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Full text of "Heimatherinnerungen an Franz Dingelstedt und Friedrich Oetker"

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Heimatherinnerungen 


Fr Dingelſtedt und Friedrich Oetker. 


Von 


Zulius Rodenberg. 


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Berlin, 
Verlag von Gebrüder Paetel. 
1882. 


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Ein Poſthorn klingt aus fernem Thal 
Und verſchwimmt im blauen Aether — 
Leb' wohl, leb“ wohl viel“ tauſend Mal, 
Du heilige Stadt meiner Väter! 


Ich küſſe Dein Thor im Mondenlicht, 
Auf den Boden fall' ich nieder; 
Dein Sohn entflieht — O frag' ihn nicht: 
Wie kommſt Du und wannen wieder? 
Dingelſtedt, 
Lieder eines kosmopolitiſchen Nachtwächters, 1842. 


„Freies Leben, freies Streben, ohne Veeinträchtigung Anderer! _ Ringen 
; nach dem Beſten und Höchſten, wie eines Jeden Eigenthümlichkeit es bedingt! 
Aber ftete in der Weberzengung und in dem freudigen Bewußtfein, daß Ungleich⸗ 
heit keine Ungerechtigkeit, fondern der nothwendige Ausfluß des weiſeſten Welt- 
gedankens iſt. Ringen und Streben — mit Freudigkeit beim Erlangen, 
mit Selbſtbeſcheidung beim Verſagtſein, voll Zufriedenheit im Innern, ohne 
Neid gegen Andere, voll Glauben und Vertrauen zu Gott!“ 

Oetker, 

Ueber das allgemeine Wahlrecht, 1849. 


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3 


As die Redaktion der National⸗Zeitung im März 
v. J. mich aufforderte, meinem kurz zuvor heimgegangenen 
Landsmann Oetker ein beſcheidenes „In Memoriam“ zu 
widmen, da dachte ich freilich nicht, daß ich das traurige 
Geſchäft der Pietät ſo lang' aufſchieben würde, bis ich 
auch den Namen des zweiten Landsmanns hinzufügen 
könnte. Doch ſie ſind einander raſch gefolgt. Am 17. Fe⸗ 
bruar 1881 iſt Friedrich Oetker in Berlin, am 15. Mai 
Franz Dingelſtedt in Wien geſtorben; der eine zwei Mo⸗ 
nate vor vollendetem 72. Lebensjahre, der andere nur einen 
Monat vor ſeinem 67. Geburtstage; der eine, kränkelnd 
von früher Kindheit an, mit Gebrechen belaſtet und der 
Hand des Todes über ſich, und dennoch, als er, ein be— 
tagter Greis, ſanft entſchlief, ſeinen Freunden unerwartet 
entriſſen, ſo ſehr hatten ſie ſich daran gewöhnt, ihn als 
einen Leidenden und Bettlägerigen zu kennen; der andere 
bis kurz vor ſeinem Ende das Bild der Kraft und Schön⸗ 
heit und Lebensluſt, dann wie durch einen tödtlichen 
Streich zu Boden geſtreckt, mit dem Tode ringend, wie 
einer, der nicht ſterben will, weil er auf Erden noch viel 


zu thun hat, heldenmüthig unter unſäglichen Qualen, 
Rodenberg, Heimatherinnerungen. 1 


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immer noch hoffend, als die Freunde längſt ſchon den 
Schatten näher kommen ſahen. Franz Dingelſtedt ſtarb 
auf den Höhen des Ruhmes, des Glückes und des Erfolges; 
Kinder und Kindeskinder umgaben ſein Lager, mit den 
Ehren eines Geiſtesfürſten iſt er zur Ruhe beſtattet 
worden, Lorbeeren und Kränze bedeckten ſeinen Hügel, und 
eine Straße Wiens ſoll nach ihm genannt werden. Wenige 
wußten von Friedrich Oetker, als er, nur von einer 
barmherzigen Schweſter gepflegt, einſam ſtarb, und klein 
war die Zahl Derer, welche um ſeinen Sarg in der 
Kapelle des Auguſtahoſpitales zu Berlin ſtanden. Die 
Looſe Beider waren ſehr verſchieden geworfen, ſo im Leben 
wie im Tode. Für den einen der Glanz, das raſtloſe 
Streben und die höchſten Ziele des Ehrgeizes; für den 
anderen, wenn nicht das Dunkel, jo doch die Dämmrung 
einer mittleren Lebenslage, und wenn nicht die gänzliche 
Stille, ſo doch die Selbſtbeherrſchung einer ſtarken, mehr 
und mehr nach Innen gewandten Natur, des Einſamen, 
der wenig mit den Menſchen verkehrt und doch nicht 
aufgehört hat, ſie zu lieben. Man wird in Berlin keine 
Straße nach Friedrich Oetker nennen; aber in der kleinen 
Grafſchaft Schaumburg, unter ſeinen Landsleuten, deren 
Intereſſen und Gerechtſame durch länger als ein Menſchen⸗ 
alter er immer gewiſſenhaft vertreten und oft tapfer ver⸗ 
theidigt hat, wird ſein Name fortleben, als der eines 
Mannes, der ſeinen politiſchen Ueberzeugungen treu ge⸗ 
blieben iſt trotz Kerker und Exil, der an ſeinem Theil 
ehrlich und geräuſchlos mitgearbeitet hat an der Verwirk⸗ 
lichung deſſen, was unſer Aller nationales Ideal geweſen, 
und der, als die Titel und die Remunerationen und die 


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hohen Aemter reichlich abfielen für die „Strebſamen“ 
nach Rechts und nach Links, für ſich Nichts begehrt hat 
als ein kleines, zwar ſauberes, aber ſonſt doch recht 
dürftiges und kahles Chambregarnie in der Nähe des An— 
halter Bahnhofs. Weit gingen die Wege der Beiden 
auseinander. Dingelſtedt ſtarb mit den höchſten Orden 
und der Freiherrnkrone geſchmückt, Oetker hat es nicht 
weiter gebracht, als zum Ehrenbürger von Rinteln und 
einiger Schaumburger Dörfer; aber untrennbar in meinem 
Herzen und meiner Erinnerung ſind ſie verbunden, wie 
ſie's in ihrer Heimath, ihrer Jugend und dann noch eine 
gute Strecke lang im reiferen Alter waren. 

Friedrich Oetker hat zwei Bände „Lebenserinne⸗ 
rungen“ ) hinterlaſſen, welche bis zum Jahre 1859 reichen, 
dem Jahre ſeiner Heimkehr aus der Verbannung. Von 
Franz Dingelſtedt haben wir nur das Fragment einer 
Autobiographie „Münchener Bilderbogen“ ), welches die 
Zeit von 1851 bis 1857 umfaßt. Die ſechs übrigen, 
ſchon fertig geplanten Theile des Werkes ſind nicht mehr 
geſchrieben worden. Aber Manches, was auf ſein äußeres 
Leben Bezug hat, findet ſich zerſtreut in ſeinen übrigen 
Schriften, dem „Wanderbuch“, dem „Literariſchen Bilder- 
buch“, ſogar den Novellen; und als ein ächter Poet giebt 
er den beſten Kommentar zu ſeinem innern Leben in ſeinen 
„Lyriſchen Dichtungen“, welche den 7. und 8. Band ſeiner 
„Sämmtlichen Werke“ ***) bilden. 


*) Stuttgart, Verlag von Aug. Berth. Auerbach. 1877 u. 1878. 
**) Berlin, Verlag von Gebrüder Paetel. 1879. 
***) Erſte Geſammt⸗Ausgabe in 12 Bänden. Berlin, Verlag von 
Gebrüder Paetel. 1877. 


1 * 


3 


Frühe ſchon, auf der Schule zu Rinteln, ſind Friedrich 
Oetker und Franz Dingelſtedt einander begegnet: Beide 
Kinder des Volkes, erſterer aus einer alten angeſehenen 
Bauernfamilie ſtammend, wie ſie hier in Niederſachſen und 
Weſtfalen ſeit Jahrhunderten auf ihren Meierhöfen ſitzen; 
letzterer der Sohn eines ehemaligen Feldwebels, der im 
Civildienſt aus Oberheſſen nach der Grafſchaft Schaum⸗ 
burg, dem „kurheſſiſchen Sibirien“, wie man ſie nannte, 
verſetzt worden war. Keine Bezeichnung konnte weniger 
gerecht ſein; denn es iſt ein gar liebes und freundliches 
Ländchen, gegen Weſten der Nachbar Weſtfalens, gegen 
Norden in die große niederſächſiſche Ebene verlaufend, 
gegen Süden maleriſch begrenzt von den buchenbelaubten 
Weſerbergen und in zweiundzwanzigfacher Windung durch⸗ 
floſſen von der Weſer, welche, zumal in der Frühlingszeit, 
wenn der Raps in der Blüthe ſteht, die zahlreichen Dörfer 
und das Gold der Saaten wie mit einem ſilbernen 
Bande umflicht. Kernhafte Leute bewohnen dieſe Dörfer 
und Flecken und kleinen Städte, bieder, ein wenig derb, 
Nachkommen der Cherusker, flachshaarig, blauäugig, am 
ehrwürdigen Alten hängend. Noch heute trägt der Schaum⸗ 
burger Bauer den weißen Linnenrock und die großen, 
ſilbernen Knöpfe, mit dem Bilde des ſpringenden Roſſes 
darauf, welches das alte Roß der Niederſachſen iſt, das 
von Hengiſt und Horſa; und die Schaumburger Bäuerin 
trägt den ſtattlichen Rock von ſcharlachrothem Friſat, den 
Silberſchild auf der Bruft und die Schnur von dicken 
Korallen um den Hals. Ein ſtarkes Stammesgefühl hat 
ſich hier erhalten in dieſer kleinen, außenliegenden En⸗ 
clave des ehemaligen Kurfürſtenthums Heſſen; und das 


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Wort „Schaumburger“ galt lange und — ſo wollen wir 
hoffen! — gilt immer noch als ein Paßwort und Erken— 
nungszeichen für alle diejenigen, die dort geboren. Einſt, 
in ſeinen ſpäteren Jahren, als er lange ſchon in Kaſſel und 
ein Mann war, auf den ſeine Landsleute ſahen, ging 
Oetker in der Nacht an einer Schildwache vorüber, deren 
Anruf er entweder nicht hörte, oder aus Zerſtreutheit nicht 
beantwortete. Worauf der Mann ſich folgendermaßen 
vernehmen ließ: „Verfluchte öle brétschnutige Donner- 
wär! Kann hei Schinäs nich antern, wen eck em 
anraupe?“ Die Grobheit, jagt Oetker (in feinen „Lebens⸗ 
erinnerungen“), war zu kräftig, als daß ich den Schaum⸗ 
burger Landsmann nur einen Augenblick hätte verkennen 
oder ihm hätte zürnen können. Ich antwortete nun 
plattdeutſch, und da rief der Burſche entzückt: „Donner 
un't Wer, ök en Schomburger!“ 

Dieſes Gefühl, „auch ein Schaumburger“ zu ſein, 
theilte ſich ſelbſt denen mit, welchen, wenn nicht durch 
Abſtammung, ſo doch durch Lebensgewohnheit das kleine 
Stück Erde lieb geworden war; und wir finden es in 
hohem Grade bei Franz Dingelſtedt. In einem ober⸗ 
heſſiſchen Städtchen geboren, kam er ſchon als Kind hier⸗ 
her; und ſo wie ſeine Jugend und Jugenderinnerungen 
mit dem lieblichen Weſerthal verbunden ſind, ſo wird es 
auch ſein Namen und ſein Andenken für immer ſein mit 
Schaumburg und Schaumburgs anmuthig gelegener Haupt⸗ 
ſtadt Rinteln. Noch ſteht daſelbſt, in der Ritterſtraße, 
ſein elterliches Haus, mit dem Wein an der Wand und 
der Rebenlaube im Gärtchen — 


An der dürren Rebenlaube 
Zittert die vergeßne Traube. 


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Noch ſteht auch das alte Gymnaſium, in welchem er 
ſeine Klaſſiker las, und nicht ohne Nutzen. Noch iſt in 
einer Fenſterſcheibe des Todenmann, auf der Höhe zwiſchen 
Rinteln und Bückeburg, ſein Name geſchnitten, erinnernd 
an den jungen Poeten und an noch Eine. 


Ein bleiches Mädchen, gramgebeugt und hager, 
Das Haupt umwallt von blondem Haargeflechte — 


Für Denjenigen, der auf dergleichen Dinge hören 
mag, klingt hier noch Alles von Dingelſtedt'ſchen Verſen. 


Wie liebender Sang aus lieblichem Mund 
So rauſchte es rings durch die Bäume, 
Und allüberall aus dem grünenden Grund 
Begrüßten mich goldene Träume. 


Sein ſchönſtes Heimathlied iſt das auf die Weſer. 
Schon zu der Zeit, als ich im Gymnaſium zu Rinteln 
auf denſelben Bänken ſaß, auf welchen, zwanzig Jahre vor 
mir, Franz Dingelſtedt geſeſſen hatte, ſtand dieſes Ge⸗ 
dicht in unſeren Leſebüchern und ſo, wie wir es damals 
auswendig lernten und herſagten, hat es ſich meinem Ge⸗ 
dächtniß eingeprägt, und zwar — wenn das Gefühl, 
welches ja freilich gern für das Alte Partei nimmt, mich 
nicht täuſcht — in einer Faſſung, namentlich der erſten 
Strophen, welche mir ſchöner erſcheint als diejenige, welche 
der Dichter ihnen ſpäter gegeben. Ich laſſe die abweichen⸗ 
den Stellen beider Verſionen hier zum Vergleich folgen, 
weil ſich in ihnen deutlich ausſpricht, wie ſehr in Dingel⸗ 
ſtedt der ironiſche, geiſtreiche, oder wenn man will 
weltmänniſche Zug den naiv⸗-poetiſchen allmälig ver⸗ 
drängte. 


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Aeltere Faſſung. 

(Aus dem Gedächtniß.) 
Ich kenne einen deutſchen Strom, 
Der iſt mir werth und lieb vor allen, 
Umwölbt von ernſter Eichen Dom, 
Umgrünt von kühlen Buchenhallen. 
Ihn hat nicht, wie den großen Rhein 
Der Alpe dunkler Geiſt beſchworen, 
Ihn hat der friedliche Verein 
Verwandter Ströme ſtill geboren. 


So taucht die Weſer kindlich auf 
Von Bergen traulich eingeſchloſſen, 
Und kommt in träumeriſchem Lauf 
Durch grüne Au'n herabgefloſſen. 


Spätere Faſſung. 
(Aus der Geſammt⸗Ausgabe.) 
Den Strom hat nicht, ſo wie den Rhein, 
Der Alpe dunkler Geift beſchworen, 
Doch geht er auch nicht hinterdrein, 
Wie der, in fremdem Sand verloren. 


Durch zweier Flüſſe Friedensbund 
Ehrbar entſtanden, nicht entſprungen, 
Tritt ſie aus grüner Hügel Rund 

Wie aus der Kindheit Dämmerungen. 


Mit dieſer, freilich noch jo leichten und unſchul— 
digen Anſpielung, würden wir das Gedicht in der Tertia 
eines kurheſſiſchen Gymnaſiums zu Vilmar's Zeiten wol 
nicht auswendig gelernt haben; eben ſo wenig als das 
„ehrbar entſtanden“ auf die Knabenphantaſie denſelben 
Zauber geübt hätte, als das „kindliche Auftauchen“ und 
der „träumeriſche Lauf“ der Weſer. 


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Das Gedicht in ſeiner urſprünglichen Geſtalt findet 
ſich am Schluſſe des Vorwortes zu dem ohne Jahreszahl 
und anonym erſchienenen Werke „Das Weſerthal von 
Münden bis Minden“ *), einer Reihe von Landſchafts⸗ 
und Städtebildern, zu welchen Dingelſtedt den beglei⸗ 
tenden Text geſchrieben hat. Wahrſcheinlich aber iſt es noch 
früher entſtanden. „Der Leſer erlaube mir,“ heißt es 
dort, „mit dieſem Liede noch einmal aufzutreten, welches 
ich einſt, nicht weil ich mich zum Herold oder zum Dichter 
der Weſer berufen glaubte, ſondern weil mir es ihre 
Welle ſelber zuzuflüſtern ſchien, in einem lieben und un⸗ 
vergeßlichen Kreiſe ausgeſprochen habe.“ Ich glaube nicht 
zu irren, wenn ich es in jene frühe Zeit ſetze, wo der 
Dichter als Student von Marburg oder junger Magiſter 
aus der Nähe von Hannover in den Sommertagen hier⸗ 
her kam und, wer weiß in welcher glücklichen Stunde, 
ſeine ganze Liebe zur Heimath in dieſen ſchönen Verſen 
ausſtrömte. Da war für den politiſchen Doppelſinn kein 
Raum in ſeiner Seele, deren Träume noch nicht weit über 
dieſe Berge hinausgingen. Nur die Geſchichte wird ge- 
ſtreift, die Sage berührt, und das Licht der Romantik 
webt über dem heimathlichen Strom: 


Es glänzen in der lichten Fluth 

Der Klöſter und der Burgen Trümmer, 
Des Mondes Schein, der Sonne Gluth, 
Des Thurmes wie der Segel Schimmer. 


) Kaſſel (1841), bei Theodor Fiſcher, jetzt aber nur noch in 
wenigen Exemplaren vorhanden und ſelbſt auf antiquariſchem Wege 
ſchwer zu haben. 


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Und meerwärts durch ihr Felſenthor 
Durch immer wechſelnde Gebilde, 

Gießt ſie die Wellen leicht hervor 

Wie jugendliche Traumgebilde. 

In ihren Tiefen, klar und rein, 

Hört Ihr es heimlich wehn und rauſchen, 
Und mögt bei ſtillem Abendſchein 

Der Nixe ſeltſam Lied belauſchen! 


Von alledem hat ſich keine Spur erhalten in der epi⸗ 
grammatiſch zugeſpitzten ſpäteren Bearbeitung; aber es 
iſt bemerkenswerth, daß alle Pointen derſelben ſchon in 
dem erwähnten Vorwort enthalten find, als ob der- 
gleichen wol in einer proſaiſchen Biographie der Weſer 
erlaubt ſei, nicht aber in ihrer poetiſchen Verherrlichung. 
„Ihr ganzes geſchichtliches Leben wie ihre Erſcheinung 
tragen ächt deutſches Gepräge, von dem Zeitpunkte an, wo 
in den Bergwäldern am Weſergeſtade zum erſten Male 
der Siegesflug römiſcher Adler ſich verfing, bis zu dem 
heutigen, wo heſſiſche, preußiſche, ſächſiſche, braunſchwei— 
giſche, freie reichsſtädtiſche und Gott weiß welche Farben 
alle noch in ſchöner, deutſcher Zerriſſenheit an den Sil⸗ 
berfäden des gleichmäßig hinfluthenden Stromes aufgereiht 
ſind. Ehemals ein treuer Wächter germaniſcher Freiheit, 
ſpäter ein ſtiller heimiſcher Hort für altſächſiſche Sitte, 
neuerdings ein geduldig zerſtückeltes Eigenthum vieler 
Einzelner, bietet die Weſer ſchon in ihrer Hiſtorie einen 
deutſchen Mikrokosmos dar, wie ihn kein anderer der jo- 
genannten Hauptſtröme deutſchen Landes zum zweiten 
Mal aufweiſt. Der Rhein endet niederländiſch, die Donau 
wird türkiſcher Renegat, die Oder führt mehr ſlaviſche, 
die Elbe mehr czechiſche Elemente von ihrer Quelle aus 


in die durchzogenen Länder, — rein deutſch, Vollblutrace, 
iſt und bleibt eben nur die Weſer.“ 


Dieſen Gedanken hat Dingelſtedt nachmals in das 
Gedicht hinübergenommen; und wo früher die Burg- und 
Kloſtertrümmer und die Nixe waren, da heißt es jetzt: 


Die Donau hört gar türkiſch auf, 
Als Slavenkind beginnt die Elbe. 
Doch deutſch im ganzen Lebenslauf 
Bleibt nur die Weſer, ſtets dieſelbe! 


Aber das Bild, bei welchem er auch hier noch am liebſten 
verweilt, iſt doch das von dem familienhaften Urſprung 
der Weſer. „Und iſt nicht das ein deutſcher, ein rührend⸗ 
deutſcher Zug in ihrem Leben,“ ruft er aus, „daß ſie recht 
patriarchaliſch und gemüthlich ſtill aus der ruhigen Ver⸗ 
einigung zweier Flüſſe allmälig ſich ausbildet.. . 
Fulda und Werra bieten ſich geſchwiſterlich die Hand. 
Jene ein Kind der hohen Rhöne, fromm⸗katholiſch groß⸗ 
gezogen, beſcheiden in ihren Anſprüchen, an Arbeit gewöhnt 
durch Hersfelder Induſtrie, erſt in Kaſſel etwas breiter 
auslaufend, ihre Duodez⸗Kauffahrer auf weichem Rücken 
treu, wenn auch langſam hinunterſchaukelnd, ſo tritt ſie 
bei Münden aus den grünen Bergwäldern hervor, und 
erröthet, wie eine ſchüchterne Jungfrau, als die Werra, 
die raſchere Tochter des Thüringer Waldes, in langen, 
hellen Wogen mit ihr zuſammenſchießt. Noch lange kann 
das Auge dieſe Röthe im Fuldawaſſer verfolgen.. 
Nun währt bis zur weſtfäliſchen Pforte hinab die Poeſie 
des vereinigten Stromlebens, das nicht in der Aus⸗ 
dehnung nach beiden Seiten, ſondern in dem ſtillen, eben⸗ 


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mäßigen Reiz der nächſten Umgebungen ſeine Freude findet. 
Bei Minden ſchließt ſich dieſes jugendliche Paradies; der 
Gang der Welle wird gemeſſener, breiter, feſter, Oker, 
Leine, Aller, Hunte müſſen dienſtbar ihre Maſſe ver⸗ 
größern, der Kunſtfleiß auf dem Waſſer und zu Lande 
regt ſich geräuſchvoller, das nahe Meer kündigt ſich in 
Sitte, Sprache, Reichthum, Gewerbe an, und endlich mündet 
der ernſt und breit gewordene Strom in der ihn mütter⸗ 
lich aufnehmenden Nordſee.“ 
Dieß iſt im Weſentlichen auch der Ideengang des 

ſpäteren Gedichts. 

Hoch ragt ſein Felſenthor empor, 

Weſtfalens altberühmte Pforte, 


Und frei tritt er daraus hervor, 
Und eilt zum freien Meeresporte. 


Wie macht ſich drauf ſo prächtig breit 
Mit ihrem Hafen, ihrem Dome 

Zur Zeit der Hanſeherrlichkeit 

Die Bremerſtadt am Weſerſtrome! 
Der Schlüſſel ihres Wappens ſchließt 
Ein Reich von märchenhaftem Ruhme, 
Wo duftend und berauſchend ſprießt 
Der Roſe unterird'ſche Blume! 


Wie kommt es nun, fragt der Dichter, daß trotz ihrer 
reichen Vergangenheit und ihrer blühenden Gegenwart die 
Weſer ſo ſtill und dunkel ihre ſchöne Straße hinabziehen 
muß? Er möchte ſie dem Banne des Schweigens entreißen. 
Aber er fügt hinzu: „Mißgönnt ihr dieſes Loos nicht! 
In dem Schooße ihrer Buchenwälder ſchlägt manches Herz 
dem geliebten Strom entgegen, und weſſen Wiege ſeinen 


— 18 


Ufern nahe ſtand, der blickt von den zerriſſenen Felſen 
der ſächſiſchen Schweiz, wo die Induſtrie und Spekulation 
aus jeder Spalte hervorlugt, von den mächtigen Schiff⸗ 
brücken des Rheines, von den brauſenden Donaufällen wol 
immer noch mit einer treuheimiſchen Sehnſucht in jene 
Himmelsgegend hinüber, wo ſeine Weſer fließt.“ 

Und dieſe Sehnſucht, zurückgedrängt in eine weite, 
faſt unerreichbare Ferne, und doch erwachend bei der 
leiſeſten Berührung, lebte fort in Dingelſtedt's Herzen 
bis zu ſeinem letzten Tage; man brauchte nur die halbver⸗ 
klungenen Namen zu nennen, ſo ſtand das Idyll der 
Jugend wieder vor ihm — das Städtlein mit ſeinen 
rothen Dächern in Grün gebettet, wie eine Roſe in der 
Blätterhülle, der ſilberne Strom, die bläulichen Berge, 
die ſanfte Höhe, auf der man Alles dieß überſchaut und 
auf welcher er einſt geſungen: 

Hier hab' ich, ach! manches unzählige Mal 
Als Knabe und Jüngling geſeſſen, 
Hinunter geſchaut in das heimiſche Thal, 
Die Welt und mich ſelber vergeſſen. 

In einer anderen, rauheren Gegend von Schaumburg, 
an dem nördlichen Abhange der Weſerberge, lag die 
Heimath Friedrich Oetker's. Es iſt ein Hochplateau, weit, 
öde, reizlos für Denjenigen, den eben noch die Lieblichkeit 
des geſegneten Weſerthals umfangen, baumlos, mit ſpär⸗ 
lichem Ackerbau, mit Steingeröll und Haiden, auf denen 
der Schäfer ſeine Heerde weidet, mit wenigen, von den 
Bodenſenkungen halb verſteckten Dörfern, mit Wind⸗ 
mühlen, die damals noch etwas Fremdartiges für mich 
hatten. Fremd auch blieb mir dieſe Strecke, wiewol 


* 


ich ſie in meinen jungen Jahren oft genug durchwandert; 
führte doch der Weg durch ſie zu meiner eigenen Heimath, 
die, wo der Hügelrücken von Rehren und Hattendorf ſich 
ſenkt, plötzlich aus dem Grün von Aepfelbäumen und 
Nußbäumen und Wieſen heraufſchimmert. Jene Strecke, 
von dem dunklen, kohlenhaltigen Rücken des Bückeberges 
bei Oberkirchen begrenzt, mochte wol, wenn ich ſie bei 
finfendem Tageslicht, in der Dämmerung eines Herbit- 
abends durchzog, den Eindruck eines ſchottiſchen Moors 
auf mich machen, der ich damals ganz in dem Ideen⸗ 
kreiſe der Walter Scott'ſchen Romane lebte. Doch mag 
es hier auch heller und wärmer geweſen ſein, wenn „die 
Ruhe eines ſonnigen Pfingſtmorgens über dem Gehöfte der 
kleinen Mühle lag, das mühſam einer Wüſtung zwiſchen 
den Feldmarken mehrerer Dörfer abgewonnen war“. Mit 
dieſen Worten beſchreibt Friedrich Oetker in ſeinem letzten 
Werk, den ſchönen und gemüthvollen Schildereien „Aus 
dem norddeutſchen Bauernleben““), die Stätte ſeiner 
Geburt. 

Die Oetkers — oder wie man in der Grafſchaft ſie 
nannte, die Oetgers (ſprich: Oetjers) — waren ein altes 
Geſchlecht von freien Grundbeſitzern, deren eigentlicher 
Boden indeſſen in dem benachbarten Hannoverſchen war. 
Hier, in dem anſehnlichen Flecken Wiedenſahl, lernen wir 
den Oetker vom Boltenhof oder Boltenſtätte kennen, den 
Oheim des unſrigen, einen Freibauern von dem Typus 
deſſen, welchen Immermann in ſeinem Hofſchulzen geſchil— 
dert, wiewol er in ſeiner Ausdrucksweiſe noch mehr von 


) Berlin, Gebrüder Paetel, 1880. 


3 


einer Figur Fritz Reuter's hat. Als ſein Sohn ſich ver⸗ 
heirathete, wollte er demſelben unter keiner Bedingung 
einen anderen Rock machen laſſen, als er ſelbſt einſt auf 
ſeiner eigenen Hochzeit getragen hatte. Dem Sohne jedoch, 
welchem neumodiſche Ideen im Kopfe ſpuken mochten, 
waren die altväteriſchen Knöpfe zuwider; und „Vetter 
Friedrich“, der immer der Schlaue war, ſuchte den Ohm 
zu überreden, indem er ihn bei ſeiner ſchwachen Seite 
faßte und ihm bewies, daß die Knöpfe, welche der Bräu⸗ 
tigam für ſeinen Anzug wünſche, viel billiger ſeien, als 
die anderen. „Da traf mich aber ein langer unbeſchreib⸗ 
licher Blick des Oheims,“ erzählt Oetker. „Er überlegte 
offenbar, ob Bosheit oder Unverſtand aus mir ſpreche. 
Endlich entſchied er ſich für das letztere. Er nahm be⸗ 
dächtig mit der einen Hand die Pfeife aus dem Munde, 
ſtemmte die andere auf die Hüfte, ſpuckte zwei Klafter 
weit aus und ſagte nachdrücklich: „Fritz, dat versteist 
du noch nich! En Hochtiedsrock is dat Ehrenkled vör't 
ganze Léwen, daran mot nich’e spärt weren.“ 

Bei Gelegenheit derſelben Hochzeit wollte „Fritz“, der 
ſo frühe ſchon den Drang des Reformers in ſich ſpürte, 
den Oheim überreden, von einem Gebrauch abzulaſſen, 
der in der That tief im niederdeutſchen Bauernleben 
wurzelt. Zu den homeriſchen Schmäuſen, durch welche 
man eine ſolche Hochzeit unter den Bauern meiner Hei⸗ 
math feiert, werden ganze Dorfſchaften mit Mann, Weib 
und Kind eingeladen; allein mit Ausnahme der „Fri- 
fréters“, i. e. Freifreſſer, welche — wie Amtmann, Pfarrer 
und Schullehrer — bei der Zeche frei ausgehen, wird 
von allen Uebrigen erwartet, daß ſie ſich mit einem tüch⸗ 


. 


tigen Geſchenk in baarem Gelde einſtellen. Dagegen nun 
remonſtrirte Fritz, indem er an das ſittliche Gefühl des 
Onkels appellirte und die Meinung äußerte, ſolch' eine 
„Gifte“ ſei doch eigentlich für einen ſo reichen Mann, 
wie er, recht unanſtändig! Da kam er aber ſchön an; faſt 
noch ärger, als mit den Knöpfen. Zuerſt ſpuckte der 
Oheim wieder aus und hub dann folgendermaßen an: 
„I, i Fritz, wo denkst du hen? lIck heébbe min Löwe 
lang sau vel geben most! Nu mot eck doch seien, dat 
eck nig ganz te korte komme. Sau dachte min Vär, 
din Grötvär, ök.“ 

Die Zähigkeit des Niederſachſen, das Erbtheil ferner 
Abſtammung und erſten Umgebung, machte ſich in dem 
Charakter und der ganzen Lebensführung Friedrich Oetker's 
geltend; in ſeinem unverbrüchlichen Feſthalten an dem, 
was als Recht überliefert worden. Die Stärke des Rechts⸗ 
begriffs hat ſich in dem Bewußtſein kaum eines anderen 
Standes ſo lebendig erhalten, wie bei dem Bauern, der als 
Prozeßgegner hartnäckig iſt, unter keiner Bedingung nach— 
giebt und an Schlauheit ſich mit jedem Advokaten meſſen 
kann. In eine höhere Sphäre des Rechtes hat Friedrich 
Oetker dieſe Mitgift ſeiner bäuerlichen Natur erhoben 
und ſie dadurch veredelt. Aber wer kann in der Art und 
Wieiſe, wie grade mein Schaumburger Landsmann und 
lange der Deputirte meiner Heimath, ſich an dem Kampf 
für die kurheſſiſche Verfaſſung betheiligte, den alten 
Sachſentrotz; und wer in den Fechterkünſten und Prak⸗ 
tiken, mit denen er Haſſenpflug das Leben ſo ſauer machte, 
und acht Jahre ſpäter unter dem Miniſterium Volmar 
ſo eklatante Erfolge errang, die alte Bauernpfiffigkeit 


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verkennen? Auch in ſeiner äußern Erſcheinung drückte ſich 
ſein kraftvoller Urſprung aus; obwol von ſeinem neunten 
Jahr an kränkelnd und bis an ſein Lebensende nicht einen 
Tag ganz geſund oder frei von Leiden, iſt er doch uner⸗ 
müdlich thätig, immer heiter, und noch als Greis, mit 
dem langen weißen Haar, dem weißen Schnurrbart, der 
aufrechten hohen Geſtalt und den freundlichen blauen 
Augen der unverfälſchte Sohn ſeines Volkes geweſen. 

Als Friedrich Oetker, 1825, auf das Gymnaſium nach 
Rinteln kam, da war Franz Dingelſtedt ihm weit voraus; 
dieſer, der ſeit 1821 die Schule beſuchte, ſaß mit elf 
Jahren ſchon in Obertertia, während jener, ein Sechzehn⸗ 
jähriger, erſt für die Quarta reif befunden ward. 

Das Gymnaſium ſtand damals unter der Leitung 
des ausgezeichneten Philologen Prof. Dr. Wiß, eines 
Gelehrten von umfaſſender Bildung, von Geiſt und Ge⸗ 
ſchmack, der in ſeinen jüngeren Jahren an Wieland's 
„neuem teutſchen Merkur“ mitgearbeitet, und in ſpäteren 
als Verfaſſer lateiniſcher Gedichte von großer Formvoll⸗ 
endung ſich einen Namen gemacht hat. Noch in nach⸗ 
folgenden Schülergenerationen lebte das Andenken dieſes 
trefflichen Mannes fort, unter welchem die junge Anſtalt 
einen ſolchen Ruf gewann, daß ſie nicht nur aus den 
entfernteren Theilen Heſſens, ſondern auch vom Ausland 
her, das hieß damals: aus den angrenzenden Gegenden 
Hannovers und Preußens, beſucht ward und die Schüler⸗ 
zahl von 54, mit welcher ſie Wiß übernahm, in wenigen 
Jahren auf 130—160 ſtieg. | 

Wiewol das Gymnaſium erſt vier Jahre vor dem 
Eintritt Dingelſtedt's — am 1. November, dem Refor⸗ 


* 


mationsfeſte, 1817 — begründet worden, waren die Räume, 
in welchen daſſelbe ſich befand, doch lange ſchon Stätten 
der Gelehrſamkeit geweſen. Hier, in dem mittelalterlichen 
Gebäudecomplex eines ſäculariſirten Ciſterzienſer-Nonnen⸗ 
kloſters (conventus Sanctimonalium Monasterii Seti 
Jacobi) war von dem Grafen Ernſt von Schaumburg, 
einem ergebenen Anhänger des Proteſtantismus und 
thätigen Freunde der Wiſſenſchaft, A. D. 1621, eine Uni⸗ 
verſität geſtiftet worden; und faſt zwei Jahrhunderte lang 
war die Erneſtina, nach der Vereinigung dieſes Theiles 
der Grafſchaft mit Heſſen (1648) und wohldotirt mit den 
Einkünften des ehemaligen Auguſtiner⸗Kloſters im benach⸗ 
barten Möllenbeck, ein wenn nicht glänzender, ſo doch 
nützlicher Sitz der Studien im nördlichen Deutſchland ge— 
weſen; bis zur Zeit des weſtphäliſchen Zwiſchenreichs, 
durch einen Machtſpruch des fremden Gewalthabers, ihr 
im Jahre 1809 ein Ende gemacht wurde. Der mittel— 
alterliche Charakter ging von der Univerſität auf das 
Gymnaſium über; der Kloſterhof und der Kloſtergarten, 
die Aula und die Kreuzgänge, die Claſſenzimmer und — 
das Carcer waren faſt unverändert noch, wie ſie vor zwei-, 
vor dreihundert Jahren geweſen; und es lebte noch zu 
meiner Zeit ein alter, würdiger Lehrer, Dr. Boclo, welcher 
— vor mir ſchon Dingelſtedt's und Oetker's Lehrer — 
auf der Erneſtina ſtudirt hatte. Oftmals habe ich ihn 
erzählen hören, wie die Disputationen und akademiſchen 
Feierlichkeiten in der Kloſterkirche abgehalten worden und 
unſre Aula das Refectorium geweſen ſei; wie jeden Mittag 
um zwölf Uhr hier ein Convictorium von fünfzig Stipen⸗ 
diaten ſich lärmend zu Tiſch geſetzt und wie ſie die Knochen 
2 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 


„ 


gegen die Wand geworfen, um das Mark darin flüſſig 
zu machen und herauszuholen. Dämmrig war es in den 
ſteinernen Gängen, dämmrig in den Claſſen, den alten 
Auditorien; unter einer offenen Bogenhalle hing die Glocke, 
mit welcher der Pedell, Einer, der noch mit Napoleon in 
Rußland geweſen, uns zur Schule rief oder das Signal zur 
Freiheit gab, und gegenüber war das ſchwarze Brett. 
Unter den Fenſtern floß ſtill zwiſchen Weidengebüſch ein 
kleines Waſſer, die Exter, zur nahen Weſer; und im 
oberen Stockwerk, aus den alten Nonnenzellen, hatte man 
die Wohnung des Directors und des Ordinarius von Prima 
gemacht. Jahre lang — und glückliche Jahre waren es! — 
habe auch ich dort oben gewohnt, in zwei Zimmerchen, 
jedes mit einem Fenſter, lang, ſchmal, eng, und oft darüber 
nachgedacht, wer die Nonne geweſen und wie ſie aus⸗ 
geſehn, die vor mir hier in den Kloſtertagen gewohnt. 
Ueber den Wall und über Gärten hinweg ging der Blick 
auf die Berge; hinter hohen Pappeln ſah ich die Sonne 
niedergehen, und oft in der Märznacht hörte ich die Weſer 
rauſchen — „ſchaurig-ſüßes Gefühl, lieblicher Frühling 
du nahſt!“ 

Der philologiſche Zug herrſchte lange vor auf unſrem 
Gymnaſium; wir ſchrieben und ſprachen ziemlich fließend 
Latein. Noch zu Dingelſtedt's Zeit und manches Jahr nach⸗ 
her wurden immer, am Tage des Reformationsfeſtes, und zu⸗ 
gleich zur Erinnerung an die Stiftung der Schule, latei⸗ 
niſche Theſen ausgegeben und öffentlich vertheidigt. Ebenſo 
wurde der Geburtstag des Kurfürſten und ſeit 1831 auch 
der des Kurprinzen und Mitregenten durch lateiniſche Feſt⸗ 
ſchriften gefeiert. Aber die Pflege von Muſik und Poeſie 


er 


wurde darum nicht vernachläſſigt; und eine der ſchönſten 
Feſtlichkeiten, die noch lebhaft in meiner Erinnerung iſt, 
ward alljährlich, am Schluſſe des Jahres, am letzten 
Abend deſſelben begangen. Dann war die Aula feierlich 
beleuchtet; an den Wänden hingen die Porträts der 
Landgrafen und Kurfürſten und auf den Bänken ſaßen 
die hübſchen jungen Damen von Rinteln, welche den Auf- 
führungen der Schüler, ihrem Clavierſpiel, ihren Reden 
und Gedichten mit freundlicher Theilnahme folgten. Die 
alten Schulnachrichten, Feſt⸗ und Gelegenheitsſchriften, für 
deren Mittheilung ich dem gegenwärtigen Director des Rin⸗ 
teler Gymnaſiums, Herrn Dr. Buchenau, nicht genug danken 
kann, zeigen, daß Dingelſtedt frühe ſchon bei dieſen öffent⸗ 
lichen Anläſſen herangezogen ward. Aber es iſt merkwürdig 
zu beobachten, daß — während rings um ihn her deutſch ge⸗ 
dichtet und declamirt wird — er nach Ausweis der Pro- 
gramme nur als Proſaredner oder lateiniſcher Dichter auf⸗ 
tritt. Das erſte Gedicht von ihm, welches gedruckt ward, war 
ein lateiniſches, zum Lobe Heſſens. Auch als Opponent bei 
den Disputationen war er — laut Mittheilung eines 
noch lebenden Zeugen — von ſeltener Gewandtheit; und 
ein auswärtiger Gelehrter, der einer ſolchen Disputation 
beiwohnte, bemerkte: daß nach Profeſſor Hermann in 
Göttingen, Dingelſtedt der feinſte Lateiner geweſen ſei, den 
er jemals gehört. 

Das Programm von 1823 nennt unter den Schülern, 
die ſich beſonders hervorgethan, den neunjährigen Quar⸗ 
taner „F. Dingelſtedt aus Rinteln mit 10 Auszeichnungen, 
3. B. wegen ſeiner Fortſchritte im Lateiniſchen“; das von 
1825 den Tertianer „wegen ſeiner Fortſchritte im Fran⸗ 

2 * 


„ 


zöſiſchen“. Im folgenden Jahr wird er gelobt, „weil er 
250 lateiniſche Verſe und 20 Capitel“ memorirt hat; und 
jetzt auch finden wir „F. Oetker aus Rehren im Schaum⸗ 
burgiſchen“ zuerſt und zwar gleich rühmend erwähnt. 
Mit 12 Jahren erhält „der Secundaner Dingelſtedt 
9 Belobungen, weil er 250 Verſe aus dem Virgil und 
100 aus dem Homer memorirt hat“, und der 17jährige 
Tertianer F. Oetker das Zeugniß „muſterhaften Fleißes 
und Betragens überhaupt“. Endlich, im Jahre 1827 und 
in der Secunda, haben ſie ſich erreicht; mit unſäglichem 
Fleiße (der auch im Schulprogramm gebührend hervor⸗ 
gehoben wird) war es Oetker gelungen, in weniger als 
zwei Jahren Quarta und Tertia zu durchlaufen. Aber 
im Jahre darauf haben ſich die Beiden ſchon wieder ver⸗ 
loren: Dingelſtedt mit 14 Jahren iſt in Prima, Oetker 
mit 19 noch in Secunda. Drei Jahre lang, wegen ſeiner 
allzugroßen Jugend, wird Dingelſtedt in Prima zurück⸗ 
gehalten; aber er iſt primus omnium, als Oetker eben erſt 
über die Schwelle der oberſten Claſſe tritt, und als er 
ſeine Maturitätsprüfung macht, wird der Siebenzehn⸗ 
jährige mit dem höchſten Grade der Reife, der jemals 
ertheilt worden iſt, entlaſſen. Bei der Feier des Syl⸗ 
veſterabends 1830 hat er eine Rede gehalten „über die 
Sehnſucht des Menſchen nach einer beſſeren Zukunft“; 
und bei ſeinem Abgang, Oſtern 1831, legt er ein latei⸗ 
niſches Gedicht „Hassia felix“, das glückliche Heſſen, 
gedruckt vor und vertheidigt es in lateiniſcher Disputation. 
Auch Oetker beſtand ſein Examen gut genug: aber es 
wird nicht viel Rühmens davon gemacht und ſein Ab⸗ 
ſchied iſt ohne Sang und Klang. Dieß war das Loos 


der Freunde, ſpäter im Leben, wie hier auf der Schule: 
Franz Dingelſtedt immer der Erſte und Friedrich Oetker 
immer der Zweite. 

Aber mit gutem Humor verzeichnet er die Schul- 
anecdoten, welche noch im Schwange waren, als ich ſelber 
das Gymnaſium beſuchte. Hatten wir doch zum Theil 
noch dieſelben Lehrer. Da war der gute Storck, der 
Zeichenlehrer, dem ich, zum großen Gaudium Dingelſtedt's 
und Oetker's, in meinen „Grandidiers“ eine beſcheidene 
Rolle zuertheilt habe, und der einſt einem Mitſchüler jener 
Beiden einen „Tadelsſtrich“ im Claſſenbuche gegeben, „weil 
er einen Löwen zerriß“ (nämlich ein Vorlegeblatt). Da 
war der andre Lehrer, der einſt einem Schüler das Auf⸗ 
ſatzheft, in welchem das vorſchriftsmäßige Löſchblatt fehlte, 
mit den zornigen Worten entgegenhielt: „Knabe, worin 
iſt es nicht?“ Und als dieſer Knabe verblüfft nicht zu 
antworten wußte, erſcholl drohend, zu des eben eintreten- 
den Ordinarius Staunen und nachträglichem Ergötzen die 
weitere Frage: „Nun, erfahre ich noch immer nicht, worin 
es nicht iſt?“ Die Antwort ſollte lauten: nicht in 
Ordnung! — Da war ferner unſer bejahrter Sing⸗ 
lehrer Volckmar, ein Organiſt von der alten Schule, der 
ganz in Haydn'ſchen Traditionen lebte und ſelbſt einige 
Werke im Style ſeines Meiſters componirt hatte, die 
mehrfach aufgeführt wurden. „Als ich mich,“ erzählt 
Oetker, „vorſchriftsmäßig bei dem würdigen Herrn meldete, 
empfing er mich höchſt freundlich, da er offenbar nach 
meiner Geſtalt einen rechtſchaffenen Baß in mir erwartete. 
„Nun, lieber Oetker,“ ſagte er, „geben Sie mal einen 
Ton an!“ — O, dieſer Ton! ... Der treffliche Mann 


hat nie einen zweiten von mir begehrt. Als Oetker 
ſpäter, ſchon in Prima, bei den Redeübungen dieſer Claſſe 
einmal ſehr gut „über die Segnungen und Gefahren der 
Freiheit“ ſprach, mochte der Director ein Stück von einem 
zukünftigen Politiker in ihm ahnen. „Vorſicht, Vorſicht!“ 
rief er ſchmunzelnd; und fügte dann ſeufzend hinzu: „ja, 
wenn nur die Stimme beſſer wäre!“ 

Lebenslang war, in Folge chroniſcher Heiſerkeit, dieſe 
Stimme das Hinderniß, gegen welches Oetker in ſeiner 
juriſtiſchen und parlamentariſchen Praxis vergeblich an⸗ 
kämpfte. Wenn man dieſe Beiden vergleicht, welche hier 
in Rinteln einander zuerſt ſahen, ſo könnte man wol be⸗ 
haupten, daß die Natur dem Einen Alles verſagt, dem 
Andern Alles gegeben habe, was den Erfolg ſichert; daß 
Oetker der Mann geweſen, dem Alles ſchwer, und Dingel⸗ 
ſtedt der, dem Alles leicht geworden; daß jener beſtimmt 
ſchien zur Entbehrung und dieſer zum Genuß, wenn auch, 
wie der „fidus Achates“ getreulich regiſtrirt, die Gegen⸗ 
ſtände ſeiner erſten Paſſion ſehr unſchuldige Dinge waren, 
nämlich „Boltches“ (eine Art von Bonbons) und Aepfel. 
„Heda, heda, Muſche Dingelſtedt!“ rief eine alte Hökerin, 
wenn der jugendliche Primaner, und zwar immer ohne 
Mütze, an ihr vorüber nach dem Gymnaſium lief, „wieder 
von die dicken Biſchenetten, drei vor'n Groſchen!“ An⸗ 
dere Stimmen der Verführung hat er wol bald genug 
hören müſſen. a 

Oetker ſchildert den Freund um dieſe Zeit als „ein 
überaus zartes Bürſchlein, ſchwank, ſchmächtig, mit klugen 
Augen, hübſchem, bleichem, faſt kränklichem Geſicht“. 
Vielleicht eben wegen dieſer Schwächlichkeit des Sohnes 


en . 


hing der Mutter ganzes Herz an ihrem Fränzchen. „Mein 
Vater hat mir von Jugend auf geſagt“ — heißt es in 
den „Briefen an eine Verlorene“ (Wanderbuch, S. 106) — 
„Franz, Du wirſt nie klug werden, niemals die Menſchen 
kennen lernen“; aber meine Mutter entgegnete, indem ſie 
mir die Thränen über einen kindiſchen Verluſt, die Wun⸗ 
den einer Knabenbalgerei abtrocknete: „Laß den Jungen 
doch!“ In den „Briefen von Dingelſtedt“, welche deſſen 
Rinteler Stubengenoß und Marburger Corpsbruder, 
unſer wackerer Landsmann Adolph Vogel aus Schmal- 
kalden, gegenwärtig in Frankfurt a. M. und lange Jahre 
Redakteur des „Frankfurter Journals“, kürzlich veröffent⸗ 

licht hat“), findet ſich eine höchſt bezeichnende Stelle aus 
dem Mai des Jahres 1832, wo Dingelſtedt ſeiner Ge⸗ 
ſundheit halber ſich von Marburg nach Rinteln begeben 
hatte, um ſich hier zu erholen: „Die Lungen-, Herzgefäß⸗ 
und Adernentzündung, die mich hatte“ (dieſes „mich“ iſt 
ſo charakteriſtiſch für Dingelſtedt!) — „nöthigt mich, ein 
ganzes, langes Semeſter in dieſem ſchauervollen Neſte zu 
kampiren, alsdann: nicht zu rauchen und täglich meines 
Alten dampfenden Juſtus zu riechen; nicht zu trinken, 
weder Wein, Bier, Kaffee, Thee (und an der Quelle zu 
ſitzen), kurz nicht zu leben und in Rinteln zu ſein. Rechne 
dazu, daß nun wol alle Freitag“) ein Billetdoux von 


*) Im Feuilleton der „Neuen Freien Preſſe“, 10. und 11. Juni 
1881. 

**) Eine Anmerkung Vogel's belehrt uns, daß die Poſt alle 
Woche nur einmal, am Freitag, aus dem übrigen Kurfürſtenthum 
in der Grafſchaft eintraf und auf ihrer Tour regelmäßig Nachts bei 
Höxter umwarf. 


Ras, 


einem Marburger Philiſter ankommen, alle Sonnabend 
das Ungewitter väterlichen Zornes über mein ſchuldiges 
Haupt hereinbrechen wird; daß meine arme Mama, die 
einzige, die ich liebe, kränkelt und ich mit blühender 
Schwindſucht in den afficirten Lungentheilen dem Tod 
entgegenreite.“ Da war es die Mutter, welche wie eine 
Vorſehung über ſeinen jungen Jahren wachte und er hat 
es ihr durch treue Liebe vergolten. Seine Gedichte ſind 
voll rührender Erinnerungen an ſie, und viele, viele 
Jahre, nachdem ſie heimgegangen, bewegte der Pfarrer die 
Trauerverſammlung, die an Dingelſtedt's eigenem Grabe 
ſtand, zu Thränen, indem er deſſen Liebe zu ſeiner Mutter 
hervorhob und das ſchöne Gedicht recitirte, welches dieſer 
als Gruß zu ihrem letzten Geburtstage geſandt: 

Du lehrteſt mich durch Frühlingsauen 

Mit offnem Blick und Sinn zu geh'n, 

Die Wunder der Natur zu ſchauen 

Und ihre Räthſel zu verſteh'n; 

Der erſte Vers, den ich geſtammelt, 

Du legteſt mir ihn lächelnd aus, 


Und brachteſt, durch Dich ſelbſt geſammelt, 
Mir meinen frühen Liederſtrauß. 


Und wie Du ſtets mit Mutterſorgen 
Den ſchwachen Liebling treu gepflegt, 
Wenn kalt durch ſeinen Lebensmorgen 
Des Todes Schreckenshauch gefegt, a 
So haſt Du auch mit ſtarkem Schilde 
Mich vor dem inn'ren Feind bewahrt, 
Und mich mit echter Frauenmilde 
Geführt auf mancher wilden Fahrt. 


Sie war, nach Oetker's Schilderung, eine ſchöne Sn 
mit feinen Zügen und prachtvollen Augen; aber ſchwäch⸗ 


De e 


lich, bruſtleidend, und fie ſtarb vor der Zeit an einem 
Oſtermorgen „ſanft, ſtill, ſelig — ach, wie ſie nicht ge⸗ 
lebt!“ Vom Grabe der Mutter ſchrieb Dingelſtedt am 
8. April 1836 dem Freunde: „Du haſt ſie gekannt, unter 
allen meinen Freunden Du allein, und nicht einmal Du, 
nicht einmal ich. Sieh' Fritz, ich habe Blicke in meines 
Vaters Herz gethan in den Momenten, wo der heiße 
Schmerz die Metallrinde geſchmolzen hatte, wo die Er- 
innerung an ſeine Liebe, an ſein ſchönes Hannchen das 
alte Herz verjüngte; Fritz, von dem wollen wir lernen, 
wenn er auch ein rauher Mann iſt. Er hat mir das Bild 
der Verklärten aufgerollt, wie ſie als Mädchen war, als 
Braut, als Frau, als Mutter, als Sterbende — ach! ich 
habe ſie nicht gekannt, ich habe ſie blos verloren.“ 


Aber ihr Bild und ihre Liebe begleiteten ihn lange 
noch; wie ein Schutzgeiſt war ſie ihm nahe in der Stunde 
der Verſuchung. Als er in London in den Tagen des 
„Romans“, welchen er ſelber mit ſo leidenſchaftlicher Gluth 
beſungen, durch die Morgendämmerung und Stille der 
Rieſenſtadt ſchreitet, ſteht er plötzlich vor einem Kirchhof. 

Da geſchieht's mir — ich weiß, es iſt nur ein Wahn, 
Doch packt er mit eiſigen Fäuſten mich an, — 

Daß vorübergleitend ich meine: 

Es ſitze auf jenem weißen Stein 


Mein liebes, ſeliges Mütterlein 
Und blicke mich an und weine. 


Ein anderes Mal, in ſeinen „Irrfahrten“, ruft er aus: 


Nur ohne Liebe nicht verderben, 
Im fernen Land nicht ſiechen, ſterben. 


— —— — — — — — — — — 


Soll ich die Heimath nimmer jehen, 
So laßt mich doch drin ſterben gehen, 
Mich ruh'n bei meinem Mütterlein, 
Nicht in der Fremde, nicht allein! 


Nicht ganz hat dieſer Wunſch ihm erfüllt werden 
ſollen; aber auch in Wien ruht er nicht in fremder Erde 
und nicht allein. Treue Herzen ſchlugen an ſeinem letzten 
Lager, treue Hände pflegten, treue Augen beweinten ihn; 
und ihm, der den Seinen viel Liebe gegeben, iſt auch von 
den Seinen viel Liebe geworden. 

Dingelſtedt's Vater überlebte die Mutter um zweiund⸗ 
zwanzig Jahre und konnte noch Zeuge ſein eines Theils der 
glänzenden Laufbahn, welche den Sohn zu der höchſten geſell⸗ 
ſchaftlichen Stellung emporführte. Faſt alljährlich kam 
er nach Rinteln, um den alten Vater zu beſuchen, der ihm 
einſt, als er den Schulmeiſter an den Nagel hing, einen 
Brief voll bitterer Vorwürfe ſchrieb, daß er ſeine Erwar⸗ 
tungen „ſo ſchrecklich getäuſcht“, und — zu beſſerer Nutz⸗ 
anwendung — mit einem kräftigen Citat aus den 
Sprüchen Salomonis 27, 22 ſchloß: „Wenn du den 
Narren im Mörſer zerſtießeſt mit dem Stämpfel, wie 
Grütze, ſo ließe doch ſeine Narrheit nicht von ihm.“ 

Die ſtrenge Zucht des Vaters war indeſſen nicht ohne 
wohlthätigen Einfluß auf den Bildungsgang des Sohnes: 
ehrenhaften Charakters, „klaren, klugen“ Sinnes, einfachen, 
ernſten und doch heiteren Weſens, und als alter Soldat 
militäriſch-pünktlich und zuverläſſig in allen Dingen, hat 
er ihn an jene „Accurateſſe“ gewöhnt, welche die Bühnen⸗ 
leitung Franz Dingelſtedt's zu einer ſo muſterhaften ge⸗ 
macht hat. Auch hat der Sohn es dem Vater, wenn er 


3 


ihn gleich einen „rauhen Mann“ nannte, niemals vergeſſen 
und dem Andenken deſſelben in ſeinem letzten Werke, den 
„Münchener Bilderbogen“, ein kleines literariſches Monu⸗ 
ment geſetzt, da wo er von ſeinem für den König Max 
beſtimmten Rechenſchaftsbericht über das Kgl. Bayeriſche 
Hof⸗ und Nationaltheater ſpricht. „Ich beſitze ſie noch, 
dieſe Denkſchrift,“ heißt es dort (S. 137), „die mein 
Teſtament geworden iſt. Manche liebe (das heißt: nicht 
liebe) Nacht habe ich daran gearbeitet, meinen braven 
Vater, damals noch am Leben, ſegnend, wie ich ihn ſeither 
oft im Grabe geſegnet habe. Er zwang mich in meiner 
grünen Gymnaſiaſtenzeit, ſeine Kämmereirechnungen der 
Stadt Rinteln und der Kloſtervoigtei Möllenbeck abzu— 
ſchreiben, gegen ein Honorar von zwei Heſſen-Albus 
(1½ guten Groſchen) per Bogen, die Belege zu ordnen, 
die Bilanzen zu ziehen, „immer hübſch Zahl unter Zahl. — 
Denn du kannſt nicht wiſſen, Franz,“ ſetzte er hinzu, 
„wozu du es 'mal im Leben brauchſt. Der Menſch lernt 
nichts umſonſt; das merke dir.“ Und wenn ich mich in 
einem Einnahme- oder Ausgabe-Titel vergriffen, in der 
Numerirung der Belege geirrt, einen falſchen Abſchluß 
gemacht, ſo wurde das große, mit Linien und Ziffern 
bedeckte Blatt vor meinen überquellenden Augen ruhig 
zerriſſen, mit den ſanften Worten: „Na nun fang’ von 
vorne wieder an, bis du's triffſt“ . . .. Guter, lieber, 
ſtrenger Vater!“ 

Ich ſelber, in meiner Schulzeit, habe den alten Herrn 
noch oft genug geſehen, wenn er, in ſeinem altmodiſchen 
braunen Tuchrock, eine Tuchkappe mit großem Lederſchirm 
auf dem Kopfe, den Stock in der Hand und das kurze 


Fe er 


Tabakspfeifchen im Munde, bedächtig daherſchritt: „eine 
hohe, knochige, faſt urweltliche Erſcheinung“, wie Oetker 
ihn beſchreibt, aber dennoch, ſo viel ich mich erinnere, 
das treue Prototyp ſeines Sohnes, ſo daß dieſer, bei 
dem gleichfalls Alles, Geſtalt, Haltung und Lebens⸗ 
gewohnheit ins Feinere und Vornehmere überſetzt ſchien, 
wol auch von ſich ſagen konnte, wie der Größere, vor 
dem er ſich in Ehrfurcht gebeugt: 

Vom Vater hab' ich die Statur, 

Des Lebens ernſtes Führen; 


Vom Mütterchen die Frohnatur 
Und Luſt zu fabuliren. 


II. 


Im Frühjahr 1831 bezogen beide Freunde die Landes— 
univerſität Marburg: Oetker um Jura, Dingelſtedt um 
Theologie zu ſtudiren. Hier ſprang der junge ſiebenzehn⸗ 
jährige Gottesgelehrte ſofort bei den „Schaumburgern“ 
ein — „Schaumburgia ſei's Panier“ und blau⸗roth⸗ 
ſchwarz waren die Farben — gerieth in eine Corpshatz 
und bekam bei der Gelegenheit eine ſo tüchtige Quart, 
daß er die Narbe davon ſein Lebtag behielt. Aber nach 
der Meinung der Aerzte, wie Vogel mittheilt, befreite 
dieſer „Schmiß“ den bis dahin Leidenden von dem letzten 
Reſt eines kranken Lungenflügels, wenn auch noch nicht 
ganz von der Sentimentalität. „Der Keim des Todes 
liegt in mir“, ſchreibt er einmal; und ein andermal will 
er den Freund nicht „in ein Gewebe von Klagen und 
Schmerzen und Krankheiten und Tollheiten einwickeln, 
durch das ſich überall der ſchwarze Streifſchatten einer 
lebensmüden Vergangenheit hindurchzieht.“ 

Es liegt mir ein merkwürdiges Stammbuchblatt aus 
jener Zeit vor, welches Dingelſtedt einem damaligen 
Commilitonen, dem gegenwärtig zu Hanau bei geſegnetem 


Fe "Rs 


Alter und in voller Rüſtigkeit noch lebenden Gymnaſial⸗ 
prorector a. D., Profeſſor Dr. Fliedner, geſchrieben hat. 

