälfte Unrecht. In der Wirklichkeit können wir
weder Ausgedehntes ohne Farbe, oder Tastbares, noch Farbiges,
oder Tastbares ohne Ausdehnung vorstellen s). Kant aber be-
hauptet hier, es sei möglich, blossen Raum vorzustellen. Im Ab-
1) Vergl. Vaihingers Comm., II. S. 198 ff.
^ Über die menschl. Natur, Bd. I, Tl. 2, Abschn. 3, S. 89 f. und
Abschn. 4, S. 92 und Tl. 4, Abschn. 4, S. 447 f.
3) Vergl. Stumpf, Über den psychol. Ursprung der Raum Vorstellung,
S. 13 Anm. Stumpf hebt merkwürdigerweise nicht hervor, dass Hume so-
gar das Gegenteil von Kants Ansicht behauptet.
V/
— 46 -
schnitt, die Antizipationen der Wahrnehmung und an andereil
Stellen sagt aber Kant selbst: „Denn der gänzliche Mangel des
Realen in der sinnlichen Anschauung kann erstlich selbst nicht
wahrgenommen werden" i). Also wahrgenommen kann er nicht
werden, vorgestellt aber ja. Dieser Widerspruch, der sich in der
That heben lässt, geht uns hier nichts an. Jedenfalls geht hier
aus Kants Wollen hervor, dass es möglich sei, blossen Raum vor-
zustellen. Aber einfach Nichts kann doch nicht vorgestellt werden,
denn Nichts vorstellen bedeutet so viel als nicht vorstellen, es ist
aber unmöglich, weil sich widersprechend, zu gleicher Zeit vorzu-
stellen und nicht vorzustellen. Also muss Kant hier der Meinung
gewesen sein, dass der blosse Raum schon Inhalt einer Vorstel-
lung sein kann. Wenn aber dem so ist, warum lässt sich nicht
die behauptete Notwendigkeit der Raum Vorstellung in der Weise
erklären, dass der Raum in der That die letzte und höchste Ab-
straktion ist. Wenn wir in ein Tonstück vertieft sind, oder un-
sere Phantasie mit der Beobachtung unseres inneren Seelenlebens
beschäftigt ist, da müssen wir doch sicherlich keinen Raum dabei
vorstellen. Wenn nun die Notwendigkeit der Raumvorstellung
behauptet wird, so kann es doch nur so gemeint sein, dass wir,
sobald wir äussere Dinge vorstellen, von allem, wie Farben,
Tönen u. s. w. abstrahieren können bis auf den Raum. Nun ist
es doch selbstverständlich, dass etwas in unserer Vorstellung als
Inhalt übrig bleiben muss, wenn sie nicht gänzlich aufgehoben
werden soll. Umgekehrt aber, vom Raum abstrahieren und nur
Farbiges vorstellen, muss schon deswegen unmöglich sein, weil
man nicht einen Artbegriff ohne seinen Gattungsbegriff vorstellen
kann. Wenn man z. B. die blaue Farbe vorstellt, so muss man
jedenfalls den Begriff des Farbigen überhaupt mit vorstellen. Der
Raum ist, wenn wir auch schon die Kantische Voraussetzung der
Möglichkeit Raum allein vorzustellen und der Notwendigkeit der
Raumvorstellung gelten lassen, die letzte und höchste Abstraktion
der äusseren Dinge, wie sie uns bis jetzt gegeben sind; daher
können wir in unserer Vorstellung von allem andern abstrahieren,
vom Räume als dem letzten und höchsten abstrakten Begriff aller
Dinge aber nicht.
Aber der Raum ist kein Begriff, sondern eine Anschauung,
behauptet das dritte Argument. Alle Teile des Raumes sind in
1) Kritik d. r. V., S. 167.
^ 47 -
dem einen Räume enthalten und fallen nicht unter den Begriff
des Eaumes. Aber der Raum ist ja das Merkmal des Ausser- und
Nebeneinander-Seins aller uns bis jetzt gegebenen äusseren Dinge.
Wie sollen denn die einzelnen, gleichartigen Teile des Raumes
anders, als ausser und neben einander befindlich und daher auch
nur in einem Räume gedacht und vorgestellt werden? Die ver-
schiedenen räumlichen Figuren, wie Kreis, Dreieck u. s. w. fallen
in der That unter den Begriff des Räumlichen. Der Raum selbst
aber muss als einig vorgestellt werden, in dem sich alle seine Teile
neben einander befinden, weil er eben das Merkmal des Neben-
einander der Dinge, oder die Vorstellung der Gesamtheit der
Dinge mit Abstraktion aller ihrer anderen Qualitäten ist.
Wir haben nun gesehen, weder die transscendentale, noch
die metaphysische Erörterung konnte die Apriorität des Raumes
(und der Zeit) im Sinne der ausschliessenden Subjektivität be-
weisen. Wenn aber dem so ist, so ist auch die Apodiktizität der
Mathematik, wie Kaut sie fordert, ihre uneingeschränkte und un-
bedingte Gültigkeit für alle möglichen Dinge, für Dinge aller mög-
lichen Erfahrung überhaupt, unmöglich sicherzustellen. Die Apo-
diktizität der Mathematik im engeren Sinne aber, ihre unbedingte
Gültigkeit für alle Dinge unserer Erfahrung, für alle Dinge von
gleichartigen räumlich-zeitlichen Beschaffenheiten, wie sie uns bis
jetzt in der Erfahrung gegeben sind — eine solche Apodiktizität
der Mathematik ist auch ohne die Annahme der Apriorität des
Raumes und der Zeit fest begründet und sicher gestellt und würde
durch diese Annahme gar nicht fester und sicherer werden. Die
ganze " transscendentale Ästhetik muss also in diesem Betracht
einerseits als vergebliche, andererseits als unüötige Bemühung an-
gesehen werden, sodass wir, was die Erklärung der Apodiktizität
der Mathematik betrifft, ausrufen müssen: zurück auf die Bahn,
die uns Hume gezeigt hat! Ebenso liegt kein zwingender Grund
vor, die Vorstellungen von Raum und Zeit, im prinzipiellen Gegen-
satze zu den anderen Sinnesqualitäten, als ausschliessend subjek-
tive Formen der Anschauung hinzustellen, die zu gar keinen Be-
schaffenheiten oder Verhältnissen der Dinge in Beziehung stehen.
Jedoch, glaube ich, lässt sich ein Unterschied zwischen der
Vorstellung des Raumes und der der Zeit auf Grund folgender
Erwägung herausspekulieren. Wenn wir vom Räume, wie von den
anderen Sinnesqualitäten nur sagen können, sie sind Bedingungen,
oder richtiger Hauptbestandteile unserer, aber nicht aller mög-
- 48 -
liehen und denkbaren Erfahrung, so können wir von der Zeitvor-
stellung, jedenfalls im Sinne Kants, wenn auch nicht auf Grund
seiner Beweisführung, behaupten, sie ist und muss sein ein Haupt-
bestandteil aller für uns Menschen möglichen und denkbaren Er-
fahrung. Denn wenn auch die Zeit nur die abstrakte Vorstellung
der Succession unserer Vorstellungen ist, so ist sie doch jedenfalls
nicht vom Inhalte der letzteren, wie es bei der Raumvorstellung
sein mag, abhängig und bedingt. Was uns auch jemals als Inhalt
unserer Vorstellungen gegeben sein möchte, wir würden es doch
immerhin in unserer Art, also successive vorstellen und auf Grund
derselben die Zeitvorstellung bilden müssen. Dadurch, dass die
Zeitvorstellung nicht durch den Inhalt des Vorgestellten, sondern
nur durch die Art des Vorstellens entsteht und entstehen kann,
unterscheidet sie sich von der Raumvorstellung und muss als not-
wendiger Hauptbestandteil aller für uns Menschen möglichen Er-
fahrung angesehen werden.
4.
Die Kategorien.
(Substanz, Kausalität).
