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Full text of "Hegel: der unwiderlegte Weltphilosoph : eine Jubelschrift"

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DER UNWIDERLEGTE WELTPHILOSOPH. 


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HEGEL 


UNWIDERLEGTE WELTPHILOSOPH 


EINE JUEELSCHRIFT 


er-fc. MrCHELET 


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LEIPZIG 
VERLAG VON DUNCKER & IIUMBLOT 




M 


VORWORT. 


Oollte der vorstehende Titel dieser Gelegenheitsschrift an- 
maassend erscheinen, so wäre einfach zu erwidern, dass er nur 
die reine schlichte Wahrheit, keine Phrase ist. Der Beweis da- 
von liegt in der Thatsache, dass seit vierzig Jahren, wie viele 
eintägigen Pygmäen sich auch daran gemacht haben, den hun- 
dertjährigen Riesen zu erklettern und zu überragen, sie alle 
jämmerlich an dem ehernen Panzer seiner Gedanken abgeprallt, 
und zerschellt von der Höhe seiner Schultern heruntergefallen sind. 

Ein Gedanke, der die Welt beherrschen und den HegePschen, 
welterkennenden und weltbewegenden, verdrängen möchte, kann 
nicht unter dem Scheffel bleiben. Wo verkriecht sich das System, 
das ihn widerlegt haben will? Sprecht Ihr von Widerlegung, so 
ist das eine Phrase, wie sie dem deutschen Manne nimmer an- 
steht, keine That. Hättet Ihr in der That die Festung unserer 
Philosophie erstürmt, so würde ich nicht die jetzt beliebte Pariser 
Phrase Euch entgegen schleudern, dass ich mich unter den 
Trümmern meiner Hauptstadt begraben lassen würde, bevor ich 
sie übergäbe; sondern ich würde willig Friede schliessen und 
Eurer Fahne folgen. Bis dahin erlaubt mir aber, kräftige Aus- 
fälle aus der uncernirten Festung, wie dieser einer ist, zu machen, 
und an der Wirksamkeit Eurer Belagerungskunst zu zweifeln. 

Hegel hat die Philosophie zur sich selbst beweisenden 
Wissenschaft erhoben, in welcher, wie in der Mathematik von 
Anfang an, kein Streit um Principien mehr Platz greifen kann. 


Dieser Punkt miisste angegriffen, diese Idee bekämpft werden. 
Und da dies unmöglich ist, weil, wie die alten Römer alle Gotter 
der zu erobernden Städte, so Hegel diePrincipien seiner Gegner, 
d. h. aller einseitigen Philosophien, in sein Heerlager gerufen und 
ihnen die Stätte bereitet hat ; so haben wir nunmehr nicht Eine 
Philosophie, zu der wieder eine neue hinzukommen kann, son- 
. dern d i e Philosophie gefunden. Was nicht hindert, dass in der 
Ausführung dieser Principien, ihrer Anwendung auf den breitem 
Stoff der Erfahrung, ihrer Durchbildung in allen einzelnen 
Wissenschaften, nicht Hegel und seine nächsten Nachfolger auch 
öfters Streit haben können und in der Zukunft der Geschichte 
nicht immer reichere Ergebnisse und Weiterführungen hervor- 
treten werden. 

Berlin, duii i6. Oclober 1870. 


Hegels Bedeutung für die Philosophie, 
den Staat und die Religion. 


Indem ich hier die Bedeutung Hegels für Philosophie, Staat 
und Religion darzulegen unternehme, begegnet mir sogleich der 
Einwurf, wie ich, der ich für einen der eifrigsten Freunde und An- 
hänger Hegels gelte, ein unparteiisches Urtheil über ihn zu fällen 
im Stande sei. Darauf erkläre ich denn, ehe ich in die Sache ein- 
gehe, dass, wenn ich Hegelianer bin, ich nicht minder Eleate, Hera- 
klitäer, Platoniker, Aristo teliker, Cartesianer, Spinozist, Leibnitzianer, 
Kantianer, Fichtianer und Schellingianer, — und wie die Aner alle 
heissen mögen, bin. Denn, um es mit einem Worte zu sagen, Hegel 
hat eben mit den Anhängern Eines Systems gründlich aufgeräumt, 
uns von der philosophischen Sektenbildung befreit, und, wie er 
selbst sagt, an seinem Theile daran mitgearbeitet, dass die Philo- 
sophie ihren Namen: Liebe zum Wissen, den ihr Pythagoras gegeben 
halben soll, ablegen könne,* um wirkliches Wissen zu sein. Hiermit 
sind wir aber sogleich zum ersten Punkte unserer Betrachtung gelangt. 


I. Hegels Bedeutung für die Philosophie. 

Die Bedeutung Hegels für die Philosophie erhellt am 
klarsten aus seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philo- 
sophie; denn hier stellt er selber die Art und Weise dar, wie er 
das Verhältniss der Philosophie zu ihrer Geschichte fasst. Die Gc- 

Michelet, Hegel. I 


schichte der Philosophie ist ihm nicht eine Gallerie der Verimingen 
oder Narrheiten des menschlichen Geistes, der sich dritthalb Jahr- 
tausende mit der Findung (Jer Wahrheit abgequält habe, um am 
Ende, wie der Goethische Faust, zu der Einsicht zu kommen, dass 
wir nichts wissen können. Die Philosophie ist kein Fass der Da- 
naiden, aus welchem das Wasser des Lebens unten immer wieder 
abfliesst Sie ist keine Sehnsucht des Tantalus, der vergebens nach' 
der immer zurückschnellenden Frucht der Erkenntniss greift. Die 
Wissenschaft ist ein majestätischer Dombau, dessen innerstes Heilig- 
thüm die Philosophie einnimmt, wie die von Cherubim bewachte 
Lade des Herrn im Tempel Salomonis. Wie jedes Volk in der 
Weltgeschichte seine Mission vom Weltgeist erhalten hat, die es 
siegreich durchftlhrt, z, B. der Römische Staat die i^usbildung des 
Privatrechts, der Preussische die Einigung Deutschlands (und wir 
sehen, welche grosse Schritte wir seit 1866 dahin machen): so ist 
auch jedem System der Philosophie seine Aufgabe im Reiche des 
Wissens zugetheilt. Jedes fördert eine Seite der Wahrheit zu Tage. 
Und von Zeit zu Zeit kommt ein grosser Genius, der diese vereinzelt 
gepflückten Blumen zu einem vollen Strausse zusammenwindet. 
So Plato und Proklus im Alterthum, Leibnitz und Hegel in der 
neuern Zeit. 

Wenn nun jedes einseitige System darum untergeht, weil es 
eben nur Eine Seite der Wahrheit darstellt, also von seinem Nach- 
folger widerlegt wird, wie Hegel selber aus der Schrift anführt 
«die Füsse derer, die dich hinaustragen werden, stehen schon vor 
der Thür»: so ist es auch nicht widerlegt, weil es eine bleibende 
Seite der Wahrheit bildet. Und besteht dann das System eines 
Philosophen gerade darinj die einzelnen Blumen in den allgemeinen 
Kranz der Wahrheit einzuflechten, wie kann es da widerlegt werden? 
Wo sind die Füsse derer, die Diesen hinaustragen werden? Merk- 
würdigerweise sind auch die meisten PKilosophen schon bei il^en 
Lebzeiten widerlegt worden. Wer hat aber Hegel 40 Jahre nach 
seinem Tode hinausgetragen ? Es melden sich zwar viele: Herbart, 
Krause, Schopenhauer, um nur die bekanntesten hervorzuheben. 
Aber noch ist kein Genius erstanden, der über ihn hinausgegangen 
wäre. Und nur ein Genius könnte einen Genius widerlegen. Hegel 
ist aber unangreifbar, weil er kein einseitiges System der Philosophie 
aufgestellt, sondern die Wahrheit eben nur in der Totalität der ein- 
zelnen Seiten erbUckt hat. Käme also Einer nach ihm, noch eine 


. — 3 — 

Blume dem reichen Strausse anzureihen, er hätte Hegel nicht wider^ 
legt, sondern unterstützt, und freudig würden wir ihn als den 
Unsrigen begrüssen. 

Diese hier entwickelte Ansicht über die Geschichte der Philo* 
Sophie ist übrigens nicht von Hegel allein aufgestellt, sondern im 
Keime schon bei Aristoteles imd Leibnitz vorhanden, mit klarem 
Bewusstsein dann von Schelling ausgesprochen, aber erst durch 
Hegel in seiner Darstellung der ganzen Geschichte der Philosophie 
bewiesen worden. Aristoteles sagte, es sei schwer für Einen die 
Wahrheit zu finden, leicht für Alle, sie nicht zu verfehlen. Selbst 
diejenigen, welche irrten, brächten uns auf die richtige Bahn, indem 
wir lernten, diese Irrthümer zu vermeiden. Leibnitz stellte dann 
den Satz auf, ,er habe gefimden, dass die meisten Philosophen nur 
in dem irrten, was sie leugneten, nicht in dem, was sie behaupteten, 
d. h. die Eine Seite der Wahrheit, die sie bejg,hten, war richtig, — 
nur hätten sie die andere nicht verkennen sollen. Endlich bemerkt 
Schelling, die Wahrheit sei nur Eine vom Ersten an, der sie auf- 

9 

gesteDt; aber sie erscheine in mannigfaltigen Formen, die unvoll- 
kommener oder vollkommener seien. Die Wahrheit werfe sich in 
allen Formen herum, bis sie die absolute Form gefunden; das sei das 
Gesetz jeder Entwickelung. Was diese absolute Form oder Methode 
sei, hat Schelling aber nie mit Sicherheit anzugeben vermocht, und 
sein ganzes Leben hindurch nach dieser absoluten Form gesucht, 
ohne sie zu finden. Bald ergriif er die mathematische Methode, 
bald die construirende, bald den Dialog, bald warf er jede Fessel 
ab; bei keiner Methode hat er sich beruhigt, keine genügte ihm. 

Diese absolute Methode hat nun Hegel aufgestellt. Das 
ist sein bleibendes Verdienst in der Geschichte der Philosophie; 
und dadurch ist er unwiderleglich. Er sagt, er wisse, dass diese 
Methode die wahre sei, einfach aus dem Grunde, weil sie nichts 
Willkürliches, nichts von Aussen an ihren Gegenstand Gebrachtes, 
sondern nur die Selbstbewegung der Sache selbst ist. Die Methode 
ist der Rhythmus des sich selbst erzeugenden Inhalts, der Pulsschlag 
des Lebens der Welt. Hegel nannte diese Methode die dialek- 
tische; und Schelling, der immer aufgriff, was Andere vor ihm ent- 
deckten, sprach daher in seiner letzten Zeit von einer Weltdialektik. 
Das Rollen der Gestirne in ihren Bahnen, die chemische Verwand- 
lung der Stoffe, den Umlauf des Blutes im thierischen Organismus 
können wir als Beispiele dieser Weltdialektik in der Natur, die 

I* 


— 4 — 

Entwickelung der Weltgeschichte als ein solches im Geiste an- 
sehen. 

Es ist daher durchaus falsch, wie es Trendelenburg gethan 
hat, die genetische Methode der dialektischen entgegenzusetzen. 
Die genetische Methode ist die Entwickelung der Thatsachen aus 
den Thatsachen, die dialektische die der Gedanken aus den Ge- 
danken. Wenn wir aber mit den Worten des Johannes sagen: „Am 
Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott und das Wort 
war Gott, und durch das Wort sind alle Dinge geworden," so kommt 
es nur darauf an, defn richtigen Sinn dieses Spruches aufzufinden, 
um uns von der Coincidenz der dialektischen und der gene- 
tischen Methode zu tiberzeugen. Schon Goethe sagt im Faust: 

I 

Ich kann das Wort so hoch nicht schätzen; 
Ich muss es anders übersetzen, 
Wenn ich vom Geist erleuchtet bin. 

Nachdem er auch verworfen, dass der koyog als Kjaft wieder- 
zugeben sei, ruft er zuletzt aus: 

Ich schreibe getrost: Am Anfang war die That. 

Das läuft ungefähr auf die Erklärung Philo 's, die er von der 
Stelle des alten Testaments giebt: „Gott sprach es werde Licht, und 
es ward Licht" hinaus. Gottes Rede, sagt Philo nämlich, ist seine 
That. Die Gedanken, als die Quelle der Thatsachen, erkennen diese 
als ihnen entsprechend. Wenn die dialektische Methode die Wahr- 
heit als die Gedankenentwickelimg aus sich selbst erzeugt, so findet 
sie sich in der genetischen Methode, welche die Selbstbewegung 
der Thatsactien aus sich selber ist, wieder. Es ist Vernunft in der 
Welt, es geht vernünftig in ihr zu. Was Wunder, dass die Vernunft 
sich in der Welt wiedererkennt, wie Adam in Eva, die aus seinem 
Fleische genommen. Die Vernunft ist nicht ohnmächtig; sie hat 
die Kraft, sich in der Welt geltend zu machen. Und schon Spinoza 
sagte daher: „Die Reihe imd der Zusammenhang der Ideen sind 
dieselben, als die Reihe und der Zusammenhang der Sachen"; nur 
unwesentliche Abweichungen können zwischen beiden Gliedern des 
Universums stattfinden, insofern die Thatsachen in Raum und Zeit 
sich auszulegen haben, und zufällige Umstände dieselben retardiren 
oder beschleunigen können, während die Gedanken mit ewiger Noth- 
wendigkeit aus einander fliessen. Diese Identität des Subjectiven 
und des Objectiven, als den obersten Grundsatz der Philosophie, 


— s — 

hat nun Hegel durch seine Methode bewiesen, und zwar auf fol- 
gende Weise. 

Es ist die ursprüngliche Natur des Gedankens, dass jeder Satz 
auf seinen Gegensatz hinweist, ja ihn fordert und erzeugt Les 
extreme s 'se iouchentj sagt das französische Sprichwort, und in der 
Politik z. B. ist es bekannt, dass aus der Anarchie der Despotismus 
entspringt Auf dem Gebiete der Logik ist das Sein dem Nichts 
entgegengesetzt, und wir werden ims nicht überzeugen lassen, dass 
sie nicht schlechthin entgegengesetzt sind. Ebenso sind sie aber 
auch dasselbe. Denn Sein ist nur die Negation jedes bestimmten 
Seins; es ist nur das allgemeine Sein ohne weiteren Inhalt Gerade 
das ist das Nichts aber auch. Man muss von allem einzelnen Sein 
abstrahiren, um das Nichts zu gewinnqp; es bleibt nur der allge- 
meine Gedanke übrig, der nichts Bestimmtes denkt Das ist aber 
wiederum das Sein auch. Als Gedanke ist das Nichts gleichfalls, 
und das Sein hat ebenso nur als Gedanke Sein; denn in Wirklich- 
keit giebt es nur bestimmtes Sein. Wir sind also beim Widerspruch 
angekommen, Sein und Nichts als dasselbe und zugleich als nicht 
dasselbe zu denken. H^el bleibt aber nicht beim Widerspruch stehen, 
wie man ihm vorgeworfen, sondern geht zu seiner Auflösung über. 

Halten wir nun jeden Gedanken für sich in seiner Einseitigkeit 
fest, so nennen wir dies Denken das verständige, welches, als 
Dogmatismus, auf der Disjunction des Entweder-Oder beruht 
Zeigen wir aber, wie an jedem sein Gegentheil hervorbricht, in das 
er also untergeht, so haben wir die negativ- vernünftige oder 
dialektische Thätigfeeit des Denkens, — das Weder-Noch des 
Skepticismus. Lösen wir endlich den Widerspruch auf, indem 
wir ein Drittes finden, worin z. B. Sein und Nichts ihre Gegensätze 
ineinander umschlagen lassen, so haben wir die positive Thätig- 
keit der Vernunft oder das speculative Denken, welches sich 
der Bindewörter Sowohl- Als auch bedient Diese Einheit von 
Sein und Nichts ungeachtet ihres bestehenden und nach dem Ver- 
schwinden wieder hervorbrechenden Gegensatzes ist das Werden, 
als Entstehen, wo Nichts zu Sein, imd Vergehen, wo Sein zu 
Nichts wird. Das Werden ist das Dritte, worin Sein imd Nichts 
ihre Wahrheit finden, darin ebensowohl aufgehoben als aufbewahrt 
sind. Dieses Dritte ist aber wieder ein Erstes, worin neue Gegen- 
sätze enthalten sind, bis wir zu den höchsten Gegensätzen Subject- 
Object, und ihrer Einheit kommen. 


— 6 — 

Ein anderes Beispiel ist der Gegensatz des Endlichen und 
des Unendlichen. Das Unendliche ist die Negation des End- 
lichen. So ist es ein rein negativer Begriff, das blosse Hinaus- 
gehen des Endlichen über seine Grenze. Diese Negation eines End- 
lichen ist aber nur das Anlangen bei einem anderen Endlichen; 
denn wo das Eine aufhört, fängt das Andere an, — und so fort in's 
Unendliche. Das Unendliche ist nur der Fortschritt des Endlichen 
zu immer neuen Endlichkeiten, der nie endet. Das Unendliche, als 
die Reihe der Endlichkeiten in's Unendliche, ist selbst ganz inhalts- 
los, und findet nur am Endlichen seinen Inhalt Diese Unendlich- 
keit nennt Spinoza die Unendlichkeit der Einbildungskraft, Hegel 
die schlechte Unendlichkeit oder, nach einem Aristotelischen Aus- 
druck, den Progress in's Ui^ndliche, ßdöiöig slg aotsiQOV. Wenn 
so das Endliche sich durch dieses rastlose Streben zum Unendlichen 
erheben will, so negirt es sich zwar in*s Unendliche selbst, giebt 
seinen jedesmaligen Inhalt auf, um einen anderen anzunehmen, ohne 
je das Unendliche zu erreichen. Das Unendliche ist aber, wie wir 
gleich Anfangs gesehen haben, diese selbe Negation des Endlichen; 
wir haben zwei absolute Negationen, die einander gegenüberstehen, 
wie vorhin Sein und Nichts. Das Endliche negirt stets sich selbst, 
um unendlich zu werden. Das Unendliche, indem es durch das 
Erzeugen einer neuen Endlichkeit sich selbst negirt, wird dadurch 
endlich. Beide Seiten sind unendlich und endlich zugleich: endlich 
weil sie einander begrenzen und ausschliessen, unendlich, weil jedes 
über seine Grenze hijiausgeht Diesen Widerspruch haben wir zu 
denken und damit aufzulösen. Indem nämlich das Unendliche die 
Reihe aller Endlichkeiten ist, so enthält es sie alle in sich, aber 
nicht nur als eine Summe; sondern weil jedes Endliche unaufhörlich 
zu andern Grenzen und anderem Inhalt übergeht, so enthält jedes 
die ganze Fülle des Inhalts, also die Unendlichkeit in sich. Jedes 
Endliche ist in seiner Grenze Darstellung des Unendlichen. Das 
Unendliche ist das Wesen, das in jedem Endlichen zur Erscheinung 
kommt: das Unendliche der Vernunft, wie Spinoza sagt 

Ebenso ist die Zeit nicht jenseits der Ewigkeit, noch diese 
jenseits der Zeit, weil sie dann einander begrenzen würden, und die 
Ewigkeit eben durch dies Auseinanderhalten selbst zur begrenzten 
Zeit herabfiele. Die Ewigkeit ist also die wahre Unendlichkeit, die 
nicht nur in jedem endlichen Inhalte, sondern auch in jedem ver- 


gänglichen Zeitmomente als das Ganze erscheint; sie ist das Unver- 
änderliche im Veränderlichen. 

Kommen wir, nach diesen Vorausschickungen, nun auf die 
eigentliche Bedeutung Hegels für die Philosophie, so hat er das haupt- 
sächliche Verdienst, indem er sie durch Dialektik zum wirklichen Wissen 
erhob, sie zu einer sich selbst beweisenden Wissenschaft gemacht 
zu haben. Denn weil er in der Logik die Reihe der reinen Ge- 
danken des Seins vom Sein selbst bis zum Subject-Object oder der 
Idee, kraft der dialektischen Methode, auseinander entwickelt, zeigt, 
er in diesen reinen Gedanken, welche als diamantenes Netz die Welt 
umspannen, und das innerste Wesen derselben bilden, dass sie die 
Reihe der Definitionen des Absoluten sind. Indem jede dieser Defi- 
nitionen dann das Grundprincip Eines historischen Systems der Philo- 
sophie ist, so entwickelt Hegel in seiner Geschichte der Philosophie, 
wie diese einseitigen Systeme, die bei den verschiedenen Völkern und 
in verschiedenen Zeiten genetisch auseinander entspringen, das wahre 
System der Philosophie ausmachen, wenn auch die einzelnen Systeme 
in etwas anderer Ordnimg, als die logischen Kategorien, dialektisch, 
aus einander 'abgeleitet werden. * 

Diese Parallele zwischen Logik und Geschichte der Philosophie, 
zwischen genetischer und dialektischer EntwickeluAg der Wahrheit 
haben wir mm in der Kürze zu ziehen, wenn wir erstens die Be- 
deutung Hegels für die eigentliche Metaphysik recht in's Klare 
setzen wollen; worauf wir zweitens die Anwendung dieser Logik auf 
die Naturphilosophie, drittens auf die Geistesphilosophie zu betrach- 
ten haben werden. 

A. Bedeutung Hegels für die Logik und Metaphysik. 

« 

I. Wenn wir die Jonier und die Pythagoreer, welche den An- 
fang in der Geschichte der Philosophie machen, weglassen, weil sie 
sich eben noch nicht zum reinen Gedanken erhoben haben, Wasser, 
Luft, Materie, Zahl als das absolute Princip setzten, so ist der 
Eleate Parmenides der Mensch, in welchen zuerst der Blitz des 
reinen Gedankens einschlug. Er sagte, das Sein sei das Absolute. 
Es sei nichts, als das Sein, auch der Gedanke sei das Sein, und 
das Nichts sei nicht, weil eben Alles Sein sei. So beginnen wir 
auch in der Logik mit dem Sein, als ihrer ersten Stufe, weil es 
der ärmste, noch ganz unmittelbare, also keines Beweises bedürftige 


— 8 — 

Gedanke ist Und Jacobi fasst die Spinozistische Philosophie so 
auf, als habe sie Gott zum Sein in allem Dasein gemacht 

Auf das Sein folgt dann das Nichts, als der zweite Gedanke, 
der Gedanke de? Gegensatzes, der Zerrissenheit, der daher unfähig 
ist, eine Kategorie und Definition des Absoluten zu sein. Oder 
wenn es zu einem solchen erhoben wird, so gehört diese Definition 
einem untergeordneten Principe der Philosophie an, wie dem Skep- 
ticismus oder dem Kriticismus, welche die Erkennbarkeit des Ab- 
soluten leugnen. Zeno, der Schüler des Parmenides, hat aber im 
wahrhaftem Sinne das Nichts zum Princip gemacht, und ist .dadurch 
der Erfinder der Dialektik geworden > indem er sagte, dass, wenn 
man Parmenides lächerlich gemacht habe, weil derselbe das Sein 
als das Einzige behaupte, er zeigen wolle, dass es noch viel lächer- 
licher sei, das Viele anzunehmen, indem es sich stets in Widersprüche 
verwickele, imd so sich selbst ins reine Sein auflöse. Dies weist er 
z. B. an der Bewegung nach, welche eben nur die Succession des 
Vielen ist; ihr Widerspruch bestehe aber darin, dass sie nur eine 
Aufeinanderfolge vieler Rühepunkte sei, — denn der fliegende Pfeil 
stehe in jedem Punkte, den er aurchläuft, still. 
J iL - ^Uä Wenn es aber einseitig ist, entweder das Sein oder das Nichts 
^^;A',J an die Spitze der Wahrheit zu stellen, wie Parmenides und Zeno 
thaten, so ist, wie wir bereits gesehen haben, die volle Wahrheit 
das Sowohl-Als-auch dieser Gegensätze, das Werden. Das Werden 
ist auf diesem Standpunkte das Absolute: der stete Fortschritt, die 
unaufhaltsame Entwickelung, die ewige Bewegung. In der Geschichte 
der Philosophie hat Heraklit zuerst diesen Grundsatz ausgesprochen. 
Er hat zuerst Gegensätze positiv verknüpft; er ist der erste speculative 
Philosoph. Bei ihm, sagt Hegel, kann man „Land" ausrufen. Nichts 
steht still, sagte er. Alles rückt; und so verglich er das Universum 
mit einem nach ewigen Gesetzen stets erlöschenden, stets sich wieder 
entzündenden Feuer, , — mit einem stets sich fortwälzenden Strome, 
in dessen Wasser man nicht zweimal einschreiten könne. „Nicht ein- 
mal," riefen bald darauf seine Schüler, ihn verbessernd, aus, weil 
während des Einschreitens das Wasser schon dem Ocean zugeflossen ist 
Wenn Alles aber diesem ung^ufhörlichen Wandel unterworfen 
ist, so ist nichts Festes ausser dem Wandel, dem Strömen selbst 
Dieser ewige Wandel ist selbst das Unwandelbare, das Eine Feste, 
was sich erhält im allgemeinen Entstehen und Vergehen. Diese 
Unwandelbarkeit des Einen hielt* Xenophanes fest, und sagte. 


— 9 — 

alle diese vorübergehenden Gestalten sind nicht das wahre Sein. Nur / 
das unwandelbare Eine ist; dies Eine in Allem ist der Gedanke der ( 
Welt, der allein in ihr lebt und webt. So haben wir hier die All- 
Eins-Lehre, die erste Form, in welcher der Pantheismus, aber ein 
Pantheismus des Gedankens auftrat; imd das ist eine sehr richtiget 
Seite der Wahrheit, die ein bleibendes Moment im totalen Systeme : 
ist Göschel, ein sehr eifriges Mitglied der rechten Seite der ! 
Hegel'schen Schule, nannte es den Monismus des Gedankens. 

Es ist aber wieder eine irrthümÜche Auffassung des Xenophanes, j 
das Eine als ruhend und als das allein Seiende auszusprechen. Es; 
ist eben nur das Eine, weil es die Thätigkeit des Einigenden ist,j 
Um zu einigen, um sich als das Unwandelbare zu erhalten, muss | 
es das Wandelbare stets auflösen, und um es auflösen zu können,' 
stets hervorbringen. Jedes aus dem ' Werden entsprungene Wandel- s 
bare hat auch die Bestimmung, wieder unterzugehen. ' 

Denn Alles, was entsteht, ■' 

Ist wertb, dass es zu Grunde geht. '[ 

Das Gewordene, welches wir einen Augenblick als dauernd 


festhalten, ist ein ruhiges Sein, dem aber der Wandel, die Negation, dasj 
Verderben schon im Nacken sitzt! Ein solches Sein nennen wir nun^ 
ein Dasein, eine Bestimmtheit; es ist Dieses und nicht Jenes, 
es ist Etwas. Das, was es nicht ist, ist auch; es ist ein Anderes. 
Eins negirt das Andere, eins ist die Grenze des Andern. Un 
diese Grenze macht sowohl das Sein des Etwas aus, als sein Nicht-| 
sein; es ist, was es ist, nur durch seine Negation. Als dieses be- 
stimmte Sein, und nichts Anderes als dieses, ist es Qualität: als 
das Nichtsein an ihm habend, negative Qualität oder Beraubung 
nach Aristoteles. Daher haben die Pythagoreer ebenso Recht,' 
als Quelle des Seins die Grenze (den oQog) zu bezeichnen, wie 
Spinoza, wenn er sagt: Die Bestimmtheit ist Negation {determi- 
natio est negatio). Und Jacob Böhme verbindet beide Gedanken, 
indem die Qualität ihm sowohl die Quelle ist, aus welcher die 
Dinge qualliren, d. h. quellen, als die Qual, in welche sie ein- 
geschlossen sind. Und wenn Egmont von der Heiterkeit des Da- 
seins spricht, so besteht der Fl^ch des Daseins in diesem seinem 
Eingeschränktsein. 

Haben wir das Wandelbare, in welchem das Eine sich un- 
wandelbar erhält, bisher von der Seite seiner Endlichkeit be- - 
trachtet, so. müssen wir jetzt seine andere Seite herauskehren, da 


; 


tf _.;„ w.-t "AMidv in ihm zurDarstel- 

I . , Ä >iirsttn, da endet, wo ein An- 

,_^i«. i^ «ine negative Qualität zu- 
. >., ic s nicht nur ruhend in seiner 
^ ,^fc.v-i sesne Beraubimg, als der Trieb, 
^„ ^ -^.r^^taileln, macht, dass Etwas seibat 
•v.^* cröwe, als seiendes Nicht-Dasein, ist 
,--,.«^ ii^i so fort in's Unendliche. Es ist 
...-v -•■•^ etnnial oder immer sagen. So ist die 
^j^.,»> xtCTvxJien; es hat zwei Seiten. Seiner Be- 
._ , ,J^..i *• « nur dieses Bestimmte. Da es aber auch , 
VW i>*; ;»Jx eine Unendlichkeit von N^ationen in sich 
.V » tMit~^ eine nach der andern in's Dasein treten, so 
^,^^_x-\i,<^t seine Bestimmung. Durch seine Verän- 
jk,.*;: •»!*> das Endliche seine höhere Bestimmung, kann 
-,v *N.-* oivhi zur Realität bringen, weil es in seinem Dasein 
..»,■< :i-T Eine Bestimmtheit zeigt Die Unendlichkeit, als 
^v»c (ttsttiwn"«^. 'St also nur ein Sollen, während seine End- 
V^«l nun allerdings nicht mehr als Grenze, sondern als Schranke 
crs<.~hetnl. il. h. als eine Grenze, die aufgehoben werden soll. , 
K«iH und Fichte stehen mit ihrer Moral auf diesem Standpunkt 
Jes Sollens. l>er Mensch ist immer in einer Schranke befangen, 
und ilas Aufheben jeder Schranke ist nur das Erzeugen einer neuen. 
Pas Dasein wechselt also nur zwischen zwei Zuständen, die es 
nicht zu verbinden im Stande ist Als Endliches geht es über 
seine Schranke hinaus, zum Unendlichen, hat damit aber nur ein 
anderes Endliches erreicht, ohne je zur wahren Unendlichkeit zu 
gelangen. Weil diese schlechte Unendlichkeit eine blos negative, 
nur die N^ation des Endlichen ist, so haben die Pythagoreer 
Recht gehabt, das Ji^gag, die bestimmende Grenze, der un- 
bestimmten Unendlichkeit (cütwpor) vorzuziehen. 

Die Rettung aus diesem Strudel des unendlichen Progresses ist 
aber, die zwei Gedanken, die darin nur abwechseln, zusammenzu- 
bringen, wie alle Philosophie und Dialektik nur ein solches Zusam- 
menbringen getrennter Gedanken ist, auch schon nach Plato. Weil 
jedes Endliche, indem es sich verändert, zu einer neuen Schranke 
Übergeht, über diese wieder hinausgeht und so fort in's Unaidliche, 
so verwandelt es seine negativen Qualitäten mit jedem Setzen einer 
Schranke in positive. Die Bestimmung bleibt also nicht etwas, das 


II 


blos sein soll, ohne zu sein, sondern realisirt *sich mit jeder Ver- f 
änderung. Umgekehrt wird die Schranke, die ist und nicht sei» 
soll, in der That aufgehoben. Die Aufhebung der Schranke, als 
der ersten Negation des Unendlichen, ist also eine Negation der 
Negation, das Unendliche daher, als das Unbeschränkte, die 
wahre Affirmation. Das Unendliche ist die eigene Bestimmung 
des Endlichen, die in jeder Schranke nur zu sich selbst kommt. 
Die Negationen, sagt daher Proklus, sind nicht mehr privative, 
sondern erzeugende. Das Unendliche ist also die Selbstbestim- 
mung des Einen, das in jedem Endlichen sich selbst als das 
Eine, Unendliche wiederfindet; d. h. das Eins erzeugt sich in's Un- 
endliche als viele Eins. Das ist nun der Standpunkt Leucipps 
und Demokrits, die in Men Atomen unendlich viel Principien 
annahmen. UndLeibnitz sagt in seiner Monadenlehre dasselbe, 
wenn er in jeder endlichen Monade die ganze Weltvorstellung an. 
sich oder als eine dunkele vorhanden annimmt. 1 

Indem Leibnitz dann femer behauptet, dass in der Motiade der 
Monaden die an sich seiende Totalität der Weltvorstellung eminent 
vorhanden ist, ^o hat sein Schüler Wolf diese Totalität so gefasst, 
dass er Gott als den Inbegriff aller Realitäten definirte. Beide 
haben aber damit eigentlich eine neue Kategorie an die Stelle des 
Einen und des Vielen zum Principe gemacht In der That, wenn 
jedes der Vielen selber das Eine ist, so sind sie nicht unterschieden 
von einander. Weil jedes Eins ist, ist es ebenso das Erzeugende, 
als das Erzeugte des Andern; sie bilden zusammen das Eine Eins, 
oder Alle sind eins. Diese Kategorie der Allheit oder Totali- 
tät hat der französische Materialismus des i8. Jahrhunderts 
z\^ Le grand taut ausgesprochen und damit pantheistisch die All -Eins- 
Lehre aufgestellt, während wir die All- Eins -Lehre des Xenophanes 
lieber als Monismus des Gedankens fassen möchten. 

Der Gedanke der Allheit enthält nun den neuen Widerspruch, 
dass in ihm die Vielen ideell sind, und er zugleich diese Idealität 
nicht festhalten kann. Die Allheit ist die Rückkehr des Vielen zur 
Einheit, aber indem der Einheit die Vielheit nothwendig ist, so ist das 
Viele vielmehr der überwiegende, die Einheit ergänzende und sie 
dadurch erst realisirende Begriflf. 

Einsam war der grosse Weltenmeister, 
Fühlte Mangel. Darum schuf er Geister, 
Sel'ge Spiegel seiner Seligkeit 


/ 


12 

Fand das höchste Wesen schon kein Gleiches, 
Aus dem Kelch des ganzen Wesenreiches 
Schäumt ihm die Unendlichkeit. 

Das Eine ist also ohne die Vielen nicht die Unendlichkeit, 
gewinnt dieselbe erst in den Vielen. Und die Allheit ist daher 
wesentlich nicht Einheit, sondern die Selbstständigkeit der Vielen, 
deren jedes eben dadurch selbstständig wird, dass es selbst ein Eins 
ist, nicht blos vom Einen Eins abhängig bleibt Diese Selbststän- 
•digkeit der Vielen in der Allheit macht sie zu gleichgültigen Ein- 
heiten gegen einander. Jedes ist ganz dasselbe, was das andere, 
und doch schhesst zugleich jedes das andere aus. Jedes hat an 
' dem andern eine Grenze, aber jenseits der Grenze ist das Eine 
ebenso wie diesseits derselben. Die firenze der Vielen ist also 
eine gleichgültige Grenze, — eine Grenze, die keine ist. Dieses Eins, 
das am Eins keine Grenze hat, ist also ein von seiner Grenze 
unabhängiges Sein; es ist dasselbe Sein von beiden Seiten der 
I Grenze. Das nennen wir nicht mehr Qualität, wo die Grenze eben 
Idas Sein ausmacht; diese gleichgültige Grenze, diese Grenze, die 
/keine ist, heisst die Quantität, eine neue Kategö!ie, welche zur 
] Bezeichnung des Absoluten dient. 

Die Quantität ist dieser Widerspruch, dass sie die Unendlich- 
keit stets in sich schliesst; sie ist das Viele, das immer neues Viele 
erzeugt Die Quantität kann daher, als Continuität in's Unend- 
liche, ihre Grenze überschreiten. /Dieses Ueberschreiten hilft ihr 
aber nichts, da sie in jedem neuen Vielen nur eine neue Grenze 
erreicht, und so Discretion ist In der unendlichen Continuität 
ist stets die discrete Grenze erhalten; jede Discretion continuirt 
sich aber auch über sich hinaus. Wie also in der Discretion die 
Unendlichkeit der Continuität die Endlichkeit an sich hat, so hat 
die Endlichkeit der Discretion das Unendliche in sich. Die End- 
lichkeit und die Unendlichkeit sind einander immanent, und doch 
fallen sie noch als zwei Grössen auseinander. Die Continuität ist 
das unendlich Grosse, was aber nur sein soll, weil immer noch ein 
weiteres Hinausgehen angenommen werden kann. Die Endlichkeit 
der discreten Grenze, die überall von der Continuität gesetzt wer- 
den kann, ist das unendlich Kleine, das aber ai\ch nur sein soll, 
weil jedes kleinste Discrete noch continuirlich ist > 

Wenn wir an der Zahl der Pythagoreer den reinen Gedanken 
herausheben, der in ihr steckt, so haben die Pythagoreer die 


— 13 — 

Quantität zum absoluten Princip gemacht Und dass sie dies ge- 
than, sagt uns Aristoteles ausdrücklich, indem sie nicht die Zahlen - 
als solche, sondern ihre Principien zu obersten Definitionen des 
Absoluten gemacht hätten, das Bestimmte und das Unbestimmte, das 
Eins imd das Viele; was sie auch als Einheit und unbestimmte 
Zweiheit bezeichneten. Auf directere Weise hat Sehe Hing die 
Quantität zum Princip aller Dinge erhoben, indem er sagte, dass 
Alles nur Metamorphose Eines Urtypus sei, und alle Unterschiede 
dieses Urtypus nur quantitative Differenzen bildeten. Es ist 
aber dies nicht nur eine Ansicht der neuem Philosophie, sondern 
auch der neuem Empirie, wenn sie den qualitativen Unterschied 
des Wassers und des Goldes z. B. nur in einer grössern oder 
geringem Quantität der Poren und Atome sieht Und im Gmnde 
ist diese Lehre zugleich uralt, indem die durch Verdichtung 
und Verdünnung hervorgebrachten Unterschiede der Dinge bei den 
Joniern, femer die atomistische Weltbildung Leucipps auf blosse 
Unterschiede der Quantität hinauslaufen. 

In diesem hohen Werthe, der der Quantität beigelegt wird, 
ist aber zugleich ihr Uebergehen in eine neue Kategorie gegeben. 
Alle diese Systeme machen die Quantität zur Quelle der Qualität 
Und das ist eigentlich auch schon im Begriff der Quantität ent- 
halten. Denn wenn sie die Unendlichkeit ist, die* in jeder neuen 
Grenze auch über sich hinausgeht, so ist sie als Setzen einer neuen 
Grenze auch ein Setzen einer neuen Qualität Diese Qualität hat 
aber die Quantität wieder in sich, bleibt eine gleichgültige Grenze, 
bis an einem gewissen Punkte die neue Quantität auch wieder eine 
neue Qualität setzt Solche Quantität, die in einer neuen Grenze 
eine neue Qualität enthält, ist der Grad, worin die Qualität selbst 
indessen noch etwas blos Quantitatives bleibt: der neunzehnte Grad 
unterscheidet sich vom zwanzigsten nur durch eine quantitative 
Verschiedenheit der Extension, oder durch eine quantitativ ver- 
schiedene »Intensität des Gefühls; z. B. bei Wärme-Graden. 
Wegen ihres Begrenztseins sind die extensive tmd die intensive 
Grösse endliche Quantitäten oder Quanta. Im Grade sind sie 
zwar verbunden, aber ohne ihre Endlichkeit aufzugeben. Jede ex- 
tensive Grösse ist auch intensiv, kann immer noch extensiver und 
weniger intensiv, oder intensiver und weniger extensiv werden, ohne 
eine qualitativ andere zu werden. Dunkelblau wird, durch Wasser 
verdünnt, hellblau. Dieselbe Qualität wird quantitativ verschieden. 


— 14 — 

Aber wo ist die Grenze, mit welcher die Qualität zu qualitativ 
verschiedenen Qualitäten wird? Weil die Grenze gleichgültig ist, 
tiberschritten wird, so kann überall die qualitative Differenz ange- 
nommen werden. Der zwanzigste und der einundzwanzigste Grad 
der Wasserwärme können für blos quantitative DifFerenzen ange- 
sehen werden. Der nullte und achtzigste sind als Eis und Dampf 
aber gewiss qualitative Unterschiede. 