Herr Prof. Fliedner, der ſich als Lehrer der Mathe⸗ 
matik und Phyſiker einen hochgeachteten Namen gemacht 
hat, traf mit Dingelſtedt während ſeines letzten Studien⸗ 
jahres zuſammen; und er war ſo freundlich, mir einen 
Bericht darüber zu geben, der ſo charakteriſtiſch und in⸗ 
tereſſant iſt, daß ich Einiges daraus hier wörtlich mit⸗ 
theilen will. „Ich lernte Franz Dingelſtedt,“ ſo ſchreibt 
mir der würdige Herr, „bei einem Doctorſchmaus in 
Marburg kennen, zu welchem außer uns Beiden einige 
Docenten und ältere Studenten geladen waren. Es fand 
ſich dabei, daß Dingelſtedt und ich einen gemeinſchaftlichen 
Bekannten, den nun auch ſchon ſeit einer Reihe von Jahren 
entſchlafenen Julius Hartmann hatten, der ein Schul⸗ 
freund von Dingelſtedt und ein Studiengenoſſe von mir 
war. Von dieſer Zeit an waren Dingelſtedt, Hartmann 
und ich während eines Jahres faſt täglich zuſammen, 
machten unſere Spaziergänge gemeinſchaftlich u. ſ. w. 
Manchmal gab dann Dingelſtedt unfrem Drängen, mit 
ſeinem wundervollen Organ uns vorzuleſen, nach. Ich habe 
ſeitdem kaum jemals wieder einen ähnlichen Genuß beim 
Vorleſen gehabt. Bei einer ſolchen Gelegenheit bemerkte 
ich einſt ein kleines vollgeſchriebenes Heft mit Gedichten 
von Dingelſtedt, erbat mir die Erlaubniß, ſie mitnehmen 
zu dürfen und als ich ſie ihm nach ein paar Tagen mit 
einigen anerkennenden Verſen wieder zurückſchickte, gab 
dieß Veranlaſſung zu einem liebenswürdigen Scherz. 
Denn als ich hierauf zu der für den gewohnten Spazier⸗ 
gang beſtimmten Stunde, Nachmittags zwei Uhr, in das 


11 


Zimmer des Kleinen, wie wir Freund Hartmann zu 
nennen pflegten, eintrat, fand ich die Fenſter verhüllt, 
auf dem Tiſche ſtanden zwei brennende Kerzen und lagen 
zwei gekreuzte Schläger nebſt andren Emblemen. Dingel- 
ſtedt und Hartmann aber in ſchwarzem Frack und Cy⸗ 
linderhut ſprangen vom Sopha vor dem Tiſch auf, führ⸗ 
ten mich auf einen Stuhl gegenüber, nahmen wieder auf 
dem Sopha Platz und nun verlas Dingelſtedt ein längeres 
Gedicht in fließenden, gereimten Verſen, das hauptſächlich 
eine Vermahnung enthielt, wie ſich ein Dichter zu be 
nehmen habe, und von feierlicher Ueberreichung jener 
Embleme durch den Kleinen begleitet wurde; z. B. bei 
der Stelle: „Der Dichter ſoll nie baares Geld“ beſitzen, 
kam ein leerer Geldbeutel, bei einer andern: „Auch ſei 
der Dichter ſelten nur zu Haufe” kam ein Hausſchlüſſel 
zum Vorſchein. Schließlich ward ich dann in den Dichter⸗ 
orden aufgenommen, wovon ich indeſſen, wenigſtens öffent⸗ 
lich, aus guten Gründen keinen Gebrauch gemacht habe.““) 

b Dingelſtedt war in jenem Winter im 
Ganzen ernſt geſtimmt, konnte jedoch zu Zeiten auch aus⸗ 
gelaſſen munter ſein. Er war als Theologe inſcribirt, 
fühlte aber keinen Beruf dazu und verſchob auch jetzt noch 
ſeine Vorbereitung zum Examen, das er nach dem väter⸗ 
lichen Willen am Schluß des nächſten Sommerhalbjahres 
ablegen ſollte. Das ihm vorgeſteckte Ziel, ſowol ein 
Pfarramt (— Dingelſtedt Pfarrer! man denke! —) als 


) Der Leſer wird ſich aus einer ſpäteren Mittheilung dieſes 
Buches überzeugen, daß mein geehrter Herr Correſpondent allzu be⸗ 
ſcheiden von ſeinem Talente gedacht hat. 


ee 


das zunächſt winkende Rectorat an einer ſtädtiſchen Volks⸗ 
ſchule ſeiner engeren Heimath war ihm nicht ſympathiſch 
und er ſah oft mit ſchwermüthigem Blick in die Zukunft. 
Zudem ſchien ſeine lang aufgeſchoſſene Geſtalt und ſeine 
Engbrüſtigkeit — er klagte auch nicht ſelten über Bruſt⸗ 
beſchwerden — kein langes Leben zu verbürgen; weshalb 
wir ſeine Reizbarkeit und Launenhaftigkeit, die oft hervor⸗ 
traten, möglichſt ſchonen zu müſſen glaubten und dafür 
zu anderer Zeit durch die herzgewinnende Anmuth ſeines 
geiſtreichen Weſens auch wieder entſchädigt wurden. 

„Lebendiger wurde Dingelſtedt, als gegen das Ende 
jenes Winterhalbjahrs eine nicht üble Schauſpielertruppe 
in Marburg erſchien und mehrere Wochen daſelbſt ver⸗ 
weilte. Mit dem Director derſelben, wenn ich nicht irre, 
Frieſe, kamen wir und beſonders Dingelſtedt in nähere 
geſellige Verbindung und die erſte Liebhaberin, eine an⸗ 
ſtändige junge Dame von großem, zierlichem Wuchs und 
hübſchen, feinen Geſichtszügen, die auch in Familien Auf⸗ 
nahme fand, Fräulein Leonore Treffert, ward natürlich 
ſeine Flamme. Als dann ſpäter die Schauſpielertruppe 
wieder nach Gießen zog, eröffnete ſie dort ihre Vor⸗ 
ſtellungen mit einem von Dingelſtedt verfaßten Prologe, 
der erſten in die Oeffentlichkeit getretenen Schöpfung ſeiner 
Muſe. Selbſtverſtändlich mußten wir drei dem Erſtlings⸗ 
werk, dem das Luſtſpiel „Der leichtſinnige Lügner“ folgte, 
beiwohnen; kehrten jedoch, durch den Vortrag nicht ganz 
befriedigt, nach Marburg zurück. 

„Mit dem Beginne des Sommerſemeſters 1834 ward 
ein junger Theologe aufgeſpürt, der zugleich mit Dingel⸗ 
ſtedt am Ende des Halbjahrs das Facultätsexamen ab⸗ 


— 33 — 


legen und vorher mit ihm repetiren ſollte. Für Dingel- 
ſtedt mußte dieß freilich wol etwas mehr als bloße Re⸗ 
petition ſein. Unſer tägliches Beiſammenſein Nachmittags 
und oft auch Abends blieb nichtsdeſtoweniger daſſelbe; 
das theologiſche Studium ward des Vormittags abgethan. 
Nach dem Beginn des folgenden Halbjahrs legte Dingel— 
ſtedt im December 1834 ein glänzendes Examen vor 
der theologiſchen Facultät ab, wobei ihm ſeine große 
Fertigkeit im Lateinſprechen die beſten Dienſte that. 
Weniger Glück hat ſein informatoriſcher Repetitionscollege 
gehabt! .. .. Mit Schmerz ſahen wir kurz darauf 
Dingelſtedt in trüber Stimmung von Marburg ſcheiden.“ 
Und hier iſt das Stammbuchblatt, welches der 
Zwanzigjährige ſeinem Freunde Fliedner gab; ein Quart⸗ 
blättchen, auf beiden Seiten beſchrieben und von der Form, 
wie ſie damals für Stammbücher gebräuchlich war. Auf der 
einen Seite deſſelben find allerlei „Memorabilia, 18 —34“ 
verzeichnet, unter welchen natürlich „die Fahrt nach 
Gießen: die Staatscaroſſe — der kleine Kutſcher im 
Chauſſeegraben“ obenan paradiren. Dann heißt es auf 
der andern Seite: 
„Poetiſche Viſion in Proſa. 
Perſonen: Prof. math. Conrad Fliedner — deſſen 
Gattin — ein Säugling in einer Wiege ſchnarchend, 
und ein Spitz hinter'm Ofen. 
Scene: Ein freundliches Wohnzimmer. Die Eheleute 
ſitzen am Theetiſch; er hat den Arm um ihren Nacken 
geſchlungen, ſie blättert in einem Stammbuche. 
Zeit: 1843; ein langer Winterabend. 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 3 


1 


Sie: Wer iſt denn das, der das ganze Blatt vollge⸗ 
ſchrieben hat? 

Er: Das war ein recht ordentlicher Kerl, fidel und leicht⸗ 
ſinnig à son aise, zu Zeiten auch melancholiſch, ſtets 
verliebt, machte Verſe und Schulden, ſtudirte Theo⸗ 
logie — ſonſt hatte ich ihn aber recht lieb. Er hieß 
Franz Dingelſtedt. 

Sie: Wo ſteht er denn jetzt? | 

Er (schweigt und zerdrückt eine Thräne. Nach langer 
Pauſe): Er liegt (zeigt mit bebendem Finger auf die 
einzige leere Ecke des Stammbuchblattes — man er⸗ 
blickt ein Kreuz mit den Worten: „ſtarb den 
27. April 1839 als Rector zu Obern⸗ 
kirchen — Friede ſeiner Aſche!“) 

— Die Geſichte werden undeutlich, der Vorhang fällt 
heulend herunter!! —“ 


Die „Viſion“, ſoweit Fliedner dabei betheiligt, traf 
buchſtäblich ein: er ward Profeſſor der Mathematik (wenn 
auch freilich nicht ſo raſch, als der Verfaſſer ihm voraus⸗ 
geſagt), Gatte, Vater; aber für Dingelſtedt hatte das 
Schickſal ein anderes Loos in Bereitſchaft, als den frühen 
Tod in Obernkirchen.“) Auch iſt er nicht immer jo nach⸗ 
denklich, ernſt und „viſionär“ geweſen, als er hier 
erſcheint. Die Stimmungen wechſeln wie die Wolken 
am Frühlingshimmel; neben den düſteren Ahnungen eines 
baldigen Endes ſchlägt die goldene Flamme der Lebensluſt 


*) Obernkirchen ift ein kleiner Ort in der Nähe von Rinteln. 


hoch empor und in dieſen Worten zieht der werdende Poet, 
deſſen Jugendbriefe ſchon die Miſchung von lyriſcher Em⸗ 
pfindſamkeit und epigrammiſcher Schärfe verrathen, die 
Summe ſeiner damaligen Exiſtenz: „ein Viertel krank, ein 
Viertel fleißig, ein Viertel verliebt und ein Viertel ver⸗ 
rückt.“ Das Rinteler „Fränzchen“ wuchs ſich zu dem 
langen Franz mit den breiten Schultern und dem mäch⸗ 
tigen Bruſtkaſten aus, der ſich bald mit anderen Gegnern 
und auf anderen Menſuren, als der des „bunten Kitzels“ 
in Marburg meſſen ſollte, hier aber ſchon, in der Unge- 
bundenheit des akademiſchen Lebens, ſich in ſeiner ganzen 
Glorie zeigte, durch den Zauber ſeiner Perſönlichkeit Jeden 
gewann, dem er nahe kam und alle vier Wochen ſich in 
ein anderes Frauenzimmer verliebte. „Die Heilige dieſes 
Monats heißt E...!“ ſchrieb er im September 1834 an 
Vogel. „Suche nicht nach dem Zunamen; Du würdeſt 
Dich ihrer kaum beſinnen, obwol ſie hier iſt.“ Das Herz 
dieſes alten Jugendfreundes geht über, wenn er von den 
tollen Streichen jener Tage berichtet. Einmal (wie er an 
einer anderen Stelle, „Caſſeler Tagespoſt“, 19. Juni 
1881, mittheilt) machten ſie zuſammen eine „Spritztour“, 
Beide in bunten Schlafröcken, mit Cereviskäppchen und 
Vogel außerdem in rothen Pumphoſen. Kurz vor dem 
Städtchen Kirchhain begegneten ſie einer Muſikbande, 
welche zur Frühjahrsmeſſe nach Marburg zog; jedoch auf 
den Vorſchlag, ſie alle in Bier frei halten zu wollen, 
machte die Geſellſchaft Kehrt, ließ eine luſtige Weiſe er— 
klingen und hinter ihnen her hielten die beiden Studioſen 
ihren „introitum jueundum“ unter dem lauten Halloh der 
Schuljugend und ſchließlich nur mit Mühe der polizei⸗ 
3 * 


Er. 


lichen Intervention entgehend. Dingelſtedt hat immer 
etwas vom Corpsſtudenten beibehalten, etwas Burſchikoſes, 
was ihm ungemein gut ſtand und zu dem ariſtokratiſchen 
Grundton ſeines Weſens einen angenehmen Contraſt 
bildete. Schon damals, in dem wunderlichen Aufzug, als 
er ſich mit dem Freunde von Stadt zu Stadt pumpte, 
weigerte er ſich dennoch, ſeinen Ranzen ſelbſt zu tragen, 
ſondern beſtand darauf, einen Burſchen dafür zu miethen, 
bis der gutmüthige Vogel, aus Rückſicht auf die gemein⸗ 
ſchaftliche Caſſe, ſich dieſe, keineswegs „goldene“ Laſt zu 
der eigenen aufſchnallte. Später, nach mehr als dreißig 
Jahren, als der Baron von Dingelſtedt wieder einmal 
nach Marburg kam, um durch die Barfüßergaſſe den 
alten bekannten Weg nach dem „Schützenpfuhl“ zu wan⸗ 
deln, ging ein Diener in Livrse hinter ihm her, der den 
Sommerpaletot des Gebieters über dem Arme trug. Be⸗ 
quemer war's; aber, ſagt Dingelſtedt in dem Gedicht 
„Extrapoſt“: 


Es war doch eine ſchöne Zeit, 

Und ihrer denk' ich gerne, 

Liegt ſie gleich hinter mir, ſo weit, 
Wie dort die blaue Ferne. 

Da gab's ſtatt flotter Extrapoſt 
Und ſteifer Willkommsfeſte 

Nur wunde Füße, ſchmale Koſt, 
Ein Omnibus das Beſte. 


Beim Bruder Studio ſprach man ein, 
Entdeckt auf offner Straße, 
Man ſchlief in einem Bett zu Zwei'n, 
Und trank aus einem Glaſe. 


m, 


Fand ſich der Eine juft verlumpt 
Und mit der Welt zerfallen, 

So ward des Andern Rock gepumpt, 
Und alle paßten Allen. 


Statt Trinkgelds fing die Kellnerin 
Ein Küßlein auf die Wangen, 

Und reichte eines ihr nicht hin, 

Auch mehrere nach Verlangen. 

Ein Ränzchen noch die einz'ge Laſt, 
Die Quart die einz'ge Narbe, 

Die einz'ge Zierrath Band und Quaſt 
Von blau⸗ roth⸗ſchwarzer Farbe!“) 


Beſcheidener, ruhiger geſtaltete ſich ſchon in Marburg 
das Leben des Anderen, des Juriſten. Seine Geſundheit 
geſtattete demſelben nicht, an den ſtudentiſchen Freuden 
Theil zu nehmen, trotz der ganz beſonderen Vergünſtigung, 
daß „dem Brandfuchs Oetker geſtattet ſein ſolle, in 
Waſſer nachzuſaufen.“ Er wandte ſich, neben ſeinen 
Studien, mehr literariſchen Intereſſen zu, ſtiftete ein 
Dichterkränzchen, an welchem auch die beiden Rinteler 
Dingelſtedt und Selberg ſich betheiligten, dichtete „den 
ſterbenden Jüngling“, welcher von den Genoſſen höchlich 
bewundert ward und begann außerdem, den ſtaatlichen 
Angelegenheiten ſeine lebhafte Theilnahme zuzuwenden. 
Die Welt war noch voll des Freiheitsrauſches, welcher 
der franzöſiſchen Julirevolution gefolgt war: ſie roch 


) Ich habe mir erlaubt, hier dem Gedächtniß des Dichters zu 
Hülfe zu kommen hinſichtlich der Farben, welche nicht „grün⸗weiß⸗ 
ſchwarz“ waren. 


8 


„nach friſchgebackenen Kuchen“, wie Heine geſagt hat; und 
hier, in Marburg erhielten unſere Schaumburger, der 
künftige Poet und der künftige Volksvertreter, ihren erſten 
mächtigen politiſchen Impuls: ſie wohnten dem trium⸗ 
phalen Einzuge Sylveſter Jordan's bei, welcher — als 
Vertreter der Univerſität — ſich das höchſte Verdienſt um 
das Zuſtandekommen der kurheſſiſchen Verfaſſung erwor⸗ 
ben; und ſahen, wie der „in offenem reichgeſchmückten 
Wagen ſitzende gefeierte Streiter“ empfangen ward „gleich 
einem Fürſten“. 

Wol ſollte der Rauſch ſich bald in Ernüchterung 
und der Geruch von Kuchen in den von ausgebrannten 
Oellampen verwandeln; Haſſenpflug ward Miniſter und 
Jordan ſaß, ein Gefangener unter Kettenſträflingen, im 
Schloſſe zu Marburg. Um ſo tiefer aber haftete der Ein⸗ 
druck in den Gemüthern der Beiden, von denen der Eine, 
Friedrich Oetker, den beſten Theil ſeines Lebens ange⸗ 
wandt hat, um das Werk Jordan's, die kurheſſiſche Ver⸗ 
faſſung, wieder zu Ehren zu bringen; während der Andere, 
Franz Dingelſtedt, in ſeinem berühmten „Oſterwort“ dem 
Gefangenen von Marburg ein Gedicht gewidmet hat, 
welches in der geſammten politiſchen Poeſie der vierziger 
Jahre nicht viele ſeines Gleichen finden mag. 

Bei ſolcher Aehnlichkeit der Ausgangspunkte zeigte 
ſich doch bald wieder das eigenthümliche Geſchick oder die 
verſchiedene Natur der beiden Kameraden: des Einen, dem 
ſelten ein Sonnenblick des Lebens gegönnt und auch das 
Erreichbare häufig durch irgend einen Zwiſchenfall ver⸗ 
ſchränkt ward; des Andern, der immer die Muſen und 
Grazien zur Seite hatte und ſogar das Examen der Theo⸗ 


8 


logie gleichſam scherzando machte, wiewol er das Stu- 
dium derſelben „ohne ſonderliche Neigung“ betrieben. In 
ſeinen „Münchener Bilderbogen“, wo Dingelſtedt, unter 
dem 18. Dezember 1850, der erſten Aufführung ſeines 
„Haus des Barneveldt“ gedenkt, erinnert er ſich eines 
merkwürdigen Zuſammentreffens von Daten und fährt 
dann fort: „An einem achtzehnten Dezember,“) des Jahres 
1834, machte ich vor der theologiſchen Fakultät der 
heſſiſchen Landes⸗Univerſität Marburg mein Examen und 
wurde „eum laude“ admittirt zu den höheren praktiſchen 
Prüfungen „pro licentia concionandi“. Friedrich Oetker 
ward es nicht ſo wohl: „ich fiel zwar nicht durch“, ſagt 
er, „aber es ging mir, wie es allen übrigen Schaum⸗ 
burgern in jener Zeit erging“, d. h. er erhielt nur den 
Grad der Befähigung für den niederen Vorbereitungs- 
dienſt. Ob die bekannte Freiſinnigkeit der Grafſchaft, 
welche ſich bis auf den heutigen Tag nicht verleugnet hat, 
ihren Söhnen in den Augen der damaligen Regierung eine 
levis maculae nota gab, mag dahingeſtellt bleiben. Doch 
erkennt Oetker ſelber an, daß dieſes ſcheinbare Mißgeſchick 
ſein Gutes für ihn gehabt; es ſchnitt ihm die Möglichkeit 
ab, an dem Rinteler Obergericht hängen zu bleiben und 
verſetzte ihn, zunächſt allerdings in der beſcheidenen 
Stellung eines Kaſſeler Stadtgerichtspraktikanten, auf den 
Boden der Hauptſtadt, wo er in unmittelbarer Nähe der 
maßgebenden Kreiſe und Perſönlichkeiten in ganz an⸗ 


) Hier täuſcht den Dichter ſein Gedächtniß abermals; es war 
nicht der 18., ſondern der 10. December, wie auch aus ſeinem Stamm⸗ 
buchblatt an Fliedner hervorgeht: „Mein Examen den 10. Decbr. 
Collega Fidel!“ 


1 


derem Sinne Gelegenheit hatte, ſich in ſeinen künftigen 
politiſchen Beruf einzuleben. 

Indeſſen begann auch für Dingelſtedt das, was er 
witzig ſeine „Lehrjahre“ genannt hat, „will ſagen“ — 
fügt er in Parentheſe hinzu — „Jahre, in denen ich 
gelehrt habe“. Seine erſte Verſuchsſtation war ein kleiner 
Ort, in der Nähe von Hannover, Ricklingen mit Namen, 
woſelbſt er an einer Erziehungsanſtalt für junge Eng⸗ 
länder „angeblich das Deutſche lehrte, in Wahrheit aber 
das Engliſche lernte.“ Das große Haus Captain Trott's, 
des Vorſtandes der Anſtalt, war ganz auf dem Fuß eines 
vornehmen engliſchen Landſitzes eingerichtet: Bequemlich⸗ 
keit jeder Art war vorhanden und die Verpflegung vor⸗ 
trefflich. Um dieſe Zeit — 1835 — ſaß noch der letzte 
König aus welfiſchem Geſchlecht, Wilhelm IV., auf dem 
britiſchen Thron und das Leben in Hannover hatte durch 
die mehr als hundertjährige Zuſammengehörigkeit und ſtete 
Berührung des Landes mit Großbritannien etwas decidirt 
Engliſches. Viel Reichthum war dort und ein größerer 
Luxus, als andere deutſche Städte gleichen Umfangs ſich 
derzeit verſtatten mochten. Unter des Vicekönigs, des 
Herzogs von Cambridge, mildem Regiment befand man 
fi) wie im goldenen Zeitalter. Die Wiſſenſchaft, die 
Künſte blühten; in Göttingen leuchtete noch das Sieben⸗ 
geſtirn, welches wenige Jahre ſpäter vor des brutalen 
Cumberland eiſerner Ruthe zerſtob und das Theater, 
namentlich die Oper erhob ſich zu hohem Rang unter der 
Leitung Heinrich Marſchner's, welcher eben, in raſcher 
Folge, ſeinen „Vampyr“, ſeinen „Templer und Jüdin“, 
ſeinen „Hans Heiling“ geſchaffen hatte. 


RN. ER 


Man kann ſich denken, wie der einundzwanzigjährige 
Franz Dingelſtedt in dieſem Elemente ſchwamm. „Zu 
thun gab's blutwenig,“ erzählt er ſelber von jener Zeit: 
„ein paar Lectionen am ſpäten Morgen; die Conver— 
ſationsſtunden nach dem „Lunch“ wurden abgehalten beim 
Taubenſchießen im Ricklinger Wäldchen oder beim Angeln 
in dem Bächlein, das dicht hinter dem Hausgarten vor— 
überfloß.“ Abends beſuchte man in corpore das Hof— 
theater. Noch geht die Sage, wie der bildſchöne junge 
Lehrer aus Ricklingen, umgeben von der Schaar ſeiner 
Eleven, den blonden Söhnen Albions, denen er um eines 
Kopfes Länge, wenn nicht an Jahren überlegen war, ſich 
mannigfach nach den Theatervorſtellungen ſehen ließ in 
dem „Britiſh Hötel“, älteren Hannoveranern beſſer be= 
kannt unter dem Namen von „Weſſel's Schenke“. Hier, 
in dem altrenommirten Hauſe, Weinhandlung und Hötel, 
welches in der damals vornehmſten Gegend der Stadt 
gelegen, engliſchen Comfort, ſchwere Teppiche, maſſives 
Tafelgeſchirr ꝛc. mit den gediegenſten Leiſtungen auf kuli⸗ 
nariſchem Gebiete verband, verkehrten die Lebemänner der 
Reſidenz, die jungen Diplomaten und Offiziere, die durd)- 
reiſenden Künſtler, die Sänger und die Schauſpieler, und 
ich fürchte, daß hier auch der junge Dingelſtedt jene Un⸗ 
ſchuld verlor, jenen „glücklichen Urzuſtand des Geſchmackes, 
da Alles, was knallt, Champagner heißt, Alles, was 
glimmt, Habana“. Hier aber auch trieb er nach ſeinem 
eigenen Geſtändniß den Uebermuth ſo weit, daß er „den 
deutſchen Corpsburſchen-Comment einzuführen trachtete 
und in einer ſchönen Mitternacht ſogar, zu unausſprech⸗ 
lichem Erſtaunen und Vergnügen meiner wißbegierigen 


6 


Jugend, den Landesvater ſteigen ließ, ſämmtliche Cylinder 
der Anweſenden durchbohrend mit dem Paradedegen eines 
königl. großbritanniſch⸗hannoverſchen Gardelieutenants“ *). 

Reminiscenzen aus dieſer Zeit — „da Hannover noch 
eine Reſidenz war, in welcher hochrothe Gardelieutenants 
wild wuchſen und der britiſche Löwe mit dem guelphiſchen 
Roß friedlich weidete“ — finden ſich in einer von Dingel⸗ 
ſtedt's erſten Novellen „Kinderliebe“, welche zu Hannover 
in Robby's Conditorei beginnt, eine ziemlich genaue 
Kenntniß engliſchen Lebens verräth und tragiſch, mit 
Selbſtmord, endigt. Die Schilderung von Robby's Con⸗ 
ditorei, welche damals noch an der Leinſtraße, neben dem 
alten Reſidenzſchloſſe lag und eine von Hannover's Nota⸗ 
bilitäten war, iſt ſehr lebendig und offenbar mit großer 
Vorliebe gemacht. Man athmet die von Kuchengeruch er⸗ 
füllte, warme Luft, man hat ganz wieder den Eindruck 
jener Winterabende, wo die rothen Vorhänge dicht nieder⸗ 
gelaſſen waren, die Gaslampe brannte; wo die Laden⸗ 
mamſells geräuſchlos ein- und ausgingen, und Alles ſo 
ſtill war, daß man die Wanduhr ticken und die Billard⸗ 
bälle rollen hörte. Dieſe idylliſchen Abende ſind vorüber, 
auch in Hannover; längſt iſt Robby's Conditorei von der 
alten Stelle verpflanzt in das neue Hannover, wo ſie 
auf dem Theaterplatz dem Denkmal deſſen gegenüberſteht, 
der einſt einer ihrer treueſten Beſucher geweſen: Heinrich 
Marſchner's. Aber die alten Erinnerungen werden wach, 
indem man Dingelſtedt's Schilderungen lieſt; und man 


) Literariſches Bilderbuch, S. 168. 2. Ausg. Berlin, 1879, 
A. Hofmann u. Co. 


meint ihn jelber wieder zu jehen, jung, übermüthig, mit 
dem ganzen Leben noch vor ſich, wie er im Leſeſtübchen, 
an einem der eleganten Pfeilertiſchchen ſitzt, um die deutſche 
Literatur aus Zeitſchriften und Punſchgläſern „genetiſch 
zu ſtudieren.“ 

In den Ricklinger Briefen Dingelſtedt's an Oetker 
ſprudelt und ſchäumt es von Lebensluſt und Weltſchmerz. 
„Ganze Bogen warf er hin“, erzählt der Freund, „ohne 
daß ein Buchſtabe geändert wurde oder ein erheblicher 
Mißklang ſich eingeſchlichen hätte.“ Gewiſſermaßen vor⸗ 
ahnend enthielten ſie ſchon „den Kern und Keim des 
künftigen Lebens und Wirkens des berühmten Mannes, 
die große ſprachliche Gewandtheit und Darſtellungsgabe 
des Lieder- und Novellendichters nicht ausgenommen.“ 
Immer ſtärker regte ſich in ihm das Gefühl deſſen, was 
ſeine wahre Lebensaufgabe ſei, und immer wieder kamen 
die Zweifel. „Es ſollte wol nicht ſo ſein“, ruft er aus; 
„Gott! es wäre auch nicht ſo, wenn ich einen anderen 
vernünftigen, beſtimmten Weg gegangen wäre oder wenn 
mich A. ... lieb hätte.“ Dann aber rafft er ſich wieder 
auf. „Ich bin entſchloſſen“, ſchreibt er am 1. Februar 
1836, „einen Weg nicht ohne Probe liegen zu laſſen, zu 
dem mich mein ganzer Sinn und, irre ich nicht, auch 
mein eigentlicher „Beruf“ allmächtig hinzieht. Ich über⸗ 
ſchätze mich nicht. Aber ich fühle ... daß ich werden 
kann, wonach ich ringe — warum es alſo nicht ver⸗ 
ſuchen?“ Die Worte ſtanden auf roſarothem Papier, zu⸗ 
gleich mit dem Bekenntniſſe, daß er jo ſchön träume. 
„Ich bekomme Briefe und ſchreibe Briefe, ich gehe und 
küſſe und bin ganz glücklich, ſehr, ach ſehr glücklich ... 


ra Se 


Ich weiß ja, daß es ein Traum iſt. Aber Du ſollſt 
mich nicht wecken. Hörſt Du: Du ſollſt nicht!“ Dieß war 
die Zeit einer ernſten Jugendliebe, von welcher wir noch hören 
werden. „Sprich, was ſoll der Drang nach Hohem und Fer⸗ 
nem? Ich wüthe immer gegen das Schickſal ...“ Dann plötz⸗ 
lich zeigt ſich jener Zug von Ironie, welcher ſelbſt in dem 
Geſicht des Jugendlichen nicht fehlen darf. „Ich lebe hier ſehr 
entſetzlich angenehm, faſt beſtändig im Frackrock und von 
Thee“ (vgl. Weſſel's Schenke). In den Ferien kam er 
nach Rinteln. „Ich weiß nicht, welche alte kindiſche 
Sehnſucht mich immer nach dieſem Fleckchen Erde zieht, 
wo meine Erinnerungen begraben liegen,“ ſchreibt er am 
17. Juli 1835 an Vogel. Dieſe betrübten Anwandlungen 
hinderten ihn jedoch nicht, den Hofpoeten bei den Aus⸗ 
flügen zu machen, welche man in die ſchönen Wälder der 
Umgegend, nach der Luhnder Klippe, der Schaumburg und 
Paſchenburg unternahm. „Wir ſtehen hier viel Pläſir 
aus“ — heißt es in jenem Briefe weiter —; „ungemein 
große Land- und Waſſerpartien. Ich freue mich recht, 
wenn ich ſo allein unter dem jubelnden Menſchenhäuflein 
ſtehe, mit meinem ewigen Schmerz in der zerriſſenen 
Bruſt, den keine Seele hier verſteht!“ Nichtsdeſtoweniger 
fand er brauſenden Beifall mit ſeinen jugendlichen Poeſien, 
und hatte bei ſeinen Spottgedichten, wie z. B. einer 
Parodie auf Schiller's Glocke, in welcher er die Rinteler 
„Reſſource“ ſchonungslos durchhechelte, wenigſtens die 
Lacher auf ſeiner Seite, wenn er auch den Zorn der Be⸗ 
troffenen auf ſein Haupt herabbeſchwor. In ſolchen 
Gegenſätzen ringen der gefühlvolle Dichter und der Saty⸗ 
riker in Dingelſtedt's Bruſt, und manchmal, in dieſen 


„ 


frühen Jahren ſcheint es, als ob der Erſtere Recht be— 
halten ſolle. „Geiſtig laborire ich an ſo Vielem,“ ſchreibt 
er an den genannten Freund, „was das junge Deutſch— 
land unſerer Tage drückt und quält. Ein Trieb in die 
Höhe und in die Weite, ohne die Mittel ihn zu befrie— 
digen . ..“ Ob eine Natur mit dieſen einander wider— 
ſtrebenden Impulſen, mit dieſem äußerlichen Drang „in 
die Höhe“, der ſich frühe ſchon ankündigte, und dem gewiß 
nicht weniger aufrichtigen Verlangen, „in die Weite“ zu 
wirken, überhaupt jemals ganz befriedigt werden konnte? 
Ob nicht vielmehr aus dieſem innerlichen Zwieſpalt das 
traurige Wort zu erklären iſt, welches Dingelſtedt faſt 
am Ende ſeines Lebens und nach all' ſeinen Erfolgen 
ausſprach, wenn er in einem Epigramm wünſchte, daß 
auf ſeinem Grabſtein zu leſen ſein ſolle: 

Er hat im Leben viel Glück gehabt, 

Und iſt doch niemals glücklich geweſen. 

Immer aber, dicht neben der bitterſten Verzweiflung, 
bricht der Humor wieder durch, wie der Sonnenſtrahl 
durch's Gewölk. „Für ein Genie hab' ich Dich freilich 
nicht gehalten“, heißt es in dem citirten Brief, „und 
überhaupt keinen Menſchen, außer Shakeſpeare und dem 
lieben Herrgott, letzteren aber nur ſtellenweiſe.“ Vogel 
iſt inzwiſchen nach Leipzig übergeſiedelt und Dingelſtedt 
hätte nicht übel Luſt, ihm dahin zu folgen. Er iſt ſehr 
beſcheiden in ſeinen Anſprüchen. Er wäre zufrieden mit 
einer anſtändigen Stelle als „Corrector, Reviſor ꝛc. in 
irgend einer Buchhandlung, oder als Hauslehrer, oder 
als Begleiter auf einer Reiſe, oder Gehilfe an einem 
Lehrinſtitut, oder als belletriſtiſcher Arbeiter, reſpective 


ra 


Mitarbeiter, Feſtengagirter eines Journals.“ Vogel räth 
ihm zu bleiben, wo er iſt, nämlich in Ricklingen; und 
Dingelſtedt erwidert: „Ja, ich hab' es gut hier, ſehr, 
ſehr gut, allein ich muß Neues haben, immer Neues 
Nur der brennende Wunſch, die Welt zu ſehen und zu⸗ 
gleich eine belletriſtiſche Karriere mir zu eröffnen, veran⸗ 
laßt mich, nach einem anderweitigen Unterkommen an⸗ 
gelegentlichſt umherzuſuchen.“ Der Schriftſteller in Dingel⸗ 
ſtedt beginnt ſich mächtig zu rühren und literariſche Pläne 
gehen ihm beſtändig durch den Kopf. Mit Vogel will 
er einen „Narren-Almanach“ begründen. „Es wäre in 
der That komiſch und köſtlich zugleich, wenn unſere gemein⸗ 
ſchaftlichen Schriftſtellerſünden aus Rinteln ... die Vor⸗ 
boten größerer Erſcheinungen geweſen wären,“ meint er. 
Seine Honorarforderung iſt nicht übertrieben: ſechs Thaler 
für den Bogen — als Mitarbeiter der „Deutſchen Rund⸗ 
ſchau“ war mein lieber Freund Dingelſtedt nachmals 
nicht mehr jo billig! . . . . Freilich hatten die Verhält⸗ 
niſſe ſich mittlerweile geändert. „Wohin und an wen 
ſoll ich meine Manuſcripte ſchicken?“ fragt er Vogel. 
„Ich kann ſie ſchwerlich frankiren, da es mir, wie immer, 
an Geld fehlt.“ Als aus dem „Narren = Almanach“ 
Nichts wurde, verabredete Dingelſtedt mit Oetker die 
Herausgabe eines Journals, welches nach dem Wappen⸗ 
bilde des Heimathländchens „Das Neſſelblatt““) heißen 


*) Das Neſſelblatt (Silber und Roth, quer getheilt, mit zickzack⸗ 
förmiger roth⸗filberner Einfaſſung) ging, ſeitdem Graf Adolf von 
Schaumburg mit Holſtein belehnt worden, in das Wappen von Hol⸗ 
ſtein über und mit dieſem, bis zur Lostrennung im Jahre 1864, in 
das Wappen von Dänemark; war ſeit dem Ausſterben der Grafen von 


a 


ſollte. „Ja, Fritz“, ruft er in einem Brief an Oetker 
jubelnd aus, „Du ſiehſt Deinen alten, langgetragenen 
Plan und unſere frohen Ausſichten erfüllt.“ An den 
Rand dieſes Briefes ſchrieb Oelker ein zweifelndes: „Auf 
wie lange?“ Zuweilen wird er auch praktiſch, denkt an 
eine Gymnaſiallehrerſtelle in Rinteln, an eine Profeſſur 
in Marburg, an „den geiſtlichen Schafſtall im theuren 
Vaterlande“. Auf die Nachricht, daß ein ehemaliger 
College, bisher Hilfslehrer in Rinteln, in gleicher Qualität 
nach Caſſel verſetzt worden, ſchreibt Dingelſtedt an Vogel: 
„Wäre ich nur kein Eſel geweſen, ſo könnte ich jetzt ſein 
Nachfolger werden, könnte in der alten, lieben Heimath 
wohnen, meine kranke ehrwürdige Mutter aufrichten, bei 
dem Mädchen meiner Wahl weilen und in den alten 
Wäldern dichten, ſehnen und träumen — — —“ Dann 
wieder möchte er „den ganzen Schul- und Kirchenplunder“ 
wegwerfen; ſpricht von Heirath und „Wagen und Pfer⸗ 
den“, bis endlich der ganze künftige Dingelſtedt in dieſen 
Worten zum Vorſchein kommt: „Ein paar Jahre Reiſen, 
ein Jahr Studien, eine glückliche Liebe und ein freies, 
faules Leben — hänge mich auf, wenn ich dann nicht 
meinem Namen ein Stück löſchpapierner Unſterblichkeit er⸗ 
kämpfe.“ In ihm war Etwas vom Troubadour, aber 
noch mehr vom modernen Menſchen, der um Frauendank 
und Fürſtengunſt ſingt; und wenn er ſechs Jahre ſpäter, 
in Paris, ſcheinbar Herwegh parodirt, in Wahrheit aber 
nur ſein eigenes Herz ausſpricht in den Verſen: 


Schaumburg und dem theilweiſen Anfall der Grafſchaft im Wappen 
von Kurheſſen und iſt heute noch in dem von Schaumburg ⸗Lippe. 


* 


Ein Chais'chen, ein Livrée'chen drauf, 
Und fährt's auch mit Fiacre⸗Pferden — 
Bruder! die Seele geht mir au: 
Ich muß Geheimer Hofrath werden! — 


ſo ſchreibt er jetzt aus Ricklingen an Freund Oetker, daß 
er ſeinen Weg verfolgen wolle „an Weiberſchürzen ſich an⸗ 
klammernd und mit allzeit fertiger Laute Viſite machend“. 
Wenn es für einen Poeten ſündhafter iſt, als für irgend 
ein anderes Menſchenkind, Carrière machen zu wollen, ſo 
hatte Dingelſtedt wenigſtens den Muth der Offenheit: er 
war einer von Denen, „welche ſich nicht ſchämen zu be⸗ 
ſitzen, was ſie zu erſtreben ſich nicht geſchämt haben.“ 


Nicht gerne verließ Dingelſtedt dieſen Ort ſo vieler 
Freuden, ungebundener Freiheit und frohen Zukunfts⸗ 
träumens, als er — Anno Domini 1836 — urplötzlich ab⸗ 
berufen ward, um proviſoriſch für die Lehrkanzel der 
neuen Sprachen und Literaturen an dem reorganiſirten 
Lyceum Friedericianum in Heſſen-Caſſel einzutreten. Der 
Ruf an ſich war ehrenvoll, von keinem Geringeren aus⸗ 
gegangen als von Haſſenpflug, der dem heſſiſchen Unter⸗ 
richtsweſen ſeine beſondere Sorgfalt zuwendete. Dingel⸗ 
ſtedt folgte nur widerſtrebend; „aber der Vater drängte: 
der Staatsdienſt ſei doch ein ſicheres Brod und biete 
eine feſte Stellung, meinem ſchwankenden, ſchweifenden 
Sinne doppelt heilſam. Armer, guter Papa! Das 
ſichere Brod warf ich nach fünf Jahren der Knechtſchaft 
weg, und eine ſichere Stellung .. .. Welche Stellung 
iſt denn ſicher in unſeren unſicheren Zeitläuften? Nicht 
einmal der Thron, geſchweige denn ein Katheder! Das 


a 


Königreich Hannover ſammt dem Kurfürſtenthum Heſſen, 
wo ſind ſie heute? Afflavit Deus, dissipati sunt!“ 

Als er Ricklingen verließ, da hatte ſich Dingelſtedt 
bereits die literariſchen Sporen verdient, und zwar in 
einem kritiſch⸗äſthetiſchen Journal, welches mit dem paus⸗ 
backig⸗volltönenden Namen „Die Poſaune“ damals und 
noch lang in Hannover unter des älteren Harrys' Leitung 
erſchien. Dieſer, weiteren Kreiſen auch heute noch be— 
kannt als der Bearbeiter des ſeiner Zeit vielfach auf- 
geführten und neuerdings als Operntext wieder aufge⸗ 
friſchten Schauſpiels „Das goldene Kreuz“, hatte das Blatt 
zum gewichtigen Vertreter aller ſchön-geiſtigen Intereſſen 
in Hannover gemacht, was freilich den ebenſo geiſtreichen 
als boshaften Marſchner nicht abhielt, ſeinen Witz an 
demſelben zu verſuchen. „Harrys,“ fragte er eines Tages, 
als er die ſtadtbekannte Perſönlichkeit in Robby's Con⸗ 
ditorei, jenem bereits genannten literariſch-künſtleriſchen 
Vereinigungspunkt des vormärzlichen Hannovers traf, 
„was iſt der Unterſchied zwiſchen Eurer Poſaune und 
der des jüngſten Gerichts?“ Der Angeredete verſetzte, daß 
er es nicht wiſſe; worauf Marſchner: „ich will es Euch 
ſagen: Bei der Poſaune des jüngſten Gerichts wachen die 
Todten auf und bei Eurer Poſaune ſchlafen die Lebendigen 
ein.“ Ich habe „die Poſaune“ kaum noch aus eigner 
Anſchauung gekannt, aber ich weiß, daß Dingelſtedt ſich 
ihrer mit derſelben Empfindung erinnerte, welche ich aus 
demſelben Grunde, für ihre Nachfolgerin, die von dem 
jüngeren Harrys, dem trefflichen Ueberſetzer und feinſinnigen 
Literaturkenner, redigirte Hannover'ſche „Morgenzeitung“ 


hege. Die Welt müßte ſehr heruntergekommen ſein, wenn 
Rodenberg, Heimatherinnerungen. 4 


. 


auch die Poeten undankbar werden und des Blattes 
jemals vergeſſen könnten, welches ihre erſten Verſe ge⸗ 
druckt hat! 

Unter den glücklichſten Vorbedeutungen erreichte Dingel⸗ 
ſtedt die vaterländiſche Reſidenz, für Heſſens Söhne da⸗ 
mals der Inbegriff aller Herrlichkeit auf Erden. Es war 
Frühling, 1836; der Maihimmel lächelte dem Einziehen⸗ 
den. „Da keimte in mir wol ein brennendes Streben,“ 
ſagt er in Erinnerung an dieſe Zeit, „der ſchönen Hei⸗ 
math, der reichen Natur, der prächtigen Stadt und nicht 
blos den ſchönen, reichen, prächtigen Menſchen darin, ſon⸗ 
dern auch den Armen und am Ende Allen etwas „Be⸗ 
ſonderes“ zu werden.“ ... Und in der That, Dingel⸗ 
ſtedt brachte Leben und Bewegung mit ſich nach Kaſſel; 
„mir kam er wie ein Labetrunk in der Wüſte,“ heißt es 
in Oetker's Buch; „und ich habe noch lebhaft den ſonnigen 
Morgen in der Erinnerung, wo ich ihn von meinem 
Lieblingsplatze des Weinbergs aus der Aue und dem 
Fuldathale vorſtellte.“ 

Zwar hatte man es höheren und höchſten Ortes übel 
vermerkt, daß der jugendliche Gymnaſialhülfslehrer bereits 
für ein ſchöngeiſtiges Blatt in Hannover gearbeitet; auch 
machten ihm ſeine Schüler zuerſt nicht wenig Sorge. 
Burſche ſaßen in den beiden oberen Claſſen, älter als er 
ſelber, mit ſtattlichen Backenbärten und gelehrten Brillen⸗ 
gläſern, vor denen er ſich im Stillen fürchtete. Zudem 
war durch Miniſterialreſcript in den heſſiſchen Gymnaſien 
zwangsweiſe das trauliche „Du“ eingeführt, das weiland 
auch in der preußiſchen Landwehr herrſchte. „So oft ich 
mich“ — erzählt Dingelſtedt im „Literariſchen Bilder⸗ 


Rt. 


buch“ — „den bemooſten Häuptern gegenüber ſchüchtern 
und halblaut darin verſuchte, — „Kolbe, überſetze Du 
nun die nächſte Periode“, oder: „In Deinem theme ſind 
ſieben Fehler, Harnier“ — beſorgte ich ein gleich vertrau— 
liches Echo: „Mach's beſſer, Dingelſtedt“. Doch ereignete 
ſich nichts Dergleichen, und der Schulmeiſter und Poet 
verlor weder den Humor, noch ließ er die Feder 
raſten. 

Die Leichtigkeit, mit welcher Dingelſtedt, jetzt 22 Jahre 
alt, zu produciren beginnt, iſt wahrhaft erſtaunlich. Nulla 
dies sine linea. Wohin man blickt, in Zeitungen und 
Zeitſchriften, in Almanachs und Taſchenbüchern: überall 
Skizzen und Kritiken, Novellen und Gedichte von ihm. 
„Die Au hatte ſo viele, viele Nachtigallen, meint' ich, und 
Finken und Spatzen, die zahm und geſellig aus weißen, 
weichen Frauenhänden ihre Krümlein naſchten und den 
blaſenden Gardemuſikanten zutraulich in das Notenblatt 
guckten. Aber der Friedrichsplatz und der Königsplatz 
und die ganze Stadt hatte keine Nachtigall, kaum einen 
Fink ... Darauf fing ich an zu zwitſchern, wahrhaftig 
aus vollſter Bruſt.“ Kaum hatte er ſich umgeſehen, ſagt 
Oetker, ſo erſchienen in Lewald's Europa „Kaſſeler 
Bilder“, und Alles gerieth in Gährung. Glänzend waren 
die Honorare nicht; die Zeitung für die elegante 
Welt zahlte 10, die Abendzeitung Theodor Hell's 
8 Thaler für den Bogen. Aber das Schreiben an ſich 
ſelbſt war eine Luſt. Im Jahre 1838 erſchien ſein erſtes 
Buch: „Frauenſpiegel. Von Franz Dingelſtedt. Nürn⸗ 
berg, bei Johann Leonhard Schrag.“ Das Eröffnungs⸗ 


gedicht: 
4 * 


Drei Schifflein treibt auf blauem Plan 
Das Leben auf und ab — 


findet ſich in der Geſammtausgabe wieder, freilich mit 
den beſſernden Zügen einer erfahrneren Hand. Dann folgt 
eine Dichtung in Hexametern und im Tone von Voßens 
Luiſe: „Frauenlieb und Leben. In fünf Bildern“; dann 
eine Novelle in zwei Büchern: „Räthſel der Liebe“ und 
dann ein „Roſenkranz für Liebende“, neunzehn Sonette, 
alle von außerordentlicher Formvollendung, einige von 
hoher Schönheit, obwol der Dichter leider keines in eine der 
ſpätern Sammlungen aufgenommen hat. Dingelſtedt's 
urſprüngliches Empfinden iſt das lyriſche; doch der Spott 
und die Satyre kommen hinterdrein und ſeine Roſen haben 
ſcharfe Dornen. 

Hier in Kaſſel trafen ſich die alten Freunde von 
Marburg wieder, Corpsbrüder und Mitkneipanten, hielten 
regelmäßige Verſammlungen und führten, Jeder von ihnen, 
den Namen eines Potentaten. Oetker war der König von 
Schweden, Dingelſtedt der Sultan, ein Dritter der Biſchof 
in partibus infidelium, und ein Vierter gar der Kaiſer 
von Deutſchland. Daneben hatte ſich eine engere Ver⸗ 
bindung und zu anderen ernſteren Zwecken gebildet, ein 
literariſches Kränzchen, „die Stiftshütte“ genannt, mit 
neun Mitgliedern, unter welchen — außer Dingelſtedt und 
Oetker — Muſiker und Maler waren, der Baumeiſter 
Engelhard, Bettina's alter Freund, und der junggeſtorbene 
Schulz — „unjer Guſtav Schulz, unſer Lyriker, die Lerche 
des kleinen Sängerkreiſes“. Als Dingelſtedt, fünf Jahre 
ſpäter, bei der Heimkehr aus der Fremde, die Nachricht 
von ſeinem Tod empfing, da ſchrieb er einen „an den 


8 


Redacteur des Salons“ (damals Friedrich Oetker) adreſſir⸗ 
ten Artikel „Eine Kondolenz“, in welchem er den Schmerz 
um den Verluſt des gemeinſamen Freundes Ausdruck gibt. 
„So iſt denn die heilige Neunzahl, deren Bedeutung wir 
ſcherzhaft und ernſthaft wie ein erwünſchtes Zeichen 
nahmen, ſchon zerſtört und nicht genug, daß der Kranz 
vaterländiſcher Dichter und Dichtergenoſſen ſo bald zer— 
ſtückt und zerpflückt wurde, muß eine ihrer verheißungs⸗ 
vollſten Blüthen, auf Nimmerwiederſehn, Nimmerwieder⸗ 
erſtehn, von dem frühherbſtenden Stamme niederfallen ... 
Weißt Du noch, er war es, der mir bei meinem Ab- 
ſchied in Eurem Kreiſe — ein unvergeßlicher Abend, ſo 
voll und ſo toll, wie ich ſie ſeitdem nicht mehr kenne — 
den letzten Dichterſegen mitgab, vierzehn ſinnige, innige 
Zeilen, die nun auch vergilbt und vergeſſen, daheim ruhen 
unter meiner kleinen Verlaſſenſchaft. .. O, es waren 
unſer nur Neun, Kinder einer Scholle beinahe, Wanderer 
zu einem Ziele; und wie vereinzeln ſich jetzt ſchon unſere 
Wege ... Fritz, es iſt ein hartes Wort! Der Herbſt 
ſchüttelt mich, daß ich in tiefſter Seele erbebe und zuſam⸗ 
menfröſtele. Hänge, der Du nach mir die dankbare Aufgabe 
ergriffen haſt, die alte „Stiftshütte“ zu hüten, hänge einen 
Flor um das Bild unſerer Göttin am Hochaltar, um die 
heilige Kunſt; ſie hat einen edlen, lieben Sohn verloren.“ 

Aus dieſem Kreiſe, als er noch in ſeiner Blüthe 
ſtand, und „bei Luhmann, oder bei Schreiber, oder im 
„Landgrafen Carl“ oder im „heſſiſchen Hofe“ um den 
runden Tiſch ſich ſammelte“, ging das „Heſſiſche Album 
für Literatur und Kunſt, herausgegeben von Franz Dingel⸗ 
ſtedt“ hervor (Caſſel 1838). Der erſte Abſchnitt, welcher 


die Gedichte der Vereinsmitglieder brachte, führte den 
Titel „Die Stiftshütte“, mit dem Motto: „Eintracht 
hält Macht“, und der „Zimmerſpruch“ war von Dingel⸗ 
ſtedt: 

Der Tempel ſteht — herein mit Allen, 

Die heit'rer Kunſt ſich ſinnig weih'n, 

Die ſich im Schönen noch gefallen, 

Doch ohne Ernſtem fremd zu ſein; 

Herein mit Jedem, nah' und ferne, 

Im vielgeliebten Vaterland, 

Der je in's dunkle Leben gerne 

Der Dichtung grüne Kränze wand! 


Aus der Entfernung hatten Heinrich Koenig, welcher 
in Hanau, und der alte Graf Bentzel-Sternau, Dalbergi⸗ 
ſchen Andenkens, welcher auf ſeinem Gute bei Hanau 
lebte, dem jungen heſſiſchen Dichterbund ihre Sympathien 
durch Beiträge zum „heſſiſchen Album“ kundgethan. „Am 
Jahrestage der Stiftung des Vereins,“ ſo erzählt Fried⸗ 
rich Oetker, „am 20. October 1837, ward das Erſcheinen 
deſſelben gefeiert. Beurmann hielt eine witzige Taufrede; 
ich lieferte eine ſcherzhafte Geſchichte des Kränzchens und 
des „zweimaligen Fluchtauszugs“, ſowie der Entſtehung 
des Albums. Insbeſondere wurde auch der zahlreichen 
Beiträge gedacht, welche leider hatten zurückgelegt werden 
müſſen, darunter „ein Blick in den Haufen“ von unjvem 
älteſten Mitarbeiter, dem Grafen Bentzel⸗Sternau.“ 


Das „Album“ iſt von einem durchaus harmloſen 
Charakter, und ſpecifiſch „heſſiſch“ darin find nur die 
„Vaterländiſchen Sagen“, unter denen die Ballade „Der 
Scharfenſtein“ von Dingelſtedt obenan ſteht. Es iſt eine 


der beiten, welche wir von ihm haben, voll Kraft und 
Feuer, markig im Rhythmus und Bau der Verſe. 
Im Scharfenſtein gen Mitternacht erwacht ein heimlich Leben, 
Wie Hufſchlag und wie Schwerterklang hörſt Du's tief drinnen 
beben. 

An dieſem Berge ward einſt die beſte Schlacht geſchlagen, 
in welcher Roma's Adler, ſieggewohnt, im deutſchen Staube 
ſanken. „Barbaren hier, Barbaren dort“ — kein Ausweg 
mehr 

Da warf ſich in der höchſten Noth mit flehender Geberde, 

Der Imperator ſtolz zu Roß hernieder an die Erde: 

So rette du, du beſter Gott, du größter uns von Schande, 

Berg, nimm uns auf, ein freies Grab in dem Barbarenlande! 
Und horch! zur Rechten donnert's laut. Es blitzt aus Jovis Brauen, 
Es ſpaltet ſich im Nu der Berg, entſetzlich anzuſchauen — 

Freund und Feind ſind verſchlungen, und über ihnen, 

ſtarr und ſtumm, ſchließt ſich der Scharfenſtein. 
Doch unten gegen Mitternacht erwacht; ein heimlich Leben, 
Dann müſſen aus geborſtner Gruft die Römer ſich erheben. 
Sie ziehn und ziehn, gen Süden hin, ein langes Heer von Leichen, 
Und ziehn und können nimmermehr ihr Heimathland erreichen. 

Als am 8. März 1878 das Rinteler Gymnaſium 
eine Art von Feier veranſtaltete für die Drei, welche dieſer 
Anſtalt einſt als Schüler angehört, nämlich Franz Dingel- 
ſtedt, Friedrich Oetker und einen Dritten, welchen zu 
nennen — wie unſer alter Marburger Pandektenlehrer, 
Prof. Konrad Büchel zu jagen pflegte — die Beſcheiden⸗ 
heit mir verbietet, da ward von einem Primaner „Der 
Scharfenſtein“ declamirt und der Name des Dichters 
prägte ſich einer neuen Generation ein, welche denſelben 
in Ehren halten wird! 


2 36 er 


Dingelſtedt hatte von der poetiſchen Begabung ſeines 
Freundes Oetker keine geringe Meinung. „Ich kann 
Fritz Oetker,“ ſchrieb er an Vogel, als es ſich um jenen 
früher erwähnten, aber nicht zu Stande gekommenen 
Almanach handelte, „ins Intereſſe ziehen, der einige köſt⸗ 
liche Gedichte ernſten Inhalts liegen hat.“ Eines der⸗ 
ſelben, die noch aus Marburg ſtammende Elegie vom 
„ſterbenden Jüngling“ erblickte denn auch im „Heſſiſchen 
Album“ endlich das Licht der Welt und ward von Dingel⸗ 
ſtedt, der eine beſondere Paſſion für dieſes Gedicht des Freun⸗ 
des hatte, häufig in geſelligen Kreiſen vorgetragen, „wenn er, 
wie dieß mit Rückſicht auf ſeine herrliche Stimme geſchah, 
zum Declamiren aufgefordert ward“. Der „Sterbende“ 
war ganz in der Matthiſon'ſchen Manier, und Niemand, 
wie Fr. Müller in ſeinem intereſſanten Memoirenwerk 
„Kaſſel ſeit ſiebzig Jahren“ ſagt, vermuthete damals noch 
hinter dem jungen Advocaten, „der ſich in der elegiſchen 
Dichtform verſuchte, den ſpäteren politiſchen Agitator von 
ſo großer Bedeutung für das Heſſenland. Denn außer 
ſeiner Advocatur ſchien er nur äſthetiſchen Beſtrebungen 
zugethan, was ſich auch darin zeigte, daß er eine aus 
jugendfriſchen Elementen zuſammengeſetzte Geſellſchaft bei⸗ 
derlei Geſchlechts gründete. . .. Feenhafte Bälle wurden 
gegeben, Comödie geſpielt und lebende Bilder vorgeführt. 
Noch heute wird der „Oetkerei“, wie die Geſellſchaft nach 
ihrem Gründer und belebenden Factotum genannt wurde, 
als einer ſchönen Reminiscenz aus jenen Tagen gedacht.“ 
„Ich, der ich niemals tanzte!“ ruft Oetker mit einem 
Seufzer in ſeinen Lebenserinnerungen aus. In einem, 
von ihm der „Oetkerei“ gewidmeten Neujahrsliede hieß es: 


7 


Und uns Allen blüh' ein Loos 

Ohne Schuld und ohne Schulden: 
Und bis Deutſchland eins und groß, 

Blüh' uns — die Geduld im Dulden! 


Das war für eine Societät, in welcher der Kaiſer 
von Deutſchland Sitz und Stimme hatte, gewiß ein 
recht mäßiges Verlangen. Doch hatte man, als dieſes 
Lied geſungen ward, bereits Fühlung mit einer neuen 
Literaturmacht gewonnen, als deren Abgeſandter gleich— 
ſam und bevollmächtigter Miniſter Eduard Beurmann 
in Kaſſel erſchien. 

Beurmann, ein Bremer Advocat, der eine Schauſpie⸗ 
lerin geheirathet und, dem Künſtlerdrange derſelben nach⸗ 
gebend, ſeine Vaterſtadt verlaſſen hatte, um ſich der 
Publiciſtik zu widmen, war zunächſt mit Gutzkow, während 
deſſen erſten Frankfurter Aufenthalts (1835) in Verbin⸗ 
dung getreten, dorthin übergeſiedelt und Mitarbeiter an 
dem von jenem redigirten „Literaturblatt“ zum „Phönix“ 
geweſen. Dann, nachdem Gutzkow in Folge der „Wally“ 
von Menzel denuncirt worden war und eine dreimonat⸗ 
liche Haft in Mannheim verbüßt hatte, begründeten Beide 
zuſammen den „Telegraphen“, der ſich aber in der freien 
Stadt am Main nicht halten konnte. Schon 1837 wandte 
ſich Gutzkow mit ſeiner Zeitſchrift nach Hamburg, und 
Beurmann ging nach Kaſſel, wo er den aufſtrebenden Ge⸗ 
noſſen, die er hier fand, den erſten perſönlichen Impuls 
des „neuen Deutſchlands“, der „jungen Literatur“ mit⸗ 
theilte. Dingelſtedt erwähnt ihn in ſeinem Vorwort zum 
„Weſerthal“ als Verfaſſer von „Skizzen“, in welchen er 
der alten Hanſeſtadt „ein dankbarliches Denkmal“ geſetzt 


En RB: 


habe. Aus dieſer landsmannſchaftlichen Anknüpfung er⸗ 
gaben ſich bald literariſche Beziehungen von außerordent⸗ 
licher Intimität. 

