Skip to main content

Full text of "Henrik Ibsen"

See other formats


8 
r 
— — 


4898848900 197 


IT 


ONO 40 ALISH3AINN 


Tem 


hr 
2 5 


Ein 


7 


I — 2 
— 2 r 
— um 2 

RE 8 —5 


* 


VERIDERCDEENECRANEN 


25 N 8 
— — n 


ern 
rr 


| 
| 
| 
| 
| 
| 
1 


| 


9 N N 


m? 


* 


[7 
“nr 


155 7 


er . 


Bi: 

1 
55 1 
ur 


et AUDI. 


1.147 
MO 


Ib ſen 
Von 


Roman Woerner 


Erfter Band 
1828 — 1873 


Dritte Auflage 


C. H. Beckſche VBerlagsbuhhandlung Oskar Beck 
München 1923 


* | IT 


r 


» 
Copyright by C. H. Beckſche Verlagsbuchhandlung, München 
Printed in Germany 


. c rr 


Vorwort 


Dae Überſetzer der Werke Ibſens ins Franzöſiſche, M. Prozor, er⸗ 
zählt, es ſei eine Zeitlang in Kopenhagen nötig gefunden worden, 
Einladungskarten mit der Bemerkung zu verſehen: Man wird ge 
beten, ſich nicht über ‚Ein Puppenheim' (Nora) zu unterhalten. 

Dasſelbe ungewöhnliche Intereſſe an dieſem Schauſpiel und 
den nächſtfolgenden hat ſich bald auch außerhalb des ſkandinaviſchen 
Nordens bekundet, ſie haben überall die Geiſter und die Federn in 
Bewegung geſetzt. Kaum mehr zu zählen ſind nun die Aufſätze 
und Beſprechungen in Zeitungen und Zeitfchriften faſt aller Sprachen, 
die ſelbſtändig erſchienenen Studien und Verſuche, die Volkshefte 
und Sendſchreiben, zu denen die Schöpfungen des nordiſchen Dich— 
ters Anlaß und Stoff gegeben haben. 

Auf ein rein äſthetiſches Intereſſe an dem behandelten Gegen— 
ſtande zu ſchließen, verbietet in vielen Fällen ſchon Titel und Über⸗ 
ſchrift: Ibſen und die Ehe“, ‚Ibſen als pſychologiſcher Sophift‘ 
u. dgl. mehr. Aber kühn und rückſichtslos aufgegriffene Zeit⸗ 
probleme, zu dramatiſchen Fabeln geſtaltet, ſo geſtaltet, daß die 
ketzeriſch⸗ revolutionäre Meinung des Dichters über „geheiligte“ Ein⸗ 
richtungen und „anerkannte“ Wahrheiten klar erſichtlich wird, for⸗ 
dern notwendig zuerſt und vor allem ethiſche, nicht äſthetiſche Be⸗ 
urteilung heraus, wirken, ſolange ſie neu ſind, mehr durch den 
Stoff als durch die Form, lenken die Aufmerkſamkeit mehr auf 
das Wollen ihres Urhebers als auf ſein Können. Dramen ſolcher 
Art fangen erſt an, wie andere Kunſtwerke zu gelten und betrachtet 
zu werden, wenn ſie aufgehört haben, Tagesereigniſſe zu ſein, oder 
ſie verſchwinden mit dem Tage. 

Einer ruhigen, bloß äſthetiſchen Auffaſſung und Würdigung 
der Werke Ibſens — und zwar nicht der modernen allein — ſteht 
außer dem herausfordernden Inhalt noch ein anderes entgegen: ſie 
find zum großen Teil auch in der Form revolutionär, ſetzen ſich 
offen über hergebrachte Kunſtregeln und Vorſchriften hinweg und 
verlangen eine Unbefangenheit des Urteils, die manchem in be⸗ 


IV Vorwort 


ſtimmten äfthetifchen Anſichten Aufgewachſenen ſchwer zu erringen 
iſt. Der Verfaſſer hat an ſich ſelbſt erfahren, wie zäh das in 
jüngeren Jahren getreulich Aufgenommene haftet und den Geiſt 
ſchon durch die Zuverſicht, mit der es ihn erfüllt, zur vorurteils⸗ 
freien, einſichtsvollen Prüfung des Neuen ungeſchickt macht. Der 
Irrtum iſt gewiß verzeihlich, nur darf nach gewonnener Erkenntnis 
der Mut des Bekenntniſſes nicht fehlen. 