Dieser Fortschritt ist der Fortschritt des Grades zum Maasse. 
Das Maass ist eine Quantität, die unmittelbar die Qualität an sich 
hat Ist der qualitative Sprung von o oder 80 geschehen, so ist 
unmittelbar aus der Quantität eine neue Qualität geworden. Diese 
neue Qualität hat aber ebenso wieder die Quantität unter sich, in- 
dem die weiteren Grade unter Null und über 80 wiederum nur 
quantitative Qualitäten hervorbringen. Dieses Umschlagen von 
Qualität in Quantität und von Quantität in Qualität haben die 
Megariker sehr gut eingesehen, wenn sie die Vermehrung der 
einzelnen Bohnen endlich zu einem Haufen, das Ausfallen der ein- 
zelnen Haare endlich zu einem Kahlkopfe machten. Auch Aristo- 
teles unterschied die Tugend vom Laster durch die Quantität 
der Befriedigung des Triebes; als Mitte, oder Extrem des Zuvielen 
oder zu Wenigen. Das Maass gehört noch der wieder aus der 
Unendlichkeit hervorbrechenden Endlichkeit an, indem es Eine 
bestimmte Qualität ist, welche sich die Herrschaft über die schlechte 
Unendlichkeit der Quantität anmaasst. In diesem Sinne können wir 
dem Sophisten Protagöras Recht geben, wenn er sagt, der 
Mensch ist das Maass der Dinge. Weil aber jedes Maass auch 
wieder durch eine neue Quantität in ein anderes Maass verwandelt 
wird, so haben wir im wechselnden Siege von Quantität und Quali- 
tät die Knotenlinie der Maassverhältnisse als einen Progress 
in's Unendliche, in's Maasslose. Das Eine, das wahre Unend- 
liche, welches, wie wir sahen, alle Grenzen als seine eigenen Be- 
stimmtheiten setzt, ist dagegen die gegen jede Qualität und Quan- 
tität gleichgültige Selbstbestimmung, die Indifferenz, in der alles 
Endliche gehalten ist, und aus der es entspringt. In diesem Sinne 
macht Sokrates den Menschen zum Maass der Dinge, insofern 
in ihm xar l^oxfjV die absolute Vernunft sich darstellt, welche die 
Regel und der Maas Stab aller Dinge ist. Und weil Schelling 
allen Unterschied nur als einen quantitativen behauptete, so sah er 
das Eine als das gegen alle Bestimmtheiten Indifferente an. 


— 15 — 

2. Dies gegen jede einzelne Qualität, Quantität und Maass In-/ 
differente, aber doch alle diese Bestimmtheiten in seine Einfachheit \ 
Zusammenfassende, nennen wir nun, als die zweite Stufe der 
Logik y das Wesen; und die Summe aller dieser in ihm aufgeho- 
benen Bestimmtheiten ist der Schein, oder das Unwesentliche 
Dieses ist aber vielmehr dem Wesen wesentlich. Erst durch 
sein Scheinen ist das Wesen das Wesen; es setzt sich erst als 
Wesen dadurch, dass es scheint Und der Schein, weil er eben der 
Schein, der Wiederschein, die Reflexion des Wesens ist, enthält 
ebenso des Wesen in sich: 

Der Schein was war* er, dem das Wesen fehlte? 
Das Wesen war* es, wenn es nicht erschiene? 

Zwei Philosophien giebt es, die sich einseitig in diesen Gegen- 
satz theilen. Anaxagoras, indem er den Gedanken als vovg 
zum Princip der Welt machte, verwarf allen Schein der Sinnlich- 
keit, als das blos Nichtige, Chaotische, in welchem sich die Ein- 
fachheit des* Gedankens stets durchsetzte, als das alle Mannigfaltig- 
keit Ueberwindende und sich Unterordnende. Im Gegensatze zu 
ihm machten die Sophisten gerade den Schein zum absoluten 
Principe; Alles sei so, behaupteten sie, wie es Jedem scheine. So 
ist der Schein eines Jeden als das Wesentliche gesetzt. Bei Anaxa- 
goras dagegen ist jedes Scheinende mit dem Werthe des Wesens, 
des vovg umgeben. Jede Qualität ist das sich in dem allgemeinen 
Gemische Erhaltende, ist also eine Darstellung des Wesens selbst. 
Fleisch, als irgend ein Bestimmtes, ist ihm ein Einfaches, in sich 
Gleichartiges, so das Wesentliche einer Bestimmtheit, in der aber 
ebenso der mannigfaltige Schein aller andern Bestimmtheiten ent- 
halten ist; nur dass sie quantitativ geringer sind, als die Masse, 
wonach jede Bestimmtheit bezeichnet wird. Der sinnliche Schein 
der mit dem Fleische vermischten Dinge verschwindet ihm vor 
dem Gedanken des Fleisches: der Gedanke des Schnee's, der aus 
dem schwarzen Wasser geworden, lässt ihm das Weisse desselben 
als Schein verschwinden. 

Als die sich in allen Bestimmtheiten wiederholende Einfachheit, ist 
das Wesen nun die Identität; nicht die schlechte Identität jedes Seins 
mit sich selbst, was seit Aristotelesals ^=^, als derSatz derlden- 

tität zum obersten Grundsatz alles Denkens, oder vielmehr nur 
des endlichen Denkens gemacht worden ist. Sondern der wahre Satz der 
Identität ist die Identität aller Bestimmtheiten im Wesen. In die- 


— lo- 
sem Sinne ist die Philosophie Schellings das Identitätssystem 
genannt worden, dessen Formel er mithin so ausdrückte, dass die 
Identität die Identität der Identität und der Nicht-Iden- 
tität sei. Die Identität ist auf diese Weise nur die Identität Un- 
terschiedener. Der Unterschied ist ein so noth wendiges Moment 
des Wesens, wie die Identität. Der Unterschied ist gebildet durch 
die unendliche Reihe von Bestimmtheiten, welche sich als der 
Schein des Wesens darstellten. Während aber die Bestimmtheiten 
durch Veränderung eine aus der andern hervorgingen, so sind sie 
jetzt sämmtlich durch das Wesen gesetzt, das sich in ihnen zur 
Erscheinung bringt. An die Stelle des Uebergehens in's Andere ist 
also das Setzen seines Anderen, die Reflexion des Wesens ge- 
treten. Die Unterschiede sind also die Selbstunterscheidung des 
Wesens in sich; was Jacob Böhme die Schiedlickeit der Dinge 
nannte, die durch Christus als den Amtmann oder Schiedsmann her- 
vorgebracht werde. Nehmen die Unterschiede des Wesens den 
Schein selbstständig Seiender an, so haben wir ihr gleichgültiges 
Auseinanderfallen in der Verschiedenheit So stellte Leibnitz das 
zweite Denkgesetz, das Princip der Identität des Ununter- 
scheidbaren, auf, indem er sagte, jedes Dasein müsse eine sich 
vom andern unterscheidende Individualität besitzen, weil es sonst 
mit ihm eins wäre; es gäbe daher nicht zwei Baumblätter, die 
vollkommen identisch wären, indem es sonst nicht zwei wären. 

Zwei Dinge können aber nur verschieden sein, insofern sie in 
einem Dritten übereinkommen; denn sie sind ja nur die Unter- 
schiede des Wesens, sie sind nur in Etwas verschieden. Dieses Dritte, 
welches das tertium comparationis genannt wird, ist das in ihnen 
Identische; die Unterschiede Roth und Blau sind in der Farbe 
identisch. So ist Identität und Unterschied in Einem; und das 
nennen wir den Gegensatz, woraus eine neue Form dieses zweiten 
Denkgesetzes fliesst. Schon die Pythagoreer hatten die Einsicht, 
dass Alles aus dem Gegensatz entspringe. Die ganze Dialektik 
beruht auf dieser Erkenntniss. Giordano Bruno machte zum Prin- 
cip die coincidentia oppositorum. Und wenn der Verstand den Satz 
des Entweder-Oder aufstellt, dass jedes Ding nur entweder das 
Eine oder das Andere sein könne, ein Drittes gebe es nicht, nach 
Jacobi, so behauptet die Philosophie: Es giebt ein Drittes, und 
es existirt nur Philosophie, insofern dieses Dritte ist. Zwischen 
Licht und Finstemiss ist also die Farbe das Dritte, zwischen 


' K 


I 


— 17 — 

Schwarz und Weiss das Grau. Hier entsteht aus der Verbindung 
der Gegensätze, aus dem Sowohl -Als auch das Dritte. Oder das 
Dritte ist auch weder das Eine noch das Andere, wie unschuldig 
weder gut noch böse, oder die Mitte weder Links noch Rechts 
ist. In letzterem Falle sind auch die Gegensätze ganz relativ, je 
nachdem man steht Der Satz des ausgeschlossenen Dritten, 
der durch alle diese Beispiele widerlegt wird, gilt nur in Einem 
Falle, wenn die Gegensätze nicht zwei Bestimmtheiten, conträre 
Begriffe, sondern der eine die blos unbestimmte Negation einer 
Bestimmtheit ist, contradictorisch entgegengesetzte Begriffe. 
So gilt allerdings der Satz: A kann nicht zugleich A und Nicht-A 
sein, z. B. Pferd und Nicht-Pferd; zu verschiedenen Zeiten, sagt 
Kant, aber dennoch! Selbst der Gegensatz von Wahrheit und 
Irrthum ist kein absoluter, indem die einseitigen Momente der 
Wahrheit, für sich genommen, den Irrthum bilden: Sein und Nichts 
sind der Irrthum im Verhältniss zum Werden, als ihrer Wahrheit 
Hieraus ersieht man auch, wie ungerecht der Vorwurf ist, den 
man der Hegeischen Philosophie macht, dass sie den Wider- 
spruch zum absoluten Principe mache. Contradictorische Begriffe 
widersprechen einander, nicht aber conträre. Der sogenannte Satz 
des Widerspruchs oder vielmehr des NichtWiderspruchs, wie 
die Franzosen ihn nennen, schliesst also nur die Identität von A und 
Nicht-A aus, und die hat Hegel nie behauptet. Alle Dialektik iden- 
tificirt aber die Gegensätze, z. B. Sein und Nichts im Werden, 
Qualität und Quantität im Maasse u. s. w. Freilich so lange man 
blos beim Negativen der Dialektik stehen bleibt, das Sein als Nicht- 
sein, die Qualität als Nichtqualität, die Quantität als Nichtquan- 
tität auffasst, macht man aus den conträren Begriffen contradicto- 
risch entgegengesetzte. So ist auf einen Augenblick der Wider- 
spruch gesetzt. Das ist der Fehler, in welchen Zeno verfiel, wenn 
er die Bewegung nur als Nichtbewegung, als Ruhe fasste, und nicht 
die positive Einheit zu erkennen wusste, in welcher dieser Wider- 
spruch sich auflöst Wenn also die Philosophie den Widerspruch 
einen Augenblick zugiebt, so ist sie doch auch auf die Auflösung 
des Widerspruchs bedacht Dies that Aristoteles bei einem an- 
dern Argumente des Zeno gegen die Bewegung, welches Achilles 
und die Schildkröte hiess. Achilles könne, als der Schnellste, 
meint Zeno, nie die langsame Schildkröte erreichen, weil diese am 
Ende jedes Zeitraumes, mit dessen Anfang Achilles ihren Ausgangs- 

Michelet, Hegel. 2 


— i8 — 

punkt erreicht hat, immer schon etwas weiter gekommen sei^ 
Aristoteles sagt, es komme nur darauf an, die Grenze zu über- 
schreiten, — das, was Zeno als zwei Zeiträume fasst, als Einen zu 
setzen. Achilles ruht eben nicht an dem Punkte, von wo die 
Schildkröte ihre Bewegung beginnt 

Weil der Widerspruch aber nicht bestehen, sondern überall,, 
wo er sich zeigt, und er zeigt sich überall, aufgelöst werden muss: 
so ist er nur als ' die Bewegung zu fassen, aus der Identität in 
den Unterschied überzugehen; und das ist die Kategorie des 
Grundes. Das dritte Denkgesetz, das hier hergehört, fasste 
Leibnitz in der Form: Alles hat seinen zureichenden Grund; imd 
dies bezog er auf Gott, als das absolute Princip. In der That, 
wenn wir das Absolute als den Inbegriff aller Realitäten, als das 
Wesen hinstellen, d^ alle Unterschiede aus sich heraussetzt, so 
erlangen wir erst damit den zureichenden Grund für das Dasein 
der Welt. Das Begründete enthält aber den Grund in sich selbst, 
vmd erst im Begründeten stellt der Grund sich dar als das, was er 
ist. Das ist der Standpvmkt der Emanationslehre, den Philo, 
die Neuplatoniker, die Gnostiker und die Kabbalisten ein- 
nehmen. Das Absolute wird auch von ]P lotin mit einer Quelle 
verglichen, aus der Alles fliesst, aber in der es auch bleibt ohne 
blos ausgeflossen zu sein. Die Immanenz des Grundes im Begrün- 
deten ist damit ausgedrückt. Der Mangel dieser Kategorie ist der, 
dass im Grunde das Absolute nur an sich als einfache Einheit, im 
Begründeten nur als zersplitterte Mannigfaltigkeit vorhanden ist. 
Das Höchste wäre die Rückkehr des Grundes aus dem Begrün- 
deten in sich selbst, so dass im bestehenden Unterschiede die Ein- 
heit erhalten bliebe; wie dies in der christlichen Vorstellung des 
Sohnes, als des Xoyog, enthalten ist. Die Gnostiker bezeichnen 
daher den Vater auch als den Grund, als den Abgrund oder Ur- 
grund, und auch Schelling hat sich einmal dieser Kategorie 
bedient; sie heisst auch das Namenlose, weil Unaufgeschlossene, der 
Sohn dagegen das Vielnamige, die Vielheit der Unterschiede. Und 
auch Jacob Böhme nennt den Vater ein finsteres Thal, während 
erst im Sohne das Licht sich empöre, d. h. emporsteige. 

Wenn die Evolutionslehre das Begründete als die Totalität 
fasst, so sieht die Involutionslehre dieselbe im Grunde, als dem 
Deus implicitus^ im Gegensatze zur Welt, als dem Detis explicitus. Im 
Grunde ist Alles in Weise der Einfachheit, im Begründeten in 


Ä 


— 19 — 

Weise der Mannigfaltigkeit, wie Proklus will. Die Unterschiede, 
im Grunde auf Weise der Einfachheit gehalten, bilden die Formen, 
während die Einfachheit des Grundes als solche die Grundlage^ 
das Substrat oder auch die Materie im metaphysischen Sinne^ 
der Stoff genannt werden kann. Die Materie enthält alle Unter- 
schiede der Möglichkeit nach in sich. Die Formen bedürfen dieses 
Ansichseins, um etwas zu haben, woran sie heraustreten können» 
Aristoteles hat daher als Principien der endlichen Dinge die 
Form und die Materie aufgestellt; vom dritten, der Beraubung, 
haben wir schon gesprochen. Die Form, als die seiende Qualität, 
steht allen in der Materie nur der Beraubung nach vorhandenen 
Qualitäten gegenüber. Plato übertrug die Form auf die ewigen 
Dinge, indem er das Wesen jedes Dinges als seine Form {slöog) 
oder als die Idee bezeichnete. Und in diesem Sinne fasste 
Leibnitz die Gattimgen der Dinge als ihre substantiellen Formen. 
So spricht Schiller dichterisch vom Reich der Formen. Averroes 
trennte den Geber der Formen als ein ausserweltlich^s Absolute 
von der Welt- Materie, in die er die Form von Aussen wie durch 
künstlerische Thätigkeit hineinlege. Auch fassten schon einige 
Pythagoreer das Eins als die Form, die unbestimmte Zweiheit 
als die Materie. Der Erste aber, der die Materie als solche zum 
absoluten Princip machte, war Ana xi man der; und die Griechischen 
Theologen nannten es das Chaos, von dem Ovid singt: 

C/nus erat toto Naturae vultus in orbe, 
Anaxagoras aber verfiel in den Dualismus: des Chaos, als des 
Gemisches aller Dinge einerseits; und des vovo,^ als des formirenden 
Princips, der in jeder Form sich als das Einfache, Wesentliche 
darstelle, andrerseits. 

Form und Materie tauschen auf diese Weise ihre Bestimmt- 
heiten gegen einander aus. Die Materie, welche das Einfache sein 
sollte, enthält vielmehr die unendliche Menge der Unterschiede 
chaotisch in sich. Jede Form ist aber, als das Wesen der materiel- 
len Dinge, eine einfache Einheit, die deren Mannigfaltigkeit be- 
zwingt. Durch die Form sind alle Dinge derselben Art Ein und 
Dasselbe, nur durch die Materie unterschieden, weil jede Form an 
einem verschiedenen Stoffe zum Vorschein kommt, d. h. an einem 
Stoffe, der schon formirt ist. Die Form legt sich also nie in eine 
reine Materie, denn die giebt es nicht, sondern' in eine schon for- 
mirte, die sie umformt. Das Princip der Individuation ist also die 


2C 


Ikiaterie, ak eine schon der neiien Form voi-iusgesetzte Fonn, 
welche jener ihre Bestimmtheit mitiheiity und sie dadurch modiü- 
cirt. Es giebt daher nur foimirte Materie, nur materialisirte Form 
und zwar von Ewigkeit her; diese Einheit nennen wir den Inhal t- 
AVir können sagen, es ist ein Gevianke Hegels, dass es in der 
Philosophie auf den Inhalt ankomme, dass sie die Erkenntniss des 
Inhalts seL Und wenn das eine 3klal die Form der Materie gegen- 
über als das Wes«i behauptet wird, so erscheint auf der andern 
Seite, dem Inhalt g^enüber, die Form als das Gleichgültige, 
Unwesendiche. Der Inhalt erscheint als die zusammenfassende 
Totalität der Formen, und jede einzelne Form in den Dingen 
ist von den Physikern auch als eine Materie aufgefasst worden; 
wonadi dann das Ding aus vielen Materien bestehen soll, die 
aber nur Momente des Inhalts, als die Seiten seiner totalen 
Form, sind- 

Wenn Fqrm und Materie noch als besondere Gründe der 
Dinge, als der formelle und der materielle Gnmd derselben 
angegeben werden können, so ist mit dem Inhalt die Grundbezie- 
hung aufgehoben; derselbe Inhalt, der im Grunde ist, befindet sich 
auch im Begründeten. Das Begründete, welches den ganzen Inhalt 
des Wesens in sich schliesst, ist die Erscheinung. Die Erschei- 
nung nun vom Wesen zu trennen und zu behaupten, dass, wenn 
wir die Erscheinung erkennen, wir damit nicht das Wesen haben, 
das ist der Standpimkt der Philosophie Kants. Dadurch dass wir 
die Erscheinimg vom Wesen trennen, wird sie selbstständig, vergisst, 
dass sie vom Wesen herkonunt, nur die Erscheinung des Wesens 
kt, und tritt als für sich seiendes Dasein auf. Dieser Schein des 
iSeins, als eines Daseins, das aber den Hintergrund des Wesens, 
aus dem es stammt, nicht verleugnen kann, nennen wir die Existenz. 
In einer Zeit, wo Schelling zwischen seiner alten und seiner neuen 
Philosophie in der Mitte stand, in der Würzburger Periode, sprach 
er von der Göttlichkeit der Existenz. Er wollte damit sagen, 
dass das Wesen erst dann das Wahre sei, wenn es zur realen 
Existenz herausgeboren worden. Weil die Existenz den ganzen In- 
halt des Grundes in sich schliesst, so hat sie auch alle Momente 
desselben in sich. Als die die Formen in sich schliessende Grund- 
lage, ist sie das Ding: als die materialisirten Formen desselben, 
seine Eigenschaften. Das Ding ist nun sowohl der Grund der 
Eigenschaften, als die Eigenschaften der Grund des Dinges; denn 




21 


die Grundbeziehung ist eben, bei der Identität des Inhalts, gleich- 
gültig: wenn wir sie also wiederaufnehmen, beiderseitig. Von seinen 
Eigenschaften getrennt, ist das Ding die leere Dingheit, als ein 
Einfaches. Jede Eigenschaft, für sich gesetzt, ist, als nur Eine der 
mannigfaltigen, ein "partieller Grund des Dinges, eine Bedingung. 
Als Grund eines Dinges ist die Eigenschaft unabhängig von dem 
Dinge, also selbst ein Ding. Die Eigenschaft ist das Bedingende, 
das Ding das Bedingte; so sind die Eigenschaften das, was wir 
vorhin die Materien nannten. Wie die Eigenschaften aber Dinge 
wurden, so wird jedes Ding auch wieder eine Eigenschaft, eine 
Form, ein Moment eines andern Dinges u. s. f. in's Unendliche. 
Denn als ein Bedingtes ist das Ding eben nicht selbstständig, son- 
dern von einem Andern getragen, dem erst diese Selbstständigkeit 
zukommt. Alle Dinge sind damit ebenso Eigenschaften des Einen 
Wesens, wie alle Eigenschaften auch bestimmt unterschiedene Dinge 
im Wesen sind. Sind aber die Eigenschaften das Bedingende des 
Dinges, so ist auch umgekehrt das Ding das Bedingende der Eigen- 
schaften. Als das seinen Eigenschaften Vorausgesetzte, das ihr an 
sich seiendes Wesen bildet, ist das Ding die Sache selbst, welche 
ihre einzelnen Seiten oder Eigenschaften vorher in*s Dasein schickt, 
ehe sie den Kreis dieser Bedingungen schliesst, um sich aus ihnen 
in die Existenz überzusetzen. Die Französische Revolution existirte 
in ihren Bedingungen, dem Priester-Lug und Trug, dem Despotis- 
mus, der Finanznoth, dem Hunger des Volkes, den Schriften 
Rousseau's und Voltaire's, ehe sie aus allen diesen fertig heraus- 
sprang. Die letzten Begebenheiten der Geschichte sind so die 
Sache, die aus den frühem als ihren Bedingungen hervorgeht. Und 
indem Alles so durch Alles gegenseitig bedingt ist, so bilden alle^ 
Dinge mit ihren Eigenschaften eben nur ein in sich zusammen- 
hängendes existirendes Wesen oder Ding: 

Weil es Dinge doch giebt, so giebt es ein Ding aller Dinge. 
In dem Ding aller Ding* schwimmen wir, wie wir so sind. 

Das ist die Vorstellung, welche sich Schiller von der Spino- 
zistischen Philosophie macht. In diesem Dinge, das sich selbst 
alle seine Eigenschaften als so viel Dinge voraussetzt, und wie das 
Erste ist, so als das Letzte aus ihnen hervorgeht, ist der Gegensatz 
des Bedingten und des Bedingenden aufgehoben. Es ist das Sich - 
selbstbedingende, und so das Unbedingte: die Kategorie, in 
welcher Jacobi das Absolute fasst, die er aber ganz verdirbt,. 



22 


indem er das Bedingte und das Unbedingte als zwei Welten aus- 
einander hält. 

Indem das Unbedingte aber die letzte Form ist, in welche die 
Existenz sich erhoben hat, hat sie sich damit selbst aufgehoben. 
Denn das Wesen, welches in der Existenz, als einem Dasein, zu- 
nächst vergessen war, bricht aus der Tiefe der Existenz wieder 
durch ihre Schale hindurch, wie der Maulwurf im Hamlet als seines 
Vaters Geist züngelnd aus der Erde flammt Die Existenz wird 
dadurch in der That erst das, als was sie sich uns am Anfang zeigte, 
die Erscheinung; und das Wesen ist das Ding an sich hinter der 
Erscheinung. Mit diesem Gegensatze, bis zu welchem sich der 
Kriticisrpus Kants zuspitzt, als dem Gegensatze des Erkennbaren 
und des Unerkennbaren, haben wir den äussersten Gipfel des ver- 
ständigen Denkens erreicht, das sich nicht tiefer entzweien kann. 
Bei Kant ist das Ding an sich aber das Noumenon, die Intellectual- 
welt, welche wohl ein und dasselbe Wesen mit unserm denkenden 
Ich sein könnte, obgleich Kant darüber nichts ausgemacht wissen 
will. Bei den Scholastikern ist dagegen dies Ding an sich, ob- 
gleich sie es zu erkennen meinen, die wahre Realität des Jenseits, 
der Scheinwelt des Diesseits gegenüber. Wenn Erdmann auch 
diesen Gegensatz für einen berechtigten hält, so kommt es doch 
wesentlich auf die Fassung desselben an. Ein Jenseits des Raums, 
was doch die eigentliche Bedeutung dieses Vorwortes ist, giebt es 
nicht, weil jenseits des Raumes immer noch Raum sein muss. Ein 
Jenseits der Zeit kann zugegeben werden, ^in dem Sinne, dass in 
einem bestimmten Zeitmomente nicht die Totalität des ansichseien- 
den Wesens in die Entwickelung getreten ist. Und so kann man 
^auch von einem Jenseits der Erkenntniss reden, insofern das Be- 
wusstlose noch nicht in's Bewusstsein getreten ist. Das Jenseits ist 
also nur ein relatives. 

Wenn aber auch für die Erscheinung das Jenseits und das 
Diesseits theilweise auseinanderfallen können, so ist das Jenseits 
doch seiner ganzen Totalität nach stets als ansichseiendes Wesen 
in der Erscheinung enthalten. In jedem Punkt des Raumes, der 
Zeit oder der Erkenntniss ist das Wesen in der Erscheinung als 
das Einfache in deren Mannigfaltigkeit thätig. Dieses diesseitig ge- 
wordene Jenseits ist das Gesetz; es ist als einfache Bestimmtheit 
derselbe Inhalt, den die Erscheinung in unendlicher Vervielfältigung 
zeigt. Das Gesetz ist so das Ganze, die Mannigfaltigkeit der Er- 


— 23 — 

scheinung die Theile. Wenn die französischen Materialisten des 
i8. Jahrhunderts ihr Princip als das grosse Ganze bezeichneten, 
so ist in diesem Ausdruck der Pantheismus in seiner eigentlichsten 
Form enthalten. Als der thätige Grund ist das Ganze die Kraft, 
welche in ihrer Aeusserung sich adäquat bleibt. Besonders hat 
Herder das Absolute als die Urkraft der Welt gefasst Weil die 
Kraft aber nur so gross ist, als ihre Aeusserung, in beiden derselbe 
Inhalt sich darstellt, so ist der Unterschied nur ein Unterschied der 
Form, das Innere und das Aeussere, das Absolute aber die 
Einheit des Innern und des Aeussern, während in den endlichen 
Dingen sie entgegengesetzt sein können. 

Die Identität des Innern und des Aeussern nicht mehr als 
zwei Totalitäten, sondern als Eine, ist die Wirklichkeit, welche 
ihre Möglichkeit in sich schliesst Die reale Möglichkeit ist die 
innere Kraft, die sich durch sich selbst äussert, das Wesen, welches, 
wie Spinoza sagt, seine Existenz in sich schliesst. Diese, sich so 
aus sich selbst zur Wirklichkeit umsetzende Möglichkeit, dies Mögen 
imd Vermögen ist die Thätigkeit. In diesem Sinne hat Aristo- 
teles die Energie als Thätigkeit, als Wirksamkeit zum höchsten 
Princip gemacht. Am Anfang war die That, ist auch der Satz des 
Aristoteles, während Plato in seinen Ideen eher die reale Möglich- 
keit an die Spitze stellt, wenngleich sie sich auch als das wahr- 
haft Seiende erweist Setzen wir dagegen die Wirklichkeit wieder 
auf die Stufe der Existenz, des Daseins zurück, was man ja im 
gemeinen Leben auch Wirklichkeit nennt, und die Franzosen x«r' 
i^ox'ijv IcL rialitix so hat jedes Wirkliche, als eines der vielen An- 
dersseienden, seine Bedingung, seine Möglichkeit in einem andern 
Wirklichen, dieses wieder in einem andern u. s. f. in's Unendliche. 
Eine solche vereinzelte Seite ' der Wirklichkeit, die ihr Sein in 
einem Andern hat, kann sein oder auch liicht, je nachdem dieses 
Andere ist oder nicht ist. EiÄ solches Wirkliche ist also nur 
möglich; und wenn das Andere ist, also das Wirkliche zur Exi- 
.stenz bringt, so ist eine solche Wirklichkeit nur eine Zufällig- 
keit. Das ist der Standpunkt -der Philosophie Epikurs. Der 
Zufall ist ihm das Absolute. 

Ist aber das Zufällige ein nur Mögliches, indem es sowohl 
das Sein, als das Nichtsein haben kann, und jetzt gerade ist: so 
ist das nur Mögliche eben dasselbe, nur dass es zufällig nicht ist. 
Sie haben Beide dieselbe Form: die Möglichkeit eines jeden ist 


— 24 — 

eine andere zufällige Existenz. Aber auch der Inhalt ist derselbe^ 
Der nur mögliche Inhalt wird durch die Thätigkeit zur zufalligen 
Existenz gebracht. Die unendliche Reihe 'der zufalligen Dinge hat 
also eine unendliche Reihe von Möglichkeiten zu ihren Voraus- 
setzungen. Indem jedes Zufällige aber wiederum die Möglichkeit 
eines andern Zufalligen ist, so fallt die unendliche Reihe der Zu- 
fälligkeiten mit der unendlichen Reihe der Möglichkeiten zusam- 
men. Es ist der unendliche Inhalt, der in die unendliche Reihe 
der Bestimmtheiten zersplittert ist. Die Wirklichkeit, in welcher 
der ganze Inhalt sich als seine eigne Möglichkeit setzt, diese ab- 
solute Möglichkeit, welche auch die absolute Wirklichkeit,, 
nicht mehr eine ?5ufallige ist, nennen wir nun die Nothwendig- 
keit; die Kategorie, welche die Stoiker an die Spitze ihres 
Systems stellten. Dass ein Zufalliges durch ein andres Zufalliges 
gesetzt ist, nennen wir auch Nothwendigkeit, aber nur äussere^ 
relative Nothwendigkeit, nicht die innere, welche schon an 
sich die Freiheit ist, indessen noch den Schein eines blinden Bandes 
der Innerlichkeit hat, das scheinbar einander Aeusserliche mitein- 
ander verbindet. 

Die erste Lösung dieser Blindheit ist die Erkenntniss, dass 

alle Zufälligkeiten aus dem nothwendigen Wesen *fiiessen. Das heisst, 

' sie sind Accidenzien der Substanz. Hiermit ist ein neues 

Princip in die Geschichte der Philosophie gekommen, indem 

Spinoza, an die höchsten Systeme des Alterthums anschliessend,. 

i sagte: Das Absolute ist die Substanz aller Dinge, die nur Eine ist. 

Da aber die Substanz sich in jedem Accidenz, als das Thätige, sie 

Erzeugende darstellt, so ist sie das im Wechsel der Accidenzien 

i Beharrende. Diese gehen stets aus der Möglichkeit in die Zufallig- 

i keit und aus der Zufälligkeit in die Möglichkeit über. Da sie aber 

1 nur den Inhalt der Substanz darstellen, so sind sie selbst Substanz. 

t Alle Accidenzien sind Substanzen, aber abgeleitete, nicht ursprüng- 

>■ liehe. Und so sagt Cartesius, der den Anstoss zur Spinozisti- 

^ sehen Lehre gab, die vielen Substanzen sind in einem andern 

' Sinne Substanz, als die Eine. 

Als Substanz ist jedes Accidenz thätig; es ist die Möglichkeit 
eines andern Accidenz, das durch dasselbe hervorgebracht wird. 
Als Accidenz ist jede endliche Substanz aber auch leidend; sie wird 
durch eine andere hervorgebracht. Die thätige ' Substanz nennen 
wir die Ursache, die leidende die Wirkung. Jacobi wollte 


— 25 — 

das Absolute nicht als Grund, sondern als Ursache der Welt an- 
gesehen wissen. Dann stehen aber Gott und Welt sich als zwei 
unabhängige Substanzen gegenüber. Denn weil die Ursache nicht | 
nur thätig, sondern auch leidend ist, so ist ihre Thätigkeit nicht 
ihre ganze Substanz, sondern nur ein Accidenz an ihr; und mit 
ihrem Leiden verhält es sich ebenso. Das Spalten und Gespalten- 
sein lässt die sonstige Substanz der Axt und des Holzes ausser Acht, 
oder die Substanz modificirt jene Thätigkeit nur auf accidentelle » 
Weise. Da jede endliche Substanz sowohl thätig als leidend ist,: 
so ist sie sowohl Ursache als Wirkung; aber die Ursache ist Wir-' 
kuhg einer andern Ursache vor ihr, und die Wirkung die Ursache 1 
einer andern Wirkung nach ihr. Die Identität von Ursache undj 
Wirkung ist daher nur eine formelle. Indessen auch der. Inhalt ist \ 
identisch, indem dasselbe Quantum von Bewegung, das im Stossen-^ 
den, auch im Gestossenen ist. Endlich ist die Ursache auch 
Wirkung ihrer eignen Wirkung, und die Wirkung Ursache ihrer 
eignen Ursache, indem in der Gegenwirkung die Ursache 
nur so viel Thätigkeit zeigen kann, als die Wirkung ihr Widerstand 
leistet. So sind alle endlichen Substanzen in steter Wechselwirkung 
miteinander, — wieder eine Kategorie der Französischen Ma-1 
terialisten. 

Da hiermit jede Substanz ein Accidenz aller andern ist, so 
sind alle nur die Accidenzien der Einen unendlichen Substanz, die 
wir das Absolute nennen, welches sich in der Reihe seiner Bestimmt- 
heiten, Formen oder wie man es nennen will, in so viel relative 
Substanzen auslegt, die als solche wieder Accidenzien haben, welche 
daher Accidenzien der Accidenzien oder Modi des Absoluten ge- 
nannt werden können: der Standpunkt Spinoza 's und auch Schel- 
lings. Weil im Modus das Absolute nur eine Art und Weise der 
Existenz des Absoluten ist, so bringt dieses sich in ihnen selbst her- 
vor; und Spinoza hat daher, das Causalitätsverhältniss seiner End- 
lichkeit entkleidend, das Absolute causa sui genannt, — was ebenso 
wohl als Ursache seiner selbst, wie als Wirkung seiner selbst be- 
zeichnet werden kann. 

3. Indem aber das Absolute im Modus sich nicht als sein 
Anderes, wie das Wesen, setzt, sondern sich nur aus sich selbst ent- 
wickelt, so haben wir die dritte Stufe der Logik, den Begriff,, 
als die Einheit von Sein und Wesen erreicht. 

Das Absolute, das sich durch die relativen Substanzen hindurch 


— 26 — 

im Modus wiederfindet, ist nämlich das Allgemeine, das in die 
Besonderheit herabsteigt, und in der Einzelheit erst zur Spitze 
der Wirklichkeit kommt, wie Proklus sagt So giebt es allgemeine, 
besondere und einzelne Begriffe; letztere sind die Individuen, und 
wenn nach Aristoteles das Einzelne die erste Substanz ist, so ist 
die besondere Art und das Allgemeinste nur durchs Einzelne ge- 
tragen, das Einzelne aber wiederum nur dadurch und insoweit sub- 
stantieU, als es der adäquate Ausdruck seiner Gattung ist Dies 
Allgemeine und Besondere ist also nicht blos subjectiv, sondern das 
AUerobjectivste, obgleich die Form, der Allgemeinheit dem Begriffe 
zunächst die Bestimmtheit der Subjectivität verleiht Das allge- 
meinste als das absolute Wesen der Dinge ausgesprochen zu haben, 
ist der Standpimkt Malebranche's. Plato macht die Besonder- 
heiten oder relativen Substanzen als Gattungen oder Arten zur Viel- 
heit des Absoluten in den Ideen. Das Zusammenfassen aller Gat- 
tungen, deren Reich als Xoyog oder Sohn die Entfaltung des Vaters 
oder des Allgemeinen bildet, zur absoluten Einzelheit, als Geist, ist 
im Christenthum als Dreieinigkeit bezeichnet worden. Ich nenne 
dies die ewige Persönlichkeit des Geistes; was bei Hegel 
als die übergreifende Subjectivität, bei Aristoteles als die 
ursprüngliche Substantialität des Einzelnen vorkommt Die 
Scholastiker, insofern sie Realisten sind, setzen das Allgemeine 
im Jenseits objectiv als universalia ante rem; als Nominalisten, 
fassen sie es im Diesseits nur in der Vorstellung des Subjects, 
als nach den Dingen seiend, universalia post rem, während der wahre 
Standpunkt offenbar die universalia in re sind, die ebensowohl die 
objectiven Gattungen der Dinge in diesen, als die subjectiven Begriffe 
in uns sind. 

Wenn das Einzelne die höchste Spitze der Verwirklichung des 
Allgemeinen ist, so ist es doch als Modus und Accidenz auch 
ebenso dem Allgemeinen nicht adäquat Diese ursprüngliche Thei- 
lung des Begriffs in die Momente der Allgemeinheit und Einzelheit ist 
das Urtheil [E — A), in welchem der Widerspruch ihrer Identität 
und Nicht-Identität gesetzt ist Das Einzelne drückt die Gattung, 
seinen Begriff aus, und ebenso ist es ihm auch nicht in allen Stücken 
angemessen. Die Copula Ist setzt die Identität, die zugleich nicht 
vorhanden ist Schelling hat mit Recht gesagt, die Copula ist 
das Absolute, weil in ihr die Gegensätze verbunden sind. Die End- 
lichkeit der Dinge, welche das Urtheil ausdrückt, schwindet um so 


— 27 — 

mehr, je angemessener das Individuum seinem Begriffe wird, wie 
wenn das Subject die Prädicate gut, wahr, schön oder gerecht be- 
kommt. In dem Urtheil, eine Handlung ist gut, weil sie so be- 
schaffen ist, ist sowohl ein subjectives Denken, als die objective 
Kategorie des Dinges enthalten, wie in allen Urtheilen. Zugleich ist 
mit diesem Urtheile der Uebergang in den Schluss gemacht, indem 
das Subject E selbst so beschaffen und gut ist, ebenso die Copula 
und 'das Prädicat. Die drei Glieds des Begriffes E-B-A sind also 
jetzt jedes das Ganze, und doch noch auf einander bezogen: dieses 
allgemeine Band der Glieder des Begriffs nennen wir nun den 
Schluss, der als Vernunftschluss ebenso eine objective Kategorie 
der Dinge ist. In diesem Sinne sagt Hegel, alles Vernünftige ist 
ein Schluss, wie die Momente des Sonnensystems, die Gewalten 
des Staates u. s. w. 

Wenn jedes Glied der ganze Begriff ist, so ist es aber auch 
eine gegen alle anderen Einzelheiten gleichgültige Existenz. Das 
allgemeine Band ihrer Beziehung ist verschwunden; die Subjectivität 
ist zweitens in die Objectivität, als die Beziehungslosigkeit, über- 
gegangen. Die Monaden Leibnitzens stehen auf diesem Stand- 
punkt der Objectivität, indem jede die Totalität der Weltvorstellung 
ist. Als äusserlich auf einander bezogen, bilden die einzelnen Ob- 
jecteden Mechanismus; eine Kategorie, die Cartesius der ganzen 
Welt zu Grunde legte. Weil jedes Object aber zugleich der ganze 
Begriff ist, so sind sie, ungeachtet ihrer Aeusserlichkeit, doch 
innerlich miteinander verwandt. Sie streben also, diese Aeusser- 
lichkeit ihrer Beziehung zu überwinden, und die innere Einheit, 
welche in ihnen vorhanden ist, auch an sich zu setzen; das ist das 
dynamische Verhältniss der Objecte. Schelling sprach so be- 
sonders von einer dynamischen Naturbetrachtung. Indem im Ge- 
setztsein der Einheit die Unterschiede der Objecte aufgehoben sind, 
haben wir die Neutralität der Gegensätze. So steht den einzelnen 
mechanischen und dynamischen Objecten die Totalität des Begriffs 
als das andere Moment gegenüber. Diese Totalität des Begriffs, als 
der subjective Zweck, realisirt sich in den äusseren Objecten durch 
Mittel, die ebenso die Natur der Objecte an sich haben, wie sie 
an sich die Totalität des Begriffs sind. Die Zweckmässigkeit er- 
scheint als eine äusserliche, indem durch das Mittel der Zweck das 
Object von aussen ergreift. Wenn der Zweck aber im Object aus- 
geführt ist, so ist er das innere Wesen des Objects geworden; 


— 28 — 

die innere Teleologie, die Empedokles und Anaxagoras 
angedeutet, Aristoteles zum bewussten Princip seiner Philosophie 
gemacht hat, indem er die Wirklichkeit als Energie in ihrer höchsten 
Form Entelechie nannte. 

Mit der inneren Zweckmässigkeit haben wir drittens den Stand- 
punkt der Idee, der Einheit der Subjectivität und Objectivität er- 
reicht, auf welchem Plato, Schelling, Solger, und auch 
Aristoteles stehen, während bei Kant die Idee mehr in Form 
eines subjectiven Ideals auftritt Die Idee, als die innere Zweck- 
mässigkeit vorerst in einem einzelnen Objecte, ist die Idee des 
Lebens, welche Plato und Aristoteles besonders zum Princip 
gemacht haben. Die subjective Idee ist im Leben, als Seele, noch 
in die objective Idee versenkt; Thier und Staat sind so unbewusste 
Organisationen. Da im Leben das Einzelne seiner Gattung noch 
unangemessen ist, so wird es im Thier durch den Tod, im Staat durch 
den Process der Weltgeschichte in die Allgemeinheit der subjectiven 
Idee zurückgenommen. 