Bis zum Jahre 1848 gab es in Heſſen nur eine 
officielle Preſſe, die „Kaſſelſche Allgemeine Zeitung“, 
welche mit 5—600 Abonnenten ihr Daſein friſtete und 
in dem kleinen Format erſchien, das damals üblich war. 
Wie gut ich mich ihrer noch erinnere, wenn ſie, mehrere 
Tage alt, in unſer abgelegenes Städtchen kam und trotz 
des weiten Weges aus der Reſidenz in die Grafſchaft, 
immer noch mit dem Geruche feuchten Papiers! Daneben 
exiſtirte noch der „Bote aus Kaſſel“, auf welchen zu 
abonniren alle Gemeinden von Amtswegen gezwungen 
waren und das amtliche „Wochenblatt“, das „Wurſtblatt“ 
genannt. Nun ward verſucht, ein unabhängiges Organ 
der öffentlichen Meinung zu ſchaffen, und am 15. Mai 
1837 erſchien die erſte Nummer der „Kurheſſiſchen All⸗ 
gemeinen Landeszeitung“, mit zwei Beiblättern, einem 
belletriſtiſchen „Die Wage“, und einem volkswirthſchaft⸗ 
lichen „Neueſte Nachrichten“ für Handel und Gewerbe. 
Es war, nach damaligen Begriffen, eine Zeitung im großen 
Styl, auch in großem Format, täglich erſcheinend; Beur⸗ 
mann war der Leiter des politiſchen Theils und Dingel⸗ 
ſtedt, wie Oetker ſich ausdrückt, „lieferte das Hauptgewicht 
in die Wage“. — Das Blatt exiſtirte nur ſechs Monate; 
mit der Nummer 183 vom 14. November 1837 ging es, 
ohne jede weitere Notiz, zu Grabe. Doch iſt ein Blick 
in die vergilbten Blätter der „Wage“ heute noch inter⸗ 
eſſant. Hier haben wir Dingelſtedt in jeglicher Geſtalt: 
als Lyriker und Balladendichter, als politiſchen Dichter, 


2 


als Novelliſten, als Touriſten (wenn auch die Reife frei- 
lich nur bis Hannoverſch-Münden ging), als Theater⸗ 
kritiker und als Bücherrecenſenten, und überall voll 
Geiſt, Keckheit und Witz. Hier auch wird zuerſt 
evident, daß er ſich dem jungen Deutſchland angeſchloſſen 
hat, allerdings mit Auswahl. Von Gutzkow, der faſt in 
jeder Nummer ein paarmal vorkommt, wird mit unbe- 
dingter, von Laube mit bedingter Verehrung geſprochen. 
In einem Artikel über Mundt's „Dioskuren“ wird gegen 
„das junge Berlin“ polemiſirt und von demſelben geſagt, 
daß es „die verſprengten, eingeſchüchterten, verſteckten, ab— 
geſchworenen Reſte des jungen Deutſchlands“ in ſich auf— 
genommen habe und „das eigentliche Neſt, der Frucht- 
knoten einer ſogenannten Clique“ ſei, „die ſich gern geltend 
machen möchte“. Der Widerwillen gegen Berlin zeigte 
ſich ſehr früh ſchon in Dingelſtedt's Leben und ward ſehr 
ſpät erſt überwunden. Es war das eben auch eine heſ— 


Dieſe Dinge ſind vergeſſen; aber nicht vergeſſen 
ſind, noch werden ſie es jemals ſein, die „Spaziergänge 
eines Kaſſeler Poeten“, welche der damalige Gymnaſial⸗ 
Hülfslehrer gleichfalls zuerſt in der „Wage“ veröffentlichte. 
Sie machten ſofort das größte Aufſehen und gehören heute 
noch zu den ſchönſten Stücken von Dingelſtedt's Dich⸗ 
tungen. | 

Solchen Geſang hatte man in der alten Stadt der 
Landgrafen und Kurfürſten bis dahin nicht vernommen; 
ſo ſchneidig und ſcharf bei ſo viel Grazie; voll bewun⸗ 
derungswürdiger Beherrſchung der Form und der Sprache, 
voll übermüthig guter Laune, mit einer Wendung des 


Verſes vom burſchikoſen Scherz übergehend zu dem Ernſt 
des Mannes, welcher claſſiſche Bildung und geſchichtlichen 
Sinn mit dem feinſten Inſtinkt für die Bedürfniſſe der 
Zeit verbindet — und das Alles von einem Dreiund⸗ 
zwanzigjährigen! Erſt kurz zuvor hatte der Chamiſſo⸗ 
Schwab'ſche Muſenalmanach dem jungen Dichter die 
Pforte des deutſchen Parnaſſes aufgethan; aber jetzt zeigte 
ſich ſeine wahre Stärke. Nicht das Sentiment und die 
Paſſion, ſondern das virtuoſe Spiel des Sarkasmus und 
der Satyre war ſeine Sache, nicht das Liebeslied, ſondern 
das Zeitgedicht mit einer Tendenz. Und wie prachtvoll 
auf dieſen langen Zeilen rollt der Vers dahin, — bald 
klingend in reiner Harmonie, gleitend wie die Woge eines 
Fluſſes, bald als ein Katarakt ſich überſtürzend oder 
dumpf grollend, wie fernes Gewitter, durch die Straßen 


jener ſtillen, ſchönen Stadt, 
Die ein Hauch aus Deinem Munde zaubergleich erſchaffen hat. 


Jener Landgraf Friedrich iſt gemeint, der heſſiſche 
Louis⸗Quatorze, deſſen Denkmal auf dem Friedrichsplatz 
zu Kaſſel ſteht, von ſeinen getreuen Ständen ihm ſchon 
bei Lebzeiten errichtet, mit der Inſchrift: „Friderico 
Patria“. 

Weißt Du noch, wie Deine Heſſen einſt für Dich geſtorben ſind. 
Und wie jenſeits der Atlantis ſchläft manch' braves Landeskind? 


— — — — — — — — — — | 


Bit: und Sündengeld, wo blieb es? Fremde Kunſt, wohin 
zerſtreut? - 
Wo die Grazien und Muſen, die ſich Deiner Gunſt gefreut? 
Schöne Trümmer dieſer untergegangenen Welt ſtehen 
noch in der Au, jenem unvergleichlichen Park am Ufer 


ee. 


der Fulda, mit den uralten Bäumen, der grünen Ein- 
ſamkeit von Wieſen und Seen, und dem Blick auf die 
blauen, heſſiſchen Berge. Marmorbad und Marmor— 
bilder — 

Pförtner dieſer Zauberhallen, 
Laßt durch Eure Frühlingsmärchen den entzückten Sänger wallen. 


Aber aufrecht und weithin ſichtbar, als ein Wahr- 
zeichen jener Zeit und Fürſten, welche mit dem Leben 
ihrer Unterthanen Handel trieben und die alſo gewon— 
nenen Millionen für Parkanlagen und Waſſerkünſte ver⸗ 
ſchwendeten, ſteht über dem Oktogon der Wilhelmshöhe 
„lehnend auf der ehernen Keule“ der famoſe Herkules, 
eine Coloſſalfigur aus Kupfer, im Munde des Volkes der 
große Chriſtoph genannt. Dieſen nun, des langen Nichts⸗ 
thuns müde, ergreift in einer Januarnacht Durſt nach neuen 
Thaten. Mit drei gewaltigen > ſchwingt er ſich in's 
Thal hinunter — 


An der Stadt verſchloſſene Thore klopft der Held in wildem 
Grimme: 
„Ich will Arbeit, Arbeit gebt mir,“ alſo fleht die Donnerſtimme. 


Tief beſtürzt verharren die Väter der Stadt, bis der 
Jüngſte derſelben auf den Gedanken kommt, er möge ſich 
ſelbſt Arbeit ſuchen. Und nun ſucht der Rieſe nach der 
Hyder, nach dem Hirſch, dem Eber, den Amazonen und 
ſogar dem Löwen: aber auch dieſen findet er nur 

prangend über Wirthshausthüren, 
Züngelnd auf Acciſe⸗Poſten, auf Papier mit Stempel⸗Tatzen, 
Ausgeprägt auf Heſſengroſchen, die da heißen Strebekatzen. 

Da ſchreit er zum letztenmale drohend: „gebt mir 

Arbeit, eh' ich ſie mir ſelbſt erwähle“; und zitternd und 


1 


zagend wird ihm der Beſcheid: „leiſt' uns denn denſelben 
Dienſt, den dem Augias Du erwieſen.“ 
Und am Morgen ging der Recke ſuchend auf gewohnte Weiſe, 
Aber erſt nach fünfzig Tagen kehrt er heim von ſeiner Reiſe. 
Herr, ſo ſprach er kleinen Muthes, wollt' Euch einen Andren 
dingen, 
So viel Miſt, wie ich gefunden, kann auch Herkules nicht zwingen. 

Dann wieder erſcheint dem Kaſſeler Spaziergänger 
„das Geſpenſt der Kattenburg“, welches aus dem Schutt⸗ 
gerölle gräbt 

— in ſtiller Haſt 
Ein geliebtes ſüßes Etwas, das er ſanft am Zipfel faßt. 

Es iſt der Zopf, der „Marſchallsſtab für Heſſens 
Helden“, an deſſen Anblick in mitternächtiger Stunde der 
Geiſt ſich berauſcht. Und immer herber wird des Dich⸗ 
ters Spott; immer weiter und höher hinauf fliegt ſein 
Pfeil. Er kritiſirt das neue Ständehaus mit ſeiner 
„Schnirkel-Schnörkel⸗ und Pilaſterpracht“, und jagt, es 
wäre beſſer „nicht zum Staate, ſondern für den Staat 
gemacht“. Er ſteht, wenn ringsum Alles ſchläft, auf 
dem Königsplatz, deſſen ſiebenfaches Echo weckend — 

Gellend, ſchwellend, hallend, ſchallend ruft es meinem Rufe nach, 
Siebenmal in weitem Kreiſe ſpaltet ſich ein lautes Wort 
Und die Nacht auf ſchwarzem Flügel weht es in die Ferne fort. 

Und dieſes Wort, welches nur von den Steinen ge⸗ 
hört und von ihnen ſiebenfach wiedergegeben wird, klingt 
es nicht wie ein Seufzer, welchen das Echo der Welt⸗ 
geſchichte nachſtöhnt? Oder — ſo möchte man heute 
ſagen — wie eine Warnung oder Drohung, welche ſich 
nur allzu buchſtäblich erfüllen ſollte. Denn 


BR 


— wo Steine Ohren haben, fällt's vielleicht den Steinen ein, 
Daß auch reden kann zu rechter Zeit ein rechter Pflaſterſtein. 
Von allen hiſtoriſchen Erinnerungen, die ihn hier 
umgaben, lag dem Dichter keine der Zeit nach näher, noch 
bot eine ſeiner Imagination glänzendere Bilder, ſtärkere 
Gegenſätze, ſeiner patriotiſchen Empfindung treffendere 
Vergleiche, ſeiner Satyre ſchneidigere Spitzen als die kurze 
Glorie und der jähe Sturz der Franzoſenherrſchaft in 
Kaſſel. Hier, wo über einem Brunnen die Statue des 
Imperators geſtanden, aus deſſen zerſchlagenem Marmor 
man nachmals den Mantel des Landgrafen auf dem 
Friedrichsplatz geflickt, konnte er lernen, was es heißen 
will „der Cäſar und ſein Glück“; hier konnte er ſich zu⸗ 
rückrufen: 
* — wie jene Herrn⸗Paläſte ſich urplötzlich umgedreht, 
Gleich dem Hahn auf ihrem Dache, wenn der Wind wo anders weht. 
Wie das Bild, das Bild des Kaiſers, jüngſt ein ſtaubumkrochner 


Gott, 
Frecher Fäuſte Spielball wurde und ſein Name Bubenſpott. 


Hier im Geiſte, konnte er noch einmal vernehmen 
a — der ſieben Jahre wankelmüthig Loſungswort: 
Rechts Jérôme und links der Kurfürſt; Franzmann hier, Koſacke 
dort! 

Hier kam ihm der Gedanke des Romans „Sieben 
Jahre“, welchen Dingelſtedt noch während ſeiner Stutt- 
garter Zeit zu ſchreiben begann, mit deſſen Vollendung 
er ſich ſein ganzes ſpäteres Leben trug und den er doch — 
leider! — als ein Fragment hinterlaſſen hat. 

Dagegen ſtammt aus dieſen ſeinen „Lehrjahren“ ein 
anderer Roman, ein komiſcher Roman „Die neuen Argo⸗ 


nauten“, welcher heute wol nur noch in einigen Ecken und 
Winkeln von Kurheſſen exiſtieren mag, ſonſt aber ver- 
ſchollen iſt, da Dingelſtedt ihn nicht in die Geſammtaus⸗ 
gabe ſeiner Werke aufgenommen hat. Und doch erinnere 
ich mich noch gut genug, mit welchem Gaudium ich in 
meiner Gymnaſiaſtenzeit das Buch las — ja, ich ſehe 
das Exemplar aus der Böſendahl'ſchen Buchhandlung und 
Leihbibliothek zu Rinteln noch vor mir, über welchem ich 
damals ſo herzlich gelacht. 

Ich habe den Roman, jetzt, nach ſo langer Zeit, 
wieder geleſen, und muß geſtehen, daß ich ihn bewunde⸗ 
rungswürdig finde, wenngleich aus einem andern Grund, 
als damals, wo er in ſeiner ganzen Urſprünglichkeit und 
Naivität auf mich wirkte. Zugleich habe ich eines Wortes 
gedenken müſſen, welches mir lange nachher Dingelſtedt 
einmal geſagt, daß er jeden jungen Schriftſteller um die 
Dreiſtigkeit beneide, mit welcher ein ſolcher in die Literatur 
hinein ſpringe. Später werde man vorſichtiger, miß⸗ 
trauiſcher, zurückhaltender, bis man vor lauter Ueberlegung 
zu Nichts mehr komme. Das Beſte leiſte man eben un⸗ 
bewußt. In der That hat in dieſem Büchlein, welches 
Dingelſtedt ſchrieb, als er kaum 24 Jahre alt war, ſein 
Talent viel verſprochen, was es nachher nicht gehalten. 
Wer „Die neuen Argonauten“ unbefangen lieſt, würde 
dem Verfaſſer derſelben auf dem Gebiete des humoriſtiſchen 
Romans die größten Erfolge vorhergeſagt haben. Die 
Figur des Herrn Euſebius Trenttelfuß wäre Dickens' nicht 
unwürdig. Beſagter Trenttelfuß, Kaufherr, wie auch 
Marktmeiſter und Mitglied der Orts-Polizei-Commiſſion 
zu Gersfeld (die kleine heſſiſche Stadt Hersfeld) iſt eine 


— 65 — 


Art von continentalem und kleinſtädtiſchem Capitain Cuttle, 
und ſein Laden erinnert an den claſſiſchen „Little Wooden 
Midſhipman“ in „Dombey und Sohn“, wobei jedoch be— 
merkt werden mag, daß es ſich nicht entfernt um eine 
Nachahmung des großen engliſchen Humoriſten handelt, 
deſſen Werk erſt zehn Jahre ſpäter erſchien. Obwol tief 
im Binnenland geboren und anſäſſig, mit Nichts in der 
Nähe, was wie Waſſer ausſieht, außer dem kleinen Fluß 
der Dulfe (Fulda), lebt und webt Herr Euſebius doch 
ganz in maritimen Vorſtellungen; ſein Haus hat das 
Zeichen eines Seeſchiffs und wird auf des Beſitzers aus⸗ 
drücklichen Betrieb „Zum Schnellſegler“ genannt, auch 
alle Rechnungen und Geſchäftsbriefe dieſes Ehrenmannes 
find mit demſelben Sinnbilde verſehen. „Trat man al3- 
dann in den Laden ein, jo waren auch hier viele Zier— 
rathen von Schiffsſchnäbeln, Maſten, Ankern, Tau- und 
Takelwerk u. dergl. mehr angebracht, ja unter der Decke 
ſogar ein ausgeſtopfter Stör und über dem Ladentiſche 
eine junge Walfiſchribbe, welche beiden Reliquien Herr 
Trenttelfuß auf einem Viehmarkte von einer durchreiſen⸗ 
den Gauklergeſellſchaft für einige Naturalien an ſich ge⸗ 
bracht hatte.“ Wenn er oben auf der Leiter ſtand, ſo 
nannte er das „im Maſtkorbe“, der Ladenjunge war der 
Midſhipman und wenn Frau Schleichlein, ſeine Haus⸗ 
hälterin (denn Herr Euſebius war Junggeſell), zum Mit⸗ 
tageſſen rief, ſo hieß es: „Alle Hand an Deck!“ Das 
Innere der Trenttelfußiſchen Gemächer decorirten fernerhin 
die colorirten Kupferſtiche der merkwürdigſten Seeſchlachten, 
ſowie die Bildniſſe ihrer Helden; ſeine Lectüre bildeten 
ausſchließlich ſolche Schriften, die auf das e Be⸗ 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 


SE 6 


zug hatten und ſogar das Gefühl der Seekrankheit wußte 
er ſich künſtlich zu verſchaffen mittels einer Hängematte, 
die auf ſeinem Boden zwiſchen den Trockenſeilen der Frau 
Schleichlein angebracht war. 

Bei der ſeemänniſchen Paſſion dieſes Herrn kann es 
kein Wunder nehmen, daß, als es ſich darum handelt, 
eine Brautfahrt nach Keſſelſtadt (Kaſſel) anzutreten, er 
abſolut verſchmäht, mit der Poſt zu reiſen, wie andre 
Sterbliche, ſondern darauf beſteht, mit einem „Bocke“, 
der Korn geladen hat, den Waſſerweg zu wählen. Die 
Bekanntſchaften, welche Herr Trenttelfuß auf dieſer neuen 
Argo macht und die Abenteuer, welche er und ſeine Reiſe⸗ 
geſellſchaft unterwegs erleben, bilden den Inhalt des luſtigen 
Buches. Voll Leben und Munterkeit, iſt es vortrefflich 
geſchrieben, und wiewol von höchſt einfacher Erfindung, 
doch ganz kunſtgerecht componirt; gemüthliche Scenen aus 
dem Leben der heſſiſchen Kleinſtadt wechſeln ab mit Bil⸗ 
dern aus dem bewegteren und bunteren Treiben der heſ⸗ 
ſiſchen Reſidenz; in wirkſamem Gegenſatze zu der grotesken 
Komik des Marktſchiffs ſteht das poetiſche Liebeleben der 
Jungfer Marianne und des ſächſiſchen Schulamtscandi⸗ 
daten Sebaſtian Brand, des „Epigonen“, der überall und 
immer zu ſpät kommt, wie denn kecke, ironiſche Seiten⸗ 
blicke auf die unmittelbare, literariſche wie politiſche Zeit⸗ 
geſchichte ſich bereits häufig finden. Daß nicht auch die 
Schwächen eines Jugendwerkes, Uebertreibungen und Längen 
vorhanden wären, ſoll wol nicht in Abrede geſtellt werden; 
aber was vor Allem in den „neuen Argonauten“ frappirt, 
iſt die Bildung und Reife des Geſchmacks, die Leichtigkeit 
und Anmuth des Styls, die Schärfe der Beobachtung und 


N 


5 


der ſatyriſche Zug. Letzterer tritt beſonders in dem nur 
ſkizzenhaft hingeworfenen „Magiſter Hudel“ hervor, einer 
Nebenfigur des Romans, welche jedoch für die jugend— 
lichen Leſer deſſelben auf den heſſiſchen Gymnaſien die 
Hauptfigur war. Denn in dieſem Schmarotzer mit dem 
„Pfefferrohr“ und dem „Jambenſchritt“ zeichnete Dingel⸗ 
ſtedt das leibhaftige Conterfei eines gewiſſen Dr. Lobe, 
Lehrers der franzöſiſchen Sprache zuerſt am Kaſſeler, dann 
zu meiner Zeit und noch darüber hinaus, am Rinteler 
Gymnaſium. Er war kein beſonderer Lehrer, aber ein 


witziger Kopf nichtsdeſtoweniger; ein Weimaraner, der 


noch Erinnerungen an die Jenaer Schlacht und an Goethe 


hatte; ein Mann von wunderlicher Figur, dick, unbeholfen 


und mit einem lahmen Bein. Wir hatten keinen ſonder⸗ 
lichen Reſpect vor ihm und groß war die Zahl der 
Unecdoten, welche die Schüler ſich von ihm erzählten. 
Einmal habe er die Schönheit der Männergeſtalt ſchildern 
wollen, dabei ſich aber vergriffen, und ſtatt des geſunden 
Beines den Klumpfuß hervorgeſtreckt. Ein andres Mal 


habe er von einem Gaſtmahl bei dem Director zwei 


Flaſchen Rothwein in den beiden Frackſchößen mitgenom⸗ 
men, beim Abſchied jedoch das Unglück gehabt, daß ſie 
zuſammenſchlugen und — den Reſt kann man ſich denken. 
Dabei war er ein Schöngeiſt und Epicuräer, färbte ſein 
Haar, parfümirte ſein Taſchentuch, trug ſtets einen weißen 
Caſtorhut und hielt auf modiſchen Anzug. In Rinteln 
kam er ſich ſehr deplacirt vor und wie Maria Stuart 
den Wolken, die gen Frankreich ziehen, ſah er jedem Poſt⸗ 
wagen nach, der gen Kaſſel fuhr. Mit dieſem Manne — 
wahrſcheinlich „das große Ypfilon in der Kaſſeler Allge⸗ 
\ 5* 


BE N 


meinen Zeitung“, über deſſen böswillige Kritik des „heſ⸗ 
ſiſchen Albums“ Dingelſtedt in der Vorrede zum „Frauen⸗ 
ſpiegel“ ſich ſo bitter beklagt — geräth Letzterer in eine 
literariſche Fehde; et hine illae lacrymae. Auch ich 
machte meinen erſten Waffengang mit dem Magiſter 
Hudel; aber ich bin nicht ſtolz darauf, habe vielmehr das 
Gefühl jener Britin aus Heine's „Engliſchen Fragmenten“, 
welche im Theater, beim Anſchaun von Shylock's Miß⸗ 
handlung ausruft: „The poor man is wronged!“ Denn, 
außer einem ſchlechten Franzöſiſch, hat er mir Nichts zu 
Leide gethan. — 

Das Kaſſel, welches Dingelſtedt kannte, war enger, 
ſtiller, weltentlegener, als das heutige, welches den Cha⸗ 
rakter der kleinen Reſidenz gegen den der Provinzialſtadt 
mit bedeutender Induſtrie und zunehmendem Proletariat 
vertauſcht hat. Man kennt den Widerwillen des letzten 
Kurfürſten gegen Fabriken in einer Zeit, wo die übrige 
Welt eben durch die Dampfmaſchine ſich umzugeſtalten 
begann; und man weiß, wie das Land aus dieſem Grunde 
wirthſchaftlich zurückgeblieben iſt und der Wohlſtand der 
Stadt gelitten hat. Andrerſeits trat die ſtimmungsvolle, 
contemplative Schönheit Kaſſels um ſo mehr hervor, und 
Nichts ſtörte den jungen Poeten, wenn er gegen Abend 
mit der Cigarre (— niemals ohne dieſe, ſchon damals 
nicht: „wenn ſich um mein Haupt behaglich der Cigarre 
Weihrauch kräuſelt“ —) durch die Au luſtwandelte: 

Froh der Stille, die ſich labend wie ein Sabbath rings verbreitet, 
Und wie Paradieſes⸗Ströme durch die durſtige Seele gleitet. 

Dabei waren die Kaſſelaner ein munteres, gemüth⸗ 

liches, regſames Völkchen, von dem echt mitteldeutſchen 


u 


Typus, mit einer leichten, fremdartigen Beimiſchung, 
welche zum Theil auf die, ſeit Aufhebung des Edictes 
von Nantes hier ſeßhafte „franzöſiſche Colonie“ zurückzu⸗ 
führen, zum Theil jedoch neueren Urſprungs iſt. „Wie noch 
vor kurzer Zeit,“ ſagt Dingelſtedt in ſeinen Bildern aus 
Heſſen⸗Kaſſel (Werke V. 8), „an den Ecken des Königsplatzes 
unverwiſchlich das alte „Place Royale“ hindurchdrang, ſo 
ſind die Erinnerungen an das ſiebenjährige Intermezzo, 
freundliche wie feindliche, bis zum heutigen Tage nicht 
verſchwunden. Ein Tropfen franzöſiſchen Blutes, fran⸗ 
zöſiſchen Weſens iſt in dem Kaſſelaner zurückgeblieben. 
Das geſellige Leben bewegt ſich in raſcheren und volleren 
Pulſen, die politiſche Bewegung des Jahres 1830 ſchlug 
tiefere und höhere Wellen in Kaſſel, als in Darmſtadt, 
in Karlsruhe, ja ſelbſt in Stuttgart oder München.“ 
Schon einmal, unter dem Landgrafen Friedrich II., 
war — wie Heinrich Koenig in ſeinen „Altheſſiſchen 
Silhouetten“ (Heſſiſches Jahrbuch, 1853, S. 6) ſich aus⸗ 
drückt, „ein wiſſenſchaftlich-literariſcher Frühſchein“ auf 
Kaſſel gefallen. Damals waren Georg Forſter und Tho— 
mas Sömmering und Johannes Müller hier — noch 
nicht der Johannes von Müller, der ein Vierteljahr 
hundert ſpäter Staatsſecretär und Generaldirector des 
öffentlichen Lehrweſens unter Jéröme war; der, noch vor 
dem Ende der Franzoſenzeit, ein Opfer ſeiner politiſchen 
Verirrung ward, auf dem alten Kaſſeler Friedhof be- 
graben liegt und dem König Ludwig I. von Bayern nach⸗ 
mals daſelbſt ein Denkmal hat errichten laſſen. Was 
Kaſſel an Sammlungen und Kunſtſchätzen beſitzt, ſtammt 
aus dem vorigen Jahrhundert und der Zeit der Land— 


grafen. Die weltberühmte Gemäldegalerie, welcher jetzt, 
auf der Höhe der Bellevueſtraße, ein herrlicher Renaiſſance⸗ 
bau errichtet worden iſt, war in einem kurfürſtlichen 
Schloß untergebracht und ward als eine kurfürſtliche 
Privatſammlung betrachtet. Nur an hohen Feſt⸗ und 
Feiertagen hatte das Publicum Zutritt; und wie es zu 
den conſtitutionellen Pfingſttags-Vergnügungen der Kaſſeler 
gehörte, Nachmittags die Waſſer auf Wilhelmshöhe ſpringen 
zu ſehen, ſo ging man unverbrüchlich alle Jahre am 
Pfingſttagsmorgen, nach der Kirche, zu den Gemälden. 
Höchſt ergötzlich in ſeinen „Neuen Argonauten“ ſchildert 


Dingelſtedt einen ſolchen Beſuch. „Mit dem Glockenſchlag 


zwölf wird die Bildergalerie eröffnet, aus einer Reihe 
prachtvoller Säle beſtehend. An dem Eingange des erſten 
harrt ein von Gold ſtarrender Livréebedienter. „Nr. 1,“ 
ruft er aus, „die Italiener!“ Ihr tretet ein, wenn Ihr 
ſo glücklich geweſen ſeid, von der Menſchenwelle gerade 
auf die Schwelle des Hauſes geſchleudert zu werden, ehe 
der Thürſteher die hohen Pforten vor dem allzugefähr⸗ 
lichen Schwall wieder zuwarf. Ein hoher Saal empfängt 
Euch; aber die Bilder ſucht Ihr vergebens; denn kaum 
ſeid Ihr eingetreten, ſo fliegt ſchon die zweite Thür auf 
und ein in Silber ſtarrender Livréediener ruft aus: „Nr. 2, 
Niederländer!“ Zu gleicher Zeit wird „Nr. 1, die Ita⸗ 
liener“ rückſichtslos geſchloſſen. Ihr tretet in Nr. 2 ein; 
da öffnet ſich Nr. 3. Ein in rother Broderie ſtarrender 
Livréediener ruft: „Nr. 3, Altdeutſche Schule!“ Athem⸗ 
los ſpringt Ihr aus den Niederlanden nach Altgermanien, 
ein Menſch in gelber Stickerei fängt Euch wie einen Feder⸗ 
ball; „No. 4, Neufranzoſen!“ ruft er und wirft Euch 


„ 


einem Fünften zu, bis Ihr am anderen Ende des Ge— 
bäudes mit Nr. 10 von einem Menſchen in blauer Stickerei 
glücklich zur Hauptthür hinaus und wieder unter Gottes 
freien, mit eiſernen Staketen durchſchnittenen Himmel 
geſchleudert werdet.“ 

Das Einzige, wofür der Kurprinz und Mitregent 
ſich intereſſirte, war das Theater, beſonders die Oper, an 
deren Spitze Louis Spohr ſtand. Nichtsdeſtoweniger regte 
ſich gerade damals das künſtleriſche und dichteriſche Talent 
in Heſſen, wenn es auch keine Förderung fand. Die 
Traditionen der Malerfamilie Tiſchbein waren nicht ganz 
ausgeſtorben. Der Bildhauer Hendſchel formte zu der 
Zeit, wo Dingelſtedt in Kaſſel war, die ſchöne Boni- 
faciusſtatue, welche jetzt den künſtleriſchen Schmuck von 
Fulda bildet. Schon vorher, im Anfang der dreißiger 
Jahre, hatte ein Dichter von ganz eigenartiger Bedeutung, 
Ernſt Koch, ſeine Stimme vielverheißend erhoben; derſelbe, 
welchen Dingelſtedt meint, wenn er, im rpg, 
des Heſſiſchen Albums, die Zeit zurückruft 

— da über Heſſens Gauen 
Das Morgenroth der Dichtung flog, 
Und da durch frühlingsgrüne Auen 
Hubertus mit der Harfe zog. 

Hubertus war der „nom de guerre“, unter welchem 
Ernſt Koch durch ſeine jugendfriſchen „Virgilien“ ſich (1831) 
zuerſt in Heſſen bekannt gemacht hatte. Sein Hauptwerk, 
dasjenige, mit welchem ſein Name leben wird, iſt „Prinz 
Roſa⸗Stramin“ (1834); voll neckiſchen Humors und früh⸗ 
lingshafter Poeſie, fängt dieſes Büchlein erſt jetzt an, in 
weiteren Kreiſen die Beachtung zu finden, welche wir in 


Heſſen ihm lange ſchon geſchenkt haben: von meinem 
Studiengenoſſen, dem inzwiſchen auch verſtorbenen Karl 
Altmüller im Jahre 1872 auf's Neue herausgegeben, iſt 
es ſoeben in ſchmuckſter Ausſtattung zum viertenmal er⸗ 
ſchienen.“) Mit der Heimath zerfallen, hatte Koch ein 
Flüchtlingsleben geführt, in Algier in der franzöſiſchen 
Fremdenlegion gedient, in Spanien gegen die Carliſten ge⸗ 
kämpft und war erſt im Jahre 1837 nach Kaſſel zurück⸗ 
gekehrt. Die erbetene Wiederaufnahme in den heſſiſchen 
Staatsdienſt ward ihm vom Kurfürſten verweigert. Er ging 
nach Luxemburg, wurde Secretär der dortigen Regierung, 
dann Lehrer und ſtarb daſelbſt 1858, ein faſt Verſchol⸗ 
lener. Um die nämliche Zeit, 1837, waren auch die 
Brüder Grimm, unter den Göttinger Sieben aus ehren⸗ 
voller Stellung entlaſſen, wieder in Heſſen erſchienen; und 
wieder ſchmeichelte man ſich mit der Hoffnung, daß Etwas 
geſchehen werde, ſie da zu feſſeln. Es iſt rührend, in der 
Selbſtbiographie der Brüder (Juſti's Heſſiſche Gelehrten⸗, 
Schriftſteller⸗ und Künſtlergeſchichte, Marburg 1831) zu 
leſen, wie ſchmerzlich ſie ſich von der alten, geliebten Hei⸗ 
math getrennt hatten, um nach Göttingen zu gehen, 
weil man ihnen in Kaſſel, nach mehr als zwanzigjährigem 
Dienſt an der Landesbibliothek die Beförderung verſagte. 
Nun waren ſie zum zweitenmal hier und nun ließ man 
ſie zum zweitenmale ziehen. In klangvollen Octaven 
ſprach Dingelſtedt damals aus, was ganz Heſſen bewegte: 


) Prinz Roſa-Stramin. Von Eduard Helmer. (Ernſt Koch.) 
Vierte Auflage. Kaſſel, Georg H. Wigand. — Vergl. Deutſche Rund⸗ 
ſchau, Februar 1882, S. 315. 


Re pe 


So ftanden fie, aus einem Schooß geboren 
Und an derſelben Muſe Bruſt geneigt, 

Zu einem Ziel in Wort und That verſchworen, 
Von einem Lorbeer freundlich überzweigt, 

Von uns vereint beſeſſen und verloren, 
Zweimal begehrt und niemals feſt erreicht, 

Aus einem Guß zwei blanke Erzfiguren 

Auf Thongeſtell, — die Heſſen⸗Dioskuren. 

Ahnte Dingelſtedt das eigne Geſchick, als er ſeinem 
Lande klagte: 

Den Baum entſprießen und nicht wipfeln ſehen, 
Iſt ja dein altes, oft gebüßtes Loos! 

In der That, es war nicht mehr ferne. 

Friedrich Wilhelm konnte ſchon an und für ſich 
keinen Schriftſteller leiden, und er brauchte noch nicht ein- 
mal ein ſo malitiöſer zu ſein, wie dieſer. Er glich darin 
ſeinem Vater, Wilhelm II., welcher auch die ſonderbarſten 
Ideen von den Leuten hegte, deren Geſchäft in nichts 
Anderem beſtand, als Bücher zu ſchreiben. Einſt hatte 
ſeine Gemahlin, die edle, in den Traditionen des preußi- 
ſchen Königshauſes erwachſene Kurfürſtin Auguſta einen 
von ihrer Schweſter, der Königin der Niederlande, ihr 
empfohlenen holländiſchen Schriftſteller von Diſtinction 
zum Hofball einladen laſſen. Als der Kurfürſt erſchien 
und unter der Maſſe glänzender Uniformen einen einzelnen 
Herrn in ſchwarzer Kleidung erblickte, gerieth er in die 
größte Aufregung. Der Oberhofmarſchall ward gerufen 
und erklärte den Zuſammenhang; aber der Kurfürſt be⸗ 
ſtand darauf, daß „der ſchwarze Kerl“ das Local ſofort 
zu verlaſſen habe. Was war zu thun? Auf die ſcho⸗ 
nendſte Manier mußte man den harmloſen Holländer 


8 


hinauszucomplimentiren ſuchen, welchen der Kurfürſt — 
für einen Spion gehalten!“) Noch komiſcher war ein 
Vorfall, welcher ſich etwas ſpäter, ſchon zu Dingelſtedt's 
Zeit, ereignete. 

Jüngſtens iſt im Hoftheater 

Unſerm lieben Landesvater 

Folgendes Malheur paſſirt, 

Wie die Chronik referirt. 

Jeder, der Kaſſel noch unter dem letzten Kurfürſten 
gekannt hat, weiß, mit welcher Ungenirtheit dieſer ſich im 
Theater benahm, als ob er allein darin oder zu Hauſe 
ſei; wie laut er, ſelbſt während der Vorſtellungen ſprach, 
ſo daß man plötzlich, in einer Pauſe, die Stimme des 
Kurfürſten — meiſt in Infinitiven — hören konnte; wie 
er alle Anweſenden mit ſeinem Opernglas muſterte, nicht 
ſelten diejenigen entfernen ließ, die ihm unangenehm 
waren (auch Oetker mußte aus dieſem Grunde einmal 


eine Loge räumen) und wie namentlich die Fremden ſeine 


unbegrenzte Neugier erregten. Da geſchah's denn ein⸗ 
mal, daß 

Durch die fürſtliche Lorgnette 

Blickend von gewohnter Stätte 

Fand der adlerſicht'ge Herr 

Einen Fremdling im Parterr. 


War kein Kerl wie andre Fremde, 
Trug ein blaugeſtreiftes Hemde, 
Und ein tricolores Tuch — 
Gründe zum Verdacht genug. 


) Aus den Tagen eines erloſchenen Regentenhauſes. Hannover, 
Carl Mayer (Guſt. Prior), 1878. S. 28. 


1 


8 


Sein Geſicht von rother Farbe 
Zeigte eine breite Narbe, 

Und der rundgezogne Bart 
Schien verpönter Hambachs⸗-Art. 


Auf der Stirne böſe Falten, 
Aber doch zurückgehalten, 

Fragt der Herr den Kammerherr, 
Wer der Fremdling im Parterr? 


Und der Kammerherr ſchickt's weiter 
An des Fürſten Leibbereiter, 

An den Rath und Adjutant — 
Keiner hat den Kerl gekannt. 

Das ganze Theater geräth in Aufregung; nur Einer 
bleibt ruhig: der Fremdling ſelber, bis Sereniſſimus 
einen Wink giebt, daß er's in höchſter Perſon ordnen will. 

Seiner Diener ſchickt er Einen, 
Vor dem Fremdling zu erſcheinen, 
Und zu fragen frank und frei, 
Wer, woher und was er ſei? 

Endlich kommt der Lakai zurück. 
„Durchlaucht! Dieſer Fremdling,“ ſpricht er, 
„Nennt ſich Johann Jacob Richter, 

Macht in Senf für eignes Haus“ — — 
— „Still ſein!“ — Und der Spuk war aus. 


Dingelſtedt, der ganz der Mann war, um „den Hu⸗ 
mor davon“ zu goutiren, hütete ſich freilich dieſes Gedicht 
zu veröffentlichen, ſo lang er in Kaſſel oder überhaupt in 
Heſſen war: es erſchien erſt im „Kosmopolitiſchen Nacht⸗ 
wächter“. Aber es genügte, wie man geſehn hat, weniger 
als das, um unangenehm zu werden und an allerhöchſter 
Stelle Verdruß zu erregen. Aergerte doch den Gnädigſten 


u ee 


ſchon, wenn er, aus feinem Schloßfenſter, den baumlangen 
Kerl auf der Oberen Königsſtraße mit der Cigarre im 
Munde dem Wilhelmshöher Thore zuſchlendern ſah. Der 
Verdruß ſcheint den Gipfel erreicht zu haben, als derſelbe 
nicht nur ſchreiben und Cigarren rauchen, ſondern auch 
reden wollte. Wir leſen darüber in dem altfränkiſchen, 
aber zuverläſſigen Buche des weiland Staatsraths Wip⸗ 
permann („Kurheſſen ſeit den Befreiungskriegen“, Kaſſel 
1850): „Anregungen und Wünſchen von den ver⸗ 
ſchiedenſten Seiten zu entſprechen, wollte der Belletriſt 
Franz Dingelſtedt in Kaſſel Vorleſungen über die neueſte 
Literatur der Teutſchen halten, wurde aber daran, vielleicht 
aus Beſorgniß vor den Richtungen des jungen Teutſch⸗ 
lands, durch ſeine Verſetzung an das Gymnaſium in 
Fulda verhindert.“ 

Um für den mißliebigen jungen Poeten in Fulda 
Platz zu ſchaffen, mußte ſogar eine Verſchiebung von 
Fulda nach Rinteln, und von Rinteln nach Kaſſel ſtatt⸗ 
finden; und erſt dann brachte die „Kaſſel'ſche Allgemeine 
Zeitung“ vom 21. September 1838 in ihrem amtlichen 
Theil das Folgende: 

„Seine Hoheit der Kurprinz und Mitregent haben 
gnädigſt geruht 

den Gymnaſial-Hülfslehrer Franz Dingelſtedt 

von dem Gymnaſium zu Kaſſel zu dem in Fulda zu 

verſetzen.“ ö 


* 


III. 


Viele Jahre waren verfloſſen und Dingelſtedt lange 
fort, als ich zuerſt nach Fulda kam, in die Stadt Hein⸗ 
rich Koenig's, der hier einige ſeiner vorzüglichſten Romane 
geſchrieben hat und deſſen beſcheidenes Geburtshaus heute 
mit einer Gedenktafel geſchmückt iſt; in die Stadt des 
heil. Bonifacius, in der es gegenwärtig ſehr ſtill iſt. Still 
iſt es in den weiten, prächtigen Räumen fder Reſidenz 
des ehemaligen Hochſtifts; ſtill im Schloßgarten, deſſen 
gewölbte Baumgänge, Roccocofiguren, breite Steintreppen 
und Orangerie noch aus der Zeit der Fürſtäbte ſtammen; 
ſtill auch iſt es in dem Stifte gegenüber. Aber im weiten, 
dunkelblauen Ringe noch wird die Stadt eingefaßt von 
den Bergen der Rhön; und immer, wenn ich an den 
Stationen vorbei, den Frauenberg hinanging, oder, im 
Mai, durch das blühende Geſträuch des Calvarienberges 
nieder zum Thale; wenn der Blick hinausſchweifte zum 
Kirchlein des Petersberges oder nach dem waldgekrönten 


Rauſchenberg, während vom Dom herüber die mäch⸗ 


tige Hoſiannaglocke ſchallte: immer dann hab' ich' an 
Dingelſtedt gedacht, welcher, lange vor mir, dieß Alles 
auch geſehen und — wie ſeine „Rhönfahrten“ (Briefe 


a 


an eine Verlorene) zeigen — weidlich genoſſen hat. 
„Grüne Berge, oben zuweilen ein Kloſter, und von den 
Flanken winken weiße, ſchmucke Häuſer.“ Kein Eindruck 
dieſer alten, katholiſchen Stadt geht ihm verloren. „Neun 
Uhr, Glocken, in langen, feierlich ausholenden Pulſen, 
Wallfahrende, ſo Männer wie Frauen, ein unabſehbarer 
Zug, die Letzten noch in der Kirche, der Erſte mit ſeinem 
Kreuz ſchon ganz oben in der Straße, und Alle ſingend, 
und Jeder in ſeinem Takt, in ſeiner Tonart, ein wirres 
Nach- und Durcheinander ... Und das mußte Alles an 
mir vorüber; und wenn ich eben ruhig in meinem Lehn⸗ 
ſtuhl ſaß und eine Zeile am neuen Romane hinwarf, 
draußen wieder ein Choral.“ Wie manchmal in Fulda 
iſt mir ein Gleiches paſſirt! Gerne machte Dingelſtedt 
Wanderungen in dieſe Berge, „ein paar Dutzend Cigarren 
und George Sand's Indiana in der Taſche,“ wie er es 
in den „Rhönfahrten“ geſchildert hat. Ihn, wenn irgend 
Jemand, hätte der junge Rhön-Club in Fulda zu ſeinem 
Ehrenmitglied ernennen ſollen; denn er war der Erſte, 
welcher die Rhön literariſch bekannt gemacht hat. Seinen 
Aufſtieg zum Kreuzberg, dem St. Gotthard dieſer Gegend, 
mit einem Kloſter und Hoſpiz, will er nicht ohne Führer 
unternehmen und ein ſolcher präſentirt ſich ihm denn auch 
bald mit einem großen Hunde. Auf Dingelſtedt's An⸗ 
frage, ob er auch wol Beſcheid wiſſe im Gebirge, ent⸗ 
gegnet der Mann, im tiefſten Ehrgefühl gekränkt: „Ach, 
lieber Herr, ich hab' ſchon ſo manches Stück Vieh über 
die Rhön gebracht!“ Ich erinnere mich noch, welches Ge⸗ 
lächter in ganz Kurheſſen dieſe Skizze bei ihrem Erſcheinen 
hervorrief. Uebrigens hatte der Mann Recht: denn er 


5 


war ein Fleiſcher, ſein Hund war ein Fleiſcherhund — 
und ſeltſam! der Reiſende hieß Franz, der Metzger hieß 
Franz und der Hund hieß auch Franz — „ein kluges 
Thier,“ ſagt Dingelſtedt, „das mich, ehe wir vertraut 
mit einander wurden, ganz wie einen Rhönhammel be- 
handelte.“ 

Voll überſchäumender Lebensluſt, im ganzen Gefühl 
ſeiner Kraft und Jugend, konnte es freilich nicht fehlen, 
daß Dingelſtedt's burſchikoſes Weſen auch vielfachen An- 
ſtoß erregte, namentlich beim Philiſterium, dem der 
braungelockte Simſon zwar keine Brandfüchſe in das Ge- 
treide jagte, ſonſt aber manches Aergerniß zufügte. Denn 
der Muthwillen dieſes Erziehers der Jugend kannte keine 
Grenzen. Es war, als ob er den Machthabern in Kaſſel, 
die ihn hierher in das Exil geſchickt hatten, zeigen wolle, 
daß er kein Ovid ſei, der um Heimkehr nach Rom bettelt; 
ſondern daß man es ſich auch in Fulda wohl ſein laſſen 
könne. Hier fand er ſeinen Freund Dr. Julius Hart⸗ 
mann als Collegen am Gymnaſium; und auch der andre 
Freund und Mathematiker, Fliedner, war nicht fern. 
„Damals,“ ſo theilt der Letztere mir mit, „ſah ich ihn 
ſeit unſerer Studienzeit zum erſtenmal wieder und war 
erſtaunt über ſeine kräftige, körperliche Entwicklung, welche 
frühere Befürchtungen ſchwinden machen mußte. Ich. 
ſelbſt war damals in Hersfeld, vier Meilen von Fulda 
angeſtellt, und wir drei Junggeſellen, Dingelſtedt, Hart⸗ 
mann und ich, beſuchten uns gegenſeitig öfter und hatten, 
wie einſt in Marburg, manche angenehme Stunde mit⸗ 
einander. Indeſſen fand ich Dingelſtedt, wie in körper⸗ 
licher jo in geiſtiger Beziehung verändert. War die Gäh- 


3 


rung des Moſtes lange zurückgehalten worden, ſo ſprudelte 
ſie jetzt häufig über das rechte Maß hinaus, und trotz 
ſeiner anerkannten Liebenswürdigkeit im perſönlichen Um⸗ 
gang, verurſachte doch ſein Gebahren der Oeffentlichkeit 
gegenüber in dem kleinen Fulda viel Schütteln des Kopfes. 
Ich ſelbſt wurde einſt bei einem ſeiner Beſuche in Hers⸗ 
feld durch ſein burſchikoſes Auftreten gegen das Publicum 
des Landſtädtchens, in welchem ich an der Spitze einer 
kleinen Realſchule ſtand, in eine Verlegenheit gebracht, die 
faſt zum Bruche zwiſchen uns geführt hätte.“ 
Unzertrennlich in Fulda waren Dingelſtedt und Hart⸗ 
mann, letzterer einer der geiſtvollſten Männer ſeines Fachs, 
aber von Figur nicht viel größer als ein Zwerg. Es ſoll ein 
wunderlicher Anblick geweſen ſein, dieſe Beiden, den ganz 


Langen und den ganz Kurzen, Arm in Arm durch die 


holprigen Straßen Fulda's haben ziehen zu ſehen; und 
wer beſchreibt den Schreck der Collegen und das Gau⸗ 
dium der Schüler, als eines Tages Dingelſtedt der Große 
Hartmann den Kleinen (das Hartmännchen genannt) auf 


ſeinen Schultern in's Gymnaſium trug! Ob wahr, ob 


erfunden — dieſe Geſchichte war das Erſte, was ich über 
Dr. Hartmann erfuhr, als er ſpäter, an das Gymnaſium 
zu Rinteln verſetzt, mein eigner Lehrer ward; und ich muß 
zu meiner Schande geſtehen, daß ſie mich mehr zu ihm 
hinzog, als ſeine Wiſſenſchaft. 

Daß jedoch das Spießbürgerthum über ſolche Dinge 
nicht ſo glimpflich urtheilte, kann man ſich wol denken. 
Von dieſer Seite gingen mannigfache Anfechtungen und 
ſogar Pasquille gegen Dingelſtedt aus, wie nachmals in 
Stuttgart und an andern Orten, wenn auch aus ver⸗ 


r 


8 


ſchiedenen Gründen. Heinrich Koenig, welcher noch einige 
Zeit in Fulda mit ihm zuſammen war, widmet der 
genialen Erſcheinung des um 24 Jahre jüngeren Freundes 
in ſeinem „Stillleben“ *) einige der intereſſanteſten Blätter. 
Als liebenswürdiger Geſellſchafter war er bald heimiſch 
in allen Häuſern, in welchen es hübſche Töchter und gute 
Mittageſſen gab; aber man war vor ſeinem Spott nicht 
ſicher und in ſeiner jovialen, ausgelaſſenen Laune ließ er 
ſich oft weit gehen. Zuweilen erſchien er im abgeſchabten 
Rock und alter Studentenmütze auf der Parade. Wenn 
er Etwas ausfindig machen konnte, was die Fuldaer ver- 
droß, jo that er es gewiß. Einmal, während der Carne— 
valszeit 1840 kam es ſogar im dortigen Caſino zu einer 
Scene, bei welcher die Dingelſtedt befreundeten Officiere 
ſchon die Säbel zogen. 

In dieſen an ſich ſo harmloſen, tollen Streichen zeigte 
ſich bereits die ganze Rückſichtsloſigkeit, durch welche 
Dingelſtedt ſich nachmals ſo viele und ſo unverſöhnliche 
Feinde machte — Feinde von einer andern Beſchaffenheit, 
als dieſe biedern Provinzbewohner. Groß aber auch 
war die Zahl Derer, die feſt an ihm hingen und nicht 
mehr von ihm ließen. Er war der Abgott ſeiner Schüler 
und ſelbſt ein ſo geſetzter Mann, wie Heinrich Koenig, 
fühlte ſich lebhaft von ihm angezogen. „Sein Muth⸗ 
wille,“ ſagt er, „auch wo ich ihn ſeiner Stellung nicht 
angemeſſen fand, that doch meinem verdroſſenen Ernſte 


) Ein Stillleben. Erinnerungen und Bekenntniſſe von 
Heinrich Koenig. In zwei Theilen. Leipzig, F. A Brockhaus, 
1861. 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 6 


BE, 


wohl, und wir hatten manche lachende Stunde zu⸗ 
ſammen.“ 

Ein ähnliches Geſchick hatte den damals ſchon in 
ganz Deutſchland zur Geltung gelangten Romanſchrift⸗ 
ſteller, nach Fulda, in eine Art von Verbannung geführt. 
Zur Strafe für die liberalen Anſchauungen, zu denen er 
ſich als Abgeordneter im heſſiſchen Landtag bekannte, war 
Heinrich Koenig im Herbſte 1840 von Hanau hierher ver⸗ 
ſetzt worden und zwar aus dem Finanzfach, in welchem 
er 27 Jahre lang thätig geweſen, in die ganz heterogene 
und untergeordnete Stellung eines Secretärs beim Ober⸗ 
gericht. So weit ging die Willkür der Regierung oder 
vielmehr des Kurfürſten in jener Zeit; und dabei waren 
Fälle dieſer Art nicht einmal etwas Seltenes. Ein Gar⸗ 
niſonprediger, der in Ungnade gefallen, ward zum Archi⸗ 
var umgeſchaffen, und ein Geſtütdirector aus demſelben 
Grunde zu einem Oberrentmeiſter; und der Geſtütdirector 
tröſtete ſich noch mit den Worten: „ich danke Gott, daß 
er (der Kurfürſt) mich nicht zum Prediger gemacht hat!“ “) 

Es leben in Fulda noch einige von Dingelſtedt's 
Altersgenoſſen, Freunde aus der Marburger oder Kaſſeler 
Zeit, und mehrere ſeiner ehemaligen Schüler, Männer jetzt 
in geſetzten Jahren, die ſein Andenken hoch in Ehren 
halten und mit einer Art ſchwärmeriſcher Anhänglichkeit 
von ihm reden. Es ſind ihrer noch da, welche zu er⸗ 
zählen wiſſen, wie ſie ſeine Novellen und Gedichte für 
den Druck copiren mußten; und Einer, gegenwärtig ſelbſt 
Gymnaſial-Oberlehrer in Fulda, und von Dingelſtedt 


) Aus den Tagen eines erloſchenen Regentenhauſes. S. 37. 


auge 


immer ganz beſonders bevorzugt, beſitzt noch heute ſeinen 
Schreibtiſch, ſeinen Seſſel und — ſeine Papierſcheere. Dieſe, 
ein gar gewaltiges Inſtrument, hatte Dingelſtedt einſt, 
abſichtlich oder zufällig, einer Sendung an eine Wiener 
Redaction beigepackt, welche ihm ſeine Manuſcripte unge⸗ 
bührlich zu beſchneiden pflegte; von dort aber mit Proteſt 
zurückgekommen, vermachte Dingelſtedt ſie bei ſeinem 
Weggang von Fulda ſeinem Schüler, der inzwiſchen 
Student geworden und auf Empfehlung des Lehrers eine 
Zeit lang in der Redaction des „Salon“ thätig war. 
Dingelſtedt war drei Jahre in Fulda, vom Herbſt 
1838 bis dahin 1841; und war Ordinarius von Quarta. 
Jedoch legt es von der Vielſeitigkeit ſeiner Begabung und 
Kenntniſſe glänzendes Zeugniß ab, daß er, während er 
mit ſeinen Quartanern den Cornelius Nepos las, und 
ihnen die Anfangsgründe der alten Geſchichte beibrachte, 
zugleich in Tertia den franzöſiſchen Unterricht gab, in 
Secunda Latein, griechiſche Geſchichte und deutſche Litera— 
tur, und in Prima franzöſiſche Literatur lehrte. „Er 
war ein äußerſt anregender Lehrer,“ ſagte mir einer von 
dieſen nunmehr alten Herren, die damals als Knaben zu 
ſeinen Füßen ſaßen, „und wir liebten ihn ſehr; er kam 
ſtets eine Viertelſtunde zu ſpät, unterhielt ſich die folgende 
Viertelſtunde mit den Officieren, die beim Vorübergehen 
unter den Claſſenfenſtern ſtehen blieben, und in der übrig 
bleibenden halben Stunde bezauberte er uns durch ſeinen 
feſſelnden Vortrag ganz und gar.“ Er beſaß eine Manier, 
mit ſeinen Schülern zu verkehren, die ſie vollſtändig 
enthuſiasmirte; ſie ſahen in ihm nicht den Schulmeiſter, 
ſondern immer den alten Studenten. Einmal ward eine 
s 85 


— ——ñ— 


Verbindung unter ihnen entdeckt und eine ſehr langwierige 
Unterſuchung deswegen angeſtellt. Die „Pennäler“ legten 
ſich natürlich auf's Leugnen und behaupteten, niemals ſo 
etwas geſehn zu haben, wie Band und Schläger. Da 
holte Dingelſtedt unvermuthet in der feierlichen Lehrer⸗ 
verſammlung ein altes, von vielen „Landesvätern“ durch⸗ 
bohrtes Cereviskäppchen der „Schaumburger“ aus der 
Taſche hervor, ſteckte die Finger durch die Löcher und 
fragte die hartnäckigen Sünder im Donnerton des Ge⸗ 
richts: „Kennt Ihr das?“ Da freilich mußten ſie die 
Augen niederſchlagend beichten; aber wir wollen hoffen, 
da Dingelſtedt im Concilium ſaß, daß ihnen vergeben 
worden. 

Das Leben in Fulda, wie noch Heinrich Koenig es 
ſchildert, war ein anderes, vornehmeres, geiſtig regeres 
und bunteres, als heute, wo der alten Biſchofsſtadt, 
ſeitdem ſie preußiſch geworden, Eines nach dem Andern 
genommen worden und eigentlich Nichts gelaſſen iſt, als 
das „nix, nox et nebulae“ des altfuldaiſchen Spruches. 
Bis zur heſſiſchen Zeit Reſidenz eines geiſtlichen Fürſten⸗ 
thums, war Fulda nachher Sitz einer Provinzialregierung 
und eines Obergerichts, es hatte ſeine Kreis- und Land⸗ 
gerichtsbehörde, ſein Regiment und ſeine Regimentsmuſik, 
und es hatte, wie zur Staffage des Bildes durchaus ge⸗ 
hörte, ſeine Franziskanermönche, die täglich von ihrem 
Kloſter auf dem Hügel herabſtiegen, ſeine Benedictinerin⸗ 
nen, deren zierliche Filigranarbeit und gewürzige Kuchen 
berühmt waren im ganzen Lande, ſeine barmherzigen 
Schweſtern und engliſchen Fräulein. Ein Abglanz der 
alten fürſtbiſchöflichen Zeit haftete noch an den ehe⸗ 


3 


maligen Paläſten der geiſtlichen Herren und in ihren 
Kellern lagerte manch' eine Perle des Rheingaus und 
Frankenlandes vom Ende des vorigen oder vom Anfang 
dieſes Jahrhunderts, wo Schloß Johannisberg und 
Schloß Santeck noch im Beſitze der Prälaten von Fulda 
war. Lange nach der Säculariſation war „das Weinfaß 
von Fuld“ in gutem Anſehn verblieben; „und keine höhere 
Feſtlichkeit ging vorüber, ohne daß 1822er und 1834er, 
dieſe Haupt⸗ und Ehrenweine kredenzt worden wären,“ 
ſagt F. Zwenger, ein echt Fuldaer Kind, in einem 
Artikel, welchen er dem Andenken ſeines ehemaligen Lehrers 
Dingelſtedt in der „Buchonia“ gewidmet hat. Dieſe Stadt, 
welche die Gebeine des heil. Bonifacius als koſtbarſten 
Kirchenſchatz bewahrt und ihm da, wo ſeine Mönche 
zuerſt die Wildniß des Buchenwaldes an der „Vultaha“ 
lichteten, ein ſchönes Denkmal errichtet hat: ſie ſah auch 
den jungen Ulrich von Hutten, der einſt „in Fulda's 
Kloſterſchule ſaß“, der in einer noch heut erhaltenen Her- 
berge, zum „Bären“ genannt, oftmals abſtieg und deſſen 
Burg in Trümmern auf dem Steckelberg, nicht drei 
Stunden von hier entfernt, gegenwärtig ein beliebtes Ziel 
für die Sommerausflüge der Fuldenſer iſt. Die tolerante 
Praxis des 18. Jahrhunderts hatte dieſe Gegenſätze ge— 
mildert; das erleuchtete Pontificat Ganganelli's, die 
philoſophiſchen Einflüſſe von Königsberg, die literariſchen 
von Weimar hatten nacheinander ſich auch hier fühlbar 
gemacht, in dieſem entlegenen Winkel, welcher dennoch, 
damals mehr als heute, mit der übrigen Welt zuſammen⸗ 
hing. Die große Heerſtraße zwiſchen Leipzig und Frank⸗ 
furt, Berlin und Mainz, Petersburg und Paris ging 


— — 


durch Fulda; die Fremden aus aller Herren Ländern 
machten hier Raſt, anſtatt daß ſie jetzt in Courierzügen 
vorbeifliegen. Der Verkehr in Fulda ſelbſt erhielt dadurch 
einen großſtädtiſchen Anſtrich, welcher ihm jetzt voll⸗ 
ſtändig abhanden gekommen iſt; es beſtand eine Geſell⸗ 
ſchaft, und kein confeſſioneller Hader ſtörte die guten Be⸗ 
ziehungen, welche die verſchiedenen Elemente derſelben ver⸗ 
band. Der damalige Biſchof, Johann Leonard, war ein 
geiſtvoller, leutſeliger und gaſtfreier Herr. Im letzten 
Drittel des vorigen Jahrhunderts zu Hünfeld, nicht weit 
von Fulda, geboren als Sohn eines Bäckers, war Johann 
Leonard Pfaff Hofcaplan des letzten Fürſtbiſchofs, Adal⸗ 
bert III. von Harſtall geweſen. Er hatte noch die Tage 
der opulenten Hofhaltung im Schloſſe geſehen, welches, 
nachdem die Inful und der Fürſtenhut im Jahre 1802 
getrennt wurden, mannigfache Schickſale gehabt, zuerſt ein 
fürſtlich oraniſches, dann ein kurfürſtlich heſſiſches geworden, 
und nach der Annexion im Jahre 1866 in den Beſitz des 
Landgrafen von Heſſen gekommen iſt. Mit dem ſäculari⸗ 
ſirten Fürſtbiſchof war Leonard Pfaff in ein gegenüber⸗ 
liegendes kleineres Palais gezogen, welches nach dem Tod 
Adalbert's III. von Harſtall im Jahr 1814 ein Privat⸗ 
haus ward und etwas ſpäter von dem Curatorium des 
Wallenſtein'ſchen Damenſtifts erworben ward. Die Nach⸗ 
folgerinnen des Entthronten, welcher nur der Gewalt mit 
dem ihm zur Gewohnheit gewordenen Wort: „Es iſt, 
wie's bleibt“ gewichen, waren Damen aus den älteſten 
proteſtantiſchen Adelsgeſchlechtern Heſſens; unerläßliche 
Bedingung der Aufnahme war der Nachweis von min⸗ 
deſtens ſechzehn Ahnen. Seit Mitte des vorigen Jahr⸗ 


ER, OR 
hunderts in dem heſſiſchen Städtchen Homberg von der 
letzten Erbin des 1745 erloſchenen Hauſes Wallenſtein an 
der Schwalm begründet, hatte zur Zeit des Königreichs 
Weſtfalen das Stift, deſſen damalige Dechantin die Lieb- 
lingsſchweſter des Miniſters von Stein, Marianne war, 
einen verhängnißvollen Antheil an den Vorbereitungen 
zum Dörnberg'ſchen Aufſtand genommen und war des— 
wegen von Jeröme aufgelöſt worden. Aber eine der 
erſten Regierungshandlungen des Kurfürſten nach ſeiner 
Rückkehr war die Wiederherſtellung deſſelben und als im 
Jahre 1816 das ſeit 1810 mit dem Großherzogthum 
Frankfurt vereinigt geweſene Fulda an Kurheſſen fiel, 
ſiedelte das Damenſtift hierher über. In den Räumen 
des nunmehr ihnen gehörigen Palaſtes, welchen ſie durch 
Bauten erweiterten und mit einem parkartigen Garten 
umgaben, entwickelte ſich bald eine feine Geſelligkeit, 
während der Bäckersſohn von Hünfeld, nicht lange nach 
der Erneuerung des Bisthums Biſchof von Fulda ward und 
die ſchmuckloſe Curie bezog, welche von grauem Gemäuer 
umgeben, auf der Höhe des Michelsberges ſich an das 
uralte, noch aus der Karolingerzeit ſtammende, vom 
iriſchen Abt Eigil erbaute Kirchlein lehnt. Bis zu Jo— 
hann Leonard's am 3. Januar 1848 erfolgtem Tode be- 
ſtand das ſchönſte freundnachbarliche Verhältniß zwiſchen 
dieſem trefflichen Kirchenfürſten und dem proteſtantiſchen 
adligen Damenſtift, welches der Mittelpunkt der Fuldaer 
Geſellſchaft ward und lange blieb. Jetzt freilich iſt es 
ſehr einſam da; die Stiftsdamen, für welche Fulda 
gegenwärtig nicht viel Anziehendes mehr haben mag, 
kommen nur noch ſelten hierher, und die hochbetagte, 


. 


kränkelnde Frau Aebtiſſin iſt faſt die einzige Bewohnerin 
des mächtigen Gebäudecomplexes. Aber ich erinnere mich 
ihrer anmuthigen und vornehmen Erſcheinung aus einer 
früheren Zeit, wo ich ſelber, während des Winters 1857, 
die Ehre hatte, in das Stift eingeführt zu werden durch 
einen meiner früheren Lehrer aus Rinteln, der damals am 
Gymnaſium in Fulda war und jetzt, wenn ich nicht irre, 
Gymnaſialdirector in einer thüringiſchen Stadt iſt. Einſt, 
in der Tertia zu Rinteln, hatte er mich die griechiſchen Zahl⸗ 
wörter von 1 bis 100, ich weiß nicht mehr wie vielmal zur 
Strafe ſchreiben laſſen; nun aber leuchtete das feine Geſicht 
des geiſtvollen Mannes, indem er mich den liebenswürdigen 
Damen des Stiftes als ſeinen ehemaligen Schüler vor⸗ 
ſtellte und wir hatten einen unvergeßlich ſchönen Abend 
zuſammen. Es war ein Kreis in jedem Sinne des Wortes 
edler Frauen, hochgebildet, voll Verſtändniß und aufrich⸗ 
tiger Liebe für die Kunſt, die Muſik und vornehmlich die 
Literatur. Eine der Damen, Fräulein Sophie von Gilſa, 
hatte ſich als Ueberſetzerin engliſcher Dichtungen und Ro⸗ 
mane (3. B. der „Hypatia“ Kingsley's) einen Namen 
gemacht; und die Schweſter derſelben, Karoline, war 
Aebtiſſin zur Zeit Dingelſtedt's geweſen. Obgleich dieſer 
nun ſchon ſeit ſechzehn Jahren fort war, kam das Ge⸗ 
ſpräch doch bald auf ihn und jede der Damen wußte 
irgend eine luſtige Geſchichte von ihm zu erzählen. Denn 
Dingelſtedt war das enfant gäté des Stiftes geweſen. 
Mehrere nicht veröffentlichte Gedichte von ihm werden dort 
noch aufbewahrt. Eines davon, elegant gedruckt, und mit der 
Anfangszeile: „Ein Blick in die bekannten Thale“ ward 
bei dem Abſchiedsfeſte vertheilt, welches das Stift ihm 


ä 


gab. Ein anderesmal erſchien er als Orgeldreher mit 
einer „Mordgeſchichte“ auf Leinwand, während eine junge 
Dame — gegenwärtig Gemahlin eines gefeierten Dichters, 
der das Anagramm ihres Namens: „Edlitam“ berühmt 
gemacht hat — ein gar trauriges Lied dazu ſang. Drei 
oder vier jener allerliebſten Geſchöpfe, Ferkel genannt, 
hatten nämlich von der grünen Farbe genaſcht, welche 
zum Anſtreichen eines Gartengitters im Stift beſtimmt 
war, und hatten die Schuld ihrer jugendlichen Unerfahren⸗ 
heit mit dem Tode gebüßt. Der Refrain jenes von Dingel— 
ſtedt verfaßten Klaggeſangs „Säulein — Fräulein“ lebt 
noch im Andenken der Fuldenſer. Dieſe Geſchichte jedoch 
hab' ich nicht von den Damen des Stiftes! 