Wir haben oben den wichtigen Unterschied zwischen der
Natur der Synthesis in mathematischen und derjenigen in natur-
wissenschaftlichen Sätzen erkannt und festgestellt. Das Verhältnis,
in dem die Objekte der Mathematik zu einander stehen, ist schon
durch die Begriffe eben dieser Objekte selbst gegeben, so dass ich
keine besondere Erfahrung brauche, um das Vorhandensein eines
Verhältnisses überhaupt einzusehen. Die Einsicht des Bestehens
des Verhältnisses zwischen den Objekten kann also auf analj^ischem
Wege, durch Definition ihrer Begriffe erlangt werden. Die Syn-
thesis, die dennoch erforderlich ist, um ein mathematisches Urteil
zu vollziehen, besteht bloss in der genauen Bestimmung des Ver^
hältnisses. Diese Einsicht der genauen Bestimmung kann aller-
dings auf analytischem Wege, durch Definition der Begriffe nicht
erlangt werden. Dazu ist Erfahrung, als Anschauung, Zählung,
Messung notwendig. Wenn aber die Synthesis, die mit Hilfe der
Erfahrung vollzogen wird, bloss darin besteht, ein Verhältnis, das
mit den Objekten selbst gegeben und durch sie selbst schon
(potentiell) bestimmt ist, zu unserer Erkenntnis zu bringen; so
muss die erlangte Erkenntnis, unbeschadet ihres empirischen Hilfs-
^ 40 -
mittels» allgemein und notwendig sein. Bei den Objekten dei"
Naturwissenschaft hingegen wird schon dnrch die Behauptung des
Bestehens eines Verhältnisses eine Synthesis vollzogen. Denn auf
bloss analytischem Wege, durch Definition der Begriffe der Objekte,
kann ich noch nicht einsehen, dass die Objekte überhaupt in einem
Verhältnis zu einander stehen. Dass ein Dreieck drei Winkel,
die Summe dieser Winkel irgend eine Grösse haben muss, ist eine
Einsicht, die mit dem Begriffe der Objekte selbst gegeben ist. Es
handelt sich nur darum, eben die Grösse der Summe, die doch
schon (potentiell) bestimmt ist, ausfindig zu machen. Der Begriff
des Holzes im Feuer und der Begriff der Verbrennung aber haben
gar keine logische Beziehung zu einander. Ich muss schon eine
Synthesis vollziehen, wenn ich die beiden Vorstellungen überhaupt
in ein Verhältnis, in eine Beziehung zu einander bringe. Und
wenn mir auch die Erfahrung eine Beziehung zwischen den beiden
Erscheinungen, dem Holze im Feuer und dem Prozess der Ver-
brennung zeigt, so sehe ich noch keine solche in dem Inhalte der
Erscheinungen selbst, sondern bloss zwischen den Zeitpunkten, in
denen diese Erscheinungen ihr Dasein haben. Wenn ich finde,
dass die Winkel des Dreiecks :== 2 R., so finde ich eben, dass die
beiden Grössen ihrem Gehalte nach übereinstimmen, dass sie, abge-
sehen von der Figur, quantitativ als Raumumfang allein betrachtet,
wirklich identisch sind. Wie ich diese Identität herausgefunden
und eingesehen habe, kann doch dabei gleichgültig sein. Ist es
einmal herausgefunden, so weiss ich, dass sie identisch sind, und
wenn sie es einmal sind, so können sie niemals aufhören, es zu
sein. Sehe ich das Holz im Feuer und den Prozess des Ver-
brennens auf einander folgen, so ersehe ich nicht daraus, dass die
beiden Erscheinungen als solche, ihrem Inhalte nach, etwas mit
einander zu thun haben. Ich sehe nur, dass die Zeitpunkte, in
denen sie ihr Dasein haben, auf einander folgen. Die Zeitpunkte
an sich aber führen nichts bei sich, was sie aneinander ketten,
was sie zusammenhalten sollte. Das ist die grosse Frage, die
Hume aufgeworfen hatte. Und die Bemühung Kants, durch die
Entdeckung des synthetischen Charakters der Mathematik „die
Metaphysik [an dieser Stelle bedeutet das Wort bei Kaut, die all-
gemeinen Sätze der Naturwissenschaft, oder die reine Naturwissen-
schaft] in gute Gesellschaft zu bringen^)", hat ihren Zweck nicht
1) Prolegomena, S. 48/9.
^ 66 -
örreicht. iDer synthetische Charakter der Mathematik ist und bleibt
ein ganz anderer, als der der naturwissenschaftlichen Sätze, und
„die Streiche, welche (von Hume) den letzteren zugedacht waren,"
treffen die erstere doch nicht. Die berühmte Alternative, welche
Kant Hume stellt, entweder alles fallen lassen, weder Mathematik,
noch Naturwissenschaft, oder beide aufrecht erhalten — diese
Alternative gilt nicht!
Aber wenn auch Hume auf diese Weise nicht zu überwinden
ist, wenn es auch Kant nicht gelungen ist, Hume mit einem grossen
Schlage zu besiegen, so ist doch noch möglich, dass es ihm in
kleineren Treffen besser geglückt sei, dass es ihm im Kampfe um
die Naturwissenschaft gelungen sei, diese kostbare Beute der
Hume'schen Skepsis zu entreissen. Es ist daher nunmehr unsere
Aufgabe, zu untersuchen, ob Hume's Zweifel betreffs der Begriffe
der Substanz und Kausalität durch Kant wirklich endgültig be-
seitigt und widerlegt worden seien. Wir gehen zu diesem Behufe
vom Brennpunkt der ganzen transscendentalen Analytik, von dem
Abschnitt „Analogien der Erfahrung" aus. Es ist der Punkt, in den
alle Kantischen Deduktionen der Analytik einmünden, in dem sie
sich zusammenfinden und vereinigen, um die Hauptgrundsätze der
Naturwissenschaft, die Sätze über Substanz und Kausalität zu be-
gründen und sicherzustellen.
A. Substanzbegriff.
Was den Substanzbegriff betrifft, so nimmt Kant in seiner
Beweisführung der Apriorität desselben in der ersten Analogie der
Erfahrung keinen Bezug auf Hume's Kritik dieses Begriffes. Wir
wissen ja, dass er es gar nicht konnte. In der Auseinander-
setzung mit Hume betreffs des Kausalbegriffs in den Prolegomenen
sagt Kant ausdrücklich^): „Ich setze noch hinzu, dass wir eben-
sowenig den Begriff der Subsistenz, d. i. der Notwendigkeit darin
einsehen, dass dem Dasein der Dinge ein Subjekt zum Grunde
liege, das selbst kein Prädikat von irgend einem andern sein
könne, ja sogar, dass wir uns keinen Begriff von der Möglichkeit
eines solchen Dinges machen können (obgleich wir in der Er-
fahrung Beispiele seines Gebrauches aufzeigen können)" 2). Es
1) § 27, S. 91.
2) Es bleibt immerhin merkwürdig, dass Kant von der Hume'schen
Kritik des Substanzbegriffes gar nichts gewusst haben soUte, da doch Hume
im letzten (12.) Abschnitt des Enquiry (Nathansohns Übersetzung, S. 184 ff.),
— 61 —
bleibt uns daher nur übrig zu mutmassen, welcher Meinung wohl
Home über die Kantische Fassung des Substanzbegriffes und die
Beweisführung desselben gewesen wäre, wenn er sie gekannt
hätte. Dass die Überzeugung von der kontinuierlichen und unab-
hängig-en Ebdstenz der Objekte unserer Vorstellungen, d. h. von
der Wirklichkeit der Körper als ausser uns existierender Sub-
stanzen tief und unausrottbar in der Natur des menschlichen Geistes
begründet ist — von dieser Erkenntnis war niemand mehr als
Hume durchdrangen *). Nur behauptete er, dass diese Überzeugung
nicht vom reinen Verstand herrühren kann. Der reine Verstand
kann nur Ähnlichkeit, oder auch voUkommene Ähnlichkeit, nicht
aber numerische Identität erkennen, wenn ein Objekt unserer
Wahrnehmung zu verechiedeuer Zeit gegeben ist. Da uns nur
Vorstellungen gegeben sind und wir niemals an Dinge an sich
herankommen können, unsere Vorstellungen aber als solche auch
bei der vollkommensten Ähnlichkeit, d. h. logischer Identität immer
numerisch verschieden sind; so hat unser Verstand absolut keinen
Anhaltspunkt, denselben kontinuierliche und von uns unabhängige
Existenz beizulegen, d. h. sie auf ausser uns existierende Sub-
stanzen zu beziehen. Wenn nun Kant von einer beharrlichen
Substanz in den Erscheinungen spricht, so würde Hume dies als
einen inneren Widerspruch, als eine contradictio in adjecto an-
sehen. Erscheinungen sind Vorstellungen, Vorstellungen haben
keine kontinuierliche Existenz, sie können also nichts Beharrliches
enthalten. Diese merkwürdige Konstruktion von der beharrlichen
Substanz in den Erscheinungen, d. h. Vorstellungen hat Kant in
der zweiten Ausgabe der Kritik noch extra zur Widerlegung des
Idealismus benutzt. Es ist geradezu unbegreiflich, wie Kant ein
so widerspruchsvolles Gebilde noch als apriorischen Begriff des
reinen Verstandes hinstellen konnte. Wenn der Substanzbegriff
eine verständliche Vorstellung sein soll, so muss er in dem Sinne
gefasst werden, dass unsere Vorstellungen auf äussere, von uns
unabhängige Dinge an sich bezogen werden. Davon ist aber hier,
wie in der Widerlegung des Idealismus nicht die Rede. Hier wie
dort ist nur davon die Rede, dass wir als Substratum der Zeit
aus welchem Buche Kant Hume's Philosophie doch kennen gelernt haben
musste (vergl. Prolegomena, S. 32, Fussnote), seine Zweifel über den Sub-
stanzbegriff, wenn auch nicht ausführlich, aber doch deutlich genug
vorträgt.