Diesen Kampf der subjectiven und der objectiven Idee können 
wir sodann die bestimmte Idee nennen, deren Gegensätze sich 
auszugleichen haben. * Wenn sich im Leben der Begriff in der Ein- 
zelheit auseinanderlegt, so ist die objective Idee die in allen ein- 
zelnen Objecten zerstreute Allgemeinheit des Begriffs. Die objective 
Idee erscheint so als die Regel, nach welcher sich die noch leere 
subjective Idee zu richten und mit der sie sich zu erfüllen hat. Das 
ist die Idee der Wahrheit, die Aristoteles besonders hervor- 
hob, indem er die Theorie über die Praxis setzte. Die vielen 
einzelnen Objecte fassen sich in der Subjectivität in Gattungen, als 
allgemeine Begriffe, zusammen. Das ist die Analyse, die nicht nur 
Methode des Denkens, sondern ebenso objective Kategorie als Auf- 
lösung der Dinge in ihre Allgemeinheit ist Scotus Erigena 
sah das Göttliche so als die Analyse des Endlichen, als dessen 
Vergötterung an. Und Sokrates bediente sich im subjectiven 
Sinne dieser Methode, die auch die empirische imd inductive 
genannt werden kann. Haben wir durch die Analyse das Subject 
mit dem allgemeinen Inhalt der Objecte erfüllt, so legt sich derselbe 
in die Hegriffsmomente der Allgemeinheit, Besonderheit und Einzel- 
\ui\i als Definition, Eintheilung imd Lehrsatz auseinander. 
l'A tat die synthetische oder deductive Methode, die sowohl 
%ii\jt'iXiv als objectiv das Entstehen des Einzelnen aus der Allge- 


— 29 — 

meinheit darstellt. Die Definition der Weltgeschichte ist ihr allge- 
meiner Zweck, ihre Eintheilung die Succession der besondem Völ- 
kergeister, der Lehrsatz der Begriff eines einzelnen Volkes, z. B. der 
Griechen. Hier ist die Thesis Homer, als die Religion, die Con- 
struction der Staat, der Beweis als subjective Einsicht des vor- 
handenen Verhältnisses die Philosophie der Griechen. Im Problem 
endlich wird aus dem empirisch gegebenen Begriff der Sache die 
objective Realität in der genetischen Methode entwickelt So 
ist der Begriff aber nicht nur etwas äusserlich Gegebenes, sondern 
der im Subject selbst vorhandene Inhalt der Idee; das Gute oder 
die praktische Idee, welche Plato als das Höchste setzte, wie 
ja auch Kant und Fichte der praktischen Vernunft das Primat 
zutheilten. Das Object, in dem die Idee noch nicht realisirt, ist 
dagegen das Schlechte, das Uebel. Hat sich die subjective Idee 
des Guten aber im Objecte realisirt, so ist sie eben mit der objec- 
tiven Idee identisch, aber nur in diesem einzelnen Objecte: die 
Idee des Schönen, dem das Hässliche, als das noch nicht 
realisirte Schöne, wie dem Guten das Schlechte, gegenüber steht. 
Die Schönheit zum Absoluten gemacht zu haben, ist der Standpunkt 
Schellings. 

Dieser Uebergang der subjectiven Idee in die objective und 
umgekehrt, nicht im einzelnen Objecte, sondern im ganzen Uni- 
versum ist die absolute Idee: der Standpunkt Hegels, der 
also in der Weltdialektik die absolute Methode in Thesis, 
An ti thesis und Synthesis, als Einheit der analytischen, synthe- 
tischen und genetischen Methode zum absoluten Princip gemacht 
hat. Diese Methode stellt sich in der Logik, wie wir sahen, selbst 
in der einfachen Form des reinen Gedankens dar. Im natürliqhen 
und geistigen Universum tritt die Einheit als Totalität nur unter 
der Form der Contraste, der Antithesen, der Endlichkeiten auf, 
welche ihre Einheit selbst wiederum nur in einer einzelnen, von 
ihnen unterschiedenen Gestalt finden. Im Weltsyllogismus sind 
aber diese Contraste selbst wieder zur einfachen Allgemeinheit des 
logischen Gedankens zurückgekehrt, der sich durch die Besonderheit 
der Natur mit dör absoluten Einzelheit des Geistes zusammen- 
/schliesst [E-B-Ä), 


rV Y 


t f 






30 


B. Bedeutung Hegels für die Naturphilosophie. 

Wenn man Hegels logischen Standpunkt sehr fälschlicher Weise 
als Scholasticismus und Formalismus verdammte, so sollte ihm nun 
in der Naturphilosophie noch ganz besonders der Stab gebrochen 
werden. Hier habe er die alten kindlichen Ansichten über Natur- 
philosophie wieder aufgewärmt, sei sogar auf die Empedokleischen vier 
Elemente zurückgekommen; er habe auch die Natur in spanische 
Stiefeln schnüren wollen, und von dem Reichthum der neuem Er- 
fahrungen keinen Nutzen gezogen, ja im Augenblick, wo schon die 
vier ersten kleinen Planeten entdeckt wurden, die Noth wendigkeit 
der Zahl der bisherigen bewiesen; endlich die Erde, wie die Alten, 
wenn auch nur zum geistigen Mittelpunkt des Universums gemacht. 
Im Einzelnen habe er Newton völlig unrecht gethan, die poetische 
Fassung der Farbenlehre nach Goethe angenommen, die Wandelung 
der Stoffe im meteorologischen Processe behauptet, ja sogar die Meteor- 
steine aus der Luft entstehen lassen, die unorganische Natur der 
Erde als geologischen Organismus gefasst, ja endlich und vor Allem 
das Stemenmeer als einen Lichtausschlag für niedriger ausgesprochen,, 
denn einen Hautausschlag bei Kinderkrankheiten; was Letzteres sogar 
David Strauss und Vatke empörte. 

I Wenn wir zunächst die Entstehung der Natur in*s Auge 

fassen, so haben die Theologen von jeher sie als ein Abhängiges^ 

,und daher aus dem Geiste Entsprungenes, von der Gottheit Ge- 

,'machtes, kurz als em Geschaffenes betrachtet. Die griechischen 

Theologen bildeten sie aus dem Chaos, die christlichen Hessen sie 

jaus dem Nichts hervorgehen. Und unsere neueren Physiker machen 

' es nicht besser, wenn sie zunächst die Erde, sodann, nach dem 

; Schlüsse der Analogie, ebenso alle übrigen Weltkörper aus einem 

embryonischen flüssigen, heissen Zustande zu allmäliger Erkaltung, 

i Erstarrung und Krystallisation gebracht meinen. Nach Steffens ist 

\ die Erde so zunächst ein von Wasser umgebener Metallklumpen 

; gewesen, der sich oxydirt, Kruste auf Kruste angesetzt habe u. s. w. 

Dagegen lässt schon der Dichter die Engel im Himmel singen: 

Deine Werke sind herrlich, wie am ersten Tag. 

Und Aristoteles behauptet, der Himmel und die ganze Natur 
sind ewig; sie seien in ewiger Energie begriffen, weil sonst die 
Möglichkeit (die .Nacht) vor der Wirklichkeit dagewesen wäre, und 
so alles Seiende auch hätte nicht sein können. Auch müsse eine 


— 31 — 

in sich zurücklaufende Bewegung ewig sein, weil Anfangs- und End- 
punkt zusammenfallen, sie also nicht, wie das Endliche, Vergäng- 
liche, irgendwo anfange und anderwärts aufhöre. 

Lasst den Anfang und das Ende 
Sich in Eins zusammenziehen. 

Was nun die Stellung Hegels zu dieser Frage betrifft, so giebl 
er nicht eine so einfache Antwort, wie Aristoteles, sondern ver- 
schanzt sich hinter der Dialektik der Begriffe Zeit und Anfang. 
,yAuf die Frage, ob die Welt ohne Anfang in der Zeit sei, oder 
einen Anfang habe, lässt sich eine runde Antwort, d. h. dass ent- 
weder das Eine oder das Andere sei, nicht geben. Die runde Ant- 
wort ist vielmehr, dass die Frage, di^ Entweder-Oder nichts taugt." 
Hegel sagt daher; „Als Idee ist die Natur ewig, absolute Gegenwart. 
Das Endliche in ihr ist aber zeitlich." Wegen der Ewigkeit ist der 
absolute Anfang entfernt; wenn aber jedes Endliche in der Natur 
einen relativen Anfang hat, so fragt sich, ob damit auch die unend- 
liche Zeit abgewiesen sei. Die Unklarheit Hegels liegt hier darin, 
die Resultate für den Verstand nicht ausgesprochen zu haben, die 
doch in seinen Prämissen liegen. Die unendliche Zeit nennt Hegel 
etwas nur Negatives. Sehr richtig! Aber wenn jeder Anfang relativ 
ist, so kann über jeden Anfang hinausgegangen werden, und es ist 
nie ein erstes Endliches da. Das heisst, die Idee hat nie angefangen 
und wird nie aufhören. Endliches aus sich hervorzubringen. Die 
Ewigkeit hat also die unendliche Zeit unter sich, die aber weder 
rückwärts noch vorwärts als vollendet gedacht werden kann, weil 
dies ja eine Grenze, eine Endlichkeit wäre: „Die Zeit jedes End- 
lichen fangt mit ihm an," sagt Hegel in dieser Rücksicht, „und die 
Zeit ist nur des Endlichen." Das ist die Kantische Idealität der Zeit^ 
die uns indessen nicht um den unendlichen Progress der Zeit 
herumkommen lässt, möge sie in dem endlichen Bewusstsein oder 
draussen sein. Das kann Hegel nicht leugnen. Doch drückt er 
sich nicht bestimmt genug aus: „Wo der Anfang zu machen, ist 
unbestimmt; es ist ein Anfang zu machen, aber er ist nur ein rela- 
tiver." Mithin ist vielmehr kein Anfang zu machen. Das musste 
deutlich gesagt, — und zugegeben werden, dass die unendliche Zeit 
die nothwendige Erscheinungsweise der Ewigkeit sei. Aristoteles 
wie Demokrit haben daher schon ganz klar ausgesprochen, die Zeit 
hat nie angefangen, also auch nicht die Veränderung in ihr, weil 
ein Anfang der Zeit immer schon Zeit voraussetzt. Und die Ewig- 


— 32 — 

keit in die Zeit setzend, stellt Aristoteles die Formel auf: „Es ist 
immer dasselbige gewesen". 

Hiergegen hat nun für die Erde wenigstens die neuere Geo- 
logie eine Entwicklung, eine Geschichte, kurz ein Anders werden 
behauptet; und es fragt sich, wie Hegel sich diesen neueren Be- 
hauptungen gegenüber verhält, und ob er sie denn wirklich mit den 
Alten leugnet. „Die ganze Erklärungsweise," sagt er, „ist nichts als 
eine Verwandelung des Nebeneinander in Nacheinander," und das 
will er denn auch nicht in allen Punkten in Abrede stellen. „Dass 
die Erde eine Geschichte gehabt hat, d. h. dass ihre Beschaffenheit 
«in Resultat von successiven Veränderungen ist, zeigt diese Beschaf- 
fenheit unmittelbar selbst." S0 spricht er sogar die Vermuthung 
einer veränderten „Stellung der Erde in Rücksicht auf den Winkel, 
den die Axe mit ihrer Bahn macht," aus. Und hier folgt er aller- 
dings den Alten, indem Diogenes Laertius (II, 9) die Worte des 
Anaxagoras anführt, „dass ursprünglich die Sterne kuppeiförmig sich 
gedreht haben, so dass der stets sichtbare Pol sich im Zenith der 
Erde befunden habe, später aber die Neigung eingetreten sei." Die 
Aufeinanderfolge der Flötzläger ist dann vollends nicht zu leugnen. 
Aber da kann man, meint Hegel, mit Millionen von Jahren frei- 
gebig sein; und er schliesst dann diese empirische Geschichte aus 
dem Interesse der Philosophie aus, indem er hinzusetzt: „Der Geist 
des Processes ist der innere Zusammenhang, die nothwendige Be- 
ziehung dieser Gebilde, wozu das Nacheinander gar nichts thut." 

Wenn Hegel femer die Concession macht: „Es ist nach dem 
Begriffe nothwendig, dass die Erde als Product zu betrachten 
ist," so will er dies doch nicht auf die empirische Realität beziehen, 
indem er hinzufügt, die Erde entstehe aber nicht durch diesen 
Process, die Schöpfung sei ewig, das Allgemeine sehen wir nicht 
entstehen, — nämlich die Gattungen. Hegel ist daher eigentlich 
für die Ewigkeit aller Gattungen, also auch der des Menschen. 
Aber er wagt nicht, dies direct auszusprechen, und stellt die ent- 
gegengesetzte Möglichkeit hypothetisch hin: „Wenn also auch die 
Erde in einem Zustande war, wo -sie kein Lebendiges hatte, nur 
den chemischen Process u. s. w., so ist doch, sobald der Blitz des 
Lebendigen in die Materie einschlägt, sogleich ein bestimmtes voll- 
ständiges Gebilde da." Was heisst dieses plötzliche Einschlagen? 
Wo kommt das her? Nur so viel ersieht man, dass er das Orga- 
nische nicht allmälig aus dem Unorganischen hervorgehen lassen 


f — 33 — 

-will, selbst in dieser früh geschriebenen Stelle. Und in der später 
abgefassten Encyklopädie behauptet der §. 249 die Gleichzeitigkeit 
der Stufen; sodass die höheren Gattungen des Organischen nicht der 
Zeit nach aus den niederen entstanden, sondern nur im Begriffe aus- 
einander hervorgehen, keineswegs durch natürliche Erzeugung: „Es 
ist eine ungeschickte Vorstellung älterw, auch neuerer Naturphilo- 
sophie gewesen, die Fortbildung und den Uebergang einer Natur- 
form und Sphäre in eine höhere für eine äusserlich wirkliche Pro- 
duction anzusehen." Der Mensch ist also nach Hegel nicht aus 
dem Chimpanse-Affen hervorgegangen. Das Unorganische kann nicht 
vor dem Organischen dagewesen sein, weil Eins das Andere fordert. 
Und so habe ich denn mit voller Bestimmtheit die Ewigkeit des 
Menschengeschlechtes und also auch einen Zustand der Erde postu- 
lirt, wo ungeachtet ihrer Revolutionen das Menschengeschlecht doch I 
vorher immer einen Platz auf ihr hatte. Und wenn fossile Men-i 
sehen selten sind, so sind sie doch gefunden worden. Die Abän- ; 
derungen der Gattungen, das Aussterben vieler ist nur secundär, 
indem im Elephanten das Mammuththier, im Ochsen der Auer- 
ochse^ in der Eidechse der Saurier fortlebt. Die spätere Ausbil- 1 
düng ist nur ein Zerfallen in eine grössere Mannigfaltigkeit der : 
Arten. Und wenn im fliegenden Fische Vogel und Fisch oft noch '■ 
zusanwnen waren, so haben sie sich später gänzlich getrennt, während \ 
die Amphibien noch jetzt solch missgestaltete Ungeheuer sind, wie ; 
die ältere Naturphilosophie als Mischung der Gestalten sie in die 1 
Urzeit setzte. 

Diese Stufenfolge im Begriff hat Hegel nun aufs Vor- 
trefflichste in der ganzen Darstellung der Naturphilosophie enthüllt. 
Es ist kein Schematismus oder Formalismus, wie die Schellingsche 
oder Okensche Naturphilosophie, von der Hegel sagt, dass ein ein für 
alle Mal fertiges Schema, wie Stickstoff- Kohlenstoff, Pflanze -Thier 
u. s. w. auf alle Stufen der Natur, gleich Etiquetten auf Apotheker- 
Büchsen, aufgeklebt wird. Und es ist bei der sonstigen Einsicht 
des Herrn von Hartmann in die HegePsche Philosophie auffallend, 
wenn er (Philosophie des Unbewussten, S. 275) Hegel in eine Klasse 
mit Albertus Magnus, Paracelsus, Schelling, Oken und Steffens wirft, 
welche einen „phantastisch gebärenden und formalistisch parallelisiren- 
den Schematismus einer unwissenschaftlichen Naturphilosophie" aufge- 
stellt hätten. Das kommt von der nun einmal nicht zu bewältigenden 
Unfähigkeit dieses unbewussten Philosophen, den freilich in's volle 

Michelet, Hegel. a ' 


^r^jrz^yT^'^n IrS irZ-T^ Tr^rT-^zü A^. .--J l=r ^T Tllr-^» A 


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T«'Jiie^e veriea. in ier iynaniistiiLtfT rby^sk m. ::^-^eT rmn-jnt^'nTH^T 
'^'»i2t*iraKn. als l^i'ZizuTZ'tT. surr^r KttsclZL Ics i£:a'ies. ü'unsc- 

r^-irTerw Liese *:i am HlninieL 5»±.w^eiöe!i ^»liLiniiei ^^sctltai Äcit 
-iana 2:1 ir.:«m«*ntea. -ies x. eilen. Irtirriijuniiis ils F±^:t?r. ^jssec La± 
•ir.iiErie. Ural ^ *^il Hezei iiis- m Emce^ickle? ^K tt« frf^-r'.TiT > er*'^ 
irie er -iies äeiber r.errr.r, hem^.'Z-^JTrrr 501^ Er sa^ xjö: selbiac 
'lA.ia -er rJrJr.t die cherr:is«ihe FJrirTii^Jieir iieser EIe:neare bt^.UTzrc*- 
;«ti'ier .Schuler weiss, do^ä Wjssöt, L;ir: :l s^ w. .rdert weriea 
k.'>r.r.eru ^rie z>cjr\Ci,\ I: sehen ElrTTTrrrf- soi «lirersi \£e x[lymi*f"ryTt^ 
r. :r nach den M'tvzjcrsiSL des Eesri^ rsirticTiijriÄr^n Mjrirlö»^*^ Sie 
'Meihen, irer.n asich nichr eir.^lirh. cl^ iZzrineincn Mlchce diar Xirrrr^ 

Vr/n ihrer äuü^verüchen Rohe weriai sie dum im innem Eni- 
prr><.^^^ aU Vulcane, Quellen, Erdbeben, im meteorologischen als 
IJ I i t JJ, W I n d e, R eg en , Ae rol i t h en zu ieb^idigen ineinander über- 
'f(^:hfmfhm Momenten der Erde oder ihrer Atmosphäre. Da mag denn 
Irfiffiermann immerhin spottein, dass man nach Hegel Fabriken, um 
St /.'ine verrnittel.Ht comprirnirter Luft herzustellen, anlegen könne. 


— 35 — 

Sollen sie aus den Vulcanen des Mondes zu uns herunter, aus dem 
mit Hufeisensplitter vermengten Chausseestaub der Poststrassen hinauf 
zur Atmosphäre fliegen? Und doch ist alles dies immer noch zehn- 
tausendmal besser, als wenn man sie nach der funkelnagelneuesten 
Theorie flir kleine Planeten ansieht, die, in den Anziehungskreis 
unserer Erde gekommen, von ihr ergriffen werden. Hegel sagt sehr 
gut: „Wie die Luft zu Wasser fortgeht, indem die Wolken Beginne 
kometarischer Körper sind, so kann diese Selbstständigkeit der 
Atmosphäre auch zu anderem Materiellen, bis zu Lunarischem, zu 
Steingebilden oder zu Metallen fortgehen." Wie die Feuerkugeln, aus 
denen die Meteorsteine oft herausplatzen, doch etwas Irdisches sind, 
so auch diese. 

Bei dieser Gelegenheit ist auch der genialen Auffassung des 
meteorologischen Processes nach Lichtenberg, nicht nachDeluc 
bei Hegel Erwähnung zu thun. Dem Physiker von gewöhnlichem 
Schlage ist A=A, Wasserstoff ewig Wasserstoff u. s. w. Es ist keine 
Wandelung, kein Uebergehen, keine Dialektik der elementarischen 
Körper möglich. Die Regenbildung ist nur Wiederhervortreten 
des als Wasserdämpfe latent gewordenen, in die Luft gestiegenen 
Wassers. Es ist unleugbar, das Hygrometer zeigt keine Feuchtig- 
keit in der Luft. Dennoch wird die Anwesenheit der Wasserdämpfe 
hartnäckig behauptet, — ein Beispiel, wie ein empirischer Physiker 
mit der Empirie umgeht, und sich dabei doch die Philosophie der 
Himgespinnste, die er sich selbst webt, anzuklagen nicht entblödet. 
Der Barometer deutet die Auflösimg, Verwandlimg der Stoffe in 
Luft, die dadurch dichter, also schwerer wird, durch sein Steigen 
an, bis das Wasser wieder aus der Luft hervorbricht, damit ihre 
specifische Schwere herabsetzt, und so den Barometer fallen lässt* 
Je leichter nämlich die Luft, desto mehr sinkt das Quecksilber 
durch seine Schwere in ihr, während es bei schwerer Luft leichter, 
d. h. in die Höhe getrieben wird. 

Die blos allgemeinen elementarischen Mächte, die denProcess 
des Planeten ausmachen, gestalten sich dann zu Momenten, zu 
Qualitäten des individuellen Körpers, indem das Licht dem MetaU 
linischen an den Körpern als Farbe, das Luftige, Feurige als das 
Schwef liehe, Verbrennliche dem Geruch, das Wasser, als das. 
Neutrale, Salzige dem Geschmack entsprechen. Die drei Indi- 
vidualisationen des Lichts, der Luft und des Wassers sind dann 
selbst die Momente der irdischen Totalität des Körpers. Zu 


— 36 - 


,1 


selbstständigen chemischen Körpern geworden, sind sie dann die Base, 
die Säure und der Kry stall des Salzes. Im thierischen Orga- 
nismus stellen sich die fünf Sinne als der Reflex dieser Qualitäten 
im erkennenden Subjecte dar, indem die Farbe dem Sinn des Auges, 
die in Luft aufgelöste Körperlichkeit dem des Riechens, die Auf- 
lösung in Wasser dem GeschmaCke sich darstellt; wozu dann 
noch die totale Körperlichkeit -im Tastsinn, und das Erzittern des 
Materiellen im Gehör kommt. 

Ein anderes grosses Verdienst Hegels ist das, wodurch er — 
der hinter der neuem Naturforschung zurückgeblieben sein und die 
kindlichen Vorstellungen der Alten erneuert haben soll — vielmehr 
der Befreier der Physik von den veralteten Vorstellungen und dem 
erneuerten Mirterialismus geworden ist. Ich meine seine Fassung 
der specifischen Schwere und der Wärme. 

Was zuvörderst die speci fische Schwere betrifft, so ist es 
ein altes Vorurtheil schon von Thaies her, das dann von den 
Atomistlkem wieder aufgenommen wurde, dass alle qualitativen Unter- 
schiede der Dinge blos quantitativer Art sind. Durch Verdichtung 
oder Verdünnung werden aus dem Wasser oder der Luft u. s. w. alle 
Dinge. Mehr Atome enger zusammengedrängt, und dafür Poren aus- 
gestossen, machen 'das Ding zu einem andern. Seit Gassendi ist 
diese i^sicht in die neuere Physik eingedrungen. Wenn man also 
Wasser nur neunzehnmal verdichten könnte, so hätte man Gold. Und 
Immermann hätte gegen die Physiker, nicht gegen Hegel den Ein- 
wand machen sollen, dass nach ihnen in Fabriken Gold aus com- 
primirtem Wasser hergestellt werden könne; — ein Problem, worüber 
ja schon die Alchimisten brüteten. Schon Kant bekämpft diese 
Corpuscular- Theorie, als sei sie der Tod aller echten Philosophie, 
und setzt an deren Stelle die Lehre von dem verschiedenen Grade 
der Raumerfüllung. Die verschiedene specifische Schwere hat 
Hegel als Unterschied der Intensität gefasst. Die Materie ist con- 
centrirter oder expansiver nach ihrer verschiedenen Form, aber im- 
mer voll. Poren und Atome sind leere Hypothesen. Freilich das 
Organische, der Schwamm und die Haut, haben Poren, gewisser- 
maassen Durchgänge, JtOQOC im wahren Sinne des Wortes, nicht leere 
Zwischenräume. Die Materie und ihre Atome sind nichts an sich 
Seiendes. Die Form als das innere Wesen der Dinge lässt in dem- 
selben Räume eine neunzehnmal grössere Intensität in der einen 
Materie, als in der andern zu. Die Luft unter der Luftpumpe erfüllt 


— 37 — 

immer noch den Raum ohne leere Zwischenräume, aber in einem 
höheren Grade der Expansion. 

In der Lehre von der Wärme ist der TriuiViph der HegeVschen 
Naturphilosophie bereits gesichert, und ich glaube durch meine Heraus- 
gabe derselben auch etwas zu diesem Siege beigetragen zu haben. Wo 
hört man noch von Wärmestoff sprechen? Ein berühmter Physiker hat 
mir gestanden, die Lehre von der Wärme sei in einer Umwandlung 
begriffen. Jede Eigenschaft, jeden Zustand der Materie machen die 
Physiker zu einem Stoff, einer Materie; und das Ding als das Auch 
der Eigenschaften erklären sie sich so, dass die Atome des Einen 
Stoffes in den Poren des andern sich verstecken, und umgekehrt, — 
eine ungeheuerliche Vorstellung. Momentan ist sogar von einem 
Schallstoff die Rede gewesen. Der Wärmestoff, der elektrische, 
magnetische Stoff hat aber lange Zeit volles Bürgerrecht im Lande 
der Physiker genossen. Alles dies sind bei Hegel Zustände der 
Materie, die Wärme die Auflösung der Cohäsion, der Magnetismus 
die lineare, mechanische Formthätigkeit, die Elektricität 
die dynamische, formelle, indem die Körper verschiedener 
elementarischer Eigenschaften, wie Metalle und Harze, einen Gegen- 
satz bilden, der im chemischen Processe als dem vollendeten 
Siege der individuellen Form im Unorganischen zur totalen Neu- 
tralität der Salzbildung fortgeht. Und nun identificiren die Phy- 
siker Magnetismus, Electricität und Chemismus, während die Philo- 
sophie doch auch den Unterschied festhält. Nach ihr fällt dann 
auch die latente Wärme, die Wärmestrahlung fort. Denn eine latente 
Auflösung der Cohäsion ist eben keine, nur die Fähigkeit sich auf- 
zulösen. Und das Ausstrahlen ist nichts als Mittheilung dieses 
Zustandes an andere Körper, wie auch das Feuer um sich greift. 

Was unter diesen Stoffen das Licht betrifft, so ist es dem 
Lichtstoff in der empirischen Physik sonderbar ergangen. Hier 
folgten sie der Philosophie, und wollten das Licht zu einer Eigen- 
schaft der Materie, nämlich zur Bewegung des finstern Aethers 
machen, während in der That das Licht die Materie selber in Form 
der Allgemeinheit, der reihen Identität ist. In der Emanationstheorie 
strahlte das Licht aus, noch bei Newton hatte es sieben Dunkelhei- 
ten, Farben in sich, bis es in der Interferenz - Theorie dann zu 
blossen Schwingungen nach der Analogie des Klanges wurde. So 
sind wir denn auf die Theorie vom Lichte und der Farbe, einen 
der Glanzpunkte der Hegel'schen Naturphilosophie gekommen, wo 


I 




^e riaa P.[iv.rer3,n"X zwisoheti Gf^edie imi ycv::a l2ern.cmrneTr. Dem 
die jetTt^e rrxerferecX'Trjctjrie ist mir öc: A2:wjiiifl; r: g «iär Xewr-jc.- 
schen- Zunächst ist il:er <iie Grocheir ziklii^ worien. «üe Hr-^d! 
gt:^en >»ewti>!i ül'.ter, nicieai er ^in Vemiräi ils Binzarei. Ucce- 
sd-»:r,krhe:t, L'nrlchtlrkcrit, FiÜTch. UnreiliciikeE: beieicrrrTr^. wihread 
fia.-* meiner ^Na/ir.Leter*' Blinriheii- UirriäarrTT r: eit . G^idsnkaijcsiÄeir 
Givi F^inralti^iceit g-escholten ^rir'L Giebt es ah-er etwas- Aerzeres. aJs 
#ia*i Licfit a;is fjieLen I>iiikelherrc2i testeriai zu lassen? Und Kt tue 
jetzige IrX-trferenZ'TTieorie mft Ehren Br:ica:iietle!i der WeHea etwas 
Anrieres, als die »ogenari-nte Brecb..iriz des Lichts m Pr^rna. 
Imrner kommt durch Brechen die Farbe zzm. Vörsch^än. Hegel 
zeigte nun^ da.-« Brechen, ein. Unsinn ist; es kam weder im Einen 
nrxih irö anderen Mediam sreschehen. AIs«> etwa auf der Grenzer 
Er fa.sste die Brechor^g als eine verschiedene Verschiebnng nach 
der T^ichtfgkeit der Meiiien; woluircb Heu ub^ Dunkel "Blaa 
oder lAinkel über Hell Gelb gezogen wird, und im Roth die volle 
l>urchdringung von hell and dunkel nach Goethe zn bndäi ist. 
Newton kann nicht die Bläae des Himmels, nämlich öle durch ^c 
erhellende Atmosphäre gesehene Finstermss. noch das Gelb der 
Sonne oder des Mondes, nämlich die Trübung des weissen lichtes^ 
erklären; und roth erscheinen beide HinMnelskörper. weim die Trü- 
bung intensiver ^-ird. Nach Newton soll die Luft blau sein, und 
Gelb und Roth den Rappel der Reflexion, die anderen Farben den 
des Fhirchlaufens haben. Hei^t das etwas Anderes, als dass. wenn 
wir Roth sehen, Roth da ist? Die Farbe ist nach Goedie, Schelling, 
Hegel, Schopenhauer die Totalität, das Dritte zu Licht und Finster- 
nis». Die ganze Geschichte der Farbenlehre von Aristoteles an be- 
stätigt Goethes Theorie. Dieselbe philosophisch bewiesen zu haben, 
ist schon für sich ein unsterbliches Verdienst der HegeVschen Natur- 
philosophie, wenn sie auch kein anderes hätte; es ist immer eins 
der grössten unter den vielen, die wir bereits verzeichnet haben. 

Es ist wahr, am Anfang seiner Laufbahn, hat er in der Dis- 
sertation De orbitis planetaTiim die Nothwendigkeit der Reihe der 
Planeten bewiesen, indem er die Hypothese eines Zwischengliedes 
;5wischen Mars und Jupiter, die seitdem gefundenen kleinen Planeten, 
leugnete. In der Naturphilosophie hat er den Fehler aber ni-ieder 
gut gemacht, und die Ausfüllung der Lücke anerkannt Wie schön 
ist dann nicht nur der philosophische Beweis des Galilei'schen 
Gesetzes des Falles, sondern auch der der drei Keppler'schen 


— 39 — 

Analogien: nicht minder ' der der Einheit der Centrifugal- 
und Centripetal-Kraft, während die Astronomen, Bestimmungen 
der endlichen Mechanik auf die absolute übertragend, die himm- 
lische Bewegung aus Stoss und Fall zusammensetzen. 

Diese Vermischung der Standpunkte, dieses Erklären -Wollen 
der hohem Standpunkte aus den niedem hat Hegel dann schliessUch 
bei der Fassung des Organismus, seinem glänzendsten Verdienste 
in der Naturphilosophie, schlagend nachgewiesen. Cartesius 
fasste das Leben mechanisch, später betrachtete man es chemisch, 
bis Hegel nach Aristoteles und Kant's Vorgang es teleologisch fasste. 
Hier «ist die Idee als die sich selbst zur Objectivität gestaltende 
Subjectivität, die sich selbst ihren Leib schaffende Seele mit Meister- 
hand geschildert, so das Anderssein der Natur aufgehoben, die 
Immanenz des Gedankens in ihr nachgewiesen, und damit der 
Uebergang in die Psychologie gemacht Es ist also nicht so viel 
Aufhebens davon zu machen, dass Hegel die Stemenwelt gegen 
den Organismus heruntersetzt: „Man kann die Sterne wegen ihrer 
Ruhe verehren; an Würde sind sie aber dem concreten 
Individuellen nicht gleich zu setzen. Dieser Lichtausschlag 
ist so wenig bewundernswürdig, als einer am Menschen." Daraus 
hat man, wie aus andern Sätzen, Anklagen gegen Hegel schon bei 
seinen Lebzeiten zusammengeschmiedet. Können wir uns wundern 
über das organisirte System der Anschwärzung, was er und wir 
nach seinem Tode bis auf die heutige Stunde zu erdulden haben? 
Er sagt darüber selbst im Verlaufe seiner Vorträge über die Natur- 
philosophie: „Man hat in der Stadt herumgetragen, ich habe die 
Sterne mit einem Ausschlag am organischen Körper verglichen. 
In der That mache ich aus einem Concreten mehr, als aus einem 
Abstracten, aus einer auch nur Gallerte bringenden Animalität mehr, 
als aus dem Sternenhimmel," wie schon Goethe sagt: 

„Allein es mangelt an Beschauem." 

Wir werden sehen, wie auch der Punkt* aufs / und die Maus mit 
der Hostie noch bei Hegels Leben zu solchen organisirten Ver- 
ketzerungen haben herhalten müssen. Unter allen Planeten hat er 
aber der Erde den höchsten Rang angewiesen, weil sie, wegen ihrer 
Geschichte, der einzige Boden des Geistes sei. Organismus hat er 
ihr, aber nur an sich, zugeschrieben; was nur Diejenigen tadeln 
können, die das Unorganische und Organische als Leben und Tod 
absolut auseinander halten. 


— 40 — 

C. Bedeutung Hegels für die Psychologie* 

Die Fassung der Psychologie ist eigentlich das Hauptverdienst 
Hegels, nicht als ob er, wie manche Philosophen, z. B. der ver- 
schollene Beneke, und aus der HegeFschen Schule Feuerbach, Alles 
auf Anthropologie oder Psychologie reduciren wollte. Sondern wenn- 
die HegeVsche Philosophie mit Recht die Philosophie des Geistes 
genannt worden ist, zunächst im Gegensatze zu der Schelling'schen. 
Naturphilosophie, so ist es einleuchtend, dass die Definition des 
Geistes, wie sie zunächst in der Psychologie, als der Lehre vom 
individuellen Geiste, an uns herantritt, der innerste Kern- und Mittel- 
punkt jener Philosophie ist. Wie hat Hegel nun den "Geist gefasst? 
Auch hier ist, wie überall, immer wieder auf Kant zurückzugehen,, 
als Denjenigen, der für alle Gebiete der neuem Philosophie den 
Ausgangspunkt und die Grundlegung dargeboten hat. 

Es ist bekannt, wie der Kriticismus der reinen Vernunft die 
Unmöglichkeit einer rationellen Psychologie, wie die vormalige 
Wolf sehe Metaphysik sie aufstellte, bewiesen hat. Die Seele ist 
ihm zunächst eine der drei Ideen der Vernunft: nämlich das Unbe- 
dingte der kategorischen Synthesis in einem Subjecte, wo dann in 
der vormaligen Philosophie das denkende Subject als eine Substanz 
aufgefasst wurde. Der Kernpunkt der Kritik ist nun der, dass, da die 
Kategorien nicht auf's Unbedingte angewendet werden dürfen, es- 
unstatthaft sei, die Seele als eine Substanz zu fassen. Denn von 
der Einheit des Subjects auf die Einheit der Seelensubstanz schliessen^. 
sei ein Paralogismus. Wir haben nämlich die vier analytischen Sätze: 
I., Ich bin Subject; 2., einfaches Subject; 3., ein und dasselSe 
numerisch identische Subject; 4., als denkend, ein von den Dingen 
ausser mir unterschiedenes Subject. Mache man daraus synthetische 
Sätze, indem man das Ich als Object betrachte und die Kategorien 
darauf anwende, so sei das Seelending i., als Substanz, immateriell; 
2., der Qualität nach, einfache, also incorruptible Substanz; 3., der 
Quantität nach eine numerisch -identische, persönliche Substanz; 
4., der Modalität nach eine von dem Räume unabhängige geistige,, 
also unsterbliche Substanz. Da wir nach Kant zu dieser Ueber- 
tragung von Erkenntnissen eines Gebietes auf ein anderes kein Recht 
haben, so müssen wir uns mit den Erscheinungen unseres Ich in 
uns, als eines Subjectes, begnügen, und nichts über das an sich 
seiende Wesen unseres Geistes, als einer Substanz, auszusagen wagen. 


— 41 — 

In der ersten Ausgabe der Kritik der reinen Vernunft bemerkt er 
noch hierüber, damit sei auch die schwierige Frage der Gemein- 
schaft der Seele mit einem organischen Körper gelöst. Denn Aus- 
dehnung, Materie seien ja nur Vorstellungen in uns. Und sollten 
unserer Seele vor der Geburt oder nach dem Tode die Formen 
der Sinnlichkeit fehlen, so könnte sie als denkendes Subject immer 
noch das uns jetzt unbekannte Ding an sich erkennen, wie denn 
auch an einer andern Stelle dieser ersten Ausgabe die Vermuthung 
ausgesprochen wird, dass das Ding an sich und. unser Ich ein und 
dasselbe denkende Wesen sei (s. oben, S. 22). 

Die Erkenntniss dieser möglichen Identität nicht erst in einem 
mögÜchen vergangenen oder zukünftigen Leben für den Geist in 
Anspruch genommen, sondern als den absolut gegenwärtigen Zu- 
stand des Geistes behauptet zu haben, das ist der Standpunkt Hegels, 
Ja, die Prädicate: einfache, numerisch eine, immaterielle Substanz 
kommen dem Geiste nicht als einem Seelendinge, als einer unaus- 
gedehnten Substanz im Gegensatze zur ausgedehnten zu. Solche 
Kategorien sind nicht, wie Kant andeutet, etwa zu hoch, um auf 
unser Ich angewendet zu werden; sie sind vielmehr zu schlecht, zu 
niedrig, indem sie sich eben nur auf sinnliche, endliche Dinge be- 
ziehen. So hat uns Kant zwar von einem Seelendinge befreit. Aber 
die positive Natur des Geistes als reine Thätigkeit nicht erkannt. 
Die Substanz des Geistes ist seine Thätigkeit selbst; und diese 
Thätigkeit ist höher, als seine vermeintliche ruhende Substantialität 
Wenn daher Locke sagte, die Seele denke nicht immer, und richtig 
daraus die Möglichkeit erschloss, dass sie auch materiell sein könne, 
so sagte Cartesius im Gegentheil: Ich denke, also bin ich. Das Den- 
ken, die Thätigkeit ist allein die Substanz der Seele; die Seele ist 
nichts ausser ihrer Thätigkeit. Sagt man, sie muss ein Substrat 
als ihr Subject haben, das Denken setze ein Denkendes voraus, so 
wäre das Substrat nur das Gehirn, das aber nicht die wahre Sub- 
stanz des Denkens ist; sondern diese Substanz ist nur das Denken 
selbst, das Gehirn aber seine blosse Grundlage. Damit hat Hegel 
wesentlich den speculativen Standpunkt der Aristotelischen Psycho- 
logie wieder hergestellt, die auch die Seele als die ursprüngliche 
Entelechie eines organischen Leibes fasste. 

In der Frage nach der Gemeinschaft von Leib und Seele 
befriedigt Hegel weder die populäre Ansicht, welche beide als 
absolute Gegensätze des Materiellen und des Immateriellen fasst, 


— 42 — 

und dann ihre Einheit für unbegreiflich ansieht, noch die metaphy- 
sische Behauptung Descartes', Spinoza's, Malebranche's, Leibnitzens, 
dass Gott diese Einheit sei, weil dies nur ein abstracter Satz sei. In 
den Zusätzen zum Texte spricht er es bestimmt aus, dass die Ein- 
heit der Seele der Mannigfaltigkeit der Materie gegenüber eben 
die vollendete Idealität des Materiellen ist, die schon in der Natur- 
philosophie als Sdhwere,. Licht, Form u. s. w. begann. „Das Ma- 
terielle in seiner Besonderung hat keine Wahrheit, keine Selbst- 
ständigkeit gegen das Immaterielle, das übergreifende wahrhaft All- 
gemeine." So ist Hegel das von den Metaphysikern gesetzte Band 
der Einheit oder Gott concreter die Einheit des Denkens und des 
Seins, des Geistes und der Materie. Wenn Hegel dabei gegen den 
Materialismus polemisirt, so erkennt er doch sein begeisterungsvolles 
Streben an, aus dem Dualismus herauszugehen und die Zerreissung 
des ursprünglichen Einen aufzuheben. Wenn er es dann aber als 
einseitig tadelt, dass die Materialisten das Denken aus der Materie 
als eine Gehimfimction erklären wollen, so ergänzt er diese Ein- 
seitigkeit zugleich durch den Satz, dass der Geist nicht durch ein 
Anderes hervorgebracht wird, sondern dasjenige, von welchem er 
gesetzt sein soll, zu einem von ihm Gesetzten macht. 