Iſt demnach der Gedanke an eine gründliche, rein wiſſen⸗ 
ſchaftliche Arbeit über Henrik Ibſens Dramen zunächſt einem per⸗ 
ſönlichen Bedürfnis entſprungen, ſo hat doch zugleich auch die 
Überzeugung beſtimmend gewirkt, daß die größeren bis jetzt erſchie⸗ 
nenen Arbeiten den Gegenſtand, beſonders in philologiſch-hiſtoriſcher 
Hinſicht, nach den vorhandenen Mitteln keineswegs erſchöpfen. 

Die Frage mag ſich aufdrängen, ob es denn überhaupt ge⸗ 
boten ſei, die Werke eines Lebenden ſolcher Betrachtung zu unter⸗ 
ziehen. In der Tat iſt der Dichter trotz ſeiner vorgerückten Jahre 
bei unverminderter Lebenskraft und mag noch einmal, wie er ſchon 
wiederholt getan, einen neuen Abſchnitt ſeines Schaffens beginnen. 
Aber die bereits begrenzten Perioden dieſes entwicklungsreichen 
Dichterlebens werden in hundert Jahren nicht mehr abgeſchloſſen 
ſein als ſie es jetzt ſind. Und ſie jetzt ſchon in ihren Wechſel⸗ 
beziehungen klar zu erkennen und darzulegen, iſt unumgänglich, ſoll 
über die neueren und neueſten Dramen nicht ferner bloß ein Wider⸗ 
ſpiel ſich kreuzender Meinungen herrſchen, ſondern einem ruhigen, 
gerechten Urteil Raum und Grundlage geſchaffen werden. Es kann 
und darf nicht die Aufgabe der Literaturwiſſenſchaft ſein, ſich nur 
der Vergangenheit zu widmen, und die bedeutenden und bedeut⸗ 
ſamen Erſcheinungen der Gegenwart allein einer oberflächlichen 
Tagesliteratur zu überlaffen. 

Die hier unternommene Arbeit iſt auf zwei Bände berechnet. 
Der erſte unterſucht die hiſtoriſchen und philoſophiſchen Dramen 
Ibſens in allen ihren Vorausſetzungen, literariſchen wie biogra⸗ 
phiſchen, der zweite ſoll die modernen Bühnenwerke bis auf die 
jüngſten herab eingehend erörtern. So enthielte der erſte Band 


r 


Vorwort 8 V 


in gewiſſem Sinne den norwegiſchen, der zweite den europäiſchen 
Ibſen. Denn als Verfaſſer der ‚Nordiſchen Heerfahrt‘ und der 
„Kronprätendenten“, der Dichtungen ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' und 
„Kaiſer und Galiläer“ wäre uns Ibſen immer nur ein hervor— 
ragender ſkandinaviſcher Dramatiker geblieben, durch die modernen 
Dramen iſt er unleugbar ein Bühnendichter von europäiſcher Be⸗ 
deutung und europäiſchem Einfluß geworden. 

Kapitel II, III und IV ſind aus meiner 1895 erſchienenen 
Habilitationsſchrift „Henrik Ibſens Jugenddramen“ neu geſtaltet 
und durch manche Zuſätze bereichert worden. 

Für gütige Förderung dieſer Arbeit bin ich vor allem zum 
herzlichſten Danke verpflichtet der hohen Philoſophiſchen Fakultät 
(Sektion J) der Univerſität München, deren Munifizenz mir Studien 
an Ort und Stelle ermöglicht hat; ferner den Verwaltungen der 
k. Hof⸗ und Staatsbibliothek und der k. Univerſitätsbibliothek zu 
München und der k. Univerſitätsbibliothek zu Chriſtiania — ins⸗ 
beſondere den Herren Dr. Georg Wolff (München) und Siegwart 
Peterſen (Chriſtiania). 