1) Vergl. Über die menschl. Natur, Bd. I, Tl. 4, Abschn. 2, S. 376 ff.
4*
- 6ä -
und ihrer Bestimmungen etwas Bleibendes und Beharrliches in
den Erscheinungen, also unseren Vorstellungen denken müssen.
Dieses Substratum können aber am Ende unsere Vorstelluugen
selbst sein. Denn wenn wir eine Zeit denken, so denken wir sie
mit irgend welchen Vorstellungen ausgefüllt. Die Vorstellungen
als solche aber wechseln und das Beharrliche dabei besteht eben
darin, dass sobald Zeit gedacht wird, zugleich etwas mit vor-
gestellt werden muss, denn eine leere Zeit ist in der That
unvorstellbar. Dass aber dieses mit der Zeitvorstellung
immer Etwas - vorstellen - müssen Substanz genannt wird, ist
eine merkwürdige Wortverbindung, die nur ein schon an sich
verfehltes Bestreben hervorbringen kann, alles, was psycho-
logisch notwendig gedacht werden muss, als apriorischen
Begriff des reinen Verstandes hinzustellen und zu beweisen. Es
nützt hier nicht von einem transscendentalen Gegenstand, von einer
Objektivierung der Erscheinungen zu sprechen. Der Verstand als
solcher kann unmöglich in Erscheinungen, also unseren Vorstellungen
etwas Beharrliches, d. i. eine kontinuierliche Existenz denken, da
die Vorstellungen als solche immer numerisch verschieden sind.
Einen solchen Widerspruch kann höchstens die Einbildungskraft,
aber nicht der Verstand hervorbringen und für etwas Reales halten.
Und selbst die Einbildungskraft kann bei diesem Widerspruch nicht
stehen bleiben, sondern muss zu seiner Beseitigung die Existenz
von Dingen an sich ausser uns annehmen, worauf sie die Vor-
stellungen bezieht. Bei dem Begriff der Ursache verhält sich die
Sache ganz anders. Dort wäre es wenigstens an sich denkbar,
dass der Verstand die Reihenfolge der Succession von gewissen
Vorstellungen als notwendig und allgemeingültig und dadurch als
kausal verknüpft denkt. Aber etwas Beharrliches in den Er-
scheinungen, d. h. Vorstellungen, oder etwas numerisch Identisches
in numerisch nicht identischen Vorstellungen denken, ist ein Wider-
spruch, den wir dem Verstand nicht zumuten können. Wollte man
aber den Kantischen Beweis für die Apriorität des Substanzbe-
griffes in einem andern Sinne als Kant selbst wollte i), interpre-
tieren: Es muss etwas Beharrliches ausser uns als Dinge an sich
existieren, denn sonst wäre die Vorstellung einer einheitlichen Zeit
und die Bestimmung derselben unmöglich: so hätten wir doch da-
1) Denn Kant selbst erklärt ausdrücklich: „Diese Beharrhchkeit ist
indes doch weiter nichts, als die Art, und das Dasein der Dinge (in der
Erscheinung) vorzusteUen.** Kritik d. r. V., Erste Analogie, S. 178.
-1
— 63 -
mit erstens die Möglichkeit der Vorstellung einer einheitlichen Zeit
von der ^wirklichen Existenz von Dingen an sich abhängig ge-
macht, T^as sich aber mit der Apriorität der Zeitvorstellung nicht
ganz ein^wandfrei verträgt; zweitens, und was wichtiger ist, be-
wiese dieser Schluss höchstens, dass wir Erscheinungen, d. h.
Vorstellungen haben, die uns, obwohl zu verschiedenen Zeiten ge-
geben, doch vollkommen ähnlich, an derselben Stelle befindlich,
oder sich regelmässig bewegend erscheinen, so dass wir da-
durch die Zeit als einheitliche Vorstellung haben und sie be-
stimmen können. Da wir aber an Dinge an sich niemals heran-
kommen können, so bliebe es \^dederum unmöglich, Gewisses da-
rüber auszumachen, ob alles das bloss unsere Vorstellung ist, oder
auch unabhängig von uns existiert. Wir müssten also wieder zu dem
bekannten Notbehelf greifen und sagen : Der Verstand setzt bloss zum
Behuf e der Möglichmachung der Erfahrung die Existenz von beharr-
lichen Dingen an sich ausser uns voraus, wir aber kommen hinter-
her und stellen durch Kritik der reinen Vernunft fest, dass die
Voraussetzung solcher Dinge an sich, abgesehen von der Erfahrung
und dem Begriff ihrer Möglichkeit, entweder falsch, oder doch
nicht erweisbar ist. Wie können wir nun eine Voraussetzung,
welche die Vernunftkritik hinterher als an sich entweder falsch,
oder doch unerweisbar ansehen muss, für eine Funktion des Ver-
standes halten? Oder sollte Kant am Ende unter Verstand das-
selbe verstehen, was Hume unter Einbildungskraft? Dann wäre
also das Ganze bloss ein Wortstreit!
Wir wollen das Gesagte der besseren Übersichtlichkeit halber
kurz zusammenfassend rekapitulieren. Es ist eben, wie wir sehen,
mit dem Substanzbegriff eine Schwierigkeit verbunden, die bei an-
deren Begriffen, wie z. B. dem Kausalbegriff nicht anzutreffen
ist. Wir können vom letzteren ganz gut sagen, dass er nur für
die Erscheinungswelt, also für die Welt unserer Vorstellungen
gilt, dass er aber nichtsdestoweniger für diese wirklich und so-
gar notwendig und allgemeingültig ist, indem der Verstand die
Reihenfolge der Succession gewisser Vorstellungen als notwendig,
d. h. kausal verknüpft auffasst, wodurch der Begriff der Kausali-
tät innerhalb der Erscheinungswelt objektive Realität erlangt. Es
ist aber unmöglich, weil sich widersprechend, zu sagen, dass unsere
Vorstellungen etwas Beharrliches enthalten, da sie als solche bei
aller Ähnlichkeit numerisch nicht identisch sein können. W^ir
müssen also, wenn T^rküch die Vorstellung einer einheitlichen
- 54 -
Zeit erst durch die Existenz eines Beharrlichen möglich ist, dieses
Beharrliche als unabhängig von unseren Vorstellungen existierend,
also als Dinge an sich denken. Dann aber gefährden wir die
Apriorität der Zeitvorstellung. Ausserdem, und was weit wichtiger
ist, müssen wir uns doch sagen, dass die eben erschlossene Exi-
stenz des Beharrlichen ausser uns doch nur unsere Vorstellung
von einer solchen Existenz ist, da wir doch unmöglich an ^ie
Dinge selbst ohne Vermittelung unserer Vorstellung herankommen
können. Nahmen wir aber an, dass die Exii^tenz eines Beharr-
lichen ausser uns nur zum Behufe der Möglichkeit der Erfahrung
gedacht wird, abgesehen davon aber sie (die Existenz des Beharr-
lichen eben) gar nicht wirklich, oder nicht erweisbar ist; so hat
also der Verstand etwas für wirklich beharrlich gehalten, dessen
Realität als Beharrliches innerhalb der Vorstellungswelt unmöglich,
ausserhalb derselben jedenfalls unerweisbar ist. So etwas aber
können wir unmöglich dem Verstand, höchstens nur der Einbil-
dungskraft zumuten.
Was aber Kant bei seiner Fassung des Substanzbegriffes
vorschwebt und was der innerste Kern und der letzte Stützpunkt
seiner ganzen Lehre ist, das ist die Einheit des Bewusstseins,
oder die transscendentale Einheit der Apperzeption. Die Einheit
des Bewusstseins ist zugleich Bedingung und bedingt von der Ein-
heit der Erfahrung, d. h. des Bewusstseinsinhalts, oder der Vor-
stellungen. Unser Bewusstsein erkennt sich selber in verschie-
denen Zeiten als numerisch identisch. Die Vorstellung: ich denke
muss alle unsere Vorstellungen begleiten können. Da aber unser
Bewusstsein sich nur in seinem Inhalte, also unseren Vorstellungen
erkennt und als numerisch identisch in den verschiedenen Zeiten
wiedererkennt, so muss in diesem seinem Inhalte selbst, also in
den Vorstellungen etwas sein, was immer dasselbe bleibt, d. h.
beharrlich ist. Würde uns in unseren Vorstellungen nichts nume-
risch Identisches, d. h. Beharrliches erscheinen, so wären sie ver-
schieden, so gäbe es in unserem Bewusstseinsinhalt keine Einheit
und somit auch keine in unserem Bewusstsein selbst, das sich nur
in seinem Inhalte kundgiebt. Wir sehen, wir haben hier in der
Fassung des Substanzbegriffs die ganze Quintessenz der trans-
scendentalen Deduktion der reinen Verstandesbegriffe. Ich glaube
aber, bei aller Tiefe des Denkens ist doch dabei etwas übersehen
worden. Das Zustandekommen der Einheit des Bewusstseins er-
fordert gar nicht da§ Erkennen einer uumenscben Identität, d. h.