So hat denn Hegels ganze Darstellung in den einzelnen Stufen 
des Geistes keine andere Bedeutung, als diese durch ein Andres 
gesetzte Bestimmtheit des Geistes, dieses Herkommen des Geistes 
von der Natur, als Seele in der Anthropologie, aufzuheben, um sich 
im Gipfel der Psychologie als das durch sich selbst Gesetzte, als 
das Sichselbstbestimmende, kurz als Freiheit zu setzen. In der 
Anthropologie zeigt der Geist, sich der Natur entwindend, seine 
Totalität zunächst nur im Aussereinander der räumlichen Unterschiede 
der Racen, dann der zeitlichen Succession der Lebensalter, geht 
durch den Geschlechtsunterschied, den Unterschied des Schla- 
fens und Wachens zur Totalität des natürlichen Charakters in 
den Temperamenten, den Anlagen, Talenten u. s. w. bis dazu 
fort, sich in der Gewohnheit, der Physiognomik und der Ge- 
berde den Leib zum Ausdruck seiner Thätigkeit zu machen. Zweitens 
zum Bewusstsein seiner selbst gekommen, sieht der Geist sich der 
Natur gegenüber gestellt, um in der Empfindung, dem Vorstel- 
len, dem Denken sie sich theoretisch immer mehr anzueignen, 
bis er praktisch, sich zum Maasstab der Dinge machend, als Trieb, 
Willkür und Freiheit, endlich als vernünftiger Wille sie sich 


— 43 — 

unterwirft. Aus der Freiheit erbaut er dann eine zweite Welt, eine 
Welt des Geistes, die aus seinem Innern mit Bewusstsein, wie die 
erste, die Natur, bewusstlos aus der logischen Idee hervorging. So 
kommen wir auf Hegels Bedeutung für den Staat und die gesammte 
praktische Philosophie. 


IL Hegels Bedeutung für den Staat. 

Dass die dialektischen, überhaupt theoretischen Principien der 
HegePschen. Philosophie fiir die Praxis und das bürgerliche Leben 
laicht unfruchtbar gewesen, brauchte nicht erst Cieszkowski durch 
«eine Philosophie der That, als eine Consequenz der Hegerschen 
Principien, zu beweisen. Das Erscheinen der Rechtsphilosophie 182 1 
hat dies bereits in's klarste Licht gestellt. Dieses Werk bildet die 
Mitte und den höchsten Glanzpunkt seiner politischen Ansichten, 
während die Abhandlung: „lieber die wissenschaftlichen Be- 
liandlungsarten des Naturrechtes" 1802 — 1803, und die 
erste Ausgabe der „Encyclopädie der philosophischen Wissenschaften" 
1 8 1 7 die Rechtsphilosophie noch aus dem antiken Standpunkte her- 
auszuringen suchen, die zweite und dritte Ausgabe der Encyclopädie 
1827 und 1830 eine, man darf es nicht verhehlen, Accommodation 
^n die in höheren Regionen herrschenden Ansichten, ein Nachgeben 
gegen die reactionäre Politik der Regierungen in den Restaurations- 
jahren, zu erkennen geben. Mit grossem Unrecht sieht Haym 
darin eine absichtliche Accommodation. Hegel hatte eben in seiner 
letzten Zeit die Energie seiner Jugendansichten verloren, die ihn, 
wie man weiss, zum begeistertsten Verehrer der Französischen Revo- 
lution von 1789 machten, während ihm die gemässigtere von 1830 
schon viel zu weit zu gehen schien. In der ersten Abhandlung geht 
Hegel sogar in so fern bis Plato zurück, als, wenn er die Stände 
des physischen Bedürfnisses als unfreie bezeichnet, die nur relative 
Sittlichkeit haben, sich ihm die Stände der absoluten Sittlichkeit 
theils auf negative Weise als Stand der Tapferkeit darstellen, wel- 
cher (das Ganze der sittlichen Organisation erhält, theils positiv als 
der Stand der Freien, welcher die lebendige Bewegung und der 
Selbstgenuss des Ganzen ist, indem er die Thätigkeit für die allge- 
meinen Interessen ausübt. Der Verein aller Stände ist ihm aber die 
Darstellung des sittlichen Volkslebens im Staat, wodurch die Indi- 


^ 


— 44 — 

Einheit mit ihrem Wesen und ihrer Substanz gebracht 

«cnicn- . , ^ ■ v. j T- , 

|;i,t>nso heisst es in der ersten Ausgabe der Encyclo- 

(■ dass in der Regierung, als dem allgemeinen Stande, im, 

- —i nun Extrem der Einzelheit und Willkür des Privat- 

' _ , ^^ sitdiche Geist sich als das Vertrauen des Individuums. 

"'-^nem substantiellen Sein, zur Wirklichkeit der Substanz dar- 

"" j ^ jor allgemeine Wille bethätigt wird. Die Verfassung 

It riie Bestimmungen,' auf welche Weise der vernünftige Wille, 

, er mir an sich der allgemeine der Individuen ist, verstan- 

1 j,^.|;;iideii, durch die Wirksamkeit der Regierung und ihrer 

" i^,^ ^neige erhalten und gegen die zufällige Individualität 

-htir-i »''"'e. Was aber die Momente der Verfassung seien, 

"i.~;- ,"n \''.'lk frei sei, wird hier noch nicht weiter ausgeführt 

,;^-.( im Gegensatz zu dieser naiven Reproduction der grie- 
•.^■V' S;i'''<-"hkeit, die freilich auch noch nicht den Bedürfnissen 
i. ttwvi''«'» tVeiheit genügen karm, sehen wir nun in der zweiten 
.y, <;: iten Auflage der Encyclopädie, die beide imWesent- 
v-vi» *-.;!' demselben Standpunkte stehen, wie sie denn auch in der 
,^ ^>l nahe auf einander gefolgt sind, offenbar das conservative 
^ ,.^.V«. ^he Ausschreitungen des sogenannten „modernen Liberalis- 
_« i^"- vüv im dritten Decennium unseres Jahrhunderts immer mehr er- 
.p-■^^Hl, auszuschneiden und niederzudrücken. Ist dieses Hinneigen 
». ^^«,t\ i'mementalen Politik auch durch äussere Umstände veranlasst, 
,,- .u. il.irum doch noch nicht der Vorwurf Hayms gerechtfertigt, 
-VI IU'K-"1>' Philosophie in diesem Falle, wie überhaupt, nur ein 
\».«,^Ulil'!(en an Zeitströmungen sei. Es haben Angriffe von ent- 
..^Mijivst'tzter Seite ihn getroffen, denen er nicht immer kräftigen 
i\ \<vtxirtinl zu leisten im Stande war. Der Satz der Vorrede des 
Vv*>"ivilits: „Was vernünftig ist, das ist wirkhch; und was wirklich 
■m, il,i> i't vernünftig," hatte die süddeutschen Liberalen dazu veran- 
iLiiAi Hegel des Servilismus zu beschuldigen, indem sie sagten, Hegel 
'viliv den Absolutismus in Preussen ftir vernünftig, weil er doch 
vs.iklich sei. Wobei seine Anschwärzer vergassen, dass er im Natur- 
■ s»t)l selber die constitutionelle Monarchie, die Pressfreiheit, die 
\ ■vÄv'hwomengerichte als die vernünftige Idee der Freiheit ausge- 
^"HK^hen hatte. Und von der andern Seite sah die Regierung, die 
.ii> M'ine Berufung vielleicht die Hoffnung einer Stütze gegen den 
i.il'.i.lien Liberalismus" geknüpft hatte, sich nun bei Erscheinen 


— 45 — 

seines Naturrechts getäuscht, indem er Dinge als vernünftig forderte, 
welche sie selber dem Volke als Himgespinnste in Wirklichkeit nicht 
zu gewähren entschlossen war. 

Doch wie es sich auch mit diesen äussern Einflüssen verhalten 
haben möge, es leidet keinen Zweifel, dass Hegel eigentlich die 
idealen Forderungen, die er im Naturrecht als Philosoph an das 
•Gegebene stellte, wie massig dieselben auch immer waren, später 
aufgab, und offenbar der gemeinen Wirklichkeit Rechnung trug, 
während er, als er schrieb: „Was vernünftig ist, das ist wirklich," 
die Idee als die Kraft behauptete, sich im Laufe der Zeit auch die 
etwa noch fehlende Wirklichkeit zu verschaffen. Kurz, er legte zu- 
letzt einen noch grösseren Accent auf das monarchische Princip, 
als immerhin auch schon in der Rechtsphilosophie sichtbar ist. Er 
sagt: „Die lebendige Totalifät, die Erhaltung, d. h. die fortdauernde 
Verwirklichung des Staates überhaupt und seiner Verfassung ist die 
Regierung," während doch im Selfgovemment dem Volke dies 
mit zukommt, und es in der lebendigen Totalität eine Stelle ein- 
nehmen muss. Aber freilich Hegel werden die drei Gewalten, die 
bei Aristoteles, Montesquieu und in seinem Naturrecht noch vor- 
kommen, zuletzt zu einer blossen Theilung der Regierung; und an 
die Stelle des Ausdruckes der Gewalt ist überwiegend der des 
„Geschäftes" getreten. Die fürstliche Regierungsgewalt vornehmlich 
wurde ihm dabei '„der Alles haltende, beschliessende Wille des 
Staates, die höchste Spitze desselben, wie die Alles durchdringende 
Einheit". In der besondern Regierungsgewalt thut sich dann die 
Theilung des Staatsgeschäfts in seine sonst bestimmten Zweige her- 
vor; wodurch die Theilnahme Mehrerer an dem Staatsgeschäfte, 
welche den allgemeinen Stand ausmachen, bedingt ist. Endlich: „Die 
ständische Behörde betrifft eine Theilnahme aller Solcher, welche 
der bürgerlichen Gesellschaft überhaupt angehören und insofern 
Privatpersonen sind, an der Regierungsgewalt, — und zwar näher 
an der Gesetzgebung. So können die subjective Freiheit und Ein- 
bildung und deren allgemeine Meinung sich in einer existirenden 
Wirklichkeit zeigen, und die Befriedigung, etwas zu gelten, geniessen." 
Man kann nicht klarer den von vielen Regierungen gepflegten 
Scheinconstitutionalismus darstellen. 

Von dem Ideale einer constitutionellen Monarchie, das Hegel 
noch im Naturrechte vorgeschwebt, spricht er daher in den zwei 
letzten Ausgaben der Encyclopädie ziemlich geringschätzend. „Sogar 


der Feudal-Monaichie" sagt er, „kann der beliebte Naine < 
tiooelle Monarchie nicht versagt werden.*' Die Theüung der Ge- 
walten möchte er wohl ün Principe noch zugeben, als die entwickelte 
Freiheit der Momaite der Idet Aber schleich will er diese Thei- 
lung in die ideale Einheit der Subjectintät zurückgeführt wissen, 
welche als Wirklichkeit allein die Indi%'idualilät des M<Hiarchen seL 
Das nennt er die wahrhafte Monarchie. „Das Geschäft des Gesetz- 
gebers aber zur selbstsiändigen Gewalt, und zwar zur eisten mit 
der nähern Bestimmung der Theilnahme .\ller daran, und die Re- 
giening^ewalt zur davon abhängigen, nur ausfubraidai zu machen, 
— dies setzt den Mangel der Erkenntniss voraus" u. s. w., während 
die Neuzeit doch allein in diesen von Hegel verschmähten und 
geschmähten Forderungen die wahre Freiheit einer Nation erkamen 
kann- „Stande Versammlungen", setzt Hegel überdies hinzu, „sind 
schon mit Unrecht als die gesetzgebende Gewalt in der Rücksicht 
bezeichnet worden, als sie nur einen Zweig dieser Gewalt ausmachen, 
an dem die besonderen R^enmgsbehörden wesoitlichen Antheil 
und die fürstliche Gewalt den absoluten der schüesslichoi Entschei- 
dung hat." Also das absolute Veto! Ja er fuhrt sogar die grössere 
Theilnahme, Macht und Einfluss der Privatpersonen auf die Staats- 
geschafte, weil sie ihre Sonderinteressen herauskehren, als einen 
Grund des Rückschritts an dem Beispiele Englands an, „dessen Ver- 
fassimg darum als die freieste angesehen wird," während die Er- 
fahrung nothwendig zeige, dass „die objective Freiheit, d. h, das 
vernünftige Recht, vielmehr der formellen Freiheit auigeopfert ist"» 
H^el verwirft sogar „den hochklingenden Namen" des Steuerbe- 
willigungsrechts, indem das Finanzgesetz wesentlich eine R^erungs- 
maassregel sei, und am Budget nur der kleinste Theil des Betrags 
disputabel und einer veränderlichen, jähriichen Bestimmung unter- 
worfen sein könne; — die so sehr von manchen Regierungen ge- 
wünschte Bestimmung, dass „der Haupttheil des Bedarfs als bleiben- 
der Stamm angesehen würde". 

Ueber die Geschwomen heisst es sogar: Die Institution der 
,^fogenannten Geschwomengerichte" beruhe doch mehr auf unwesent- 
lichen Km:ksithts;n , abstrahire von der Bedingung des Eingeständ- 
nisses, und enthalte daher „die (eigentlich barbarischen Zeiten an- 
gehörige) Vermengung und Verwechslung von objectiven Beweisen 
und von subjectiver sogenannter moralischer Ueberzeugung". Was 
hätte Hegel gesagt, wenn er noch erlebt hätte, dass sogar dem Preussi- 


.— 47 — 

sehen gelehrten Richter selbst diese „barbarische Vermengung" ein- 
geräumt wurde? Auch von der Pressfreiheit und den sonstigen Pal- 
ladien der Freiheit im Naturrechte ist in dieser letzten Gestalt der 
praktischen Philosophie Hegels nichts übrig geblieben. 

Wenden wir ims mm zum Geiste seiner Rechtsphilosophie, 
wie er sie in der Manneskraft seines Gedankensystems aufgestellt hat 
Hier baut sich uns das Gebäude des praktischen Geistes, das System 
des Rechts und des Staats ganz aus dem Metalle der Freiheit auf. 
Wenn in ihr die individuelle und die substantielle Seite unter- 
schieden werden muss, und Hegel als Philosoph die Wahrheit natür- 
lich nur in der Einheit der Gegensätze erblicken kann: so ist doch 
nicht zu leugnen, dass der Factor des Allgemeinen ein kleines 
Uebergewicht über den der Einzelheit hat. Daher fliesst die immer 
schon, wenn auch nicht in dem Maasse, wie später, vorhandene 
Furcht, dem Individuum einen zu grossen Antheil an der Bildung 
der Staatsidee zu lassen. In diesem Sinne eifert er gegen Fries, 
und nennt es eine Seichtigkeit, wenn derselbe behauptet, „in einem 
Volke, in welchem echter Gemeingeist herrsche, würde jedem Ge- 
schäfte der öffentlichen Angelegenheiten das Leben von Unten 
aus dem Volke kommen, würden Jedem einzelnen Werke der Volks- 
bildung und des volksthümlichen Dienstes sich lebendige Gesell- 
schaften weihen, durch die heilige Kette der Freundschaft 
unverbrüchlich vereinigt". Hegel nennt dies „und dergleichen" — 
„den Brei des Herzens, der Freundschaft und Begeisterung"; was 
doch die Jetztzeit in der freiwilligen Association, freilich ohne Her- 
zensbrei, als das wahre Princip der Selbstregierung anstrebt. 

Was den Ausdruck Volkssouveränetät betrifft, so bekämpft 
er ihn aus demselben Grunde als einen „verworrenen Gedanken" der 
„neuem Zeiten," — „dem die wüste Vorstellung des Volks zu Grunde 
liegt". Das Volk, ohne die Gliedenmg des Ganzen genommen, sei 
eine formlose Masse. Er will daher nichts von ihr „im Gegensatze 
gegen die im Monarch^ existirende Souveränetät" wissen; und 
zieht den Ausdruck „Staatssouveränetät" vor, in dem Sinne, dass 
die besondem Geschäfte und Gewalten des Staates in der Einheit 
des Staates als ihrem einfachen Selbst ihre letzte Wurzel haben". 
Wenn er abeir auch hier den Monarchen als dieses einfache Selbst 
bezeichnet, so meint er doch in einem aus dem mündlichen Vortrage 
geflossenen Zusätze, dass, wenn man es als widersinnig behaupte,, 
der Zufälligkeit der Bildung des Monarchen und seines besondem. 


— 48 — 

Charakters die letzte Entscheidung zu überlassen, im Gegentheil die 
Spitze formellen Entscheidens meist den Inhalt, bei vollendeter 
Organisation des Staates, schon als einen gegebenen erhalte, so dass 
dem Monarchen nur die Unterschrift verbleibe. Indem er sich dabei 
des Vergleiches bediente, der Monarch sei der Punkt aufs /, so hat 
man dies wieder in der Stadt herumgetragen, und bei König Friedrich 
Wilhelm III. Hegel deswegen angeschwärzt. Diesen Hinterträgem 
antwortete aber der König in seinem geraden Rechtssinn, der Punkt 
sei ja dem i noth wendig, um es zu dem zu machen, was es sei. 
Der König war an sich ein echt constitutioneller Monarch. Kommt 
Hegel dann in der Definition des Staats sogar bis zu einer Art gött- 
lichen Rechtes, so versteht er doch das Göttliche im Staate nur als 
die substantielle Einheit aUer Momente des Staats, in welcher die 
Willkür und Zufälligkeit des Einzelnen, also auch des Fürsten, auf- 
gehoben ist 

Was nun das Einzelne betrifft, so ist jede Stufe des Rechts 
eine Darstellung des Willens, des vernünftigen WiUens, der Freiheit 
So ist das Eigenthum diese erste unmittelbare, aber imumschränkte 
Darstellung der freien Disposition einer Person über eine Sache. 
Im Vertrage ist diese Freiheit durch die Uebereinkunft mit einer 
andern Person gesetzt In der Strafe ist es die eigene Vemimft des 
Verbrechers, welche durch die Negation seiner Willkür den freien 
Willen in ihm zur Darstellung bringt Der moralische Stan dpunkt 
bildet die Entwickelung der subjectiven Freiheit, der Gesinnung des 
Guten als Tugend, Pflicht imd Gewissen. In der Familie 
sind es freie Personen, die durch die Innerlichkeit der Gesinnimg 
sich in einer sittlichen Sache, in einem geistigen Verhältnisse als 
Eins wissen. Während die bürgerliche Gesellschaft die Be- 
friedigung der Bedürfnisse der Familien durch die Theilung der Arbeit 
in dem Berufe der frei gewählten Stände, durch die freie Con- 
currenz, durch die Freiheit des Verkehrs und des Handels, durch die 
Freiheit des Umzugs u. s. w. gewährleistet, bildet der Staat den 
höchsten Gipfel der freien Entfaltung einer Nation, deren Politik 
darin bestehen soll, die sittliche Aufgabe, welche der Weltgeist 
ihr in der Weltgeschichte angewiesen, mit ihrer freien Selbstent- 
schliessung durchzuführen. Die wahre Repräsentatiwerfassung, 
als worin die Factoren des Volkgeistes in ungehinderter Thätigkeit 
wirken und zu Einem Ziele wirken, durch ihre selbstständige Hal- 
tung sowohl, als durch ihre substantielle Einheit, sieht Hegel mm 


— 49 — 

inüer constitutionellen Monarchie, als dem letzten Producte 
der weltgeschichtlichen Entwickelung. Die drei Momente der To- 
talität der Idee des Staats parallelisirt er dann mit den drei Mo- 
menten des logischen Begriffs: Einzelheit, Besonderheit und All- 
gemeinheit. Die gesetzgebende Gewalt findet die allgemeine 
Norm des Staatslebens im Gesetze; die Regierungsgewalt sub- 
sumirt die besonderen Fälle der verschiedenen Sphären der bür- 
gerlichen Gesellschaft unter das Gesetz. Der Fürst ist die letzte 
Spitze der Entscheidung im Einzelnen. Hier ist Montesquieu's 
Theorie und Englands Praxis Hegels Vorbild, und er umgiebt seinen 
freien Staat mit allen den Garantien, welche die moderne Freiheit 
für nöthig erachtet, Geschwornengerichte, Press freiheit, 
Oeffentlichkeit der Rechtspflege und der Parlamente 
u. s. w. Die gesetzgebende Gewalt entspringt ihm freilich noch, 
wie in der Feudalmonarchie, aus den Ständen der bürgerlichen 
Gesellschaft, nicht aus dem allgemeinen Stimmrecht. Daher will 
er eine stabile erbliche, und eine gewählte bewegliche Kammer. Und 
der Fürst, die Einzelheit, bleibt ihm die Grundlage des Ganzen; 
weshalb er auch mit der fürstlichen Gewalt beginnt und sie wegen ihrer 
Einzelheit zu einer natürlichen, erblichen macht. Hat Hegel 
hier auch noch nicht die höchste Idee der politischen Freiheit 
erreicht, so hat er doch das Ideal seiner Zeit ohne Menschenfurcht 
und äussere Rücksichten der Mitwelt hingestellt. — In der Philo- 
sophie der Weltgeschichte hat er aber das Panorama der Frei- 
heit aufgerollt, indem er das Menschengeschlecht in ihr allmälig zum 
immer mehr erstarkten Bewusstsein der Freiheit, zur stets weiter 
sich entfaltenden Verwirklichung dieser Idee hinführt. 

III. Hegels Bedeutung für die Religion. 

Hegel theilt mit Schleiermacher das Loos, dass Beide, aufge- 
treten in einer Zeit, wo die Aufklärung oder die Nachklänge der- 
selben die Religion antasteten und bei den Gebildeten verächtlich 
machten, dieselbe wieder zu Ehren bringen wollten, Beide indessen 
für ihren guten Willen, für ihr redlich'es Streben von der religiösen 
Reaction hinterher verketzert wurden, als dieser der Kamm schwoll, 
weil sie sich durch die Stütze solcher Männer weit über ihre kühn- 
sten Hoffnungen hinaus gehoben sah. Doch gehen Beide dabei 
von einem ganz entgegengesetzten Standpunkte aus: der Theologe 

Mi che let, Hegel. , 




_ 50 — 

von der mystischen Orthodoxie der Hermhuter CJemeinde, der Philo- 
soph von dem Rationalismus der Weltweisheit seiner Zeit. Schleier- 
macher stimmte sein ganzes Leben am Saitenspiel seines Glaubens, 
um ihm bei der Philosophie Eingang zu verschaffen, ihn nach- 
giebig gegen sie, so wie diese gegen ihn, zu machen. Hegel 
wollte die Philosophie dahin bringen, den Glauben, den sie be- 
kämpfte, anzuerkennen als ein Spiegelbild ihrer selbst Wenn unmit- 
telbar vor Hegel, wie er selber sagt, Kants Versuch in seinem Werke: 
„Die Religion innerhalb der Grenzen der Vernunft", die Glaubens- 
sätze mit einer Bedeutung aus seiner Philosophie zu beleben, „nicht 
desswegen kein Glück machte, weil der eigenthümliche . Sinn jener 
Formen dadurch verändert würde, sondern weil dieselben auch dieser 
Ehre nicht mehr werth schienen": so ist Hegel vielmehr diese 
idealistische Auffassung, diese Umdeutung der blos positiven For- 
meln des Glaubens in speculative Gedanken gelungen. Und die 
rechte Seite der HegePschen Schule, Hinrichs, Gkischel, Gabler, 
V. Henning, sie glaubten nun eine Philosophie gefunden zu haben, 
durch die n2 die verwickelten Sätze derDogmatik, bis auf die unbe- 
fleckte Empfangniss Christi durch die Jungfrau, dialektisch beweisen 
könnten. Sie bedienten sich dabei des Satzes, dass der Inhalt der 
Religion nicht leide, noch verändert werde dadurch, dass er aus 
der Form der Vorstellung in die Form des speculativen Gedankens 
umgesetzt würde; er bleibe derselbe. So konnte David Strauss von 
der Zeit, wo diese Ansicht in der Schule herrschte, ausrufen, dass 
die Zeiten der Scholastik zurückgekehrt zu sein schienen, dass Re- 
ligion and Philosophie so freundlich Hand in Hand mit einander 
gingen, als wenn die Lämmer bei den Pardeln schliefen. 

Schon Rosenkranz träufelte in diese glücklieh wiedergewonnene 
süsse Harmonie einige starke Wermuthstropfen des Zweifels. Wenn er 
auch unwankend an der Einzigkeit der Sohnschaft Christi, an „der Ab- 
solutheit der Erscheinung, als dieses einzelnen Menschen festhielt, so 
gab er doch zu, dass solche Vorstellungen, wie unbefleckte Em- 
pfangniss, Vaterschaft Gottes, für die Philosophie keinen Sinn hätten. 
Er wollte sich aber nicht zu dem Resultat der linken Seite der 
Schule erheben, dass mit der Form der Vorstellung auch der Inhalt 
des religiösen Dogma sigh ändere; wo dann Cieszkowski gegen mich 
in den Vorwurf ausbrach, der Glaubenssatz sei damit nur noch 
eine Namenstaufe oder, wie Andere sich ausdrückten, das Christen- 
thum werde zu einer wächsernen Nase, die man beliebig drehen könne. 






— 51 — 

Wie verhält sich nun Hegel zu diesen Gegensätzen, die zu 
seinen Lebzeiten gar nicht hervorgetreten waren, und die er also 
noch gar nicht zu versöhnen brauchte, weil er sie gar nicht als 
zwiespältig in seinem Geiste dachte? Hätte er absichtlich in den 
Formen des Glaubens gesprochen, und den speculativen Gedanken 
mit Bewusstsein als ein Anderes, dem Glauben Fremdes in sich 
gefunden, so läge darin allerdings eine kleine Heuchelei, von der 
wir ihn freisprechen müssen. Mit voller Aufrichtigkeit sah er die 
speculativen Resultate seiner Philosophie in den . Glauben hinein, 
nicht anders als wie ihm auch die Thatsachen der Natur nur im 
Lichte der Idee und der Wahrheit erschienen. Der Geist, führt er 
von Christus an, wird bei Euch sein, bis an der Welt Ende, Und 
Euch in alle Wahrheit leiten. Die Philosophie ist also die Wahrheit 
des Glaubens, die philosophische Auslegung des Dogma's das wahre, 
das neue Christenth]am. Als man daher wiederum in der Stadt 
seine Polemik gegen die katholische Abendmahlslehre herumgetragen 
hatte, dass — bei diesem Stehenbleiben des Katholicismus im rein 
Thatsächlichen — in den Excrementen einer Maus, welche eine 
geweihte Hostie gefressen habe, der Leib des Herrn enthalten sei, 
musste er sich gegen die Regierung in einer Denkschrift förmlich 
vertheidigen.. In seinen Vorlesungen aber sagte er, im Gegensatz 
zu Steffens, der ein Buch geschrieben hatte: „Wie ich wieder 
Lutheraner wurde", nämlich als von der Ketzerei der Schellingschen 
Naturphilosophie zurückgekommen: „Ich bin Lutheraner und will 
Lutheraner bleiben". Denn im Lütherthum isf der Leib Christi 
nicht als Thatsache in der Hostie, sondern nur durch die Thätig- 
keit des gläubigen Gemüths in, cum et sub pane, 

Dass Hegel die doppelte Auslegung, aber ebenso die absolute 
Harmonie dieses Doppelsinnes gekannt hat, beweisen eine Menge 
Stellen, deren Sinn der ist, dass das, was der Geist thut, kein 
blosses Geschehen ist, dass Christus wohl vorgestellt wird, als 
dieser unmittelbar einzelne Mensch der gegenwärtige Gott zu sein. 
Das Wahrhafte und Substantielle dieser Geschichte sei aber, dass 
das einzelne Selbstbewusstsein in der Gemeinde täglich stirbt und 
aufersteht, die Besonderheit in die Allgemeinheit des absoluten 
Geistes sich erhebt und sich mit diesem seinem Wesen versöhnt 
weiss. Es sei die Weise der Vorstellung, die Geschichte Christi für 
etwas vollkommen Geschichtliches zu nehmen. Aber dergleichen 
habe auch noch eine andere Seite: eine absolut göttliche Handlung, 




— 52 — 

was Gegenstand der Vernunft ist. Was diese vernünftige Auffassung 
der religiösen Bilder oder Symbole oder Mythen sei, will ich nun 
an Hegels Auffassung dreier Dogmen in der Kürze zeigen, nämlich 
der Persönlichkeit Gottes, der Christologie und der Unsterblichkeit 
der Seele, welche eben von der rechten Seite im Sinne der Ortho- 
doxie genommen werden, indem sie sich daran hält, dass in der 
Philosophie der Inhalt der Religion nicht verloren gehe. Und wenn 
sie dabei den Sinn Hegels getroffen zu haben meint: so ist doch 
nicht zu verkennen, dass, während er diesen Inhalt von der Form 
der Vorstellung befreien will, die rechte Seite mit der Orthodoxie 
eben das, was Hegel und die linke der Form der Vorstellung zu- 
schreiben, für den ewigen Inhalt der Vernunft hält. 

Wenn also Hegel zuerst von der Persönlichkeit des Absoluten 
spricht, so ist er freilich wieder verschiedentlich verstanden worden. 
Selbst Rosenkranz nimmt an, Hegel habe eine jenseitige Persön- 
lichkeit Gottes behauptet,, und sagt mit Gabler, dass, wenn dies 
nicht Hegeische Philosophie sei, auch er von ihr abweichen müsste. 
Nun sagt Hegel in der Phänomenologie, das Absolute sei nicht nur 
Substanz, sondern ebenso sehr Subject. In der Logik spricht er 
von der höchsten zugeschärftesten Spitze der reinen Persönlichkeit, 
„die allein durch die absolute Dialektik, die ihye Natur ist, ebenso 
sehr Alles in sich befasst und hält, wie sie sich zum Freiesten 
macht, — zur Einfachheit, welche die erste Unmittelbarkeit und 
Allgemeinheit ist". Und in dem unmittelbar vorhergehenden Satze 
nennt er das Reichste „das Concreteste und Subjectivste, und das 
sich in die einfachste Tiefe Zurücknehmende das Mächtigste und 
Uebergreifendste". Diese über die Objectivität, die Welt, über- 
greifende Subjectivität soll, wie auch Schelling es verstand, eine 
transcendente Persönlichkeit Gottes sein. Man muss aber die ganze 

• 

Philosophie Hegels verkennen, wenn man nicht einsieht, dass die 
l^egation der empirischen Einzelheiten, die sich in der absoluten 
Einzelheit als versöhnte, auferstandene, wiedergeborene wissen, 
eben die Existenz der absoluten Substanz in ihnen dialektisch er- 
zeugt. Dieser Prozess des Umschlagens der empirischen Subjecte 
in die übergreifende Subjectivität des Absoluten wird an der Ge- 
schichte Christi vorstellig gemacht und der historische Christus in 
die Lehre von der ewigen Menschwerdung Gottes übergeführt. 
Ebenso ist Hegel die Unsterblichkeit der Seele nicht blos diese 
negative Lehre des Nichtaufhörens der Seele in der unendlichen 


— 53 — 

Dauer der Zeiten, sondern er fasst sie als die Ewigkeit des Geistes, 
der eben in der Negation der Einzelnen das substantielle Wesen 
derselben aufbewahrt. 

So ist der jetzige Standpunkt des religiösen Bewusstseins rein 
durch die Hegeische Einwirkung dahin zu formuliren, dass, wenn wir 
nicht im atheistischen Materialismus jede Spur eines religiösen Gefühls 
mit Stumpf und Stiel ausrotten wollen, noch umgekehrt im ver- 
knöcherten, gewaltsam und krampfhaft sich am Gegebenen festhal- 
tenden Orthodoxismus der Heuchelei anheimfallen wollen, nichts übrig 
bleibt, als die Gemeinde der Philosophirenden, welche das Christen- 
thum, das neue Christenthum, das Christenthum des* 19. Jahrhun- 
derts dadurch am meisten ehren und wieder zu Ehren bringen wird 
— gegen seine Verächter sowohl, als seine falschen Freunde — , 
dass wir in den ehrwürdigen Symbolen, wie sie unsere Väter an- 
beteten, die tiefsten Gedanken der Wahrheit eingehüllt behaupten. 

So hat Hegel in der Philosophie kraft der dialektischen Methode 
das System aus der ganzen Geschichte unwiderleglich construit; 
im Staat die gemässigte Freiheit der Repräsentativ-Verfassung zum 
Gegenstand des Bestrebens der Menschheit gemacht; in der Religion 
endlich die vernünftige Befriedigung der Sehnsucht aller Menschen 
nach dem Höchsten ermöglicht Das sind die Verdienste dieses 
Heros der Wissenschaft, der der Menschheit Jahrtausende, wie 
Aristoteles, leuchten wird. 


Antitrendelenburg. 

Eine Duplik (2. Auflage: Gegenschrift) von Kuno Fischer. 1870. 


M. h. H. Indem ich in unserer letzten Sitzung ankündigte, 
dass ich Ihnen einen Bericht über den literarischen Streit zwischen 
Kuno Fischer und Trendelenburg abstatten würde, habe ich sogleich 
bemerkt, dass dies kein blosser Streit zwischen zwei philosophischen 
Persönlichkeiten sei, so persönlich er auch von Einer Seite mit- 
unter geführt worden, sondern ein die Sache der Philosophie im 
höchsten Grade betreffender, der sich durch 30 bis 40 Jahre hin- 
durchzieht und in diesem neuesten Schriftwechsel den Gipfelpunkt 
erreicht zu haben scheint. Um Ihnen dies recht anschaulich zu 
machen, muss ich etwas weiter ausholen. 

Als nach den Befreiungskriegen, welche den Sturz Napoleons 
herbeiführten, die politische Restauration in Frankreich stattfand, da 
sollte auch die religiöse und wissenschaftliche damit eingeleitet 
werden. Hegel selbst hatte sich in seiner berühmten Antrittsrede 
in Heidelberg 18 16 zu Gunsten dieses politischen Umschwungs aus- 
gesprochen, freilich nur in dem Sinne, dass durch denselben die 
Nationalität Deutschlands gewahrt, und dieses Land sich nun seiner 
Aufgabe, das heilige Feuer der Wissenschaft zu pflegen, ungestört 
hingeben könne. Kant hatte in revolutionärem Kriticismus die 
Deutschen ihrer Metaphysik beraubt. Erschüttert rief Hegel Dem 
gegenüber aus: Es habe ein Volk sich plötzlich ohne Metaphysik, 
sein Allerheiligstes, befunden. So restaurirte er diese Wissenschaft, 
und noch dazu mit Logik. Genug, um auf ihn das Anathema des 
Scholasticismus zu schleudern! 


— 55 — 

Darauf erschien sein Aufsatz gegen die WUrtembergischcn Stände, 
worin er, wohlverstanden, eine freisinnige Regierung geijcn reac- 
tionare Feudalstände vertheidigte. Man sagt, dies sei <riner der 
Gründe gewesen, weshalb die Preussische Regierung ihn nach Berlin 
berief, weil er doch immerhin einer R^ierung gegen die ^'olks- 
vertretuDg Recht gab. Wie dem auch sei, Hegel zeigte sitli in 
Berlin der politischen Restauration güaaig, und liess nk;hts auf die 
damalige Preussische Politik kommen. 

Die lai^e Zeit verschmähten christlichen Dt^men endlich 
brachte er, indem er ihnen metaphysische Stützen unterschob, wie- 
der zu einigem Ansehen; so dass Strauss behaupten durfte, zwischen 
Philosophie und Religion sei dadurch ein Bündniss geschlossen 
worden, wie wenn die Lämmer bei den Pardeln schliefen. So 
wollte z. B, V, Henning die unbefleckte Empfängnis Christi auf 
dialektischertl W^e beweisen. 

Die erste Störung dieses schönen Friedens zwischen Staat, 
Religion und Philosophie, die man sogar die Preussische Hofphilo- 
sophie nannte, trat mit dem Erscheinen der Hegel'schen Rechts- 
philosophie ein. Die constiiutionelle Monarchie wurde in einem 
absoluten Staate offen als das Ideal einer Verfassung proklamirt. 
Mit der Juli -Revolution wurde . de_r. Bruch ofTenbar; und ein Jahr 
nach ihr ist Hegel, mit Verdruss über dieselbe, heimgegai^en. 
Hatte er es doch selbst noch erleben müssen, dass aus seiner Lehre 
zu weit für ihn vorgeschrittene Standpunkte in Philosophie, Religion 
und Pohtik hervorgingen: Gans, Feuerbach, ärauss, Rüge, und 
wenn ich mich dazu rechnen darf- Wenigstens wurden wir drei 
Letzten von teo in Halle mit Robespierre, Marat und Danton in 
einer vollständigen Denunciation an die Preussische Regierung ver- 
glichen. 

Hegels Tod hatte nicht die besänftigende Kraft, welche der 
Tod sonst auszuüben pflegt, gehabt. Man würdigt einen Todten 
gewöhnlich ruhiger, bedächtiger, unparteiischer. Nachdem im 
Kampfe des Lebens die Schranke des Individuums und seiner An- 
sichten von seinem Gegner aufgezeigt worden, erfreut man sich im 
Todten an seiner positiven Seite, an seinem bleibenden Verdienste. 
Tegels Schicksal war ein anderes. Phio wurde von Aristotdes, 
Fichte von Schelling, Schelling von Hegel schon bei ihren Leb- 
zeiten widerl^. Wo waren aber die FUsse derer, die Hege! hin- 
austragen sollten? Sie stellten sich nicht einmal nach seinem Tode 


— 56 — 

ein. Im Gegentheil. Eine Drachensaat von fortschrittsdurstigen 
Jüngern war aus seiner Lehre entsprossen; und sie sahen sich ge- 
rade für die wahre Consequenz derselben an, während die rechte 
Seite der Schule, ein Göschel, ein Gabler, zum Theil auch Rosen- 
kranz, »die im Fahrwasser der alten Restauration verblieben, auch 
von den Gegnern Hegels für die ihn missverstehenden Anhänger 
gehalten wurden, ohne darum, wir werden sogleich den Grund 
hiervon sehen, der Anfeindung jener Gegner entgangen zu sein. 

Von nun an trat ein vollständiger Rückschlag im Verhaltniss ^ 
des Staats zur Philosophie ein. Schon Gabler beklagte sich, dass 
die Hegersche Philosophie von Oben her geächtet worden. Aber 
die Regierung als solche konnte doch nicht gegen eine Richtung^ 
der Wissenschaft einschreiten. Es musste eine Philosophie gefunden 
werden, welche mit den Waffen der Wissenschaft diese Schlangen- 
brut der Hegerschen Philosophie vertilgen sollte. *Die Person^ 
welcher diese Aufgabe zufiel, war Trendelenburg, von dem ich 
mithin auch hier allein, als von dem Repräsentanten der ganzen 
Gattung, spreche, die sich seitdem in unzähligen Exemplaren aus- 
gebreitet hat, und seinen Werth weit über das verdiente Maass er- 
hebt. Noch Altenstein selbst, der Förderer der Hegel'schen Philo- 
sophie, der auch Gabler als Hagels Nachfolger berufen hatte, erhob 
Trendelenburg vom Erzieher der Kinder seines. Schwagers, des 
General -Postmeisters v. Nagler, sogleich zum Universitätsprofessor. 
Zufallige Umstände gaben ihm eine Centralstellung in der Philosophie 
am hauptsächlichsten Sitze der Wirksamkeit Hegels: frommer,, 
theologischer Beistand, grosse administrative Begünstigungen, sein 
eigenes Talent der Darstellung bei sonst sehr dürftigem Inhalt. 
Und es ereignete sich, worüber Gabler weiter sich beschwerte, dass 
Trendelenburg der geächteten Philosophie „nun auch auf philo- 
sophischem Wege den Gnadenstoss geben wollte." 

Welches war nun dieser]" philosophische Weg? Alle nach Hegel 
gekommenen Philosophen, die ein neues System aufgestellt zu haben 
meinten: Krause, Herbart, Schopenhauer u. s. w., waren nicht im 
Staride gewesen, das Hegel'sche System zu stürzen. Und doch 
kann man ein System nur durch ein anderes verdrängen. Da 
solches siegreiches nun unter den neuem nicht aufzutreiben war^ 
so griff man zu einem verzweifelten Mittel. Man holte sich ver- 
rostete Waffen aus der Rüstkammer der Vergangenheit, und glaubte 
damit das scharf schneidende Schwert der Hegel'schen Dialektik 


— 57 - 

stumpf machen zu können. Der Kriticismus Kants, der vortrefflich 
war, die einseitigen Systeme vor ihm lahm zu legen, sollte dazu 
verwendet werden, die aus ihm selbst hervorgegangenen, von ihm 
sogar am Ende der Kritik der reinen Vernunft vorherverkündeten 
Systeme der Metaphysik zu beseitigen. Welche Kurzsichtigkeit! Wenn 
man nicht selbst durch Bessermachen widerlegen kann, wenn man 
für seine eigene Ueberzeugung nichts als den religiösen Glauben 
und in der Philosophie nur historische Kenntnisse besitzt, dann ist 
es freilich das Leichteste, wiewohl nicht das Beste, auf den Ur- 
sprung der Deutschen Philosophie zurückzugreifen, sich an diesen 
bahnbrechenden Heros anzulehnen, — um die Bahn, die er ge- 
brochen hat, wieder abzubrechen, die Geschichte rückwärts zu con- 
struiren, und ihre Zukunft durch ihre Vergangenheit zu stauen. 
Eitles Unternehmen! 