Unter den Familien, welche mit dem Stifte im regſten 
Verkehr ſtanden, nennt Heinrich Koenig den Marquis und 
die Marquiſe de Cubières; „ein fremdes, ausgezeichnetes 
Paar, das damals mehrere Jahre nicht durch Verbannung, 
ſondern aus räthſelhafter Wahl in dem ſo verſteckten Fulda 
lebte.“ Der Marquis, welcher einſt Page am Hofe der 
Bourbonen geweſen, dann als Angehöriger der franzöſiſchen 
Geſandtſchaft in Dresden, eine Comteſſe von Baudiſſin 
geheirathet hatte, war beim Sturze Kaͤrl's X. zurück 
getreten, indem er als Legitimiſt es verſchmähte, unter 
dem Bürgerkönig zu dienen. In dieſem, um in ſeiner 
Sprache zu reden, „exotiſchen“ Hauſe vereinigte ſich Alles, 
was Anziehungskraft auf Dingelſtedt üben konnte: der 
Luxus und ariſtokratiſche Parfüm der höchſten Gejell- 
ſchaftskreiſe, die Tradition feinſter franzöſiſcher Bildung 
und der directe, perſönliche Zuſammenhang mit einer in 
Deutſchland damals noch mächtigen Literaturrichtung. Der 


— :* Re 


Marquis, des Deutſchen durchaus mächtig, hatte lang in 
dem Tieck'ſchen Kreiſe gelebt und ſeine Gemahlin, eine be⸗ 
zaubernde Schönheit von der „blonden Art“, war die 
Nichte des Grafen Wolf Baudiſſin, des Mitüberſetzers 
des Shakeſpeare. Wenn Dingelſtedt, unter den beſcheidenen 
Verhältniſſen von Ricklingen, im Hauſe des Capitain Trott, 
zuerſt von engliſchem Comfort angenehm berührt wurde, 
ſo lernte er hier, im Hauſe des franzöſiſchen Marquis zu 
Fulda den erſten Salon kennen. „In ſeinem Beſtreben, 
als Gentleman zu erſcheinen,“ erzählt Koenig aus jener 
Zeit, „gewann er auf einer Seite eine ungemeine Leich⸗ 
tigkeit für den gebohnten Fußboden und den ſchaukeln⸗ 
den Divan des Salons; auf der andern aber auch einen 
nur zu wohlgefälligen Blick für die oft nichtigen, ſelten 
bedeutſamen Aeußerlichkeiten der Societät.“ Wer Dingel⸗ 
ſtedt's Werke geleſen hat, wird nicht umhin können, hier 
an eine Stelle der „Deutſchen Nächte in Paris“ zu denken, 
welche nicht lange nachher geſchrieben worden iſt und 
faſt wie ein Selbſtbekenntniß lautet: „Das iſt mir immer 
in meiner eigenen Natur ein Widerſpruch geweſen,“ heißt 
es da. „Niemals habe ich eine Befangenheit geſpürt, ein 
unbeholfenes linkiſches Weſen, ein Stammeln und Trip⸗ 
peln, wenn ich unter recht vornehmen, fremden Leuten war. 
Dieß mußte ſo ſein, däuchte mir. Ich fühlte mich be⸗ 
haglich im exotiſchen Duft des Boudoirs, unter dem Licht⸗ 
meer des Salons.“ Das iſt ſein Element: man ſtößt 
ihn hinein, und ſiehe da! — er ſchwimmt. Freilich folgt 
nun ſogleich der „revers* der Medaille: „War ich dann 
wieder auf meine Zelle zurückgekehrt, ſo drückten mich die 
vier engen, kahlen, dunklen Wände mehr als jemals.“ 


ae e 


Wenn ſein Held in die große Oper geht, in das Stehparterre, 
ſo hängen die Augen deſſelben mehr an der erſten Galerie, 
als auf den Brettern. „Dort war meine Welt. Schöne 
Weiber mit nackten Schultern und feurigen Blicken, blaſſe 
Geſichter voll Ueberdruß und Verlangen, voll Reiz und 
Ermüdung. Und Diamanten und Sammet und Seide, 
dunkle, duftende Haare, weiße, duftende Hände. Soll 
mich Gott ſtrafen, aber ich fühlte, daß droben meine 
Stelle war, nicht drunten, wo ſich ein grober Rock an 
mir rieb und ſchmutzige Finger eine verſchimmelte Apfel⸗ 
ſine zerriſſen.“ 

Dieſelbe Sehnſucht, die ſich früher ſchon in den 
Briefen an Oetker und Vogel ausſprach — Reiſen, Schrift⸗ 
ſteller werden, Karriere machen! .. .. „Als Gymnaſial⸗ 
lehrer konnte er kaum die Ferien erwarten,“ ſagt Koenig, 
„um irgend einen Ausflug zu machen. Traf dann die 
Vacanz mit einem pecuniären Vacat zuſammen, fielen die 
Ferien juſt in die Mauſerzeit des Beſoldeten, ſo ſetzte er 
rasch — Novellenfedern an, die ihn manchmal noch über 
die Ferienzeit hinaustrugen. Wir hielten die Unruhe 
des Freundes für Stimmung eines ſchwer zu befriedigen— 
den Gemüths; es ſchien aber mehr als Stimmung, es 
ſchien Beſtimmung zu ſein.“ 

Aus ſpröderem Stoff, als Franz Dingelſtedt, war 
Heinrich Koenig geformt und durch eine Schule bittrer 
Lebenserfahrungen war er gegangen, in welcher ſein Cha= 
rakter ſich geſtählt, ſeine bürgerlich⸗freiſinnigen Tendenzen 
ſich befeſtigt hatten. Er war ernſter in ſeiner Erſcheinung, 
ſchwerer in ſeinen Bewegungen. Der Unterſchied zwiſchen 
Beiden, nicht nur der Jahre, ſondern auch der literariſchen 


8 


Ziele, konnte nicht größer ſein. Der Eine gehörte der 
Generation an, welche noch von Goethe's Greiſenalter 
beherrſcht ward; der Andere war unter dem Einfluß des 
jungen Deutſchlands erwachſen. „Allein alles deſſen,“ 
ſagt Koenig, „waren wir uns klar bewußt; es änderte 
unſere Geſinnung, unſer Wohlwollen für einander nicht, 
ſoviel auch der Freund über mich zu lächeln, ich gegen 
ihn zu eifern gehabt hätte.“ 

Aber auch nach Außen hin übte Dingelſtedt damals 
ſchon ſeine Anziehungskraft aus; und zahlreich waren die 
literariſchen Gäſte, welche zum Beſuch in Fulda erſchienen. 
Unter ihnen war Ferdinand Freiligrath. 

Die erſte Berührung zwiſchen dieſen Beiden war 
keine freundliche geweſen; wenigſtens deutete Freiligrath 
fie jo, welcher — bei aller Generoſität ſeines Herzens — 
doch auch ſehr empfindlich war. Wie Buchner in ſeinem 
ſchönen Buch über Freiligrath mittheilt,“) hatte Dingel⸗ 
ſtedt noch in Kaſſel (Anfangs 1838) einen Aufſatz in 
Lewald's „Europa“ veröffentlicht: „Eine Mitternacht in 
Detmold“, welcher, wiewol von der wärmſten Empfindung 
für den Dichter des „Wüſtenkönigs“ eingegeben, dennoch 
Einiges über ſeine Familienverhältniſſe ſagte, was nicht 
ganz taktvoll geweſen ſein mag und dieſen daher verdroß. 
„Das iſt auch ſo ein jungdeutſches Gewäſch, — Perſön⸗ 
lichkeiten ſtatt der Sache!“ ſchrieb er noch aus dem Comp⸗ 
toir in Barmen, an Guſtav Schwab, März 1838; und 
um dieſelbe Zeit an ſeine Freundin, Lina Schwollmann: 


*) Ferdinand Freiligrath. Ein Dichterleben in Briefen. 
Von Wilhelm Buchner. Zwei Bände. Lahr, Druck und Verlag 
von Moritz Schauenburg. 1882. I, 203. 263. 


We 


„In Lewald's Europa hat kürzlich ein Aufſatz über mich 
und Grabbe geſtanden . .. Er iſt nicht ohne Humor ge⸗ 
ſchrieben, liefert aber einen lebendigen Beweis, wie That⸗ 
ſachen, wenn ſie ſo ein zehn Jahre im Munde der Leute 
geweſen ſind, entſtellt und mit einmal verwechſelt werden 
können. . .. Du ſiehſt übrigens hieraus, wie Grabbe und 
ich blos deßwegen immer zuſammengekoppelt werden, 
weil wir aus einem Orte ſind ... Wären Grabbe und 
ich nicht in dem Neſte geboren, ſo hätte Dingelſtedt gewiß 
in ſeinem Leben keine „Mitternacht in Detmold“ geſchrie— 
ben.“ Es blieb nicht bei dieſem lediglich epiſtolariſchen 
Ausdrucke einer an ſich ziemlich grundloſen Verſtimmung. 
Freiligrath's Freund, L. Merckel, ließ im „Lippe'ſchen Ma⸗ 
gazin“ eine ſehr ſpöttiſche „Beleuchtung der Dingelſtedt'ſchen 
Mitternacht“ vom Stapel laufen, welche wiederum dieſen 
auf's Aeußerſte gereizt und einen ganzen literariſchen Feld— 
zug im Gefolge gehabt zu haben ſcheint; denn Dingelſtedt 
war nicht der Mann, der eine Antwort ſchuldig blieb. 
Noch nach drei Jahren, im „Salon“ (1841, Nr. 16) kam 
er darauf zurück. „Das Fürſtenthum Lippe⸗Detmold,“ 
heißt es daſelbſt, „hat mir einen Krieg angekündigt, der 
nun, wie der trojaniſche, ſchier in's zehnte Jahr geht, 


nur weil ich in einer ſchönen Winternacht durchfuhr, ohne 


Augen und Ohren zuzudrücken, wie um ſolche Zeit Bür⸗ 
gerpflicht iſt. Seit jener Zeit verfolgt mich Lippe-Det⸗ 
mold, und weil ſie kein trojaniſches Pferd — ich will im 
Bilde bleiben — gegen mich in's Feld ſchicken können, 
ſchicken ſie in gewiſſen Friſten einen trojaniſchen Eſel, der 
im „Lippe'ſchen Magazin“ in der „Zeitung für die elegante 
Welt“, im „Mindener Sonntagsblatt“, in der „Elberfelder 


Zeitung“ Feuer über mein Haus und Zeter über mein 
Haupt ſchreit.“ Indeſſen, in dieſem, wie in einem ähn⸗ 
lichen Vorfalle, den ich aus meinem eigenen Verhältniß 
zu dem von mir innig verehrten und geliebten Freilig⸗ 
rath erzählen könnte, ſiegte deſſen ſonnige, wahrheitliebende 
Natur über das Mißverſtändniß des Augenblicks. Zwar 
im Mai 1838 ſchrieb er noch an Merckel: „Meinen herz⸗ 
lichen, innigen Dank, Du alter Getreuer! — Du haſt dem 
Heſſen⸗Kaſſeler wacker heimgeleuchtet.“ Aber als der Zorn 
ein wenig verraucht, Januar 1839, begegnen wir Aeußerungen 
wie die nachſtehenden: „Uebrigens iſt Dingelſtedt wahr⸗ 
haftig nicht ungeſcheit, ſondern bringt im Gegentheil man⸗ 
ches Gute und Wahre über mich bei.“ ... „Ich will 
ihm aber doch nächſtens 'mal ſchreiben, denn er iſt, wie 
geſagt, ſonſt eben nicht ungeſcheit, hat ſchon ein paar 
gute Bücher geſchrieben, iſt kein übler Poet, und meint's 
am Ende nicht bös mit mir.“ Schon im April heißt es 
dann: „Dingelſtedt hat mir aus freien Stücken einen 
freundlichen Brief geſchrieben;!“ und im Herbſte des fol⸗ 
genden Jahres ſahen ſie ſich zuerſt in Mainz, wohin Dingel⸗ 
ſtedt geeilt war, um Freiligrath's Bekanntſchaft zu machen. 
„Eine friſche, anſprechende Perſönlichkeit, rund, offen, herz⸗ 
lich, wacker, keine Spur von Geſpreiztheit“, äußerte ſich 
Letzterer in einem Brief an Levin Schücking.“) Wenige 
Monate ſpäter, nach meiner Berechnung im Februar 1841, 
kam er dann zu Dingelſtedt. Nach der Verlobung mit 
Derjenigen, welche die Gefährtin ſeines Lebens werden 
ſollte, befand ſich Freiligrath eben auf der Heimreiſe von 


) Buchner, a. a. O. 384. 


Ba 


Thüringen nach dem Rhein, und mag in Fulda, welches 
auf dem Wege lag, kurze Raſt gemacht haben; vielleicht 
auch um den Freund an den Beitrag zu mahnen, iel- 
chen dieſer zu dem Immermann⸗-Buch verſprochen — 
und niemals geliefert hat. Nicht lange nach dieſem Be⸗ 
ſuch erſchien die vierte Auflage von Freiligrath's Gedichten 
mit einer Widmung an ſeine Freunde Dingelſtedt, Schücking 
und Simrock.“) Es iſt unnöthig, hier von dem Schat⸗ 
ten zu ſprechen, der alsdann jahrelang das Verhältniß 
ernſtlich getrübt hat. Um dieſelbe Zeit, wo Freiligrath's 
Flüchtlingsleben begann, hatte Dingelſtedt in Stuttgart ſeine, 
wenn man ſo ſagen darf, Laufbahn bei Hofe begonnen; und 
als Levin Schücking dem in der Schweiz weilenden Freunde 
räth, er möge doch nach Württemberg gehen, ſchrieb dieſer: 
„Eher ging ich direct nach Preußen und ſtellte mich einem 
Majeſtätsbeleidigungs⸗Proceß .. .. Will man durch ein 
Buch, wie das Glaubensbekenntniß eins war, wirken, ſo 
ſoll man auch ein rechter Kerl ſein, alle Folgen auf ſich 


nehmen . .. Die Verſe thun's nicht allein, es will 
auch ein Ding dabei ſein, das man Charakter nennt. 
Unſer guter langer Stuttgarter hat es nicht .. ..“) 


Entfremdung folgte, wenn nicht Trennung; doch nicht für 
immer. Als Dingelſtedt (1876) nach dem Tode Freilig⸗ 
rath's jenen ſchönen Nachruf, „Die Externſteine“ ſchrieb, 
durch welchen er die „Mitternacht in Detmold“ — wenn 
überhaupt Etwas dabei gefehlt worden — wieder gut 
machte (Wanderbuch, V, 359), da durfte er ſagen: „An 


*) Notiz im „Salon“ 1842, Nr. 26. 
**) Buchner, II, 182. 


Freiligrath knüpfte mich eine jahrelange, brüderliche 
Freundſchaft, welche die Politik zeitweiſe zu lockern, nie⸗ 
mals zu löſen vermochte.“ Dann fährt er fort: „Wir 
duzten einander ſeit meinem erſten Beſuch am Rhein, den 
er mir in Fulda — in gewiſſem Sinn auch ein Exil — 
troſtbringend zurückgab. Haben wir doch gelacht, daß 
ihm das frühe Bäuchlein wackelte und mir die Augen 
übergingen, weil er mich gerade bei der angenehmen Ar⸗ 
beit überraſchte, den Schülern unſerer Secunda ihre latei⸗ 
niſchen Aufſätze mit rother Tinte zu korrigiren, zu denen 
ich das Thema gegeben: „Interpretatio et solutio ear- 
minis Freiligratensis, inseripti ONEY, die latei⸗ 
niſche Proſaüberſetzung des Odyſſeus“. 

Es iſt fraglich, ob dieſes Exercitium den Dichter der 
beſondren Gunſt der Fuldaer Gymnaſiaſten empfohlen 
habe. Wir finden wenigſtens keine Erinnerung daran, 
daß letztere dem illuſtren Gaſte irgend welche Aufmerk⸗ 
ſamkeit gewidmet hätten. Allerdings hatte Freiligrath 
ſein „Glaubensbekenntniß“ noch nicht gedichtet; noch ſtand 
er „auf einer höheren Warte, als auf der Zinne der 
Partei“, und hielt es ſogar für nöthig, einem Freunde 
die Verſicherung zu geben: „ich bin beim Teufel, glaub' 
ich, ebenſo liberal wie Dingelſtedt.“ Noch hatte die poli⸗ 
tiſche Dichtung ihre Stimme nicht erhoben — „Hoffmann 
von Fallersleben der Kuckuck, Herwegh die Lerche, Dingel⸗ 
ſtedt die Nachtigall;“ *) aber doch ging der Zug der 
öffentlichen Meinung faſt ausſchließlich ſchon in dieſe 
Richtung, und das Hauptereigniß während der Fuldaer 


*) Buchner, a. a. O. 425. 


Jahre Dingelſtedt's war daher das Erſcheinen Gutzkow's, 
welcher in der äußerlich jo ſtillen und innerlich jo be- 
wegten, gährenden Zeit als einer der Erſten ihre Zeichen 
verſtanden und ihren Tendenzen Ausdruck gegeben hatte. 
Der große Kampf, der nicht viel ſpäter offen ausbrechend 
die deutſche Welt erſchütterte, ward vorbereitet auf dem 
bisher ſo harmloſen Gebiete der Literatur. Sie wurde 
die Angelegenheit aller Gebildeten unſerer Nation, welche 
damals in der Literatur fanden, was ihnen heute die 
Politik iſt. Ein Schriftſteller, welcher, wie Gutzkow, mit 
Nichts als ſeiner Feder den Abſolutismus der Regierungen 
angriff und dem Bundestag den Krieg erklärte, war eine 
Perſönlichkeit, deren Aeußerungen weite Kreiſe mit einer 
Theilnahme folgten, für welche man gegenwärtig in hohen 
politiſchen Sphären nach einem Vergleich ſuchen müßte. 
Wol hatte Gutzkow jene Dramen und Romane noch nicht 
geſchrieben, welche ſeinen literariſchen Rang für alle Zeiten 
ſichern werden; aber vielleicht war der „Eclat“ ſeines 
erſten Auftretens größer, wenn auch freilich vorübergehen⸗ 
der. Es gab einen Augenblick — und es war der ſeines 
Beſuchs bei Dingelſtedt — wo Gutzkow die literariſche 
Großmacht Deutſchlands war, mit Keinem über, ja kaum 
Einem neben ſich. Kein Wunder, daß die Nachricht von 
ſeiner Ankunft in Fulda ſogar die Schüler des Gymna⸗ 
ſiums in einen wahren Tumult verſetzte. Die literariſchen 
Neigungen ihres Lehrers ſcheinen bis auf die Tertianer 
hinunter gegangen zu ſein. „Unſere Helden,“ erzählt einer 
dieſer damals jugendlichen Schaar, Herr Fr. Zwenger 
in der „Buchonia“ (1881, Nr. 14), „waren die Dichter 
und Schriftſteller des jungen Deutſchlands, re äußere 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 


— 


Lebensſchickſale wir wenigſtens genau kannten, wenn uns 
ſelbſtverſtändlich auch die Literatur ihrer Werke noch ver⸗ 
ſchloſſen blieb .. . . Da erſchien eines Tages unſer Mit⸗ 
ſchüler Friedrich) Hlornſeck), der ſich ſpäter ſelbſt einen 
geachteten Namen als Dichter erwerben ſollte, athemlos 
in der Claſſe und rief: „Gutzkow iſt in Fulda!“ Wie uns 
dieſe Kunde elektriſirte! Ein veritables Mitglied des 
„jungen Deutſchlands“ befand ſich alſo in den Mauern 
unſrer Stadt, und zwar daſſelbe, welches kürzlich noch in 
Folge der infamen Denunciation W. Menzel's monatelang 
in Mannheim hatte brummen müſſen!“ 

Gutzkow, welcher damals (im Sommer 1839) ſchon 
den „Telegraphen“ in Hamburg herausgab, befand ſich 
auf der Rückreiſe von Frankfurt a. M., wo ſein Drama 
„Richard Savage oder Der Sohn einer Mutter“ eben mit 
durchſchlagendem Erfolg die erſte Aufführung erlebt hatte; 
und Dingelſtedt brachte ganz Fulda in Bewegung, um 
den gefeierten Gaſt würdig zu empfangen. Die Damen 
des Wallenſteiniſchen Stifts veranſtalteten für ihn einen 
ſolennen Abend. Das Caſino gab ihm ein Feſt. Im 
Odenwald'ſchen Garten, wo die Créme der Geſellſchaft 
ſich verſammelte, ward der Nachmittag verbracht; und die 
ſpäte Mitternacht ſah die Tafelrunde dieſer „Ritter vom 
Geiſte“ zu jenen Sympoſien vereint in dem traulichen 
Hinterſtübchen eines alterthümlichen Hauſes, über welchem 
heute noch daſſelbe Schild ſitzt, wie damals, mit dem 
Namen „Florian Pult“ wehmüthig mahnend an Männer 
und Zeiten, die nicht mehr ſind. 

Damals, wo Gutzkow's Name wie vom Glanze der 
aufgehenden Sonne ſtrahlte, war ſeine Seele noch nicht 


>50 


verbittert; und kein Gedanke daran, daß es einſt anders 
werden könne, trübte weder die ſchöne Gegenwart noch 
das Verhältniß zu Dingelſtedt, welcher vielmehr den Ael⸗ 
teren und Höherſtehenden mit ſeiner Luſtigkeit hinriß. 
Unſer Tertianer ſah damals, wie dieſe Beiden, Gutzkow 
und Dingelſtedt im Bunde mit dem „Hartmännchen“ ſich 
eines Nachmittages die Zeit damit vertrieben, über die 
Prellſteine des Domplatzes — zu ſpringen: das „Hart⸗ 
männchen“ immer voran, dann Gutzkow, dann Dingel- 
ſtedt, der mit ſeinen langen Beinen am Schlechteſten vor⸗ 
wärts kam. Er hat ſie hernach überholt, als es andre 
Hinderniſſe zu nehmen und andre Ehren zu gewinnen gab. 
Aber damals widmete Gutzkow ſeinem Aufenthalt in Fulda 
einen eigenen Artikel im „Telegraphen“ und verſteckte 
beim Abſchied folgendes Gedicht „An Franz Dingelſtedt, 
als Schullehrer in Fulda“ zwiſchen den Seiten eines ſeiner 
Schulbücher: 

Wie man wol öfters in ein Buch 

Ein Roſenblättchen legt, 

Daß den pedantiſchen Geruch 

Der ſüße Duft verjagt: 

So berg' ich im gelehrten Wuſt 

Dir dieſes kleine Blatt, 


Daß er, Dir ſelber unbewußt, 
Den Duft der Liebe hat. 


Daß Dich's, wie milder Frühlingsweſt 
Beim Studium umzieh', 
Und aus dem Bakel ſproßen läßt 
Das Grün der Poeſie! 
Dieſer Wunſch Gutzkow's iſt denn auch reichlich in 
Erfüllung gegangen. Unter den Anregungen mannichfaltig⸗ 
7 * 


— 100 — 


ſter Art, wie wir ſie zu ſchildern verf haben, war 
Dingelſtedt in Fulda dichteriſch außerordentlich pro⸗ 
ductiv. Er ſchrieb hier, bei allem Muthwillen und aller 
Berufsarbeit, nach eigener Ausſage jeden Tag ſeinen halben 
Druckbogen. Hier, in Fulda, bei einem Verleger Namens 
Euler (nomen et omen) ließ er ſeinen erſten Roman: 
„Die neuen Argonauten“ drucken (1839); hier ſchrieb er 
ſeinen zweiten „Unter der Erde“ (der in der Original⸗ 
ausgabe den Nebentitel: „Ein Denkmal für die Lebendigen“ 
hatte, wahrſcheinlich weil Alle darin ſterben). Hier ſchrieb 
er eine große Zahl ſeiner Novellen und Verſe ganz ohne Zahl. 
Was er als Dichter war, das iſt er in Fulda geworden 
und in dieſem Betracht die Fuldaer Zeit die wichtigſte 
ſeines Lebens. Man hatte ihn hierher geſchickt, in die 
Verbannung. Aber um ſo mächtiger brauſt der Strom 
des Geſanges, ſchlagen die Fluthen, trotzig grollend, 
ſprühen die ſpitzigen Wellenzungen empor; und wenig aus 
der ſpäteren Zeit kann ſich an Kraft, Nichts an Kühn⸗ 
heit der Conception mit der Dichtung „Sechs Jahrhunderte 
aus Gutenberg's Leben“ “) meſſen, welche Dingelſtedt 1840 
als Feſtſchrift zur vierhundertjährigen Feier der Erfindung 
der Buchdruckerkunſt ſchrieb. Das Werk, in typographi⸗ 
ſcher Hinſicht vorzüglich ausgeſtattet und mit Randzeich⸗ 
nungen des gegenwärtig noch lebenden Profeſſor Müller, 
iſt ſo gut wie verſchollen und eines der wenigen Exem⸗ 
plare, welche noch vorhanden ſein mögen, ward mir durch 

) Sechs Jahrhunderte aus Gutenberg's Leben. Kleine Gabe 
zum großen Feſte. Text von Dr. Franz Dingelſtedt in Fulda; mit 
Randzeichnungen von Prof. Friedr. Müller in Caſſel. 1840. Im 
Verlag der Buchdruckerei von Jérôme Hotop in Caſſel. 


— 11 — 


die gütige Vermittelung des Herrn Dr. Albert Duncker in 
Caſſel aus der dortigen Landesbibliothek zur Einſicht an⸗ 
vertraut. Es wurde, wie man mir mittheilt, erſt nach 
dem Jubiläum fertig, kam im buchſtäblichen Sinne des 
Wortes post festum und fand in Folge davon wenig Ver⸗ 
breitung. Auch hat Dingelſtedt Nichts zur Wieder- 
belebung deſſelben gethan, und in die Geſammtausgabe 
nur eines von den ſechs Stücken, aus welchen die Dich— 
tung beſteht, aufgenommen (1840): 


Mogunzia! Dir ſei mein Gruß entboten — 


Ich erkläre mir dieß aus einem gewiſſen, trüben, man 
würde heute ſagen peſſimiſtiſchen Zuge der Weltanſchauung, 
welcher im Widerſpruche ſtand mit dem philoſophiſchen 
Dogma der Zeit und Widerſpruch in der That vielfach 
hervorrief. Die Dichtung ſtellt ſich dar als eine Art von 
Weltlegende, welche, mit der Erfindung der Buchdrucker⸗ 
kunſt beginnend (1440) in der Form von Viſionen, die jchein- 
bar zerſtörenden Wirkungen derſelben durch die Jahrhunderte 
verfolgt — die Lehre Luther's, welche die impoſante Ein⸗ 
heit der Kirche aufhob (1540), den Bruderkampf des dreißig⸗ 

jährigen Krieges (1640), das 18. Jahrhundert, mit „Me⸗ 
phiſto⸗Arouet“ (1740), die franzöſiſche Revolution, den 
Untergang des deutſchen Reichs und Kaiſerthums. Schein⸗ 
bar zerſtörend, ſag' ich; denn in Wahrheit bedeutet Leben 
auch unſrem Dichter Bewegung; und es iſt bezeichnend, 
daß er das Wort Galilei's demjenigen in den Mund 
legt, welchen er als den Genius der neuen, unſrer Zeit 
feiert: Friedrichs des Großen, 


„Von Wenigen geliebt, vermißt von Allen.“ 


. 


Der Pomp der katholiſchen Kirche, welchen Dingelſtedt 
zum erſtenmal in Fulda ſich entfalten ſah, mag ähnliche 
Empfindungen in ſeiner Seele geweckt haben, wie um 
dieſelbe Zeit, aber auf einem größeren Schauplatz, in der 
Seele Macaulay's, als dieſer, ergriffen von dem Alter 
und der Majeſtät Roms, ſein nachmals ſo berühmt ge⸗ 
wordenes Eſſay über Ranke's Geſchichte der „römiſchen 
Päpſte“ concipirte.“) Es iſt ein merkwürdiges Zuſammen⸗ 
treffen einer ähnlichen Ideenſtrömung — dort auf der 
Höhe von St. Peter, faſt geblendet von dem Glanze der 
Weihnacht in Rom der engliſche Hiſtoriker, und hier, in 
dem ſtillen, heſſiſchen Landſtädtchen, vor dem ſchnörkel⸗ 
haften Dome zu Fulda, der deutſche Dichter! Merk⸗ 
würdig auch, in der Schlußviſion Dingelſtedt's — 2240 — 
der Anklang an den Patagonier in Macaulay's Briefen 
und den Neuſeeländer in Macaulay's Eſſay, wie wenn die 
Betrachtung dieſes ſtolzeſten Werkes der Menſchenhand im⸗ 
mer enden müſſe mit dem Gedanken an künftige Zerſtörung 
und das Nichts. Die europäiſche Cultur iſt zertreten von 
den Barbaren; wo Mainz lag und das Gutenbergsdenk⸗ 
mal ſtand, rauchen Trümmer, ein Wilder findet ein halb⸗ 
verſengtes Buch — das erſte Buch Gutenberg's, das Buch 
Luther's, die Bibel, zeigt es den Andren, die Nichts daraus 
zu machen wiſſen und ſchleudert es dann in's Feuer — 

Ein Nu — es gab kein Buch mehr auf der Erde, 
Das letzte kroch in Aſche juſt zuſammen. 

Das Gedicht, wiewol von hiſtoriſchem Tiefblick 

zeugend, reich an Gedanken und in klangvollen Terzinen 


*) Es erſchien in der „Edinburgh Review“, October, 1840. 


— 18 — 


geſchrieben, hatte doch einen antipopulären Charakter und 
paßte wenig in die Stimmung jener feſtlich erregten Tage. 
Ruge griff es hart an in den Halle'ſchen Jahrbüchern 
(1. Auguſt 1840, Nr. 184) und Dingelſtedt ließ es der 
Vergeſſenheit anheim fallen. 

Um ſo heller und einſtimmiger begrüßte Beifall ſein 
herrliches „Oſterwort“, welches — gleichfalls 1840, zuerſt 
als fliegendes Blatt, gedruckt — heute noch unvergeſſen 
iſt in der Heimath des Dichters und unvergänglich leuch⸗ 
ten wird zu ſeinem und ihrem Ruhme. 


Droben ſtand ich, wo inmitten eines Meers von Duft und Blüthen 

Grau und groß das Schloß emporſteigt, Philipps alte Stadt zu 
f hüten. 

Rings zu Füßen dehnte lachend ſich das traute Thal der Lahn, 

And mit erſten Maienblicken ſchaute draus der Lenz mich an. 


Geiſter einer frohen Jugend tauchten aus dem heitren Grunde: 

War's nicht da? — und hier! — Und drüben... ſcholl's von der 
Genoſſen Munde; 

Ein Erinnern ſtill und innig ging wie Sonntagsglockenklang 

Durch die Seelen lang Getrennter, die ein neues Band umſchlang. 


Plötzlich rührt an meine Schulter eines Freundes ſcheuer Finger; 
„Dort am Gitter,“ ſpricht er leiſe, deutend auf den innern Zwinger; — 
Und zwei Augen groß und glühend, und ein Antlitz bleich, entſtellt, 
Starrten dort aus dem Gemäuer nieder in die ſchöne Welt. 


Sylveſter Jordan iſt es — der Gefangene von Mar⸗ 
burg, der dort, mitten unter ſchweren Verbrechern, die 
Schuld büßen muß, für die heſſiſche Verfaſſung eingetreten 
zu ſein. Der Dichter erinnert ſich, wie er, ein junger Stu⸗ 
dent, Zeuge war des triumphalen Einzugs, welchen die 
Bürger von Marburg ihrem Abgeordneten bereiteten: 


— 104 — 


Stand ich nicht im Chor des Volkes, das mit blankgezognen 
Schwerten, 

Das mit Fahnen und Drommeten grüßte ſeinen Heimgekehrten? 

O der Wandlung! 


Ihn fröſtelt; er will ſich abwenden. Aber überall 
verfolgt ihn derſelbe Schatten; und nun wendet er ſich 
an den Fürſten mit einer Bitte, wie ſie rührender, inniger, 
edler niemals von Dichterlippen gefloſſen ſein mag: 


Neig' Dein Scepter, Friedrich Wilhelm, zu erlöſendem Beſcheid! 


Ach, daß Deines Volks ein Dichter ſich in Deinen Glanz gewagt hat, 
Daß, was Andre ſchweigſam flehen, er voll Ehrfurcht laut geklagt hat, 
Herr, verzeih's! Ein Dichter fühlt es, was es heißt: gefangen ſein, 
Mehr als Andre. Ja, gefangen, und vergeſſen, und allein! — 


Die Bitte verhallte und noch fünf Jahre verfloſſen, 
ehe Sylveſter Jordan freigeſprochen ward. 

Aber Franz Dingelſtedt's Jordanslied machte nichts 
deſtoweniger einen tiefen Eindruck in Deutſchland und 
Georg Herwegh widmete demſelben in ſeinen „Gedichten 
eines Lebendigen“ ein Sonett: 


Die Nachtigall hat für den Aar geſungen, 
Der, fortgeflogen aus dem Alpenlande, *) 
Verſchmachtend lag in unſrem deutſchen Sande, 
Weil er ſich hat zu hoch hinangeſchwungen. 


Wem wäre nicht ihr Lied an's Herz gedrungen, 
Ihr grollend, rührend Lied von unſrer Schande? 
Doch ſprecht, wann ſind bei uns der Freien Bande 
Von eines Sängers Liede je geſprungen? 


*) Sylveſter Jordan war ein geborener Tyroler, aus der Nähe 
von Innsbruck. 


— 105 — 


Als Dingelſtedt dieſe Verſe geleſen hatte, da überflog 
ihn, wie er am Schluß einer Beſprechung von Herwegh's 
Gedichten im „Salon“ hinzufügt, „eine freudige Röthe 
und eine zitternde Wehmuth ... Ja, Du hatteſt Recht, 
und es iſt ſo gekommen wie Du ſagteſt. Glücklicher, 
grüße Du Deine Alpen von mir und — von ihm!“ 

In der Fuldaer Zeit Dingelſtedt's entſtanden noch 
manche Gedichte, welche freilich nicht an jenes heranreichen 
und in der Geſammt⸗Ausgabe ſich nicht wiederfinden, wol 
aber zeigen, mit welch' regem, echt menſchlichem Antheil 
der Dichter Alles begleitete, was rings um ihn, in engerem 
oder weiterem Kreiſe vorging. Als Heinrich Koenig den 
Schmerz hatte, ſeinen einzigen hoffnungsvollen Knaben zu 
verlieren, tröſtet er ihn mit dem „ne forte eredas interi- 
turum“: | 

Der Dichter, weißt Du, ſoll der Muſchel gleichen, 
Die, hart erkrankt, uns edle Perlen ſchenkt, 

Und in die Stunden, juſt die thränenreichen, 

Iſt ſeiner beſten Früchte Keim geſenkte. 

Ein andres Gedicht, welches hierher gehört, iſt das 
auf den Tod des in freiwilliger Verbannung geſtorbenen 
ehemaligen Oberbürgermeiſters von Kaſſel, Carl Schom⸗ 
burg's — auch er ein politiſcher Märtyrer, wie Sylveſter 
Jordan, aber einer, der das Licht und die Freiheit nicht 
mehr ſehen ſollte, nicht einmal von Ferne, — ſein letztes 
Wort der Klageruf: „Ich habe meinen Kindern Nichts 
hinterlaſſen können — Nichts — nicht einmal ein Vater⸗ 
land.“ Eine Bürgerdeputation holte ſeine Leiche nach 
Kaſſel und dort an ſeinem Grabe ſagte der Pfarrer, daß 
der heſſiſche Patriot geſtorben ſei, „fern von unſrer Haupt⸗ 


— 106 — 


ſtadt, wie wenn ſie nicht geweiht genug geweſen wäre, 
einen ihrer edelſten Söhne ſterben zu ſehen.“ 

Dingelſtedt's Gedicht, welches ich einer freundlichen 
Mittheilung des Herrn Zwenger in Fulda verdanke, 
hätte wol verdient, neben dem Jordanslied aufen 
zu werden. 


Du ſtandeſt feſt, jedoch Dein Herz ging brechen, 
Mit Gift gefüllt bis an den höchſten Rand, 
Und ſterbend hatteſt Du ein Recht zu ſprechen: 
„Ich hinterlaſſe Euch kein Vaterland!“ 


In banger Eile habt Ihr ihn beſtattet, 

Scheu wandelt Ihr um ſeinen Hügel um, 
Ihr ahnt: die Weide, die ſein Grab beſchattet, 
Beſchattet auch der Heſſen letzten Ruhm. 


Blickt her! Mit keckem Saitengriffe reiß' ich 
Die Wunden alle auf — Euch aus dem Schlaf! 
Kennt Ihr die Sonne noch von Einunddreißig? 
Seid Ihr dieſelben, die ihr Schimmer traf? 


Wiewol in Gutzkow's „Telegraph für Deutſchland“, 
September 1841, anonym erſchienen, rieth man doch bald 
auf den Verfaſſer — in Kurheſſen konnte nur Einer ſo 
ſingen! — durch Requiſition kam das Manuſcript nach 
Kaſſel und nicht viel fehlte, ſo hätte Dingelſtedt ſeine 
„Lehrjahre“ mit Spangenberg — d. h. Arreſt auf der 
heſſiſchen Feſtung beſchloſſen. | 

In die letzte Zeit ſeines Aufenthalts in Fulda fällt 
die Begründung des „Salon“, welcher ſich als „Eine 
Wochenſchrift für Heimath und Fremde“ einführte, nicht 
ganz zwei Jahre lebte und von Dingelſtedt, wiewol er 


— 107 — 


bis an's Ende treu mitarbeitete, nur ſechs Monate redi— 
girt ward. Die Probenummer, welche im December 
1840 als Beilage der „Kaſſel'ſchen Allgemeinen Zeitung“ 
ausgegeben ward, nannte als Redacteur: Franz Dingel- 
ſtedt; doch ſchon aus der erſten Nummer des erſten 
Jahrgangs, welche wegen „mannigfacher Schwierigkeiten 
leicht zu errathender Art“ nicht früher als am 1. April 
1841 kam, war dieſer Name verſchwunden. Nicht beſſer 
erging es einem Gedicht, welches anonym an der Spitze 
der Probenummer geſtanden — es war das erſte der 
„Lieder eines kosmopolitiſchen Nachtwächters“, welche 
Dingelſtedt's Ruhm mit einem Schlage begründen ſollten: 


Weib, gieb mir Deckel, Spieß und Mantel, 
Der Dienſt geht los, ich muß hinaus — 


Hier führt es noch den Titel: „Lied eines vagirenden 
Nachtwächters“ und trägt als Motto die bekannte Zeile 
aus Böranger's Gedicht gegen die Jeſuiten: „Eteignons 
les Iumières et rallumons le feu.“ Doch findet es ſich 
nicht wieder in der erſten Nummer des „Salon“, und 
ein Jahr ſpäter, als Dingelſtedt Heſſen verlaſſen und 
ſeine Nachtwächterlieder bereits bei Hoffmann und Campe 
herausgegeben hatte, belehrt uns eine redactionelle Notiz 
zu einer Beſprechung derſelben, daß es damals „aus 
mannigfachen Gründen vom Poeten wieder zurückgenommen 
ſei.“ Der „Salon“ erſchien in Kaſſel und vielerlei Schwie— 
rigkeiten und Irrungen ergaben ſich daraus für den in 
Fulda lebenden Redacteur. Einmal warfen ihm Gutz⸗ 
kow's „Telegraph“ und die Frankfurter „Didaskalia“ einen 
Druckfehler, Danton ſtatt Dante, vor. „Das iſt nicht 


— 108 — 


freundlich von Ihnen, meine Herren,“ replicirte Dingel- 
ſtedt. „Sie ſollten am Beſten wiſſen, wie einem armen 
Redacteur zu Sinne iſt, der nicht an Ort und Stelle 
ſeine gelegten Eier ausbrüten kann. ... Er iſt immer 
neugieriger auf die nächſte Nummer, als irgend einer 
ſeiner Leſer; er weiß ja noch nicht, was die Cenſur ſtrich 
und was der Setzer hinzufügte. Zwei Seelen wohnen 
ach! in ſeiner Bruſt!“ ... Ein andres Mal machte das 
Feuilleton „Unſeres Planeten“ ihn für eine Recenſion 
verantwortlich, die er nicht geſchrieben. „Liebes Feuilleton 
unſeres lieben Planeten!“ ruft Dingelſtedt aus; „bedenke: 
der arme Dingelſtedt ſieht dich das ganze Jahr nicht, 
weil nach Fulda keine Journale gerathen, außer der 
„Europa“, dem „Gothaiſchen Anzeiger“ und dem „Mor⸗ 
genblatte“, und dieſe erſt „auf dem Wege des Buchhan⸗ 
dels“, was in Fulda ſo viel ſagen will, als dreiviertel 
Jahre nach der eigentlichen Friſt“, u. ſ. w. 

Selbſt der Titel des „Salon“ ſollte nicht unange⸗ 
fochten bleiben. Es waren die Tage des Becker'ſchen 
Rheinliedes und der patriotiſchen Entrüſtung über jedes 
Fremdwort, beſonders wenn es aus Frankreich war. 
Eines Tages, am 11. December 1840, kam ein Brief aus 
Höxter an mit der Adreſſe: 


„Sr. Wohlgeboren, Herrn F. re Verleger 
des Salon zu Kaſſel.“ 


Der Brief war „recommandirt, mit Recepiſſe — 
frankirt“. Denn „Recht muß Recht bleiben,“ jagt Dingel- 
ſtedt, „und die Männer von Höxter find jo höflich, ihre 
Grobheiten wenigſtens portofrei aufzugeben.“ Innen aber 


— 109 — 


ſtand, auf ſehr zweideutigem Conceptpapier, „einfach durch 
Größe, furchtbar in Klarheit, erhaben in Geſinnung“, 
und das Wort deutſch jedesmal unterſtrichen („freilich 
ſchief“, fügt Dingelſtedt hinzu) weiter nichts als: 


„Nennen Sie Ihre Zeitſchrift deutſch! 
„Denken Sie deutſch! 
„Empfinden Sie deutſch! 
„Dann leſen wir Ihre Zeitſchrift! 
„Höxter, den 9. December 1840. 
Eine Geſellſchaft von Deutſchen.“ 


Dräuend reckten ſich die vier Ausrufungszeichen gegen 
den armen Dingelſtedt. „Höxter liegt an der Weſer,“ 
ſagt er. „Ich hatte es deswegen, und weil ich oft, oft in 
beſſerer Zeit hindurchreiſen mußte, recht lieb, wie Alles, 
was an der Weſer liegt. Lag ich doch damals ſelber 
träumende, glühende Stunden lang daran, im weichen 
Gras der Schaumburger Wieſen, wenn die Sonne hin⸗ 
ter der weſtphäliſchen Pforte langſam untertauchte, und 
Friede von allen, allen Kirchlein fern und nah in das 
holde Thal meiner Kindheit läutete.“ 

Dieſes idylliſche Bild iſt nun für immer zerſtört und 
Fehde herrſcht zwiſchen „Herrn F. Dingelſtedt, Ver⸗ 
leger des Salon“ und der „königlich preußiſchen Stadt 
Höxter“. Wären damals vor 42 Jahren die Tage 
Stephan's nicht noch ſehr fern geweſen, jo hätte Dingel⸗ 
ſtedt wol jagen mögen: „Ihr Männer von Höxter, die 
Ihr Euch nicht ſchämt „Recommandirt“, „Recepiſſe“ und 
„Couvert“ zu ſagen für „Einſchreiben“, „Eingeſchrieben“ 
und „Briefumſchlag“: wie kommt Ihr dazu, mir den 


— 110 — 


„Salon“ vorzuwerfen?“ Doch wo war der Staats⸗ 
ſecretär des Reichspoſtamts dazumal! 

Uebrigens verdiente Dingelſtedt Nichts weniger, als 
der „Franzöſelei“ bezichtigt zu werden, wenn er auch die 
Becker'ſchen Verſe nicht gerade bewunderte. Mit der 
ganzen Schärfe ſeiner Feder greift er franzöſiſches Weſen 
an, wo es ſich zum Schaden deutſcher Eigenart in 
Literatur und Kunſt, namentlich aber auf dem Theater 
breit macht. Es iſt überaus intereſſant, in den drama⸗ 
turgiſchen Blättern des „Salon“ den künftigen großen 
Bühnenleiter zu ſtudiren. Mit regem Antheil verfolgt er 
die Repertoires der deutſchen Theater. Die Vorliebe für 
die Franzoſen, das Ueberwuchern franzöſiſcher Stücke wird 
bitter getadelt, wo es ſich auch zeigen mag; die claſſiſche 
und deutſche Richtung des k. k. Hofburgtheaters in Wien, 
welches von Oſtern 1840 bis dahin 1841 ſiebzehn neue 
deutſche Dramen aufgeführt, und elf claſſiſche Stücke neu 
in Scene geſetzt, als „ein würdiges Beiſpiel zur Nach⸗ 
ahmung“ empfohlen. In den Oſterferien 1841 iſt Dingel⸗ 
ſtedt in München und hier betritt er zum erſtenmal und 
als ſimpler Zuſchauer das königl. Hof- und Nationaltheater, 
zehn Jahre ſpäter die Stätte ſeiner größten Triumphe. 
Der Eindruck indeſſen war kein befriedigender; er kritiſirt 
das Haus, das Repertoire, das Schauſpiel und die Schau⸗ 
ſpieler. Eines von den Stücken, deren Aufführung er 
beiwohnte, war „ein Birchpfeifer“. Er ſagt: „Im All⸗ 
gemeinen ſtimme ich in die maul- und ſchlagfertige Ver⸗ 
ketzerung dieſer Frau nicht ein, weil ſie manches verdienſt⸗ 
liche und namentlich recht warm und lebendig gehaltene 
Drama auf den ſpärlich beſetzten Novitätenmarkt gebracht 


— 111 — 


hat; aber „Scheiben-Toni“, eine Art von National- und 
Localſtück mit naiven Tyrolerinnen und ehrlichen „Buas“, 
mit Gemeinplätzen, die auf königlich bayriſchen National⸗ 
Enthuſiasmus berechnet waren — nein, das war doch 
für meinen norddeutſchen Magen eine ebenſo unverdauliche 
Koſt als Mehlknödl oder Rahmſtrudl, zumal ſie mit 
einer pikanten Sauce, im Tyroler Dialekte aufgetragen 
wurden.“ | 

In den Juniferien deſſelben Jahres iſt er in Kaſſel, 
wo man eben zuerſt von allen deutſchen Bühnen, und 
ſogar um einen Tag früher als in Berlin, Scribe's „Glas 
Waſſer“ aufführte. Seine warme Würdigung dieſes Luſt⸗ 
ſpiels zeigt, daß er nicht blind iſt gegen die Vorzüge der 
Franzoſen. Höchſt charakteriſtiſch ſind wieder die Schluß⸗ 
bemerkungen, in denen er eine feine Kritik der Darſtellung, 
oder vielmehr der Regie giebt; es ſind ihrer ſechs, aus 
denen wir jedoch nur einige hervorheben wollen: „3) Iſt 
es zu einer vollſtändigen Illuſion nöthig, daß wirklich ein 
Glas Waſſer auf ein Theaterkleid geſchüttet und einer 
ſparſamen Intendanz eine Viertel⸗-Elle Gros de Naples 
verdorben werde, oder genügt eine Gaukelei, die nicht ein— 
mal den Schornſteinfegerjungen oben im Paradies be⸗ 
trügen kann, und bei der das Publicum in ſeiner höchſten 
Spannung plötzlich abgekühlt und verblüfft wird, als habe 
man ihm ſelber ein Glas Waſſer über den Kopf ge⸗ 
ſchüttet? Man vergleiche doch hierüber gefälligſt, was 
Leſſing in ſeiner Dramaturgie über die wirkliche oder 
ſcheinbare Ohrfeige jagt, welche die Königin Eliſabeth dem 
Grafen Eſſex verabfolgen läßt. 4) Trägt ein engliſcher 
Cavalier denſelben geſtickten Rock Morgens im Empfangs⸗ 


— 112 — 


ſaale und Abends in der Soirée ſeiner Königin? 
6) Iſt es wirklich glaublich, daß Berliner Schauſpieler 
in dieſem echt franzöſiſchen Stücke beſſer ſpielen, als 
Pariſer? Die Frage Nummer 6 beantworten wir uns 
ſelber: o ja, nämlich — vor einem deutſchen Publicum 
und dann, weil in Berlin Alles möglich iſt.“ 

Der geheimſte Wunſch ſeines Herzens, vielleicht noch 
unbewußt, jedenfalls noch ſo unbeſtimmt, daß er ihn ein 
„pium votum“ nennt, „an deſſen Erfüllung wir freilich 
ſelbſt nicht glauben“, findet ſich in dem letzten ſeiner drama⸗ 
turgiſchen Blätter ausgeſprochen, wo „ein amtlich⸗literariſcher 
Einfluß auf das Theater neben deſſen techniſcher, ökono⸗ 
miſcher und directorialer Leitung“ gefordert wird. Ob 
Dingelſtedt dabei ſchon an ſich gedacht? Damals gewiß 
noch nicht. Aber er fährt fort: „Vielleicht erörtern wir 
gelegentlich dieſen Punkt näher, welcher mit einer Lebens⸗ 
frage des deutſchen Theaters genau zuſammenhängt, mit 
der um ſein Verhältniß zur Literatur. . .. Grade jetzt, 
wo man der böſen Folgen adeliger Intendanzen an vielen 
Orten inne geworden iſt, ſcheint es an der Zeit, das 
ſchmählich verkümmerte Recht der Literatur an die Bühne 
aufzurichten.“ 

Mit der gleichen Lebendigkeit und Wärme folgt 
Dingelſtedt im „Salon“ der damaligen literariſchen Be⸗ 
wegung; man athmet wirklich die Luft vom Anfang der 
vierziger Jahre, wenn man in dieſem Bande blättert. 
„Das waren gute Jahrgänge auf dem Parnaß,“ ruft 
noch in einem Rückblick 1876 Dingelſtedt aus (Werke. V, 
S. 349), „da alljährlich ein neuer Name oder ein paar 
auftauchten, die nicht ſo leicht wieder verſchwinden ſollten, 


— 113 — 


unter Anderen: Freiligrath, Geibel, Kinkel, Hebbel, Storm, 
Prutz, Beck; warum nicht noch Einen hinzufügen? — 
Dingelſtedt.“ Und etwas weiter heißt es: „Ich für mein 
beſcheidenes Theil werde nie vergeſſen, wie viel ich den 
Führern meiner Dichterjugend ſchulde . . . . der väterlich 
milden Hand meiner Augsburger Freunde Kolb und 
Altenhöfer, dem ſcharf- und tiefblickenden Auge Gutzkow's, 
Lewald's altkluger Erfahrung, den reichen Kenntniſſen des 
ehrlichen Hauff in Stuttgart, dem wachen, für Effect immer 
offenen Sinne Heinrich Laube's, ſogar dem ſtrengen Ge— 
richt, welches Menzel und die „Halle'ſchen Jahrbücher“ “) 
über den jungen Nachwuchs hielten.“ Alle dieſe Namen, 
Meiſter und Geſellen, finden ſich beſtändig auf den Seiten 
des „Salon“; „ein jüngeres Talent, B. Auerbach“ (der 
ſeine „Dorfgeſchichten“ noch nicht geſchrieben hatte), wird 
mit Anerkennung genannt. Der Hauptantheil fällt natür⸗ 
lich wieder auf Gutzkow, dem „ein Leſſing'ſcher Zug“, 
und auf Laube, dem ein „reiches und freundliches Herz“ 
nachgerühmt wird. Immer entſchiedener neigt Dingelſtedt 
zu Gutzkow. In der „literariſchen Bildergalerie (Saal 
der neuen Schule)“ wird folgendes Porträt von ihm 
entworfen: „Gutzkow iſt nicht groß, geht nachläſſig, ge— 
bückt, in ſich gekehrt, ſpricht wenig und ohne alle Prä— 
tenſion gehört und bewundert zu werden, lächelt mehr 
gutmüthig als ironiſch, läßt die an ſich ſehr hellen und 
ſchönen, aber kurzſichtigen blauen Augen, womit ihn der 
Herr geſegnet hat, mehr auf ſeinen Fingerſpitzen ruhen 
als auf anderer Creatur. Sitzend kauert er ſich gern zu— 


9) Siehe oben S. 103. 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 8 


— 114 — 


ſammen und ſpielt mit dem Federmeſſer . .. Gutzkow 
könnte eine ſchöne Erſcheinung ſein, wenn er etwas aus 
ſich machte, den Bart abſchnitte und den einen Stiefel 
nicht mehr ſchief ginge. ... Gutzkow hat eine liebe 


Familie, zwei Knaben mit äußerſt patriotiſchen Namen, 


zum älteſten hat der deutſche Hermann, zum jüngſten der 
deutſche Fritz Gevatter ſtehen müſſen. Wenn das ſeine 
Feinde hören, werden ſie daraus folgern, Gutzkow wolle 
Privatdocent in Breslau werden. Ihn als Vater zu 
ſehen, giebt ein Tableau von eigenem Reize, weil unwill⸗ 
kürlich die Vorrede zur „Lucinde“ als Hintergrund hinzuge⸗ 
dacht wird. Lieber noch hätte ich ihn freilich nach dem erſten 
Hervorruf auf dem Berliner Hoftheater geſehn.“ — Laube 
wird folgendermaßen geſchildert: „Friſch, ruhig, intereſſant. 
Ein ſehr markirtes Geſicht von broncefarbigem Grundton, 
äußerſt muntere und lebensfrohe Augen, dunkles Haar 
und viel Bart, die Geſtalt elegant und leicht, eher faſt 
als ſchlank. . .. In den ihm ſo oft vorgerückten Glacs⸗ 
handſchuhen habe ich ihn nicht geſehen, ſondern einmal in 
Jagdſtiefeln, die Flinte auf der Achſel, einem Feudaljunker 
eher als einem Stutzer ähnlich. . .. Sein Dialect hat 
etwas Eigenes und Scharfes, das von ferne an Kurland 
erinnert. Um ſeine Frau beneiden ihn gewiß mehr Lite⸗ 
raten als um ſeine „Schlöſſer“.“) — 

Dreiunddreißig Jahre ſpäter, in Wien, an einem 
ſonnigen Märznachmittage des Jahres 1874, ſah ich, 
was außer mir nur einer kleinen Anzahl literariſcher 


*) Laube hatte kurz zuvor (1840) feine „Franzöſiſchen Luſt⸗ 
ſchlöſſer“ veröffentlicht. 


r 


Be. 


Freunde zu ſehen gejtattet war, nämlich: Dingelſtedt, 
deſſen Ernennung zum unabhängigen Director des Burg⸗ 
theaters dicht bevorſtand, bei Laube, der nicht lange darauf 
von der Leitung des Stadttheaters zum erſtenmal zurück⸗ 
trat. Aus Paris war an die Wiener Schriftſteller die 
Einladung ergangen, ſich der in der Bildung begriffenen 
„Association litteraire internationale“ anzuſchließen und 
man benutzte meine Anweſenheit, um zu hören, wie man 
in Berlin über den Plan denke. Ich erinnere mich nicht 
mehr ganz genau, ob jenes Pariſer Schreiben an die 
Adreſſe Laube's gerichtet war, oder aus welchem andern 
Grunde die Verſammlung in ſeiner Wohnung ſtattfand; 
aber ich erinnere mich gut genug, wie ich mit Dingelſtedt 
die Treppen des großen Hauſes, Operngaſſe Nr. 8, empor⸗ 
ſtieg und ich erinnere mich auch noch, wie die Beiden ein- 
ander gegenüberſtanden, in dem ſchönen und geräumigen 
Arbeitszimmer Laube's, in welches von unten herauf ge= 
dämpft die Bewegung des weiten Platzes und der Straße 
gegenüber klang. Dingelſtedt trat mit mir an eines der 
Fenſter, durch welches man den bezauberndſten Blick auf 
den Opernring hat, deſſen Prachtgebäude von der Nach- 
mittagsſonne beleuchtet wurden. „Die Treppen ſind mir 
ſauer geworden,“ ſagte Dingelſtedt, indem er tief Athem 
holte; „Sie müſſen für die Folgen ſtehen, Landsmann.“ 
Denn in der That, ich hatte ihn veranlaßt, mich zu be⸗ 
gleiten. 