— 66 —
eines Beharrlichen in seinem Inhalte, also den Vorstellungen, son-
dern es g-enügt schon zu diesem Behufe das Erkennen einer bloss
logischen Identität derselben. Das Band, wodurch alle Inhalte
unseres Bewusstseins, die Vorstellungen, zu einem einheitlichen
Bündel verknüpft werden, ist, wie Hume sagt, das Gedächtnis.
Ohne dieses wäre ein Bewusstsein gar nicht möglich, würden die
einzehien Vorstellungen nicht einmal zu einem Bündel verknüpft
werden können. Wo das Gedächtnis gänzlich aufgehoben ist, da
ist auch kein Bewusstsein. Das Gedächtnis allein aber reicht
schon vollkommen aus, ein einheitliches Bewusstsein hervorzu-
bringen. Wenn ich mich an eine frühere Zeit erinnere, so kann
ich gar nicht die numerische Identität der gegenwärtigen und da-
maligen Vorstellungen erkennen, da sie doch als solche numerisch
verschieden sind. Was ich da erkenne, ist bloss die logische
Identität, die Ähnlichkeit, oder auch die vollkommene Ähnlichkeit
der damaligen Vorstellungen mit den gegenwärtigen, die Ähnlich-
keit des Inhalts, der räumlichen Verhältnisse, der Gefühle, die sie
dann begleitet haben, wie jetzt. Die Einheit des Bewusstseins
ist schon dazu notwendig und damit gegeben. Denn dadurch,
dass ich die Ähnlichkeit zwischen meinen Vorstellungen von dann
und jetzt erkenne, ist mein Bewusstsein von dann und jetzt zu
einer Einheit verbunden, ohne dass die Vorstellungen selbst in
irgend einem Punkte als numerisch identisch erkannt zu werden
brauchen, ohne dass uns in ihnen etwas Beharrliches zu erscheinen
braucht.
Was nun die genaue Zeitbestimmung anlangt, so wird sie
solange möglich sein, als uns, wie bis jetzt, glücklicherweise ge-
wisse Komplexe von Vorstellungen gegeben sind, an denen wir
einerseits und zum grössten Teile vollkommene Ähnlichkeit mit
früher gehabten Vorstellungskomplexen erkennen, andererseits Ab-
weichungen von denselben, d. h. Änderungen im Vergleiche mit
denselben unterscheiden können und diese Veränderungen sich
immer auf eine proportionale Zeitdauer zurückführen lassen. Denn
wenn wir auch immer wieder und wieder von beharrlichen Sub-
stanzen und der Veränderung ihres Zustandes reden, so bleibt es
uns doch unmöglich, an diese bloss vermuteten Dinge heranzu-
kommen. Was uns unmittelbar und gewiss gegeben ist, sind nur
unsere Vorstellungen, die als solche immer numerisch verschieden
sind. Und die genaue Zeitbestimmung kommt doch in der That
nur dadurch zustande, dass wir an §^ewi§sen Vorstellungskomplexen
- 56 —
teilweise Ähnlichkeit und teilweise Abweichung, d. h. Veränder-
ung erkennen, und dass wir diese Veränderungen glücklicher-
weise immer auf eine proportionale Zeitdauer zurückführen können.
Solange unser Vorstellungsverlauf eine solche Beobachtung zulässt,
wird eine genaue Zeitbestimmung möglich sein. Hört das aber
einmal auf, und es ist denkbar und daher möglich, dass es ein-
mal aufhört, dann wird eine genaue Zeitbestimmung, und wenn
man das Erfahrung nennt, auch Erfahrung unmöglich sein. Hat
uns denn irgend ein Gott die Versicherung gegeben, dass für uns
immer Erfahrung und zwar gerade eine solche, wie wir sie bis
jetzt gehabt haben, möglich und wirklich sein wird, dass wir uns
immer wieder und wieder darauf berufen und die Notwendigkeit
aller Hauptbestandteile unserer Erfahrung, wie sie uns bis jetzt
gegeben war, davon ableiten könnten?! Kant dreht sich hier
wieder im Kreise herum. Die Notwendigkeit der Hauptbestand-
teile der Erfahrung wird für unsere Erkenntnis in Abrede ge-
stellt. Da kommt Kant und argumentiert: Die Hauptbestandteile
der Erfahrung müssen notwendig und allgemeingültig sein, denn
sonst könnte es einmal kommen, dass unsere Erfahrung unmöglich
wird. Aber das ist ja, was behauptet wird, dass wir mit reinem
Verstand darüber keine Gewissheit erlangen können, dass die
Hauptbestandteile unserer Erfahrung immer dieselben bleiben und
wir immer dieselbe Erfahrung haben werden. Vorläufig ist die
Möglichkeit der Erfahrung auch ohne die Annahme von einer not-
wendig beharrlichen Existenz, die wir auf diese Weise überhaupt
nicht erweisen können, zu erklären. Ich weiss, mancher Leser
wird ob diesem hartnäckigen Skeptizismus, wie er diese Betrach-
tungen nennen wird, unwillig werden. Aber wir treiben hier kein
Spiel zum Zeitvertreib. Eö ist auch nicht die Aufgabe des exakt
philosophischen Denkens, unter allen Umständen alles das zu be-
weisen, was man gern bewiesen haben möchte. Wir untersuchen
hier, was man durch reinen Verstand wirklich wissen, beweisen
und gegen jeden Zweifel sicherstellen kann. Wir müssen also
ehrlich sein und uns eingestehen, dass wir mit reinem Verstand
über die Existenz von beharrlichen Dingen an sich ausser uns
und unabhängig von unseren Vorstellungen, also über die Wirk-
lichkeit von Substanzen nichts ausmachen können. Alles was uns
unmittelbar gewiss gegeben ist, sind unsere Vorstellungen und
darüber kommen wir mit reinem Verstand niemals hinaus. Die
Überzeugung von der Existenz einer Aussenwelt, die tief und un-
— 67 -
ausrottbar in unserem Gemüte wurzelt, rührt also nicht von
reinem Verstände her, sondern ist ein Glaube und daher nicht lo-
gisch, sondern einzig und allein psychologisch zu erklären.
B. Kausalitätsbegriff.
Der Unterschied zwischen Hume und Kant betreffs des Kausal-
begriffs ist im Grunde derselbe wie in Bezug auf die Rauravor-
stellung. Es fragt sich, ob das Eäumliche, oder die Raumvor-
stellung und ebenso ob die Succession, oder der Kausalbegriff das
Primäre ist. Nach Hume werden uns zuerst die farbigen und
tastbaren Punkte in der Ordnung des Nebeneinander in den Im-
pressionen gegeben, die allgemeine und abstrakte Vorstellung
dieser Ordnung ist die Raumvorstellung. Ebenso, meint Hume,
wird uns zuerst die Succession der Begebenheiten, der Vorgänge
in der Wahrnehmung gegeben, der Begriff der notwendig wirken-
den Ursache kann daher weder auf logischem, noch empirischen
Wege davon abgeleitet werden und folglich auch nicht abgeleitet
worden sein. Er muss daher als Produkt der Einbildungskraft
angesehen werden, welche die psychologisch-subjektive Nötigung,
von der einen Vorstellung zu der andern, mit ihr vollkommen
assocürten, weil stets mit ihr zusammen gegebenen überzugehen
auf die Objekte überträgt, wodurch nun der Begriff der not-
wendigen Verknüpfung der Objekte und ihrer Zustände entsteht,
was nach Hume's wie auch Kant's Meinung, den eigentlichen In-
halt des Kausalbegriffes ausmacht. Kant aber sagt: die Raum-
vorstellung muss das Primäre sein, weil wir die Ordnung des Neben-
einander nur im Räume wahrnehmen können. Ebenso, sagt Kant,
muss der Kausalbegriff das Primäre sein, weil die Wahrnehmung
einer objektiven Succession in der Zeit ohne Kausalbegriff gar
nicht möglich wäre. Wir sehen, es ist im Grunde der alte Streit
zwischen Realismus und Nominalismus, zwischen Rationalismus und
Empirismus, der Streit, ob das Allgemeine, oder das Besondere
das Prius sei. Nur wird hier der Kampf auf rein erkenntnis-
theoretischem Boden ausgef echten. Raum Vorstellung und Kausal-
begriff sind nach Hume letzte und höchste Verallgemeinerungen
des im besonderen Gegebenen. Sie gelten daher von diesem, aber
nur von diesem. Es ist denkbar und daher für unsere Begriffe
möglich, dass uns in der Zukunft anders geartete und anders sich
verhaltende Dinge gegeben werden, auf Grund deren wir alsdann,
wenn es gehen sollte, andere Verallgemeinerungen, oder, wenn es
— 58 —
nicht gehen sollte, gar keine würden machen können. Absolute
Allgemeinheit giebt es für unsere Erkenntnis nicht und Notwendig-
keit nur innerhalb des bereits Gegebenen. Kant aber sagt, Raum
(und Zeit) und Kausalität sind für uns Menschen Bedingungen
aller möglichen Erfahrung, sie sind nicht Verallgemeinerungen des
im besonderen Gegebenen, sondern erst durch sie und vermöge
ihrer kann uns überhaupt etwas im besondern gegeben werden.