Diese Erscheinung hängt übrigens mit einer viel allgemeinern 
Thatsache zusammen, die sich in der Geschichte der neuesten 
Deutschen Philosophie öfters wiederholte. Sobald nämlich aus den 
negativen Grundlegungen Kants eine positive Speculation hervor- 
gegangen war, gab es immer Nachzügler, die, diesem Fortschritt 
des philosophischen Geistes zu folgen unfähig oder von ihm wieder 
abgefallen, rückwärts zum Glauben oder zum Kriticismus ihre Zu- 
flucht nahmen. Ja, die Urheber des Fortschritts selbst endeten zum 
Theil, namentlich Schelling, mit dem Glauben. Was Wunder, dass 
auch die neu dazwischen gewachsenen Systeme, wie die Herbarts 
und Schopenhauers, die kritische Färbung hatten. In der Hegel'- 
schen Schule dagegen standen selbst die nach Seiten des Glaubens 
und eines kritisirenden Theismus Hinneigenden, d. h. die rechte 
Seite, auf dem Boden der speculativen Dialektik. Und da Hegel 
imd seine Schule auf diese Weise sich nicht selber rückwärts bil- 
deten, so traten alle philosophischen Restanten ausserhalb ihrer nun 
gegen sie, ohne eben auch nur die rechte Seite zu schonen, auf den 
Kampfplatz, um die Flucht zu Kant, die doch höchstens ein pri- 
vates Nachexerciren auf dem Boden des philosophischen Wissens 
sein konnte, als einen glänzenden Sieg und Fortschritt über die 
Hegel'sche Philosophie, als deren vollständige Beseitigung aus- 
zuposaunen. 

Trendelenburg, an der Spitze dieser Widersacher Hegels aus 
den angegebenen Gründen stehend, freut sich, dass „ein mächtiger 
Bund*', wie Gabler klagte, sich jetzt gegen die Hegel'sche Philo- 


— 58 — 

Sophie zusammengefunden; und er verspricht, diese Gunst des 
Schicksals kräftigst auszubeuten. ,^Ihr hattet lange Jahre günstiges 
Fahrwasser", ruft er uns zu, „während wir Andere vom Wind der 
öfientlichen Meinung verschls^en wurden. Jeder Schiffer, der ein- 
mal einen stürmischen Tag hat, ist kühner als Ihr. Aber er weiss, 
wohin er steuert." Trendelenburg hat die Gunst des Windes auch 
in der That vortreölieh benutzt, imd seine Verehrer folgen ihm 
Auf diesem Pfade nach; so dass diese Mittelmässigkeit mir unbe^ 
deutende Mittelmässigkeiten zu Professoren befördern half. 

Kommen wir nach dieser Schilderung der äussern Lage der 
Philosophie auf die inneren Kämpfe in ihrem eigenoa Gebiete, so 
könnte man den ersten Streit zwischen Gabler und Trendelenburg 
für unentschieden ansehen. Was meinen Streit mit Trendelenburg 
betrifft, so hat er mich lange Jahre ungestört in ganz vereinzeltjen 
Aeusserungen angegriffen, bis ich endlich seine Einwürfe gegen die 
HegeFsche Dialektik ausführlich zu widerlegen unternahm; worauf 
er wieder nur durch kleine Seitenhiebe oder vomdimes Schweigen 
antwortete. So dass, indem er ja selbst das Schweigen als ein 
Eingeständniss des Ueberwundenen auslegt (s. den vorliegenden 
Antitrendelenburg, S. 4 — 5, 59, 76; in der zweiten Auflage S. 77), 
er sich indirekt für besiegt erklärte. Endlich hat er aber im 
Streite mit Kufto Fischer vielmehr durch sein Sprechen selbst seine 
Blosse zu erkennen gegeben. Von diesen drei Stadien des Streits 
will ich Sie nun unterhalten. 


L 

Im Kampfe mit Gabler hat Trendelenburg zum Theil Recht, 
zum Theil Unrecht Und das kam daher, dass, wenn Gabler mit 
Recht Trendelenburg eines „unbegreiflichen Missverständnisses" der 
angegriffenen Ansichten Hegels zeiht, Gabler sie in der Vertheidigung 
ebenso sehr missversteht. Wenn Gabler nämlich von dem reinen 
Denken als dem prius des Seins sprach, so fasste Trendelenburg 
dies so auf, als habe Hegel das .menschliche Denken zum gött- 
lichen machen wollen; so dass das menschliche Denken, als logische 
Idee, sich selbst, wie durch einen Schöpfungsact, zum Sein be- 
stimmte, indem es alle Momente des Seins aus sich erzeuge. Falsch 
verstanden, ruft Gabler ihm entgegen: Das menschliche Denken 


— 59 -- 

ist nur das Nachdenken, das Wiederdenken des vom absoluta! gött- 
lichen Denken schon ewig Vorgedachten. — Du verstehst Deinen 
Meister unrichtig, giebt Traidelenburg seinerseits seinem Collegen 
zurück. „Wo hätte Hegel in allen seinen Werken nur halb so viel 
von Wiederdenken gesprochen, als Gabler in diesem Einen Buche?" 
Die Wahrheit liegt nun offenbar in der Mitte. Beide Gegner haben 
Unrecht, indem beide ein ursprüngliches schöpferisches Denkai an- 
nehmen, das, ak prius des Seins, die Dinge aus sich selbst erzeugt 
habe. Das ist der transcendente Standpunkt des Theismus. Tren- 
delenburg hat Recht, denselben Hegel nicht aufzubürden: Unrecht, 
indem er ihm vorwirft, das menschliche Denken zum schöpferischen 
gemacht zu haben. Gabler hat darin Recht, dass das menschliche 
Denken eben nicht das schöpferische ist: Unrecht, dass überhaupt 
der göttliche Begriff aus sich heraus das Sein erschaffe. Ein reines 
Denken jenseits des erzeugten Seins, ein ganz aus dem Denken 
entsprungenes Sein sind Beides leere Abstractionen. Im Handeln 
bestimmen wir Menschen wohl das Sein durch's Denken; aber wir 
geben dem Sein doch immer nur eine andere Form, ohne es ledig- 
lich aus uns zu schöpfen. Jede Trennung von Denken und Sein 
ist nicht der Standpunkt des Absoluten, sondern der Endlichkeit. 
„Wollen wir indessen", sagte ich, um den Streit der Gegner zu 
schlichten, „von einem menschlichen Nachdenken des ursprünglich 
Vorgedachten reden, so können wir sagen, dass -unser Denken die" 
— unbewusst — „in der grossen Kanzleischrift der Natur und des 
Geistes ewig niedergelegten Züge der absoluten Vernunft in ver- 
jüngtem Maasstabe zum Bewusstsein bringt" 

Hinterher nimmt Trendelenburg allerdings diese erste Be- 
schuldigung halb und halb zurück. „Niemand behauptete", fügt 
«r hinzu, „dass Hegel gemeint habe, die Philosophie solle die Welt 
aus den Fingern saugen". Dennoch bleibt er dabei, solche titanische 
Vermessenheit liegt in „dem objectiven Verhältnisse seiner absoluten 
Methode." Keineswegs! Nur muss man nicht die logischen Kate- 
gorien zu göttlichen Wesen hypostasiren, sondern sie als die imma- 
nente Gedankenbewegung im natürlichen und geistigen Universum 
fassen, die dann allerdings vom Philosophen als das System der 
Logik gedacht wird, das sich aber nicht selber denkt Dieses 
Sichselbstdenken, das zum Bewusstsein -Bringen der objectiven Ge- 
danken der Welt ist erst die Aufgabe des Geistes, der darum höher 
ist, als die Logik, weil er sie zu einem Moment seiner selbst macht; 


— 6o — 

was nicht ausschliesst, dass sie, als reiner Gedanke, wiederum das 
Höchste in ihm ist. Daraus geht schon von selbst hervor, wie falsch 
es ist, Hegel des Scholasticismus zu beschuldigen, als habe er die 
formale Logik zur Metaphysik gemacht. Die Logik ist ihm nur inso- 
fem der höchste Inhalt, als sie sich mit dem Fleische der Natur, 
und des Geistes umgeben, — sonst bleibt sie eine Abstraction, 
Die Worte Hegels: „Man könnte sich so ausdrücken, dass sie das 
göttliche Wesen vor Erschaffung der Natur und des endlichen 
Geistes sei **, — sind eben nur eine Ausdrucks- oder Vorstellungs- 
weise; und es fallt Hegel nicht im Entferntesten ein, dies prius 
der Erkenritniss, indem allerdings die Darstellung der Philosophie 
mit der Logik angefangen wird, zu einem pHus der Würde oder 
des Seins zu machen. 

Eine zweite Beschuldigung Trendelenburgs ist die, „dass das 
reine Denken voraussetzungslos aus der eigenen Nothwendigkeit die 
Momente des Seins erkennen wolle." Das ist der alte Streit zwi- 
schen Locke und Leibnitz, den man auch falschlich zwischen Plato 
und Aristoteles erblicken wollte, — der Streit zwischen a priori imd 
a posteriori^ Speculation und Erfahrung. Wobei es nur auffallend ist, 
dass die Verfechter des Empirismus unter dem Banner Kants zu 
kämpfen meinen, der doch die Erkenntniss aus einem aprioristischen 
und einem aposterioristischen Elemente construiren wollte. Ganz 
ungerecht macht Trendelenburg hier Hegel den Vorwurf: • „Die 
dialektische Methode will lehren ohne zu lernen, weil sie, sich im 
Besitz des göttlichen Begriffs wähnend, die mühsame Forschung in 
ihrem sicheren Gange hemmt." Denn Hegel sagt geradezu: „Der 
Erfahrung ist die Entwickelung der Philosophie zu verdanken. Die 
empirischen Wissenschaften bereiten den Inhalt des Besondern dazu 
vor, in die Philosophie aufgenommen werden zu können. Anderer- 
seits enthalten sie damit die Nöthigung für das Denken selbst, zu 
diesen concreten Bestimmungen fortzugehen. Das Aufnehmen 
dieses Inhalts, in dem durch das Denken die noch anklebende 
Unmittelbarkeit und das Gegebensein aufgehoben wird, ist zugleich 
ein Entwickeln des Denkens aus sich selbst." Die Dialektik weiss 
also Alles aus sich als ein Selbsterzeugtes, — die allgemeinen Ge- 
danken, nachdem sie Alles als ein Gegebenes von Aussen empfangen 
hat, — die einzelnen Dinge. Und dieser doppelte Weg ist noth- 
wendig, weil, wie Denken und Sein im Absoluten identisch sind, 
sie so im Endlichen auch Gegensätze bilden, deren jeder von sich 


— 6i — 

aus mit dem andern sich zu versöhnen hat. Wie einerseits die 
Erfahrung die Bewährung der philosophischen Deduction ist, 
so ist andererseits die dialektische Entwickelung das Regulativ der 
Thatsachen. Denn es ist nicht so ohne Weiteres klar, was eine 
Thatsache sei; sie darf nicht durch vorgefasste Hypothesen ver- 
dunkelt und verzerrt werden. 


II. 


Komme ich nun auf meinen Streit mit Trendelenburg, so dreht 
sich derselbe besonders um die dialektische Methode. Der Gang 
mit Gabler hatte dem Stolz des Gegners grossen Vorschub geleistet. 
Er glaubte in der That, der Hegel'schen Philosophie den Todes- 
stoss versetzt zu haben. Und wenn Marheineke von „sehr unbe- 
deutenden Anfechtungen" sprach, welche die Hegel'sche Methode 
bisher erlitten habe, so vergleicht Trendelenburg dies mit „dem 
nicht ungewöhnlichen Verfahren" von Banquierhäusem, welche „die 
Meinung des nahen Bankerotts abzuwenden, auf der Börse von 
sehr unbedeutenden Verlusten reden, die sie erfahren haben." In 
diesem sinnverwirrenden Stolze, die HegeFsche Philosophie banke- 
rott gemacht zu haben — bankerott durch die Trendelenburgische 
Philosophie! — legt Trendelenburg, von der Höhe seiner sicher 
gewähnten Veste, jeden Umstand in der Geschichte der Philosophie, 
selbst viele Adusserungen bekannter Hegelianer, zu seinem Vortheil 
aus, und sieht darin eine Bestätigung seines Sieges. Er führt Weisse 
an, welcher der Hegel'schen Methode die trostlose Kahlheit ihrer 
Resultate vorhält. Selbst David Strauss soll die dialektische Me- 
thode ausser Brauch gesetzt haben, indem er die Dialektik der 
religiösen Parteien an die Stelle der Dialektik der Begriffe gesetzt 
habe. Als ob unsere Dialektik, eine Weltdialektik, nicht in der 
Natur und dem Geiste erst recht zur Wirksamkeit käme! Erxner 
habe von den wissenschaftlichen Undingen gesprochen, welche die 
viel versprechende dialektische Methode erzeuge. Auch ich muss 
herhalten, weil ich 1843 sagte: „Hegel ganz fremd stehende Männer, 
wie Trendelenburg, verstehen ihn besser, als seine ältesten Schüler." 
Was sich doch blos darauf bezog, dass- Trendelenburg, im Rechte 
gegen Gabler, die Transscendenz des Absoluten bei Hegel vermisste. 


— 62 — 

Sodann hatte Kuno Fischer 1852 ausgesprochen: „Die Vorwürfe^ 
welche wissenschaftliche Gegner (Trendelenburg) dem Anfang der 
Logik gemacht haben, sind gegründet; allein sie treffen nur die ge- 
wöhnliche Darstellung, welche den Geist jener Begriffe nicht er- 
reicht." Dazu kommt noch Rosenkranz, welcher 1859 einräumte:. 
„Trendelenburg erschütterte die Autorität, welche die Hegel'sche 
Logik gewonnen hatte." Endlich hält sogar Zeller 1862 Hegels 
Versuch, die Gegensätze durch dialektische Entwickelung des Ab- 
soluten zu versöhnen, für gescheitert. Dem hat sich seit lange 
Vatke mündlich angeschlossen. 

Da ausser Gabler Niemand Trendelenburg angriff, so brachte 
dies alles seinen Hochmuth aufS Aeusserste, damit aber auch 
schliesslich zu Falle. In den logischen Untersuchungen, wo er, 
ausser dem Princip und dem Anfang der dialektischen Methode, 
auch ihre hauptsächlichsten Anwendungen auf alle Gebiete der 
Philosophie im Einzelnen zu widerlegen sucht, bedenkt er, bei . 
diesen Ausstellungen gegen Hegel, denn auch mich mit einigen 
Vorwürfen: als habe ich z. B. in der Geschichte der Philosophie 
des Mittelalters „eine zweitausendjährige Episode, ein grosses un- 
dialektisches Zwischenreich zugegeben," weil ich für diese Zeit den 
dialektischen Fortschritt der Systeme geleugnet habe. Ich begrün- 
dete dies nämlich damit, dass das im Akerthum für Einige ge- 
wonnene Resultat erst im Bewtisstsein der Masse der Individuen 
durchgebildet werden müsse. Ferner wird in der neuesten Philo- 
sophie mein dialektischer üebergang von Herbarts Standpunkt zur 
Jacobi'schen Glaubensphilosophie getadelt, da doch genetisch diese 
jenem vorausgegangen sei. Als ob nicht das der zeitlichen Ent- 
stehung nach Spätere der Würde nach auf einer niedrigem Stufe 
der dialektischen Entwickelung stehen könne! Da ich zu den An- 
griffen auf das Grundprincip der Hegel'schen Dialektik schwieg,, 
wie sollte ich auf solche gelegentliche Nadelstiche geantwortet ha- 
ben? Mein Schweigen entsprang, ich will es nur gestehen, aus 
Verachtung über die innere Ohnmacht des Angriffs, nicht etwa a«s 
Furcht vor der äussern Macht des Angreifers, der sich eben unfähig 
zeigte, auch nur richtig aufzufassen, was er zu bemängeln sich er- 
kühnte. Als mich nun aber der alte Twesten 1861 aufforderte, 
den der ganzen Hegel'schen Schule hingeworfenen Handschuh auf- 
zuheben, — solche „bedeutende" Einwände nicht unbeantwortet zu 
lassen, da brach ich dennoch mein Schweigen in der Zeitschrift: 


— 6j - 

„Der Gedanke", obgleich dies allerdings f4ir eine Anerkennung der 
Bedeutsamkeit des Angriffs ausgel^ werden konnte. 

Die Angriffe reduciren sich auf zwei Hauptpunkte: i) dass 
die Gedankenbewegung keine selbsterzeugte, sondern nur eine von 
Aussen geborgte sei; 2) die Identität der Gegensätze nur durch 
einen Schluss nach der zweiten Aristotelischen Figur (was die dritte 
Hegel'sche ist) bewirkt, also erschlichen worden sei, da sich in 
dieser Figur nicht positiv, sondern nur negativ schliessen lasse^ 
„Beim Ergebniss dieser Kritik", meint Trendelenburg höchst selbst- 
gefällig, „konnte der immanente Zusammenhang des Systems nicht 
bestehen, weder der leitende Gedanke noch die Ausführung aner- 
kannt werden." Es ist aber gerade sehr fraglich, ob diese Tren* 
delenburgische Kritik, wie sie behauptet, so erfolgreich gewesen, 
dass äe m der That den „Grund" der Hegel'schen Philosophie 
„schwankend" gemacht habe. 

Der erste Angriff geht von dem Satze aus, dass „das Denken 
überhaupt von der Anschauung lebt, und den Hungertod rettungs- 
los dahin stirbt, wenn es nicht von ihr sein tägliches Brod erhält," 
— als verstände sich die unbewiesene Assertion einer blos aposte- 
rioristischen Erkenntniss von selbst. Hält doch sogar Kant die An- 
schauungen ohne den Verstand für blind, wenn er auch den Ver- 
stand ohne die Anschauungen leer nennt. Trendelenbuig aber sagt 
ganz unkantisch: „Die beiden Grundthätigkeiten, welche man ge- 
meinhin dem Verstände beilegt, sind nur durch das begleitende 
Bild der räumlichen Bewegung verständlich und an dasselbe ge- 
bunden." Dies angewendet auf den dialektischen Uebergang von 
Sein und Nichts, meint Trendelenburg: „Das Denken schiebt die 
Bewegung stillschweigend unter. Es könnte das Werden aus dem 
Sein und Nichts gar nicht werden, wenn nicht schon die Vor- 
stellung des Werdens vorausginge." Diese Sätze sind nun ganz 
dem alten Empirismus, wie Locke ihn noch aufstellte, entnommen, 
während doch die Kantische Erfahrung an den Kategorien und an 
Raum und 2^it ein aprioristisches Element besitzt. Höchstens auf 
Raum und 2^it will Trendelenburg eine sich ihm „eröffnende Welt 
a ptiori^*' einschränken, indem er sie lediglich in der mathematischen 
Erkenntniss erblickt, und damit aus der Philosophie gänzlich ver- 
bannt. 

Es ist nun wirklich das Unerhörteste, was uns zugemuthet 
wird, anzunehmen, dass der öedanke alle Bewegung, mithin auch 


— 64 — 

alles Leben von Aussen erhalte, da doch, dem Stein, der Materie 
gegenüber, er das Beweglichste, in sich selbst Pulsirende ist. „Was 
ist das Schnellste?" fragte einst ein Apophthegma der sieben Weisen 
Griechenlands. Worauf die Antwort lautete: „Der Gedanke." Und 
auch im Puppentheater hört der Knabe schon, was Trendelenburg 
noch nicht weiss. Aber er weiss es auch wieder, muss jedoch 
nicht wissen, was er weiss, weil er sonst nicht so angreifen würde. 
Nachdem dem Gedanken nämlich vor der Hand nur erborgte Be- 
wegung zugestanden worden, kommt zunächst schon ein ziemlich 
zweideutiger Satz zum Vorschein: „Das Denken, als die höchste 
Blüthe der Thätigkeiten in der Welt, setzt die übrigen gleichsam als 
nährenden Boden und tragenden Stamm voraus." Das könnte am 
Ende zur Noth noch ein Empiriker sagen. Freilich, wenn der Ge- 
danke die höchste Blüthe der Thätigkeit ist, so kann er füglich nicht 
blos vom Niedrigem borgen, sondern muss eigene Thätigkeit aus 
sich selbst eiitfalten. Dies bricht denn auch richtig in andern 
Sätzen an's Tageslicht durch: „Da Denken und Sein sich nicht 
ausschliessen sollen, so müssen sie sich in einem Gemeinsamen 
bewähren, das, da es sie vermitteln soll, etwas Thätiges sein muss. 
Diese allgemeinste, ursprüngliche und einfache Thätigkeit des 
Denkens und des Seins ist die Bewegung." Braucht also noch 
das Denken die Bewegung dem Sein abzulauschen? 

Aber Trendelenburg fällt noch besser von sich ab. Die Be- 
wegung soll nicht gleichmässig dem Sein und dem Denken zukom- 
men, sondern das Denken sie in viel höherem Grade besitzen. 
Hören wir unseren Gegner weiter: „Im Denken der Kepplerschen 
Gesetze kann man sich nicht auf eine äussere, uns gleichsam 
von Aussen aufgedrückte Bewegung berufen; es ist im 
Innern Denken der Art nach dieselbe Bewegung, wie in 
der äussern Natur. Wie die Bewegung im Sein und im Denken 
nur aus sich stammt, wird sie auch nur aus sich selbst erkannt. 
Ohne die Bewegung, als die ursprüngliche That des 
Denkens, geschieht weder Anschauung noch Erkennt- 
niss; sie vermittelt alle Erfahrung. Wenn die Bewegung 
ebenso ursprünglich dem Denken, als dem Sein angehört, so liegt 
darin jene Harmonie des Subjectiven und des Objectiven, die von 
Kant gewaltsam zerrissen wurde. Die Bewegung ist vor der 
Erfahrung, und bedingt die Erfahrung; in ihr findet sich das 
Merkmal des Aprioristischen. Was die erzeugende Bewegung her- 


- 6s - 

I 
• t 

vorbringt, entwickelt sich zwar nach der innern Noth wendigkeit; 
aber die Erzeugung selbst ist eine freie That des 
Geistes." 

Könnten wir anders sprechen? "Trendelenburg hat keine 
Ahnung davon, dass er mit diesen Sätzen ganz auf Hegels Seite 
übertritt; was ihm Rosenkranz auch schon vorgehalten hat Denn 
' ist das nicht vollständig die Selbstbewegung, der Rhythmus und 
Pulsschlag der Weltdialektik? Ich weiss wohl, dass dieser erste 
Beweger bei Trendelenburg ein transcendentes Absolutes sein soll, 
wie es dem Aristotejes falschlich aufgebürdet wird. Aber auch so 
ist dem Gedanken des Menschen die Bewegung nicht von Aussen 
gekommen, sondern von der absoluten Thätigkeit selbst gegeben. 
Man müsste denn annehmen, dass diese sich unmittelbar nur der 
Natur, nicht dem Geiste mittheilte, und sich dann der Natur be- 
diente, um dem menschlichen Denken die Bewegung erst beizu- 
bringen. Aber wozu dann alle die hochtrabenden specuiativen 
Phrasen, die wir wörtlich ausgeschrieben haben, wenn der Sinn in 
solchen platten Empirismus auslaufen soll ? Dass Trendelenburg 
sich hier in lauter Widersprüche verwickelte, hat auch Kuno Fischer 
in der vorliegenden Broschüre glänzend nachgewiesen (S.72, und 
in der zweiten Auflage S. 73). 

Was nun den zweiten Punkt betrifft, das Umschlagen der 
Gegensätze in einander, so soll mit einem Male diese doch vorhin 
schon zugegebene Lebendigkeit des Gedankens und seine Be- 
wegung wieder still stehen. Als ob wir Sein nur desshalb zu 
Nichts hinbewegen könnten, weil wir früher einmal etwa einen Vo- 
gel haben fliegen sehen. Trendelenburg sagt: „Das reine Sein ist 
Ruhe, das Nichts ist ebenfalls Ruhe. Wo sollten wir hieraus die 
Bewegung des Werdens schöpfen? Wir müssen sie schon haben, 
sonst könnte sie uns nicht werden." Vielmehr wäre zu sagen, 
dass, wenn wir das Werden schon hätten, es uns nicht erst zu 
werden brauchte. Aber diese kurze, noch mit dem ersten Punkte 
zusammenhängende Plänkelei macht nun dem eigentlichen Angriff 
Platz, wo das Hauptstreitross der Schluss nach der zweiten Figur 
ist, wohlverstanden nach der zweiten Aristotelischen {M — F — 5 oder 
B — A — E), Trendelenburg liebt es, uns Hegelianern mit so einer 
alten logischen Schindmähre in die Parade zu fahren, wie wir auch 
noch gegen Kuno Fischer sehen werden. Natürlich! Logik muss 
man mit Logik schlagen, funkelnagelneue, dialektische mit der alten, 

Michelet, Hegel. e 


— 66 — 

formalen; wobei aber wenigstens nicht uns, sondern vielmehr nur 
den Gegner der Vorwurf des Scholasticismus treffen könnte. 

Der Einwurf, dem auch Herr von Hartmann gegen meine Ver- 
theidigung vergeblich hat zu Hälfe kommen wollen, ist nun fol-^ 
gender: Der dialektische Uebergang von Sein in Nichts sei, als 
„Kunststück Hegel'scher Dialektik," nichts Anderes, als ein Schluss- 
nach d^r zweiten Figur. 

Das Sein ist das Unbestimmte, 

Das Nichts ist das Unbestimmte; 

Also ist das Sein das Nichts* 
Diesen Schluss hat Trendelenburg in seinen mündlichen Vor- 
trägen auch einmal so gefasst: 

Der Mensch ist zweibeinig. 

Eine Gans ist zweibeinig; 

Also ist der Mensch eine Gans. 
Ibh antwortete zuvörderst: Dem Sein und dem Nichts wird 
nicht blos Ein gemeinsames Prädicat, sondern mehrere beigelegt^ 
wie inhaltslos, leerer Gedanke, reine Abstraction, absolute Negation 
u. s. w. Trendelenburg antwortete gar nichts Specielles, sondern 
entsandte nur im Vorbeigehen einige ironische Pfeile gegen mich, 
indem er die Zeitschrift: „Der Gedanke" personificirt einführte, oder 
meine geringe Person mit dem Gedanken identificirte. Sollte das 
Vomehmthun daher entsprungen sein, dass dem Gegner der Zunft- 
zopf fehlte? Offenbar jedoch hielt Trendelenburg sich nicht für 
stark genug, nachdem er in Feindesgebiet eingefallen war, sich auf 
diesem, ihm fremden Boden mit Sicherheit und Gewandtheit zu 
bewegen. Er trat, nach einigen Freudenschüssen, eiligst den Rück- 
zug an. Und war daher der Meinung, dass Schweigen Gold seu 
Wenigstens wird er in diesem Falle Schweigen gewiss nicht als 
Eingeständniss des Ueberwundenseins angesehen wissen wollen. 

Die Lanze, die Herr von Hartmann für Trendelenburg brach, 
beschränkte sich darauf, dass er dessen Einwand auch dann noch 
aufrecht erhielt, wenn Sein und Nichts mehrere gemeinsame Prädi- 
cate haben, indem in diesem Falle mehrmals nach der zweitea 
Figur geschlossen würde. Das wäre stichhaltig, wenn meine Wider- 
legung hierbei stehen geblieben wäre. Ich fuhr sodann aber fort^ 
dass Sein und Nichts durch solchen Schluss oder durch solche 
Schlüsse gar nicht blos identificirt werden sollten; dass die Dia- 
lektik überhaupt nicht in Verstandesschlüssen dächte; dass sie nicht 


- 67 - 

ZU einem einfachen Schlusssatze komme, sondern eine philoso- 
phische Wahrheit zweier Verstandessätze bedürfe; dass daher, wenn 
man auch durch mehrere Prädicate bewogen würde, Sein und 
Nichts zu identificiren (in der That ist die Gemeinsamkeit mehrerer 
oder auch nur Eines Prädicats immerhin eine partielle Identität), 
sie dennoch ebenso nicht identisch seien; dass dieser Widerspruch 
eben die Bewegung hervorbringe, indem die Nichtidentität noth- 
wendig in Identität und umgekehrt übergehen müsse. Diese Iden- 
tität von Sein und Nichts, die gegenseitig ineinander umschlagen, 
ist gerade das Werden, einmal als Entstehen, wenn das Nichts • 
Sein, das andere Mal als Vergehen, wenn das Sein Nichts wird. 
Jeder Mensch, wenn er Werden denkt, denkt die Einheit von Sein 
und Nichts, aber nicht eine ruhende, sondern eine stets sich erzeu- 
gende, also die Nichtidentität voraussetzende. Das ist die ursprüng- 
liche Thätigkeit des Gedankens, der sich ja auch Trendelenburg 
selber nicht verschlossen hat. 


III. 


Doch ich gelange nunmehr zu unserem eigentlichen Gegen- 
stande, dem Streit Trendelenburg's mit Kuno Fischer. Hier ver- 
hielt sich die Sache ganz anders. Hier wurde Trendelenburg ge- 
sprächiger, redseliger, weil er sich auf seinem eigenen Grund und 
Boden wusste und darum um so sicherer glaubte. Hier hoffte er, 
mit Kant im Hinterhalte, den Gegner leichten Kaufs zu Boden 
rennen zu können. Als geschichtlicher Philosoph machte er der 
Geschichtsschreibimg der Hegel'schen Schule den ungerechten Vor- 
wurf, dass sie durch Dialektik verfälscht sei. Er meinte, diese 
^Fälschung aufdecken zu können, namentlich da, wo Kuno Fischer 
auf Kant zu sprechen kam, den ja die philosophische Reaction 
gegen Hegel als ihren eigentlichen Schutzpatron ausschliesslich zu 
besitzen wähnt. So lief Trendelenburg Kuno Fischer geradezu in's 
Garn; und mit welcher Gründlichkeit und Meisterschaft geht dieser 
von der Vertheidigung zum Angriff über, indem er Trendelenburg 
seine Unsicherheit, sein Herumtappen, seine Unwissenheit nachweist 
auf einem Felde, wo er sich ganz heimisch gefühlt hatte. 

Kuno Fischer erzählt in vorliegender Schrift: „Anti - Trende- 


— 68 — 

lenburg," einfach und würdevoll, wie ungern er sich in einen Zwist 
mit einem Gegner hineinziehen liess, den er persönlich hochachtete, 
der ihn aber sogleich durch einen Ton der Anmaassung verletzte. 
Nachdem Trendelenburg nämlich in der zweiten Auflage seiner 
logischen Untersuchungen 1862 einen ersten Angriff auf Fischer 
gemacht hatte, beantwortete ihn dieser in der zweiten Auflage seiner 
Logik. Trendelenburg replicirte in einem Aufsatze des III. Bandes 
der historischen Beiträge 1867: „lieber eine Lücke in Kant's Be- 
weis von der ausschliesslichen Subjectivität des Raums und der 
Zeit;" ein Aufsatz, der gegen Fischers Darstellung der Kantigehen 
Philosophie, namentlich der Lehre von Raum und Zeit, gerichtet 
war, und das Motto hatte: „Wer bauet an den Strassen, der muss 
sich schelten lassen." Im Verlauf dieses Angriffs kamen Ausdrücke 
gegen Fischer vor, wie „ungereimt" und „widersinnig." Fischer 
vertheidigte sich in der zweiten Auflage des Werks: „Immanuel 
Kant. Entwickelungsgeschichte und System der Kantischen Philo- 
sophie" 1869. Nun folgte eine eigene Flugschrift Trendelenburgs : 
„Kuno Fischer und sein Kant," als ob das nicht der wahre Kant 
wäre, mit dem Motto: veritas odiwii parit ,,Es wird sich zeigen," 
sagt Fischer, „ob diesen Titel die Wahrheit geschrieben oder der 
Hass. Ich habe bei dieser ganzen Polemik dem Gegner den Vor- 
tritt gelassen. Die Form der Broschüre ändert den äusseren 
Schauplatz des Streits, und verlegt ihn, so zu sagen, auf den 
off'enen Markt" (S. 3 — 5). 

Als weitere Proben der Trendelenburgischen Grobheit führt 
Fischer an: „Kuno Fischer spricht mit imponirender Zuversicht 
und lässt alle Künste der Dialektik spielen, um Unkantisches kan- 
tisch zu machen" (S. 10 — 11). Ferner: „Diess sind die Folgen 
von der Beharrlichkeit im Irrthum. Kuno Fischer, obgleich an 
das Unkantische seiner Vorstellungen erinnert" (nämlich durch 
Herrn Trendelenburgs infaillible Kritik), „legte sie von Neuem als 
kantisch auf." Und nun wendet sich Trendelenburg schliesslich 
zur deutschen Kritik, wie König Philipp zum Grossinquisitor, mit 
den Worten: „Die Deutsche Kritik mag nun das Uebrige thun" 
(S. 24 — 25). Das Aergste ist aber folgender Satz: „Gewarnt 
druckt er Alles, wie es war, von Neuem ab. Er gab als kantisch, 
was er als unkantisch wusste" (S. 39). Wusste! Weil was Tren- 
delenburg behauptet, nicht blos schlechthin wahr sein, sondern 
auch von Allen, namentlich von Fischer, als ein Orakelspruch 


- 69 - 

anerkannt werden müsse! Bei allen diesen „Rathschlägen, War- 
nungen und Erinnerungen" Trendelenburgs , die Fischer sich gar 
nicht erbeten hatte, und die wie Befehle klingen, — bei dem auf 
Umwegen herausgebracht sein sollenden Geständnisse Fischers 
(S. 29), bei dem- als Eingeständniss ausgelegten Schweigen, geht 
Fischer endlich die Geduld aus. Seine Antworten werden jetzt 
scharf, doch wohl verdient, immer aber würdig. Fischer sagt ganz 
ruhig: „In dieser Schrift erzeugte der Hass die Unwahrheit. Dass 
ich es in dieser Sache mit einem unkundigen Gegner zu thun 
hatte, wusste ich, als ich das erste Wort gegen ihn schrieb, aber 
ich hätte nie geglaubt, dass die verletzte Eitelkeit ihn so weit 
treiben könnte, etwas Unwürdiges zu thun" (S. 41). Es ist nicht 
nur unwürdig; sondern die Insinuationen, die Trendelenburg gegen 
Fischer in die Welt schleudert, sind geradezu — . Das Wort bleibt 
mir in der Feder stecken, weil ich mich nicht zum Sittenrichter 
aufwerfen will, und Aristoteles mit Recht sagt, dass eine Handlung 
schlecht sein kann, ohne desshalb nothwendig aus schlechter 
Gesinnimg zu fliessen, wenn sie nämlich unüberlegt gewesen wäre. 

Doch ich komme nach diesen Aeusserlichkeiten nunmehr auf 
den philosophischen Inhalt der Fischer'schen Rechtfertigungen. 
Und hier sind es besonders zwei Punkte, hinsichtlich derer Fischer 
Trendelenburgs Angriffe widerlegt, nämlich: i) dass Kant nicht 
die - ausschliessliche Subjectivität von Raum und Zeit bewiesen 
haben soll; 2) dass die philosophische Geschichtsschreibung, welche 
sich der dialektischen Methode bedient, nicht authentisch sei; 
darauf will ich 3) vom Verhältniss Hegels zur echten Kantischen 
Lehre einige Worte sagen. 

I. Im ersten Theile der Vertheidigung weist Fischer Tren- 
delenburg, ausser einigen Nebenpunkten, hauptsächlich nach vier 
Seiten hin, eine falsche Auffassung Kants nach, wie er nämlich 
weder über die Gattungsbegriffe bei Kant, noch über den Vorwurf 
einer quaternio tertninorunty noch über das Verhältniss der Kantischen 
Lehre von Raum und Zeit zur reinen Mathematik, noch über dessen 
Antinomien, — also wie wenig Trendelenburg im eigenen Hause, 
in seinem Kant (in einem edlem Sinne, als der Titel der Tren- 
delenburgischen Flugschrift meint), und zwar für Hauptpunkte, zu 
Hause ist. Dabei erwähnt Fischer noch der eigenen Worte Tren- 
delenburgs, die erhärten, wie er selber sich in seinem Vertrauen 
schwankend fühlte: „Ehe ich dem Geschichtsschreiber Kants zu 


— 70 — 

widersprechen, und in seiner Darstellung Kants so wesentliche Ge- 
danken als nichtkantisch zu bezeichnen wagen durfte, lag es mir 
ob, allen Fleiss anzuwenden, in der eigenen Erinnerung alle Spuren 
aufzusuchen, und in Kants Werken immer von Neuem nachzu- 
schlagen und hin und her zu lesen, — und doch konnte ich, da 
der Verfasser mir zu wissen nicht gegönnt hatte, welche Stelle 
Kants ihm vorgeschwebt habe, die letzte Gewissheit in dieser nach- 
forschenden imd nachrechnenden Probe nicht erreichen. Nur die, 
für einen solchen Zweck schätzbaren Wörterbücher Mellins gaben 
mir zuletzt einiges Vertrauen, dass ich mich in meinem oft und 
viel gelesenen Kant wirklich nicht irrte" (S. 42). In dieser, wie 
Trendelenburg es nennt, „arglosen Erzählung" befremdet Fischer 
mit Recht „sowohl die Unsicherheit, welche der Verfasser der 
historischen Beiträge sich selbst über Cardinalpunkte der Kanti- 
schen Lehre zuschreibt, als die Sicherheit, womit er trotzdem über 
mich aburtheilt" (S. 43). Hin und her muss er lesen, immer suchen, 
zuletzt durch Mellins Register nur einiges Vertrauen erlangen! 
Das will ein Kantianer sein! Aus einzelnen Stellen will er den 
Geist Kants erfassen, imd nicht einmal den Buchstaben kann er 
auffinden! Schon Ueberweg zeigte ich, wie die Kantianer viel 
weniger, als wir, in ihrem Kant Bescheid wissen. Nun aber zur 
Sache! Und hier hat Fischer Trendelenburgs Stolz Schlag auf 
Schlag, und endgültig gebrochen. 

Der ganze Streit über die wahre Auslegung Kants^nahm seinen 
Ausgangspunkt davon, dass Trendelenburg Kants Lehre von Raum 
und Zeit tadelt, indem Kant wissenschaftlich zu beweisen suche, 
dass sie nur subjective Formen der- Anschauung a priori seien. 
Wenn diess wirklich bewiesen wäre, so wäre die Erscheinung 
Schein. Gebe man aber auch Kant zu, dass sie als subjective 
Bedingungen dem Wahrnehmen vorangehen, so sei doch mit keinem 
Worte bewiesen, dass sie nicht zugleich auch objective Formen 
sein können. Kant habe kaum an die Möglichkeit gedacht, dass 
sie Beides zusammen seien; diese Möglichkeit sei in der Beweis- 
führung schlechthin übersehen. Und so schliesst Trendelenburg 
diese Ausstellung mit dem ganz philosophischen Gnmdsatz, dass, 
weil das Letzte und Ursprüngliche dem Denken und dem Sein 
gemein sein muss, wir Raum und Zeit keineswegs den Dingen 
absprechen dürfen. Indem die Bewegung die erste Thätigkeit des 
Denkens und des Seins sei, werde sich der Raum als das äussere 


wÜ 


— 71 — 

Erzeugnisß der Bewegung, die Zeit als die Vorstellung des inneren 
Maasses der Bewegung bezeichnen lassen. Mit dieser Anschauung 
werde in der Thät das Wahre der Kantischen Ansicht beibehalten 
xind die Lücke ausgefüllt (Logische Untersuchungen, Thl.I,S. 156 — 166). 
So legt Trendelenburg die Schelling - HegeFsche Identität des Sub- 
jectiven und des Objectiven zu Grunde, macht etwas ä /«m Erwie- 
senes zu einem empirisch Gegebenen. Und doch soll Kant's Rück- 
.schritt diesen spätem Fortschritt widerlegen! Wenn aber Kuno Fischer 
so liberal ist, Treiidelenburg die Ausfüllung dieser Lücke nicht als 
dessen eigenes Verdienst zu bestreiten: „Herr Trendelenburg will 
die Kant'sche Ansicht durch die seinige ergänzen;" so weist Tren- 
delenburg dies mit den Worten zurück: „Es wäre ein eigenes Unter- 
fiaiigen, ein so in sich ganzes System, wie Kants, zu ergänzen." 
Und doch hatte Trendelenburg selbst gesagt, dass es eine Lücke ' 
habe, und er dieselbe ausfüllte (S. 46). 