Unter den Repräſentanten der Wiener Schriftiteller- 
welt, die ſich eingefunden, war einer, von kräftiger Ge⸗ 
ſtalt, in ſeinen beſten Jahren, mit einem hellen, freund⸗ 
lichen Geſicht, waſſerblauen Augen, einer Brille und einem 

f 85 


— 116 — 


ſtarken, röthlichen Bart. Er war auch ein Landsmann, 
ein Kaſſeler; und als wir uns, auf Laube's Aufforderung, 
ſetzten, nahm er ſeinen Platz neben Dingelſtedt. Wie 
lebhaft ſteht ſein Bild vor mir, indem ich dieſes ſchreibe! 
Einer ſeiner Brüder, Adolph, der nachmals auf den 
Diamantfeldern Südafrika's große Reichthümer gewonnen 
hat, war oft ein lieber Gaſt in meiner Eltern Hauſe, 
als ich noch ein Kind; und einmal — ich ſehe ſie noch 
ganz deutlich, die dünnen Briefbogen zund die feine Schrift 
darauf — brachte er Gedichte mit; und ich höre noch, 
wie er ſagt, indem er ſie meiner Mutter hinreichte, „ſie 
ſind von Salomon!“ Eines derſelben: „Bach und Wald⸗ 
ſtrom“ — ein kleines Lied zum Lobe der Beſcheidenheit, die 
ſpäter unter allen Tugenden gerade nicht die des Dichters 
war — hatte ſich meinem Gedächtniß tief eingeprägt; 
und hier finde ich es wieder, im „Salon“ vom 5. Juni 
1841: „Primavera. Lieder und Bilder von S. M.“ — 
„Da iſt er endlich,“ rufe ich, wie Franz Dingelſtedt in 
dem ſchönen Stammbuchblatt, welches er in ſeinem „Lite⸗ 
rariſchen Bilderbuch“, dem Andenken des früh Geſchiedenen 
gewidmet hat — „der Moſenthal!“ Er ſaß in Tertia, 
auf der vierten Bank von oben. ... Als ihn die Reihe 
traf, die franzöſiſchen Exercitien der Claſſe, die ich corri⸗ 
gieren durfte, dreißig bis vierzig an der Zahl, mir in's 
Haus zu bringen, blieb er, nachdem er ſeine ſchwere Bürde 
auf meinen Schreibtiſch abgelegt, an der Thür verlegen 
ſtehen. „Wünſchen Sie noch etwas?“ fragte ich freund⸗ 
lich, das officielle „Du“, wie immer außerhalb der Schule, 
ablegend. Nach einigem Stammeln: Ja, ich hätte wol... 
Wenn ich ſo frei ſein dürfte u. ſ. w., zog er aus ſeiner 


— 117 — 


Taſche ein paar, mit feiner fließenden Handſchrift dicht 
bedeckte Blätter hervor: „Gedichte“. Ich hieß ihn ſitzen, 
leſen, während ich zuhörte, ermuthigend mit dem Kopfe 
nickte, hier und da beſſerte. Sein Geſicht wurde aus 
roſenroth purpurfarbig; das goldene Haar funkelte förm⸗ 
lich, hörbar flog ſein Athem. Es waren, ſo viel ich mich 
erinnere, ächte Schülergedichte, Leſefrüchte, Schnabelſtudien 
eines noch nicht flügge gewordenen Singvogels. Aber ſie 
müſſen etwas verſprochen haben; denn als ich, ein paar 
Jahre ſpäter, — um, wie College Clavigo, „meiner Nation 
das noch unbekannte Vergnügen einer Wochenſchrift zu 
geben“ — in Kaſſel eine Zeitung, „Der Salon“ aufthat, 
verſäumte ich nicht, lyriſche Beiträge von Moſenthal 
heranzuziehen.“ 

S. H. Moſenthal war nicht der einzige jüngere heſ— 
ſiſche Poet, welchen der „Salon“ in die Literatur ein⸗ 
geführt; doch hat Dingelſtedt allen, auch denen, welche 
nicht im ſpäteren Leben eine jo glänzende Carrière ge= 
macht haben, wie der Verfaſſer der „Deborah“ und des 
„Sonnwendhofes“, ein treues, landsmannſchaftliches An— 
denken bewahrt. 

Es wäre nicht richtig, zu behaupten, daß es nur 
politiſche Motive geweſen, welche Dingelſtedt aus dem 
Vaterlande getrieben. Wir haben ja genugſam geſehen, 
was ihn ſonſt noch hinauszog. „An eine unbekannte Stadt, 
an ein fernes Gebirge,“ ſagt in dem „Deutſchen Nächtern 
in Paris“ einer ſeiner Helden, „knüpfte ich die wunder⸗ 
ſamſten und ausgelaſſenſten Träume. In jener ſollte 
mich ein Fürſt, ein Miniſter, ein Großer finden, und ich 
hinter dieſen eine Hütte und ein Herz, Frieden, Raſt, 


— 118 — 


Glück u. ſ. w.“ Mannigfache Spuren dieſes immer heftiger 
werdenden Verlangens finden ſich auch in den Gedichten 
des „Salon“, welche nicht in die Geſammt⸗Ausgabe über⸗ 
gegangen ſind. Zu ſeinem 27. Geburtstag (30. Juni 1841) 
fingt er ein wildes, dunkles Lied von dem Wandersmann, 
der auf der Brücke ſtand: 

Vor ihm ein Nebelmeer, grau und zerfloſſen, 

Und hinter ihm ein Fernbild, duftig klar — 

Ihn ſchwindelte, und feſt hielt er umſchloſſen 

Den Eichenſtab, der ſein Gefährte war. 

In einem andern, „Verſtändlich für Viele!“ ruft er 

aus: Das Muſtern, Meiſtern und das Mäkeln, 

Wie hab' ich es zum Tode ſatt! 


Lebendig ſein und doch begraben, 
Verflucht ſei ſolch ein Zwitter⸗Loos 
Daß Verſtimmung über die Kleinlichkeit und Enge 
der Verhältniſſe bei ſeinem Entſchluß mitwirkten, ſteht 
außer Frage. „Bete für Deinen Freund, daß er ihn bald 
aus dem Lande Aegypten führe,“ ſchrieb er an die „Ver⸗ 
lorene“; und etwas ſpäter, im Herbſt 1841, an den 
Freund Vogel: „Wie mir's jetzt in Heſſen geht, davon 
haſt Du keine Idee. Ich kam zehn Tage zu ſpät von 
einer Reiſe, mit Oetker gemacht, nach Wien, Salzburg, 
Innsbruck u. ſ. w., hierher zurück. Da hatte mir ein 
hohes Miniſterium den Gehalt per Auguſt ſchon belegt. 
Ich proceſſire noch darum; ein Zeugniß des Dr. med. 
Frankl aus Wien, Verfaſſer des „Columbus“, wurde zu⸗ 
rückgewieſen.“ 
Er kam um zweijährigen Urlaub oder Entlaſſung 
aus dem heſſiſchen Staatsdienſte ein; wie wenig er aber 


te m 


daran dachte, ſein Vaterland für immer zu verlaſſen, geht 
aus folgenden Zeilen an Vogel hervor: „Mit dem „Salon“ 
bleibe ich in ſteter Verbindung; er bekommt ausſchließlich 
meine Reiſeberichte. Dieß und eine verſtändige Redaction, 
von Oetker und Dir geleitet, müſſen das Blatt ſo heben 
und halten, daß ich nicht allein nach meiner Rückkehr 
daſſelbe würdig übernehmen und glänzend hinſtellen kann, 
ſondern daß Du eine Garriere dabei machſt, bei mir 
bleibſt, eine Literatur⸗-Puiſſance wirft. Deine Inſtruction 
arbeite ich ſchon noch aus.“ Die Nummer vom 30. Octo- 
ber 1841 brachte die redactionelle Notiz, daß „die Nach- 
richt mehrerer Blätter, u. a. der Leipz. Allg. Zeitung, 
der „Salon“ werde mit Ende des Jahres wahrſcheinlich 
aufhören, da Herr Dr. Dingelſtedt Heſſen verlaſſen habe“, 
nicht richtig ſei. Der „Salon“ werde vielmehr, wenn 
auch in veränderter Form, d. h. zweimal wöchentlich, zu 
erſcheinen fortfahren. „Herr Dr. D. bleibt auch in der 
Ferne dem Unternehmen zugethan und hat demſelben die 
beſten ſeiner Productionen zugeſagt.“ Die Erbſchaft 
Dingelſtedt's ging auf Oetker über, welcher in ſeinen 
„Lebenserinnerungen“ klagt, daß er an die Exiſtenzfähigkeit 
des Blattes kaum noch geglaubt habe, als er es über- 
nahm. „Der „Salon“ konnte ſich in Kaſſel nicht halten; 
Dingelſtedt ſelbſt würde ihm ſchwerlich ein langes Leben 
geſichert haben. Das Blatt hatte faſt ebenſo viele Mit⸗ 
arbeiter wie Abonnenten. Kaſſel ſcheint für dergleichen 
Unternehmungen, wie auch noch ſpätere Verſuche gezeigt 
haben, kein Ort zu ſein.“ 

Das habe ich ſelber, worauf Oetker hier anſpielt, erfahren 
müſſen, als ich, zwölf Jahre nach dem Eingehen des „Salon“ 


— 120 — 


und noch Marburger Student, in Kaſſel das „Heſſiſche 
Jahrbuch“ herausgab, in deſſen zwei Jahrgängen (1854 
und 1855) gleichſam das ganze literariſche Heſſenthum ſich 
einſtellte, von unſrem wackeren Veteranen Heinrich Koenig 
an bis zu Herman Grimm, welcher — durch die Tradi⸗ 
tionen ſeiner Eltern und ſeines Oheims mit der alten 
Heimath zuſammenhängend — hier einige reizende Poeſien 
veröffentlichte. Auch mein Freund und Landsmann Otto 
Braun, ein Schüler Dingelſtedt's und lange noch, als 
Nachfolger Kolb's in der Redaction der Augsburger „All⸗ 
gemeinen Zeitung“, mit dem alten, treuverehrten Lehrer 
in Verbindung, weiß ein Lied davon zu ſingen, wenn er 
an die beiden Jahre des „Kaſſeler Sonntagsblattes“ zurück⸗ 
denkt. Infandum regina jubes — 

Kurz, der „Salon“ ging ein und Dingelſtedt er 
nicht wieder. Am 8. October 1841 las man in der Bei- 
lage der „Kaſſelſchen Allg. Zeitung“: 

„Seine Hoheit der Kurprinz und Mitregent haben 
gnädigſt geruhet: 

dem Gymnaſiallehrer Franz Dingelſtedt zu Fulda 

die nachgeſuchte Dienſtentlaſſung zu ertheilen.“ 

Dingelſtedt begab ſich nach Augsburg, um in die 
Redaction der „Allg. Zeitung“ einzutreten. Inzwiſchen 
aber (Dec. 1841) waren die Nachtwächterlieder erſchienen, 
und Herr von Cotta fand es gerathener, den gefährlichen 
jungen Mann einſtweilen auf Reiſen zu ſchicken. 

Nun hatte Dingelſtedt was er wollte, und mit dem 
Rufe: Luft, Licht und Luft! Nur einen Zug, 

Einen Blick in die Welt und die Freiheit! 
ſtürmte er hinaus und wandte E nach Paris. 


IV. 


„Franz Dingelſtedt befindet ſich gegenwärtig 
auf längere Zeit in Paris. Es geht und gefällt ihm, 
wie er ſchreibt, „in dem neuen, freien, frohen, friſchen 
Leben unendlich wohl“. Auch Georg Herwegh, der geniale 

Verfaſſer der „Gedichte eines Lebendigen“ iſt in Paris.“ 
Dieſe Notiz brachte die Neujahrsnummer des „Sa⸗ 
lon“ 1842 zugleich mit dem Anfang der „ſtillen Novelle“ 
von Dingelſtedt. Einige Wochen nachher, im Februar, leſen 
wir folgende Zeilen: „Es iſt Alles eitel! Auch Dingelſtedt 
ſchreibt's aus Paris. „Neulich ſagte mir Lamartine,“ 
ſchreibt er weiter, „mais vous connaissez Paris, comme 
si vous y aviez été eing ans.“ — „Tant pis pour Pa- 
ris.“ — „Non, mon jeune ami, tant pis pour vous.“ — 
Ich fühlte, daß er fürchterlich Recht hatte.“ 

Die Verwandlung vom kurheſſiſchen Pädagogen zum 
Pariſer „boulevardier“ und „homme de monde“ ſcheint 
in der That überraſchend ſchnell und glücklich vor ſich 
gegangen zu ſein. Sein alter Freund Vogel, welcher im 
März deſſelben Jahres gleichfalls nach Paris kam, be⸗ 
richtet über ihn dem heimathlichen „Salon“ (Nr. 30, 
13. April 1842) folgendermaßen: „Ich fand Dingelſtedt 


— 122 


nach einigen Tagen Aufenthalt in Paris; wir hatten 
einige Stunden des freundlichſten Begegnens am Kamin; 
es wurden bei franzöſiſchen Cigarren deutſche Erinne⸗ 
rungen hervorgeſucht, akademiſche und literariſche, trübe 
und heitere, Mittags gingen wir zuſammen in ſein ge 
wöhnliches Leſecabinet im Palais⸗Royal. Der Empfang, 
der ihm hier von den verſchiedenen Correſpondenten und 
Gelehrten wurde, zeigte mir deutlich, welche hohe Achtung 
er dieſen in ſo kurzer Zeit abgewonnen hatte. Er ver⸗ 
ſchlang die franzöſiſchen, deutſchen und engliſchen Jour⸗ 
nale haſtig, ſchrieb dann in gleicher Haſt ſeine Berichte 
und damit wurde es Abend. Nach dem Diner hatte 
Dingelſtedt eine muſikaliſche Soirée bei der Gräfin Mer⸗ 
lin. Ich verließ ihn, wie er zum dritten Male an dem 
einen Tage Toilette machte, Abends gegen 10 Uhr. So 
und ähnlich die ganze Woche durch. Donnerſtags in Ver⸗ 
ſailles bei Marquis Foudras, einem franzöſiſchen Dichter 
der neueſten Zeit, Freitags mit Jules Janin im Theatre 
frangais, Sonnabends im Salon Lamartine's, Sonntags 
in Schleſinger's Matinée musicale, Montags in einer 
großen Abendgeſellſchaft des Marquis de las Maris⸗ 
mas u. ſ. f.“ 

Dem braven Vogel ſtehen die Haare zu Berge über 
ein ſolches Treiben. „Wir alle wiſſen, Dingelſtedt iſt 
eitel,“ fährt er fort. „Er gefällt ſich in ſeinen dermaligen 
Verhältniſſen gut, er iſt, dünkt mich, ſtolzer auf ſeinen 
Pariſer Schnurrbart und Frack, als er auf ein deutſches 
Lied aus ſeiner erſten und beſten Zeit war.“ Und nun 
wirft auch er ihm vor, daß er für das franzöſiſche Weſen 
„von jeher in ſträflicher Wahlverwandtſchaft inclinirte“, 


— 123 — 


und klagt, daß ein Leben, wie er es jetzt führe, ihn ſicher⸗ 
lich aufreiben werde. Wie wenig Vogel die wahre Natur 
ſeines Freundes damals kannte! „Dingelſtedt iſt dem 
heſſiſchen Vaterlande viel geweſen,“ ſchließt Vogel, „und 
hätte ihm noch mehr ſein können, wenn er gewollt, mit 
Verſtand und Maß gewollt hätte. Er findet das in der 
Fremde nicht wieder, was er daheim aufgab, und wenn 
er die glänzendſte und unabhängigſte Stellung erreichte. 
Für uns wird er verloren gehen . . . .“ Hier traf Vogel 
den wunden Fleck: ihm bangt davor, daß der Freund 
„ſeine beſondre Sendung, ſeine ſpecielle Lebensaufgabe, die 
wol eine ſchöne und bedeutende war, einſetzen könne gegen 
eine Carrière, wie fie hundert Andere auch machen, ohne 
ſein Talent“; und aus der Erwiderung, welche Dingel— 
ſtedt unter der Ueberſchrift: „Offenes Sendſchreiben“ an 
den mittlerweile wieder in die Heimath zurückgekehrten 
Freund im „Salon“ (Nr. 48 und 49, 15. und 18. Juni) 
erläßt, klingt es beinahe wie ein trauriges Zugeſtändniß. 
Das Schreiben iſt aus St. Cloud, 21. Mai 1842, datirt, 
„aus einem kleinen ſtillen Häuslein, wo ich mit zwei 
deutſchen Freunden dreiſiedele“. Dingelſtedt geſteht, daß 
das Blatt des „Salon“, in welchem der Freund die Er- 
innerung an ihn und das Wiederſehen, mit „treuen ſorg⸗ 
lichen Händen niedergelegt“, ihn wunderbar ergriffen habe. 
„Genau in demſelben Augenblicke, da es aus der Ferne 
an mich herantrat, war es Jahresfriſt, daß ich in der Aue 
zum letzten Male luſtwandeln ging, unter lauter bekannten 
Menſchen, unter lauter geliebten Bäumen. Und wie mich 
in den Pfingſttagen überhaupt das Gedächtniß an Ver⸗ 
laſſenes und Verlorenes nicht eine Minute lang in der 


an, 


Fremde ruhen und genießen ließ, wie ich in Nanterre nur 
die Au, in Verſailles nur Wilhelmshöhe ſah und träumte 
und lebte: ſo ſtiegen namentlich aus den Zügen Deiner 
Schrift, die ich in den kalten Typen webend und wirkend 
fand, allmächtige Mahnungen empor: Eindrücke, die ich 
noch immer nicht bewältigen kann.. Was Du von 
mir erzählſt, wie Du mich in Paris getroffen und be⸗ 
urtheilt und dargeſtellt haſt, thut mir wohl und wehe 
zugleich. Wohl, denn es iſt die Stimme des Freundes, 
die aus Deinen Worten klingt; wehe, weil ich meine, Du 
habeſt zum Theil unrecht geſehen, Du, aber durch fremde 
Anſchauungsweiſen .. .. Die zerriſſenen Bande, die auf⸗ 
gegebene feſte Stellung und regelmäßige Beſchäftigung, 
die friedliche Lebensgrundlage, meinem ſchwankenden und 
unſichern Weſen ſo nöthig — Alles Deine Ausdrücke, und 
harte, herbe Ausdrücke, mein Freund — ich erkenne ſie 
in ihrem ganzen Gewicht, in ihrer vollſten Bedeutung 
an.“ Aber ich glaube, daß es Dingelſtedt jetzt mit 
dem Vaterlande ging, wie ſpäter mit der Literatur: er 
ſagte ſich los und konnte ſich doch niemals davon befreien. 
Der Zwieſpalt ging durch ſeine Seele: hier die heimath⸗ 
liche Beſchränkung und Stille, die beſcheidene Sicherheit 
der Exiſtenz und der dauernde Ruhm des Dichters, dort 
die Verlockungen der vornehmen Geſellſchaft, der großen 
Welt und des auf den augenblicklichen Erfolg gerichteten 
Ehrgeizes. Welche Stimme die mächtigere war, wiſſen 
wir; ob aber die Befriedigungen des Weltmannes ihm 
jemals die des Poeten aufgewogen haben? Halb weh⸗ 
müthig, halb ſpöttiſch, mit jenem Doppelſpiel erregten 
Gefühls und leichten Scherzes, das ſich über das eigene 


— 15 — 


Innere täuschen möchte, — „Träumer und Poet mitten 
in den Verſuchen, es nicht mehr zu ſein“ — Spricht er 
von dem ſchönen Maimorgen, als er, vor ſechs Jahren, 
über die Fuldabrücke nach Kaſſel fuhr, „mit Gott weiß 
welchen mailichen Hoffnungen und vaterländiſchen Wün⸗ 
ſchen“; die Kaſſeler, die Fuldaer Anfänge, die hochfliegen— 
den Plane, die mißlungenen Verſuche gehen noch einmal 
an ſeinem Geiſte vorbei — die „Kurheſſiſche Allgemeine 
Landeszeitung“ nebſt ihrem Beiblatt „die Wage“, das 
„Heſſiſche Album“, gelb brochirt und mit einem herrlichen 
Titel und zuletzt der „Salon“, auf deſſen Probenummer 
beim neuen Quartal aus Kurheſſen eingegangen ſind: 
„7, ſage ſieben, ſage ſieben Abonnements — — — und 
darunter eines aus einer Irrenanſtalt! — — —“ Und 
nun rede mir, ruft er dem Freunde zu, von meiner be— 
ſondren Sendung, von meiner ſpeciellen Lebensaufgabe, 
nicht nur in unſerem armen, kleinen Kurheſſen, ſondern 
in Eurem ganzen, großen Deutſchland überhaupt! Wo 
iſt in Eurem Staate der Platz für einen Schriftſteller? 
„Die Carrière von der letzten Bank eines Gymnaſiums 
bis auf die gepolſterten Armſtühle eines Collegiums, in 
der Regierung, in der Rechtspflege, in der Verwaltung — 
o, dieſe Carrière macht ſich leicht genug.“ Aber ein 
Schriftſteller! Giebt es bei Euch einen Schriftſtellerſtand, 
wie Ihr einen Gelehrtenſtand, einen Beamtenſtand, einen 
Officiersſtand habt? Nein! losgelöſt von jeder organiſchen 
Verbindung, außer allem Zuſammenhang, ein Fremdling, 
ein Eindringling ſteht der deutſche Schriftſteller dem 
Staate, der Geſellſchaft gegenüber; das Merkmal des De— 
placirten, der in Eurer officiellen Welt nicht mitzählt, 


— 126 — 


haftet an ihm; er hat keine andere Stellung, als die er 
ſich mühſam, einzeln, individuell erkämpft, und was er 
endlich erreichen mag, das erreicht er nicht weil, ſondern 
obgleich er ein Schriftſteller iſt. Und Du nennſt mich 
eitel! „Mit dieſer Eitelkeit, ſage mir, was iſt es denn 
eigentlich? Nicht allein Du predigſt mich darüber ab, 
ſondern Viele und allerlei Menſchen, die es gut mit mir 
meinen. Meine Eitelkeit wird zuletzt ſo ſprichwörtlich, 
wie auf der Univerſität Dein Leichtſinn, und ſo offen⸗ 
kundig, wie unſeres Illo Sängertalent, wenn er auf der 
Kneipe anſtimmte: „Und der junge König von Rom ...“ 
Sieh, ſagt er, ich bin ein Kind der unteren Stände, und 
will hinauf in die oberen; aus der groben und trüben 
Luftſchicht des Literatenthums will ich hinauf in die 
Sphäre, „wo die ſchönen Formen wohnen“, die feine Sitte 
der Privilegirten. „Wenn das Eitelkeit heißt, dieſes Be⸗ 
wußtſein zielloſer Kraft, dieſe Empfindung eines ſtets ge⸗ 
kreuzigten Ehrgeizes, dieſe fieberhafte Sehnſucht nach einem 
großen und edlen Wirkungskreiſe, dieſes tiefnagende Ver⸗ 
langen nach einem Publicum, dieſe klimmende Haſt auf 
die ſtets verwehrten Höhen und Lichtpunkte des Lebens — 
nun ja, ſo ſchilt mich eitel, ſo bin ich es.“ Iſt dieſes 
nicht ein merkwürdiges Zwiegeſpräch, geführt gleichſam 
vor der noch dunklen Pforte — der Freund warnend und 
mahnend, anklagend und beſchuldigend, wie Dingelſtedt's 
eigenes Gewiſſen, und dieſer antwortend, indem er wider⸗ 
legt und zugiebt, ableugnet und eingeſteht, zu verbergen 
ſucht — und ſich dennoch verräth! War es wirklich ſeine 
Abſicht, ſeine Hoffnung oder nur ſein Wunſch, als er 
„ſein Lebensſchiff mit der Schreibfeder bewimpelt und auf 


a 


einem Bogen Schreibpapier in's Weite geſegelt“, daß die 
Literatur ihn an's Ziel trage? Vielleicht! Der Freund 
beſorgte damals, daß Dingelſtedt die Poeſie opfern könne, 
um als Politiker Karriere zu machen. Ja, Karriere machen 
wohl; aber untreu werden — niemals! Weder ſich, noch 
ſeiner Poeſie, noch ſeinem Vaterlande — wenn man, auf 
ſein ſpäteres Leben blickend, Deutſchland für Kurheſſen 
ſetzt. Das iſt es, wenn er ſagt, daß durch ſein Herz „der 
Riß zwiſchen dem Idealen und zwiſchen der Wirklichkeit nicht 
blos wie eine mathematiſche Curve ging“. Er wollte vereinen, 
was ſich nicht vereinen ließ. Wenn man jetzt, im Publicum, 
den Namen „Franz Dingelſtedt“ nennt, ſo denkt man nicht 
zuerſt an den Dichter, ſondern an den Intendanten, den Hof— 
und Weltmann; und doch war ſein Talent bewunderungs⸗ 
würdig! Was er verſprach, zeigen vielleicht am Beſten 
die Werke ſeiner Jugend, die nicht in ſeiner Sammlung 
ſind; aber auch in den ſpäteſten noch, welche Friſche des 
Geiſtes, welch' ein beſtändiger Wechſel von tiefer, ernſter 
Empfindung, anmuthigem Scherz, bitterer Ironie, welch' 
eine Lebenskenntniß und welche Meiſterſchaft der Sprache! 
Seine Gedichte namentlich ſichern ihn dagegen, jemals 
vergeſſen zu werden, wenn man gleich vielfach umſonſt 
nach ihnen fragen mag in den Buchhandlungen, in denen 
das Mittelgut unſerer Tage prädominirt. Aber die Hand 
der ſtrafenden Gerechtigkeit iſt auch hierin wahrzunehmen; 
denn, wie der Gott des alten Teſtamentes geſagt hat, 
„Du ſollſt keine andren Götter neben mir haben; bete ſie 
nicht an und diene ihnen nicht“, ſo die Literatur. Der 
Poet, der Schriftſteller in Deutſchland iſt ja nun einmal 
zur Reſignation verurtheilt; äußerliche Ehren ſind mit 


— 128 — 


der Literatur wenig zu gewinnen. Wäre Dingelſtedt in 
einem Lande, wie Frankreich oder England geboren wor⸗ 
den, wo die Literatur eine von den gleichberechtigten 
Mächten des öffentlichen Lebens und ihre Pflege ſo gut 
eine öffentliche Angelegenheit iſt als die der Wiſſenſchaft 
oder der Muſik und bildenden Kunſt; wo leitende Staats⸗ 
männer, Miniſter und Diplomaten ſtets zu den Zierden 
der Literatur gehört haben und der literariſche Beruf 
immer als ein Titel zu den höchſten geſellſchaftlichen Aus⸗ 
zeichnungen betrachtet worden iſt: dann freilich hätte 
Dingelſtedt das Brevet des Schriftſtellers nicht mit dem 
Wappen des Edelmanns zu vertauſchen brauchen; er hätte 
das Alles erreichen können durch Nichts als ſeine Feder. 
Aber er war in Kurheſſen zur Welt gekommen, er war 
ein Deutſcher. Er ſah ſich Vorurtheilen und Standes⸗ 
unterſchieden gegenüber, und gerade während ſeines Aufent⸗ 
haltes in Paris und London kam er zum Bewußtſein 
dieſer Schranken, deren Schatten unvortheilhaft auf das 
deutſche Culturleben fallen. Es ging ihm wie manchem 
andren Deutſchen im Auslande, welche darum wahrhaftig 
keine ſchlechteren Patrioten find, weil fie vergleichen und 
die fremden Vorzüge zu ſchätzen wiſſen. Das Wort 
„Chauvinismus“ war damals noch nicht im Schwange, 
weder hüben, noch drüben; aber man meint eine Stimme 
von heute zu hören, wenn Dingelſtedt dem Freunde ſchreibt: 
„Hätteſt Du meine Spur in der Fremde nicht verloren, 
Du müßteſt bemerkt haben, daß ich in Paris erſt deutſch 
geworden bin; freilich nicht deutſch genug, um das fran⸗ 
zöſiſche Weſen jo hochnaſig und jo maulredneriſch zu ver⸗ 
werfen, wie es jetzt Mode ſein ſoll . . . . Deutſchland 


— 198 — 


kann und wird von Frankreich noch mancherlei gewinnen. 
Sei die Kunſt, das einheimiſche Talent zu pflegen, bis jetzt 
in Deutſchland eine noch unbekannte, darunter nicht das 
allerwenigſte und allerletzte.“ 

Ein tiefes Heimweh iſt in Allem, was Dingelſtedt 
uns aus der Pariſer Zeit aufbewahrt hat. Gerne weilt 
er am Grabe Börne's, auf dem Pere Lachaiſe: 

Allein wie Der, der drunten liegt gebettet 
Bei fremden Leuten und in fremdem Sand, 


Zu dem ich oftmals mich heraufgerettet, 
Wie in ein Stück vom fernen Vaterland. 


Bezeichnend für ſeine Stimmung iſt es, daß er mit Vor⸗ 
liebe politisches Flüchtlings⸗Leben zum Gegenſtande ſeiner 
Schilderungen wählt, ſo z. B. in der Novelle „Deutſche 
Nächte in Paris“. 

Drei Deutſche treffen ſich wöchentlich einmal im 
„Café de l'Exilé“, welches vor der Barriere des Martyrs, 
auf dem Wege zum Montmartre, von einem alten, ver- 
bannten Polen gehalten wird. „Ein ſonderbares Zu— 
ſammentreffen, wenn die Herberge des Verbannten dicht 
am Thore der Märtyrer liegt!“ Der Eine von den 
Dreien, „ein blöder, blonder Menſch, in jedem Zuge deutſch 
geblieben“, war ſeines Zeichens Buchhändler und hieß 
„der Krawaller“, obgleich er der Sanfteſte von ihnen 
und ſeine politiſche Sünde in nichts Schlimmerem be⸗ 
ſtand, als ein verbotenes Buch debitirt zu haben; der 
Zweite hieß „der Diplomat“ und lehrte Deutſch an einer 
Mädchenſchule, der Dritte war „der Poet“ und ſein Ge⸗ 
ſchäft in Paris, „Straßen und Zeitungen zu durchlaufen“. 
Dort oben laben ſich die drei Deutſchen an e 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 


— 130 — 


mit Würſtchen und Eierkuchen mit Speck, trinken Punſch 
und rauchen echte Hamburger Cigarren dazu, welche Einer 
von ihnen geſchmuggelt hat; und wenn es hernach an's 
Erzählen kommt, ſo geben der Krawaller und der Diplo⸗ 
mat ihre Leidensgeſchichten zum Beſten, während der Poet, 
„welcher erſt die kürzeſte Zeit in der Fremde war“, den 
Zuhörer macht. Aber einmal, bei einer beſonders rühren⸗ 
den Stelle, als „nach dem alten ſinnigen Volkswort ein 
Engel durch das Haus des Verbannten flog, der Engel 


mit den Zügen der Heimath . da fiel ſein Haupt 


ſchwer auf die ſchwere Bruſt hernieder und aus den Augen 
zitterte ihm eine Thräne.“ 


Aus der gleichen Stimmung heraus iſt auch das Ge 


dicht „Die Flüchtlinge“ entſtanden. Ein Spanier, ein 
Pole, ein Grieche und ein Italiener ſitzen beiſammen, 
abermals im „Hauſe des Verbannten“; aber ſie klagen 
ſich nicht harmlos ihr Leid, wie der Krawaller, der Di⸗ 
plomat und der Poet, ſondern ſie führen bittere Reden 
„von ihrer Herrſcher Tyrannei, von ihrer Völker Schande”. 
Da war auch Einer unter ihnen | 
— ein blaſſer deutſcher Junge, 


Mit blondem, deutſchem Lockenhaar 
Und blöder, deutſcher Zunge. 


Was thateſt Du denn, kleiner Mann, 
Belächeln ihn die Andern, 

Daß Du ſo früh in Acht und Bann, 
In's Elend mußteſt wandern? 

„Ich ſprach einmal ein freies Wort 
In Sachen der Tſcherkeſſen; 

Da jagten ſie von Haus mich fort, 
Nachdem ich lang geſeſſen.“ 


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— 131 — 


Als fie das vernehmen, rufen die Viere: „Dir die Dornen: 
krone, Dir der Eſſigſchwamm am Rohre!“ 


Komm, Deutſcher, nimm das Glas zur Hand 
Und thue, wie wir thaten; 

Ruf Zeter auf dein Vaterland, 

Das Land, das Dich verrathen! 


Er aber wirft das Glas in Scherben und jetzt beginnt 
ſein ſonſt ſo ſanftes Auge zu blitzen, indeſſen Hand und 
Stimme ſich erheben: 

„Das wolle Gott im Himmel nicht, 


Daß ſolches je geſchehe! 

Nein! Wer mit deutſcher Zunge ſpricht, 

Ruft Deutſchland niemals Wehe! 

Und wenn ich ſie, die mich verſtieß, 
Nie wiederſehen werde, 

Mein letzt' Gebet und Fleh'n bleibt dieß: 

Gott ſchütz' die deutſche Erde!“ 


Es iſt ſehr natürlich, daß bei der damaligen Richtung 
Dingelſtedt's und unter dem Einfluß der Temperatur der 
Vierziger Jahre, das Heimweh für ihn zunächſt dieſe poli⸗ 
tiſche Färbung annahm. Er traf in Paris faſt gleich⸗ 
zeitig mit Herwegh ein und Heine feierte „des Nacht⸗ 
wächters Ankunft zu Paris“ in einem Gedichte, welches 
Campe zunächſt nur in einer kleinen Anzahl von Exem⸗ 
plaren drucken ließ und als e für Freunde“ 
in Circulation ſetzte: 

Nachtwächter mit langen Fortſchrittsbeinen, 

Du kommſt ſo verſtört einhergerannt! 

Wie geht es daheim den lieben Meinen, 


Iſt ſchon befreit das Vaterland? 
9 * 


— 182 — 


Nicht viele Jahre ſpäter ſollte ein anderes Gedicht und 
aus einer andern Tonart folgen. „ Brutus“, redet er 
Herwegh an: 

Brutus, wo iſt Dein Caſſius? 

Der Wächter, der nächtliche Rufer, 

Der einſt mit Dir, im Seelenerguß, 

Gewandelt am Seine⸗Ufer? 


— — — — — — — — — — 


Brutus, wo iſt Dein Caſſius? 

Er denkt nicht mehr an's Morden! 
Es heißt, er ſei am Neckarfluß 
eee geworden. 


Mag man in den Pariſer Frühlingsphantaſien aach viel 
erkennen, was jetzt als ein Reflex der Zeit und Umgebung 
erſcheint, ſo bleibt doch immer der Grundton eines echten 
und vollen Empfindens, welches noch unmittelbarer wirkt, 
wo es ſich, wie in dem ſchönen Gedichte „Chriſtnacht in 
der Fremde“, mit den Erinnerungen an die eigne Hei⸗ 
math und Kindheit verbindet. Allein in Paris, erinnert er 
ſich, daß dieß die Stunde ſei, wo man daheim am 15 
een das erſte Licht anzündet. 


Heut zwanzig Jahr! Damals war ich ein Kind — 
Beglückte Herzen, die es ewig ſind! — 

Ich hatt' ein Vaterhaus, zwar eng und klein, 
Doch kehrte ſtets der heil'ge Chriſt d'rin ein. 
Und mit der Schweſter harrt' ich froh und bang 
In dunkler Kammer, bis die Schelle klang; 

Bis uns die Mutter, juſt um dieſe Stunde, 
Hineinrief an die helle Tafelrunde. 


Auf ſeinem Teller, in Moos verſteckt, findet er eine Taſchen⸗ 
uhr — die erſte! — die der Vater ihn aufziehen lehrt. 


— 133 — 


Die Uhr war gut. Ich trug ſie lang, ſie ſchlug 
Der ſchönen Stunden wahrlich mir genug, 

Auch manche wol, die ohne Zweck verdarb, 

Und eine, ach! da meine Mutter ſtarb. 


Ebenſo wahr, wie dieſes Gedicht aus dem Pariſer Cyclus, 
iſt auch das an H. Heine, in welchem, „beim Abſchied 
von Paris“, der Poet ſeinen ganzen Humor wiedergefun⸗ 
den hat und Malice für Malice zurückgiebt: 

Des Nachtwächters lange Fortſchrittsbeine, 

Sie ſind des Wanderns ſatt und matt; 

Es gelüſtet ſie, lieber Heinrich Heine, 

Dermalen nach einer Ruheſtatt. 

Es gelüſtet ſie, lieber Henri Heine, 

Nach einem Vollbad im deutſchen Rhein; 

Denn Deine unſittlich welſche Seine 

Bedeckt kein ſchamhaft germaniſches Bein. 


In jenem Chriſtnacht⸗Gedicht, da Niemand ihm Etwas 
ſchenkt, beſcheert er ſich ſelber einen Eichenſtock für fünf⸗ 
zehn Sous. 

Der ſei's! Den wirft der Chriſt mir heuer zu! 

Ein Wanderſtab, ob einſt — ein Bettelſtab? 

Gleichviel, hält er nur aus bis an das Grab 


Dieſer Wanderſtab hat ihn, im Gegentheil, zu Glück 
und Ehren geführt; wenn es ihm freilich auch nicht ver⸗ 
gönnt ſein ſollte, den Traum dauernder Heimkehr, mit 
welchem er einſt ſein kleines Heſſenland verlaſſen hatte, 
verwirklicht zu ſehen. 


V. 


Es it Dingelſtedt nicht leicht geworden, ſich von 
der heſſiſchen Heimath loszureißen, von den alten Freun⸗ 
den und den alten Erinnerungen, trotz des verzehrenden 
Durſtes nach Neuem, welcher ihn forttrieb. Denn er war 
vor Allem ein Gemüthsmenſch; und was er gefühlt, als 
er den heimathlichen Bergen Lebewohl ſagte, das ließe ſich 
aus ſeinen Schriften nachweiſen, wenn es mir nicht durch 
Denjenigen ausdrücklich beſtätigt worden wäre, welcher ihm 
an jenem Oktobertage des Jahres 1841 das letzte Geleite 
zur Poſt in Fulda gab. „Wie ich gegangen bin,“ 
heißt es in dem offenen Sendſchreiben an Vogel, welches 
der „Salon“ brachte, „mit wie ſchwerem Herzen, das 
weißt Du nicht; nur Diejenigen wiſſen es, die mir in 
jenen Stunden nahe waren, die über mir das Laub des 
letzten Herbſtes fallen ſahen und die letzten Schwalben mit 
mir davon ziehen.“ Nicht die liebevollen Vorwürfe, welche 
der Jugendfreund ihm machte, kränkten ihn, wenn ſie 
gleich ihn wehmüthig ſtimmten. Aber nun ſchon begann 
jene Fluth von Schmähungen gegen ihn ſich zu erheben, 
welchen er ſein ganzes ſpäteres Leben ausgeſetzt geweſen 
und von denen er ein gut Theil gewiß ſelbſt herausgefor⸗ 


— 135 — 


dert, weniger vielleicht durch Das, was er gethan oder 
nicht gethan hat, als durch Das, was er geworden iſt. 
Wer den Gang ſeiner Entwickelung bis hierher verfolgte, 
der wird zugeſtehen müſſen, daß ſeine Natur mit all' ihren 
Fehlern und Widerſprüchen offen vor der Welt und ſeinen 
Freunden lag; ſie mögen ſich in ihren Erwartungen ge— 
täuſcht haben, er hat ſie nicht getäuſcht. Etwas Andres, 
als ſie vermutheten oder gutheißen mochten, ward aus 
ihm; aber kein Andrer. Er iſt unverändert derſelbe ge- 
weſen und geblieben — in Rinteln und Marburg, in 
Kaſſel und Fulda, wie jetzt in Paris, und nachmals in 
Stuttgart, in München, in Weimar und Wien — von 
einer genialen Begabung unterſtützt, nach Auszeichnung, 
nach Ehren ſtrebend, immer höher hinauf, über Alle hin⸗ 
aus, die vormals ſeine Kameraden waren; vielfach rück⸗ 
ſichtslos, aber niemals treulos, manchmal übermüthig, 
aber niemals unedel. 

Aus ſeiner eigenen Heimath kamen die erſten An⸗ 
klagen, ſchon damals, 1842: „ich hätte keinen Charakter, 
und ich wäre eigentlich doch nur ein ſelbſtſüchtiger Lumpen⸗ 
kerl, an dem nichts Rechtes, als ein paar verjährte Ge— 
dichte.“ So ging es über ihn her, als er noch nicht ein- 
mal die ſogenannte „Wandlung“ durchgemacht, ſondern 
ein politiſcher Dichter und Zeitungscorreſpondent in Paris 
war, wie mancher Andere, doch mit einem tieferen Hei— 
mathempfinden, als die Meiſten. „Wie ſchwer ich ge— 
gangen bin und wie leicht man mich ziehen ließ: ich habe 
mir das Gelübde abgenommen, nur die lichten Erinne⸗ 
rungen an die Heimath wie liebe Sterne feſtzuhalten und 
alle Täuſchungen, alle Kränkungen wolkenähnlich darunter 


8 


fortwallen zu ſehen. Ich weiß wol, was Viele erwartet 
und heimlich gehofft haben, da ich fort war: ich ſollte 
nun recht derb und rückſichtslos herfallen über das Ver⸗ 
laſſene, alle Bande abſchneiden, alle Schiffe verbrennen 
hinter mir; ich ſollte ihr Müthchen kühlen.“ Aber was 
immer Dingelſtedt's Fehler geweſen, unnoble Geſinnung 
war nicht darunter; und ſo wenig der Flüchtling im 
„Hauſe des Verbannten“ Zeter rufen will über Deutſch⸗ 
land, ſo wenig findet ſich in all' ſeinen Schriften auch 
nur eine einzige pietätloſe Zeile über ſeine heſſiſche Ver⸗ 
gangenheit. Zahlreich dagegen ſind die Stellen — und 
mehrere derſelben habe ich ja mitgetheilt — in welchen 
noch nach zwanzig, nach dreißig Jahren Dingelſtedt ſich 
mit ſolcher Deutlichkeit und Wärme der Heimath erinnert, 
daß man ſie nicht leſen kann, ohne davon ergriffen zu 
werden. „Deinen Zuruf zur Heimkehr,“ ſo ſchließt jener 
Salonbrief an den Freund, „beantworte ich, ſobald es 
Zeit iſt, durch die That. Uebrigens darfſt Du glauben 
und alle mit Dir, daß ich nicht eine Stunde länger wan⸗ 
dern würde, wüßte ich, daß das Vaterland mich ver- 
mißte und zurückwollte. Das klingt wie eine Phraſe; 
mag man prüfen, ob ſie hohl iſt. Sobald ich weiß, was 
ich unter Euch ſoll, und daß ich dieſes auch kann, ſobald 
die Heimath mich verlangt, wann und wie es ſei, bin 
ich da.“ 

Doch ſie hat ihn nicht verlangt, ſo wenig wie vor 
ihm den Dichter Ernſt Koch, die Brüder Grimm und nach 
ihm die vielen ausgezeichneten Männer, die theils in an⸗ 
dern deutſchen Staaten, theils im fernen Amerika den vom 
Vaterland ihnen verweigerten Boden einer gedeihlichen 


— 137. — 


Thätigkeit ſuchen mußten — und unter welchen Schmer⸗ 
zen, das ſoll hier nicht wiederholt werden. | 

Aber ein Kurheſſe vergißt ſein Vaterland niemals; 
er trägt es mit ſich im Herzen, auch heute noch, wo es 
gar kein Kurheſſen mehr giebt. Lange, ja bis an ſein 
Lebensende hat Dingelſtedt ſich mit dem Plane jenes Ro⸗ 
mans beſchäftigt, zu welchem er in Kaſſel die erſte An⸗ 
regung empfangen hatte; der in der weſtphäliſchen Zeit 
ſpielen, den Namen „Sieben Jahre“ führen ſollte, und aus 
welchem einzelne Abſchnitte bereits im Unterhaltungsblatt 
zu Fr. Oetker's „Neuer Heſſiſchen Zeitung“ im Jahre 1848 
veröffentlicht wurden. Ich erinnere mich deutlich ſie ge— 
leſen zu haben, und kann es, nach dem Eindruck, welcher 
mir geblieben iſt, nur beklagen, daß Dingelſtedt den Ro⸗ 
man nicht vollendet hat, deſſen Gegenſtand etwas eigen 
thümlich Anziehendes für ihn haben mußte, da der 
Reiz des Heimathlichen in demſelben verſtärkt ward 
durch die Beimiſchung eines abenteuerlichen und ſelbſt 
phantaſtiſchen Elements. Das feine Empfinden für Stim⸗ 
mung und Farbe, welches der lyriſche Dichter auch auf 
die Erzählung übertrug; ſein Humor und ſeine Grazie, 
ſein geſchichtlicher Sinn, verbunden mit einer leicht ironi⸗ 
ſchen Weltbetrachtung, würden ihn ganz beſonders be⸗ 
fähigt haben, dieſes „traumhafte Zwiſchenreich“ von ſieben 
Jahren zu ſchildern, deſſen letzte Spuren er in dem Kaſſel, 
wie er es kannte, noch geſehen hatte. Man weiß, daß 
Heinr. Koenig das, was Dingelſtedt nur gewollt, in ſeinem 
Roman „König Jeröme's Carneval“, wirklich ausgeführt 
hat. „Ich habe,“ ſchreibt er an Oetker, „in dem Bruchſtück 
von Dingelſtedt's ‚Sieben Jahren“ den alten Freund noch 


— 138 — 


ganz als den alten wiedergefunden. Dieſelbe ſubjective An⸗ 
ſchauung und Färbung, dieſelbe Neigung, ſeine momentane 
Stimmung ſouverän über die Wahrheit der objectiven Welt 
zu erhalten! . . . Unſere beiderſeitige Darſtellung iſt aber 
ſo verſchieden, daß es mich nicht abhalten würde, den⸗ 
ſelben Stoff zu behandeln, auch wenn ſeine Arbeit früher 
fertig würde.“ Dieß war nun freilich nicht der Fall; 
„die Napoleoniden traten wieder auf die Bühne und die 
Handſchrift blieb im Pult“, ſchrieb Dingelſtedt an Oetker 
und Heinrich Koenig's Roman erſchien 1855. Doch we⸗ 
der das Eine noch das Andere ſcheint der wahre Grund, 
weswegen die „Sieben Jahre“ nicht vollendet wurden. 
Vielmehr, als der Dichter während der erſten Zeit ſeiner 
Wiener Bühnenleitung wieder zur Feder griff, um einen 
Roman zu ſchreiben, da waren ſeit der Conception 
jener heſſiſchen Hiſtorie mehr als dreißig Jahre ver⸗ 
gangen; andere Lebensaufgaben und Intereſſen beſchäftigten 
ihn und ſtatt der Kaſſeler Walpurgisnacht erhielten wir 
einen Künſtlerroman: „Die Amazone“. Doch ließ er den 
Gedanken an eine Wiederaufnahme des Gegenſtandes nie⸗ 
mals ganz fallen; und ich erinnere mich, daß er in den 
letzten Jahren, ſowol brieflich als mündlich, mehrmals 
darauf zurückgekommen iſt. Die Themata, welche beſtän⸗ 
dig in unſerer Correſpondenz wiederkehrten, waren ſeine 
Memoiren, ein zweiter Theil der „Amazone“ und „der 
heſſiſche Roman“. 

Leider iſt von alle Dem Nichts mehr zur Ausführung 
gekommen. Außer einigen Skizzen und Gedichten aus der 
allerfrühſten, und verſchiedenen Aufſätzen, über heſſiſche 
Zuſtände, wahrſcheinlich aus der Fuldaer Zeit — ſie ſind 


— 139 — 


von fremder Hand, vielleicht ſeiner ehemaligen Gymna⸗ 
ſiaſten geſchrieben und vom Dichter redigirt — hat ſich, 
wie Fräulein Suſanne von Dingelſtedt mir mittheilt, im 
Nachlaß nur das Bruchſtück der „Sieben Jahre“ vor⸗ 
gefunden und die Hoffnung iſt daher nicht ausgeſchloſſen, 
daß wir es aus demſelben noch einmal erhalten. — 
Aber nicht nur in einem hiſtoriſchen oder poetiſchen 
Sinne fuhr Dingelſtedt fort, ſich mit dem Heſſenlande zu 
beſchäftigen. Mehrfach regte ſich die Sehnſucht, ward der 
Wunſch nach Heimkehr ausgeſprochen, als er im Auftrage 
Cotta's noch immer reiſend, von Paris nach London und 
von London nach Wien ſich begeben hatte. Schon war 
der Orient in Ausſicht genommen; da kam — 1844 — 
die Stuttgarter Berufung wie „die Erlöſung vom Zwange 
des Handwerks“, und Dingelſtedt athmete „tief und friſch“ 
auf. „Sobald die Heimath mich verlangt, wann und 
wie es ſei, bin ich da,“ hatte er 1842 geſchrieben. Die 
Heimath ſchwieg und er folgte dem Rufe nach Stutt⸗ 
gart. „In einer kurzen Stunde wußte der König 
mich auswendig,“ erzählt er in ſeinen „Münchener Bil⸗ 
derbogen“. „Im Handumdrehen hatte er mir auf den 
Zahn gefühlt, meine Lebensgeſchichte und mein poli⸗ 
tiſches Glaubensbekenntniß abgehört, mich in fran⸗ 
zöſiſcher Sprache und Literatur examinirt, auch beſonders 
ſcharf inquirirt, ob ich von meinem Landesherrn, dem 
Kurfürſten von Heſſen, in Frieden und Ehren entlaſſen 
worden ſei. Dann ſagte er: „Die Stelle meines Biblio⸗ 
thekars iſt offen; Ich würde mich freuen, wenn Sie ſie 
annehmen wollten“, und entzog ſich meinem Dank mit 
den Worten: „Reden Sie mit meinem Staatsſecretär das 


— 140 — 


Nähere ab.“ Alles verlief nach Wunſch; und nicht lange, 
ſo trat er aus dem Cabinet des Königs „als ſein kleiner 
Clavigo“ heraus. Wenige Monate ſpäter (11. Novem⸗ 
ber 1844) hatte er dem Freunde in Kaſſel zum „Hof⸗ 
rath zuvorkommend condolirt“, weil dieſer ihm nicht 
„gratulirte“; es ſei nicht anders gegangen, ſchrieb er, er 
habe Hofrath werden müſſen ... „O Niemeyer *), 
o Theodor Hell!“ fügte er in komiſcher Verzweiflung hinzu. 
An Vogel ſchrieb er um dieſelbe Zeit: „Zu gratuliren 
brauchſt Du mir nicht. Der Titel iſt mir unlieb. Es 
freut mich nur wegen Jenny's und wegen meines Alten, 
dem ſolches Zeug noch Spaß macht.“ Mir aber ſcheint, 
daß er ſeines innerſten Herzens wahre Meinung verrathen 
habe in den folgenden Zeilen einer ſeiner Novellen („Ein 
reicher Poet“, S. 147), wo es heißt: „Hier ſchwindelte 
der Poet ... Herr Hofrath! Ihm war es, als riefen 
ihm hundert Poſaunen den köſtlichen Titel unaufhörlich 
zu; er wußte nicht, ſollte er lachen oder weinen vor 
Freude.“ Auch dachte die Welt im Allgemeinen nicht 
anders darüber. „Du biſt,“ ſo ſchrieb Freiligrath nach 
Stuttgart, „Hofrath geworden; ich will niemals etwas 
Anderes werden, als Freiligrath.“ Bitterer war H. Heine: 

Sie machen jetzt ein großes Geſchrei 

Von wegen Deiner Verhofrätherei, 

Vom Seineſtrand bis an die Elbe 

Hör' ich ſeit Monden immer Daſſelbe: 

Die Fortſchrittsbeine hätten ſich 

In Rückſchrittsbeine verwandelt — o, ſprich 

Reiteſt Du wirklich auf ſchwäbiſchen Krebſen? 

Aeugelſt Du wirklich mit fürſtlichen Kebſen? 

*) Niemeyer, der Herausgeber des „Boten aus Kaſſel“, war 

heſſiſcher Hofrath. 


zii 


Die letztere dieſer Verunglimpfungen ſchmerzte Dingel- 
ſtedt am Tiefſten. Denn er trug bereits in der Seele das 
Bild der ausgezeichneten und mit allem Reiz holder Jung⸗ 
fräulichkeit geſchmückten Künſtlerin, deren Bekanntſchaft 
er in London gemacht hatte, als ſie, während der Saiſon 
des Jahres 1842, in der Oper von Covent Garden 
mit ungeheurem Erfolge ſang. Damals, in einem Briefe, 
noch an den „Salon“, feiert er fie in den  begeijtert- 
ſten Ausdrücken, und fügt auch das erſte Gedicht „an 
Jenny Lutzer“ bei, welches — wie er mittheilt — ihr 
beim Abſchied „in einem Kreiſe deutſcher Freunde“ über⸗ 
reicht ward. Faſt unverändert findet es ſich in der 
Sammlung ſeiner Gedichte, wo es unter den „Haus— 
liedern“ unmittelbar demjenigen an ſeine Mutter folgt: 

Zieh' hin, du liebſte aller Nachtigallen, 
Von treuen Wünſchen freundlich heimgeleitet, 


Und laß dein Lied dort wiederum erſchallen, 
Wo du zuerſt die Schwingen ausgebreitet. 


Nun war er ſelber heimgekehrt und ſie ſollte ſein 
Weib werden. „Aber ſchweige über mich, wie Du für 
mich geredet,“ ſchrieb er an ſeinen Freund Oetker. „Meine 
Eitelkeit iſt geheilt. Ich fange an, ſtolz zu werden.“ 
Und nicht lange, ſo vereinte er ſich der Auserwählten, 
deren Mädchennamen Jenny Lutzer noch über den Ge— 
dichten an ſie ſteht, und mit welcher er in dreiunddreißig— 
jähriger Ehe des reinſten Glücks genoſſen hat. Es thut 
wohl, bei der Betrachtung dieſes lebenslangen Bundes zu 
verweilen, der — durch Nichts geſtört oder getrübt — mit 
der erſten Begegnung im Jahre 1842 begann und ge- 
dauert hat, bis der Tod ihn im Jahre 1877 löſte. Heilig 


— 142 — 


wie das Andenken an ſeine Mutter, war ihm die Liebe 
zu ſeiner Frau, an deren Seite nun, da er ſelber heim⸗ 
gegangen iſt, er ſeine letzte Ruheſtätte gefunden hat. 

„Als Freundin, als Braut, als Gattin war ſie dem 
Angefeindeten und Geſchmähten eine ſtarke und treue 
Stütze,“ ſagt Oetker. „Sie widerſtand allen Verleum⸗ 
dungen und Angriffen; ſelbſt als die freche Unwahrheit 
durch die Blätter ging, Dingelſtedt heirathe die Stuben⸗ 
rauch, ward ſie nicht irre, nicht wankend. Dafür pries 
ſie der Freund in jedem Briefe aus vollem, überſtrömen⸗ 
dem Herzen, und Jenny ihrerſeits „betete ihren Franz 
an“; ſo verſicherte ſie mir noch nach langen Jahren mit 
leuchtenden Blicken.“ 

Daß ein Mann, der durch Geiſt und Schönheit im⸗ 
ponirte, wie Dingelſtedt, Glück bei den Frauen gehabt 
und auch wol verſtanden hat, es zu benutzen, iſt nicht zu 
verwundern. „Weiber, Weiber, immer Weiber, Gott ſegne 
mir das Geſchlecht!“ Mit dieſen Worten hatte er dem 
Freunde ſeinen Einzug in Stuttgart gemeldet. Er wußte, 
was „Feenhände“ werth ſeien, als er das Bild der Gräfin 
in den „Deutſchen Nächten in Paris“ zeichnete. Auch hat 
er das Weib gekannt, wie nur Einer, und ſelbſt in rei⸗ 
feren Jahren, als er die Reize der Lady in den „Eid⸗ 
genoſſen“ gar verführeriſch ſchildert, deutſche Tugend nicht 
anders zu retten gewußt, als indem er ſie tragiſch enden 
läßt. Doch charakteriſirt Hochachtung vor den Frauen 
und frühe ſchon ein gewiſſer häuslicher Sinn ſein Leben 
und ſein Dichten. „Wenn Ihr auf der Univerſität Euren 
Kneipen und Commerſen entgegengingt,“ läßt er ſeinem 
Helden in „Unter der Erde“ ſagen, „höchſtens einmal einer 


— 143 — 


hübſchen Griſette am Brunnen oder bei der Kirchweih 
echt ſtudentiſch den Hof machtet, ſaß ich derweilen mit 
einem Gretchen, einem Klärchen, einem Riekchen in irgend 
einer Bohnenlaube und half Gurken einmachen oder Garn 
wickeln.“ 

Darf ich hier, nach ſo langer Zeit, und da ſie beide 
nicht mehr ſind, das Bild erneuern, das ſich weit, weit 
aus dem Nebelflor meiner eigenen Erinnerungen erhebt? 
„Auguſte Dunker“ — da ſteht der Name, ſo wie er vor 
der Widmung von Dingelſtedt's erſtem Buch „Frauen⸗ 
ſpiegel“ ſteht. In jenen glücklichen Jahren iſt man ja 
noch offenherzig! Er nennt ihren Namen „den, welchen 
ich unter allen am höchſten und theuerſten halte“; und 
„durch Winternacht und Winterferne“ — die Widmung 
iſt am 17. Januar 1838 zu Kaſſel geſchrieben — ſendet 
er ihr ſeine ſehnſuchtsvollen Grüße. Nicht nur das ihn 
noch ganz erfüllende Gefühl der Heimath, auch die Selig- 
keit erſter Liebe bedeutet ihm damals die Weſer; „ich 
möchte,“ ſchreibt er, „daß dieſer Spiegel auf Dich einen 
ähnlichen Eindruck mache, wie einſt auf uns Beide ein 
Blick in die klare blaue Fläche jener Wellen, die den Frie⸗ 
den und die beſchränkte Stille unſrer heimathlichen Berge 
abſpiegeln.“ Welcher Dichter hätte nicht, in der Morgen⸗ 
frühe ſeines Lebens, einen ähnlichen Traum geträumt — 
von einem Haus an den Hügeln der Heimath, von un⸗ 
auflöslicher Verbindung mit der Geliebten der Jugend — 
und wie Wenigen iſt er in Erfüllung gegangen! Lange 
bevor ich Dingelſtedt geſehen habe, ſah ich ſie — mit einer 
Art von ehrfurchtsvoller Scheu, wenn ſie aus dem elterlichen 
Haus in der Weſerſtraße zu Rinteln trat, eine hohe Geſtalt, 


—= 2 


den Kopf etwas geneigt, und immer einfam. Ich weiß 
die Zeit nicht anzugeben, wann ſie nicht mehr da war; 
aber mir iſt, ich ſähe ſie die ſtille Straße hinabſchreiten 
und meinen Blicken entſchwinden auf dem Blumenwall, 
unter welchem, leiſe rauſchend, die Weſer fließt — 

Vor meinen Blicken ſchwebt ein Angeſicht 

Mit feinen Zügen, bleich und ſchmerzlich milde, 

Dem Monde gleich, der durch das Nachtgefilde 

Mit den verweinten Strahlen⸗Augen bricht. 

Spät, wenn der Schlaf mein müdes Haupt umflicht, 

Dann drängt ſich's ſtumm in meine Traumgebilde, 

Daß in mein Herz, das heiß bewegte, wilde, 

Ein jähes Weh mit tauſend Dornen ſticht. 

Das blaſſe Antlitz hat mir's angethan 

Mit ſeinen Augen, die wie Sterne glimmen, 

Mit ſeinen Lippen, die Korallen ſcheinen. 

Ich ſchau' es lang und immer länger an; 

Dann ſcheint's im Dunkel mälig zu verſchwimmen 

Und ich muß weinen, laut und innig weinen. 


So beſang fie damals Dingelſtedt im „Frauenſpiegel“. 
Das Sonett iſt nicht in die Geſammtausgabe über⸗ 
gegangen; doch auch in dieſer iſt die Spur der erſten 
Liebe keineswegs verwiſcht und immer noch, durch die 
fünf erſten Cyclen der „lyriſchen Dichtungen“, wandelt 
ihr ſchöner Schatten. Wer weiß, wer ſagt es jetzt noch, 
was ſie getrennt? Einmal heißt es: 

Ich hab' aus ferner Heimath 

Ein Märlein heut gehört — 


Mein Lieb hat ſich verſprochen, 
Iſt eine frohe Braut. 


— 145 — 


Dingelſtedt hat das „Märlein“ gewiß ſelbſt nicht ge— 
glaubt. Aber was frommt es heute, nach der Wahrheit 
zu forſchen? Verlaſſen zu werden, war das Loos mancher 
Frau, die von einem Dichter geliebt worden. „Du gabſt 
Dich mir und mit mir dem Geſchicke.“ Wenn die Herzen 
auseinandergehen, iſt es beſſer, daß auch die Wege ſich 
trennen. 

Daß ich Dich täuſchte, nein, Du wirſt's nicht ſagen. 

Nur dieß nicht, ſage ſonſt, was Dir gefalle. 

Kehr' in Dich, wag' Dein Innerſtes zu fragen, 

Mein iſt die Schuld, doch iſt ſie es nicht alle! 


Und leidet nicht auch er, bitter, bitterlich? 


Du kannſt nicht klagen, daß ich Dich vergeſſen, 
Sieh her in meines Herzens offne Wunden: 
So viele Stunden, als ich Dich beſeſſen, 

So viele Narben werden d'rin gefunden. 


Und als der Schmerz in ihm ſich ausgetobt und als er 
wieder, ein Fremder, in die Heimath kommt nach Jahren 
und auf den Hügel über der Weſer, auf welchem er „als 
Knabe und Jüngling“ geſeſſen und alle die Stellen er— 
blickt, an welchen er glücklich geweſen, da klingt es aus 
ſeiner Seele, leis und wehmüthig: 

Hier ſitz' ich als Mann da, ſpähe umher, 

Ich horche hinauf und hernieder — 

Die holden Geſänge, ſie kommen nicht mehr, 

Die goldenen Träume nicht wieder. 


Ja, noch durch die ſinnlich-glühenden Verſe des Londoner 


„Romans“ zittert wunderbar ergreifend die Sehnſucht 


nach der Verlorenen — 
Rodenberg, Heimatherinnerungen. 10 


— 146 — 


Schön war ſie, meine Bajadere, 

Schön wie die Nacht, nicht wie der Tag, 
Wenn ſie, im Auge eine Zähre, 

An meiner Bruſt gewährend lag; 

Und doch: war ſchöner denn nicht Jene, 
Die, göttlicher Verehrung werth, 

Im Auge eine andre Thräne, 

Sich zürnend von mir abgekehrt? 