Daher werden und müssen sie unbedingt von allem gelten, was
nur immer (jegenstand unserer Erfahrung werden möge.
Was nun den Eaum betrifft, so haben unsere Ausführungen
im Vorangehenden bereits dargethan, dass die Hume'sche Ansicht
durch Kant nicht widerlegt worden ist. Wie verhält sich die
Sache bei der Kausalität? Kant bemüht sich in der zweiten
Analogie der Erfahrung zu beweisen, dass der Kausalitätsbegriff
nicht durch Erfahrung gebildet worden sein kann, weil er erst Er-
f ahning möglich macht. Der Beweis wird folgendermassen geführt.
Alle unsere Wahrnehmungen sind Vorstellungen unseres Bewusst-
seins. Nun kommt ein Satz aus der transscendentalen Deduktion
der reinen Verstandesbegriffe, der in allen Kantischen Beweis-
führungen, hauptsächlich aber in den Analogien der Erfahrung,
jeder entgegengesetzten Ansicht wie ein Riegel vorgeschoben
wird. Alle unsere Wahrnehmungen werden Teil für Teil
successive in der Zeit von unserem Bewusstsein apprehen-
diert. Wenn wir dennoch in dem einen Falle die Reihenfolge
unserer Vorstellungen als bloss in unserer Vorstellungsweise, in
unserer subjektiven Apprehension, in dem andern Falle aber als in
den Objekten selbst begründet auffassen: so ist das nur deshalb
möglich, weil unser Verstand im ersten Falle die Reihenfolge als
zufällig und daher bloss subjektiv, in dem andern Falle aber als
notwendig und allgemeingültig und daher objektiv denkt. Wir
wollen es zu erläutern suchen. W^as uns auch als Erscheinung
gegeben sein mag, so kann es uns doch nur in der Zeit gegeben
sein. Die Zeit ist aber fliessend. Die Erscheinungen können uns
also nicht alle auf einmal, sondern nur nacheinander, successive
gegeben werden. Wir wissen aber trotzdem, dass sehr viele Er-
scheinungen in der Wirklichkeit zugleich sind und dass sie uns
nur deshalb als nacheinander erscheinen, weil wir nicht alle auf
einmal apprehendieren können. Von anderen Erscheinungen wissen
wir wiederum, dass sie nicht allein in unserer Apprehension, sondern
auch in der Wirklichkeit nacheinander sind. Was giebt uns nun
- 69 -
die Möglichkeit, diesen Unterschied im Dasein der Erscheinungen
zu machen, da wir doch nur darüber etwas wissen können, was
Gegenstand unserer Vorstellung ist, unsere Vorstellungen aber
doch immer und allemal successive in unserem Gemüte erzeugt
werden? Nur Eins, meint Kant, giebt uns die Möglichkeit, über
die Subjektivität der Succession unserer Vorstellungen in der
Apprehension hinauszukommen und einen Unterschied zu machen
zwischen der objektiven Succession, die in den Erscheinungen
selbst begründet ist, und einer subjektiven, die bloss in unserer
Vorstellungsweise ihren Grund hat. Wenn wir die Keihenfolge
des von uns apprehendierten Mannigfaltigen der Erscheinung nach
Willkür umkehren oder verändern können, also das Mannigfaltige
der Erscheinung nicht nach einer bestimmten Regel der Aufein-
anderfolge notwendig von uns apprehendiert werden muss, so
wissen wir, dass die Succession nicht in den Erscheinungen selbst,
sondern nur in unserer Vorstellungsweise ihren Grund hat. Können
wir aber die Ordnung der Succession der Erscheinungen nicht
ändern, ist also die Ordnung in der Folge der Wahrnehmungen nach
einer Regel bestimmt, wodurch die Notwendigkeit gedacht wird,
dass die Erscheinung B auf die Erscheinung A in der Apprehen-
sion nur folgen, nicht aber ihr vorhergehen kann: so wissen wir,
dass die Succession A, B nicht in der subjektiven Vorstellungsweise
unserer Apprehension, sondern in den Erscheinungen selbst, also
objektiv begründet ist. Die Wahrnehmung der objektiven Succes-
sion der Erscheinungen ist also allererst dadurch möglich, dass sie
der Verstand als notwendige Ordnung der Aufeinanderfolge nach
einer bestimmten Regel, also nach dem Begriff der Ursache und
Wirkung denkt. Denn der Begriff von Ursache und Wirkung
bedeutet nach Kaut, wie nach Hume, nichts anderes als die not-
wendige Ordnung der Aufeinanderfolge von Erscheinungen. Der
Begriff der Ursache und Wirkung kann also nicht, wie
Hume meint, von der beständigen Wahrnehmung der Succession
der Erscheinungen abgeleitet worden sein, sondern die Wahr-
nehmung einer objektiven Succession wird durch den Begriff der
Ursache und Wirkung allererst möglich. Oder wie sich Kuno
Fischer sehr fein pointiert ausdrückt *): „So ist es, (gerade um-
gekehrt als Hume geraeint hat), vielmehr das propter hoc, wodurch
in allen Fällen das post hoc bestimmt wird. Zwei Wahrnehmungen,
1) Geschichte d. neueren Phüos. (3. Aufl.), 3. Bd., S. 396.
— 60 -
die aufeinander folgen, bilden noch keine objektive Zeitfolge,
noch kein post hoc: dieses hatte sich Hume nicht klar gemacht.
Zwei Erscheinungen, die nicht bloss in unserer Wahrnehmung,
sondern als solche aufeinander folgen, bilden keine zufällige,
sondern eine notwendige Zeitfolge, d. h. eine durch Kausalität
bestimmte. "
Diesen Beweis für die Apriorität des Kausalbegriffes erläutert
Kant an einem Beispiel. Die Wahrnehmung eines Hauses, das
vor mir steht, ist nur durch successive Apprehension seiner Teile
möglich. Trotzdem bin ich davon überzeugt, dass alle diese Teile,
als ein ganzes Haus ausmachend, zugleich sind. Wenn ich hin-
gegen ein den Fluss hinabfahrendes Schiff betrachte, so bin ich
ganz sicher, dass es nicht allein in meiner Wahrnehmung, sondern
eben sowohl in der Wirklichkeit successive dem Laufe des Flusses
entlang sich bewegt und dass es sich in der Wirklichkeit, wie in
meiner Vorstellung zuerst oberhalb des Flusses befand und dann
immer mehr und mehr unterhalb desselben. Beide Erscheinungen
werden von mir in gleicher Weise successive apprehendiert. Was
bestimmt mich, die Teile des Hauses als in Wirklichkeit, also als
objektiv zugleich bestehend anzunehmen und die Succession, in der
sie mir gegeben sind, als bloss in meiner Vorstellungsweise be-
gründet zu betrachten, während ich die Succession der Stellen, in
denen sich das Schiff der Reihenfolge nach befindet, als in Wirk-
lichkeit, als objektiv gegeben ansehe? Nur eine Erklärung giebt
es dafür, meint Kant. Bei der Wahrnehmung des Hauses kann
die successive Apprehension der Teile bald von oben nach unten,
bald von unten nach oben u. s. w. erfolgen. Die Succession der
Wahrnehmung steht also nicht unter einer Regel, nach der sie
notwendig erfolgen müsste, ich erkenne sie (die Succession) daher
als bloss subjektiv, die Teile der Erscheinung selbst, also des
Hauses als in Wirklichkeit, als objektiv zugleich bestehend. Die
Wahrnehmung der Succession der Stellen aber, an denen sich das
Schiff der Reihenfolge nach befindet lässt sich nicht ändern. Die
Succession steht also unter einer Regel, nach der sie notwendig
erfolgt, oder, was dasselbe bedeutet, sie ist kausal bedingt. Ich
betrachte sie (die Succession) daher als in Wirklichkeit vorhanden,
als objektiv.