Dem Satze aber, Kant habe die Möglichkeit, dass Raum und 
Zeit zugleich subjectiv und objectiv seien, in seiner Beweisführung 
schlechthin übersehen, weil er kaum an sie gedacht, setzt Fischer 
dann in der zweiten Auflage seiner Logik (S. 174 flg.) Folgendes 
entgegen: „Die logischen Untersuchungen richten sich gegen Kant, 
»dessen transscendentale Aesthetik sie zugleich widerlegen und er- 
gänzen wollen, Kant habe bewiesen, dass Raum und Zeit subjec- 
tivc Anschauungen seien; er habe nicht bewiesen, dass sie nicht 
auch objective Realität haben können. Aber dieser Beweis, den 
die logischen Untersuchungen vermissen % ist in der That geliefert *). 
Denn es wurde bewiesen, dass Raum imd Zeit i) nicht abgeleitete 
Vorstellungen seien, sondern ursprüngliche; 2) dass diese ursprüng- 
lichen Vorstellungen nicht Begriffe seien, sondern Anschauungen; 
3) dass diese ursprünglichen Anschauungen blosse Anschauungen, dass 
der Raum kein Ding an sich, d. h. nicht unabhängig von der An- 
schauung sei. Depn gesetzt, er sei unabhängig von der Anschauung 
Etwas an sich, so müsste er ein Erfahrungsobject und die mathe- 
matischen Einsichten Erfahrungsurtheile sein^ die als solche weder 
allgemein noch nothwendig sein könnten. Wäre der Raum etwas 
Reales an sich, so würde daraus die Unmöglichkeit der Mathematik 


i) „Vermissen," wohlverstanden, nicht nur das Gelingen des Befw^ises, 
sondern auch den Versuch der Beweisführung. 

2) Das heisst: im Sinne des Kantischen Systems. 


— 72 — 

folgen." Die ganze Stellung aber, die Trendelenburg der Frage^ 
giebt, nachdem Kant die Apriorität von Raum und Zeit bewiesen,, 
noch den Beweis der Nicht-Objectivität zu fordern, kommt Fischer 
allerdings am angeführten Orte so vor, als ob in eine solche ver- 
meintliche Lücke das ganze Kantische System wie in ein „grosses 
Loch" hindurchfallen müsse. Der Beweis der Apriorität schliesst 
nämlich bei Kant mit Nothwendigkeit auch den der Nicht-Objec- 
tivität in sich. „Ich hätte nie geglaubt," fügt Fischer hinzu, „dass- 
Jemand für diesen Sonnenaufgang der Kantischen Philosophie ein 
Citat fordern würde." 

Nach dieser allgemeinen Darstellung der Differenz zwischen 
Trendelenburg und Fischer komme ich nun insbesondere zu den 
vier Hauptpunkten, in welchen Trendelenburg Fischer wegen dessen 
dialektischer Geschichtsschreibung vorwarf, Unkantisches als kantisch 
ausgegeben zu haben. Diese Punkte will ich, nach Anleitung des 
Anti-Trendelenburg, der Reihe nach beleuchten. 

a. In seiner Broschüre: „Kuno Fischer und sein Kant," sagt 
Trendelenburg (S. 13 flg.): „Kant beweist zunächst negativ, Raum 
und Zeit sind Anschauungen, weil sie nicht Begriffe sind. Kuno 
Fischer hingegen sagt nach seiner Auffassung Kants: Raum und 
Zeit sind Anschauungen, weil sie keine Gattungsbegriffe sind. 
Durch diese Differenz kommt Unkantisches in die ganze Dar- 
stellung." Es ist nun von vornherein zuzugeben, dass Kuno Fischer 
vielleicht besser gethan hätte, das Wort „Gattungsbegriffe" nicht an 
die Stelle des Worts „Begriffe*' zu setzen, schon darum, weil er 
hierdurch jeden Schein der Ungenauigkeit vermieden hätte. Nach- 
dem er es gethan, blieb ihm, ^ur Vermeidung des Vorwurfs des 
Unkantischen, nichts übrig, als die Differenz für ganz uner- 
heblich zu behaupten; und das hat er denn auf die schlagendste 
Weise gethan, und sich so auf's Glänzendste von diesem Vorwurf 
gereinigt. Sodann hat er dem Gegner selbst eine Menge Kantischer 
Behauptungen, die derselbe für unkantisch hält, als kantisch nach- 
gewiesen: z. B. Kant sagt, dass Begriff und Gattungsbegriff identisch 
seien, was Trendelenburg leugnet; dass alle Gattungsbegriffe abs- 
trahirt seien, was Trendelenburg ebenfalls leugnet u. s. w. Ferner 
zeigt Fischer, in welche eigene Widersprüche der Gegner sich ver- 
wickele, z. B. wenn er auf S. 18 der Broschüre beweisen will, der 
Kreis könne kein Gattungsbegriff sein, und auf der folgenden Seite 
sagt, er sei einer. Schliesslich aber und vor Allem hat Fischer dea 


' ' / 


— 73 — 

ganz triftigen Grund in*s Klare gesetzt, warum er Gattungsbegriff 
statt Begriff geschrieben habe (S. 6 — 25). Fischer constatirt näm- 
lich aus Stellen Kants, dass dieser Raum, und Zeit zuweilen auch 
Begriffe nennt, aber Einzel-Begriffe (was Trendelenburg — beiläufig 
gesagt — bezweifelte); und diese sind eben einzelne Vorstellungen 
oder Anschauungen, d. h. das Gegentheil allgemeiner Begriffe 
(S. 56 — 58). Geht man von dieser Terminologie aiis, so hat es 
einen guten Sinn zu sagen, Raum und Zeit sind Anschauungen, 
keine Gattungsbegriffe. Denn Einzel -Begriffe sind sie allerdings. 
In der zweiten Ausgabe seiner Flugschrift macht Kuno Fischer 
daher (S. 58 — 59) den sehr guten Zusatz, er habe „geflissentlich" 
Gattungsbegriff statt Begriff gebraucht, um die Zweideutigkeit auf- 
zuheben, als ob Raum und Zeit in weiterer Bedeutung nicht auch 
Begriffe genannt werden könnten und von Kant so genannt worden 
seien. Gattungsbegriffe oder allgemeine Begriffe sind dann aber^ 
setze ich hinzu, entweder a priori, die Kategorien, oder aus der 
Erfahrung geschöpft, wie Mensch. Was hat Fischer hiernach Un- 
kantisches als kantisch aufgestellt? Doch, wie Trendelenburg räth, 
wir wollen nicht um Worte streiten, am wenigsten um das Eine, — 
überhaupt keine Wortgefechte machen. 

b. Jetzt kommt aber der Glanzpunkt der vermeintlichen 
Trendelenburgischen Widerlegung, die erträumte Vernichtung des 
Gegners auf logischem Wege, freilich auf dem alten ausgetretenen 
der formalen Logik, nämlich durch den Vorwurf einer quaternio 
terminorum^ wie Hegel durch die zweite Schlussfigur geschlagen 
werden sollte (S. 25 — 38). Wir schicken vorauf, dass Kant jeden 
allgemeinen oder Gattungs - Begriff so definirt: er sei ein gemein- 
schaftliches Merkmal, das, als Theilvorstellung, in einer unendlichen 
Menge verschiedener Vorstellungen enthalten ist; je allgemeiner er 
ist, desto mehr nimmt er an Umfang zu, was er an Inhalt verliert. 
Nun ist Kant's Beweis, dass Raum und Zeit Anschauungen, keine 
Begriffe sind, nach Fischer, folgender: „Raum und Zeit wären Gat- 
tungs-Begriffe, wenn sie Theilvorstellungen wären, Merkmale von 
Räumen und Zeiten. Aber sie sind umgekehrt das Ganze: der 
Raum enthält alle Räume, die Zeit alle Zeiten in sich; also sind 
sie nicht Gattungs - Begriffe." Worauf Trendelenburg (S. 16 der 
Broschüre) entgegnet: „In Kant habe ich dies Argument nicht ge- 
funden, und ich vermisse das Citat; ich halte es auch darum nicht 
für kantisch, weil es den Fehler einer quaternio terminortnn enthält. 



^foi^J^ 




— 74 — 

Der Schluss nackt ausgedrückt, lautet so: Alle Merkmale sind Theile, 
^ber der Raönj ist das Ganze (kein Theil), also ist der Raum kein 
Merkmal, und insofern kein Gattungs-Begriflf." Der Doppelsinn des 
Mittdbegriffs soll nun darin bestehen, dass Theil eines Begriffs' logisch» 
der Raum als Ganzes sinnlich genommen werde; und diese Behaup- 
tung wird noch mehr als sieben Mal wiederholt (S, 17, 23, 24, 25, 
26, 27, 28 u. s. f.), — ' was sie aber darum nicht glaubhafter mache. 

Kuno Fischer erwiedert, dass bei dem Nackt-Ausziehen seines 
Schlusses ihm auch ein Stück Haut mit abgerissen worden sei, in* 
dem er nicht „Theil", sondern „Theilvorstellung" zum medius ter* 
minus gemacht habe; in dem Worte Theilvorstellung stecke aber 
l&ein Doppelsinn mehr von logisch und sinnlich. Ueberdies stehe sein 
Argument wörtlich in Kant: „Der Raum wird als eine unendliche 
gegebene Grösse vorgestellt Nun muss man zwar einen jeden Begriff 
als eine Vorstellung denken, die in einer imendlichen Menge von 
verschiedenen möglichen Vorstellungen als ihr gemeinschaftliches 
Merkmal enthalten ist, mithin diese unter sich enthält. Aber kein 
Begriff, als ein solcher, kann so gedacht werden, als ob er eine 
imendliche Menge von Vorstellungen in sich enthielte", weil er 
eben nur einen Theil ihres ganzen Inhalts imter sich begreift. 
„Gleichwohl wird der Raum so gedacht; denn alle Theile des Rau- 
mes in*s Unendliche sind zugleich. Also ist die ursprüngliche Vor- 
stellung vom Räume Anschauung a priori^ und nicht Begriff'. Ist 
nun mein Schluss, fügt Fischer hinzu, eine quatemio terminorum^ so 
ist es auch dieser Kantische: Trendelenburg nenne diese quaiemio 
eine tödtliche, womit er seinen Feind erschiessen wolle; — aber das 
Gewehr sei nicht geladen. Ueberhaupt sei der Gegensatz von „logisch 
und sinnlich genommen", hier ganz unstatthaft, weil jede logisch 
genommene Theilvorstellung aus sinnlichen Vorstellungen abstrahirt 
werde. Zwei verschiedene Worte seien nicht immer auch zwei 
verschiedene Begriffe, bemerkt dazu die zweite Auflage. Namentlich 
aber durfte nicht angenommen werden, dass der Begriff logisch, 
•der Raum sinnlich sei, vor dem Beweise, der erst die Sinnlichkeit 
des Raumes erhärten solle. Ehe dies geschehen, seien Raum und 
Zeit Vorstellungen, wie alle übrigen .Begriffe. Endlich habe Tren- 
delenburg gar nicht angegeben, was er unter jenem vermeintlichen 
Gegensatz verstehe. 

Wo Trendelenburg dann aber einmal selbst, um einem ihm vor» 
geworfenen Widerspruch zu entgehen, nämlich hinsichtlich des schon 


— 7S — 

oben (S. 65) getadelten Verhältnisses von Denken und Bewegung, sich 
nicht anders retten kann, als indem er einai vermeintlichen Dop- 
pelsinn im Denken annimmt, der gar nicht existirt, da entschuldigt 
er sich damit, es sei nur ein „Wortsplittcr**. Wogegen Fischer vor- 
treulich ausruft: „Wäre dieser Splitter in meinem Auge gewesen, 
so möchte ich den Balken sehen, den der Gegner daraus gemacht 
haben würde" (S. 72 — 73). 

c. Ein dritter Punkt ist folgender. Kuno Fischer sagt im Sinne 
Kants: „Wäre der Raum und die Zeit etwas Reales für sich, so 
würde daraus die Unmöglichkeit der Mathematik folgen; sie ist, 
als allgemeine und nothwendige Erkenntniss, nur möglich unter der 
Bedingung, dass Raum und Zeit reine oder blosse Anschauungen 
sind". Für diesen Punkt, entgegnet Trendelenburg, fehle wieder 
das Citat; höchstens könne Kant tneinen, die Möglichkeit der reinen 
Matiiematik bliebe unerklärt, diese sei aber darum doch nicht unmög- 
lich. „Es handelt sich," schickt Fischer in der zweiten Auflage voraus, 
„um einen jener eminenten Hauptpunkte, von dessen genauester 
Fassung das Verständniss der Lehre abhängt," — und „für welche 
kein Kenner jemals den Mellin aufgeschlagen hat" (S. 44). Darauf 
kommt Fischer mit den philologisch gewünschten Citaten aus Kant 
angefahren: „Unsere Erklärung macht allein die Möglichkeit der 
Geometrie als einer synthetischen Erkenntniss a priori begreiflich. 
Also liegen doch wirklich der Mathematik reine Anschauungen 
a priori zu Grunde, welche ihre synthetischen und apodiktisch gel- 
tenden Sätze möglich machen; — - und daher könnte, ohne unsere 
transscendentale Deduction, ihre Möglichkeit zwar eingeräumt, aber 
keineswegs eingesehen werden." 

Mit Recht schliesst Fischer hieraus: „Wenn Kant nur meinte, 
jene Möglichkeit bliebe unerklärt, so wäre nicht ausgeschlossen, 
dass sie nach einer andern Theorie erklärt werden könnte. Wenn 
«r aber sagt, sie bleibt unerklärlich, so hält er seine Theorie flir 
-die einzige Möglichkeit der Erklärung. Die Thatsache der reinen 
Mathematik ist nur unter dieser Theorie erklärbar; sie ist nur unter 
den hier aufgestellten Bedingungen möglich. Unter dem Gegentheil 
der Kantischen Theorie wird sie ein unmögliches Factum. Hätte 
sich Kant in diesem Falle," wie Trendelenburg hochweise meint, 
„behutsamer ausdrücken wollen und einer andern Theorie die 
Möglichkeit der Erklärung offen gehalten, so musste er die ganze 
Vemunftkritik unterlassen. Die grössere Behutsamkeit wäre in 


- ^6 - 

diesem Falle vollkommen nichtssagend gewesen. Diese Art der 
Behutsamkeit war nicht die Kantische, Es giebt eine Vorsicht, die 
aus Unsicherheit entspringt und unsicher bleibt: eine andere, auf 
die sich die Sicherheit gründet Kants Art war die letztere." Die 
zweite Auflage setzt noch hinzu: „Die Vorsicht ist nicht immer die 
Mutter der Weisheit, sie ist häufig auch die Tochter der Unsicher- 
heit;" und diese Art ist die Trendelenburgs. 

d. Endlich greift Trendelenburg auch Kuno Fischers Darstel- 
lung der aus der Antinomien-Lehre geschöpften indirecten Beweise 
Kants für die Idealität des Raumes und der Zeit an, weil Fischer 
sagt, dieselbe werde durch alle vier Antinomien bewiesen, während 
Trendelenburg dies nur von der ersten gelten lassen will (S. 51 — 54). 
Und nun fiihrt Fischer wieder die eigenen Worte Kants an, welche den 
Angriff zurückweisen. Kant sagt nämlich: „der Beweis würde in 
diesem Dilemma bestehen: Wenn die Welt ein an sich existirendes 
Ganzes ist, so ist sie entweder endlich oder unendlich. Nun 
ist das Erstere sowohl, als das 'Zweite falsch, laut der oben 
angeführten Beweise der Antithesis einer- und' der Thesis anderer- 
seits. Also ist es auch falsch, dass die Welt ein an sich existiren- 
des Ganzts sei. Woraus denn folgt, dass Erscheinungen Überhaupt 
ausser unseren Vorstellungen Nichts sind." Wenn nun Trendelen- 
burg dafür häh, dass das Dilemma: entweder endlich oder 
unendlich, eben nur in der ersten Antinomie vorkomme, so ent- 
g^net Fischer, Kant spreche von Beweisen, ja füge ausdrücklich 
hinzu : „Man sieht daraus, dass die obigen Beweise der vierfachen 
Antinomie nicht Blendwerke, sondern gründlich waren." Und: 
„Was hier von der ersten kosmologischen Idee, nämlich der abso- 
luten Totalität der Grösse in der Erscheinung gesagt worden, gilt 
auch von allen übrigen." Trendelenburg wird immer mehr von 
Kuno Fischer vernichtet! Und sein so unverdientes Lob, sein von 
Regierung, Kantianern und Hegelianern selbst so hochgetragenes 
Ansehen, das ihn zu einem mächtigen Manne stempelte, den Man- 
cher fiü-chten mochte, ist ein für alle Mal zu Boden geworfen. 
Von diesem Schlage wird und kann er sich nimmermehr erholen. 

Hieran schliessen sich nun noch einige kleinere Widersprüche, 
die Fischer begangen haben soll und Trendelenburg aufgedeckt 
haben will, die sich aber ebenso in Nichts auflösen. 

f. Fischer soll die Habilitationsschrift Kants: De mundi semi- 
Hlh it intdligibilh forma H primipiis (1770I mit der transscendentalen 


^ k 


— 77 — 

Aesthetik der Kritik der reinen Vernunft (1781) „vermengt" haben, 
obgleich elf Jahre dazwischen liegen. Fischer antwortet: „Sie sind 
in ihren Grundgedanken völlig identisch. Kant arbeitete während 
dieser Zeit im Stillen an der weitem Ausbildung der kritischen 
Philosophie. Die Habilitationsschrift giebt schon die Lehre der 
transscendentalen Aesthetik: dass Raum und Zeit ursprüngliche Vor- 
stellungen, dass diese Vorstellungen Anschauungen und keine Be- 
griffe, dass diese Anschauungen reine Anschauungen seien". Die 
elf Jahre können doch den Unterschied nicht machen! Dazu kommt 
unglücklicher Weise für Trendelenburg noch ein an M. Herz unter 
dem I. Mai 1781 nach Herausgabe der Kritik der reinen Vernunft 
geschriebener Brief Kants, in welchem es heisst: „Dieses Buch enthält 
den Ausschlag aller mannigfaltigen Untersuchungen, die von den 
Begriffen anfingen, welche wir zusammen unter der Benennung des 
mundi sensibilis und intelligibilis abdisputirten". Mit vollem Rechte 
schliesst Fischer daher seine Rechtfertigung: „Voji einem Wider- 
spruch zwischen der Habilitationsschrift und der transscendentalen 
Aesthetik weiss Kant nichts" (S. 54 — 56). 

/. Ein zweiter Nebenpunkt ist besonders dadurch wichtig, dass 
dieser sich so nennende philologische Philosoph oder philosophische 
Philolog merkwürdige sprachliche Blossen der bedenklichsten Art 
giebt Fischer sagt: „Es handelt sich um das Verhältniss der Zeit 
zu dem logischen Denkgesetze des Widerspruchs. Die Stelle der 
Habilitationsschrift lautet wörtlich: ,,Die Zeit giebt zwar nicht dem 
Denken seine Gesetze, wohl aber stellt sie die hauptsächlichsten 
Bedingungen fest [praecipuas constituit condifiones), unter deren Ein- 
fluss [quibus faventibus) der Verstand seine Begriffe; den Denk- 
gesetzen gemäss anwendet, wie ich denn, ob etwas unmöglich ist, 
nur urtheilen kann, indem ich von demselben Subject aussage, es 
sei in derselben Zeit A und Nicht -^". Hieraus folgt nach 
Fischer von selbst: „Also die Zeitbestimmung ist die Bedingung, 
unter der allein das Denkgesetz gilt". Trendelenburg tadelt wiederum 
diesen Satz als falsch: Kant behaupte blos, „dass die Zeit die An- 
wendung der Denkgesetze begünstige". Was vollständig sinnlos 
ist, während Kant ganz klar meint, dass contradictorisch entgegen- 
gesetzte Prädicate einem Dinge nicht zugleich zukommen können, 
sondern nur nach einander. Das ist ein lateinischer Bock, wie ich 
Trendelenburg in dem Commentar zu seiner Ausgabe ütBQi ipvx^jg 
des Aristoteles nicht mindere griechische Böcke nachgewiesen habe, 


- 78 — 

indem er die tieisdnnige idealistische Erklärung der Empfindung als 
der Identität des Empfimdenen and des Empfindenden bei Arijstoteles, 
nach Anleitung einer kantisch-kritischen deutschen Uebersetzung, zur 
Flachheit des gemeinen Empirismus herunterbringt (Michelet: Com- 
mentarius ad ArisU Eth, Nicom. V, i, §. 20). 

Auch über dies Yerhältniss der Zeit zum Denkgesetze stimmt 
die transscendentale Aesthetik mit der Habilitationsschrift überein^ 
obgleich Trendelenb«rg zwischen beiden auch hier durchaus einen 
Widerspruch entdecken will. Es heisst in jener: „Nur in der Zeit 
können beide contradictorisch entgegengesetzten Bestimmungen in 
Einem Dinge, nämlich nach einanda:, anzutreffen sein." Auch die 
transscendentale Logik, die schliesslich von Trendelenburg heran- 
gezogen wird, spricht nicht anders: „Wenn das Denkgesetz heisst^ 
kein Object darf zwei Prädicate haben, die einander widersprechen,, 
so ist die Zeitbestimmung nothwendig. — Handelt es sich aber um 
den Satz des Widerspruchs, als einen blos logischen Grundsatz,, 
der, als solcher, nicht durch die Bedingung der Zeit afficirt werden 
darf, so muss man die Formel desselben dahin ändern: Kein Ob- 
ject darf ein Prädicat haben, welches ihm selbst widerspricht". 
„Wo ist da," fragt Fischer, „der schreiende Widerspruch, der fun- 
damentale Irrthum der Darstellung," die Trendelenburg nun einmal 
schlechterdings in Kuno Fischer gefunden haben will? „Es gehört 
in der That," bemerkt dieser, „kein Studium Kants, sondern nur 
eine einigermaassen gesammelte Art des Lesens dazu, um hier keinen 
Widerspruch zu finden." 

2. Der zweite Hauptpunkt des Angriffs ist der, dass Fischer 
zufolge aller dieser unkantischen Behauptungen (!) eine durch dialek- 
tische Künste verdorbene Geschichtsschreibung der Philosophie ge- 
liefert habe. Die Vertheidigung Fischers dagegen beschliesst seine 
Broschüre (S. 64 — 77). Hier rechtfertigt er sich gegen den Vor- 
wurf, als ob er die Citate bespöttele; aber man müsse nicht eine 
wahrhafte „Stellenjägerei" üben. Das sei nicht die Sache eines 
echten Philologen, wie Trendelenburg doch in seiner „nachforschen- 
den und nachrechnenden Probe" (vergl. S. 42 und 44) einer sein 
will. Man dürfe nicht die Citate unrichtig und unmethodisch auf- 
lesen, noch falsch verstehen: sondern müsse sie kritisch und in 
ihrem Zusammenhange benutzen, wenn man eine Lehre beurkunden 
wolle; sonst verwirre man sie nur, was auch Trendelenburg begegnet 
sei. Einen Philosophen blos abschreiben und Auszüge aus seinen 


— 79 " — 

Werken machen, heisse nicht, seine Lehre darstellen. Dennoch 
wolle dies Trendelenburg, und tadle daher, dass bei Fischer alle 
Philosophen, statt in ihrer eigenen, in derselben Sprache redeten, 
und seine Geschichtsschreibung das System nur in freierer Nach- 
bildung wiedergebe. — 

Und nun hat alles Vorhergehende gezeigt, wie genau Fischer 
jeden von ihm aufgestellten Satz Kants zu belegen wusste, und 
wieviel Unkantisches bei Trendelenburg mit unterlief. Wer einen 
Philosophen durch Excerpiren darstellen will, lässt oft die Haupt- 
sache aus; er weiss eben nicht, was die Hauptsache ist. Daher sagt 
Fischer sehr gut: „Nichts kann einem Philosophen seine eigene 
Sprache mehr verkümmern, als wenn eine fremde Hand sie zer^ 
stückelt. Zur einleuchtenden Wiedergabe eines philosophischen 
Systems giebt es nur Eine wahre und fruchtbare Methode; das ist 
die umfassende, aus den bewegenden Grundgedanken des Philo- 
sophen geschöpfte, auf die historisch-kritische Einsicht in den In- 
halt und den Entwickelungsgang seiner Schriften gegründete Repro- 
duction." So allein kann man in der That, als Philosoph, den 
Geist eines Philosophen fassen, während der Philolog meist am 
Buchstaben kleben bleibt. 

Kuno Fischer endet mit einer allgemeinen Schilderung Tren- 
delenburgischer Polemik: „Bei mir finden sich alle schlechten 
Geister der Polemik beisammen, die Wortgefechte und Wortkünste, 
der gereizte Ton, die wendungsreiche Dialektik der Verstimmung,, 
der Uebermuth der Sprache. Dagegen waltet in seiner Polemik 
der ruhige und starke Geist der Sachkenntniss, der milde Ausdruck 
der Wahrheit, der echte Geist der Geschichtsschreibung, die für das 
Urkundliche und Thatsächliche das zarteste Gewissen hat und die 
Verletzung desselben mit strengem Namen rügt. Der Gegner ist 
verblendet durch eine zu grosse Meinung von dem Gewicht und 
dem Machtgebiet seiner Worte. Wenn ich die Pflicht habe, die 
überführten Stellen zu berichtigen, so hätte er zuerst die Pflicht er- 
füllen sollen, zu überflihren. Eine dieser Stellei\ nach der Ansicht 
des Gegners berichtigen, hiesse: das Verständniss der Kantischen 
Lehre und meine Darstellung derselben von Grund aus verderben. 
Was er seine Ueberführung oder seine Nachweise nennt, giebt 
uns nichts, als ein bemerkenswerthes Zeugniss, wie es in Deutsch- 
land, selbst unter Fachgelehrten, mit der Kenntniss der Kantischen 
Lehre steht, gerade ein Jahrhundert nach ihrer Gründung. Das. 


— 8o — 

Sprichwort sagt nicht, was man thun muss, um ein Philosoph zu 
werden; aber es sagt, was man in gewissen Fällen zu lassen hat, 
um einer zu bleiben." 

3. Was mir nun noch zu erörtern übrig bleibt, ist drittens, 
den praktischen Nutzen aus dieser ganzen Polemik zu ziehen, damit 
sie eben nicht in ein unfruchtbares Wortgezänk ausarte. Ihr Re- 
sultat ist aber dieses, dass, wenn die Gegner immer auf Kant zurück- 
weisen, von ihm alles Heil erwarten, durch ihn die Umkehr des 
Rausches zur Nüchternheit herbeiführen wollen, sie vielmehr, ohne 
es zu wissen, ganz von den Schelling-Hegerschen Principien ange- 
steckt sind. Trendelenburg behauptet die Identität von Sein und 
Denken, die Ursprünglichkeit der Bewegung im Geiste; er will die 
Lücke Kant's ergänzen, dem Raum und der Zeit auch die Objec- 
tivität vindiciren, weil Kant Unrecht thue, Subjectivität und Objec- 
tivität auseinander zu halten. Warum sollen wir also wieder zu 
Kant zurückkehren, nachdem unsere Gegner zu uns herübergekommen 
sind? Aber wir wollen ihnen den Gefallen thun, bis auf unseren 
Kant, nicht auf ihren zurückzugehen. Ich meine nämlich: bis zur 
ersten Auflage der Kritik der reinen Vernunft, nicht blos bis zur 
zweiten, wie sie. Ja, wir sind die Kantianer von 1781, nicht die 
von 1787, oder noch späterer Daten, wie sich Andere rühmten. 
Durch eine echt dialektische Geschichtsschreibung, nicht durch 
blosses Citiren, Aufschütten von Stellen, Hin- und Herblättem in 
Wörterbüchern haben wir uns selbst als die nothwendige Consequenz 
Kant's, durch die Diadoche von Fichte und Schelling hindurch, dar- 
gelegt, während unsere Gegner nie dazu gelangten, diese Folgerungen 
zu ziehen, eben weil sie Kant nicht verstanden haben. 

Also der Kardinalpunkt Kant's ist doch: Wir erkennen nur 
Erscheinungen, nicht die Dinge an sich. Diese Erkenntniss hat 
einen empirischen Stoff, den wir von den Dingen an sich erhalten, 
— das sind die Anschauungen oder Vorstellungen ; und eine Form, 
die wir aus uns selbst nehmen, — Raum, Zeit und die Kategorien. 
Wenn nun, wie Kant hypothetisch in der ersten Ausgabe der Kritik 
der reinen Vernunft aussprach, unser Ich und das Ding an sich 
eine und dieselbe denkende Substanz ist, so sind die empirischen 
Anschauungen ebenso gut unser Eigenthum. Die Empfindung ist 
durch das Subject mit bestimmt, wie schon Aristoteles und beson- 
ders Schopenhauer es so scharfsinnig entwickelte, während umge- 
kehrt Raum, Zeit und Kategorien auch den Dingen an sich zu- 


"S. 


— 8i — 

Itommen. Hat nicht Herbart schon ganz richtig Kant eingewendet, 
dass, wenn er den Stoff der Erfahrung von den Dingen an sich 
stammen lasse, er ihnen damit die CausaHtät zuschreibe, da docH 
zugleich die Kategorien nicht auf sie angewendet werden sollten. 
Wenn aber nur durch Raum, Zeit und Kategorien, nicht durch die 
aposterioristischen Vorstellungen Nothwendigkeit und Allgemeinheit 
nach Kant in unsere Erkenntniss kommt, so hat er damit der ge- 
wöhnlichen Empirie den Garaus gemacht, und die aprio ristische 
Erkenntniss zu Ehren gebracht: ja in dem Schematismus der reinen 
Verstandesbegriffe recognoscirt er sogar die Anschauungen und Bil- 
der in Begriffen, deren Realität dadurch dargethan werde. Wie 
kann Trendelenburg also Kant dazu missbrauchen wollen, die von 
der speculativen Philosophie behauptete Identität des Begriffs und 
der Realität zu bekämpfen? 

Wenn dann, difrch Kants Hypothese und indirecte Folgerungen, 
wie durch seiner Nachfolger directe Zugebungen und Erklärungen, 
die Lehre gefallen ist, dass unsere Erkenntniss nur transscendental 
sei, nicht aufs Object transscendire, — wenn unser Denken in der 
That mit den Dingen an sich, als den objectiven schaffenden Ge- 
danken der Welt coincidirt: so ist auch die Ideenlehre der Vernunft 
nicht mehr etwas Transscendentes, sondern Immanentes, weil eben 
die Schranke des Verstarides eingerissen. Die Ideen sind nach 
Kant die Kategorien auf's Unendliche übertragen, in's Unendliche 
erweitert. Das Unbedingte des denkenden Subjects, als Substanz 
aufgefasst, ist die Idee der Seele: das Unbedingte, als vollendete 
Reihe von Ursachen und Wirkungen, die Idee der Welt: das Un- 
bedingte, als absolute Totalität der objectiven Bedingungen aller 
Gegenstände des Denkens, die Idee Gottes. So lange es nun fest- 
stand, dass die Kategorien nicht auf die Ideen angewendet werden 
dürfen, sondern nur für's Endliche gelten, wies Kant mit Recht in 
der transscendentalen Dialektik nach, dass sie überfliegend würden 
und sich in Widersprüche verwickeln würden, wenn sie, über die 
Erscheinungen hinaus, auf die Dinge an sich bezogen würden. 
Kants Dialektik ist daher nur negativ. Sobald aber die Begriffe 
im Sein wiedergefunden werden, hört das Unvermögen der Ver- 
nunft, mit ihrer Hülfe bis zur positiven Erkenntniss durchzudringen, 
auf Dies liegt in der That in Kants eigenem Sinne. Denn wenn 
der Eine Gegensatz, ohne Advocatenbeweis, so feststeht, wie der 

Michelet, Hegel. 6 


— 82 — 

andere, und doch zugleich einer den anderen widerlegt: so fallen 
sie in einem dritten positiven Resultate, als aufgehobene und 
doch zugleich aufbewahrte Momente, zusammen, und bilden eben 
in ihrer Einheit die Vernunfterkenntniss gerade so, wie der Gegen- 
satz des Subjectiven und des Objectiven, der Erscheinung und 
des Dinges an sich sich auflöste, während der Verstand sie aus- 
einander hält 

Was ist also hiemach die Schlussfolge, die wir, die wahren 
Söhne Kants, aus seiner echten Lehre ziehen? Diese, dass die Er- 
scheinung, weil sie eben kein Schein, sondern die Erscheinung des 
Dinges an sich ist, nur die Verendlichung des Unendlichen bildet^ 
welche, mitten im bestehenden Gegensatze, die Einheit des Unbe- 
dingten enthält. Bei Hegel sind die Gegensätze der Erscheinung 
ebenso real, wie die Einheit der Idee; bei Schelling sind die 
Gegensätze nur ideell, real allein die Einheit. Wenn wir also auch 
die empirische Realität von Raum und Zeit in der Aussenwelt nicht 
leugnen, so halten wir doch an ihrer speculativen Idealität fest,.' 
insofern die in sie gefasste Erscheinungswelt nicht das an und für 
sich seiende Wesen der Dinge ist, und eine vollendete Reihe der 
räumlichen und zeitlichen Erscheinungen in der Unendlichkeit über- 
haupt keine Wirklichkeit hat. Unsere Lehre daher auf die Kan- 
tischen Ideen beziehend, sagen wir: Die unendliche Summe der 
Erscheinungen unseres Ich schliesst selbst die substantielle Thätig- 
keit der Seele in sich. Die in der Erscheinung endliche, in der 
Idee unendliche Welt ist, als endliche, die nie abbrechende, stets 
unvollendete Reihe der mechanischen Ursachen und Wirkungen in 
äusserer Noth wendigkeit: als unendlich, die Causalität der Freiheit 
oder innere Nothwendigkeit nach dem ihr immanenten Zweckbegriffe. 
Die unendliche Wechselwirkung von Bedingtem und Bedingendem 
aber ist, als das in der Reihe der endlichen Thätigkeiten sich selbst 
Bedingende, die absolute Totalität der objectiven Bedingungen aller 
Gegenstände des Denkens, d. h. das Unbedingte. Alle zufälligen 
Dinge wurzeln so im Nothw endigen: alle endlichen Zwecke der 
Welt im absoluten Endzwecke; der subjective Begriff Gottes^ 
seine transacendentale Erkenntniss schliesst selbst sein objectives,, 
der Welt immanentes Wesen in sich, weil der Gedanke der 
Welt auch unser Denken. Wie die drei Beweise vom Dasein 
Gottes nicht mehr in der Subjectivität des Begriffs stecken blei- 
ben: so lösen sich auch die Widersprüche der vier kosmologischea 


- 83 — 

Antinomien, und die vier Paralogismen der rationellen Psycho- 
logie in der Coincidenz des Ich mit dem objectiven Gedanken,, 
als dem Dinge an sich, auf. Und am Anfang dieses Jahrhunderts 
ist die Metaphysik aufgestellt worden, welche Kant für das Ende 
des vorigen prophezeit hatte. 


Philosophie des Unbewussten. 


Versuch einer Weltanschauung. Von E. v. Hartmann Dr. phil. 


Habemus papam erschallt es im Christlichen Rom vom Capi- 
tole herab, wenn das Conclave der Kardinäle seine Wahl getroffen 
hat. Und sollte auch nicht, wie einmal aus einer bekannten Ver- 
anlassung, der Aufenthalt darin unleidlich geworden sein, stets be- 
eilen sich die Eminenzen mehr, als die deutschen Philosophen nach 
Hegels Tode gethan haben, einen neuen Papst zu bekommen. 
Weder Herbart, noch Krause, weder Schopenhauer, noch — Tren- 
delenburg hat sich auf den Gipfel des philosophischen Berges zu 
schwingen vermocht. Wäre es nach 40 Jahren der „Philosophie 
des Unbewussten" gelungen? Das Buch soll bis nach Wien hin 
stark gelesen worden und bereits vergriffen sein. Der Urheber des 
Systems hat seine grossen Vorgänger ehrend anerkannt, und räumt 
ein, aus ihnen reichlich geschöpft zu haben, von Leibnitz und 
Spinoza bis auf Schelling und Hegel, und auch weiter zurück. 
Dabei hat er die inductive Methode, nachdem er von Anfang an 
gegen die dialektische eine unüberwindliche Abneigung -empfunden, 
sich zu seinem Wegweiser erkoren, und bei augenscheinlicher Be- 
nutzung der Resultate neuerer Naturforschung eine gute Dosis 
Materialismus uns mit in den Kauf gegeben. So wird z. B. der 
thierische Organismus mit einer Dampfmaschine verglichen (S. 129), 
umgekehrt aber auch die Materie zu einer blossen Erscheinung, 
ähnlich wie bei Kant, gemacht (S. 460); und so schwirrt denn 
überhaupt der Kant'sche Kriticismus öfter als Grundton durch. 

Ist der Leser durch diese vorläufigen Angaben begierig gewor- 


- 85 - 

den, das Nähere zu erfahren, so wollen wir nicht ermangeln, dar- 
auf einzugehen, — damit er beurtheilen könne, ob hier ein Fort- 
schritt über das neueste System hinausgethan worden; oder nur das 
Alte in ein gefalligeres Gewand gehüllt, so wie mit neuen Stützen 
und Argumenten bestätigt worden sei, — immerhin ein verdienst- 
liches Unternehmen, das wir keineswegs zu schmälern gewillt sind, 
weil es eben die ungeschwächte Kraft des Alten bezeugt, und 
wesentlich dazu beitragen wird, die Philosophie populärer und zu- 
gänglicher zu machen. 

Das letzte Kapitel des Buchs ist überschrieben: „Die letzten 
Principien" (S. 644 — 678). Ich konnte der Versuchung nicht wider- 
stehen, mit dem Lesen dieses Kapitels den Anfang zu machen. 
Denn wenn der Verfasser, seiner empirischen Methode gemäss, diese 
Principien auch als die letzten Resultate seiner Forschung angesehen 
wissen wollte, so konnte für einen Dialektiker und Kenner der 
Geschichte der Philosophie, wenn ich mich als solche bezeichnen 
darf, nichts interessanter sein, als aus diesen vorweggenommenen 
Blüthen und Früchten den ganzen Entwickelungsgang und Inhalt 
der Forschung gleich aus dem richtigen Standpunkte übersehen, 
und demnächst unparteiisch erörtern zu können. Dies halte ich 
nun auch dafür, dass es mir gelungen sei. 

Herr v. Hartmann selbst führt seine Philosophie des Unbe- 
wussten hier am Schlüsse auf vier Quellen zurück: „Von den grossen 
Philosophen treffen ^ mit unsem Principien am meisten zusammen 
Plato und Schelling, Hegel und Schopenhauer" (S. 645). Hier 
scheint mir Schopenhauer — also auch ein grosser Philosoph! — 
ein richtigeres Bewusstsein, als der Verfasser, über sich selbst zu 
haben. Denn während Schopenhauer sich sehr richtig aus Kant, 
Plato und dem Buddhismus zusammengesetzt behauptet, hat Herr 
v. Hartmann mit grossem Unrecht bei dieser Quellenangabe Kant 
übersehen und übergangen, da er doch dem Kriticismus so nahe 
steht, dass er sogar bis in' die blosse Wahrscheinlichkeitslehre 
(S. 678) der neueren Akademie hineingeräth. Und schliesslich hätte 
er doch die Glückseligkeitslehre Epikurs, welche die Lust zum 
Princip macht, nicht vergessen sollen, da sie das Endresultat seiner 
Lehre, aber mit sehr pessimistischer Färbung, wie die Leibnitz'sche 
Metaphysik mit ihrem Optimismus den Ausgangspunkt dersel- 
ben bildet. Wenn Herr v. Hartmann so eine erkleckliche Menge 
von Philosophen in seine Weltanschauung zusammenfasste, so ist 


— 86 — 

nur zu bedauern, dass er den Born der Geschichte der Philosophie 
nicht gänzlich ausschöpfte, — nicht, wie Hegel, als eine organische 
Totalität zu fassen vermochte, wodurch das wahre System zum 
Durchbruch bei ihm gekommen wäre; sondern dass er nur eklek- 
tisch einen Strauss zusammenflocht*, dessen Lückenhaftigkeit nicht 
unbemerkt bleiben konnte. 