München, den 1. Mai 1900. 


* 


Vorwort zur zweiten Auflage 

4 Das Erſcheinen der nachgelaſſenen Schriften Henrik Ibſens hat 

e von unwichtigeren Anderungen zu ſchweigen — eine ganze 
Reihe kürzerer und längerer Ergänzungen nötig gemacht. Die 

zweite Auflage kann deshalb mit Recht eine vermehrte und ver— 

beſſerte genannt werden. 

Für die erſte Auflage hatte ich eine Anzahl von Gedichten 
und Stellen aus den Versdramen neu übertragen, weil mir die 
damals vorliegenden Überſetzungen nicht zu genügen ſchienen. Nun⸗ 
mehr liegen entſprechendere, indes nach meinem Gefühl nicht ſchon 
überall endgültige Wiedergaben der Verskunſt Ibſens vor. So 
mögen meine Verſuche immerhin noch daneben belaſſen werden. 


VI | Vorwort 


In dieſem neu aufgelegten erſten Bande ſind nicht, wie im 
zweiten, die Anführungen aus Ibſens Briefen einfach der deutſchen 
Ausgabe entnommen, ſondern, meinem Zweck gemäß, dem Wortlaut 
der Urſchrift ſo nahe wie möglich gebracht. Für den zweiten 
Band wird die genauere Faſſung der Briefſtellen, gegebenen Falles, 
nachzuholen ſein. | 

Der Vorwurf, daß „nicht alle Ibſenliteratur benützt“ ſei, 
kann auch der neuen Auflage nicht erſpart bleiben. Nur eben das 
meinem Vorhaben Nützliche iſt verwertet worden. | 

Nur an einer Stelle konnte ich der Mitarbeit von U. Carolina 
Woerner + gedenken. Was dies Buch ihrer ſteten hilfreichen Teil⸗ 
nahme und ihrer vielfältigen Beiſteuer verdankt, läßt ſich nicht an⸗ 
führen. 

München, den 1. September 1911. 


Vorwort zur dritten Auflage 
Seit mehreren Jahren fehlt dieſes Werk über Ibſen auf dem 
Büchermarkte. Da bei der Verlagsbuchhandlung ſtändig Beſtellungen 
darauf einlaufen, habe ich eingewilligt, die zweite Auflage noch ein⸗ 
mal unverändert als dritte Auflage drucken zu laſſen. 
München, Weihnachten 1922. 
Roman Woerner. 


—AITITnhalt 


Seite 
1 


. e,, 5 21 
fe III. Das Hünengrab. Die ey von Per 96 get auf Sr 
5 5 haug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans „ OH 
IV. Nordiſche 7JJJJJ%ſ%%%%%V%%%%%%% . 
jj 
VI. Die Kronprätendenten )))) 
Riem o 
ul peer Gpnt.. 7% BR SaT ON EA NE > L: 1 
. Kaiſer und Galiller %%%»; « RE 
2 X. Henrik RM Sprache und Gedichte. e EN > 
merfungen %% ch A OR.) 20 


1 


wee. „ e e ee 


Bemerkung 
Sämtliche aus den Werken Henrik Ibſens und anderer norwegiſcher 
Dichter angeführten Stellen in gebundener wie in wn Rede ſind 
vom Verfaſſer überſetzt. 