Dieß iſt das Letzte, was wir von ihr hören. Aber wer 
möchte ſagen, daß der Mann, der plötzlich die geiſter⸗ 
hafte Warnung der todten Mutter vernimmt und das 
bleiche Antlitz der Jugendgeliebten erblickt: 
Wo bei dem Sonnenglanz von hundert Lüſtern 
Nächtliche Wünſche durcheinander flüſtern, 


Wo Fächer reden, wenn die Lippen ſchweigen, 

Wo ſtatt der Uhr die Augen Stunden zeigen, 

Wo ſich die Füße drücken ſtatt der Hände, 

Wo — doch wer fände hier ein Ziel, ein Ende? — 


daß der Mann, ſag' ich, in der heißen Zone der Leiden⸗ 
ſchaft Befriedigung finde, wenn er auch ihrem Zauber 
unterliegt? „Ein platoniſcher Don-Juan!“ Der Aus⸗ 
druck iſt von Dingelſtedt, und auch dieſes Wort, welches, 
in dem andern obgenannten Roman, Felix an Eckart 
ſchreibt: „Jetzt verſtehe ich erſt, was Du ſagen wollteſt, 
wenn Du einſt, Deinen Knaben auf den Knieen, ... zu 
mir ſprachſt: „Das Beſte kennſt Du noch nicht!“ Nein, 
mein Getreuer, ich kannte es nicht, allein ein guter Engel 
ließ es mich finden, ich weiß nun, was eine Zukunft in 
Liebe und Familie und ſeliger Beſchränkung bedeutet.“ 
Und wer vernähme in dem hinreißend ſchönen Schluß⸗ 


e Aa 


capitel der „Amazone“, wo die Künftlernaturen Roland 
und Seraphine ſich endlich finden, nicht den Jubel von 
Dingelſtedt's eignem Herzen, welches nach fünfundzwanzig 
Jahren noch die ganze Seligkeit des Momentes fühlt, in 
welchen Jenny Lutzer, den Triumphen des Covent Garden 
und Kärntnerthor⸗Theaters entſagend, die Seine ward? 
Wenn etwas für den Charakter und das Gemüth 

meines dahingeſchiedenen Freundes Franz Dingelſtedt 
ſpricht, ſo war es ſein Familienſinn und ſein Familien⸗ 
leben. Wie einſt an der Mutter und der Schweſter, ſo 
hing er nun an der Frau und den Kindern; und auch 
wer ihn niemals in dem Kreiſe der Seinen geſehen hat, 
kann ſich ein Bild von der Innigkeit des Verhältniſſes 
machen, wenn er in Dingelſtedt's Gedichten den Abſchnitt 
„Hauslieder“ nachleſen will. Sie ſind voll der rührendſten 
Zeugniſſe ſeines Glückes, wie ſeiner Dankbarkeit. 

Mein treues Weib! Ihr, holde Gaben 

Der Liebe, kleines Kleeblatt Du, 


Ein Töchterlein, zwei friſche Knaben, 
Wie zärtlich ſchlägt mein Herz Euch zu! 


Bald kam ein zweites Töchterchen, Suſanne, welchem 
er viele Jahre ſpäter, als ſie von den Kindern allein noch 
zu Hauſe war, die Verſe widmet, in denen er auf die 
Frage, warum denn gerade ihr „das Aſchenbrödel-Loos“ 
zugefallen? antwortet: 

Damit Dein Vater inne werde, 
Der überall zu zweifeln liebt, 


Daß es hienieden auf der Erde 
Schon Engel aus dem Himmel gibt. 


10 


— 148 — 


Der Aelteren, Gabriele, ſagt er, als in ſeinem brau⸗ 
nen Haare die erſte Silberlocke ſich zeigt: 


Und wer mit Ehren wurde grau, 

Darf auch in alten Tagen 

Den Kopf vor aller Welt zur Schau 
Und hoch erhoben tragen. 

Du aber nimm die Scheer' und ſchneid' 
Dir ab dies weiße Fädchen; 

Als Einſchlag für mein Sterbekleid 
Bewahr' es, liebes Mädchen! 


Noch aber lag dieſer Tag in weiter Ferne, die Sonne 
ſtand hoch am Himmel ſeines Lebens und die Welt war 
in Bewegung, als Dingelſtedt, am 14. Mai 1848, aus 
Stuttgart ſeinem Freund Oetker nach Kaſſel ſchrieb: „Du 
biſt auf richtigem Wege, Heſſens Cremieux zu werden; die 
fehlende Beſchneidung wird keinen großen Unterſchied 
machen . . . . Mein Herz iſt mehr mit Euch, als mit den 
Bewegungen in nächſter Nähe, deren Führer und Zwecke 
mir gleich fremd ſind. Ich hätte jetzt in Kaſſel ſein 
ſollen, Dir die Stimme leihen, mit einem Jordanlied an 
die Spitze treten ... Findeſt Du in Eurem Neubau eine 
Stelle für mich, ſo rufe. Ich danke hier ab, wenn Du 
mir nur eine Wahl in die dortige Kammer ſicherſt .. 
Die Wahrheit iſt, daß ich fortmuß. . .. Sag' es doch 
einmal in der Kölner, Deutſchen, Frankfurter, 
Augsburger Zeitung, was Du dem Morgenblatt 
in's Ohr geflüſtert haſt: wir möchten den Dingelſtedt 
wiederhaben! . .. Lebewohl Cremieux; Dein (Lamartine) 
lahmer Martin.“ 

Daß Dingelſtedt in der That ernſthaft an eine par⸗ 


— 149 — 


lamentariſche Carrière dachte, geht aus einem etwas jpä- 
teren Brief an Vogel hervor. „Haſt Du,“ ſchreibt er 
ihm, „wie Andeutungen in Deinem Schmalkalder Brief 
mich ſchließen laſſen, wirklich freundliches Andenken für 
mich in Heſſen gefunden, jo unterhalte mir das. Viel- 
leicht wäre es ſeiner Zeit ſtark genug, um meine Wahl 
nach Frankfurt dort durchzuſetzen. Ich gehe gleich, ja ich 
trete bei einiger Ausſicht auf Erfolg als Bewerber auf.“ 

Um dieſe Zeit war es, daß Oetker's Name mir zu⸗ 
erſt in's Ohr ſchallte: buchſtäblich; denn in allen Städten 
und Dörfern Schaumburgs ward er genannt. Ich war 
damals Secundaner in Rinteln; aber ich erinnere mich 
noch gut, wie Wählerverſammlungen abgehalten wurden, 
aus denen der Müllersſohn von Rehren als Deputirter 
des Kreiſes hervorging; und wie derſelbe ſo populär war, 
daß wir ſogar unter dem Rufe: „Oetjer hoch!“ den miß— 
liebigen Beamten die Fenſter einwarfen. Vierunddreißig 
Jahre lang, in der That — nur mit der neunjährigen 
Unterbrechung ſeines Exils, 1850 bis 1859 — bis an 
ſeinen Tod iſt er der Vertreter der Grafſchaft Schaum— 
burg geweſen; und ſein Nachfolger im deutſchen Reichstag 
iſt nun ein anderer wackerer Freund, der Senator Her— 
mann Schläger aus Hannover geworden, dem ich eine 
gleiche Popularität in unſerem Ländchen, wie ſein Vor⸗ 
gänger ſie beſeſſen, wünſche, wenn ich ihm auch freilich 
nicht verſprechen kann, in ſeinem Namen noch einmal die 
Fenſter einzuwerfen. 


VE 


Indeſſen ſchien die Sache der Freiheit in Kurheſſen 
einen beſſeren Fortgang zu nehmen, als die des Hofraths 
Dingelſtedt in Stuttgart. Zwar war er zum Legations⸗ 
rath befördert worden und hatte zu ſeiner urſprünglichen 
Function auch noch die Stellung eines Dramaturgen am 
Hoftheater erhalten. Aber die Spannung, welche durch 
die politiſchen Gegenſätze hervorgebracht wurde, machte 
ſich bald in peinlicher Weiſe für ihn fühlbar. Die Radi⸗ 
calen, welche ihm ſein Verhältniß zum Hofe niemals ver⸗ 
ziehen haben, hörten nicht auf, ihn mit ihren groben 
Angriffen zu verfolgen, und nannten ihn einen Abtrün⸗ 
nigen, als ob er jemals einer der Ihrigen geweſen wäre. 
Für den Hof wiederum genügte der leiſeſte Anlaß, um 
den Heine'ſchen Vers in Erinnerung zu bringen: 

Der Caſſius lieſt dem Tyrannen vor! 
Die Wahrheit iſt, daß Dingelſtedt den politiſchen Idealen 
ſeiner Jugend niemals untreu geworden, und daß, wäh⸗ 
rend er in der endlichen Einigung unſres Volkes ſie ver⸗ 
wirklicht ſah, Jene, die ewig Unbefriedigten, auch nach 
1871 noch abſeits im Schmollwinkel ſtanden. Freilich 
war der Liberalismus Dingelſtedt's niemals der der Barri⸗ 


a 


cade; und was man ihm in jener Zeit auch vorgeworfen 
haben mag, ſein Streben nach Hofgunſt, ſeinen Hochmuth 
und ſeinen Abfall: die nachfolgenden Worte des unzweifel⸗ 
hafteſten der Liberalen, Friedrich Oetker's, geben ein voll- 
gültiges Zeugniß für den Freund und meine Auffaſſung 
der Situation: „Auf der einen Seite traute man ihm 
nicht, auf der andern erregte es ſchon Unwillen, wenn er 
ſeine Pflicht als Bürgerwehrmann erfüllte.“ — Dingel⸗ 
ſtedt als Bürgergardiſt, das iſt faſt ſo gut, wie das 
frühere: Dingelſtedt als Pfarrer! 

Doch hatte der nachmalige Freiherr und Director des 
Burgtheaters den Fuß nun auf der Leiter; und wol 
mochte ſein „treues, tapferes Weib“, als einige Jahre 
ſpäter der Ruf nach München erging, unter einem Thränen⸗ 
ſtrome ſchluchzend, aufſchreien: „Gott ſei gelobt! — Hab' 
ich nicht geſagt, mein Franz, daß Deine Zeit kommen 
wird?“ „Jedes Herrſchen iſt ein angenehmes, ein be⸗ 
rauſchendes Gefühl,“ jagt er einmal in einer ſeiner No⸗ 
vellen, und ſeiner verſatilen Natur war vor Allem dieſes 
Bedürfniß angeboren; was die Literatur ihm vielleicht 
verſagt, ja — was ſie zu gewähren überhaupt nicht ein⸗ 
mal im Stande, das verhieß ihm das Theater. Alles 
wies ihn darauf hin. Noch nicht lange, ſo hatte ſeine 
Gemahlin die größten Bühnentriumphe gefeiert; von der 
Bühne herab ward ſie die Seine. Sogleich nach ihrer 
Verheirathung ſchied ſie, 1845, von den Brettern; doch 
nicht für immer und ihr zu Ehren ward in Wien eine 
Medaille geſchlagen. Sie war eine treffliche Hausfrau, 
beſaß, wie Dingelſtedt von ihr ſagt, einen ſehr klaren 
Verſtand, die ſcharfſinnigſte Welt- und Menſchenkenntniß, 


— 159 = 


aber auch das heißblütige Künſtlertemperament. Zu An⸗ 
fang des Jahres 1848 erſchien ſie noch einmal auf dem 
Theater, und erntete neuen Ruhm, Lorbeern und Gold. 
Dingelſtedt begleitete ſie. „Ich mache keine Verſe mehr 
und keine Proſa,“ ſchrieb er an Oetker — „ſchade um 
das hübſche Talent, das mir in drei Jahren ſo viel ab⸗ 
warf, wie meine Frau in drei Abenden erſingt.“ In Wien 
waren ſie ſechs Wochen geweſen. „Ich ſchwamm einmal 
wieder in meinem Elemente, wieder oben auf, getragen 
von einer großen Stadt, gehätſchelt von ordentlichen Leu⸗ 
ten, mit meiner wackeren Frau und durch ſie populär ge⸗ 
worden. Es war eine göttliche Zeit . . .. Das Geſchäft 
geht gut, vortrefflich ſogar. Wien iſt über alles Erwarten 
eingeſchlagen, Prag, Dresden, Frankfurt ꝛc. drängen ſchon 
mit Einladungen heran . . .. Vielleicht finde ich auf den 
neuen Irrfahrten einen Hafen, der mir beſſer zuſagt als 
Stuttgart. Wien? Da iſt's für unſer einen noch nicht 
Zeit. Berlin? Wollen ſehen! Ich fange an, zu begreifen, 
daß Jenny und ich eigentlich nur in einer dieſer beiden 
Städte leben können.“ 

Aber aus all' dieſen weitgreifenden Plänen ward 
Nichts; die Märztage traten in den Weg. 

Oetker's politiſche Freunde bildeten ein liberales 
Miniſterium, er ſelbſt ward eines der führenden Mit⸗ 
glieder ſeiner Partei in der zweiten Kammer, und wenn 
ſein Erbübel, chroniſche Heiſerkeit, ihn hinderte zu ſprechen, 
ſo übte er eine deſto größere Wirkſamkeit in den Kom⸗ 
miſſionen und durch die Feder aus. Oetker iſt der eigent⸗ 
liche Begründer der liberalen Publiciſtik in ſeinem Vater⸗ 
lande; nach dem verfrühten und mißlungenen Verſuch der 


— 153 — 


„Kurheſſiſchen Allgemeinen Landeszeitung“ von 1837, war 
die „Neue Heſſiſche Zeitung“, deren Probenummer am 
15. März 1848 erſchien, das erſte unabhängige poli⸗ 
tiſche Blatt, welches ſich lebenskräftig erwies und nach 
mannigfachen Wandlungen in der „Heſſiſchen Morgen: 
zeitung“ noch heute fortlebt. Jetzt war Oetker im vollen 
Fahrwaſſer einer erfolgreichen Thätigkeit, und Dingelſtedt 
hätte ſich gar zu gern daran betheiligt. Am 1. Juli 
deſſelben Jahres ſchrieb er dem Freunde: „Reiß drei Tage 
für mich heraus, komme nach Stuttgart! Es iſt der erſte 
Sommer, welchen ich in dem Dampfkeſſel verſeufze; der 
erſte und, gefällt's Gott, der letzte. . . . Sehen möcht' ich, 
müßt' ich Dich. Ich bin sick at my heart and utterly 
disgusted. Vielleicht gibſt Du mir das Lächerlichſte, was 
Hein Menſch dem anderen geben kann — einen guten Rath.“ 

Oetker folgte dem Rufe. Die Freunde verlebten ein 
paar köſtliche Tage in Cannſtatt, auf Schloß Lichtenſtein, 
in Heilbronn. f 

Der Erinnerung an dieſe Zeit glücklichen Beiſammen⸗ 
ſeins hat Dingelſtedt eine ſeiner munterſten Humoresken 
„Ein Tag in Heilbronn“ (Wanderbuch, Werke V, 271) 
gewidmet. „Um das Rhinozeros zu ſehen, beſchloß ich 
nach Heilbronn zu gehen,“ beginnt er, Gellert's Fabel 
parodirend. Das Rhinozeros war nämlich ein See⸗Tiger, 
der — wie große Anſchlagzettel auch den Stuttgartern 
verkündigten — in Heilbronn zu ſehen ſein ſollte. „Da= 
neben hatte ich noch einen andern Grund,“ fährt Dingel- 
ſtedt fort, „der mich zu der Fahrt nach Heilbronn nöthigte, 
einen nützlichen neben dem ſchönen. Ein heſſiſcher Löwe, 
welcher mich in meiner ſchwäbiſchen Villeggiatur zu Cann⸗ 


— 154 — 


ſtatt beſucht, eilte heim, und dieſem gab ich bis Heilbronn 
ein höfliches Geleite. Nicht ein ſolcher heſſiſcher Löwe, 
wie er auf den ſeligen guten Groſchen ſtand, die mir all⸗ 
monatlich — ach! in ſehr beſchränkter Anzahl — der 
Gymnaſialdiener brachte, auch kein ſolcher heſſiſcher Löwe, 
wie er auf meinen miniſteriellen Verweiſen und Disciplinar⸗ 
ſtrafen ein geſtempeltes Maul gegen mich aufriß; nein, 
weder ein Felis leo argenteus, noch ein Felis leo zopfatus, 
ſondern ein echter Löwe, ein Lion von Kaſſel, Felis leo 
politico-litterarius, war es, der mich überraſcht hatte; der 
Führer der Linken in der heſſiſchen Kammer und Redac⸗ 
teur der Neuen Heſſiſchen Zeitung, mein guter, alter 
Jugendfreund, Fritz Oetker, eben „aufgelöſt“ aus dem 
Ständehauſe kommend und kaum an meinem troſtreichen 
Herzen nothdürftig wieder etwas geſammelt. Selbigen 
Löwen zu meiner äußerſten Linken (dahin gehört er) und 
meine Frau am rechten Arm, das Bildniß des See⸗Tigers 
vor Augen und im Herzen, beſtieg ich bei einer Hitze von 
25° R im Schatten den Eiſenbahnwagen.“ 

Wie Dingelſtedt Frau und Freund, die weniger für 
wilde Thiere eingenommen waren, als er, im Wirthshaus 
ließ, um allein das Wunder der Natur aufzuſuchen; und 
wie er, ſtatt des erhofften Anblickes, nur einen Engländer 
findet, der, mit eingeſeiftem Geſichte, ſich zu raſiren eben 
im Begriff iſt — der See-Tiger, welcher übrigens nur 
ein gemeiner Seehund geweſen ſein ſoll, war Tags zuvor, 
Schulden halber, aus dem Quartier ausgerückt — das 
Alles muß man im Buche ſelber nachleſen. Es iſt in 
ſeiner Art nicht minder ergötzlich, als die Geſchichte von 
der „Boa Conſtrictor“ (in demſelben Bande, S. 31), 


— 155 — 


welche, mitten im Winter und in einer heſſiſchen Berg⸗ 
gegend einmal eine ganze Dorfſchaft in Aufruhr verſetzt 
und, nachdem ſie mit Knütteln erſchlagen, mit Heugabeln 
zerriſſen und vom Forſtläufer noch obendrein erſchoſſen 
worden war, ſich als — eine Boa erwies, einen unſchul⸗ 
digen „um den Hals zu ſchlingenden dicken Pelz“ (ſiehe: 
Sanders, Fremdwörterbuch), wie die Damen ihn damals 
trugen und in kleinen Städten vielleicht heute noch tragen. 
Beſagte Boa war aus dem Wagen gefallen, in welchem 
ein junges Paar ſeine Hochzeitsreiſe machte; und „zween 
kurheſſiſche Referendarien haben nachmals actenmäßig eine 
Streitfrage daraus gemacht, ob die Ehefrau an den Miör- 
dern ihrer Rieſenſchlange einen Anſpruch auf Schaden- 
erſatz habe oder nicht?“ 

Dieſes Schwankes aus der Jugendzeit mochten die 
Freunde wol gedenken, als ſie, heiter und lachend, in der 
alten, ehemals reichsunmittelbaren Stadt eine Reihe ſchö— 
ner Tage beſchloſſen, wie ſie ſolche zuſammen nicht mehr 
erleben ſollten. Am andern Morgen geleitete Dingelſtedt 
den Freund an das Neckardampfſchiff. Hier wartete ſeiner 
eine Scene, die ihn trübe ſtimmte; ſolch' eine, wie Freilig⸗ 
rath ſie geſchildert: 

Ich kann den Blick nicht von Euch wenden, 

Ich muß Euch anſchau'n immerdar, 

Wie reicht Ihr mit geſchäft'gen Händen 

Dem Schiffer Eure Habe dar! 
Auswandrer aus dem Schwarzwald waren's — Männer 
und Frauen und Kinder und Greiſe, für welche die Hei— 
math keinen Platz mehr hatte — und mitten unter ihnen 
ſaß Friedrich Oetker — er ſelber in zwei Jahren ein Aus⸗ 


— 156. — 


wanderer und Heimathloſer! „Fahr' wohl,“ ruft der Zu⸗ 
rückbleibende ihm nach, „Du mein alter, treuer, trauter 
Freund! Dafür, daß Du einen Strahl kindlicher, kin⸗ 
diſcher Luſt mir wiedergebracht haſt in das kühl und grau 
werdende Leben, den Nachſchimmer glücklicher Jugend und 
ferner Heimath, dafür ſei herzlich bedankt! Fahr' wohl, 
und grüß' mir mein Heſſen, unſer Marburg, Dein 
Kaſſel! 

Es war, auch für Oetker, ein letzter Sonnenblick vor 
dem heraufziehenden Gewitter. Langſam umfinſterte ſich 
der Horizont. Jener unſelige Hader zwiſchen Fürſt und 
Volk begann, welcher ſich durch länger als ein Jahrzehnt 
fortſchleppend, das hartgeprüfte Land bis an den Rand 
der Verzweiflung gebracht und viele ſeiner beſten Männer 
für immer daraus vertrieben hat. Was Oetker während 
dieſer ſchweren Zeit ſeinem Vaterlande geweſen, wie er 
ſelber darunter gelitten, wie er ſeine geſicherte Stellung, 
ſeine Zukunft und ſein behagliches Heim geopfert und 
immerfort kränkelnd, aber immerfort auch den Blick auf 
ſein fernes Heſſen gerichtet, das Exil mit Standhaftigkeit 
und der feſten Zuverſicht auf endlichen Sieg getragen — 
das Alles ſoll hier nicht erzählt werden. Genug, daß 
zwei Jahre nach jenem Beſuch in Stuttgart die Bundes⸗ 
execution in Kaſſel war und „Heſſens Cremieux“ auf der 
Flucht, ohne zu wiſſen wohin? Dingelſtedt wies auf 
Paris hin. „Mach's wie ich,“ ſchrieb er; „ich ſchoß mich 
auch aus der Piſtole, kam mit dem Nachtwächterhorn und 
125 Franken nach Paris, litt furchtbar an Heimweh, 
pumpte Heinrich Heine an, welcher mich noch für keinen 
deutſchen Dichter hält, weil ich ihn wiederbezahlte — 


ER 


mach's wie ich!“ Es muß wol ein eigenthümliches 
Zuſammentreffen genannt werden, daß um dieſe Zeit 
(11. October 1850) die für Kurheſſen verhängnißvolle 
Konferenz des Kaiſers von Oeſterreich mit den Königen 
von Bayern und Würtemberg ſtattfand und daß es der 
letztere, Dingelſtedt's „Allergnädigſter“ war, der den Trink⸗ 
ſpruch des Kaiſers erwidernd, die Verſicherung gab: „ein 
alter Soldat macht nicht viel Worte, aber er folgt ſeinem 
Kaiſer, wohin es auch ſei!“ Von Kaſſel, in welchem 
nun Haſſenpflug dominirte, konnte fortan keine Rede mehr 
ſein, und zum Glück für Dingelſtedt; denn jetzt, am 
20. October 1850, kam jener Brief ſeines alten Freundes 
Kolb aus Stuttgart, mit welchem er ſeine „Münchener 
Bilderbogen“ eröffnet und welchem in der That ſehr bald 
ſeine Berufung durch König Max folgte. Schon „auf 
dem Bureau und unter hundert Störungen“ war Dingel- 
ſtedt es nun, der dem heimathloſen Freunde ein Aſyl bot. 
„Mit allerlei Verlockungen“, wie ſich Oetker ausdrückt, 
lud er ihn nach München. „Schenke mir drei Tage, mir 
ein Gewinn, Dir kein Verluſt! . .. Schreib, wann Du 
kommſt! Frankire nicht; ich bin poſtfrei; eine Freiheit 
muß der Menſch haben.“ Melancholiſch fügt Oetker hinzu: 
„Der Freund ſchien überſehen zu haben, daß im Vater⸗ 
lande der „Strafbayern“ *) keine Ruheſtätte für mich zu 
finden war.“ 

Der folgende Brief, vom December 1851, traf den 
Flüchtling ſchon auf der Inſel Helgoland, wo derſelbe — 


*) So nannte man in Heſſen die Bundesexecutionstruppen, 
welche großentheils aus Bayern beſtanden. N 


— 158 — 


mit der Welt nur während der Sommermonate in einigem 
Verkehr — drei Jahre verlebte. Dorthin ſchrieb ihm 
Dingelſtedt aus München: „Ich bin im Hafen; um ſo 
weher thut's mir, den alten Freund verſchlagen und ſchiff⸗ 
brüchig auf der unwirthbaren, winterlichen Düne zu 
ſehen. . . . Sitzen bleiben kannſt Du natürlich nicht. 
Mit dem nächſten Schiff gehſt Du ab und dann auf kür⸗ 
zeſtem Wege nach Paris! . .. Paris, immer Paris 
Paris, mit der geiſtathmenden Spannung, die Stadt der 
Städte, trägt Dich, wie Jeden, der was iſt.. . Gib 
uns Deine Memoiren, ein Stück Geſchichte, ein Menſchen⸗ 
leben, das Du einſiedelnd in Paris trefflich ſchreiben 
kannſt.. .. Vor allen Dingen geh' aus Dir heraus. 
Wenn Du keine Penelope findeſt, ſuch' Dir eine Kalypſo, 
da haft Du keine Freier umzubringen! . . .. Gott, iſt das 
lächerlich! ich muß, oder ſoll oder will Dir guten Rath 
geben! . . . . Mir geht's gut, über Erwartung gut, meinet⸗ 
wegen über Verdienſt gut! Drei prächtige Kinder,“) eine 
Stellung, nach außen glänzend, nach innen mühſelig, aber 
fruchtbar — ein herrliches Weib — Wirf einen Poly⸗ 
cratesring für mich in die Nordſee .. .. Dann fort!“ 
Hier in Helgoland war es, daß ich, im Auguſt und 
September 1852, meinen Schaumburger Landsmann, Fried⸗ 
rich Oetker, zum erſtenmale geſehen — ich damals Stu⸗ 
dent im vierten Semeſter, einundzwanzigjährig, berauſcht, 
kann ich ſagen, von der See; er krank, einſam, ermüdet von 
den Kämpfen, ohne viel Hoffnung auf die Zukunft, und, 


) Gabriele (jebt Frau von Preſchern-Heldenfeldt in Trieſt), 
Franz und Wilhelm; die jüngere Tochter Suſanne und Ernſt waren 
noch nicht geboren. 


— 19 — 


obwol noch nicht mehr als 43 Jahre, doch ſchon mit den 
Spuren frühen Alterns. Ich erinnere mich noch ganz 
deutlich des kleinen Fiſcherhauſes im Oberlande, der engen 
Gaſſe, des Gärtchens, der grünen Fenſterläden, des nie— 
drigen Stübchens und des Alkovens, in welchem Oetker 
lag. Es war ein eigenthümlicher Seegeruch in dem Zim— 
mer, von Muſcheln, Seeſternen und Seegewächſen, welche 
trocknend auf der Commode lagen und mit welchen Oetker 
ſich gern beſchäftigte. Wie man ſich aus einer ſo weiten 
Entfernung als ein ganz Andrer, faſt Fremder vorkommt, 
ſo ſah ich mich wieder in jene Zeit verſetzt, als ich im 
zweiten Bande von Oetker's „Lebenserinnerungen“ über 
dieſen meinen erſten Beſuch bei ihm las: „An der Ent- 
wickelung Rodenberg's nahm ich ſeit 1848 lebhaften An⸗ 
theil; er brachte mir dafür ſeinen Dank und war mit 
heiterer Jugendfriſche und Lebendigkeit eine willkommene 
Erſcheinung in meiner Einſamkeit.“ — Mich freilich be⸗ 
rührte der Anblick meines leidenden Landsmannes anders, 
wie ich aus einigen Stellen meines damaligen Tagebuches 
erſehe. Den 2. September 1852 ſchrieb ich: „Oetker, der 
arme Dulder bleibt; er liegt auf dem Krankenlager und 
denkt an die vergangenen Tage der Macht und des Ein— 
fluſſes; dann zuckt wol ein flüchtiges Lächeln über ſein 
abgemagertes, bleiches Geſicht — — ein Lächeln wie 
Abendroth, dem eine lange, tiefe Nacht folgt. Geſtern 
Abend bin ich wieder bei ihm geweſen und habe ihm neue 
Bücher gebracht . . . . Er war ſehr erfreut mit mir und 
wir plauderten in der traulichen Abenddämmerung lange 
von unſerm unglücklichen Vaterlande und unſerer glück⸗ 
lichen Heimath, von der Weſer, von Rinteln.“ Es that 


— 160 — 


mir unausſprechlich weh, zu denken, daß ich ihn hier, in 
der unwirthlichen Fremde zurücklaſſen ſollte. „Der Ein⸗ 
zige, von dem ich mit bewegtem Herzen geſchieden bin,“ 
ſchrieb ich unter dem 5. September, „iſt Oetker, bei dem 
ich noch ein ruhiges Dämmerſtündchen verbracht habe. 
Als er mir die magere Hand zum Abſchied reichte, ging 
mir ein Schmerz durch die Bruſt; das war gewiß ein 
Lebewohl auf Ewig. Rührend und erſchütternd war es 
für mich, wenn er von den Tagen ſeiner Macht und ſeines 
Glanzes ſprach. Dann leuchtete das erlöſchende Auge in 
ſeltener Helligkeit auf, und hernach ſank die Duldergeſtalt 
erſchöpft in die Kiſſen zurück. Allein, fern von der Hei⸗ 
math und allen Freunden, gefeſſelt an den einſamen Fel⸗ 
ſen, ewig gequält von dem Schmerz ſeiner Krankheit — 
iſt er nicht der Prometheus von Helgoland?“ 

Man verzeihe dem Jugendlichen ſolche Ueberſchwäng⸗ 
lichkeit des Ausdrucks, an welchem ich jetzt, nach ſo vielen 
Jahren, zu ändern nicht das Herz habe. Doch er ent⸗ 
ſprach wol meiner damaligen Empfindung. Oft, in dem 
darauffolgenden Winter, wenn der Sturm Nachts um 
meine hochgelegene Marburger Studentenwohnung pfiff, 
gedachte ich wehmüthig des fernen Landsmanns auf ſeiner 
Felſeninſel mitten in der eiſigen Nordſee; und daß ich 
mich nicht gänzlich getäuſcht, geht aus den folgenden 
Worten in ſeinen „Lebenserinnerungen“ hervor: „Es war 
ein eigenthümliches, ja wahrhaft erdrückendes Gefühl, das 
mich ergriff, als die letzten Badegäſte und das letzte 
Dampfſchiff davon fuhren. Indeſſen, ich hatte keine Wahl, 
und ſo ergab ich mich in mein Geſchick.“ 

Sechs Jahre hatte die freiwillige Verbannung Oet⸗ 


— 161 — 


ker's gedauert, welcher den Aufenthalt in der Fremde der 
Verfolgung im Vaterlande vorzog. Von Helgoland war 
er im Jahre 1854 nach Belgien übergeſiedelt, wo er 
namentlich in den Führern der vlamiſchen Bewegung treue 
Freunde fand und wo ſein Name noch heut in gutem 
Andenken lebt. Wie in ſeinem Buch über Helgoland 
(1855), hat er in ſeinen „Belgiſchen Studien“ (1876) die 
gewährte Gaſtfreundſchaft ſchön vergolten. Während all 
dieſer Zeit hatte der Prozeß geſchwebt, welchen man in 
Heſſen einſt „wegen Steuerverweigerung und Erregung von 
Mißvergnügen“ gegen ihn angeſtrengt. Im Jahre 1856 
war ein Erkenntniß auf 1½ jährige Feſtungshaft ex- 
gangen, gegen welches Oetker den Einwand der Verjäh— 
rung erhob. Nicht lange darauf trat endlich eine günſtige 
Wendung ſeines Geſchickes ein: wegen der Steuerverwei— 
gerung ward allgemeine Amneſtie bewilligt und die an— 
dere Anklage ließ man fallen, ſo daß, wenn ihm die Ge— 
nugthuung einer förmlichen Freiſprechung verſagt ward, 
doch ſeiner Heimkehr kein factiſches Hinderniß mehr im 
Wege ſtand. Indeſſen verweigerte man ihm die Wieder- 
einſetzung in ſeine Anwaltſchaft, welche wirklich erſt 1866, 
nach der Beſetzung Heſſens durch Preußen erfolgte; und 
wiewol Oetker nun Kaſſel mehrfach beſuchte, hat er ſich 
zu dauerndem Verweilen doch noch lange nicht entſchließen 
können. Erſt das Jahr 1859 gab ihn dem Vaterlande 
wieder, als der beginnende ſogenannte zweite Verfaſſungs⸗ 
kampf den alten, ungebeugten Streiter zurückrief und der 
in Eiſenach begründete Nationalverein, zu deſſen Propa⸗ 
girung in Heſſen Oetker das Meiſte gethan hat, dem deut- 
ſchen Patrioten neue, weite Ausblicke eröffnete. 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 11 


— 162 — 


Nun ſollten Oetker's beſte Tage kommen: die von 
1859 und mehr noch die von 1866. „Hätten meine An⸗ 
ſichten und Rathſchläge Gehör gefunden,“ ſagt er im Vor⸗ 
wort zum erſten Bande ſeiner „Lebenserinnerungen“ 
(S. VIII, jo wäre Kurheſſen ein Bundesland wie andre 
Kleinſtaaten geworden; denn es hätte dann kein Krieg 
zwiſchen Preußen und dem Kurfürſten entſtehen können. 
Ob das ein Glück für Heſſen geweſen wäre oder nicht, 
iſt jetzt eine müßige Frage; mit Zuverſicht läßt ſich je⸗ 
doch behaupten, daß allerdings manches Unheil unter⸗ 
blieben wäre, was nach der Einverleibung von mehreren 
Seiten .. .. über das Land gekommen iſt.“ Doch als 
das Verhängniß ſich nun einmal erfüllte, da war ein 
Augenblick, wo nach der Gefangennahme des letzten Kur⸗ 
fürſten und der allgemeinen Rathloſigkeit in Kaſſel das 
Schickſal Kurheſſens buchſtäblich in Oetker's Hand lag; 
wo er auf dem Fuße der gleichberechtigten Macht mit 
Berlin verhandelte und in zahlreichen Conferenzen mit 
Bismarck ſeinem Vaterlande ein gewiſſes Maß provin⸗ 
zieller Selbſtändigkeit und Selbſtverwaltung erhielt. „Die 
Wahrheit iſt,“ ſagt er an der genannten Stelle, „daß 
ich die deutſche Frage ſtets hoch über die heſſiſchen 
Angelegenheiten geſtellt habe, namentlich auch im Herbſt 
1859 und im Frühling 1862, was nicht Viele in Kaſſel 
von ſich behaupten können; daß ich aber auf der andern 
Seite raſtlos bemüht geweſen bin, 1866 des Guten in 
Heſſen ſo viel wie möglich zu retten, was wiederum nicht 
Jeder von ſich ſagen kann.“ 

Nachmals, in den preußiſchen Landtagen und im 
deutſchen Reichstag iſt Oetker perſönlich nicht ſehr hervor⸗ 


— 163 — 


getreten, was zum Theil wol an ſeinem körperlichen Ge— 
brechen lag; vergingen doch oft Monate, in denen er, 
von Krankheit verhindert, gar nicht einmal in den Sitzungen 
erſcheinen konnte. Doch war er bis zuletzt ein angeſehenes 
und hochgeachtetes Mitglied ſeiner Partei, der national- 
liberalen, die ſeinen Rath und ſeine Erfahrung vielfach 
in Anſpruch nahmen; ebenſo wie ſeine heſſiſchen Lands⸗ 
leute ſich oft um Belehrung oder Befürwortung an ihn 
wandten, und gewiß niemals vergebens. 


99 5 


VII. 


Un die Zeit, da Friedrich Oetker nach langer Ab⸗ 
weſenheit zuerſt wieder die Heimath betrat (1857), hatte ſich 
auch im Leben des Freundes abermals eine Wandlung voll⸗ 
zogen. Dingelſtedt nennt ſeine Münchener Jahre die glück⸗ 
lichſten ſeines Lebens. „Solche Freunde und ſolche Freu⸗ 
den, ſo fröhlichen Krieg, ſo berauſchenden Sieg: ich finde 
ſie nimmer und nimmermehr,“ ruft er am Schluſſe ſeiner 
„Münchener Bilderbogen“ aus. Doch die künſtleriſchen 
Triumphe, welche mit dem Münchener Geſammtgaſtſpiel 
ihren Gipfel erreicht, ſollten mit einem jähen, unaufhalt⸗ 
baren Sturz enden, deſſen letzten Grund Dingelſtedt in 
einem Bündniß des Altbaiernthums mit dem Ultramon⸗ 
tanismus ſieht. Aus ſeiner Matratzengruft hatte Hein⸗ 
rich Heine, ſchon ein Sterbender, ſich noch einmal ver⸗ 
nehmen laſſen. Er hatte niemals, trotz aller Neckereien 
und Bosheiten aufgehört, ſich für Dingelſtedt zu inter⸗ 
eſſiren, welchem er einſt in einem Brief an Campe, 1841, 
„viel Zukunft“ prophezeit. 


— 165 — 


Nun, im „Romancero“ ſang er: 
Mißgelaunt, ſagt man, verließ er 
Stuttgart an dem Neckarſtrand, 
Und zu München an der Iſar 
Ward er Schauſpiel⸗Intendant 


Doch der arme Intendante, 
Heißt es, gehe dort herum 
Melancholiſch wie ein Dante, 
Wie Lord Byron gloomy, ſtumm. 


Der Grund davon, meint Heine, ſei wol, daß Monacho 
Monachorum „der Sitz der virorum obseurorum, die ver— 
herrlicht Hutten's Witz.“ Und er fährt fort: 

Wie Du zuckſt beim Namen Hutten! 

Ex⸗ Nachtwächter, wache auf, 

Hier die Pritſche, dort die Kutten, 

Und wie ehmals ſchlage d'rauf. 


Dieſe Zeit und Tonart freilich war für Dingelſtedt vor⸗ 
über; aber dennoch regt ſich, ſo zu ſagen, ſein literariſches 
Gewiſſen. Hat er die großen Erwartungen, die man 
einſt, bei ſeinem erſten Auftreten von ihm gehegt, wirk⸗ 
lich erfüllt? Iſt er der Muſe, der er doch ſeine ſchönſten 
Erfolge verdankt, nicht untreu geworden? Iſt er der 
Literatur nicht noch etwas ſchuldig geblieben? „Wirf 
ihnen den Bettel vor die Füße,“ ruft ſein energiſches 
Weib ihm zu. ... „Du ſchreibſt wieder; ich ſinge wie⸗ 
der“ . . . Die Literatur hätte gewiß dabei gewonnen, 
wenn er dem Rathe der Frau gefolgt wäre. „Vielleicht,“ 
ſagt Dingelſtedt, „ſprach mein guter Engel aus ihr, ver⸗ 

gebens, wie es bekanntlich das Loos der guten Engel zu 
ſein pflegt. Ich war damals (als die Mißhelligkeiten 


— 166 — 


in München begannen) noch nicht vierzig Jahre alt. 
Wär' ich gegangen, hätt' ich mich los und frei ge⸗ 
macht, wieviel würd' ich in einem Vierteljahrhundert 
haben ſchreiben können an eigenen Stücken, ſtatt für fremde 
mich einzuſetzen, an dreibändigen Romanen (niemals drun⸗ 
ter, aber auch niemals drüber!), ſtatt allerunterthänigſt⸗ 
treugehorſamſter Rechenſchaftsberichte?! Schreiben kön⸗ 
nen, allerdings. Jedoch auch ſchreiben müſſen.“ 
Mehrere Jahre vorher, als er in Stuttgart „die 
Dramaturgie aufgegeben“, und kurz bevor der verlockende, 
der unwiderſtehliche Ruf nach München ergangen war, 
hatte er, in einer ähnlichen Kriſis, ähnliche Betrachtungen 
angeſtellt. „Mein König iſt 70 Jahre alt,“ ſchrieb er 
1850 an Vogel; „ich kann ihn nicht verlaſſen, am Wenigſten 
jetzt, wo ſo Vieles ihn verläßt, ich halte aber nur aus, 
ſo lange er hält. Hernach — flugs wieder in's Weite. 
Meine Schiffe ſind gebaut, liegen vor Anker, luſtig wie 
ehemals mit der Schreibfeder bewimpelt; ſobald ich die 
Kette zerbreche — Kette war ſie mir längſt, wenngleich 
goldne — treib' ich wieder in's Weite. Mein Kiel hat 
Raum auch für Dich und Du ſollſt willkommen ſein 
Einſtweilen überwintre ich hier, fleißig und rührig . . 
Ich ſchreibe, wie in meiner beſten und früheſten Zeit, 
täglich einen halben Druckbogen wenigſtens.“ Aber dieß⸗ 
mal war der Entſchluß nicht ſo leicht; die Münchener 
Jahre hatten zu tief in ſein Leben eingegriffen, er hatte 
„die dämoniſche Kraft des alten Zaubers“ kennen gelernt. 
„Wer ein paar Sohlen auf den Brettern zerriſſen hat, 
der läßt nicht mehr von der reizvollen Welt der gemalten 
Leinwandfetzen, der bunten Seidenlappen, des Rauſch⸗ 


— 167 — 


goldes, der plötzlich geöffneten Verſenkungen, des Ga3- 
und Schminkeduftes.“ 

Genug, er entſchied ſich für die General-Intendanten⸗ 
ſtelle in Weimar, welche der Großherzog ihm durch die 
Vermittlung Franz Liſzt's angeboten hatte. 

An dieſem Wendepunkt im Leben Dingelſtedt's, als 
der Uebergang von München zu Weimar ſich vorbereitete, 
war es, daß ich ihn zum erſtenmale ſah; und zwar auf 
dem Boden der Heimath ſelbſt, in unſrem alten, lieben 
Rinteln. 

Ich ſchäme mich nicht zu geſtehen, daß ich in einer 
Art von Dingelſtedt⸗Cultus aufgewachſen bin, wie ſolcher 
in dem Hauſe meiner Eltern herrſchte. Meine Mutter 
hatte den Dichter noch in Fulda kennen gelernt und war 
entzückt von ſeiner genialen Munterkeit und ſeinem Witz. 
Oft, aus ihrem Munde, habe ich gehört, wie ſie dort 
einſt, als ſeine Tiſchnachbarin neben ihm ſitzend, ſich über 
den eben erſchienenen Roman „Unter der Erde“ mit ihm 
lebhaft unterhalten und wie er auf ihre Frage: warum 
er denn alle Perſonen ſo traurig habe enden laſſen, ganz 
luſtig geantwortet: was hätt' ich auch ſonſt mit ihnen 
anfangen ſollen? Mein Vater war ein eifriger Politiker, 
durchaus liberal und Freund verbotener Bücher. Als ein 
ſolches hielt er auch die „Lieder eines kosmopolitiſchen 
Nachtwächters“ in ſeinem Schranke verſteckt; ſie waren 
die erſten Gedichte, die ich mit Bewußtſein las. Wie 
groß muß ihre Kraft und Wirkung geweſen ſein, daß ſie 
bis in dieſes entlegene Landſtädtchen dringen und den 
Namen ihres Autors mit ſolchem Glanz umgeben konnten! 
Ich zählte damals zwölf oder dreizehn Jahre. Wol ver- 


— 168 — 


ſtand ich ihren Sinn nur unvollkommen; doch zwei Dinge 
hatten ſich meiner Imagination bemächtigt: der Verfaſſer 
war ein Kurheſſe und ſein Vater lebte in Rinteln, der 
Hauptſtadt unſrer Grafſchaft. Reſpect vor der Poeſie 
ward mir ſchon früh eingeflößt, hier aber trat ſie mir 
zum erſtenmal heimathlich nahe, wie Etwas, das nicht in 
den Wolken iſt. Ein paar Jahre ſpäter kam ich ſelber 
nach Rinteln, und einmal — da ſteht das Datum: 
„15. Januar 1847“ noch von der Knabenhand geſchrieben — 
nahm ich das Buch mit. Es iſt — Gott ſei Dank! — der 
einzige Diebſtahl, den ich auf dem Gewiſſen habe. Mein 
Vater, dem ich es entwandte, würde mir den Fehltritt 
ſicher verziehen haben, wenn ich ihm denſelben damals 
eingeſtanden hätte; jetzt freilich iſt es zu ſpät. Aber wie 
einen Schatz habe ich das kleine Buch gehütet; durch mein 
ganzes Leben, bis hierher, hat es mich begleitet, und auch 
jetzt, wo ich dieſes ſchreibe, liegt es neben mir — ſchmal 
und dünn, mit Blättern, vergilbt und waſſerfleckig, in 
einer Papphülle, die zugleich ſein Alter und den ländlichen 
Buchbinder meines Heimathsortes verräth. 

Wie oft, als ich ſchon erwachſen und auf der Schule 
zu Rinteln war, dachte ich, hier iſt Dingelſtedt vor mir 
gewandelt — 

Und um mich erklang es ſo heiter, ſo hehr, 
Der Himmel ſchien ſo helle, 

So feierlich blitzte von unten daher 

Der Weſer geſchlängelte Welle. 


Ja, die Weſer hatte mir's angethan, mit ihrem ſtillen 
Rauſchen und Fließen, wenn, an den ſonnigen Sommer⸗ 
nachmittagen, ihr Waſſer ſo blau war und der Wald ſo 


— 169 — 


grün, und ich auf dem „Weſeranger“ ſpazieren ging, wie 
lange vor mir Dingelſtedt, und gleich ihm den Bullen 
und Böcken — ſo nennt man dort die großen Kähne — 
nachſtarrte, „die höchſtens von Hannöverſch Münden kamen 
und wenigſtens bis Preußiſch Minden gingen“, und unter 
dem Zauber der Einſamkeit und meiner jungen Jahre 
dieſe nüchternen Kauffahrer, die von Pferden gezogen wur⸗ 
den, ſich in Meerſchiffe verwandelten, deren Bild mir da- 
mals zuerſt aus Freiligrath's Gedichten aufgedämmert war: 

Siehſt Du vor Anker dort 

Die Amphitrite liegen? 

Feſtlich erglänzt der Bord, 

Die rothen Wimpel fliegen. 
Oft auch, in einem unklaren und deſto ſüßeren Vorgefühl 
der Zukunft ſtand ich vor dem kleinen, ſaubern Haus in 
der Ritterſtraße, an deſſen Sonnenſeite der Wein noch 
immer grünt. Still und ländlich iſt die Straße, wie die 
eines Ackerſtädtchens und gegenüber einer der alten Höfe, 
die hier einſtmals, in der Nähe des Kloſters, die Grund— 
herren der Gegend, die Ritter anlegten. Hinter dem um⸗ 
laubten Fenſter, zwiſchen einem lateiniſchen Exercitium 
und einer griechiſchen Präparation hatte Dingelſtedt ſeine 
erſten Lieder gedichtet. Er hatte auf derſelben Schulbank 
geſeſſen, auf welcher ich nun ſaß. Es iſt jetzt ein neues 
Gymnaſium in Rinteln gebaut worden, und unſer altes, 
aus der kurfürſtlichen Zeit, iſt, ſo viel ich weiß, ſeiner 
gelehrten Vergangenheit entfremdet. Aber noch vor zwei 
Jahren habe ich darin die alten Bänke und Tiſche geſehen, 
zerſchnitten und zerkratzt von manch' einer Schülergenera⸗ 
tion, deren eine der andern an dieſer Stelle gefolgt iſt. 


— 170 — 


Alles erzählte mir hier von Franz Dingelſtedt, der dunkle, 
gewölbte Gang mit dem Steinpflaſter und den Bogen⸗ 
fenſtern; die Aula, mein eigenes ſchmales, niedriges Zimmer. 
Die Kloſtertage waren lange vorüber. Aber mancherlei, ſo⸗ 
wol in dem Aeußern der alten Gebäude, wie in den Namen 
und Stiftungen erinnerte noch daran. Dingelſtedt's Vater 
bekleidete das Amt eines Kloſtervogts. Ein jüngerer 
Bruder Dingelſtedt's, hochgewachſen und breitſchulterig 
wie er ſelber, war mit mir zu gleicher Zeit auf der 
Schule, jedoch in einer höheren Claſſe. Wir nannten ihn 
den „Kloſtervogel“. Als er die Prima verließ, erbte ich 
von ihm ſeinen Zumpt. Auf dem erſten Blatte deſſelben 
ſtand ſein Name: „Julius Dingelſtedt.“ Wie viel träumte 
ich in dieſen Namen „Dingelſtedt“ hinein! Und in einem 
unbewachten Moment machte ich aus dem „Julius“ einen 
„Franz“. 

Noch war ein Schwager Dingelſtedt's, deſſen ich mich 
entſinne, Bornemann, der Wirth des angeſehenſten Gaſt⸗ 
hauſes in Rinteln, zur „Stadt Bremen“. Er war ein 
jovialer Herr, ſchon mit weißen, über der Stirn glatt⸗ 
geſtrichenen Haaren, als ſein Geſicht noch von jener Ju⸗ 
gend glänzte, „die uns nie entfliegt“. Herr Bornemann, 
der es liebte, ſich mit ſeinen Gäſten zu einer Flaſche 
Rothwein niederzuſetzen, war niemals glücklicher, als wenn 
man die Rede auf ſeinen „Schwager Franz“ brachte. 
Sein Geſicht nahm dann einen feinen diplomatiſchen Aus⸗ 
druck an, als ob er für jedes Wort, das über ſeine Lippen 
kam, verantwortlich ſei. Dingelſtedt's Schweſter, Ma⸗ 
dame Bornemann, in ihrer Erſcheinung ſtattlich wie der 
Vater und die Brüder, war eine tüchtige, beſcheidene 


— 11 — 


Frau, die jelten zum Vorſchein kam, da ſie ſtets in der 
Wirthſchaft zu thun hatte, und ihre beiden Töchter blühten 
anmuthig heran. 

Inzwiſchen hatte ich die Schule längſt verlaſſen, gleich 
meinem berühmten Landsmann in Marburg ſtudirt und 
gleich ihm meinen erſten Weltgang nach Paris gemacht. 
In das Elternhaus zurückgekehrt, vernahm ich, daß er 
zum Beſuch bei ſeinem Vater in Rinteln ſei; von einem 
gemeinſamen Freunde, dem liebenswürdigen und geiſt⸗ 
vollen, erſt kürzlich verſtorbenen Sanitätsrath Selberg, 
welcher, auch literariſch beanlagt, ein ſehr hübſches Buch 
über ſeine Reiſe nach Java geſchrieben hat, erhielt ich eine 
Einführungskarte und ſo machte ich mich auf den Weg. 

Es war ein nebeliger Octobertag, als ich, noch im— 
mer ein wenig zaghaft, das weinumrankte Häuschen be⸗ 
trat, vor welchem ich ſo manchen Knabentraum geträumt. 
„Wie ſonderbar iſt es,“ ſchrieb ich damals (1855) in mein 
Tagebuch, „daß ich dieſen Mann, der in meinen erſten 
dämmerhaften Anfängen mir immer vorgeſchwebt, grad' 
in Rinteln und in dieſem Hauſe treffen muß!“ Da ſtand 
er vor mir, der inzwiſchen ſo hoch im Leben, in Ehren 
und Fürſtengunſt geſtiegen war und ſeinen Jugendidealen 
ſich ſo ſehr entfremdet zu haben ſchien, daß ich mehr den 
Ariſtokraten und vornehmen Mann, als den Dichter in 
ihm zu ſehen fürchtete. Doch wie gewinnend war ſeine 
Perſönlichkeit und welch' einen Zauber hatte ſein Wort! 

Eben hatte Dingelſtedt in dem Münchener Geſammt⸗ 
gaſtſpiel einen der glänzendſten Triumphe ſeines Lebens 
gefeiert; und welch' ein verwirrender Gedanke für mich, 
daß aus dieſem kleinen Haus, in welchem ich nun mit 


— 172 — 


ihm war, ſo viel Glorie hervorgegangen ſein ſollte! Doch 
er half mir gleich aus der Verlegenheit. „Ich bin nur 
ein pius Aeneas,“ ſagte er, „der gekommen iſt, um nach 
ſeinem alten Vater zu ſehen.“ Mehr als Alles iſt mir 
von dieſem erſten Begegnen der Eindruck ſeiner äußeren 
Erſcheinung geblieben, ihre Kraft und Schönheit, die Ela⸗ 
ſticität ſeiner wahrhaft impoſanten Geſtalt, der Glanz 
ſeines dunklen Auges, ſein reiches kaſtanienbraunes Haar 
— ganz wie das aus jener Zeit ſtammende, von Kaulbach 
gemalte Porträt, welches in einer guten Nachbildung 
ſeinem letzten Werke, den „Münchener Bilderbogen“, bei⸗ 
gegeben iſt. In ſeinem Benehmen zugleich herzlich, unge⸗ 
zwungen und von der höchſten Eleganz, konnte er je nach 
den Umſtänden den Schriftſteller und den Cavalier her⸗ 
auskehren. Wer ihn nur in der letztern Eigenſchaft ge⸗ 
kannt, dem mochte er wol für ſtolz, wenn nicht für hoch⸗ 
müthig und berechnet gelten. Ehrgeiz war eine der haupt⸗ 
ſächlichen Triebfedern ſeiner Handlungen; aber ſie war 
nicht die einzige. Macht, Einfluß, Glanz, eine hohe ſociale 
Stellung waren die Ziele ſeines Lebens; er war von 
zweierlei Natur: ein Dichter und ein Weltmann; er opferte 
bis zu einem gewiſſen Grade den Dichter, aber was er 
als Weltmann erreicht, das hat er doch nur ſeinem dich⸗ 
teriſchen Talent, ſeinem künſtleriſch geübten Blick, ſeiner 
leicht geſtaltenden Hand zu danken. Weit entfernt, ſeinen 
Zuſammenhang mit der Literatur zu verleugnen — wie 
manch ein Parvenu wol ſeine Herkunft und arme Sippe 
verleugnet — hat er ihn im Gegentheil ſtets betont, und 
in den höchſten Stellungen am Nachdrücklichſten. Gern 
und freudig bot er den Mit- oder Nachſtrebenden die 


— 173 — 


Hand, förderte ſie, machte ſeinen Einfluß für ſie geltend; 
und Nichts konnte ungerechter ſein, als der Vorwurf des 
Neides, der in der Kuh'ſchen Hebbelbiographie gegen ihn 
erhoben wird. „Ich bin im Leben jo viel beneidet wor— 
den,“ jagt er in ſeinem Eſſay über dieſes Werk („Literari— 
ſches Bilderbuch“, 231), „daß ich zur Entwaffnung des 
Neides alles Erſinnliche gethan habe, thue, thun werde, 
um mir mein Glück vergeben zu machen.“ Im Verkehr mit 
Schriftſtellern war er immer nur der Schriftſteller; mir 
aber ward er mehr. Von dem Tag im October 1855, 
an welchem ich ihn zuerſt in ſeinem Elternhauſe ſah, bis 
zu jenem anderen, im März 1881, wo ich ihm die Hand 
zum letztenmale drückte: ſechsundzwanzig Jahre lang hat 
er mir die Landsmannſchaft gehalten; und wenn ich an 
ihn und dieſe Zeit zurückdenke, dann geht mir der ſchöne 
Reim und die rührende Melodie des ſchottiſchen Volks⸗ 
liedes nicht aus dem Sinn: „ſollte der alten Be— 
kanntſchaft vergeſſen ſein und der Tage, die lange 
dahin?“ 
Should auld acquaintance be forgot 
And never brought to min'? 


Should auld acquaintance be forgot, 
And days o' lang syne? 


Ich weiß, daß Erfolge wie die ſeinen überhaupt viel— 
fach angezweifelt werden. Aber ſuche man doch nicht, ſich 
mit ihnen abzufinden, indem man ſie rein äußerliche nennt. 
„Euer Arm wäre nicht ſtark geweſen, wenn es der Kopf 
nicht war; er wäre noch ſtärker geweſen, wenn das Herz 
nicht gar zu ſchwach.“ So ruft in den „Deutſchen Nächten 
in Paris“ der Poet dem Diplomaten zu, wo dieſer — 


— 174 — 


„armer Leute Kind“, aber von brennendem Ehrgeiz ver⸗ 
zehrt — ſeine Kämpfe ſchildert und bittere Anklagen gegen 
das Schickſal ſchleudert, welches ihn auf der Schwelle 
ſeines Paradieſes, der vornehmen Welt, ſcheitern ließ. In 
dieſer Figur hat Dingelſtedt die Kehrſeite der Medaille 
gezeigt, den erfolglos Strebenden, und als Grund des 
Fehlſchlags einen Defect des inneren Menſchen angedeutet. 
Er hat ſagen wollen: um, auf irgend welchem Gebiet, 
einen ganzen und vollen Erfolg zu haben, muß man zu⸗ 
erſt eine ganze und volle Perſönlichkeit ſein und ſie für 
den Zweck rückhaltlos einſetzen; und wenn es nicht leicht 
war, zu erringen, ſo iſt es doppelt ſchwer, das Er⸗ 
rungene zu behaupten, in einer Sphäre, die ſo wandel⸗ 
bar und ſo vielen Einflüſſen zugänglich iſt. Ob es 
nicht erſprießlicher geweſen wäre, mit ſolchen Anlagen, 
nach bleibenderen Verdienſten zu ſtreben, iſt eine Frage, 
die ſeine Freunde vielleicht noch entſchiedener bejahen 
werden, als ſeine Gegner. Aber ſelbſt für ſeine Freunde 
würde der Verlauf von Dingelſtedt's Leben nicht von 
hinreichendem Intereſſe ſein, um ſich eingehend damit 
zu beſchäftigen, wenn es in der bloßen Verfolgung 
von noch ſo glänzenden Aeußerlichkeiten geendet; wenn 
er nicht vielmehr einen Fonds innerer Vorzüge beſeſſen 
hätte, welche wenig davon berührt wurden. Auch hier 
läßt ſich der Gegenſatz zwiſchen den Beiden weiter 
verfolgen, deren Andenken dieſe Blätter gewidmet ſind 
— ein Gegenſatz übrigens, der in der Natur be⸗ 
gründet iſt und deſſen Conſequenzen ſich von ſelbſt er⸗ 
geben. 


— 15 — 


Wie ſich Oetker dem jüngeren Freunde ſtets, und 
ſogar mit einer gewiſſen Freudigkeit untergeordnet, ſo 
finden wir an keiner Stelle ſeines langen Lebens auch 
nur die mindeſte Spur davon, daß er ehrgeizig geweſen — 
wir meinen ehrgeizig in dem Sinn einer mächtig nach 
Außen drängenden, dominirenden Leidenſchaft — weder in 
der Schule, noch auf der Univerſität, noch in ſeiner Be— 
rufsthätigkeit, noch in ſeiner politiſchen Laufbahn. Er 
diente niemals irgend einem perſönlichen Zwecke, ſondern 
immer nur der Sache, mit der er ſich und ſeinen 
Namen identificirt hat. Sie war es, welche den treff— 
lichen Mann mit dem ſtarken, unbeugſamen Rechts⸗ 
gefühl frühe ſchon ſeinen Landsleuten empfahl und ihn 
auf einem beſchränkten Kampfplatz, deſſen Nebenſchlachten 
trotzdem zur Entſcheidung des Feldzugs beitrugen, an die 
Spitze der Geſinnungsgenoſſen ſtellte, zu einer Zeit, wo 
wenig Ruhm und gar kein Vortheil davon zu haben war. 
Vietrix causa diis placuit, sed vieta Catoni. Dieſe Sache 
war es, welche, in einer für ſein Vaterland entſcheiden— 
den Stunde, ihm eine Gelegenheit bot, wie ſie ſich im 
Leben eines Menſchen nicht zu wiederholen pflegt: er hat 
ſie benutzt zum Beſten ſeines Vaterlandes, nicht zu ſeinem 
eignen. Schlage man das Opfer, welches die kleinen, 
ſelbſt die ſchlechtregierten Staaten gebracht, nicht zu gering 
an; wir haben es in der vollen Ueberzeugung der Noth- 
wendigkeit gebracht, aber ein Opfer war es nichtsdeſto⸗ 
weniger. Mit ſeiner kurheſſiſchen Heimath verſchwand 
auch Oetker in dem Reichsganzen, in der Gefolgſchaft jener 
großen Partei, welche — wenn man es unter der gegen= 
wärtigen Zeitſtrömung auch beſtreiten möchte — doch ſo 


— 176 — 


mächtig mitgewirkt hat bei der Unification Deutſchlands. 
Einſt, in Helgoland, während ſeiner Verbannung, habe 
ich ihn um den verlorenen Einfluß klagen hören, wie 
Einen, der ſeine Kraft fühlt und ſie nicht gebrauchen kann; 
aber ſpäter, in Berlin, als der große Sieg gewonnen, als 
die Fahne von Kurheſſens Recht und Verfaſſung rein und 
makellos hinübergetragen war in das neue Reich, und der 
alte Löwe der Katten an zweiter, oder dritter oder vierter 
Stelle neben den andren Wappenthieren der Preußiſchen 
Provinzen ſeinen Platz erhalten hatte: da kam kein ſolches 
Wort mehr über ſeine Lippen. Er, ein Führer der heſſi⸗ 
ſchen Liberalen, begnügte ſich nun, den Führern der preußi⸗ 
ſchen und deutſchen Liberalen zu folgen; und bei den letzten 
Wahlen, die er noch erlebte, denen von 1878, als die be⸗ 
dauernswerthe Verſchiebung und Zerſetzung ſeiner Partei 
begann und ſelbſt ſeine Schaumburger Wählerſchaft, die 
dreißig Jahre lang treu zu ihm geſtanden, in's Schwanken 
gerieth, war er nicht zu bewegen, perſönlich vor ſie hin⸗ 
zutreten. Ein Freund, ein heſſiſcher Deputirter, hielt für 
ihn die Wahlreden und — ich habe es aus ſeinem 
eigenen Munde — der Gedanke, daß das alte Verhältniß 
ſich löſen könne, bewegte ihn und durch ihn die Zuhörer 
ſo, daß Oetker mit überwältigender Majorität aus der 
Urne hervorging. Nicht Ermüdung war es, die damals 
ſein Verhalten beſtimmte, ſondern Abneigung, mit ſeiner 
Perſon in den Vordergrund zu treten; um Gunſt und 
Stimmen zu werben, die er nur haben mochte, wenn man 
ſie freiwillig ihm entgegen trug. 