An dieses Beispiel anknüpfend, sucht Schopenhauer diesen
transscendentalen Beweis für die Apriorität des Kausalbegriffes
- 61 -
zu widerlegen. „Ich behaupte dagegen, sagt Schopenhauer^), dass
beide Fälle gar nicht unterschieden sind, dass beides Begeben-
heiten sind, deren Erkenntnis objektiv ist, d. h. eine Erkenntnis
von Veränderungen realer Objekte, die als solche vom Subjekt er-
kannt werden. Beides sind Veränderungen der Lage zweier
Körper gegen einander. Im ersten Falle ist einer dieser Körper
der eigene Leib des Beobachters und zwar nur ein Teil desselben,
nämlich das Auge, und der andere ist das Haus, gegen dessen
Teile die Lage des x^uges successive geändert wird. Im zweiten
Falle ändert das Schiff seine Lage gegen den Strom, also ist die
Veränderung zwischen zwei Körpern. Beide sind Begebenheiten,"
u. s. w. Den Irrtum, der Schopenhauer selber dabei unterläuft,
hat bereits Cohen aufgezeigt*). Es handelt sich im Kantischen
Beispiel nicht darum, ob die Succession der Bewegung des Auges
objektiv ist, oder ob die Teile des Hauses als solche objektive
Eealität haben, sondern darum, ob die Reihenfolge der Succession
der Wahrnehmung der Teile des Hauses objektiv, oder subjektiv
ist, d. h. ob die Teile des Hauses, die mir in der Wahrnehmung
succesive gegeben sind, auch in der Wirklichkeit nur nacheinander
existieren. Darin hat Kant vollkommen Recht, dass die Succession
der Teile des Hauses, wie sie, (die Succession), mir in der Wahr-
nehmung gegeben ist, bloss subjektiv und nicht objektiv ist, aus
dem Grunde nämlich, weil die Einbildungskraft die Teile des
Hauses nicht nach einander, sondern zugleich existierend vorstellt.
Sie haben also selbstverständlich objektive Realität in noch er-
weitertem Sinne, indem sie in der Einbildungskraft auch dann
noch existierend vorgestellt werden, wenn sie auch nicht wahr-
genommen werden. Und deshalb gerade sagt Kant, dass die
Reihenfolge der Succession, in der ich sie wahrnehme, nicht ob-
jektiv, sondern subjektiv ist, im Gegensatz zu der Succession der
Bewegung des den Fluss hinabfahrenden Schiffes, das ebenso in
der Wirklichkeit, wie in der Wahrnehmung in einer bestimmten
Ordnung der Succession seine Stellen an den neben einander ge-
legenen Orten des Flusses hat.
Aber wenn auch der Angriff Schopenhauers auf das Beispiel
auf einem Irrtum beruht, so hat er doch in der Sache selbst ent-
schieden Recht. Es ist nicht so wie Kant meint, dass wir nur
1) Satz vom Grunde, § 23. Sämtliche Werke (Berliner Ausg.) Bd. I.
S. 71 ff.
2) Kant's Theorie d. Erfahrung, S. 224 ff.
- 62 —
da eine objektive Succession der Vorgänge wahrnehmen können,
wo wir ihre (der Succession) Reihenfolge notwendig und allge-
meingültig denken müssen. Wenn wir zwei Begebenheiten auf
einander folgen sehen, so können wir sehr wohl wissen, dass sie
nicht allein in unserer subjektiven Apprehension, sondern auch ob-
jektiv auf einander folgen, ohne diese Succession und ihreEeihen-
folge für eine notwendige und allgemeingültige halten zu müssen.
Denn wäre dem nicht so, so müsste doch die Reihenfolge einer
jeden Succession von Vorgängen, die wir in einem gegebenen
Falle als objektiv erkennen, von uns als notwendig, für alle Fälle
und für alle Zukunft unbedingt gültig betrachtet werden müssen,
was aber gegen alle Erfahrung ist. „So ist die Succession der
Töne einer Musik, sagt Schopenhauer mit Recht ^), objektiv be-
stimmt und nicht subjektiv durch mich, den Zuhörer: aber wer
wird behaupten, dass die Töne der Musik nach dem Gesetze von
Ursach und Wirkung auf einander folgen? Ja sogar die Succes-
sion von Tag und Nacht wird ohne Zweifel objektiv von uns er-
kannt, aber gewiss werden sie nicht als Ursach und Wirkung von
einander aufgefasst" u. s. w. „Hierdurch wird, beiläufig gesagt,
meint Schopenhauer weiter, auch Humes Hypothese widerlegt; da
die älteste und ausnahmloseste Folge von Tag und Nacht doch
nicht, vermöge der Gewohnheit, irgend einen verleitet hat, sie für
Ursach und Wirkung von einander zu halten". Schopenhauer po-
lemisiert nur gegen die Kantische Beweisführung der Apriorität
des Kausalbegriffes, aber nicht gegen diese Apriorität selbst, die
er vielmehr mit eben derselben Entschiedenheit wie Kant be-
hauptet. Es ist daher natürlich, dass er sich die Gelegenheit nicht
entgehen lässt, beiläufig auf Hume einen Pfeil abzuschiessen.
Wir wollen aber ebenfalls diese Gelegenheit benutzen, diesen Pfeil
für Hume unschädlich zu machen. Ich möchte nur bemerken, dass
Schopenhauer und Kant ebenfalls und nicht weniger als Hume die
Pflicht haben, die Thatsache zu erklären, dass wir Tag und Nacht
nicht für Ursache und Wirkung von einander halten, trotzdem sie
immer und ausnahmslos auf einander folgen. Denn Kant und
Schopenhauer, die die Apriorität des Kausalbegriffes behaupten,
geben doch zu, dass ein empirisches Kriterium für seine An-
wendung nötig ist. Dieses empirische Kriterium ist nun die em-
pirische Wahrnehmung der ständigen Succession, was Schopenhauer
») a. a, 0., S. 73.
^ 63 -
selbst gegen den Kantischen Beweis anführt. Nun ist doch dieses
Kriterium bei der ausnahmlosen Aufeinanderfolge von Tag und
Nacht gegeben, warum also wenden wir dabei nicht den aprio-
rischen Kausalbegriff an? Ich bin aber glücklicherweise in der
angenehmen Lage, Schopenhauer aus der Verlegenheit ziehen zu
können, wobei er sich aber wird gefallen lassen müssen, die Un-
gefährlichkeit seines Angriffs auf Hume einzugestehen. Tag und
Nacht können in erster Keihe schon deshalb nicht für Ursache
und Wirkung von einander gehalten werden, weil sonst jedes von
ihnen zugleich als Ursache und als Wirkung des andern würde
gelten müssen — ein sich widersprechendes Verhältnis*), das
sonst nirgends in der Erfahrung anzutreffen ist. Ausserdem ist
das Verhältnis der Aufeinanderfolge von Vorgängen, die wir unter
den Begriff der Ursache und Wirkung bringen, ein ganz anderes,
als das der Aufeinanderfolge von Tag und Nacht. Jede Ursache
beginnt sofort mit ihrem Eintritt in die Wirklichkeit ihre Kausa-
lität auszuüben. Daher sagt Kauf*): „Der grösste Teil der wir-
kenden Ursache in der Natur ist mit ihren Wirkungen zugleich,
und die Zeitfolge der letzteren wird nur dadurch veranlasst, dass
die Ursache ihre ganze Wirkung nicht in einem Augenblicke ver-
richten kann". Nun, ist mit dem Tag auch zugleich ein Teil der
Nacht und mit der Nacht auch ein Teil des Tages für unsere
Wahrnehmung gegeben? Hume kann also immerhin Kecht haben,
dass der Kausalbegriff erst durch Wahrnehmung regelmässiger
und ausnahmloser Succession von Vorgängen gebildet wird, und
dass die Notwendigkeit, mit der er gedacht wird in der Gewohn-
heit ihren Ursprung hat, trotzdem lässt er sich nicht bei aller
Succession von Wahrnehmungen anwenden, namentlich da nicht,
wo die Art der Succession selbst diese Anwendung nicht zulässt.
Hume hat daher selbst acht Regeln aufgestellt, nach denen wir
gleich wissen können, wo die Anwendung des Kausalbegriffs zu-
lässig und möglich ist und wo nicht. Für unsem Zweck genügt
es, die letzte dieser Regeln hier wiederzugeben»). „8. Die achte
und letzte Regel, welche ich erwähnen will, ist, dass ein Ding,
welches eine Zeit lang bei seiner vollkommenen Existenz ohne
1) Vergl. Schopenhauers Bekämpfung des Kantischen Begriffs der
Wechselwirkung, Kritik der Kantischen Philos., Sämtl. Werke (Berliner
Ausgabe), Bd. 2, S. 459 ff.
2) Kritik der reinen Vernunft, S. 191.
3) Über die menschl. Natur, Bd. I, Tl. 3. Abschn. 15, S. 347.
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Wirkung ist, nicht die einzige Ursache dieser Wirkung ist . . .
Denn, da gleiche Wirkungen notwendigerweise aus gleichen Ur-
sachen folgen und in Zeit und Raum aneinander grenzen, so
zeigt eine, wenn auch nur einen Augenblick dauernde Scheidung
derselben, dass diese Ursachen nicht vollständig sind".