Indem Hr. v. Hartmann, seinem Motto getreu: „Speculative 
Resultate nach inductiv-naturwissenschaftlicher Methode," zwischen 
den drei Methoden, die ihm als Wege der Forschung offen lagen, 
der Dialektik der Deduction und der Induction, sich für die 
letztere entschied, können wir seine früheren Ungerechtigkeiten gegen 
die dialektische Methode hier um so eher übergehen, ab er einerseits 
auch die deductive Methode verwirft, weil sie „ihre eigenen Prin- 
cipien, wie schon Aristoteles wusste, überhaupt nicht beweisen kann," 
und „zu ihren Principien durch einen Luftsprung von mystischer 
Natur" gelangt (S 8): andererseits der Dialektik jetzt die Gerech- 
tigkeit widerfahren lässt, dass sein Werk „den Tendenzen der 
Vertreter der dialektischen Methode durch einen gewissen posi- 
tiven Gegensatz gegen gemeinschaftliche Gegner entgegenkommen 
dürfte" (S. 5). Ja, der Verfasser ist nicht blind gegen den Mangel 
der Induction; indem diese nicht zu letzten Principien noch zu 
einem einheitlichen System der Wissenschaft, die Speculation nicht 
zur Erklärung der Wirklichkeit und zur Mittheilbarkeit komme: 
so schliesst der Verfasser sehr gut hieraus, „dass das Ganze sich 
nicht von Einer Seite her begreifen lässt, sondern dass man die 
Sache zugleich von beiden Seiten auffassen muss, die sich eben- 
bürtig gegenüber stehen" (S. 9 — 10). Nun, darum verbinden wir 
Dialektiker eben beide Methoden, die ja auch nach dem Verfasser 
nur in ihrer Uebereinstimmung die Wahrheit ergeben können (S. 11). 
Warum aber beschränkt er sich hier auf den einseitigen Lehrweg 
der Empirie, und gelangt so nur zu Wahrscheinlichkeiten (S. 2)? 
ungeachtet seiner halsbrechenden mathematischen Formeln (S. 21, 
27 — 29, 663), die, im Herbart'schen Geschmack auftretend, der Phi- 
losophie jede Esslust verderben. Dies scheint der Verfasser denn 
auch geahnt zu haben, indem er uns grossmüthig erlaubt, „dieses 
Kapitel immerhin ungelesen zu lassen" (S. 24). 

Den Inhalt, den Herr v. Hartmann der philosophischen Welt 
durch diese Methode vorführen will, besagt der Titel des Wer- 
kes. Sein grosses Princip ist das Unbe wusste; und er erzählt, 


— 87 — 

wie er durch Leibnitz darauf gekommen sei. Dieser habe die 
unbewussten Vorstellungen entdeckt, und sie für das Band erklärt, 
welches jedes Wesen mit dem ganzen übrigen Universum verbinde. 
Und so bekennt der Verfasser mit Freuden, dass seine Unter- 
suchungen durch die Leetüre Leibnitzens angeregt worden seien 
(S. 13 — 14). Ihr Gang ist aber der, dass, nachdem der Verfasser 
in einem ersten Abschnitte das grosse Princip des Unbewussten in 
der Natur und in der Leiblichkeit (S. 37 — 153), in einem zweiten 
auf dem Gebiete des menschlichen Geistes zur Anschaulichkeit ge- 
bracht hat (S. 155 — 3 1 5), er sich in einem dritten zur „Metaphysik 
des Unbewussten" erhebt (S. 317 — 678); wo dasselbe, „zur All- 
Einheit erwachsen, das Weltall umfasst, und sich zuletzt plötzlich 
als das darstellt, was den Kern aller grossen Philosophien gebildet 
hat, Spinoza's Substanz, Fichte's absolutes Ich, Schelling^s absolutes 
Subject-Object, Plato's und HegeVs absolute Idee, Schopenhauer*s 
Wille u. s. w." (S. 3). Wir treffen hier auf diese Weise lauter gute 
alte Bekannte. Diese wesentliche Uebereinstimmung seiner Prin- 
cipien mit denen der grössten metaphysischen Systeme bestärkte 
den Verfasser dann natürlich in der Ueberzeugung, dass er sich auf 
dem rechten Weg befinde (S. 655). Und so ist denn das letzte 
Kapitel seines Buchs allein damit beschäftigt, diese Uebereinstimmung 
ausführlich darzulegen. Es kann uns nur im höchsten Grade will- 
kommen sein, zu sehen, wie ein gewissermaassen auf einsames, em- 
siges Studium angewiesener] Mann, nachdem er sich mit den 
wesentlichen Resultaten alter und neuer Speculation bekannt ge- 
macht, nun den empirischen Naturforschern, deren neueste Ent- 
deckungen auf allen Gebieten er sich ebenfalls angeeignet hat, 
nachweist, dass auch ihr gesammtes Wissen lediglich auf die Resul- 
tate der dritthalbtausendjährigen Arbeit des philosophirenden Geistes 
hinausläuft. 

I. Betrachten wir nun erstens die Natur dieses grossen 
Unbekannten, das Herr v. Hartmann das Unbewusste nennt, so 
meint er zunächst, es habe viel Aehnlichkeit mit dem, was Hegel 
als die absolute Idee in* ihrem Ansichsein vor Erschaffung der Natur 
und des Geistes bezeichnet (S. 18). In der That, Herr v. Hart- 
mann macht das Ansichsein zum Höchsten. Das Unbewusste offen- 
bart sich ihm daher als „intellectuelle Anschauung, unmittelbares 
Wissen, — immanente Logik" (S. 243). Das Bewusstsein könne 
sich nimmermehr eine directe Vorstellung von der Art und Weise 


— 88 — 

inachen, wie das Unbewusste vorstellt, höchstens mit Wahrschein- 
lichkeit vermuthen, dass im Unbewussten die Dinge so vorgestellt 
werden, wie sie an sich sind. Das Reich des Unbewussten sei 
damit die intelligible Welt Kants. Das Unbewusste denke also 
räum- und zeitlos; es fasse jeÜen Denkprocess mit seinem Resul« 
täte in Einen Moment zusammen (S. 321 — 322). Das Unbewusste 
sei subjectiv und objectiv mit Einem Schlage (S. 353), und über 
diese Gegensätze erhaben, könne aber zu jedem derselben werden 
(S- 675). Im Unbewussten seien alle Ideen zeitlos in einander, sein 
Denken sei unserem subjectiven Denken schlechthin entgegengesetzt; 
doch sei die Bezeichnung „objectives Denken" unzutreffend, weil 
einseitig. Wir können nur behaupten, dass das Unbewusste nicht 
so vorstellt, wie wir. Da das Subjective ausgeschlossen sei, so dürfte 
nichts übrig bleiben, als der objective Process, dessen subjective 
Erscheinung das Bewusstsein sei (S. 666 — 667). Hier wird das 
Denken des Unbewussten unserem Verfasser sogar zu einem „trans« 
scendent- absoluten" (S. 675). Es gebe nur Ein Unbewusstes, die 
in allen Individuen identische Weltseele. Die Individuen seien mit 
ihrem Bewusstsein blos Erscheinungsformen des all-einen absoluten 
Individuums. Man dürfe also nur Ein Ding an sich, nicht, mit 
Kant, viele annehmen (S. 453 — 458). Nur will Herr v. Hartmann 
sich von Kant wieder dadurch unterscheiden, dass ihm die Er- 
scheinung nicht für subjectiv, sondern, wie bei Schelling und Hegel, 
für objectiv gilt (S. 461). 

Hiernach polemisirt der Verfasser durchaus gegen eine selbst- 
bewusste Persönlichkeit des Absoluten, da das Bewusstsein 
überhaupt eine Beschränkung sei (S. 463). Nichtsdestoweniger kom- 
men mannigfache Aeusserungen vor, nach welchen der Verfasser 
doch wieder in den Anthropomorphismus und in den Anthropopa- 
thismus gefallen zu sein scheint, indem er dem Unbewussten ganz 
persönliches Thun zuschreibt. So lesen wir einmal, dass das Unbe- 
wusste eingreift, wenn es seine Eingriffe auch auf ein Minimum von 
Kraftaufwand beschränkt (S. 477—478). Werden diese Eingriffe 
dann auch als nicht willkürliche, sondern gesetzmässige bezeichnet 
(S. 522), so liegt darin doch eigentlich eine contradictio in adjecto. 
Ein ander Mal macht das Unbewusste es sich stets so bequem als 
möglich (S. 486), und schickt lieber eine Missgeburt in die Welt, 
als dass es sich mit Ueberwindung der vorliegenden Schwierigkeiten 
abquälte (S. 491). Die Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs 


— 89 - 

liegt in dem Hauptprincip des Verfassers, zu welchem wir jetzt 
kommen. Dies ist nämlich das von Empedokles und Anaxagoras 
dunkel, von Aristoteles mit vollkommener Klarheit ausgesprochene, 
von Kant wiedererweckte Princip der immanenten Zweckthätigkeit 
des Universums, die, als objective Natur der Dinge, des Bewusst- 
Seins gar nicht bedarf. Diese unbewusste Intelligenz, sagt der Ver- 
fasser, sei nicht die Vorsehung eines ausserhalb des Individuums 
stehenden Geistes, sondern die individuelle Vorsehung, nämlich der 
dem Individuum immanente Zweck selbst. „Wozu noch einen Gott 
in's Spiel bringen," ruft er aus, „wo das Individuum mit den uns 
bekannten Fähigkeiten allein fertig werden kann?" Das Thun des 
Unbewussten nennt er dann Instinct, Hellsehen, Ahnen (S. 24, 54^ 
70, 80, 94, loi, 299); und schreibt ihm Irrthumlosigkeit, absolute 
Sicherheit und Selbstgewissheit ohne Zaudern, Schwanken und Zwei- 
feln zu*(S. 67). Wie bei Melissus, erkrankt und ermüdet das Ab- 
solute nie (S. 319). Ohne Gedächtniss weiss es Alles, ist überhaupt 
vollkommen (S. 325 — 326), also auch allweise (S. 520). Natürlich 
ist im Ansich kein Fehl, weil es nicht in die Endlichkeit und Be- 
schränkung herausgetreten, aber darum auch nichts Wirkliches, son- 
dern ein leeres Ideal, ein Hirngespinst ist, während Hegel mit Recht 
das Höchste nur in der Einheit des Ansichseins und des Fürsich- 
seins setzt. Die Philosophie hat also keinen anderen Zweck, als 
diesen dunkelen Urgrund des Unbewussten aus dem nächtigen 
Schacht der Seele an den hellen Tag des Bewusstseins heraufzu- 
fördem. Inwiefern Herr v. Hartmann als Philosoph hinterher doch 
gewissermaassen gezwungen wird, diese Versöhnung des Unbewussten 
mit dem Bewusstsein, wenn auch auf seine Weise, anzustreben, 
werden wir zuletzt sehen. 

Zunächst setzt unser Verfasser nur das Bewusstsein als das 
Schlechte dem Unbewussten gegenüber. Was den Ursprung des 
Bewusstseins betrifft, so findet er ihn in der Reaction der Seele auf 
einen Himreiz (S. 23). „Alle bewusste Vorstellung hat die Form der 
Sinnlichkeit, das unbewusste Denken kann nur von unsinnlicher Art 
sein" (S. 320). „Alle krankhaften und schlechten Auswüchse stammen 
aus dem Bewusstsein" (S. 324). Die Gehirnschwingungen seien die 
imerlässliche Bedingung des Bewusstseins. Wegen der Wesensgleich- 
heit von Geist und Materie, sei die Form des Unbewussten das 
Ursprüngliche, die des Bewusstseins aber ein Product des unbewuss- 
ten Geistes und der materiellen Einwirkung auf denselben (S. 347). 


— 9° — 

Das Bewusstsein sei die. Spaltung in Subject und Object (S. 353), 
Gegensätze, die erst mit der Entstehung des Bewusstseins eintreten 
(S. 675); es sei also der blosse Ausdruck eines Widerstreits ent- 
gegengesetzter Thätigkeiten (S. 461). Das Bewusstsein gehöre nicht 
zum Wesen, sondern nur zur Erscheinung; es sei nicht die Seele, 
sondern nur eine Vielheit der Erscheinung des Einen (S. 453), des 
Unbewussten, als des Wesens der Welt (S. 461). Die Seele selbst 
sei nur die Summe der auf den betreffenden Organismus gerichteten 
Thätigkeiten des Einen Unbewussten (S. 467). Auf diese Weise 
ist unserem Verfasser das Bewusstsein recht eigentlich der Sitz der 
Endlichkeit, während er das Unbewusste mit der ganzen Strahlen- 
krone der Unendlichkeit ziert. Doch werden wir gleich sehen, wie 
diesem Verächter der Dialektik diese Gegensätze geradezu in ein- 
ander umschlagen. So kommt also zunächst der Satz vor (S. 209): 
„Trotz aller Einseitigkeit und Beschränktheit steht das Bewusstsein 
doch für diese Welt an Wichtigkeit über dem Unbewussten." 
Was der Zusatz: „für diese Welt" bedeutet, wird sich bei der Ent- 
hüllung des Endzweckes der Welt ergeben. Da femer die Stei- 
gerung des Bewusstseins der directe Zweck des Thierreichs sei(S. 140), 
im Menschen, als der höchsten thierischen Organisation, das Be- 
wusstsein am vollkommensten werde (S. 107 — 108): so scheintauch 
hieraus zu folgen, dass das Bewusstsein höher, als das Unbewusste, 
das eben bei den niedern Thieren als ihr Instinct überwiegt. Der 
grösste Nachtheil des Unbewussten endlich sei das Tappen im 
Finstern, während das Bewusstsein, als Selbstthat, den Menschen mit 
dem beseligenden unendlichen Streben nach Vervollkommnung er- 
fülle (S. 312 — 313). Doch wir werden zugleich inne werden, dass 
diese Steigerung des Bewusstseins im Weltprocesse dem Verfasser 
nur als ein Mittel gilt, dessen das Unbewusste selber sich bediene, 
um den Endzweck der Welt zu erreichen. 

Was nun dieser Endzweck sei, der aus Neoschellingianismus 
und Eudämonismus von unserem Verfasser zusammengeschweisst 
wird, kann nur erhellen, wenn wir die näheren im Unbewussten 
enthaltenen Momente angeben. Wie Spinoza in seiner absoluten 
Substanz die zwei Attribute der Intelligenz und des Willens unter- 
schied (S. 671), Schopenhauer die Welt als Vorstellung und 
Wille (S. 634) fasste: so sind auch bei unserem Verfasser dies die 
beiden Zweige des Unbewussten (S. 3, 326), die — und hier meint 
er dem Hegeischen Begriffe der Entwickelung zu folgen (S. 611) — 


— 91 — 

aus ihrer unaufgeschlossenen, unschuldigen Einheit durch den unse- 
ligen Zwiespalt der Welt hindur9h zur Erlösung von der Unlust 
wieder in die reine, an sich seiende Potenz zurückkehren. Das 
Dritte ist aber bei Hegel nicht die blosse Rückkehr in's Erste. 
Dieser Process, meint dagegen Herr v. Hartmann, könne sich schon 
öfter abgespielt haben, da im Unbewussten keine Erinnerung vor- 
handen sei, es also durch den einmal zurückgelegten Weltprocess 
nicht alterirt worden sei, sondern sich am Ende der Welt ebenso 
befinde, als vor dem ersten Beginne derselben. Und da 
mit dem Ende Eines Weltprocesses die Zeit aufhöre, so sei auch 
bis zum Beginne des nächsten keine Pause gewesen (S. 660 — 663). 
Die Zeit hat also eigentlich — und das ist das Richtige — nicht 
aufgehört. 

Das Verhältniss von Vorstellung und Wille und Beider zum 
Bewusstsein wird dann also beschrieben. Der Wille — und der 
fallt mit dem Streben der Atomkräfte zusammen — sei die letzte 
unbekannte immanente Ursache jeder Bewegung (S. 47, 418, 423). 
Wo, beiläufig gesagt, dem Verfasser, wie manchem Atomistiker unserer 
Zeit, der Stoff „ein Wort ohne Begriff" ist, wenn er nicht als System 
von Kräften gefasst werde (S. 416). Das Wollen setze zwei Zu- 
stände voraus, den gegenwärtigen, als den Ausgangspunkt, und den 
zukünftigen, als den Zielpunkt, worin es übtrgehen will. Der zu- 
künftige sei nur als Vorstellung in ihm enthalten; ebenso könne der 
gegenwärtige nur insofern Ausgangspunkt werden, als er empfunden, 
d. h. vorgestellt wird. Das Streben des Willens sei die leere Form, 
den Inhalt gebe erst die^ Vorstellung, nämlich als den Gegenstand 
des Triebes; so existire kein Wollen ohne Vorstellung (S. 83 — 85). 
Der Wille an und für sich sei unter allen Umständen unbewusst; die 
Vorstellung aber, welche den Inhalt des Willens bilde, könne so- 
wohl bewusst als unbewusst sein. Wenn sich der Wille affirmativ 
zum Inhalt seiner Vorstellung verhalte, so bleibe sie unbewusst. 
Da das Bewusstsein aber eine Erscheinung des Gegensatzes sei, so 
komme der unbewusste Wille dadurch in einer bewussten Vorstel- 
lung zum Vorschein, dass er in Opposition gegen etwas nicht von ihm 
Ausgehendes, als Unlust Empfundenes, trete, also negativ gegen sein 
Object werde (S. 360 — 362). So wird erst im Menschen, welchem 
das Bewusstsein innewohnt, der Instinkt als überflüssig (S. 168) 
zurückgedrängt, damit im Kampf des Bewusstseins das Unbewusste 
den Weltzweck zum Siege führe. 


— 92 — 

Es bleiben uns nun noch zwei Punkte übrig : dieses Unbewusste 
durch die Reihe der Lebendigen hindurch zu verfolgen; und zum 
Schluss das Ziel des Weltprocesses, wie Herr v. Hartmann es sich 
ausmalt, zu schildern. 

2. Der Verfasser weist hier zweitens mit grosser Kenntniss 
der Naturwissenschaften nach, wie sowohl in der Leiblichkeit als 
im menschlichen Geiste der aus den Ganglien stammende Wille (S. 43) 
als „die Form der Causalität von Idealem auf Reales" (S. 86), als 
dieses unbewusste Streben der Kraft, kurz als In st inet, das wir- 
kende Princip aller Thätigkeiten des Thier- und Pfanzenreiches 
sei (S. 423). Es sei schon Instinct, wenn viele Pflanzen ihre Blu- 
menkronen beim Regnen schliessen (S. 381). Zwischen Thieren und 
Menschen sei nur ein gradueller, kein wesentlicher Unterschied. 
Auch Thiere zeigen Willen, wie bekanntlich die Ameisen Kriege 
führen und zu dem Ende sogar eine Kriegerkaste haben (S. 39 — 41). 
Da jede Einmischung des Hirnbewusstseins nur hemmend und störend 
wirkt, so gehen Maulthiere sicherer, als Menschen, auf gefährlichen 
Wegen; ebenso auch Nachtwandler (S. 94). Auch die unbewusste 
Naturheilkraft der Thiere setzt der Verfasser im Instinct (S. 104), 
und behauptet daher, dass Beide abnehmen, je höher wir auf der 
Stufenleiter des Thierreichs steigen, im Menschen also am geringsten 
seien (S. 107). Er sÄiliesst diesen ersten Abschnitt seines Buches 
mit dem sehr richtigen Gedanken, „dass die unbewusste Seelen- 
thätigkeit selbst sich ihren Körper zweckmässig bildet und er- 
hält" (S. 153). 

Im folgenden Abschnitt weist der Verfasser nun „das Unbe- 
wusste im menschlichen Geiste" nach, wenn auch der eigentlich 
thierische Instinct zurücktrete. Hier begegnet ihm aber der Irrthum, 
unbewusste Regungen, wie z. B. die der Schamhaft igkeit, unmit- 
telbar aus einem höheren Instincte zu erklären (S. 161), während 
dieser AfFect doch wohl nur durch Erziehung und Anleitung aus 
der bewussten Reflexion wieder in die Gefühlssphäre zurückversetzt 
worden. Mit Recht aber rechnet Herr v. Hartmann zu den mensch- 
liehen Instincten die Mutterliebe (S. 163); selbst das Unter- 
richten sei ein Naturtrieb (S. 167), ebenso beim Mann der Drang, 
einen Hausstand zu gründen (S. 169). Und so kommt unser 
Verfasser auf das Unbewusste der geschlechtlichen Liebe, die 
er in einem eigenen Capitel ausführlich behandelt, und dabei streng 
den Fusstapfen Schopenhauers folgt. 'Sein Pessimismus bricht hier 


— 93 — 

:zum ersten Mal hervor; und mit grossem Cynismus verdammt er, 
noch ehe er „betheiligt war", das geschlechtliche Treiben der Mensch- 
heit als eine Verrücktheit (S. 178). Das Unbewusste darin wird dann 
folgendermaassen deducirt: der Mensch, dem mannigfaltige Mittel, 
diesen physischen Trieb zu befriedigen, zu Gebote stehen, unterzieht 
sich dem unbequemen, eklen, schamlosen Geschäft der Begattung, weil 
ein Instinct ihn dazu treibe. Der Zweck der Zeugung liege eben 
ausserhalb des Bewusstseins (S. 172). Die Illusion beim Liebes- 
genuss sei eine Prellerei des Egoismus zu Gunsten fremder Zwecke 
{S. 561). Die Gefühlsüberschwenglichkeit der Liebe habe nämlich, 
ohne es zu wissen, keinen anderen Zweck, als die Geschlechtsbefrie- 
digung mit diesem bestimmten Individuum; und diese sei wiederum 
nichts, als der trügerische Köder, durch welchen das Unbewusste 
für eine der menschlichen Gattung möglichst entsprechende Zusam- 
mensetzimg und Beschaffenheit der nachfolgenden Generation Sorge 
trage (S. 179 — 181). Der Wahn eines höheren Genusses sei also 
das unbewusste Mittel, welches den unbewussten Zweck einer ge- 
wissen Beschaffenheit des Erzeugten herbeiführe (S. 184, 561). 

Auch für die Moral ität bleibt unserem Verfasser lediglich 
der „unbewusste Factor übrig". Das ethische Moment des Men- 
schen liegt ihm sogar „in der tiefsten Nacht des Unbewussten". 
Daraus zieht er dann die im vorigen Jahrhundert beliebte sehr dürf- 
tige Consequenz vom umgekehrten Verhältniss des Kopfes und des 
Herzens: „So sehen wir historisch, dass Köpfe von eminenter geistiger 
und wissenschaftlicher Befähigung und Bildung nicht selten moralisch 
schlechte Menschen sind; und dass umgekehrt die reinste, unge- 
trübteste Moralität in einfachen Menschen von geringer Geistesbil- 
dung wohnt" (S. 206 — 207). Wo kann Herr v. Hartmann, wemi 
wir auch nur bei den Philosophen stehen bleiben, einen unmorali- 
schen Denker, etwa Baco ausgenommen, uns nachweisen? Die Prä- 
dicate Sittlich und Unsittlich seien erst Schöpfungen des Bewusst- 
seins und können dem Unbewussten an sich niemals zukommen: 
sie seien also nicht Eigenschaften der Wesen und ihrer Handlungen, 
sondern nur Urtheile über dieselben; und erst mit diesem bewussten 
Urtheil soll die Verantwortlichkeit beginnen (S. 207 — 208). Natür- 
lich ist unserem Verfasser dann auch der Entstehungsprocess des 
ästhetischen Urtheils etwas jenseits des Bewusstseins Liegendes, 
imd erst das Resultat, die Lust, trete als Empfindung in's Bewusst- 
sein (S. 211 — 212). Namentlich eigne dem Genie iikJÄfef^OTSw^- 





KNIHOVriA 





— 94 — 

lerischen Production der göttliche Wahnsinn Plato's, der belebende 
Hauch des Unbewussten, der dem Bewusstsein als höhere unerklär- 
liche Eingebung erscheine (S. 216 — 217). Die Sprache sei femer 
kein Erzeugniss bewusster scliarfsinniger Ueberlegung. Nur der 
Masseninstinct könne sie geschaffen haben; und wegen ihrer Aehn- 
lichkeit bei allen Völkern sei sie nur aus einem gemeinsamen Sprach- 
bildungsinstinct der Menschheit erklärlich (S. 230 — 231). Können 
wir auch dies noch zugeben, so wird der Verfasser damit nur immer 
kühner. Denn da die Sprache die Bedingung des Denkens, so entwickelt 
er in einem langen Capitel: „Das Unbewusste im Denken". Auch 
das Finden von Begriffen, als dem Gemeinsamen vieler Einzelvorstel- 
limgen, soll ein sich im Unbewussten vollziehender Process sein; 
nur sein Resultat falle wieder instinctiv in's Bewusstsein (S. 235 — 239). 
Auf diese Weise lässt sich aber Alles auf's Unbewusste zurückführen. 
Und es ist auch ganz richtig, dass alles Grosse, alles Neue zuerst 
als Ansich, als ein dunkeles Gefühl -auftrat, bevor es zur vollen 
Klarheit des Bewusstseins gelangte. Der Irrthum des Herrn v. Hart- 
mann besteht nur darin, den Anfang für die Quelle anzusehen, da 
vielmehr das Ansich, das Gefühl die vorausgesetzte Bedingung ist, 
aus welcher das darin wirkende Wissen nur mit sich selbst zusammen- 
geht, nachdem es die unvollkommene Hülle, in welcher es zuerst 
auftrat, mit Bewusstsein zerbrochen hat 

Einen Hauptsitz des Unbewussten sieht unser Verfasser noch 
in der Mystik; — ein Wort, das er in einem umfassenderen Sinne, 
als gewöhnlich, nimmt. Er will sie nicht auf die Religion beschrän- 
ken, sondern dehnt sie auf viele Gebiete aus (S. 276). Nicht der 
Inhalt sei das specifisch-mystische, sondern die Art und Weise, wie 
dieser Inhalt zum Bewusstsein komme. Als diese Art und Weise 
spricht er dann das innere Licht, einen Glauben, ein unmittelbares 
Wissen aus: „Und wir haben somit das Wesen des Mystischen be- 
griffen als Erfüllung des Bewusstseins mit einem Inhalte (Gefühl, 
Gedanke, Begehrung) durch unwillkürliches Auftauchen desselben aus 
dem Unbewussten" (2 7 8 — 2 81). Hier war der Punkt, wo der Verfasser 
hätte zum Bewusstsein über sein Unbewusstes gelangen können: 
um so mehr, als er die Philosophie „das Suchen des Beweises für 
die mystischen Resultate" nennt (S. 288). Er hätte dann erkannt, 
dass das Unbewusste blos eine unvollkommene Form des Inhalts 
der Wahrheit sei, der sich aus derselben herausringt Und wenn 
er Spinoza als „die Blume des philosophischen Mysticismus" preist. 


r 


— 95 — 

so lebt und webt doch gerade der Inhalt dieser Philosophie im 
klarsten Spiegel des Bewusstseins. Aber freilich, ungeachtet des 
blossen Scheins eines mathematischen Beweises, hat Spinoza, wie 
alle grossen Erfinder, seinen genialen Wurf aus der Unmittelbarkeit 
des Geistes heraus gethan. 

„Das Unbewusste in der Geschichte" zu beweisen, hat sodann 
der Verfasser allerdings leichtes Spiel: wie in der Natur, so herrsche 
auch in der Geschichte Zweckmässigkeit. Selbst wenn wir aber 
auch die Freiheit des einzelnen Willensacts im Menschen unbe- 
dingt zugäben, da sie doch ein blosser Schein sei, so könne dennoch 
der planvolle Entwickelungsgang der Geschichte nimmer ein Resul- 
tat der Freiheit der Individuen sein, weil das Bewusstsein dieser 
Entwickelung nicht in dieselben falle, sondern ihre selbstsüchtigen 
Absichten unbewusst zum Wohl des Ganzen ausschlagen. Wenn 
der Verfasser aber hinzusetzt: „Allerdings nähern wir uns seit dem 
letzten Jahrhundert jenem idealen Zustande, wo das Menschen- 
geschlecht seine Geschichte mit Bewusstsein macht" (S. 290 — 291); 
so giebt er damit selbst zu, dass die Menschheit die Kinderschuhe 
des Unbewussten endlich ausgezogen habe, also sehr Unrecht daran 
thäte, sich in die ausgetretenen Bahnen wieder zurückzwängen zu 
lassen. Und wir verdenken es Herrn v. Hartmann sehr, dass er, 
wie er versichert, seine Gedanken darum in diesem Werke zu Papier 
brachte, weil er die Menschheit vor ein vorzeitiges Greisenalter 
warnen wolle, in welches sie unfehlbar treten würde, wenn sie durch 
das Hervorheben der Vorzüge der bewussten Vernunft den schon 
halb versiegten Quell alles Wahren und Schönen im Unbewussten 
vollends eintrocknen Hesse (S. 315)! 

3. Das Verhältniss des Bewussten zum Unbewussten, und der 
Grund, warum das leidige Bewusstsein sich in die ungetrübte Har- 
monie des Unbewussten eingedrängt habe, führt uns nun auf den 
letzten Punkt unseres Berichts, wie sich der Verfasser den Endzweck 
der Welt und ihren Process denkt. 

a) Ehe wir aber an die Entwickelung eines Weltzwecks gehen kön- 
nen, muss zuerst die Art und Weise der Entstehung der Welt angege- 
ben werden. Und um diese aus dem Unbewussten zu construiren, stürzt 
sich unser Verfasser, trotz aller Aufklärung, die ihm seine Naturwissen- 
schaften doch hätten gewähren sollen, in eine solche Fluth trüber Böh- 
misch-Neoschellingscher Mystik, dass ich mich nicht enthalten kann^ 
dieselbe dem Leser als ein Curiosum vorzuführen. Wegen der überall 


- 96 - 

in der Welt herrschenden Zweckmässigkeit müssen wir, wie Leibnitz^ 
das Vertrauen haben, dass das allwissende Unbewusste, das nie unan- 
gemessene Mittel zu nachweislich vorhandenen Zwecken anwende, 
die bestmögliche Welt ausgeführt habe (S. 523 — 526). Freilich, 
da alles weltliche Dasein mehr Unlust, als Lust mit sich bringe, 
so wäre das Nichtsein der Welt ihrem Sein vorzuziehen. Deshalb 
habe die Existenz der Welt einem thörichten, unvernünftigen Acte 
ihre Entstehung zu verdanken. Dies werde nur dadurch möglich, 
dass wir zwei Thätigkeiten im Unbewussten kennen, von denen die 
Eine, der Wille, eben die an sich unlogische, unvernünftige sei. 
Da nun die reale Existenz dem Willen ihre Entstehung verdanke, 
woran die Vernunft des Schöpfers keinen Antheil habe, so wäre 
zu bewundem, wenn sie als solche nicht unvernünftig wäre. Daraus 
folge aber nicht, dass von allen möglichen Welten die bestehende nicht 
die beste sei, indem das Unbewusste den ohne sein Zuthun gesetzten 
Anfang auf die bestmögliche Weise fortführte (S. 626 — 627, 530—531). 
Vor Entstehung der Welt und ihres Processes sei weder Wollen 
noch Vorstellen, also Nichts gewesen; aber Ziel' der Entwickelung 
sei wiederum die Umwandlung desWollens in's Nichtwollen (S. 607, 
636). Woher kommt nun die Mitte, die Welt und ihr Process 
mit seinem Anfang und seinem Ende (S. 637)? Das ist die grosse 
Frage, die Herr v. Hartmann sich aufwirft. Und hier greift er eben 
in seiner Verzweiflung nach dem Böh mischen: „Kein Ding ohne 
Widerwärtigkeit": nach Schellings Satze dass zum Erscheinen des 
Absoluten gehöre, den Schein einer Abhängigkeit von etwas An- 
derem, etwas Fremdartigem zu haben (S. 351). Nun ^ hatte Herr 
V. Hartmann sich zwar in seinem Unbewussten schon einen Gegen- 
satz, Vorstellung und Wille, zurecht gelegt. Und man sieht eigent- 
lich gar nicht ein, warum es nicht bei der „wahren Einheit von 
Wille und Vorstellung," als „Ueberseiendem" oder „unvordenklichem 
Sein," wie Schelling sage, kurz als „Vorseiendem" im Unbewussten 
habe bewenden können. Dann hätte die leere Form des unbewuss- 
ten WoUens harmlos ihren Inhalt an dem mit ihm verbundenen- 
unbewussten Vorstellen aus dem Unbewussten selbst erhalten, hätte 
nichts, als die Verwirklichung dieses Inhalts gewollt (S. 329, 667, 
660, 652). Alles wäre dann in Ruhe und Harmonie beim Alten 
geblieben; der Instinct hätte unumschränkt geherrscht, ohne Gehim- 
willen und bewusste Vorstellung. Aber das wäre wohl die höchste 
Langweile gewesen, vielleicht um nichts besser, als das vorhin 


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'— 97 — 

-angedeutete Nichts vor und nach der Welt; sondern vielmehr ganz 
dasselbe. So musste denn Wille und Vorstellung in Opposition 

treten. Aber die Nothweridigkeit hiervon also die Nothwendig- 

keit des Sündenfalls — hat Herr v. Hartmann zu entwickeln unter- 
lassen. Wenigstens habe ich diesen Beweis nirgends bei ihm finden 
können. Es ist nur so; man weiss nicht, warum. Es sei denn, dass 
nur so das Wollen im Unbewussten wirkliches Wollen werde. Und hat 
dies der Verfasser gemeint, so wollen wir es ihm passiren lassen. 

Was ich bei Herrn v. Hartmann zur Motivirung dieses Vor- 
gangs habe entdecken können, ist etwa Folgendes, und es liest sich 
wie ein Roman des Absoluten: die einzige Thätigkeit des Unbe- 
wussten bestehe im Wollen (S. 331). Der Wille sei das Ueber- 
«etzen des Idealen in^s Reale (S. 424). Der Wille sei es, der der 
ganzen Welt und jedem einzelnen Dinge sein Dass verleiht; die 
Idee könne ihm nur das Was bestimmen (S. 633, 653). Die Vor- 
stellung habe also in sich selber kein Interesse an ihrer Existenz; 
sie werde, so lange es kein Bewusstsein gebe, immer nur durch den 
Willen hervorgerufen, dessen Inhalt sie bilde. Da greife plötzlich 
•die organisirte Materie (soll dies das staunende Menschenhirn sein, 
aus dem nach Schiller der erhabene Fremdling, der Gedanke, 
springt?) in diesen Frieden mit sich selber ein, und schaffe eine 
Vorstellung, die dem erstaunten Geiste wie vom Himmel falle, denn 
er finde in sich keinen Willen zu dieser Vorstellung. Zum ersten Male 
sei ihm der Inhalt der Anschauung von Aussen gegeben. Die grosse 
Revolution sei geschehen, die Vorstellung von dem Willen losgerissen, 
um, als selbstständige Macht, ihn sich zu unterwerfen. Dieses Stutzen 
des Willens über die Auflehnung gegen seine bisher anerkannte Hrer- 
schaft, dieses Aufsehen, das der Eindringling von Vorstellung im 
Unbewussten mache, dies sei das Bewusstsein, welches aus einer 
Opposition verschiedener Momente im Unbewussten entstehe. Dieses 
Stutzen könne nicht von dem Willen allein ausgehen, denn er sei 
ja das absolut Dumme; es gehe also nur von dem ganzen Unbe- 
wussten aus (S. 349 — 350). Das ist das Jacob Böhmische Nein, das 
„Sich-in-sich-hineinimaginiren des Ichts. 

Damit ist der Kampf zwischen dem Bewusstsein und dem Wil- 
len, zwischen dem Logischen und dem Unlogischen entbrannt: „Der 
Wille, der durch die Erhebung aus der lauteren Potenz in . das leere 
Wollen sich in den Stand der Unseligkeit versetzt hat, reisst die 
A^orstellung oder Idee in den Strudel des Seins und die Qual des 

Michelet, Hegel. 7 


Processus mk hinein" ,S, 632, 6j6, 660'. Die Unsdigkat wilr« 
perpetniit wctdoi, warn nicht die Mogäcbkdt dner radicalen £ 
lösni^ gegeben wäre. Dtoe Mi^ichkeit existite in der Eizsancip. 
tion der VoTSteUm^ vom Wiikn durch das Berosstsein. Das Wesc 
des Bewnsstseins sei diese Losnässnng dei VorsteUung vom \Vi)It:i 
aaf die es ja dem Unbewossten aOein mkonnne, tmd die Of^xisidoi 
des Willens gegen die Vorstellimg, wlthroKl im Unbewusst^n die 
Vontellai^ nnr als Dienerin des WÜkns auftrete. Do* säe^reiche 
Kampf des Bewnsstseins g^en den WiDen, wie er m»s als Re- 
des Wehprocesses empirisch ror Augai trete, sei nichts weniger, 
als etwas Zufälliges, sondern im Bewusstsein begrtflich enthalten, 
nnd mit der Entwickelung desselben als nodiwendig gesetzt (S. 66 1. 
349, 667, 632^. Wer aber beweist tms, wie gesagt, die Nothwen- 
digkeit des Her^'ortretens des oc^ativeD WiUens und des Bewnsst- 
seins überhaupt? Aller Fortschritt in der Stufenreihe der Wesen 
und in der Geschichte bestehe in der Ejweiteniiig des Gebiets, wo 
das Bewusstsein herrsche. Die Erweiterung dieser Herrschaft könne i 
nur dmch Befreiung des Bewusstseins von der Hemcbaft des AiTects | 
nnd des Interesses, und durch alleinige Unterwerfung unter die be- 
wussie Vernunft erkämpft werden. Diese fortschreitende EJnancipatioR 
des InteJlects vom Willen sei der eigentliche Rempunkt nnd nächste 
Zweck der Eischafiiiiig des Bewusstseins (S.329'. Damit sei es erst 
mc^lich, sich von der Macht des Ich zu emancipiren, und sich mit 
dem Absoluten durch Vernichtung des indi^Hduellen Bewusstseins za 
identificiren (S. 453, 285). 

i. Ist dem Leser klar ge*-orden, wie dieser trübe Mysticismus 
sich den Ursprung der Welt begreiflich zu mach«i bemüht ist, so 
wird ihm zweitens die Welt in ihrem Bestehen vorgeführt, d.h. 
mit dürren Worten „die Unvernunft desWollens und das Elend des 
Daseins" (S. 532} zu Tage geförderte Es ist mir vorgekommen als 
ob Hr. V. Haitmann, des Grübelns in unvordenklichen Potenzen müde, 
in mephistophelischer Manier endlich einmal wieder den Teufel spielen 
wollte, um sich an dem Schmutz des Lebens im Weltprocess so 
recht zu weiden. Denn hier entfaltet er in der drastischen Manier 
Schopenhauers ein solches schauderhaftes Panorama von Unglücli, 
Schmerz und DlusJonen in seiner bestmöglichen ^^icht bestmöglich- 
sten, wie et immer — z. B. S. 529 — schreibt) Welt, dass der 
Berichterstatter, ein leidlich sanguinischer Mann, der sich nicht so | 

leicht etwas anfechten lässt, auf ein paar Tage nach LectUre dieses 


^^ 


— 99 — 

endlosen Capitels durcli die überredende Schreibart des Verfassers 
gründlich melancholisch geworden ist, und nur durch den Schluss, 
welcher das Sprichw9rt: „Ende gut, Alles gut", bewähren zu wollen 
scheint, sich wieder mit dem Verfasser in etwas wenigstens auszu- 
söhnen vermochte. Ich kann mich nicht enthalten, einige der her- 
vorragenden Züge aus diesem HöUenbreugerschen Gemälde dem 
Leser zum Besten zu geben. Dass die Unlust die Lust im Leben 
bedeutend überwiegt (S. 549), wissen wir schon im Allgemeinen. 
Speciell wird dies nun in den drei Haupt-Illusionen der Menschheit 
nachgewiesen: dass das Glück i) im irdischen Leben erreichbar sei, 
wie die alte Welt meinte (S. 540); 2) in einem transscendenten 
Leben nach dem Tode, wie das Christenthum glaubte (S. 600); 
3) in der Zukunft des Weltprocesses, wie die Neuzeit hofft (S. 610). 
Bei wachsender bewusster Intelligenz werden diese Illusionen immer 
mehr zerstört (S. 538). 

a. Erstes Stadium der Illusion. Zunächst sei schon die 
Arbeit ein Uebel für den, der arbeiten müsse. Das Höchste, was 
der Mensch erreichen könne, sei, den Karren mit leidlich guter 
Laune ziehen. Die durch Arbeit gesicherte Existenz sei nur ein 
negatives Gut. Zufriedenheit fordere, als Resignation, nur Schmerz- 
losigkeit; und da diese nicht absolut erreicht werden könne, so 
stehe alles Leben noch unter dem Nichtsein (S. 551 — 553). Auch 
in der Liebe wird wieder mit vielem Cynismus die Bilanz zu Gun- 
sten der Unlust gezogen: die Schmerzen der Geburt bis zum Kaiser- 
schnitt, die zu Lastern führende unnatürliche Enthaltsamkeit, Eifer- 
sucht, Untreue, Verführung, Kindesmord, Prostitution! — „Und das 
Alles um das Bischen Liebe" (S. 557 — 559). Und nun vollends 
die vielen unglücklichen Ehen, diese Enttäuschungen nach dem „ersten 
Schwimmen im Morgenroth des geöffneten Himmels", dieser Kum- 
mer, diese Sorgen um die Kinder u. s. w. (S. 560, 564, 572). Da 
fordere die Vernunft mit Nothwendigkeit die Ausrottung des Triebes, 
— durch Verschneidung, wie Matthäus XIX, 1 2 dies „um des Himmel- 
reichs willen" heische (S. 565). Was die Kränkungen der Ehrliebe 
betreffe, so seien die Klagen der Beamten über Zurücksetzung, der 
Künstler und Gelehrten über Unterdrückung durch Neid und Kabale, 
der Aerger über die unverdiente Bevorzugung Unwürdiger endlos. 
Dazu komme, dass der Ehrgeiz an sich selbst eitel sei, d. h. auf 
Illusion beruhe, weil die Meinung Anderer für mich keinen Werth 
haben könne. Am deutlichsten sei dies beim Nachruhme. Was 

7* 


lOO 


habe ein Spinoza davon^ dass der Studiosus N. ihn einen gescheu- 
ten Kopf nenne! (S. 576 — 579). Selbst in der religiösen Er- 
bauung sei mehr Unlust, als Lust, wenn man die Abtödtung des 
Fleisches, die Entbehrungen der Askese, die Furcht vor der eigenen 
Unwürdigkeit, die Zweifel an der göttlichen Gnade, die Angst vor 
dem zukünftigen Gericht, die Qualen über die Last der begangenen 
Sünden bedenke (S. 580 — 581). Wissenschaftlicher und 
Kunstgenuss erscheinen zwar endlich als ein freundlicher Sonnen- 
blick in der Nacht des Ringens und Leidens, der uns die ^höchste 
positive Befriedigung zu gewähren im Stande sei. Aber auch hier, 
wie Wenigen werde sie zu Theil, und den Wenigen in wie wenig 
Augenblicken! Oft seien Kunst und Wissenschaft bunter Flittertand; 
und jedenfalls bedürfe es der mühevollsten Anstrengungen, um es 
zu etwas in ihnen zu bringen, so dass hier der Ueberschuss an Lust 
verschwindend klein sei (S. 584 — 589). Auch die Genüsse des 
Gaumens möchten vielleicht einen Ueberschuss an Lust gewähren, 
doch sei auch der Schmerz der Entbehrung bei ihnen um so grösser 
(S. 592). Selbst im Traume verschonen uns . die Plackereien, 
sonstigen Chicanen und Widerwärtigkeiten des wachen Lebens nicht 
(S. 590). Die Hoffnung endlich sei zwar eine ganz reale Lust, 
werde aber zu oft getäuscht, als dass mcht auch bei ihr die Unlust 
tiberwiege; und als Gegenstand der Hoffnung bleibe nur übrig nicht 
das grösstmögliche Glück, sondern das kleinstmögliche Unglück 
(S. 594 — 595). Das Resultat sei, dass die Begabtesten die Unglück- 
lichsten seien, weil sie das Unglück am tiefsten empfinden: das 
Beste also sei, weil Alles eitel, von Dusel zu Dusel zu leben 

(s. 598—599)- 

ß. Im zweiten Stadium der Hlusion sei nun sogar das 
Suchen der Unlust zur gebieterischen Forderung geworden, in- 
dem das Christenthum die Verachtung und den Ueberdruss am 
irdischen Leben zum Princip mache, nur Sündern, Verworfenen, 
Unterdrückten, Armen, Kranken und Leidenden die frohe Botschaft 
bringe, geschlechtliche Enthaltsamkeit lehre u. s. w. Kurz, nur wer 
im irdischen Jaramerthal sein Kreuz geduldig trage, habe Anspruch 
auf die transscendente Glückseligkeit des zukünftigen Lebens im 
Jenseits. Von dieser Hoffnung lebe die christliche Welt grossen- 
theils. Auch diese Hoffnung beruhe aber auf Illusion; die indivi- 
duelle Fortdauer, welche sich an den menschlichen Egoismus wende, 
sei unmöglich, weil die Individualität selbst nur ein Schein sei, der 


-^— lOI — 

mit dem Tode verschwinde. Damit stimmen auch fast alle grossen 
Systeme der Philosophie überein. Wenn mit dem Aufhören der 
Welt wieder Nichts sein werde, wie vor ihrer Entstehung, so sei 
damit der Hauptnerv der christlichen Verheissungqn durchschnitten. 
Erst nachdem diese Illusion des' Christenthums zerstört sei, könne 
man das Glück nicht mehr jenseits, sondern in der Zukunft des 
Weltprocesses selber suchen. Damit sei im Protestantismus die 
Liebe zur Welt wieder erwacht (S. 600 — 609). 