Nicht ſo Dingelſtedt. Er wollte herrſchen, und hat 
geherrſcht. Er wollte der Erſte ſein, und iſt es geworden; 


— 177 — 


aber er hat auch den Preis zahlen müſſen, welche eine 
ſolche Stellung erheiſcht. Aus engem Kreiſe ſtrebte er in 
immer weitere, höhere. Nicht entſagt hat er ſeiner Hei- 
math; aber er wollte ihr Loos nicht theilen. Wenn 
Oetker ſein Schickſal niemals von dem ſeines Vater⸗ 
landes getrennt hat, ſo bedurfte Dingelſtedt der Welt, 
der großen Welt. Man ſchildert Diplomaten nicht mit 
ſolch' vollendeter Feinheit, noch mit ſolcher Vorliebe, wenn 
man nicht ſelbſt ein Stück davon in ſich hat. „Mein 
ganzer Sinn ſteht auf die parlamentariſche Carriere,“ 
ſchreibt er (1849) ſeinem Freunde Vogel. „Nicht weil ich 
eine Rolle auf der Bühne der Paulskirche zu ſpielen 
brennte, im Gegentheil, ihre Helden, links wie rechts, Vogt 
wie Vincke, dächte ich mit einer einzigen Rede einzuholen. 
Aber viel mehr als die Scene reizen mich die 
Couliſſen, die Clubs, die politiſchen Salons. 
Das wäre mein Feld.“ Es iſt vielleicht ein Be⸗ 
kenntniß, niedergelegt in die Seele der liebenswürdigen, 
aber klug rechnenden Armgard ſeines Amazonen-Romans, 
welche er, in Gegenſatz zu dem wirklichen Diplomaten, den 
Grafen Wallenberg, „die geheime Ober- und Gegendiplo⸗ 
matin“ nennt. Sie iſt ein ganz vortreffliches Frauen⸗ 
zimmer; ſie liebt auch den Grafen und beſchließt, ſein 
treues und gutes Weib, eine Lebensgefährtin in Ernſt und 
Scherz zu werden. Aber was ſie dazu beſtimmt, ihn dem 
Künſtler Roland vorzuziehn, iſt doch in erſter Linie der 
Gedanke: Gräfin zu werden; die Natur zu corrigiren, 
ein Vorrecht zu erobern, welches die Geburt ihr, der 
Bürgerlichen, verſagt; nämlich: „zu Hofe zu gehen!“ 
In dieſen vier Worten iſt die Quinteſſenz all' jener Anec⸗ 


Nodenberg, Heimatherinnerungen. 12 
* 


— 178 — 


doten enthalten, welche, ſchon bei Dingelſtedt's Lebzeiten 
und noch mehr nach ſeinem Tode circulirend, ihn nicht 
immer im beſten Lichte zeigen. Es iſt nicht meine Ab⸗ 
ſicht, ihn gegen Anſchuldigungen in Schutz zu nehmen, die 
nur zu berechtigt ſein mögen. Nur was gehäſſig in ihnen 
iſt, möcht' ich zurückweiſen. Dingelſtedt war kein böſer 
Menſch, kein Intriguant der gewöhnlichen Sorte. Mit 
gewinnender Grazie, mit ironiſchem Lächeln macht er ſeinen 
Weg. Offen bekennt er ſich zu Dem, was er erſtrebt. 
Wo ſein Herz reden durfte, da hat er kein Falſch ge⸗ 
kannt; und wo man ihm Anhänglichkeit entgegenbrachte, 
da hat er ſie redlich erwidert: dankbar für erwieſenes 
Wohlwollen, beſaß er die Liebe der Seinen, war zu⸗ 
verläſſig in der Freundſchaft und nicht ungenerös gegen 
ſeine Widerſacher. 

Neun Jahre vergingen, ehe ich den Landsmann wie⸗ 
derſah. Es war in Weimar, 1864, als zur dreihundert⸗ 
jährigen Feier von Shakeſpeare's Geburtstag, der von 
Dingelſtedt eingerichtete Cyclus der „Hiſtorien“ zum erſten⸗ 
male geſpielt ward vor einem Parquet, wenn nicht von 
Königen, jo doch von literariſchen und wiſſenſchaftlichen 
Berühmtheiten aus allen Theilen Deutſchlands, welche 
demnächſt hier zuſammentraten zur Stiftung der „deut⸗ 
ſchen Shakeſpeare-Geſellſchaft“. Ich erinnere mich noch 
des gewaltigen Eindrucks, als der Vorhang emporging 
und in Shakeſpeare's eignen Worten der von Dingelſtedt 
gedichtete Prolog begann: 

O eine Feuermuſe, die hinauf, 
Zum höchſten Himmel aller Dichtung ftiege! . . . 
Wie der Dichter dann fortfuhr, erfüllt von der Be⸗ 


— 179 — 


deutung der Stätte, an welcher wir bald Shakeſpenre s 
neubelebte Geſtalten erblicken ſollten: 


Dieß iſt die Bühne, 
Worauf, vom Wirbel bis zur Zeh' geharniſcht, 
Der erſte Wallenſtein gewandelt hat. 
Von ſeinem Fußtritt beben noch die Bretter; 
Hier ſtand die Wiege Egmont's, Taſſo's, Tell's! 


Seht, heut geſellt, im heil'gen Bund der Dritte, 
Zu Deutſchlands Dioskuren ſich der Brite; 
Auch Er iſt unſer, ruf' ich jubelnd aus, 

Am Shakeſpearefeſt, im Goethe⸗Schiller⸗Haus! 


Es waren unvergeßlich ſchöne Abende: das erleſene 
Publicum warm und gehoben von der feſtlichen Stim- 
mung; in der großherzoglichen Loge die Mitglieder dieſes 
edlen Fürſtenhauſes, die Erben einer ruhmvollen Ver⸗ 
gangenheit, einer großen, hiſtoriſchen Tradition — denn, 
wenn man in Weimar iſt, denkt man immer auch an 
die Wartburg: 


Thüringen, Deutſchlands ewig 92055 Herz, 

Hat ſtets, in guten und in ſchlechten Tagen, 

Nicht für die Kunſt allein, in Spiel und Scherz, 
Nein, auch im Ernſt, für Recht und Licht geſchlagen. 


Und in der kleinen Loge, dicht unter der Bühne, er 
ſelbſt, mein Landsmann, Franz Dingelſtedt, und neben 
ihm ſeine Gemahlin, Beide damals in der vollen Kraft 
ihrer Jahre und Beide glückſelig in der Freude künſtleri⸗ 
ſchen Gelingens. 

In dieſer erlauchten Verſammlung fehlte nur Einer, 


den man darin zu ſehen vor Allen erwarten durfte: Karl 
12 * 


— 180 — 


Gutzkow, ſeit dem Herbſt 1861 General-Secretär der 
Schillerſtiftung in Weimar. In einem tiefſinnigen Feſt⸗ 
ſpiele, „die Shakeſpearefeier an der Ilm“, welches, mit 
einer Reihe lebender Bilder, von Weimars erſten Künſt⸗ 
lern geſtellt, vor einem kleineren Kreiſe zur Aufführung 
kam, hatte er dem Genius des Briten ſeine Huldigung 
dargebracht. Aber den officiellen Verſammlungen und 
Feſten der Shakeſpeare-Woche blieb er fern, ebenſo wie 
den Sitzungen der Shakeſpeare-Geſellſchaft, welche Dingel⸗ 
ſtedt zum Vorſtand wählte. Dieſes Verhalten war zu 
demonſtrativ, als daß es nicht allgemein hätte bemerkt 
werden ſollen; und ſeine Spitze kehrte ſich gegen Dingel⸗ 
ſtedt. Noch nicht drei Jahre waren vergangen, da hatte 
dieſer, als Vorſtand der Schillerſtiftung, die Wahl Gutz⸗ 
kow's zum General-Secretär veranlaßt und ihn nach 
Weimar geholt, um daſelbſt „eine weitere Illuſtration 
und einen Freund mehr zu haben.“ Lange, lang war es 
her, ſeitdem dieſe Beiden ſich zuerſt in Fulda geſehen: 
Gutzkow damals von den Wogen des Erfolgs getragen 
und Dingelſtedt ein Schulmeiſterlein. Aber in dem Wett⸗ 
kampfe des Lebens war dieſer glücklicher geweſen, als in dem 
des Domplatzes zu Fulda: jetzt war er, wenigſtens ſeiner 
äußeren Lebensſtellung nach, der Erſte, und das war es, 
was Gutzkow's ſtolze und — ſagen wir es — neidiſche 
Seele nicht ertrug. Dieſe beklagenswerthe Eigenſchaft, 
neben ſo mancher andren wahrhaft großen, hat vielleicht 
am Meiſten dazu beigetragen, ſein Leben, je mehr es ſich 
dem Abend näherte, um ſo mehr zu verdüſtern. Schon 
war das Zerwürfniß eingetreten, welches zum Bruch, und 
demnächſt zur Kataſtrophe drängte. Gutzkow fühlte ſich 


— 181 — 


in Weimar unglücklich — wo hätte Gutzkow ſich je 
glücklich gefühlt, er, der beſtändig den Aufenthalt und 
die Freundſchaften wechſelte? Hier ſteigerte ſich die 
Raſtloſigkeit ſeines Innern zum krankhaft Unerträg⸗ 
lichen: der moderne Zug in ihm, der ihn zum Bahn⸗ 
brecher und Pfadfinder gemacht hat, lehnte ſich auf gegen 
die klaſſiſche Formel, die ihm in Weimar die Bruſt 
zuzuſchnüren drohte; und ſein trotzig unabhängiger Geiſt, 
der ſich ſeiner Superiorität bewußt war, um doch gleich 
wieder zu verzagen, konnte ſich in keine Art der Unter- 
ordnung fügen. Es frommt wenig und iſt unerquicklich 
obendrein, bei Zerwürfniſſen ſolcher Art, deren letzte 
Gründe doch in den Perſönlichkeiten beruhen, nach den 
begleitenden Umſtänden zu forſchen. Gutzkow beklagte ſich, 
daß er zurückgeſetzt, daß Hebbel bevorzugt werde; daß 
ſeine Stücke zu wenig aufgeführt würden; daß Dingelſtedt 
ſchlecht von ihm ſpreche. Wer Gutzkow gekannt hat, der 
kennt auch dieſe Beſchuldigungen, die mehr einem mißtraui⸗ 
ſchen, zum Zweifel an ſich und den Andren geneigten 
Naturell entſprangen, als den Thatſachen entſprachen. Die 
Erſcheinung Dingelſtedt's ward ihm verhaßt; wohin er 
ſich auch wenden mochte, ſie trat ihm entgegen — in 
der Schillerſtiftung, in der Shakeſpeare-Geſellſchaft, im 
Theater, und überall an der erſten Stelle. „Dingelſtedt's 
Shakeſpeare-Cultus beleidigte ihn gleichſam perſönlich,“ 
ſagt Karl Frenzel in der liebevollen Studie, die er dem 
Andenken Gutzkow's in „Weſtermann's Monatsheften“ 
(April 1879, S. 19 ff.) gewidmet hat. „Mir fehlt Ent⸗ 
gegenkommen, rechte Würdigung, bereitwillige Anerken⸗ 
nung“, ſchrieb damals Gutzkow an Frenzel; „Dingelſtedt's 


— 182 — 


ganzes Sein und Treiben provocirt alle meine Widerſtands⸗ 
kraft.“ Herbere Ausdrücke als dieſe konnte man aus 
Gutzkow's Mund in Weimar ſelbſt hören; und doch war 
es Dingelſtedt, welcher kurz zuvor in einer ſeiner graziöſe⸗ 
ſten Arbeiten dem Verfaſſer des „Zauberer von Rom“ eine 
Huldigung dargebracht hatte, wie ſie demſelben reiner, 
voller, wärmer wol ſelten gezollt worden iſt. Er — 
ſelbſt ein Moderner — wußte, was das deutſche Theater, 
der deutſche Roman dem Vorgang und Einfluß dieſes 
Schriftſtellers ſchulde, „der ſeit einem Menſchenalter an 
allen geiſtigen Kämpfen des Jahrhunderts theil nimmt, nicht 
leidend allein, auch handelnd; nicht von einem feſten Mittel⸗ 
punkt aus, ſondern von einer Stellung in die andere, aus 
einem Wohnort in den andren, von einem Felde der Thä⸗ 
tigkeit in das andre gedrängt.“ Er wußte die Kraft zu 
ſchätzen, welche ſich, inmitten der Bagatellenliteratur und 
Feuilletonwirthſchaft, zum zweiten Mal zu einem Kunſtwerk 
ſammelte, das über alles herkömmliche Maß hinausgreift; 
und den Muth, mit einer ſolchen, unerhörte Anſprüche 
machenden Production vor das Publikum zu treten. Nicht 
der hingebendſte Bewunderer Gutzkow's hätte die Vorzüge 
ſeines Werkes in ein helleres Licht ſetzen, noch die dunkleren 
Seiten ſeines Charakters mit mehr Schonung und Milde 
behandeln können, als Dingelſtedt hier gethan; die hohe 
Meinung, die er von ihm hegte, ließ er ſich durch Nichts 
verkümmern, und während man in den ſpäteren Aus⸗ 
gaben von Gutzkow's Werken, ſelbſt in ſeinen „Rückblicken 
auf mein Leben“ auch nur den Namen Dingelſtedt's 
vergeblich ſuchen wird, ließ Dingelſtedt, als er die Ge⸗ 
ſammtausgabe ſeiner Werke veranſtaltete, ſich nicht ab⸗ 


Se 


halten, in den fünften Band derſelben (S. 297 ff.) den 
„Zauberer von Rom, eine kritiſche Reiſenovelle“, gleichſam 
das Denkmal einer Pietät und Treue gegen die Ver— 
gangenheit, welche die Freundſchaft überdauert, aufzu⸗ 
nehmen, ſo daß Gutzkow ſich noch überzeugen konnte, wie 
Dingelſtedt, wenn er wollte, feindliche Geſinnung zu er⸗ 
widern verſtand; und die Welt im Allgemeinen, wer von 
Beiden die generöſere Natur ſei. 


VIII. 


Moch aus München und bevor das „Weimarer Still⸗ 
leben“ begann, rief Dingelſtedt dem Kaſſeler Freunde bei 
ſeiner Heimkehr aus dem Exil ein herzliches „Willkommen 
in der Heimath“ zu. Jahre lang hatte er nichts von ſich 
hören laſſen; nun ſchilderte er von Neuem ſein Glück, 
trotzdem er in München unterlegen ſei und fort müſſe: 
„Zu den zwei Kindern, die Du kennſt, Gabriele und 
Franz ſind drei gekommen: Wilhelm mit 8 Jahren, Su⸗ 
ſanne mit 4, Ernſt mit 2, lauter geſunde, kräftige, ohne 
Ruhm zu melden, auch hübſche Rangen, welche mit den 
großen blauen Augen der Mutter klar in die Welt gucken 
und die langen Glieder des Vaters zu ihrer eigenen Länge 
Maßſtab nehmen. Das älteſte Paar lernt tüchtig, und 
Alles, auch Lateiniſch, ſelbander im Hauſe, ohne Schule, 
die hier zu Lande elend iſt; Wilhelm buchſtabirt eben; die 
zwei kleinen balgen ſich mit ihrem Hunde .... Ich ruhe 
am Scheidewege behaglich aus. . .. Nach Weimar gehe 
ich nur wie in einen Unterſchlupf während des Gewit⸗ 
ters, wie durch eine Zwiſchenſtation, die mich entweder 
hierher zurück oder in ein größeres Theater hineinführt. 
Die Kämpfe des letzten Winters waren hart, meine Nie⸗ 


— 15 — 


derlage jo unerwartet wie unverdient. Aber gebrochen 
haben ſie mich nicht, im Gegentheil geſammelt ... Im 
Ganzen habe ich, wie Du ſagen wirſt, mehr Glück als 
Ver — gnügen und falle, wenn ich falle, die Treppe 
hinauf. ... Du ſiehſt, die Wogen meiner Stimmung 
gehen noch immer hoch und friſch; ich fühle mich in der 
That nicht alt geworden, kaum älter, geſund in den Armen 
eines durch und durch geſunden Weibes. Geh' in Dich, 
Einſiedeler, Hypochonder, Titan, und thue desgleichen! 
Geh vor allen Dingen von Kaſſel fort .. .. Alſo auf 
Nichtwiederverlieren, auf baldiges Wiederſehen! 
Dein treu⸗eigner Franz.“ 

Mit dieſem Briefe, dem letzten, welchen Oetker mit⸗ 
theilt, hört für uns die ſichtbare Verbindung Dingelſtedt's 
mit dem Freund und wol auch die mit Heſſen auf, da 
hochbetagt in demſelben Jahre ſein Vater ſtarb. Alle 
Jahre, bis zu deſſen Tode, war er nach Rinteln gekommen 
in das kleine Haus der Ritterſtraße; und der alte Herr 
Kloſtervogt hat wol noch recht ſeine Freude gehabt an 
dem Sohne, an deſſen gebührendem Fortkommen er einſt 
ſchier verzweifelt. Als Dingelſtedt einſt dem Freunde zum 
Hofrath „kondolirt“, fügte er hinzu, daß ſein Vater jeden- 
falls „wohlgefällig dazu lächeln“ werde. Das war un— 
zweifelhaft richtig; und noch mehr befriedigt war er von 
der Berufung nach München. Oftmals brachte Dingel- 
ſtedt ſeine Frau und Kinder mit ſich in die alte Heimath, 
und noch an ſeinem Krankenlager in Wien ſprach ich mit 
ſeinen Töchtern von Rinteln und den Verwandten, die ſie 
dort einſt gehabt. Dingelſtedt's Lieblingsſchweſter, Frau 
Bornemann, war auch längſt verwittwet; in einem meiner 


— 186 — 


letzten Geſpräche mit ihm erzählte mir der Kranke, daß 
ſie nach Hannover übergeſiedelt ſei und dort einer Mädchen⸗ 
penſion vorſtehe. Wunderſame Fügung! Am Abend des⸗ 
ſelben Sonntags, 15. Mai 1881, an deſſen Morgen der 
Bruder in Wien von feinen Leiden erlöſt ward, ſchloß 
auch die Schweſter in Hannover ihre Augen. 

Wien war immer das Ziel ſeines Strebens, ſeines 
Ehrgeizes und ſeines Herzens geweſen; und er hat es er⸗ 
reicht. Aber wie das Andenken der Heimath bei Dingel⸗ 
ſtedt, ſo lebte ſein Andenken in der Heimath fort; in den 
kleinen Städten, in Rinteln, wo er die Schule beſucht, in 
Marburg, wo er ſtudirt, in Kaſſel und Fulda, wo ſeine 
Schüler längſt tüchtige Männer geworden. Noch lebten 
viele ſeiner alten Cameraden, und unter dieſen einer, von 
welchem es in ſeinen Gedichten heißt: 


Er war mein Liebling in dem ganzen Corps, 
Darum auch der, den ich zuerſt verlor 
Im leidigen Philiſterthume. 


Lang hört' ich Nichts von ihm. Nach Jahren dann 
Traf ich ihn wieder, Himmel, welch' ein Mann 
Ward aus dem Jungen unterdeſſen! 

Ein feiſter Kahlkopf, der 'ne Brille trug, 

Whiſt ſpielte, Tabak ſchnupfte — nun genug: 

Ein Landpaſtor —! und in Kurheſſen! 


Das gleiche Loos — ein Landpaſtor zu werden, und 
in Kurheſſen! — hatte auch ihm gewinkt oder gedroht. Er 
zog es vor, Burgtheater-Direktor in Wien zu werden. 
Aber er war es noch nicht lange, drei Jahre vielleicht, da 
meldete ſich eines Tages bei ihm ein alter Freund aus 
der Marburger Theologenzeit — derſelbe, dem Dingelſtedt 


ee, 


einſt ins Stammbuch geſchrieben, daß er wol als Rector 
in Oberkirchen ſterben werde. Doch laſſen wir Herrn 
Profeſſor Fliedner ſelbſt reden. „Seitdem er Fulda ver- 
laſſen hatte, war Dingelſtedt meinem Geſichtskreis ent— 
rückt,“ heißt es in den Aufzeichnungen, welche der 
genannte Herr mir zur Verfügung geſtellt hat; „Amts⸗ 
und Wohnortswechſel, Berufspflichten, Studien und Ar⸗ 
beiten, die der ſchönen Literatur fern lagen, hinderten 
mich auch, ihm in der Ferne zu folgen; ich hörte nur 
manchmal von ihm durch Heinrich Koenig, ſo lange 
dieſer, nachdem er ſeinen Abſchied genommen, in Hanau 
lebte. Erſt 29 Jahre ſpäter, im Jahre 1870, wurde die 
Erinnerung an ihn durch den Anblick des oben erwähnten 
Stammbuchblättchens wieder ſo lebendig, daß ich ihm 
eine Abſchrift deſſelben nebſt einer gereimten Epiſtel zu⸗ 
ſendete. Warum dieß geſchah, erklärt ſich zum Theil aus 
dem genauen Eintreffen jener Prophezeiung Dingelſtedt's, 
zum Theil aus dem natürlichen Wunſche, wieder einmal 
Etwas von ihm zu hören. Zum beſſeren Verſtändnis 
gebe ich zunächſt die Epiſtel nebſt erläuternder An⸗ 
merkung: 

An Franz Dingelſtedt. 

Mai 1870. 

Ich fand nach vielen Jahren 

Das wunderliche Blatt. 

Wolan, Du ſollſt erfahren, 

Wie es geweiſſagt hat. 

Mir rief's Erinnerungen 

Aus froher Zeit zurück, 

Wol auch, zu Dir gedrungen, 

Erheitert's Dir den Blick. 


— 188 — 


Das erſte der Geſichte, 

Das dieſes Blatt enthüllt, 
Fürwahr, es ward Geſchichte 
Und hat ſich treu erfüllt.“) 
Das andre trog — es traten 
Die Muſen dafür ein, 

Um Schaumburg's Rectoraten 
Und Dir ein Schutz zu ſein. 


Das Kreuz dort in der Ecke 
Verblieb ein Traum der Nacht, 
— Haſt eine gute Strecke 
Schon über's Ziel gemacht — 
Und folgend Deinem Sterne 
Zogſt Du von Ort zu Ort, 
Doch ſtets der Heimath ferne — 
Was treibt Dich von uns fort? 


Das Alte iſt gefallen, 

Und Neues ward gebaut, 

Deß ſtolzer Anblick Allen 

Das Herz hat aufgethaut. 

Sieh hier das lang entbehrte, 
Ein mächt'ges deutſches Reich — 
Du Sohn der rothen Erde, 
Warum in Oeſterreich?! 


) Denn im Herbſte 1843 hat der Hauptlehrer der Mathematik 
und Phyſik an der Realſchule zu Hanau, Konrad Fliedner, nachdem 
er ein Jahr zuvor gefreit, gar manchmal neben ſeiner Frau an der 
Wiege ſeines erſtgeborenen Sohnes Max geſeſſen, wie es auf dem 
Stammbuchblatt im Jahre 1834 beſchrieben, obgleich damals ſein 
Streben gar nicht auf ein Lehramt gerichtet war, ſo daß trotzdem der 
Profeſſor, die Gattin und der Säugling in der Wiege richtig ein⸗ 
getroffen ſind. 


— 189 — 


Verzeih die ſchroffe Frage! 
Nicht feindlich iſt ihr Sinn, 
Nimm freundlich ſie als Klage 
Des Patrioten hin, 
Der deutſcher Machtentfaltung 
Sich freut und ohne Haß; 
Doch bei der Neugeſtaltung 
In Nord und Süd vergaß: 
Daß auch in künft'gen Tagen 
Uns knüpft ein enges Band, 
Daß deutſche Herzen ſchlagen 
Auch an der Donau Strand. 
Und dieſes Band zu wahren 
Mit deutſchem Geiſt und Wort, 
Trotz Slaven und Magyaren 
Iſt Dein Beruf hinfort. 
Zum Schluß: der dieß geſchrieben 
Und ſeinen Gruß Dir ſchickt, 
Iſt jung im Geiſt geblieben, 
Ob manche Sorg' ihn drückt; 
Er möchte gern erfahren 
Was Herr von Dingelftedt 
Jetzt, nach ſo vielen Jahren, 
Für eine Miene hätt'? 

Hanau. Dr. Konrad Fliedner, 

Oberlehrer am Gymnaſium. 


Darauf kam ein Brief von Dingelſtedt: 

„Verzeihe, lieber Freund aus alter oder vielmehr 
junger Zeit, wenn ich Deine poetiſche Mai⸗Epiſtel erſt 
heute am Schluſſe des Heumonates, in dürrer Proſa und 
durch fremde Hand beantworte. Für dieſe dreifache Sünde 


* 


— 190 — 


am heiligen Geiſte der Freundſchaft muß das leidige, 
läſtige Geſchäft als Rechtfertigung gelten, das, namentlich 
am Ende einer heißen Theaterſaiſon, ſich viel zu mächtig an⸗ 
häuft, um raſche und eigenhändige Erledigung aller, auch 
der erfreulichſten Einläufe zu geſtatten. Daß ich zu letz⸗ 
teren Deinen Dichter- und Freundes-Gruß ſammt der 
Reliquie aus unſerer gemeinſamen Vergangenheit zähle, 
bedarf der Verſicherung nicht. Obwol viel gewandert 
und nicht wenig geprüft, bin ich der heſſiſchen Heimath 
mit ſprichwörtlich blinder Anhänglichkeit treu geblieben 
und habe in meiner Erinnerung an ſie nur die lichten 
Seiten feſtgehalten, während die tiefen Schatten, an denen 
es, wie Du weißt, meinen heſſiſchen Lehrjahren nicht ge⸗ 
fehlt hat, im verklärenden Lichte der Ferne verſchwommen 
und verſchwunden ſind. So oft eine Geſtalt oder eine 
Stimme aus dieſem Hintergrunde in der Gegenwart an 
mich herantritt, fühle ich mich unwillkürlich angeheimelt 
und im Geiſte zurückverſetzt in Zeiten und Zuſtände, die, 
bei aller Beſchränkung, für mich den Reiz der Jugend, 
das Colorit einer Frühlingslandſchaft haben und be⸗ 
halten. 

„In dieſer aufrichtigen Geſinnung danke ich denn auch 
Dir für Dein freundliches Andenken und freue mich, daß 
Du nicht blos an das Ziel gelangt, welches ich Dir pro⸗ 
phezeit habe, ſondern glücklich über daſſelbe hinausgegangen. 
Deiner theilnehmenden Frage nach meinem eigenen inner⸗ 
lichen Sein — das äußerliche kennſt Du — begegne ich 
mit der Verſicherung, daß ich zwar alt geworden, aber 
doch der Alte geblieben bin, im Beſitze einer glücklichen, 
in vielem Sinne glänzenden Stellung mich wohl und an 


— 191 — 


meinem Platze fühle und auch des häuslichen Segens nicht 
entbehre, der das Supplement jeder öffentlichen Laufbahn 
iſt, namentlich wenn dieſelbe eine ſo wechſelvolle und viel— 
fach verſchlungene, wie diejenige, auf die mein Stern mich 
geführt hat. Kreuzen ſich unſere Wege nach langer Zeit 
einmal wieder, ſo findeſt Du mich, wie wir geſchieden; da 
aber wenig Ausſicht vorhanden, daß ich Dich in Hanau 
überraſche, mußt Du ſchon, wozu ja Deine häufigen 
Ferien erwünſchten Anlaß bieten, der alten und noch 
immer einzigen Kaiſerſtadt einen Beſuch abſtatten, um 
unſer Wiederſehn und unſere Wiedergeburt in Jugend⸗ 
erinnerungen herbeizuführen. Du ſollſt in meinem Hauſe, 
dem großen wie dem kleinen, ein hochwillkommener Ehren⸗ 
gaſt ſein. 

„Grüße Deine Frau, alle Deinen, alle Unſrigen, 
ſoweit wir noch gemeinſame Freunde daheim haben, auf 
das Herzlichſte und ſei ebenſo gegrüßt von 

Deinem 
treu⸗eigenen 
Fr. Dingelſtedt. 
Wien, am 26. Juni 1870.“ 


Der Wunſch, „die alte Kaiſerſtadt“ zu beſuchen und 
den alten Jugendfreund wiederzuſehen, ging Fliedner nicht 
in Erfüllung. Als aber ein andrer Commilitone vom 
Corps „Schaumburgia“, ſein ehemaliger Stubenburſch 
Vogel, im Jahre der Weltausſtellung 1873, ganz uner⸗ 
wartet nach Wien kam: da hat Dingelſtedt, der bereits 
fürſtlich im Opernhauſe wohnte, das Wort wahr gemacht, 
mit welchem er einſt, 32 Jahre früher, ſeinen offenen 


Brief an ihn im „Salon“ ſchloß: „Wie weit uns das 
Leben auseinanderwerfen ſollte, glaube immer an mich.“ 
— „Er war der Alte,“ ſagt Vogel am Ende ſeiner in 
der „Caſſeler Tages⸗Poſt“ veröffentlichten Erinnerungen. 
„Als er aus unſerer Unterhaltung bei Tiſch merkte, daß 
ich ſeine Frau „Sie“ nannte, beſtand er darauf, daß wir 
Schmollis tranken.“ | 

Es iſt, noch bei Lebzeiten Dingelſtedt's, verſucht wor⸗ 
den, aus dem „Stammbuchblatt“ (Literariſches Bilderbuch, 
S. 168 ff.) zum Andenken an Moſenthal, der doch auch 
ſein Landsmann und ſogar ſein Schüler geweſen, unfreund⸗ 
liche Geſinnung, ja Spott zu leſen. Wie wenig doch ge⸗ 
wiſſe Leute, zumal wenn ſie ſich in ihrer Eitelkeit getroffen 
fühlen, einen guten Witz verſtehen! Vernehmlich genug 
durch die Scherzreden klingt die Stimme des Herzens: 
„Ich bin ein Kurheſſe und ein Schriftſteller gleich ihm. 
So ſind wir in doppeltem Sinne von Einer Familie.“ 
Soll aber darum der Humor ſich ſeines Rechtes begeben 
zu lächeln, ſelbſt zu lachen und uns lachen zu machen? 
Mir ſcheint, jeder Irrthum über die wahre Meinung iſt 
unmöglich, wenn man zum Schluſſe lieſt: „Da oben 
zwinkert ein röthliches Sternlein, das mich an meinen 
rothköpfigen Tertianer gemahnt. Die Frühlingsnacht er⸗ 
innert mich daran, wie oft ich Arm in Arm mit ihm 
aus dem gaſtlichen Augartenpalais den weiten Weg in 
die „innere Stadt“ zu Fuß zurückgelegt. .. .. Ich ſcheide 
von ihm, wie damals an der Ecke des Opernhauſes: — 
Gute Nacht Moſenthal! Aber ich wollte, ich könnte wie 
damals hinzufügen: Auf Wiederſehen!“ 

In den zahlreichen Briefen, die ich von ihm bewahre, 


— 19 — 


deren Veröffentlichung aber einer ſpäteren Zeit vorbehal- 
ten bleiben muß, nennt Dingelſtedt mich niemals anders, 
als ſeinen „Heſſiſchen“ oder „Schaumburger Landsmann“, 
und mannigfach in unſerer Correſpondenz finden ſich die 
heimathlichen Spuren. Für die erſte Nummer des von 
Lammers herausgegebenen „Nordweſt“ hatte ich (Januar 
1878) einen Artikel „Die Weſer“ geſchrieben, den ich dem 
Freunde in Wien, wie Alles, was ſich auf unſere gemein⸗ 
ſamen Reminiscenzen bezog, zuſchickte. In dem Aufſatz 
hatte ich an den Director des Rintelner Gymnaſiums zu 
Dingelſtedt's Zeit, Wiß erinnert, der die Weſer in lateini⸗ 
ſchen Hexametern beſang, indem er, zugleich auf ihren 
Namen (Visurgis) und ihren Urſprung aus dem Zus 
ſammenfluß zweier Gewäſſer anſpielend, ſie mit elegan⸗ 
ter Wendung anredet: „während alle andren Flüſſe klein 
entſpringen, entſpringſt du mit Macht — tu vi surgis.“ 
Nicht lange, ſo erhielt ich ein großes Blatt zurück, auf 
welches Dingelſtedt, mit der Ueberſchrift „An J. R.“, die 
beiden erſten Zeilen meines Artikels geklebt und dieſelben, 
da ſie mir, ohne daß ich's geahnt, ſelbſt zu Hexametern 
geworden, mit Skandirungsſtrichlein verſehen hatte, wie 
olgt: 
5 3 ich] muß es be kennen, in meiner | früheften | 
Jugend 
Hat es mir wehe ge | than, wenn | Schiller — | unfer ge: | 
liebter | — 

Darunter hieß es dann weiter: 

Der Du Hexameter ſchreibſt, unwiſſentlich, Weiſer der Weſer, 

Wiſſe, daß Wiß ſich gewiß, wüßt' er es, weidlich gefreut. 

Aber ſeit Wiß verweſt und die weißroth *) leuchtende Weſer 

*) Weißroth, die Farben von Kurheſſen. 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 13 


Schwarzweiß wurde geweiht, Rinteln und Rodenberg mit, 
Wimmern wir, Weiſen des Wiß, im Exil wehklagende Weiſen, 
Unter den Weiden der Spree, über den Wäſſern der Wien. 

7. Februar 1878. 


Dann kam noch folgende Nachſchrift in Proſa: „Mit 
Schaumburger Gruß und dankbarem Händedruck für den 
Rundſchau⸗Artikel über Oetker.“ 


Ein Jahr ſpäter, auf meinen Neujahrswunſch, 
welchem ich ihm ans Herz gelegt, mit der e 
ſeiner Memoiren fortzufahren, ſchrieb er mir am 4. Januar 
1880: „Non possumus, amice! — Der ſtrenge Winter 
und der ſtrenge Dienſt haben mein ſterbliches und unſterb⸗ 
liches Theil dergeſtalt mitgenommen, daß mir zu keinerlei 
Abſchweifung Kraft, Stimmung, Sammlung bleiben. 
So gern ich daher Ihrem freundlichen Rufe unverzügliche 
Folge leiſtete, — dem ausrangirten Huſarengaul vergleich⸗ 
bar, der am Pflug die alten Signale zur Attaque von 
Weitem klingen hört und nur den Kopf wenden und 
wiehern kann, nicht ausreißen und mitthun, — ich muß 
um Geduld bitten. Hoffentlich bringt der Frühling leich⸗ 
tere Tage und lichtere Stunden. Dann gehe ich ſtracks 
an die Arbeit, nach der es mich ſelbſt verlangt. Doch 
werd' ich diesmal vom Anfang anfangen, als „blinder 
Heſſe“, in Ihren Fußſtapfen die verſchwundene Heimath 
durchwandernddh .. 

Zur Erklärung ſei hier geſagt, daß in dem bereits 
entworfenen Schema ſeiner Memoiren die „Münchener 
Bilderbogen“ den fünften Abſchnitt ausmachten, wie die 
„Schwabenſtreiche“, welche dieſen in der „Rundſchau“ zu⸗ 
nächſt folgen ſollten, dem vierten zugewieſen waren. 


— 195 — 


Doch hat es ihn, dem Ende ſo nahe, vielleicht um ſo mehr 
zum Anfang hingezogen; und welch' ein ſchönes Bild ſeiner 
Kindheit und ſeines Elternhauſes würden wir von ihm 
erhalten haben, wenn es ihm vergönnt geweſen wäre, 
daſſelbe noch auszuführen! 

Auch darin verleugnete Dingelſtedt ſeine Herkunft 
nicht, daß er ſogar für unſeren alten Kurfürſten jenes 
Gefühl der loyalen Heſſennatur bewahrte, welche, wenn 
fie freilich an den bekannten Eigenſchaften Friedrich Wil- 
helm's I. Nichts ändern konnte, doch in ſeinem ſtarren, 
trotzigen Abſolutismus einen durchgehenden Familienzug 
des Heſſiſchen Herrſcherſtammes erblickte und nach ſeinem 
tragiſchen Ende ein gutes Wort für ihn hatte. „Ein an⸗ 
derer in der Sache, aber derſelbe in der Perſon“, ſagt 
eine ſpätere Einſchaltung in ſeinen „Bilder aus Hejjen- 
Kaſſel“ (Wanderbuch, Werke V, 5), „iſt der Widerſtand, 
den Philipp der Großmüthige und den der letzte Kurfürſt 
Kaiſer und Reich geleiſtet. Dieſe Landgrafen und Kur⸗ 
fürſten von Heſſen haben alle Zeit an der ſprichwörtlichen 
Blindheit ihrer getreuen Unterthanen ihr ehrlich Theil 
gehabt, ſich abſeits und für ſich gehalten ... Weder aus 
Napoleon's Kriegsbäckerei, noch aus der Fabrik des Wiener 
Congreſſes ließen fie ſich eine neubackene Königskrone. 
auf's Haupt ſtülpen. Sie drückten, ſie allein unter dem 
halben Schock deutſcher Bundesfürſten, den alten Kurhut 
feſt und trotzig in die Stirne. Das war gut heſſiſche, 
wenigſtens alt heſſiſche Art.“ Einmal, noch während 
ſeiner Stuttgarter Zeit, hatte Dingelſtedt ſeinem alten 
Landesvater „in ſchöner königlich Württembergiſcher Uni⸗ 
form“ ſeine Aufwartung gemacht — vielleicht nur, um 

13* 


— 196 — 


ihm zu zeigen, was Alles aus einem kurheſſiſchen Schul⸗ 
meiſter werden kann; und ein andermal, in Scheveningen, 
ſcheint Se. Königl. Hoheit, der Frau Jenny Lutzer⸗Dingel⸗ 
ſtedt ſogar Ausſichten auf Kaſſel gemacht zu haben. Eine 
Stelle, die ſich in der damaligen Correſpondenz mit Oetker 
findet, weiſt darauf hin: „Glaubſt Du, daß man für meine 
Frau in Wilhelmshöhe eben ſo iſt, wie in Scheveningen? 
Meinetwegen könnte ſie auch einmal gaukeln, für irgend 
einen heſſiſchen „Zweck“, natürlich nicht für Geld“... 
Aus dieſem Plane, wie aus ſo manchem andren ward 
freilich Nichts; als aber im Jahre 1854, bei Gelegenheit 
des Münchener Geſammtgaſtſpiels, unter allen andren 
deutſchen gekrönten Häuptern, auch der Kurfürſt erſchien, 
da hatte der ehemalige Gymnaſial-Hülfslehrer die größere 
Ehre, ihm die Honneurs zu machen und ihn ſogar in 
der Intendantenloge zu begrüßen. Wenn er in ſeinen 
„Münchener Bilderbogen“ im Tone nicht zu verkennen⸗ 
der Befriedigung erzählt, daß ſein ehemaliger Souverain, 
„weil er incognito bleiben wollte, ſich meiner Loge landes⸗ 
väterlich bediente“, ſo klingt aus dieſen Worten zugleich 
etwas wie leiſe Selbſtironie neben ſtiller Bewunderung, 
als ob er hätte hinzuſetzen mögen: „Aber ſeinen Orden 
hat er mir darum doch nicht gegeben, der Alte! Dazu 
beſaß er zu viel Charakter.“ 

Berlin, die „Stadt der Bildung und des Thees“ 
(Thee haßte Dingelſtedt ſchon in Ricklingen) und die 
„kalten“ Berliner hatten ihn bei ſeinem erſten „Weltgang“ 
gerade ſo abgeſtoßen, als die gefährliche Sirene Wien 
ſogleich ihren unwiderſtehlichen Zauber auf ihn übte. Wer 
begreift das nicht? Welcher Poet würde noch heute ihm 


— 197 — 


nicht nachempfinden? Oeſterreich war damals noch mehr 
als heute das Land der Dichter — Grillparzer, Anaſtaſius 
Grün, Nicolaus Lenau — und Wien damals wie heute 
die Stadt der ſchönen Wienerinnen. Freilich ſagt er ſich 
auch, daß im Metternich'ſchen Wien unter Roſen die 
Schlange lauere. „Weib Potiphar's — laß' meinen 
Mantel fahren!“ ruft er aus und reißt ſich los mit den 
Worten: 
Der Tag bricht an — Gottlob! ich hab mich wieder: 
Die Lieb' iſt viel; doch iſt die Freiheit mehr! 

Aber auch Jenny Lutzer iſt eine Wienerin; und als ſie 
nach London zieht und er ihr nicht folgen kann, tröſtet 
er ſich damit, daß er ſie bei ihrer Heimkehr, „der erſte 
dort am Strand“, empfangen werde: 

Und nimmer wieder von Dir laſſen 

Und immer mit Dir ziehn, 

Strom auf, Berg ab, durch Städt' und Gaſſen, 

Bis in Dein liebes Wien. N 

In der That ſollte die Stadt ſeines Herzens die werden, 

welche dem unabläſſig Ringenden den ihm gemäßen groß⸗ 
artigen Wirkungskreis bot. Doch war inzwiſchen auch 
ſeine Meinung über Berlin eine weſentlich andere ge— 
worden, wie ja Berlin ſelbſt ſich ganz umgeſtaltet hat — 
ob in allen Stücken zu ſeinem Beſten, werde hier nicht 
erörtert. 5 


IX. 


Das Berlin, welches Dingelſtedt kannte, war das 
der Zeit Friedrich Wilhelm's IV.; und wenn er an das 
taſtende Dilettiren, das vorſichtige Zurückweichen, an den 
Gegenſatz der alternden Romantik und des jungen Deutſch⸗ 
lands, wenn er daran dachte, daß die neuen Talente, 
Gutzkow und Laube hier keinen Platz fanden und der 
68jährige Tieck berufen ward: dann mochte er in einer 
ſeiner „Ghaſelen aus Alt-Berlin“ wol höhnen 

Nein, Rüben und Kadetten zieht, Kartoffeln und Magiſter groß, 
Doch Dichter wuchern nicht empor, wo man verlegenen Samen ſtreut. 

Und Rückert, der gleichfalls nach Berlin gezogen 
worden, war ja auch bald genug wieder gegangen! Daß 
Dingelſtedt aber auch damals ſchon für das, was ächt in 
Berlin war, Anerkennung gehabt, zeigt ſein ſchönes Ge⸗ 
dicht „Am Grabe Chamiſſo's“: 

Wo habt Ihr mir den Alten hingebettet? 

Ferner auf „die Brüder Grimm“ — die Heſſen⸗ 
Dioskuren, die des heimathlichen Dichters Segen dorthin 
begleitet: : 
— — wohin ſie Königs⸗Wort berufen, 
Erhaben über Furcht und böſen Schein. 


— 19 — 


Aber doch trat erſt mit der Wandlung, welche die 
Geſchicke Deutſchlands im Jahre 1866 nahmen, auch die 
Wandlung von Berlin ein; und damals war es, daß 
Dingelſtedt — kurz vor ſeinem Abgang von Weimar nach 
Wien — „dem König von Preußen“ (1. Auguſt 1866) 
die folgenden prophetiſchen Worte ſang: 

Dein Ahnherr auf der großen Brücke 

Hat einſt auf ſchmalem Grund gebaut; 

Kaum breiter Jener mit der Krücke, 

Der Dir in's Fenſter täglich ſchaut. 

Sei mehr als ſie! Setz auf die Zinne 

Dem Hohenzollern-Staat und Haus; 

Bau' Du ſie, doch in rechtem Sinne, 

In Deutſchland baue Preußen aus. 


—u — — — — — — — — 


Wag's um den letzten Preis zu werben 

Und mit der Zeit, dem Volk zu gehn: 
König von Preußen, Du mußt ſterben, 
Als deutſcher Kaiſer aufzuſtehn! 


Man hat Dingelſtedt in ſeinen früheren Jahren nicht 
mit Unrecht antipreußiſche Geſinnung vorgeworfen, in 
ſeinen Gedichten vor 1866 bekennt er ſich offen genug 
dazu; doch ſehr ungerecht würde ſein, daraus zu folgern, 
daß das oben angeführte Gedicht mehr eine captatio bene- 
volentiae geweſen ſei, mit irgend welcher Nebenabſicht auf 
die Entſchließungen oder den Einfluß einer gewiſſen aller⸗ 
höchſten Perſon, als ein ſpontaner Ausdruck der aus den 
Ereigniſſen gewonnenen Anſchauung. Dieſe Beſchuldigung 
darf ohne Weiteres zurückgewieſen werden. Dingelſtedt 
war ein viel zu kluger Mann, um ſich, ſelbſt wenn ſein 
Ehrgeiz dahin ging, nicht ſagen zu müſſen, daß in Berlin 


a 


kein Platz für ihn ſei; vielmehr wies Alles ihn nach Wien 
hin, wo ja kaum ein Jahr ſpäter er auch wirklich auf der 
Stelle ſtand, nach welcher er ſo lange und ſo beharrlich 
geſtrebt hatte. Nein! — was man Dingelſtedt auch vor⸗ 
werfen mag: das dichteriſche Wort hat er immer in 
Ehren gehalten; nichts von dem, was er als Dichter ge⸗ 
ſprochen, hat er je zu widerrufen oder zu verleugnen ge⸗ 
braucht. Es mag ſein, daß in gewiſſen Momenten ſeines 
Lebens ihm der Freiherr höher galt als der Dichter; aber 
in keinem iſt er ein Abtrünniger geweſen, und unter den 
Fahnen, welche ſich in ſeinem Feſtſpiel zur Eröffnung des 
neuen Opernhauſes in Wien (25. Mai 1869) vor der 
Kaiſerloge neigten, war auch ſie: 
— im Zug die letzte, nicht im Herzen, 
Du heil'ges deutſches Banner, ſchwarz⸗roth⸗gold. 


Der Freiherr, der k. k. Hofrath, der Director des 
Burgtheaters hat nicht ein einziges der „Lieder des kos⸗ 
mopolitiſchen Nachtwächters“ unterdrückt, als er ſeiner 
Geſammtausgabe dieſe Sammlung einverleibt, welche zur 
Zeit ihres Erſcheinens nicht nur mit der Acht und Aber⸗ 
acht des deutſchen Bundestages belegt, ſondern auch, zu⸗ 
ſammen mit Hoffmann von Fallersleben's „Unpolitiſchen 
Liedern“ den Grund abgaben, weshalb „alle, jetzt und 
künftig in der Buchhandlung von Hoffmann und Campe 
zu Hamburg erſcheinenden Schriften u. ſ. w.“ in Preußen 
verboten wurden, ſo daß Heine in ſeinem erſten Gedicht 
an Dingelſtedt („Bei des Nachtwächters Ankunft zu 
Paris“, 1842) wol ſagen konnte: 


— 201 — 


Es blüht der Lenz, es platzen die Schoten, 
Wir athmen frei in der freien Natur; 

Und wird uns der ganze Verlag verboten, 
So ſchwindet am Ende von ſelbſt die Cenſur. 


Nach Abzug deſſen, was auf Rechnung der während 
der vierziger Jahre nun einmal unvermeidlichen Phraſe 
zu ſetzen iſt, wird man kaum etwas Anderes in Dingel— 
ſtedt's politiſchen Gedichten finden, als was damals in der 
Bruſt jedes patriotiſch und vernünftig geſinnten Deutſchen 
ſich mehr oder weniger deutlich regte: Unwillen über die 
Kläglichkeit des Polizeiregiments, die Miſere der Klein⸗ 
ſtaaterei und Sehnſucht nach nationaler Einigung. 

Darin ſtimmten die beiden Jugendgenoſſen vollkom- 
men überein; und wenn ſpäter dennoch Entfremdung 
zwiſchen ihnen eintrat, ſo bin ich über den Grund der— 
ſelben hier allerdings nur auf die Vermuthung angewieſen. 
Denn weder der Eine, noch der Andere haben ſich darüber 
jemals gegen mich ausgeſprochen. Möglich, daß in dem 
noch ausſtehenden dritten Bande von Oetker's „Lebens⸗ 
erinnerungen“ ſich eine Aufklärung finden mag. Vielleicht 
auch paßt auf dieſes Freundſchaftsverhältniß, was Dingel⸗ 
ſtedt einmal von einem andern, dem zu Freiligrath, ges 
ſagt hat: „Die intime Geſchichte dieſer und vieler größerer 
Zerwürfniſſe iſt noch zu ſchreiben und wird noch ge— 
ſchrieben werden, wenn einmal die Perſonalchronik der 
politiſchen Lyriker an das Licht treten darf.“ Und wenn 
ſpät eine Wiederannäherung ſtattfand mit Freiligrath, 
nicht aber mit Oetker: war es etwa, weil Herzens⸗ 
beziehungen einmal gelockert, um ſo ſchwerer ſich wieder 
anknüpfen, je intimer ſie vorher geweſen? So viel darf 


Er > 


gejagt werden, daß Friedrich Oetker, trotz ſeiner poetiſchen 
Anwandlungen, vorwiegend der politiſche Kopf, und Franz 
Dingelſtedt, trotz ſeiner politiſchen Anwandlungen, zuerſt 
und zuletzt der poetiſche war; daß der Eine die Verwirk⸗ 
lichung ſeiner Ideale ſich nicht ohne die Hohenzollern zu 
denken vermochte; während der Andere, mit vielen der 
Bevorzugteſten und Edelſten unſeres Volkes die Regene⸗ 
ration Deutſchlands lange nur von den Habsburgern er⸗ 
wartete. Der Gegenſatz war hiſtoriſch und durch die 
Natur der Dinge gegeben; er verpflanzte ſich in die Seele 
der Nation, er riß Nord- und Süddeutſchland ausein⸗ 
ander, er machte einen blutigen Krieg nothwendig und 
bedurfte eines anderen zu ſeiner — wie wir hoffen wollen — 
völligen Ausgleichung. Er trennte, ſo ſcheint es mir, 
auch die beiden Freunde; Dingelſtedt gravitirte nach Wien, 
Oetker nach Berlin. Was damals zwiſchen Berlin und 
Wien geſtanden, drängte ſich auch zwiſchen ſie; nicht ge⸗ 
rade ſichtbar, aber fühlbar: 
Die Zwietracht, die das erſte Volk der Welt 
Auf eine Stufe mit dem letzten ſtellt. 
(Zum Shakeſpeare⸗Jubiläum, Weimar 1864.) 


Uebrigens, wenn irgend Einem, ſo durfte man jenen 
politiſchen Irrthum dem Poeten verzeihen, welcher „das 
Oeſterreich, an Siegen und an Ehren reich“, in einem 
ganz anderen Glanze deutſcher Gedichte, deutſcher Dich- 
tung und Sage ſtrahlen ſah, als das nüchterne Preußen; 
welcher dem Erzherzog-Reichsverweſer in froher Will⸗ 
kommsſtimmung wol zurufen mochte: | 


ne 


Du bift der Tiroler Bauer, Kaiſer ift das Volk geworden; 
zn ſteht es auf der Klippe, Wetter droh'n von Süd und 
Norden 8 


An der Zukunft goldne Ziele führ' uns von der Martinswand: 
Max, Dein Kaiſer ruft! Tiroler Hans, gieb ihm die treue Hand. 

Oder welcher, als der mit ſo großem Enthuſiasmus 
unternommene Verſuch einer Wiedererweckung des deutſchen 
Reiches kläglich geſcheitert, den Abſchied des Erzherzogs 
mit dem bittern Worte begleitete: 

War es die Schuld des wackren Mannes, 
Daß in der Wüſte zu Berlin 

Auf ihn, den taufenden Johannes, 

Noch kein getaufter Chriſt erſchien? 

Was der Dichter zu ſchauen und zu feiern begehrte, 
war ein heroiſcher Act, ein Mann und eine That; kann 
es Wunder nehmen, daß er der Aermlichkeit deſſen gegen- 
über, was ſich damals in den Marken und nicht viel 
ſpäter in Olmütz begab, mit jubelndem „Victoria!“ den 
Adler Oeſterreichs begrüßt, wie er von Mailands Dom 
gen Turin und Rom „gewitterfroh“ hernieder blitzt? 
War doch ein großer Theil der deutſchen Liberalen ſelbſt 
im Jahre 1859 noch in den gleichen Anſchauungen be— 
fangen und weit davon entfernt, die Identität der Ein⸗ 
heitsbeſtrebungen in Deutſchland und Italien zu erkennen, 
den Ausſchluß Oeſterreichs von dem einen und dem 
andren zur Bedingung ihrer Verwirklichung zu machen. 
Noch war auf der Weltbühne nicht jener neue Mann er- 
ſchienen, welcher mit der hiſtoriſchen Tradition brach, der 
Zeit ihr eignes Geſetz gab, der nüchternen Verſtändigkeit, 
der Proſa der Thatſachen das Feld gewann, und nicht 


an = 


mit Begeiſterung und Poeſie, ſondern mit der ultima 
ratio regum, dem Kanonendonner von Königgrätz die 
deutſche Frage löſte. Die Lyrik kam erſt hinterdrein, und 
Gott weiß es! — ſie war meiſtens recht herzlich ſchlecht. 

Aber zu Denen, welche ſogleich den im nationalen 
Sinne nothwendigen Abſchluß jenes entſcheidenden Tages 
vorausſahen und vorausſagten, gehörte Dingelſtedt; und 
fürwahr, nicht Anbetung des Erfolgs, oder Furcht, oder 
Hoffnung, ſondern der alte „blinde Heſſentrotz“, der vor 
der Gefahr die Augen ſchließt, war es, der ihm das Ge⸗ 
dicht an den König von Preußen eingab. 

Als Dingelſtedt ein Decennium ſpäter, in den ſchönen 
warmen Junitagen des Jahres 1876 in Berlin war, da 
konnte ex ſich ganz dem Gefühle hingeben, unter Freun⸗ 
den zu ſein. Es war das fünfundzwanzigjährige Jubi⸗ 
läum des Generalintendanten der königlichen Schauſpiele, 
Herrn v. Hülſen, zu welchem Dingelſtedt als Repräſen⸗ 
tant des k. k. Hoftheaters in Wien erſchienen war. Wer 
Zeuge der Ovationen geweſen, die dem langjährigen und 
verdienten Leiter der beiden Berliner Hofbühnen von allen 
Intendanzen Deutſchlands dargebracht wurden, dem wird 
unvergeſſen geblieben ſein, wie allgemein die Bewegung 
war, als Dingelſtedt in die Mitte des glänzenden Kreiſes 
trat, welcher an jenem Morgen den Concertſaal des Opern⸗ 
hauſes erfüllte. Einundzwanzig Jahre waren vergangen, 
ſeitdem ich ihn zuerſt im Hauſe ſeines Vaters zu Rinteln 
geſehen. Heute ſah ich ihn, ſtrahlend in allen Ehren, die 
er ſich ſelbſt erworben, mit den Sternen und Bändern 
der höchſten Orden, als öſterreichiſchen Freiherrn und 
oberſten Leiter desjenigen Kunſtinſtituts, welches ſowol 


— 205 — 


durch ſeine Traditionen als ſeine gegenwärtigen Leiſtungen 
den erſten Rang einnimmt. Obwol nunmehr ein Zwei⸗ 
undſechzigjähriger, war ſeine Erſcheinung doch impoſant, 
ſeine hohe Geſtalt ungebeugt, ſein braunes Haar, wenn 
nicht mehr ganz ſo üppig, wie damals, doch ſonſt kaum 
von der Zeit berührt, und ſeine männliche Stimme voll⸗ 
tönend und außerordentlich wohlklingend, als er begann: 
„Im Namen Sr. kaiſerlichen und königlichen Apoſtoliſchen 
Majeſtät!“ Die feierliche Pracht des Saales, deſſen Ver⸗ 
hältniſſe vom reinſten Ebenmaß, deſſen Säulen und 
Wände weiß, ohne jeglichen Schmuck ſind, erhöhte den 
Eindruck ſeiner Perſönlichkeit und ſeines Wortes; und 
mir war, als ich über ſo viele Jahre rückwärts dachte, in 
die kleine Stadt und das kleine Haus an der Weſer, an 
den gemeinſamen Schauplatz ſeiner und meiner Jugend, 
als ob in der That für die Einen das Leben ein Traum, 
und für die Anderen der Traum das Leben ſei. Mein 
Freund und Landsmann Dingelſtedt gehörte ſicher zu der 
letzteren Kategorie; denn mit der Sentimentalität macht 
man freilich keine Carrière, wie dieſe, und es hat wol 
mancher klugen Wendung, manches geſchickten Ausweichens, 
manches harten Stoßes und Gegenſtoßes, aber ganz gewiß 
auch einer nicht minder bewunderungswürdigen Feſtigkeit 
des Vorhabens bedurft, um aus der beſcheidenen Stellung 
eines kurheſſiſchen Gymnaſiallehrers zu der höchſten, die 
für ihn erreichbar war, emporzuſteigen. Während ſeiner 
Anweſenheit in Berlin hatte die „Deutſche Rundſchau“ 
ihrem berühmten Mitarbeiter zu Ehren ein Souper ver⸗ 
anſtaltet, zu welchem alle literariſchen Celebritäten der 
Hauptſtadt Einladungen erhalten und angenommen hatten. 


= = 


Es war eine Tafelrunde, wie fie ſelbſt in Berlin ſich nicht 
oft zuſammenfinden mag, voll ungebundener Heiterkeit 
und einem Gefühle der Collegialität, welches durch die 
Gegenwart unſeres geiſtreichen, von pikanten Bemerkungen 
überſprudelnden Gaſtes noch erhöht ward. Er war in 
ſeiner allerbeſten Laune. „Hier,“ ſagte er, indem er einen 
auf ihn ausgebrachten Toaſt erwiderte, „hier bin ich 
wahrhaft unter meinen Pairs. Glaubt doch nicht, meine 
lieben Freunde, daß ich jemals aufgehört hätte, mich als 
Schriftſteller zu fühlen. Glaubt doch nicht, daß, wie 
mein unſterblicher Freund Heinrich Heine von mir geſagt, 
die langen Fortſchrittsbeine ſich in Rückſchrittsbeine ver⸗ 
wandelt hätten; oder daß ich, wenn ich das Nachtwächter⸗ 
horn an den Nagel gehängt, darum gedacht habe: „mag 
tuten wer will für den deutſchen Janhagel“. Im Gegen⸗ 
theil; mit meiner ganzen Vergangenheit, auf die ich ſtolz 
bin, verlangte mich's, den Leuten, welche den deutſchen 
Schriftſtellerſtand geringſchätzen, zu zeigen, daß ein Schrift⸗ 
ſteller nur zu wollen braucht, um ebenſoviel zu ſein, als 
ſie, und vielleicht noch ein Bischen mehr; daß es wol 
etwas mühſamer, aber darum nicht weniger ehrenvoll ſei, 
mit nichts als den Mitteln des Geiſtes zu gewinnen, was 
Anderen durch Geburt oder Geld zufällt; und ich ſcheue 
mich nicht, hier in dieſem vertrauten Kreiſe zu geſtehen, 
daß ich bei Allem, was ich erſtrebte, nur den Schrift⸗ 
ſteller im Auge hatte; daß ich mich niemals von meinem 
Stande losgeſagt habe und immer bereit bin, für die 
Ehre und Intereſſen deſſelben einzutreten; daß ein Schrift⸗ 
ſteller zu ſein, mein letzter Gedanke ſein wird, wie es 


— 207 — 


mein erſter war, und daß mir von allen meinen Titeln 
der, Euer guter Camerad zu heißen, der liebſte iſt.“ 
Und unſer guter Camerad war er und blieb er bis 
an ſein Ende. Mag er, von dem Impulſe jener nur allzu 
kurzen Sommernacht hingeriſſen, uns in den verborgenen 
Winkel ſeines Innern haben ſehen laſſen, den er ſonſt nur 
Wenigen und auch dieſen nicht oft gezeigt hat: was er 
ſprach, kam aus dem Herzen und ich, der ich namentlich 
in den letzten Jahren ſeines Lebens ſein ganzes Vertrauen 
beſaß, weiß, daß es ihm Ernſt damit war. Mit mir 
überlegte er den Plan der Geſammtausgabe ſeiner Schriften, 
welche veröffentlicht zu haben der Verlagsfirma der 
„Deutſchen Rundſchau“ zur Ehre gereicht; und wenn ich 
jetzt einen Band des ſchönen Werkes, welches die Summe 
ſeines dichteriſchen Schaffens enthält, in die Hand nehme, 
ſo bin ich dankbar dafür, daß es mir noch vergönnt war, 
an dieſem ſeinem beſten und unvergänglichen Denkmal 
mitzuhelfen. Die Zögerung von nur ein paar Jahren 
wäre verhängnißvoll geweſen. 