Wir kehren nach dieser kleinen Abschweifung zu unsemi
eigentlichen Thema zurück. Weil Schopenhauer nur die Kantische
Beweisführung der Apriorität des Kausalbegriffes, nicht aber diese
Apriorität selbst bekämpft, viehnehr letztere mit Kant behauptet,
ist es ihm nicht möglich gewesen, die Wurzel des Missverständ-
nisses Kants in dieser Beweisführung aufzudecken. Wir wollen
es nun versuchen. Wenn von der Notwendigkeit der Succession
von Erscheinungen gesprochen wird, so kann diese Notwendigkeit
in zweierlei Bedeutung verstanden werden. Erstens, im Sinne
der Allgemeingültigkeit, nämlich, dass alle ähnlichen Erscheinungen
immer und überall in derselben Ordnung der Succession auf ein-
ander folgen müssen. Zweitens in dem Sinne, dass die Succession
der Erscheinungen in einem gegebenen Falle objektiv ist, d. h.,
dass die Erscheinungen in Wirklichkeit auf einander folgen. Die
Succession ist dann für diesen Fall für unsere Wahrnehmung ob-
jektiv und notwendig. In diesem Sinne ist eigentlich alles, was
einmal wirklich ist, oder war, für uns notwendig. Denn jede Er-
scheinung und jede Reihenfolge von Erscheinungen, die sich
unserer Wahrnehmung unwiderstehlich aufdrängt, ist für uns
jedenfalls für dieses eine gegebene Mal notwendig, und wenn auch
diese Erscheinungen und ihre Reihenfolge niemals wieder in der-
selben Weise und Ordnung in der Erfahrung gegeben sein sollten.
Der Unterschied zwischen Subjektivität und Objektivität der Suc-
cession von Erscheinungen besteht also nicht, wie Kant meint,
darin, dass die objektive Reihenfolge von uns als notwendig im
Sinne der Allgemeingültigkeit für alle Fälle und alle Zukunft,
d. h. kausal verknüpft und die subjektive Succession als bloss zu-
fällig, d. h. nicht für alle ähnlichen Fälle notwendig gedacht
wird: sondern darin, dass wir bei der subjektiven Succession von
Wahrnehmungen merken, dass die Reihenfolge, selbst in diesem
gegebenen Falle, nicht notwendig ist, d. h. bloss durch unsere
Willkür hervorgerufen wird, während wir bei der objektiven Suc-
cession fühlen, dass in dem gegebenen Falle die Reihenfolge nicht
durch unsere Willkür hervorgerufen, sondern sie sich uns, ob wir
wollen oder nicht, unwiderstehlich aufdrängt. Wir sehen, wie
^ 66 --
Hnmes Besthnmang der realen und objektiven Existenz sich auch
bier bewährt. . Objektive und reale Existenz, sei es der Erschei-
nungen, sei es ihrer Reihenfolge in der Zeit, ist nur an der Un*
widerstehlichkeit und Unabänderlichkeit zu erkennen, mit der sich
diese Erscheinungen, oder die Reihenfolge unserer Wahrnehmung
aufdrängen. Kants Definition der realen Existenz und der Wirk-
lichkeit ist eigentlich dieselbe, nur hat er sie hier, wo von der
Objektivität und Realität der Reihenfolge der Erscheinungen in
der Zeit die Rede ist, nicht richtig angewendet. Hier will Kant
auf einmal nur diejenige Reihenfolge von Erscheinungen in der
Zeit als objektiv, d. h. als real existierend gelten lassen, die zu
aller Zeit dieselbe bleibt, d. h. die allgemeingültig ist.
Eine Succession von Erscheinungen in der Zeit ist objektiv,
wenn nicht allein meine Wahrnehmung der letzteren, sondern auch
ihr Eintreten in die Wirklichkeit in einem gegebenen Falle nach
einander in der Zeit erfolgt. Subjektiv ist eine Succession von
Erscheinungen, wenn bloss meine Wahrnehmung der letzteren
nach einander erfolgt, sie selbst aber in jedem Moment meiner
Apprehension von mir wahrgenommen werden können und zwar
eine jede von ihnen in jedem Moment meiner Apprehension. Da
aber alle Erscheinungen bloss meine Vorstellungen sind, ich aber,
nach Kants Ansicht, eine jede Erscheinung successiv in der Zeit
vorstelle, so muss ich jedesmal ein Kriterium haben, wonach ich
feststellen kann, ob bloss meine Wahrnehmung successiv erfolgt,
oder: ob auch die Erscheinungen selbst mir nur nach einander
gegeben sein können. Wie lässt sich nun feststellen, ob etwas,
was ich wahrnehme, abgesehen von der Thätigkeit meines Wahr-
nehmens, ein Geschehen, eine Begebenheit ist, o^er nicht? Die
Antwort darauf kann nach allem, was ich bis jetzt darüber aus-
geführt habe, nur folgende sein. Kann ich in einem gegebenen
Falle die Reihenfolge meiner Wahrnehmungen willkürlich und nach
Belieben bestimmen, so ist die Erscheinung als solche kein Ge-
schehen, keine B|egebenheit und die Succession bloss subjektiv.
Kann ich aber die Reihenfolge meiner W^ahrnehmungen während
des Wahrnehmens nicht nach Belieben und nach Willkür be-
stimmen, sondern muss ich sie gerade so hinnehmen, wie sie zu-
fällig und unabhängig von meinem Willen verläuft: so ist die Er-
scheinung als solche ein Geschehen, eine Begebenheit und die
Succession objektiv. Sehe ich ein Schiff den Fluss hinabfahren,
so muss ich ruhig abwarten, um zu erfahren, was da kommen
6
^ 66 -
mag. Es ist an sich möglich, dass das Schiff immer weiter den
Fluss hinabfahren wird, es ist aber an sich ebenso möglich, dass
es plötzlich nach der entgegengesetzten Sichtung sich bewegen,
oder sich im Kreise drehen, oder gar in die Höhe fliegen wird.
Es ist auch denkbar und möglich, dass das Schiff ohne jede Ur-
sache bald so, bald anders sich verhalten wird. Was da aber
auch geschehen mag, so geschieht es ohne mein Zuthun, ganz un-
abhängig von der Richtung meiner Wahrnehmung, so dass ich auf
den Verlauf meiner Wahrnehmungen gar keinen Einfluss ausüben
und ich nur als imüssiger Zuschauer stehen und beobachten kann,
der Dinge harrend, die da kommen. Alle diese und noch andere
unzählige und unvoraussehbare Ereignisse, die da successiv in der
Zeit eintreten können, wären, weil von meiner Bestimmung der
Wahrnehmung unabhängig, wirklich und ihre Succession objektiv.
Da ich aber immer beobachtet habe, dass das Schiff, wenn nichts
dazwischen kommt, sich dem Laufe des Flusses entlang bewegt,
so werde ich nunmehr durch Gewohnheit, d. i. Association bestimmt,
eben nur diese Vorstellung von der Bewegung des Schiffes her-
vorzubringen, und da diese Vorstellung durch eine ausnahmslose
Association und durch Verbindung mit einer gegenwärtigen Im-
pression sehr stark und lebhaft auf mein Gemüt einwirkt, so
werde ich dadurch bestimmt, an ihre Wirklichkeit, d. h. an ihr
Wirklichwerden zu glauben. Wenn ich aber die Teile eines
Hauses successive apprehendiere, so fühle ich, dass die Reihen-
folge meiner Wahrnehmungen eben während des ^Wahmehmens von
mir selbst, von der willkürlichen Richtung meiner Augen abhängt.
Die Succession der Wahrnehmungen drängt sich mir nicht auf
unabhängig von mir, sie ist vielmehr durch meinen Willen bestimmt,
sie ist daher subjektiv, d. h. sie gilt bloss von der Thätigkeit
meines Wahrnehmens, die Teile des Hauses. aber können in jedem
Moment meiner Wahrnehmung von mir nach Willkür wahrgenommen
werden. Damit ist aber nicht gesagt, dass meine eigene Be-
wegung für meine Wahrnehmung nicht objektiv ist. Es handelt
sich nicht darum, ob ich den Verlauf der Erscheinung ändern,
sondern darum, ob ich den Verlauf der Wahrnehmung der Er-
scheinung nach Willkür bestimmen kann. Wenn ich die Be-
wegung des Schiffes nach einer bestimmten Richtung hin mitunter
selbst veranlassen kann, so kann ich doch den Verlauf der. Wahr-
nehmung eben dieser Bewegung nicht bestimmen. Dagegen kann
ich bei der Apprehension des Hauses den Verlauf meiner Wahi:-
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nehmung nach der einen, oder der andern Richtung hin bestimmen.
Es ist also nicht wie Kant meint, dass wir die objektive Succes-
sion von Erscheinungen nur daran erkennen können, dass wir die
Ordnung der Aufeinanderfolge der Erscheinungen als notwendig
im Sinne der Allgemeingültigkeit für alle Fälle und alle Zukunft
denken, sondern daran, dass wir fühlen, dass wir die Eeihenfolge
der Wahrnehmungen derselben nicht während des Wahrnehmens
selbst bestimmen können, sondern sie (die Eeihenfolge) sich uns
aufdrängt, wenn wir nur nicht die Augen schliessen, oder die
Ohren verstopfen. Wir erkennen daher die Eeihenfolge der Töne
einer Musik als objektiv, d. h. für den betreffenden Fall, obwohl
durchaus nicht für alle Fälle für unsere Wahrnehmung notwendig.