7. Das dritte Stadium der Illusion werde gebildet durch 
die Hoffnung des Individuums auf die Zukunft des Weltprocesses, 
und durch das Mitwirken desselben daran; das vom Individuum in 
der Hingabe an's Ganze gebrachte Opfer des Lebens finde dann 
seinen Lohn im erhöhten Glücke des Weltwesens, das ja eben in 
jedem lebe. Aber auch hier gelte ganz, allgemein der Satz, dass 
die Unlust der Nichtbefriedigung immer und in vollem Maasse, die 
Lust der Befriedigung aber nur unter günstigen Umständen und mit 
erheblichen Abzügen empfunden werde. Mit steigender Bildung des 
Volkes wachse erfahrungsmässig seine Unzufriedenheit. Die Fröm- 
migkeit, welche wohl positives Glück gewähren könnte, sei nun- 
mehr ein überwundener Standpunkt. Der Grundcharakter der wis- 
senschaftlichen Arbeit werde, in Zukunft nicht Vertiefung, sondern 
Verbreiterung sein. Genie's werden immer weniger Bedürfniss; die 
Wissenschaft steuere auf eine Niyellirung zur gediegenen Mittel- 
mässigkeit hin, und die Welt werde mehr und mehr auf receptiv 
wissenschaftlichen Genuss beschränkt. Die Kunst sei dann nur 
noch ein Opiat gegen die Langeweile, oder eine Erheiterung nach 
dem Ernst der Geschäfte (S. 615 — 618). Nur durch Schmerzen 
gehe der Weg zur Erlösung; der Process sei nicht um des Pro- 
cesses willen, sondern um des hinter dem Processe liegenden Zieles 
willen da. Die Fortschritte der Technik vermehren nicht das mensch- 
liche Glück, denn mit der dadurch vermehrten Bevölkerung steige 
auch das Elend. Ebenso wenig helfe der erreichte vollkommenste 
Staat, da er nur eine leere Form. Die vermehrten Mittel vermehren 
nichts weiter, als die Wünsche und Bedürfnisse, folglich die Unzu- 
friedenheit. Das Leiden der Menschheit und das Bewusstsein ihres 
Elends wachse bis in's Unerträgliche. Im Greisenalter werde die 
Menschheit im vorgefühlten Frieden des Nichtseins die Leiden des 
Seins gleichsam nur noch als fremde fühlen. Das höchste Erreich- 
bare wäre die Schmerzlosigkeit Aber auch sie werde nicht erreicht 


102 


sondern das einzige denkbare Ende des dritten Stadiums sei nur 
die Sehnsucht der Menschheit nach der Vernichtung, da alles Wollen 
thöricht und unvernünftig (S. 620 — 627). 

c, Obgleicli dem Leser aus der Philosophie Trost und Hoff- 
nung zu schöpfen nicht vergönnt sein soll (S. 626), so scheint mir 
dennoch unser Verfasser, vom philosophischen Gewissen gepeinigt, 
im vorletzten Capitel des Buchs (S. 628 — 643): „Das Ziel des 
Weltprocesses und die Bedeutung des Bewusstseins. Ueber- 
gang zur praktischen Philosophie," fiir jene Wunde, die er 
schlägt, nunmehr auch die heilende Salbe der Philosophie zur An- 
wendung gebracht zu haben. Der im Verlaufe des Processes mit 
Sicherheit sich ergebende Fortschritt sei die stufenweise sich stei- 
gernde Entwickelung der bewussten Intelligenz. Selbstzweck könne 
aber das Bewusstsein gewiss nicht sein, sondern nur Mittel. Der 
Zweck sei die Glückseligkeit; 4^s Streben darnach bilde das 
Wesen des Befriedigung suchenden Willens. Je mehr sich nun aber 
die Intelligenz vom unvernünftigen Willen emancipire, desto mehr 
durchschaue sie alle Illusionen, bis nur die Erkenntniss übrig bleibe, 
dass jedes Wollen zur Unseligkeit, und nur die Entsagung zu dem 
besten erreichbaren Zustand, der Schmerzlosigkeit, führe. Das Un- 
bewusste habe das Bewusstsein eben nur desshalb geschaffen, um den 
Willen von der Unseligkeit seines WoUens durch Bekämpfung und 
Vernichtung desselben zu erlösen. Der Endzweck des Weltprocesses 
sei der, den grösstmöglichen erreichbaren Glückseligkeitszustand» 
nämlich den der Schmerzlosigkeit, zu verwirklichen (S. 629 — dzi)' 
Was also nichts Anderes heisst, als: zum Princip der praktischen 
Philosophie den nach Seneca's Auslegung klar und rein ausgespro- 
chenen Epicuräismus zu setzen. Während das widervernünftige 
Wollen Schuld am „Dass" der Welt sei, müsse die Vernunft, als das 
„Was und Wie" der Welt bestimmend, wieder gut machen, was der 
unvernünftige Wille schlecht gemacht habe. Die schliessliche Er- 
lösung vom Elend des Wollens und Daseins zur Schmerzlosigkeit 
des NichtwoUens und Nichtseins habe Schopenhauer im freiwilligen 
Verhungern finden wollen. Dieses Streben nach individueller Wil- 
lensverneinung sei thöricht und nutzlos, weil es nur die Aufhebung 
dieser Erscheinung sei, ohne das Wesen zu alteriren. Die Er- 
lösung müsse aber als ein Act des alleinigen Unbewussten gedacht 
werden, der das Ende des Weltprocesses bilde, als der jüngste 
Augenblick, nach welchem kein Wollen, keine Thätigkeit, keine Zeit 


— I03 — 

■mehr sein werde. Vielleicht werde dieser jüngste Tag erst von einer 
hohem Thiergattung, als die Menschheit, auf einem anderen Gestirn 
Tinter günstigeren Bedingungen erreicht werden. Die Basis der prak- 
tischen Philosophie sei aber jedenfalls ein positiver Standpunkt, 
und das sei die volle Hingabe der Persönlichkeit an den Welt- 
process; die Zwecke des Unbewussten müssen zu Zwecken unseres 
Bewusstseins werden. Das sei die Bejahung des Willens zum Leben, 
die volle Versöhnung mit dem Leben. Die Art und Weise dieses 
Zieles sei nicht so ganz undenkbar, als es Manchem auf den ersten 
Blick wohl scheinen möchte. Zum Gelingen des Werkes müsse 
wenigstens die grössere Hälfte des in der ganzen Welt thätigen 
Oeistes jene tiefe Sehnsucht nach der Vernichtung des WoUens und 
Daseins widerstandslos zum praktischen Motiv gemacht haben. 
Femer müsse durch erleichterte Communicationsmittel ein gleich- 
:zeitiger gemeinsamer Entschluss ermöglicht werden. Nunmehr könne 
•die Majorität des in der Welt thätigen Geistes den Beschluss fassen, 
<ias Wollen aufzuheben. Es frage sich nur, ob dieser Beschluss den 
gewünschten Erfolg habe. Nicht aber durch directen Einfluss der 
Vernunft auf das aufzuhebende Begehren könne dieser Erfolg erreicht 
werden, sondern nur indirect durch Erregung eines entgegengesetzt 
gerichteten Begehrens, welches mit dem ersten inCollision komme; so 
dass sich Beide zu Null paralysiren. Es bedürfe der möglichsten Be- 
wusstseinsentwickelung, damit der Oppositionswille die gleiche Stärke 
mit dem aufzuhebenden Weltwillen erreiche; so dass dieser aus 
seiner totalen Vernichtung sich nicht wieder erneuern könne (Seite 
'634—643). 

Wie viel schöner fasst Aristoteles den Endzweck der Glück- 
seligkeit, nämlich: als die Energie der Seele der Tugend gemäss in 
einem vollendeten Leben! Auch ihm ist die Lust letzter Zweck:, 
-aber, da es so viele Lüste als Thätigkeiten gebe, nur diejenige Lust, 
welche die edelste Thätigkeit begleite; denn die Lust sei nur die 
vollendende Krone jeder Thätigkeit. Es gehört die ganze Verschro- 
benheit und Blasirtheit unserer Zeit, das Verzweifeln an der Kraft 
der Idee dazu, um diese blos noch zur Ertödtung des Handelns für 
geeignet zu halten. Wenn Hr. v. Hartmann nun aber auch noch so 
sehr gegen den Quietismus Schopenhauers eifert (S. 641), so ist 
sein sogar durch die höchste Entfaltung des Denkens herbeigeführter 
Nihilismus noch um Vieles trauriger. Auch hilft es ihm nichts, im 
Schlusscapitel, wo er gewissermaassen vor diesem entsetzlichen ResuU 


täte' erbebt, noch vom Standpunkt der Philosophie des Unbe- 
wussten eine metaphysische Erkenntniss ermöglichen zu wollen, 
die er in der Identität des Idealen und Realen dem Inhalt nach 
erblickt (S. 673 — 675). Denn wenn der Zwiespalt des Bewusstseins 
aufhört, hört ja auch die ihn lösende Harmonie der Erkenntniss auf.. 
Die Schreibart unseres Verfassers habe ich schon lobend er- 
wähnt, und ausser einigen Incorrectheiten ist mir nichts Bemerkens- 
werthes aufgefallen. Abgesehen von der schon gerügten „bestmög- 
lichsten" Welt, wozu auch noch öfter das „kleinst- und grösstmög- 
liebste" (z. B. S. 595) hinzukommt, ist unser Verfasser hin und 
wieder auch mit den Partikeln als und wie über den Fuss gespannt 
(z. B. S. 551), da jenes comparativisch, dieses gleichsetzend ist. 

m 

So schreibt er auf der angeführten Seite 595 auch: „Der Instinct 
bringe eher mehr als weniger Unlust, wie Lust". Was den Unsinn 
ergiebt, dass der Instinct mehr Unlust und mehr Lust habe, als 
weniger: d. h. sowohl mehr Unlust, als Lust, und zugleich mehr 
Lust, als Unlust; während der Sinn offenbar ist: der Instinct bringt 
eher mehr Unlust als Lust, denn weniger Unlust als Lust. 

Herr v. Hartmann wird die Säulen des Hercules, worauf der Bau der 
Hegeischen Philosophie ruht, nicht mit seinem blinden Unbewussten 
— wie der blinde Simson es allerdings mit dem Palast der Philister 
that — umzustürzen im Stande sein ; er hat mit seinem schwanken- 
den Fahrzeug nicht einmal bis an jenes Bauwerk heranrudem können. 
Doch verdient sein Buch immer die höchste Anerkennung. Von 
dem blos negativen Verhalten gegen die dialektische Methode ist 
er zum positiven Versuch des Bessermachenwollens hindurchgedrungen. 
Und es ist wohl zu hoffen, dass nach diesen zwei zurückgelegten 
Stadien, wenn sie ihm zu Illusionen geworden sein sollten, er noch 
jn ein drittes eintrete, wo die volle Hingabe der Persönlichkeit an 
den Weltprocess nicht blos zur leeren Versicherung eines positiven 
Standpunkts sich aiifspreize, sondern wirklich den vernünftigen Inhalt 
des Wollens und Denkens sich zum Lebenszwecke mache. 


Dr. Friedrich Harms. Abhandlungen zur 
systematischen Philosophie. 


Was soll man, dem so eben beurtheilten geistreichen Autodi- 
dakten gegenüber, von dem Soldatenglück eines ordinären Fach- * 
manns sagen, der aus dem dunkeln Winkel einer kleinen Univer- 
sitätsstadt plötzlich an den Sonnenglanz der Metropole der Wissen- 
schaften berufen worden, um dort Hegels Lehrstuhl einzunehmen? 
Das vorliegende Buch ist wohl aus dem Bedürfniss hervorgegangen, 
wenigstens nachträglich die Wahl seiner Fachgenossen zu rechtfertigen. 
Ob dasselbe von sich das Horazische: hie meret aera über SosiiSy 
wird rühmen können, weiss ich nicht. Aber es scheint jetzt die 
ganze — freilich nicht „gediegene" (s. oben, S. loi.) — Mittelmässig- 
keit, die sich darin offenbart, dazu zu gehören, eine solche unver- 
diente Anerkennung zu erhalten. 

Ausser drei neu erschienenen Abhandlungen, die der Verfasser 
in einem wissenschaftlichen Verein zu Kiel vorgetragen hat, sind 
die übrigen aus Zeitschriften schon bekannt, — oder auch nicht 
(S. XI). 

Die Vorrede geht von dem abgedroschenen herbartisirenden Satze 
aus: „Die Philosophie soll den Begriff der Wissenschaften erklären;" 
und es scheint, als ob der Verfasser in ihr eine Art von Verbindung der 
Sinneserkenntniss mit dem Denken annehme (S. VI— -VII). Es schwirrt 
einem wie Wolfische Metaphysik um die Ohren, wenn man von 
drei Realprincipien desErkennens: Materie, Seele, Gott (S. VII — IX), 
von Ontologie (S. 149, 205) u. s. w. hört. Die Abhandlung: 
„Ueber den Staat," welche den Reigen eröffnet, besteht aus trüben 
Reminiscenzen älterer und neuerer Natur rechtslehrer, Politiker und 
Philosophen. Man trifft auf Schleiermachers organisirende und sym- 


— io6 — 

bolisirende Thätigkeit (S. 15), erfahrt von staatenbildenden Völkern 
und volkbildenden Staaten (S. 17), und dass, wenn man in einer 
Uhiversalmonarchie zur Einheit des Menschengeschlechts kommen 
wolle, Gott selber das „Staatshaupt" sein müsse (S. 18). Gegen 
Plato und Hegel wird in der crudesten Weise polemisirt, weil sie 
den Staat selbst als das vollständige Reich der Sittlichkeit fassen. 
Das sei eine Tyrannei der Sittlichkeit; der Staat müsse den sitt- 
lichen Willen auch ausser und neben sich respectiren. Und indem 
gefordert wird, dass er sich selbst unter diese höhere sittliche Ord- 
nung stellen müsse (S. 19), so kann damit doch nur die Religion 
gemeint sein (S. 26 — 27), obgleich der Verfasser (S. 5) selbst den 
mittelaltrigen Gegensatz von Staat und Kirche zu missbilligen schien. 
Dass Macht und Freiheit mit den Gegensätzen Einheit und Ver- 
schiedenheit, Staat und Volk parallelisirt werden (S. 31), ist doch 
eine höchst oberflächliche Zusammenstellung. Denn der Staat, d. h. 
das organisch gegliederte Volk, ist doch die in die universelle Frei- 
heit zusammengefasste Freiheit der Einzelnen. In der Macht des 
Staats ist die individuelle Freiheit so wenig untergegangen oder ihr 
entgegengesetzt, dass die Staatsmacht vielmehr nur die höchste 
Blüthe der Freiheit des Einzelnen ist Was den „Ursprung des 
Staats" betrifft (S. 32), so sei die Vertragstheorie zwar eine unzu- 
reichende Analogie, enthalte aber doch ein Element der Wahrheit, weil 
sie den Staat auf den freien Willen der Gesammtheit gründe, während 
die Theorie der Usurpation das Recht des Starkem behaupte. Die 
Wahrheit soll dann in der Verknüpfung beider Seiten, d. h. der 
Freiheit und der Macht, der Verschiedenheit und der Gleichheit, des 
Volks und der Obrigkeit, der privaten und der öffentlichen Ange- 
legenheiten enthalten sein. Wenn diese Gegensätze sich gleich- 
massig durchdringen, entstehe die Demokratie: wenn die Einheit 
derselben nur im Bewusstsein Eines Standes liege, die Aristokratie; 
wenn sich endlich dies Bewusstsein der Einheit in einem Einzelnen 
concentrire, und in allen Uebrigen nur im abgeschwächten Grade 
vorhanden sei, constituire sich der Staat als Monarchie (S. 36 — 39). 
Die Demokratie ruhe auf Gleichheit und der Unterschied von Obrig- 
keit und Unterthan sei nur functionell, indem jedes Mitglied des 
Staats beziehungsweise Beides sei; aber sie sei ein unerreichtes Ideal, 
weil der Egoismus oft stärker sei, als der Patriotismus, und so die 
Parteiherrschaft erzeuge. In der Demokratie herrsche die Mehrheit, 
in der Aristokratie die Minderheit Zu der Parteienherrschaft inner- 


— I07 — 

halb des bevorzugten Standes komme in der Aristokratie noch die 
Herrschaft desselben über das Volk; sie sei der Zwiespalt des staat- 
lichen Menschen in eine vollkommene und in eine schlechte Ver- 
wirklichung seiner Idee. In der Monarchie sei der Gegensatz von 
Obrigkeit und Unterthan ein persönlicher; wodurch die Regierung 
eine Macht gewinne, welche ungerechte Parteienherrschaft verhüten 
könne. Weil fiir den Staat nicht die Freiheit, sondern die Macht 
das Erste sei, so sei die Monarchie mehr Staat, als die anderen 
Formen. Die Republik begründe keine Macht (S. 45 — 49). Auch 
nicht die Nordamerikanischen Freistaaten? Halbe Wahrheiten, tri- 
viale Richtigkeiten und Unrichtigkeiten, — das ist es, wozu Herr 
Harms sich in seiner Staatsweisheit, an der sich weiter kein In- 
halt zeigt, allein zu versteigen vermag. Dass die Monarchie „eine 
Minorität gegen den Uebermuth einer Majorität*' — auch gegen 
deren berechtigte Ansprüche — „schützen kann," davon haben 
viele Völker Europa's leider die bittere Erfahrung gemacht. Es 
fallt dem Verfasser nicht einmal das Wort: „constitutionelle Mo- 
narchie" bei, um welchen Begriff sich doch seit lange in Europa 
alle Bestrebungen der politischen Menschheit drehen; er pflückt blos 
ein Hühnchen gegen „den Punkt auf das /" (s. oben, S. 48). 

Soll ich nun alle einzelnen Abhandlungen, die die Prätension 
haben, sich zu einer „systematischen Philosophie" aufzuspreizen, 
so analysiren, wie jene erste? Ich könnte sagen: ex urw disce omnes^ 
will indessen noch eine kleine Blumenlese aus ihnen zusammen- 
pflücken. In der Abhandlung: „Freiheit und Noth wendigkeit," die 
„auf dem Uebergang von der Metaphysik zur Ethik" liege (S. X), 
wird der freie Wille auf eigenthümliche Art bewiesen. Der Beweis 
ist apagogisch. Zur Unfreiheit des Willens gehöre Beides: einer- 
seits der Satz, dags Alles durch äussere Ursachen bedingt sei; 
andererseits der, dass alle Vorstellungen aus den Sinnen entspringen. 
Nun schliessen sich beide Sätze schlechthin aus, weil die Causalität 
nicht den Sinnen entstamme. (Woher beweist das Herr Harms? 
Kant behauptet es, Locke leugnet es.) Also gelte nur der eine, 
oder der andere Satz: und in beiden Fällen gebe es einen freien 
Willen, weil der Sensualismus keine Nothwendigkeit, nur Zufällig- 
keit kenne, mithin die Nothwendigkeit alles Geschehens nicht be- 
haupten könne; gebe es aber bei der Annahme des Causalitäts- 
gesetzes Vorstellungen a priori^ ^o liege darin auch die Unabhängig- 
keit des Willens von der sinnlichen Vorstellung (S. 57—58). Aus 


— io8 — 

der Apriorität und Allgemeinheit des Causalitätsverhältnisses ent- 
wickelt nun gerade Kant in seiner Antinomik mit mehr Recht die 
Unmöglichkeit der Freiheit. Herr Harms aber meint, nur die Wir- 
kung sei nothwendig, die setzende Ursache frei: d. h. er begeht 
eine petitio principn. Statt der unendlichen Reihe endlicher Ursachen, 
die allein empirisch gegeben sind, setzt er eine erste freie Ursache 
voraus; was erst zu beweisen gewesen wäre. Doch ich ermüde den 
Leser, solche Argumentationen ernsthaft widerlegen zu wollen. Aus 
Herrn Harms' Satze würde freilich folgen, und er zieht auch die 
Folgerung in der That: es gebe „keine unbedingte, sondern nur 
eine bedingte Nothwendigkeit". Wie kann er dann aber noch von 
einer innem, selbst essentiellen Nothwendigkeit, der äusseren gegenüber, 
sprechen? (S. 54). Wie „der Denker nothwendig zu einer ersten 
Ursache" gelange (S. 60), hat der Verfasser zu beweisen, vollständig 
vergessen. Der parodoxe Satz, dass, wenn Alles nothwendig (blindes 
Schicksal), nichts nothwendig (d. h. Alles Zufall) sei (S. 59), hat 
eine tiefere Bedeutung, als der Verfasser ahnt, weil in der That 
wenn Alles äussere Nothwendigkeit wäre, jede Ursache für ihre 
Wirkung Zufall bliebe. Das empirische Argument von der Freiheit, 
weil die Menschen unter denselben Umständen aus eigener Ursäch- 
lichkeit verschieden handeln (S. 62), ist aus einem doppelten Grunde 
gänzlich lahm, weil erstens immer verschiedene Umstände auf jeden 
Menschen wirken, imd zweitens die Verschiedenheit seiner eigenen 
Causalität selbst durch äussere Ursachen, wie Geburt, Erziehung, 
Beispiel u. s. w., bewirkt sein kann. 

Dann kommt der Verfasser auf den Determinismus, den er 
darin erblickt, dass die Freiheit nur innere Nothwendigkeit seij 
wirft diese Lehre mit der Sokratisch-Platonischen, dass die Tugend 
Erkenntniss sei, sowie mit Spinoza's adäquaten Begriffen zusammen, 
und behauptet, dass nach ihr der Wille nothwendig dem Verstände 
folge. Dann sei die Freiheit nur „eine Einbildung, die der objec- 
tiven Wahrheit entbehrt" (S. 64—68). Die Freiheit will der Ver- 
fasser aber dadurch retten, dass der Wille nicht blos von der Elr- 
kenntniss abhänge, sondern bei jedem Fortschritt des Geistes der 
im Bewusstsein enthaltene Zweck selbst aus dem Willen stamme 
(S. 70 — 74). Die Frage nach der Natur des Willens, die Frage, 
was das Wesen der Freiheit sei, ist dabei umgangen, und doch 
die Hauptsache. Mit Recht sieht Herr Harms die Lehre, wonach 
das Leben des Menschen eine Folge seines Wesens oder angebore- 


-A 


— 109 — 

nen Charakters sei, nicht, als Freiheit an, weil diesen Charakter 
sich das Individuum nicht selbst gegegeben habe; und er nennt 
dies sehr uneigentlich „essentielle Nothwendigkeit" (S. 7 9). Wenn 
er, um die Freiheit zu retten, Dem entgegenhält: „Der Charakter 
ist eine Folge der sittlichen Bildung, des Lebens nach dem End- 
zweck" (S. 80),. so ist wieder die Hauptsache, die Frage nach dem 
Ursprung dieses Endzwecks übersehen; es ist nicht angegeben, wie 
so derselbe aus der Freiheit fliesst. Kurz, ich vermisse den durch- 
schlagenden Gedanken, der allein Freiheit und die wahre innere 
Nothwendigkeit ausgleicht, und sie der Willkür oder der äusseren 
Nothwendigkeit entgegensetzt, — nämlich den, dass, wer der Zu- 
fälligkeit seines angeborenen Charakters folgt, imd die individuellen 
Bestrebungen dem Endzweck der Menschheit vorzieht, willkürlich 
und nicht frei, sondern äusserlich nothwendig handelt, weil er äusseren 
Antrieben folgt: wer dagegen diesen Endzweck als das Ziel seines 
Lebens ergreift, handelt mit Willkür frei, weil er nur sein eigenes 
Wesen vollzieht; und das ist die wahre essentielle Nothwendigkeit, 
die eins mit der wahren Freiheit ist. 

Die drei folgenden Abhandlungen: „Ueber die Aufgabe und 
die Bedingungen einer Philosophie der Geschichte;" „Das Problem 
der Philosophie;" „Die inductive Methode," -^ „kann man zur Logik 
rechnen, da sie den Begriff der Wissenschaften und die Methoden 
des Erkennens untersuchen" (S. VI — VII). Wir erfahren hier, dass 
„seit Fichte die moderne Philosophie überhaupt nichts Anderes, als 
Philosophie der Geschichte" sei, — weil sie die Methoden der Er- 
fahrung und der Speculation verknüpfe, Thatsachen aus der Ver- 
nunft construiren wolle (S. 90). Welches Verbrechen! Und der 
Verfasser begeht es noch dazu S. 154 selber, wenn er sagt: „Die 
Bildung der Erkenntniss beruht auf der Induction und der Specu- 
lation". Dabei bemerkt er hochweise: der Gegenstand der Erfahrung 
sei nicht das Product eines bewusstlosen sogenannten objectiven 
Denkens (S. loi). Im Gegensatz hierzu soll das Problem der Philo- 
sophie darin bestehen, die Grundbegriffe des Erkennens a priori 
aus der Vernunft zu finden; doch bedürfe die Philosophie zu ihrer 
Ausbildung der Erfahrungswissenschaften als Erkenntnissmittel 
(S. 130 — 131,136). Was denn doch auch nichts Anderes, als eine Ver- 
bindung beider Methoden ist. Nach einer höchst trivialen Erörterung 
der Eintheilung der Philosophie (S. 140 — 144), ruft Herr Harms gegen 
die Identität von Logik und Metaphysik den bereits am Anfang des Jahr- 


HO 


hunderts von Krug, Weisse und Consorten gegen Schelling und Hegel 
ins Treffen geführten sogenannten „gesunden Menschenverstand" uoa 
Hilfe an (S. 145 — 146). So lange hat die Philosophie vor des 
Verfassers Hörsaal in Kiel Quarantäne gehalten. Doch ist die Uni- 
versität [daran nicht Schuld, da an ihr ein Thaulow glänzt Von. 
den zu erkennenden Grundbegriffen erfahren wir nur noch soviel, 
dass es keinen „UrbegrifP* gebe (S. 148), dass alle unsere Erkennt- 
niss aber auf die Kräfte der Dinge gehe, welche ursprünglich und 
unerschöpflich seien (S. 150); wodurch doch mit Herder die Ver- 
standeskategorie der Kraft gewissennaassen zum verpönten Urbe- 
griff gemacht wird. Das ist das Ganze der tiefen Erkenntniss, die 
uns das „Problem der Philosophie" zu enthüllen weiss. Natürlich^ 
da der Verfasser ja auch behauptet, dass „das System der Philo- 
sophie nur eine kleine Summe von Lehrsätzen" enthalte; was nicht 
hindert, dass die Philosophie „einen grossen Umfang" haben soll 
(S. 153). Ueber die Methode weiss uns Herr Harms nur den 
immer wiederkehrenden, sehr dürftigen Aufschluss zu geben, dass sie 
sowohl Induction als Deduction oder Speculation sein müsse: dass 
jene Vieles in' Eins zusammenfasse, diese das Eine in Vieles unter- 
scheide (S. 163 — 165); dass die Begriffe nicht selbst aus der Er- 
fahrung stammen, aber- in Anlass derselben gebildet werden (S. 156); 
dass alle Erkenntniss zwei Quellen habe, Empfindimg und Gedanke 
(S. 201) u. s. w. 

Nach Darstellung dieser Logik der systematischen Philosophie, 
sind die vier folgenden Abhandlimgen der Metaphysik, als der Wisseur 
Schaft der drei Realprincipien, gewidmet (S. VIII — X). In einem 
metaphysischen Vorpostengefechte polemisirt der Verfasser mit ziem- 
lich geschmacklosem Humor gegen den Satz Hegels, ohne diesen 
zu nennen, dass die Prädicate die Subjecte regieren, in den Prädi- 
caten das Wesen der Sache enthalten sei. Nach dem Verfasser 
dagegen sind die Subjecte das selbstständige Sein, ein Ansichbe- 
stimmtes; die Prädicate drücken nur etwas Vereinzeltes aus. Die 
Subjecte sollen eine Allgemeinheit des Gedankens, die Prädicate nur 
die der Sinne haben. (Auch z. B. in einem kategorischen Urtheil?) 
Herr Harms will daher beim Substantialitätsverhältniss verbleiben,, 
das Subject zum festen Dinge an sich machen, den Verstandessatz 
des Widerspruchs oder der Identität als Grundprincip beibehalten, 
und nichts weder von einfachen dimkeln Qualitäten, noch von ab- 
soluten Veränderungen wissen; womit er Herbart und Hegel anzu- 


III 


deuten scheint (S. 184 — 190, 194 — 199). Nach ihm sind also die 
Prädicate das Untergeordnete, die Subjecte die Hauptsache, wie 
denn auch der Inhalt der Prädicate nur aus der Empfindung, der 
der Subjecte aus dem Gedanken fliesse (S. 201); was doch sicher- 
lich ein höchst sonderbarer Gegensatz ist. 

Die „drei Ansichten über das Wesen der Materie" (S. 209) 
sind: i) die idealistische, wonach die sinnlichen Beschaffenheiten der 
Materie nur Erscheinungen der geistigen Substanzen sind (S. 2ii)j 
2) die corpusculare Ansicht, nach welcher das Wesen der Materie 
die räumliche Ausdehnung (S. 218); 3) die dynamische Ansicht, die 
das Wesen der Materie als das Bewegliche mit bewegender Kraft 
setzt (S. 222 — 223). In jeder Ansicht sei wieder eine doppelte 
Auffassung möglich, je nachdem die' Substanz als Eine oder als 
viele gefasst wird (S. 210). Nachdem der Verfasser die beiden 
ersten Ansichten widerlegt hat, als sich widersprechend, entscheidet 
er sich für die dritte, aber so, dass die Vielheit einfacher Wesen 
in realer Gemeinschaft und Wechselwirkung mit einander stehe (S. 229). 
Warum damit die räumliche Ausdehnung der Natur und dass sie 
Erscheinung des geistigen Seins, ausgeschlossen sei, ist gar nicht 
abzusehen. Denn sind Kräfte nicht geistiger Natur? und setzen sie 
nicht, als bewegend, ebenso die Räumlichkeit voraus? Von den 
Widersprüchen seiner Ausstellungen hat aber der Verfasser keine 
Ahnung, und bleibt im Dualismus des Geistes und der Materie bis 
über die Ohren stecken. 

Die zwei nächsten Abhandlungen sind Recensionen zweier 
* atomistisch-materialistischer Schriften. Der Verfasser berichtet über 
die verschiedenen Arten des Atomismus: i) als blosses Rechnungs- 
und Versinnlichungsmittel; 2) der naive Atomismus, der Atome und 
einen leeren Raum, der doch unmöglich sei, als sicher voraussetze; 
3) die qualitative Atomistik, die sich theils auf Physik, theils auf 
Chemie stütze, und von selbst in die dynamische" Naturansicht 
übergehe; 4) die quantitative Atomistik, die sich direct nicht auf 
Chemie und Physik, sondern auf die Mechanik gründe und allein 
in sich consequent sei; 5) der halbe oder dualistische Atomismus, 
welcher eine ursprüngliche und finale Ordnung, sowie die Selbst- 
ständigkeit der Geister annehme (S. 231 — 238, 250). Der Ver- 
fasser berichtet sodann über vielfachen in den angezeigten Schrif- 
ten vorgebrachten Unsinn: dass, während Körperatome sich nur 
anziehen, Aetheratome sich nur abstossen. Beide gegeneinander sich 


112 


eben so abstossen sollen (S. 243, 249); dass man Körperatome mit 
einer Aetherhülle, wie einer Atmosphäre, Dynamiden genannt habe 
(S. 244) u. s. w. Natürlich kann für den Geist aus solchen Prä- 
missen nur seine Körperlichkeit (S. 264), in der praktischen Philo- 
sophie nur der „egoistische Eudämonismus", dasPrincip des „eignen 
Wohlgefühls" abgeleitet werden, welches dann, mehr negativ gefasst, 
zur blossen „Vermeidung des Schmerzes" herabsinkt (S. 272 — 273). 
Der damit recensirte Verfasser steht also ungefähr auf dem Hart- 
mann'schen Standpunkt, da aus denselben Vordersätzen auch die- 
selben Schlüsse gezogen werden müssen. Was die positive Ansicht 
des Herrn Harms über den Atomismus betrifft, so erfahren wir 
nichts weiter, als dies: „Recht hat die Atomenlehre nach unserer Mei- 
nung darin, dass Materie ohne eine Vielheit des Seienden nicht 
-möglich ist, aber — und darin besteht ihre Einseitigkeit — diese 
Vielheit braucht nicht atomistisch, als eine an sich oder ur- 
sprünglich zusammenhanglose gedacht zu werden (S. 245). Mit 
anderen Worten, die Atomistik hat Recht, wenn sie aufhört, Atomistik 
zu sein. Wahrlich! Es braucht kein Geist aus — Kiel zu kommen, 
um uns dies zu lehren. 

Die letzte Abhandlung ist eine von den vielen Säcularreden 
auf Fichte, welche sich aber dadurch unterscheiden will, dass sie 
nicht sowohl „die unverkeimbaren und allbekannten Einseitigkeiten 
der Fichte'schen Methode und Weltansicht sich bemüht hervorzu- 
heben", als vielmehr „das Wesen der Fichte'schen Philosophie in 
ihren positiven Leistungen zu erkennen" strebt (S. VI). Sehen wir 
zu, was Herr Harms hierin geleistet hat. Fichte habe zuerst als 
das zu erringende Ziel aufgestellt, dass die Philosophie ein in sich 
gegründetes und abgeschlossenes System aller Gedanken der Ver- 
nunft, — dass sie aus Einem Stücke sei (S. 282). Wenn dann aus 
Fichte das hervorgegangen sein soll, „was man die absolute Philo- 
sophie nennt," so erklärt der Redner vor der versammelten Kieler 
Universität, dass „unstreitig die Zeit der absoluten Philosophie vor- 
bei" sei (S. 284). Wann wird, möchten wir fragen, „die Säcular- 
feier von Herrn Harms' relativer Philosophie eintreten? Es ist 
-dann ganz richtig, dass Fichte*s Weltansicht eine ethische, die Frei- 
heit des Geistes das Ziel des Erkennens und Handelns sei, indem 
die Schranken des Bewusstseins und der Natur überwunden und 
so der Standpunkt Gottes erreicht werde (S. 285 — 287). Wem 
seiner Zuhörer mag mit diesem bekannten Satze etwas Neues gesagt 


I 


— 113 — 

worden sein? Noch wird als ein grosses Verdienst Fichte's hervor- 
gehoben, dass er „der einzige unter allen Rechtsphilosophen ist, der 
die Scheidung des Rechts von der Moral wirklich . vollzogen hat" 
(S. 293). Also Hegel nicht, in dessen Naturrecht diese Gebiete die 
Glieder des hauptsächlichen Gegensatzes bilden? Als Consequenz 
dieser Scheidung lobt der Verfasser, dass der Staat nach Fichte 
„eine Anstalt zur Aufrechthaltung und Feststellung des Rechtes ist" 
(S. 294). Aber- die Seite ist nicht herunter, so ist für Fichte „der 
Staat nicht blos eine Rechtsanstalt, sondern eine Erziehungsanstalt 
zur Sittlichkeit". Mit anderen Worten, gerade wie bei Hegel, fasst 
auch Fichte den Staat als Sittlichkeit in der höheren Einheit von 
Recht und Moralität. 

Wenn der Leser nun aus diesen „Abhandlungen zur systema- 
tischen Philosophie" Herrn Harms' System, das System des Inha- 
bers des HegeVschen Lehrstuhls, herauslesen kann, so ist er glück- 
licher, als wir. Wir sind der Jfesten Ueberzeugung, von Herrn Harms' 
System weiss nur Gott und Herr Harms. 


'/IZ . H^ ?7 







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Stanford, California 


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