Das Feſt war vorüber; der Morgen dämmerte ſchon, 
als wir unter die Linden hinaustraten; der erſte Tages- 
ſtrahl färbte die Bäume, deren Blüthen um dieſe Zeit 
des Jahres ſo berauſchend duften, und der Geſang der 
Vögel klang durch die ſtillen Straßen. 


„In deinen Linden wohnt kein Lenz, kein Herz in den Paläſten,“ 


recitirte ich nun einen Vers aus Dingelſtedt's Nacht⸗ 
wächterzeit. „Sie haben ein beneidenswerthes Gedächtniß, 
Landsmann,“ erwiderte er, indem er mir die Hand auf 
die Schulter legte; „aber, glauben Sie mir, es iſt ein 


— 208 — 


anderes Berlin, als vor 36 Jahren, eine andere Welt — 
per tot discrimina rerum tendimus Latium.“ 

Nun ſprach ich auch von Oetker. — „Iſt er hier?“ 
fragte Dingelſtedt. — „Ich zweifle,“ ſagte ich; „der Reichs⸗ 
tag iſt geſchloſſen und er wird ſchon in Heſſen ſein. Er 
theilt ſeine Zeit treulich zwiſchen Berlin und Kaſſel, wenn 
er in den Dörfern und Städten von Schaumburg nicht 
etwa ſich ſeinen Wählern präſentirt. Am Reden hindert 
ihn ſein altes Halsleiden; weder im Reichstag, noch im 
Landtag hat er kaum jemals geſprochen. Es iſt aber 
auch nicht nöthig; ſie hängen dort ſo feſt an ihm, daß 
er ſich nur zu zeigen braucht, und ſie geben ihm ihre 
Stimmen.“ — „Daran erkenn' ich meine Schaumburger,“ 
ſagte Dingelſtedt. „Der alte Knabe!“ ſetzte er wehmüthig 
lächelnd hinzu; „Gott erhalte ihn noch recht lange bei 
ſeiner Heiſerkeit.“ | 

Wiedergeſehen haben jie jich weder damals noch jpäter; 
aber vorher und nachher, wenn ich an den langen Winter⸗ 
„ abenden, in ſeiner kleinen Wohnung am Askaniſchen 
Platze den einſamen Landsmann beſuchte, der ganz ver⸗ 
gnügt bei ſeinem beſcheidenen Nachtmahl, einem Glaſe 
Milch und einer trocknen Semmel ſaß, dann ſprachen wir 
oft von den alten Zeiten und von Franz Dingelſtedt. 
Er trug ihm Nichts nach; aber ſeit Jahren ſchon hatte 
jede directe Verbindung zwiſchen ihnen aufgehört. Wie 
gern hätte ich die beiden Landsleute noch einmal zuſam⸗ 
mengebracht, mit welchen ſo viele meiner eigenen, beſten 
Erinnerungen ſich verknüpfen! 


X. 


Um dieſe Zeit auch war mein perſönlicher ſowol 
als brieflicher Verkehr mit Oetker beſonders lebhaft. Er 
hatte ganz in der Stille begonnen, eine Reihe von Ge— 
ſchichten „aus dem norddeutſchen Bauernleben“ unſerer 
gemeinſamen Heimath zu ſchreiben. Nicht ohne Schüch⸗ 
ternheit machte er mich mit einem dieſer Verſuche bekannt, 
und mit einem gewiſſen Mißtrauen ging ich an die 
Lectüre. Denn, wenngleich Oetker der politiſchen Sache, 
die er vertrat, als Publiciſt große Dienſte geleiſtet hat, ſo 
war er doch niemals ein geſchulter Schriftſteller, und trotz 
des dichteriſchen Empfindens, das ſich namentlich in den 
„Helgoländer Sonetten“ (Lebenserinnerungen, 11.307 —322) 
ausſpricht, noch weniger ein „gelernter“ Dichter. Weder 
hielt ich ihn dafür, noch auch glaubte ich, daß er ſich 
ſelber dafür halte. Die Vorliebe, mit welcher er in 
ſeinem Memoirenwerk immer wieder auf ſeine dichteriſchen 
Verſuche zurückkommt, maß ich, da die mitgetheilten 
Proben kaum etwas Charakteriſtiſches haben, zum einen 
Theil der umſtändlichen Genauigkeit des Autobiographen, 
zum andren einer gewiſſen, verzeihlichen Eitelkeit des 
Mannes zu, der ſonſt jo wenig Weſens von ſeinen wirf- 


Rodenberg, Heimatherinnerungen. 14 


— 210 — 


lichen Verdienſten macht. Was jedoch in dieſer Hinſicht 
auf dem Grunde ſeiner Seele vorging, ſollte ich erſt nach 
ſeinem Tode erfahren. Eine langjährige Freundin, die 
dem Verſtorbenen beſonders nahe geſtanden, ſchrieb mir: 
„Der Poet ſpielte in des alten Freundes Natur eine jo 
große Rolle! Als Sie, in Ihrer Beſprechung ſeiner 
Lebensgeſchichte (Deutſche Rundſchau, Februar 1878, 
S. 294 ff.), Gedichte Dingelſtedt's, aber keins von ihm 
ſelbſt anführten, war er traurig und ſagte wiederholt: 
Sehen Sie, das iſt ein Bild meines Geſchickes! ein be⸗ 
freundeter, mir wohlwollender Mann druckt, in einer Be⸗ 
ſprechung meiner Lebensgeſchichte, Gedichte eines Andern. 
Mir erſchien Friedrich Oetker immer ſo unglücklich, wie 
ich nie einen zweiten Menſchen gekannt! Eben der Poet 
in ihm war es, der ſeine Sehnſucht nach Glück, nach irgend 
einer Erfüllung innerſter Hoffnungen nicht ſterben ließ. In 
der Chambre Garnie des Askaniſchen Platzes hat er An⸗ 
klagen gegen das Schickſal ſo verzweifelter, wilder Art 
ausgeſtoßen, daß ich nicht ohne Herzbeklemmung daran 
denken kann. Und früher ſchon ſagte er mir einmal: Der 
bitteren Thränen, die ich geweint, find jo viele .. ..“ 
Dieſe Worte, welche mir gleichſam aus ſeinem Grabe 
heraufklangen, haben mich tief erſchüttert; aber, wenn ſie 
Nichts an den Thatſachen ändern konnten, erfüllten ſie 
mich mit neuer Hochachtung vor dem einſamen, ſtarken 
Manne, der einen ſolchen Kampf ſiegreich in ſich durch⸗ 
gekämpft; der nur die vertrauteſte Freundin in ſein 
ſchmerzbewegtes Inneres blicken ließ, der Welt aber das 
heitere Geſicht Deſſen zeigte, der ſeine Pflicht erfüllt und 
ſeine Schuldigkeit gethan hat. In dieſem Sinne dürfen 


— 211 — 


wir wol den ſchönen Worten Oetker's aus dem Jahre 
1849, welche ich auf das erſte Blatt dieſer Erinnerungen 
geſchrieben habe, eine andere noch als bloß politiſche 
Deutung geben: es ſpricht ſich in ihnen, vielleicht im 
Hinblick auf den poetiſch ſo viel reicher begabten Freund, 
die ſchwer errungene Selbſterkenntniß und die Selbſt⸗ 
entſagung aus, welche — nachdem ſie ſich dahingebracht, 
neidlos anzuerkennen — auch den eignen Frieden wieder⸗ 
gefunden hat. Dieſen Eindruck will ich feſthalten; er 
erklärt mir jenes Geheimniß und giebt zugleich meinen 
eigenen Beziehungen zu Oetker einen freundlichen und ver⸗ 
ſöhnenden Abſchluß, um ſo mehr, als meine Anerkennung 
ſeines letzten ſchriftſtelleriſchen Werkes ebenſo warm als 
aufrichtig war. 

In der That, ſeine „Bauerngeſchichten“ mit ihrem 
naturwüchſigen Humor und ungeſuchten Pathos ergriffen 
mich tief; und wenn ich einen Theil der Wirkung auch 
auf den mich jo nahe berührenden Gegenſtand, den hei⸗ 
mathlichen Schauplatz und das Schaumburger Platt 
bringen will, welches ich ſeit meiner Kindheit nicht mehr 
in ſolcher Vollkommenheit gehört hatte: ſo blieb doch, 
nach dem Zeugniß Anderer und Unbetheiligter genug, um 
die Veröffentlichung in der „Rundſchau“ zu wagen. Oetker 
war jehr zufrieden damit. „Aber bis September dürfen. 
Sie mir mit dem Abdruck nicht warten! Sagen wir viel⸗ 
mehr Juli. Mit vollendeten 71 Jahren hat man Eile, 
große Eile,“ ſchrieb er mir einmal. „Bedenken Sie,“ 
ſchrieb er mir ein andermal, „daß ich ein alter Mann 
bin und doch noch erleben möchte, die Geſchichten gedruckt 


zu ſehen.“ Nun, er hat es erlebt, und auch noch die 
14* 


— 212 — 


Freude gehabt, dieſe hübſchen Sittenſchilderungen, — denn 
das ſind ſie mehr noch als Erzählungen — in einem ſauber 
ausgeſtatteten Bändchen (Berlin, Paetel 1880) erſcheinen 
zu ſehen. Den Gegenſtand unſerer letzten Geſpräche bildete 
faſt ausſchließlich der dritte (Schluß⸗- Band ſeiner Me⸗ 
moiren. Ich habe Grund zu glauben, daß das Manu⸗ 
ſcript deſſelben ſich druckfertig in ſeinem Nachlaſſe finde — 
Stücke daraus ſind bereits in verſchiedenen Zeitſchriften 
erſchienen — und hege keinen lebhafteren Wunſch, als den 
Band veröffentlicht zu ſehen. 

An einem jener langen Sommernachmittage, im 
Juli 1880, kurz vor meiner Abreiſe nach Belgien, wo 
damals die Vorbereitungen zu dem Nationalfeſte der 
fünfzigjährigen Unabhängigkeit getroffen und die Gäſte 
des Auslandes erwartet wurden, kam ich, um Abſchied 
von Oetker zu nehmen — wenig ahnend, daß es ein Ab⸗ 
ſchied für immer ſein ſolle. Die Abendſonne, welche 
über den Häuſern der kleinen Straße hereinſchien, ließ ihr 
letztes Licht auf das Bett fallen, in welchem mein Lands⸗ 
mann halb emporgerichtet ſaß. Zu ſeinen Häupten, auf 
einem Schreibtiſch, befanden ſich einige Bücher und die 
Mappe mit ſeinen Papieren; neben dem Bett und an 
den Wänden ſtanden ein paar Rohrſtühle. Die Fliegen 
ſummten an den Fenſtern; ſonſt war es ſtill und einſam 
in dieſen Räumen. Oetker war ſeit Wochen wieder leidend, 
aber darum nicht weniger geſprächig. Erinnerungen wur⸗ 
den in ihm wach an Belgien, an die Herrlichkeit der alten 
belgiſchen Städte, namentlich Gents, in welchem er jahre⸗ 
lang als Flüchtling gelebt, und an die dortigen Freunde. 
Sein Buch über Belgien begleitete mich und in Gent 


— 213 — 


ſelbſt, in dem Rathhaus, in dem Saal, in welchem die 
Pacification von 1576 beſchworen worden, gedachten wir 
hinwiederum, während das Glockenſpiel ſein Mittagsgeläut 
erklingen ließ und auf den farbigen Fenſtern ſich der 
Schatten des alten Belfrieds abzeichnete, des Freundes, 
welcher der vlamiſchen Sprache das Verſtändniß des 
Niederdeutſchen und der vlamiſchen Renaiſſance das warme 
Herz des geächteten Patrioten entgegenbrachte. Hier, in 
der Fremde liefen unſere Wege noch einmal zuſammen; 
aber als ich, ſpät im November, heimkehrte, war ich ſo 
ſehr von meiner Arbeit in Anſpruch genommen, daß ich 
den längſt beabſichtigten Beſuch bei dem Freunde von 
einem Tage zum andern, von einer Woche zur andern 
verſchob. Er wohnte nicht mehr in meiner Nähe, ſondern 
in einem entfernten Stadttheile Berlins. Seit der Rück⸗ 
kunft aus Heſſen, in welchem er, wie in jedem, ſo auch 
in dieſem Jahre den Sommer zugebracht hatte, war er 
in das Auguſta⸗Hoſpital übergeſiedelt, nicht etwa, weil er 
ſein nahes Ende geahnt, ſondern weil er dort beſſere 
Pflege und raſchere Heilung zu finden hoffte. 

Die letzte Poſtkarte von ihm empfing ich zwei Tage 
vor ſeinem Tode, Dienstag, den 15. Februar, aus dem 
Auguſta⸗Hoſpital. In der heiterſten Laune von der Welt — 
„zwar noch lange nicht hergeſtellt, aber doch in leidlichem 
Krankheitszuſtande“ — beklagt er ſich, daß ich ihn auf 
meinen Beſuch ungebührlich warten laſſe. „Zwar iſt der 
Weg lang; aber „eines Bären fette Keule“ war doch wol 
zur Ausrüſtung nicht nöthig. Alſo ſehen Sie ſich nach 
dem Norddeutſchen im Nordweſten Berlins einmal bald 
um.“ Meine zuſagende Antwort, welche mit der erſten 


— 214 — 


Poſt am Morgen des 17. eintraf, hat ihn nicht mehr 
erreicht: in der Nacht war er an einer Gehirnlähmung 
geſtorben, nachdem er — wie er mir kurz zuvor ſcherzend 
einmal geſagt — „72 Jahre gelebt und 63 Jahre krank 
geweſen war“. In der Kapelle des Hoſpitals, in welchem 
er geſtorben, ward ſeine Leiche eingeſegnet. Aber ſo ſehr 
trennt das Leben der großen Stadt, daß ich aus der 
Zeitung erſt von der Feierlichkeit erfuhr, als ſie längſt 
vorüber und die ſterblichen Reſte Friedrich Oetker's nach 
Kaſſel übergeführt worden waren, wo ſie unter großer 
Theilnahme der Bevölkerung beigeſetzt wurden. 

Während ſeines ganzen Lebens war er ein Freund 
der Armen geweſen, und ein eifriger Förderer jedes ge⸗ 
meinnützigen Zweckes. Er beſaß in hohem Grade den 
Gemeinſinn und brachte demſelben, bei ſeiner eigenen Be⸗ 
dürfnißloſigkeit, nicht unbeträchtliche Opfer. Von der 
recht anſehnlichen Entſchädigungsſumme, welche der preu⸗ 
ßiſche Staat als Rechtsnachfolger des kurheſſiſchen wegen 
unrechtmäßiger Entziehung der Anwaltſchaft ihm zu zahlen 
hatte, behielt er Nichts für ſich, ſondern überwies die eine 
Hälfte an die deutſche Invalidenſtiftung, das germaniſche 
Muſeum, den Verein für Volksbildung und veraus⸗ 
gabte die andere zur Begründung einer Volksbibliothek 
in Kaſſel. Im Gymnaſium zu Rinteln lebt der Name 
des wackeren Mannes fort im „donum Oetkerianum“, 
einer Schenkung von Bildern aus dem claſſiſchen Alter⸗ 
thum und Anſichten claſſiſcher Landſchaften, welche die 
Räume der Prima, Secunda und Quarta ſchmücken. Auch 
die Honorare, welche ſeine literariſchen Arbeiten ihm ein⸗ 
trugen, hat er niemals berührt; ſie wurden regelmäßig 


55 


an Wohlthätigkeitsanſtalten ſeines Vaterlandes geſandt, 
namentlich an das Diakoniſſenhaus in Treyſa, in welchem 


er ſich ein Kämmerlein reſervirt hatte. Sein Wunſch, 


in dieſem Kämmerlein zu ſterben, iſt ihm nicht erfüllt 
worden; aber auf dem Neuen Friedhof zu Kaſſel ruht er 
doch nun in heſſiſcher Erde, während ſein Name als der 
eines der Mitbegründer der deutſchen Einheit nimmer 
verlöſchen wird. 

Vier Wochen ſpäter ſaß ich an dem Krankenbette 
Franz Dingelſtedt's. In den prächtigen Räumen ſeiner 
Wohnung am Heumarkt in Wien herrſchte gedämpfte 
Trauer. Alle die koſtbaren Andenken ſeines an Ehren ſo 
reichen Lebens — auch der ſilberne Becher darunter, 
welchen ihm einſt bei ſeinem Abſchiede von Kaſſel die 
Gymnaſiaſten, ſeine Schüler, gewidmet — ſtanden oder 
lagen auf den Tiſchen, wie mit einem Flor verhangen. 
Die beiden Töchter Dingelſtedt's, Frau Gabriele Preſchern 
von Heldenfeldt, die aus Trieſt herbeigeeilt war, um dem 
leidenden Vater nahe zu ſein, und die Baroneſſe Suſanne 
von Dingelſtedt, die ihn niemals verlaſſen, empfingen 
mich. Seltſam und ſchwermüthig klangen durch unſere 
Geſpräche die Namen meiner Kindheit — Rinteln, die 
Weſer, Onkel Bornemann. Dann, durch ein Vorzimmer, 
geleiteten ſie mich bis zur Thüre der hohen Krankenſtube, 
welche dämmrig erleuchtet war von dem Lichte des kalten, 
trüben Märztages. Man erlaſſe mir zu ſchildern, wie ich 
den Freund wiederfand — es war ein trübſeliger Anblick, 
die ſtolze Geſtalt hülflos hingeſtreckt zu ſehen. Die Farbe 
ſeines Antlitzes war bleich und wächſern, es war abge— 
magert, und ſeine vornehm geformte Hand hager und 


— 216 — 


knochig; ſeine Stimme war gebrochen, aber nicht ſein 
Geiſt. Manchmal, in unſrem nothwendig kurzen Geſpräch, 
brach bei dem ſchwer Leidenden der alte Humor und 
Sarkasmus durch. Bei meinem zweiten Beſuche fand ich 
ſeinen Geiſt und ſeine Worte noch friſcher, als das erſte⸗ 
mal. Nur der erlöſchende Glanz ſeines einſt ſo ſtrahlen⸗ 
den Auges erinnerte mich daran, daß ich einen Sterben⸗ 
den vor mir habe — würde mich daran erinnert haben, 
auch wenn ich nicht am Tage zuvor von einer medi⸗ 
ciniſchen Autorität gehört hätte, daß es ſich nur noch 
um Tage und im beſten Fall um Wochen handle. Wie⸗ 
wol ſeit einem Monate in einem hoffnungsloſen Zu⸗ 
ſtande, von den heftigſten Schmerzen gemartert und durch 
Schlafloſigkeit entkräftet, nahm er doch immer noch regen 
Antheil an den Geſchäften des Theaters. An ſeinem 
Bette traf ich Herrn Gabillon mit dem Wochenrepertoire. 
Als dieſer gegangen, und außer mir nur noch ein gemein⸗ 
ſamer Freund anweſend war, ergriff ich Dingelſtedt's 
Hand und wir ſprachen von vergangenen Zeiten. Plötz⸗ 
lich richtete der Kranke an mich die Frage: „Haben Sie 
Fritz Oetker lange nicht geſehen?“ Ich ſchwieg; aber 
durch Unvorſichtigkeit des Andern erfuhr er, daß der alte 
Jugendkamerad nicht mehr ſei. Dieſe Nachricht machte 
einen unverkennbar tiefen Eindruck auf den Kranken. 
„Dann iſt es Zeit, daß auch ich mich auf die Abreiſe ge⸗ 
faßt mache,“ ſagte er. — „Keine Rede davon,“ ſuchte ich 
ſcherzend abzulenken; „Sie haben noch fünf Jahre zu gut, 
und ſind mir außerdem Ihre Schaumburger und Heſſiſchen 
Erinnerungen für die „Rundſchau“ ſchuldig.“ Er lächelte 


— 217 — 


trübe und wehrte langſam ab und iſt mir in der That 
dieſe Heimatherinnerungen ſchuldig geblieben. 

Als ich ihn, ſchweren Herzens, verließ, da wußte ich, 
daß ich Franz Dingelſtedt nie mehr wiederſehen würde. — 

In ſeinem Memoiren-Entwurf iſt der ſiebente und 
letzte Abſchnitt überſchrieben: „Wiener Haupt⸗ und 
Staatsactionen. 1867 bis 1922“ — und dann heißt es 
weiter: „Wo die Biographie aufhört, beginnt der Nekro— 
log, welchen ich, vorſichts- und ſicherheitshalber, ebenfalls 
eigenhändig zu beſorgen gedenke.“ Nur zwei Jahre vor 
ſeinem Tode hatte er in der vollen Kraft und Zuverſicht 
des Lebens dieſe übermüthigen Worte geſchrieben. Nun 
ſind die beiden Fragezeichen beantwortet; und an die un⸗ 
vollendete Biographie ſchließt ſich der fragmentariſche 
Nekrolog. | 

Ich erhielt die Nachricht von feinem Tode, vier Tage 
nachdem er geſtorben und zwei Tage nachdem er begraben 
war, in London. Es war um Mitternacht, und ich kam 
aus der Italieniſchen Oper von Coventgarden, demſelben 
Hauſe, wo vierzig Jahre früher, auch in einer Londoner 
Seaſon, Jenny Lutzer geſungen und Dingelſtedt ſie gehört 
hatte. Nun war die Muſik verſtummt, der Vorhang ge⸗ 
fallen. Das Blatt, welches mir die Todesnachricht brachte, 
lag auf dem Tiſche. Die Nacht war kummervoll und ich 
konnte kaum den Morgen erwarten, um meinem Schmerz 
in einigen nach Wien geſendeten Worten Luft zu machen. 
Mein Weg zum Telegraphen-Bureau führte mich an den 
Rand von Hydepark, auf deſſen grünen Raſenflächen längs 
der Waſſer des Serpentine ſchon einige Reiter und Equi⸗ 
pagen ſich zeigten. Ja, dies iſt derſelbe Hydepark, deſſen 


— 218 — 


buntes und elegantes Schauſpiel, wenn um die heiße Mit- 
tagszeit das high-life von Belgravia ſich in Rotten Row 
tummelt, Dingelſtedt einſt ſo ſehr entzückt und welches er 
in einem ſeiner ſchönſten Gedichte, dem „Roman“, ſo 
fascinirend geſchildert hat — 

Phantaſtiſches Bild, ſo fremd und ſo wild, 

Zwiſchen Erde ſchwebend und Himmel — 

Tauſend Erinnerungen erwachten in mir an die eigene 
Frühlingszeit in England, an meinen erſten Aufenthalt 
in London, an die Freunde, die ich hier gehabt und die 
nun alle todt find, an Freiligrath und Johanna Kinkel, 
an Emanuel Deutſch und Max Schlefinger. ... . 

Ich erinnerte mich, daß Dingelſtedt in London, ſeinem 
„überaus geliebten Babel“ noch einmal, zu Anfang der 
ſechziger Jahre war, auf der Reiſe nach Schottland und 
begleitet von ſeiner Tochter Gabriele, welcher Freiligrath 
damals in Burns'ſchen Rhythmen ſein ſchönes Lied geſungen: 

Heil Deinem erſten Flug vom Neſt, 
Du junges Blut, Du junges Blut! 

Hier nach der langen innerlichen Trennung einer in⸗ 
zwiſchen vergangenen und veränderten Zeit, ſahen die 
alten Freunde von Rhein und Fulda ſich wieder; hier 
ſöhnten ſie ſich aus; hier ſpeiſten ſie mit einander, „ein 
Diner von nicht mehr als drei Gedecken, aber ach! — 
ſchon mancher Banquo zwiſchen uns“; und hier, in einer 
weichen, warmen Auguſtnacht, in Oxfordſtreet, Arm in 
Arm, „nicht ſowol die Hauptſtraße der fremden Welt⸗ 
ſtadt, als das verlorene Paradies unſerer Jugend durch⸗ 
wandelnd“, nahmen ſie den letzten Abſchied. „Da erklang 
hinter uns die mahnende Stimme des Conducteurs: „'buss, 


— 219 — 


Sir, buss, the last for Hackney!“ Der Wagen hielt, 
er ſchwang ſich auf die Imperiale ...“ 


Verödet iſt jetzt auch das kleine Haus in Hackney, 
deſſen Thür mir Käthchen Freiligrath ſo manchmal geöffnet, 
wenn ich zuſammen mit Emanuel Deutſch den weiten 
Weg hinaus gemacht 


Mir ward ſo weh, mitten in dem fröhlichen Lärm 
der Londoner Seaſon, dem unaufhörlichen Feſtzug von 
Muſik und Bildern und Theater, daß ich die Flucht er— 
griff nach einem ſtillen Ort an der Küſte von Kent, wo 
ich einmal, vor langen Jahren, mit Deutſch geweſen war. 
Dort, während das uferloſe Meer ſich vor meinen Fenſtern 
ausdehnte, kalt und eiſig in der Maienſonne, und, von 
einem ſtarken Nordweſt bewegt, mit ſeinem dumpfen 
Rauſchen die Bewegung meines Inneren begleitete, ſam⸗ 
melte ich, was an Erinnerungen in mir war an meinen 
Freund und Landsmann; und es erſchien mir nun nicht 
mehr ſo fremdartig, daß ich gerade hier die Nachricht vom 
Tode Franz Dingelſtedt's erhalten mußte, wo mich eine 
Welt umgab und eine Sprache geſprochen ward, die er 
nicht weniger geliebt hat, als ich ſie liebe. Hat es ihn 
aus der ſtillen heſſiſchen Provinzialſtadt nicht auch einſt 
hiehergezogen, gleich mir? Hat der unermeßliche Reich⸗ 
thum und die kaum faßbare Größe dieſer einzigen Stadt 
ihn nicht berauſcht, wie mich ſelber vor vielen Jahren? 


Und rings, ſo weit ein Menſchenauge reicht, 
Von Giebeln, Thürmen, Maſten ein Gewimmel, 
Und hoch darüber, farblos aber leicht, 
Altenglands märchenhafter Nebelhimmel! 


— 220 — 


Und hat er nicht hier 
Im Sommer Albions, an der Themſe Strande, 
die Gefährtin ſeines Lebens gefunden? 


Du ſangeſt in Italiens Myrthenwäldern, 

Und Lorbeern hat Dir deutſches Land getragen, 
Nun nimm die Roſe zu von Englands Feldern, 
Die Roſe, Englands Bild aus alten Tagen. 


Und iſt die Roſe nicht nachmals das Zeichen ſeines Frei⸗ 
herrnwappens geworden, zum bleibenden Gedächtniß daran, 
daß er Shakeſpeare's Königsdramen, dieſe Tragödien vom 
Kampfe der weißen und der rothen Roſe, der deutſchen 
Bühne neu gegeben hat? 

Vielleicht war es Beſtimmung, daß der Landsmann 
dem Landsmann gerade von hier den letzten Gruß nach⸗ 
ſenden ſollte — aus dem Lande Shakeſpeare's und ſeiner 
Liebe. 

Vorüber, vorüber! Der Strom des Lebens fluthet 
weiter und auch wir ſind nur Wanderer, die den Voran⸗ 
gegangenen folgen. 

Mit den höchſten Ehren iſt Dingelſtedt zur ewigen 
Ruhe beſtattet worden. Aber unter den zahlloſen und 
koſtbaren Kränzen, welche ſeinen Sarg in einen Blumen⸗ 
und Lorbeerhügel verwandelten, fehlte einer — ein Kranz 
aus heimiſchem Buchengrün, ſowie es um die Maien⸗ 
zeit an den Abhängen der Weſerberge duftend knospet, 
und mit einer Schleife, welche dieſe Worte hätte tragen 
ſollen: „Der Schaumburger dem Schaumburger“. 


XI. 


Ez iſt in dieſer Nähe der Betrachtung ſchwer, den 
Platz zu beſtimmen, welchen Franz Dingelſtedt in unſerer 
Literatur einnehmen werde. Daß er niemals ganz daraus 
verſchwinden wird, darf man wol behaupten, wenn er gleich 
nicht Alles geleiſtet, was bei ſeinem Auftreten von ihm 
als Dichter zu erwarten war. Er entfremdete ſich frühe 
der Literatur, in dem Sinne, daß er durch den größeren 
Theil ſeines Lebens, ein volles Menſchenalter hindurch, 
dem Theater ſein theoretiſches Studium, ſeine praktiſche 
Wirkſamkeit gewidmet; und mit welchem Erfolge: das 
wird einſt die deutſche Bühnengeſchichte auf einem anderen 
Blatte zu berichten haben. 

„Wer, wie es mir ein günſtiges Geſchick — (unbe- 
rufen!!!) — beſchieden hat, in der deutſchen Theater- 
geſchichte ſeßhaft iſt mit dem Münchener Geſammtgaſtſpiel, 
dem Weimariſchen Wallenſteintag, der Wiener Shafe- 
ſpeare⸗Woche,“ konnte Dingelſtedt mit begründetem Selbſt⸗ 
gefühl am Schluſſe ſeiner „Fauſt⸗Trilogie“ (Berlin, Paetel, 
1876) jagen, dem wird — jo fahren wir unſrerſeits fort — 
auch über dem flüchtig vorbeirauſchenden Ereigniß der 
Ruhm geſichert bleiben, einer der genialſten Bühnenleiter 


— 222 — 


des Jahrhunderts geweſen zu ſein. Wie dieſe merkwürdige 
Begabung mit ſeinem ſonſtigen Weſen zuſammenhing, 
konnte in dieſen Erinnerungen nur angedeutet werden. 

Ich führte an einer früheren Stelle derſelben eine 
Aeußerung Dingelſtedt's an, daß „jedes Herrſchen ein an⸗ 
genehmes, ein berauſchendes Gefühl“ ſei; der Officier, ſagt 
er, empfindet es vor der Front ſeiner Compagnie, der 
Profeſſor auf dem Katheder, der Dichter auf der Bühne. 
Von dem Schriftſteller, welcher ſtill in ſeinem Stüblein 
bleibt, wenn ſeine Bücher in die Welt gehen, ſpricht er 
nicht. Das perſönliche Hinaustreten, neben oder vor 
ſeinem Werke, war ihm Bedürfniß. Er wollte vom 
Publicum geſehen werden und den Applaus deſſelben hören. 
Es iſt der nämliche Zug in ihm, der zum Salon und der 
zum Theater: mit dem erſten Schritt auf das eine wie 
das andre Terrain zeigt er deutlich, was er will, und er⸗ 
greift Beſitz von ſeinem Eigen. Wir haben aus Prof. Flied⸗ 
ner's Mittheilungen erfahren, daß Dingelſtedt's früheſter 
in die Oeffentlichkeit getretener dichteriſcher Verſuch ein 
Prolog für die Schauſpielertruppe war, welche von Mar⸗ 
burg nach Gießen zog. Nachmals, in München, in Wei⸗ 
mar, in Wien hat Dingelſtedt in dieſer Gattung, die er 
„Theaterreden“ nennt, excellirt; eine Sammlung derſelben 
findet ſich an der Spitze ſeines „Theaters“ (Sämmtliche 
Werke, IX), und ich irre mich wol nicht, wenn ich in der 
erſten: „Bei Eröffnung einer Wanderbühne“ jenen Gießener 
Prolog wieder erkenne. Mag immerhin die ſpätere Re⸗ 
touche nachgeholfen haben: das Erſtaunliche an dieſem 
Prolog iſt der ſichere Blick des Zwanzigjährigen, der nicht 
etwa für den poetiſchen Schein und Schimmer des 


— 223 — 


Theaters ſchwärmt, ſondern ſogleich praktiſch zu Werke 
geht. Man denkt unwillkürlich an den Director des 
Burgtheaters, wenn Dingelſtedt im Jahre 1834 ſchon 
ſeinen Gießener Director ſagen läßt: 

Oft blüht in einem Wurſtelprater 

Verkannt, verkümmert ein Talent, 

Das, kommt es auf ein Hoftheater, 

Die Zeitung ein Ereigniß nennt; 

Und umgekehrt: bei reichen Leuten 

Kocht man mit Waſſer, juſt wie wir: 

Die Bretter, die die Welt bedeuten, 

Sind all' aus Holz — das glaubet mir! 

In ähnlicher Weiſe verhält es ſich mit den drama- 
turgiſchen Beiträgen, welche Dingelſtedt ſieben Jahre ſpäter 
im „Salon“ veröffentlicht hat. Auch hier ſteht er ganz 
auf dem Standpunkte des Theaterpraktikers. Was ihn zu⸗ 
meiſt intereſſirt, iſt Darſtellung und Inſcenirung: nicht 
der kleinſte Fehler im Coſtüm oder das geringſte Unge— 
ſchick eines Statiſten entgeht ihm; und wenn ihm auch 
der Gedanke ſehr fern gelegen haben mag, ſie ſelber jemals 
verwerthen zu können, macht er doch damals ſchon die 
treffendſten Bemerkungen über Bühnenleitung und Regie. 

Nach einer Notiz im „Salon“ (Nr. 49, 1842) muß 
Dingelſtedt noch in Heſſen ein Trauerſpiel „Das Geſpenſt 
der Ehre“ verfaßt haben, welches aber, meines Wiſſens, 
niemals weder gedruckt noch aufgeführt worden iſt; ein 
zweites, ſpäteres Drama, „Das Haus des Barneveldt“, 
hatte ſeinerzeit (1850) zwar einen nicht unbeträchtlichen 
Erfolg, ging aber vorüber und lebt heute wol nur noch 
in den Blättern ſeiner „Sämmtlichen Werke“. Der 
Theaterdirector in Dingelſtedt überwog den Theaterdichter. 


Be 


Aber im letzten Grunde waren es doch die feinen Quali⸗ 
täten des Dichters, welche die Leiſtungen des Directors 
zu ſchöpferiſchen erhoben; und wenn ſeine dramatiſche 
Kraft nicht hingereicht hat, um aus eigenem Vermögen 
der Bühne Dauerndes zu geben, ſo geht die Art, wie er 
uns Shakeſpeare vermittelt hat, doch andrerſeits wieder 
weit über die Linie des bloßen Theatertechnikers hinaus 
und beruht auf dem eigentlichen Fonds einer ſtarken 
und phantaſievollen Künſtlernatur, welche die ungeheure 
Maſſe des gegebenen Stoffes ſicher beherrſcht und zur 
höchſten theatraliſchen Wirkung bringt. 

Wie einſt in Fulda der Redacteur des „Salon“, ſo 
hat auch der Director des Burgtheaters die literariſche 
Bewegung niemals aus dem Auge verloren, ſondern iſt 
ihr, oft noch mit der Feder in der Hand, aufmerkſam 
gefolgt. Bei vielen Gelegenheiten, wenn irgend eine be⸗ 
deutendere Erſcheinung ihn zur Anerkennung anregte oder 
zum Widerſpruch reizte; oder wenn einer der literariſchen 
Genoſſen geſchieden war, erwachte der alte Drang in ihm, 
und die Arbeiten, die alſo, mitten in der Unruhe ſeines 
Berufslebens, entſtanden und theils dem „Wanderbuch“ 
(fünfter Band der „Sämmtlichen Werke“) hinzugefügt 
worden, theils in einer ſelbſtändigen Sammlung, „Lite⸗ 
rariſches Bilderbuch“, enthalten ſind, gehören deshalb zu 
ſeinen intereſſanteſten, weil ſie die volle Signatur ſeiner 
Perſönlichkeit tragen und, im raſchen Wechſel der Stim⸗ 
mung und Tonart, ihm Gelegenheit gaben, die Vielſeitig⸗ 
keit ſeines Talentes, die Virtuoſität ſeiner Darſtellung 
und den Umfang ſeiner auf ſoliden Fundamenten ruhenden 
Bildung zu zeigen. 


— 225 — 


Seine Proſa war von der höchſten Eleganz, voll der 
feinſten Pointen; wo man ihn aufſchlägt, blitzt und ſprüht 
es wie von Funken. Dingelſtedt bleibt immer der Dichter 
mit ſtarker lyriſcher, oft ſogar ſentimental angehauchter 
Empfindung; immer aber auch der Mann von Geiſt, der 
ſich in Antitheſen bewegt. Dieſe Eigenſchaften des Sprung- 
haften, der epiſchen Ruhe ganz Entgegengeſetzten, wieſen 
ihn — ebenſo wie Heine — wenn er Proſa ſchrieb, eher 
auf die Skizze, den Literaturbrief, kurz auf Das hin, was 
man gegenwärtig das „Feuilleton“ nennt, als auf den 
Roman oder die Novelle. Seine Novellen, zumeiſt Jugend— 
arbeiten, haben heute ſchon etwas Veraltetes. Nicht deshalb, 
weil die Verhältniſſe, unter denen ſie ſpielen, und die 
Schauplätze ſich geändert haben: weil die Kugel nicht 
mehr rollt, welche der ſchönen Comteſſe Pauline und dem 
„Eſelfritze“ verhängnißvoll geworden in Ems; weil die 
Leute nicht mehr auf Dampfſchiffen nach Wien zu fahren 
pflegen, wie Baron von Seligſtein aus Berlin, oder nicht 
mehr mit Fanfaren vom Kirchthurm begrüßt werden, 
wenn ſie nach Karlsbad kommen, wie Graf Dronte und 
Gräfin Guſtel. Sie ſtehen vielmehr unſerer Theilnahme 
fern, weil ſie nicht Das behandeln, was intereſſant 
und bleibend aus jeder Zeit für jede Zeit, die Menſchen, 
ſondern Das, was von ephemerem Werth und vor— 
übergehend iſt, ihre Moden; und obwol ein gewiſſer 
vornehmer „abandon“ in ihnen den Dichter und die 
Gattung charakteriſirt, jo laſſen uns dieſe Fragen und 
Probleme ganz äußerlicher Art doch kalt. 

„Von größerer Bedeutung ſind Dingelſtedt's Romane, 


„Unter der Erde“ und „Die Amazone“, wenngleich erſterer 
Rodenberg, Heimatherinnerungen. 15 


— 226 — 


bereits aus der früheſten Zeit des Dichters ſtammt und 
dieſer ſelbſt ihn nur „eine bloße Studie, eine blaſſe Farben⸗ 
ſkizze“ nennt. Aber der Grundgedanke des Buches iſt 
ein moderner und deutlich darin, durch das Treiben der 
Geſellſchaft erkennt man den Ueberdruß und Welt⸗ 
ſchmerz jener Periode, die Leere des Herzens und die 
Sehnſucht, aus der erſchlaffenden Temperatur, dem Par⸗ 
füm und der Aeſthetik herauszukommen. Der Held des 
Romans, ein junger Ariſtokrat, geht, um ſich zu befreien 
und moraliſch zu geſunden, unter das Volk; er wird ein 
Grubenarbeiter. „Uns fehlt es mehr an einer tüchtigen 
materiellen Kraft,“ ruft er aus, „an einem äußeren Im⸗ 
puls, an der Verjüngung und Stählung des phyſiſchen 
Lebens, als an geiſtigen Elementen, die ja genug außer 
dem Wirklichen ſchweben und ſchwanken, ohne daß aus 
ihren unbefruchteten Atomen eine neue Welt entſtünde. 
Uns thut ein Krieg noth, keine philoſophiſche Schule, eine 
Revolution, nicht ein diplomatiſches Syſtem, Blut, nicht 
Tinte, Flamme, kein Licht.“ 

Dieſe Worte ſind aus dem Jahre 1840, als die 
deutſche Leſewelt noch im Banne der Tieck'ſchen Novelle 
lag; und ſelbſt die neueren Schriftſteller, wie Moſen und 
Koenig, nur „ſcheu und unſicher“ an Stoffe der Gegenwart 
gingen, oder wie Immermann, die tüchtigſte Realität mit 
einem Beiſatz wunderlicher Romantik verquickten. Dingel⸗ 
ſtedt, obwol er ſich niemals rückhaltlos zum jungen Deutſch⸗ 
land bekannte, theilte mit dieſem doch die feine Witterung 
für das Moderne, für die Bedürfniſſe, Aufgaben und Ziele 
der Zeit. In dieſer Hinſicht ſind die beiden, durch einen 
Zwiſchenraum von mehr als fünfundzwanzig Jahren ge⸗ 


— 227 — 


trennten Romane Dingelſtedt's ſehr merkwürdig. Als er 
den einen ſchrieb, war er noch Gymnaſiallehrer in Fulda; 
und als er den andern ſchrieb, ſchon Director des Hof— 
operntheaters in Wien. Aber in beiden iſt derſelbe Zug 
nach dem Realen und derſelbe Spürſinn für Alles, was 
irgendwie oder irgendwo die Geſellſchaft bewegt, ja, noch 
latent in ihr iſt. Wie lehrreich, unter dieſem Geſichts⸗ 
punkt, iſt ein Vergleich zwiſchen dem Roman aus dem 
Anfang der vierziger und dem vom Ende der ſechziger 
Jahre. Jener, ein Roman des Herzens, mit allen Ueber— 
treibungen und Unwahrſcheinlichkeiten des jugendlichen 
Autors und offenbar entſtanden unter dem Einfluß 
der George Sand, ſpricht von der Revolution, die 
wie ein Gewitter in der Luft lag; in dieſem, fünf 
Jahre vor dem „Krach“ und zehn vor dem Socäaliſtengeſetz 
entſtanden, frägt der Maler Roland den Geldmann Hans 
Heinrich Krafft, während von draußen das Volk zur 
Zeichnung von zweifelhaften Actien herandrängt, ob er 
nicht fürchte, „daß eines Tages ein Sturm, keiner der 
von Ihnen gemachten, ſondern einer von Gottes Zorn, 
die ganze papierne Herrlichkeit unſrer Zeit über den 
Haufen bläſt und die ſchaudererregende Ungleichheit unſrer 
ſocialen Zuſtände auf ein allgemeines Nichts zurückführt?“ 

In demſelben Roman, in einem Discurs zwiſchen 
dem Grafen Wallenberg, einem Staats- und Lebemann 
noch ganz aus der alten Schule, und dem Fürſten Paul, 
welcher ſchon der jüngern diplomatiſchen Generation an— 
gehört, ſagt dieſer: „Mit aller aufrichtigen Pietät ſei es 
denn geſtanden, Herr Graf, daß wir völlig verſchiedene 
Ausgangspunkte haben. Die Revolution liegt zwiſchen 

15* 


— 228 — 


uns. . .. Das Individuum tritt überall zurück gegen 
die Maſſen, auch in unſerm Berufe. ... Die Diplo⸗ 
matie muß, wohl oder übel, aus ihren Cabineten herab⸗ 
ſteigen auf den Markt, an die Börſe, in die Kammern 
und Volksverſammlungen, wo eben Geſchichte gemacht 
wird.“ Nach der Vorſchrift, die Dingelſtedt dem Diplo⸗ 
maten giebt, ſucht er als Romanſchriftſteller ſelber zu ver⸗ 
fahren, indem er uns, wie er mit einem leis⸗ironiſchen 
Lächeln ſagt, „in bewundernswerth planvoller Oeconomie 
ſtufenweiſe aus einem Höllenkreiſe der heutigen Geſell⸗ 
ſchaft in den andern führt“ — aus dem Atelier in das 
Boudoir der Primadonna, aus dieſem in das Cabinet des 
Diplomaten und aus dieſem auf die Spitze der ſocialen 
Pyramide: das Comptoir. Seine „faſhionable Geſchichte“ 
von der Amazone iſt denn in der That auch das Unter⸗ 
haltendſte, was man leſen kann: reich an Handlung und 
Figuren, gut componirt, glänzend geſchrieben, ſpannend 
erzählt und anmuthig bewegt durch das Spiel und Wider⸗ 
ſpiel des Dialogs, die Schlagfertigkeit und Grazie ſeines 
Witzes. Aber mit welch ſtaunenswerther Leichtigkeit auch 
Dingelſtedt ſich in alle Lebenslagen und =freife zu ver⸗ 
ſetzen und ihnen anzupaſſen vermag: ſeine Welt, in der 
Jugend der Gegenſtand ſeiner Träume, ſpäter der Schauplatz 
ſeiner Erfolge, iſt doch der Salon und vom Salon aus 
betrachtet er die Welt. Er iſt immer der Cavalier und 
ſeine Damengeſtalten ſind immer perfecte Damen — wirk⸗ 
liche Prinzeſſinnen, Bankprinzeſſinnen, Bühnenprinzeſſinnen; 
alle ſeine Helden gehören der Claſſe der Privilegirten an — 
Diplomaten und haute finance, Erbprinzen und beſternte 
Excellenzen, der Frack und die weiße Binde, die Uniform 


— 229 — 


und der Kammerherrnſchlüſſel — das Alles geht rauſchend 
und blendend, unter einer Fülle von Lichtern und Farben, 
wie in einem Salon, an uns vorüber und hinterläßt auch 
ungefähr denſelben Eindruck wie in einem Salon. Es iſt 
auch nach dem Leben und voll von Leben — Dingelſtedt 
ſchildert nichts Andres, als was er geſehen und genau 
gekannt hat; aber es iſt Leben, nicht aus der Tiefe, ſon⸗ 
dern von der ſchimmernden Oberfläche und manchmal nur 
mit dem conventionellen Schein der Wirklichkeit. Aber 
ſelbſt in den Novellen, wo dieß am Meiſten auffällt, 
zeigt ſich immer noch der ſcharfe Blick des Beobachters, 
wenn er auch nur an den Aeußerlichkeiten haftet; und 
überall hat der Leſer das Gefühl, die Luft des neun— 
zehnten Jahrhunderts zu athmen, allerdings nicht frei 
von dem Gasgeruch des Foyers und den Odeurs der vor— 
nehmen Welt. Dingelſtedt's Roman „Unter der Erde“ 
ſchildert Volks⸗ und Arbeiterleben, aber doch auch nur 
im Verhältniß zur Geſellſchaft, deren giftiger Hauch es 
inficirt. Die Unnatur, der ſein Held entfliehen möchte, 
folgt dieſem und tödtet die Natur. Dingelſtedt's Muſe 
liebt es, an den Tafeln der oberen Zehntauſend zu ſitzen. 
Aber auch in dieſer Umgebung verſäumt er keine Gelegen- 
heit, ſich zu ſeinen alten Tendenzen und Bundesgenoſſen 
zu bekennen; und wenn Gutzkow, in ſeiner wilden Ver— 
bitterung die Fauſt drohend erhebt gegen das Goethe— 
Schillerſtandbild mit den Worten: „Und neunbändige 
Romane ſchreiben konnten ſie doch nicht,“ jo jagt Dingel- 
ſtedt, indem er vielleicht den Champagnerkelch von den 
Lippen nimmt, oder von ſeinen „ſtärkſten Upmanns die 
allerſtärkſte“ in Brand ſetzt: „Wir ſind ketzeriſch genug 


— 230 — 


zu behaupten, daß ſogar den glücklichen, goldenen Claſſikern 
unſere Zeit an Inhalt und Bedeutung über den Kopf ge⸗ 
wachſen iſt. . .. Jetzt,“ jagt er, „macht man nicht mehr 
feines Handgeſpinnſt „am ſauſenden Webſtuhl der Zeit“, 
ſondern Fabrik- und Maſchinenwaare, en gros, mit Dampf, 
auf dem Telegraphendraht. . . . Ungeheure Maſſen find in 
Fluß, dämoniſche Kräfte in Bewegung. Kriege werden 
geführt mit ſo vielen Tauſenden, wie ehedem Hunderten, 
und doch geſchloſſen in ſieben Monaten, während ſie ſonſt 
ſieben Jahre dauerten.“ Wer heute durchdringen, wer 
Eindruck machen will, muß dieſem Zuge folgen. „Heißt 
das jo viel als: „Der Zauberer von Rom“, oder „Pro⸗ 
blematiſche Naturen“, oder „Waldfried“, oder „Die Ahnen“ 
ſtehen über den „Wahlverwandtſchaften“, über „Wilhelm 
Meiſter“? Als Kunſtwerke gewiß nicht; aber ganz gewiß. 
im Vorwurf, im Stoff, im Ziele, auch in der raſchen, 
vollen Wirkung im weiteſten Kreiſe.“ Doch indem Dingel⸗ 
ſtedt in neidloſer Anerkennung alſo von den Leiſtungen 
der Anderen ſprach, gab er ſich über ſein eigenes Schaffen 
auf dieſem Gebiete keiner Täuſchung hin. „Ich bin über⸗ 
holt worden, lieber Freund, weit überholt,“ ſagte er mir 
eines Morgens, während ſeiner letzten Anweſenheit in 
Berlin. „Und doch möchte ich die Romane, die Sie ge- 
ſchrieben haben, nicht miſſen,“ gab ich ihm zur Antwort. 

Ein ungleich Größerer iſt Dingelſtedt in ſeinen Ge⸗ 
dichten. Hier in der That bewegt er ſich in aufſteigender 
Linie von den lyriſchen Anfängen an bis zu jenen mo⸗ 
dernen Balladen, unter denen die „Drei Stücklein aus dem 
Todtentanz“ einzig in ihrer Art daſtehen. Es ſind dieſelben 
Anſchauungen, dieſelben Ideen, welche hier zum Ausdruck 


— 231 — 


gebracht werden, aber mit einem Ernſt, einer Kraft, welche 
bis in das Innerſte dringen und die Tiefen der menſch— 
lichen Natur in Erregung ſetzen. Dieſe Männer und 
Frauen aus dem Volke, dieſe Handwerker, dieſe Wittwe 
mit dem Sohne, dieſe Amme im Grafenpalais: ſie ſind 
keine bloßen Figuren, ſie ſind Menſchen, deren Schickſal 
uns erſchüttert; und dieſes München, unter deſſen grauem, 
bleiernem Himmel, durch deſſen Gaſſen und Häuſer die 
Cholera ſchleicht, iſt eine ganz andere Wirklichkeit, als 
das „dissolving view“, welches den Hintergrund der 
„Amazone“ bildet. Hier iſt die Tragik des Lebens, des 
modernen Lebens; hier, in Wahrheit, vernimmt man das 
Brauſen der „ungeheuren Maſſen“, hier fühlt man das 
Walten der „dämoniſchen Kräfte“, welche den Inhalt 
deſſelben ausmachen. Hier aber auch iſt ein Ahnen und 
Athem des Ewigen, Unendlichen; der Geſichtskreis des 
Dichters wird freier und höher — er mißt ſich nicht mehr 
an den Zeitgenoſſen, ſondern ſein Blick, ſeine Seele geht 
hinauf zu den Unſterblichen. 


O wie entfernt biſt Du, wie himmelweit, 
Du meines Goethe muth'ge Morgenzeit! 


Du Mondnacht ſelbſt, da der Romantik Hand 
Aus blauen Blumen bleiche Kränze wand! 
Du Götterdämmrung, als mit claſſ'ſchem Zwang 


Zum erſtenmal moderne Freiheit rang, 


Als Engel Byron mit dem Pferdehuf 
Aus vollbewegtem Jetzt ſein Epos ſchuf, 


Als Shelley, ein verzweifelnder Gigant, 
In ſeinen eignen Blitzen ſich verbrannt, 


— 232 — 
Als Beéranger's getreue Poeſie 
Der ſtummen Bruſt des Volks die Stimme lieh, 


Als Heine noch aus Gold die Pfeile trieb, 
Aus Marmor Platen ſeine Lieder hieb, 


Als Uhland-Rückert's Dioskurenſtern 
Hoch im Zenith ſtand, dem Verſinken fern! 


8 der Götter⸗ und der Heldenruhm! 


Was wälz' ich nch frägt ſich der Poet, die Steine 
des Gedichts? 


Sie rollen, eh' ein ganzes Werk vollbracht, 

Zerſtreut, zertrümmert, wieder in die Nacht. 
Im Prologe hatte der Dichter gehofft: 

Ich ſammle ſie wol noch zu einem Kranz 

Von Stücklein aus dem neuen Todtentanz. 
Aber im Epiloge muß er reſignirt geſtehen, daß auch 

dieſes unvollendet bleiben werde: 

Die Zeit hat andre Ziele als die Kunſt: 

Ihr beſter Geiſt verpufft in Dampf und Dunſt. 

Und dennoch reizt, wie ein vergrabner Schatz, 

Mich ſtets ihr Kampf, ihr Satz und Gegenſatz, 

Ihr Drang, der jede alte Form zerbricht, 

Erfindet er die neue auch noch nicht, 

Ihr ungeſtümer, allgemeiner Schwung a 

Nach Macht, nach Freiheit und nach Einigung. 

In ſolchen Zügen ſcheint die Gegenwart 

Mir wahlverwandt und meiner eignen Art. 


Von allen Altern lieb' ich ſie allein, 
Mein Mütterchen, mein Kind, mein Fleiſch und Bein. 


— 233 — 


Dieſe Verſe, in denen wir den Dichter wie mit etwas 
Ueberwältigendem ringen und dem Widerſpruch ſeiner Auf- 
gabe gegenüber die ganze Stärke ſeines Talentes erkennen, 
berühren wehmüthig, wie Alles, was Fragment geblieben, 
ſei es durch Verhängniß, ſei es durch eigne Schuld; aber 
ſie deuten vielleicht auch den Geſichtspunkt an, unter 
welchem ein künftiger Beurtheiler Dingelſtedt's ihm ge⸗ 
recht zu werden vermag. Sein ganzes Glaubensbekenntniß 
iſt in ihnen enthalten. 


Man kann nicht umhin, wenn man Dingelſtedt im 
Zuſammenhange lieſt, an eine, nicht bloß äußerliche, Ver- 
wandtſchaft mit H. Heine zu denken. Ironie war eine 
von den Erkennungszeichen ſeiner Muſe; ſelbſt ſeinen 
herrlichen und tiefergreifenden Balladen fehlt dieſer Zug 
nicht. Freilich bleibt er hinter Heine zurück, nicht nur in 
der Mannigfaltigkeit und Tiefe des Talents; er hat ihn 
auch kaum jemals erreicht in der Vollendung der Form, 
welche ſcheinbare Nachläſſigkeiten durch ſtrenge Gedanken- 
arbeit hervorbringt. Nur wenige ſeiner politiſchen Verſe 
haben ſich dem Gedächtniß eingeprägt und keines ſeiner 
lyriſchen Gedichte iſt volksthümlich geworden. Er beſaß 
unzweifelhaft mehr Gemüth und gewiß nicht weniger 
Leidenſchaft als Heine; doch er gab Beides im Leben aus 
und nicht im Gedicht. Es koſtete ihn nicht mehr Mühe 
geiſtreich zu ſein, als Heine; doch er war weniger wähle— 
rich, als dieſer. Sein Witz hatte wol die Schneide — 
„mir niemals, Andern oft zu ſcharf“ — aber nicht die 
Spitze des Heine'ſchen. Dingelſtedt begnügte ſich mit dem 


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guten Einfall, Heine ſchliff ihn wie einen Diamanten. 
Dingelſtedt war mehr der Virtuoſe, Heine mehr der 
Künſtler; aber Dingelſtedt war, wie Heine, ganz ein mo⸗ 
derner Menſch und hat als Dichter mitgeholfen, den mo⸗ 
dernen Ideen, politiſchen und äſthetiſchen, einen Ausdruck 
zu verleihen in Zeiten, welche der individuellen Vollendung 
nicht ſonderlich günſtig, jedoch als Durchgangsmomente 
zu künftigen und — ſo wollen wir annehmen — beſſeren 
Zuſtänden von hoher Wichtigkeit geweſen ſind, wie denn 
Beide, Jeder in ſeiner Weiſe, von ſich ſagen e 
quorum magna pars fui“. 

Noch erinnere ich mich eines Vorfalls aus meinem 
letzten Zuſammenſein mit Dingelſtedt. Die unſchuldigen 
Ovationen, welche der deutſch-öſterreichiſche Leſeverein der 
Wiener Hochſchulen mir zugedacht hatte, nachdem ich zum 
Beſten deſſelben einen Vortrag gehalten, waren durch die 
Dazwiſchenkunft der Polizei vereitelt worden. Es waren 
jene Tage der ſtudentiſchen Bewegung, auf welche ſchon 
Etwas wie ein Schatten deſſen vorausfiel, was eben jetzt 
in einer andern Univerſität des Reiches zu ſeiner äußerſten 
und bedauerlichſten Conſequenz gereift iſt. Faſt hätte ſich 
buchſtäblich erfüllt, was einer von den Rednern des Abends, 
Herr Wilhelm Goldbaum von der „Neuen Freien Preſſe“, 
ſagte: daß ich als harmloſer Wanderer nach Wien ge- 
kommen ſei und es als politiſcher Märtyrer verlaſſen 
werde — wenn auch letzteres nur inſofern, als ich, bei 
der zweimaligen Auflöſung der Verſammlung und ihrer 
dreimaligen Auswanderung von einem in's andere Lokal, 
an der ungeſtillten Sehnſucht — nach einem Beefſteak 
litt, wie Sigmund Schleſinger dies ſehr witzig in einem 


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Feuilleton des „Neuen Wiener Tagblatt“ beſchrieben hat. 
Ich konnte die Sache nicht anders als humoriſtiſch auf- 
faſſen. Nicht ſo Dingelſtedt, dem die Zeitungen ſchon 
Kunde von den „Ereigniſſen“ der Nacht gegeben, als ich 
am andern Morgen bei ihm eintrat. Er ſah ſehr ernſt 
aus, indem er ſich auf ſeinem Bette mühſam erhob und 
mit der einſt ſo ſchönen und nun ſo welken Hand eine 
warnende oder drohende Bewegung gegen mich machte. 
„Was hätte ich thun ſollen, lieber Freund?“ rief ich ganz 
beſorgt. — „Keinen Schritt in Wien, ohne mich zuvor 
gefragt zu haben,“ erwiderte er. 

Dingelſtedt hatte gewiß jede Veranlaſſung, das poli⸗ 
tiſche Gebiet vorſichtig zu meiden. Er war kaiſerlich 
königlicher Beamter und blieb trotzdem immer ein Frem— 
der. Er hatte dem Monarchen für Beweiſe des Wohl- 
wollens zu danken, welche nicht zu den alltäglichen ge— 
hören; er war mit ganzer Seele dem öſterreichiſchen 
Herrſcherhaus ergeben und es hätte ihm nicht wol ange- 
ſtanden, mit irgend einer Regierung, welche die Regierung 
des Kaiſers war, in Gegenſatz zu treten. Ob indeſſen 
jene Richtung, welche mehr die nationalen als die poli- 
tiſchen, und damit die vitalen Intereſſen Oeſterreichs trifft, 
ob ſie — gerade weil er Oeſterreich ſo innig geliebt — 
ſein Herz, in deſſen verſchwiegener Tiefe, nicht doch ver— 
wundet hat: wer vermöchte das zu ſagen? Ich weiß es 
nicht; ich habe natürlich nicht mit dem Kranken, und 
hätte vielleicht nicht einmal mit dem Geſunden darüber 
geſprochen. Aber ich kenne ein ſchönes Gedicht von ihm, 
eines ſeiner letzten, in welchem er ſeinen Enkeln in Trieſt 
zuruft, ihr „Biſſel Deutſch“ nicht zu vergeſſen. 


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Thut's nicht, ihr Kinder. Fallt nicht ab 
Vom Volk, das Euch die Mutter gab. 
Wir Alten ſahen, unbeglückt, 

Das heil'ge Reich zerſtückt, zerdrückt, 
Uneins zu Haus und draußen klein ., 
Prophetenloos! Man ſchickt ſich drein! 
Doch Ihr erlebt, wenn's Gott gefällt, 
Daß deutſcher Geiſt beherrſcht die Welt; 
Daß Deutſchland, wie es ihm gebührt, 
Europens Schwert und Waage führt. 
Dann ruft Ihr hoch- und wohlgemuth: 
In uns auch fließt das deutſche Blut! 
Der Großpapa, nun manches Jahr 
Schon todt, ein deutſcher Dichter war. 
Der hat in einer Frühlingsnacht 
Eigens für uns dieß Lied gemacht. 
Alljährlich ſprecht Ihr's, als Terzett, 
Zum Wiegenfeſt an Mammi's Bett. 
Sie kehrt ſich ſtill abſeits zur Wand 
Und flüſtert: Vater ., Vaterland! 


Wer ein ſolches Lied gemacht, darf ſicher ſein, als 
Menſch in der Achtung und als Dichter im Gedächtniß 
der Nachwelt fortzuleben. 


Pierer'ſche Hofbuchdruckerei. Stephan Geibel & Co. in Altenburg. 


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