Bei der subjektiven Eeihenfolge der Succession hingegen fühlen
wir, dass sie (die Eeihenfolge) in dem gegebenen Falle selbst von
uns bestimmt wird, d. h., dass sie in dem gegebenen Falle selbst
sich uns nicht aufdrängt, sondern subjektiv von uns hervorge-
rufen tvird.
Zum Schluss möchte ich noch darauf aufmerksam machen,
dass die Grundvoraussetzung, auf welcher die ganze Beweis-
führung der Apriorität des Kausalbegriffes ruht, in der Allgemein-
heit, wie sie Kant behauptet sehr anfechtbar ist. Kant sagt:
„Die Apprehension des Mannigfachen der Erscheinung ist jeder-
zeit successiv. Die Vorstellungen der Teile folgen auf einander".
Diese Voraussetzung hat Kant eigentlich aus der psychologischen
Deduktion der reinen Verstandesbegriffe der ersten Ausgabe der
Kritik d. r. V. herübergenommen i). Kant wollte damit den Em-
pirismus vom Grund aus widerlegen. Er wollte zeigen, dass
selbst das letzte Element aUer Empirie, die einzelne Wahrnehmung
schon eine Verstandesthätigkeit in sich einschliesst. Der Ge-
dankengang Kants ist in aller Kürze ungefähr der folgende. Alle
Eindrücke, die uns die Sinnlichkeit zuführt, werden uns in der
Zeit gegeben, die Zeit aber besteht aus Teilen, die successiv auf
einander folgen. Um nun das einheitliche Bild eines Gegenstandes
zu bekommen, bedarf es der synthetischen Funktion deö Ver-
standes, welcher Einheit und Ordnung in das ungeordnete Mannig-
faltige der Sinnlichkeit bringt. Diese Funktion des Verstandes
besteht vor allem im Durchlaufen des Mannigfaltigen und im Zu-
sammennehmen desselben, welche Handlung Kant die Synthesis
1) Vergl. Kritik d. r, V., S. 116, Rectemsche Ausgabe.
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der Apprehension nennt. Ich glaube aber, der Empirist braucht
gar nicht diese Behauptung in dieser Allgemeinheit anzuerkenneD.
Wenn ein Gegenstand sich ganz in unserem Gesichtskreis befindet,
so ist ein Durchlaufen und ein Zusammennehmen des Mannig-
faltigen desselben von Seiten des Verstandes gar nicht notwendig,
um das einheitliche Bild eines Gegenstandes zu. bekommen. Wird
der Gegenstand längere Zeit betrachtet, so ist es allerdings
notwendig, dass wir uns der früheren Momente erinnern, um
ihn als denselben zu erkennen. Die Synthesis der Repro-
duktion und der Recognition wäre also höchstens nur not-
wendig, um ihn als denselben, nicht aber um ihn als Gegen-
stand überhaupt zu erkennen. Dieses letztere kann die Sinnlich-
keit jedenfalls in all den Fällen allein bewirken, wo ihr der ganze
Gegenstand auf einmal gegeben ist. Sind wir aber so weit, so
ist klar, dass wir die successiven Vorgänge und Veränderungen
an all dem, was sich in unserem Gesichtskreis befindet, als ein
objektives Geschehen erkennen können, ohne die Reihenfolge der
Succession dieser Vorgänge und Veränderungen für notwendig im
Sinne der Allgemeingültigkeit für alle Zukunft und alle Fälle
halten zu müssen. Es ist also gar nicht wie Kant meint, dass
die Apprehension des Mannigfaltigen der Erscheinungen jederzeit
successiv erfolgt, und dass die Vorstellungen der Teile immer auf
einander folgen. Wir können vielmehr gar oft einen Gegenstand,
wie z, B. ein Haus mit allen seinen Teilen auf einmal apprehen-
dieren und dabei feststellen, dass da keine Veränderung, kein Ge-
schehen vor sich geht, im unterschiede zur Wahrnehmung eines
den Flttss hinabfahrenden Schiffes, wo wir eine successive Ver-
änderung der Lage wahrnehmen, ohne dabei eine notwendige
Regelmässigkeit für alle ähnlichen Fälle annehmen zu müssen.
Wo wir aber die Gegenstände mit allen ihren Teilen nicht
auf einmal, sondern nur successive apprehendieren können und
zwar so, dass bei der Wahrnehmung des einen Teiles der andere
aus unserm Gesichtskreis verschwindet, da sind wir in der That
nicht imstande, so wird der konsequente Empirist sagen, mit
reinem Verstände darüber auszumachen, ob die Teile in dem Augen-
blick, wo wir sie nicht wahrnehmen, überhaupt noch existieren.
Und wenn wir sie auch nach einem Augenblick wieder wahrnehmen,
so kann unser Verstand bloss Ähnlichkeit, logische aber nicht
numerische Identität mit den frühem erkennen. Und wenn wir
sie im praktischen Lebe» ftls »umeri^cb identisch mit den früheren
» •
« •
«
• ••
• • • <
• ••
— 69 —
betrachten, so ist das nicht Sache des reinen Verstandes, der i
rüber gar nichts ausmachen kann, sondern bloss der Einbildun <
kraft, welche die vollkommene Ähnlichkeit, die logische Identii
aus psychologisch zu erklärenden Gründen, für numerische nin i
und den Dingen somit kontinuierliche und unabhängige Exist i
beilegt. Wenn wir nun die Teile eines. Gegenstandes, z. B. eij !
Hauses successive und wiederholt, in verschiedener Beihenfo ;
wahrnehmen, so erkennen wir durch reinen Verstand bloss i
vollkommene Ähnlichkeit der Teile des Wahrgenommenen von je \
und früher und die Ähnlichkeit des Verhältnisses der Ordnung ( i
Teile zu einander. Mehr aber als vollkommene Ähnlichkeit c \
Teile selbst und des Verhältnisses ihrer Ordnung zu einander ka
der reine Verstand in diesem Falle nicht erkennen. Die E :
bildungskraft ist es daher, die diese vollkommene Ähnlichkeit, ( i
ich logische Identität nenne, für numerische Identität nimmt u
den Teilen sowie dem Verhältnisse ihrer Ordnung zu einandi i
also ihrer Gesamtheit als einem ganzen Hause kontinuierliche ui
unabhängige Existenz beilegt. Nennen wir den oberen Teil d;
Hauses, das Dach A, das obere Stockwerk B und so weiter ti
zum Keller C, D, so finden wir, in welcher Reihenfolge wir au(
die Teile des Hauses apprehendieren, dass wir immer A neben B, I
zwischen A und C, C zwischen B und D u. s. w. wahrnehme]
während wir bei einem objektiven Geschehen, bei einer Begebei:
heit, eine solche Ordnung gar nicht in dieser Weise feststelle
können, weil die Teile der Begebenheit gleich wieder verschwinde
und wir nicht wissen können, ob in der Zukunft eine Begebenhei
mit ähnlichen Teilen dieselbe Ordnung im Verhältnis eben diese
Teile aufweisen wird.
Wir sehen nun, die Sache verhält sich gerade umgekehrt al
Kant meint. Bei der subjektiven Succession der Wahrnehmun,
befinden sich die Teile des Wahrgenommenen in einer bestimmte
Ordnung neben einander, die Wahrnehmung selbst, in welche
Reihenfolge sie auch erfolgen mag, steht daher in Bezug auf da
Verhältnis der Teile zu einander unter einer gewissen Regel de
Ordnung. Unsere Einbildungskraft legt daher dem Ganzen konti
nuierliche und unabhängige Existenz bei. Die Teile der Wahl
nehmung eines Geschehens, einer Begebenheit aber verschwinde:
nach einander, eine willkürliche Wiederholung, sei es in derselbe!
sei es in einer andern Ordnung, ist da nicht in gleicher Weis
möglich; wir müsse» daher das Ganze für eine Begebenheit, fü
~ 70 —
ein Geschehen halten, ohne behaupten zu können, dass es uns
immer in derselben Ordnung der Succession erscheinen wird.
Ziehen wir die Summe dieser Betrachtungen, so muss das
Resultat lauten: Die Kantische Beweisführung für die Apriorität
ebensowohl des Substanz-, wie des Kausalitätsbegriffes ist un-
haltbar und beruht auf Missverständnissen: so dass wir auch
die Frage, ob Kant in Bezug auf den Substanz- und Kausalitäts-
begriff Hume widerlegt hat, entschieden mit einem Nein beantworten
müssen.
■ I
^Separat abgedruckt aus den „Kantstudien^^ {herausgegeben von
H, Vaihinger und M. Schder, Verlag von Reuther & Reichard in
Berlin), Band Vlly Heft 213.
DnxA Ton G. A. Kaemmetar 9t Oo, Ball« a«8.
/
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