r g 
n 
9 ig | 


neee 
* I * 


* * 


4 
Nea 


I 
Einleitung 


IT" zum erften Male nach Norwegen kommt und fich mit Land 
und Leuten vertraut zu machen ſucht, empfängt wohl die 
Vorſtellung eines durchaus praktiſch angelegten, nur das Tatſäch⸗ 
liche, Wirkliche, Nützliche pflegenden, ja nüchternen Volkes. Die 
ausgedehnte Verwendung der Elektrizität und der neueſten Erfin— 
dungen, die Sicherheit des Handels und Wandels ohne unſre alt— 
modiſchen, zeitraubenden Höflichkeiten zwiſchen Käufern und Ver⸗ 
käufern, der Gewerbfleiß und die Betriebſamkeit, das ſtarke republi⸗ 
kaniſche Selbſtbewußtſein des einzelnen wie der Geſamtheit, das 
Zeitungsweſen und Unweſen und ſo manches andere erinnert an 
Nord⸗Amerika. Aber jenſeit des Atlantiſchen Meeres beherrſcht 
einſtweilen der Erwerbsſinn das ganze Leben der Maſſen; auch 
bei längerem Aufenthalt wird man noch keiner geiſtigen Unter— 
ſtrömungen, keiner auf das Ideale gerichteten Sehnſucht gewahr. 
In Norwegen hingegen erfaßt der Durchreiſende mit ſolcher Be— 
obachtung in Städten und an den großen Verkehrsſtraßen nur die 
eine, ſo zu ſagen die Außenſeite des Volkscharakters; die andre, 
verborgenere, der Hang zum Dichten und Träumen, zum Phan⸗ 
taſtiſchen und Myſtiſchen, kurz zum Poetiſchen in jeder Art und 
Ausartung, wird ihm entgehen. 

Wir wiſſen, daß Himmelsſtrich, Naturumgebung, Ernährungs⸗ 
weiſe, Gewöhnung und was nicht an einem Volkscharakter mit 
ſchaffen; das Maß und das Zuſammenwirken der einzelnen dieſer 
bildenden Gewalten zu ſondern, iſt die Forſchung noch nicht im— 
ſtande. Wohl aber ließe ſich hervorheben, welche Fülle dichteriſcher 
Anlagen die Norweger von ihren Altvordern zu erben hatten, die, 
nach dem Untergang demokratiſcher Freiheit, ihre Heimſtätten 
räumend, auf dem raſch beſiedelten Island die Begründer der alt— 
nordiſchen Literatur wurden — „der reichhaltigſten und mannig— 
faltigſten, der germaniſcheſten aller älteren germaniſchen Literaturen“. 
Und da wäre weniger auf die allbekannten Eddalieder hinzuzeigen, 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 1 


2 I. Einleitung 


als vielmehr auf die nicht genug bekannten isländiſchen Erzählungen 
in Proſa, eine Egils-, Laxdoela-, Njalsſaga, die erſten Werke ger⸗ 
maniſcher Novelliſtik, denen — bis auf Heinrich von Kleiſt herab — 
an ſicherer Erzählungskunſt und ſchlichter Größe des Stiles nur 
Weniges gleichzuſchätzen iſt. Ihre Stoffe und ihre Form finden 
wir wieder in Ibſens und Björnſons Jugendarbeiten, ihren Geiſt 
und ihr Weſen überall in norwegiſcher Dichtung, ſei es der epiſchen, 
ſei es der dramatiſchen. Eine Art Renaiſſance iſt da um ſo 
leichter möglich geweſen, als auch pſychologiſche Grundzüge, z. B. 
der an typiſchen Geſtalten der Saga auffällige Gegenſatz zwiſchen 
äußerer Betätigung und ſorgſam verhehltem Gemütsleben, unter 
ſo verſchiedenen Verhältniſſen, heute noch wahrnehmbar ſind. Jener 
Egil, der Skalde und Wiking, von dem die Saga meldet, war ein 
verſchlagener, rachſüchtiger Krieger, ein gefürchteter Spötter; in 
feinem innerſten Innern aber ſchluchzte er vor Verlaſſenheit, be⸗ 
merkt Björnſon, der dem Landvolk, wenn auch nicht ohne zu ſtili— 
ſieren, ähnliche Helden für ſeine Dorfgeſchichten entnahm. 

Der altisländiſch-norwegiſchen Literatur wird gewöhnlich die 
Calmariſche Union (1397) als Grenze geſetzt, und für das ſtill hin⸗ 
dämmernde Daſein Norwegens zwiſchen 1400 und 1800 iſt die 
„vierhundertjährige Nacht“ ein gebräuchlicher Ausdruck. Es war 
in der Tat ein Schlummerzuſtand; aber, wie während des natür— 
lichen Schlafes, hatten die Seelenkräfte in geheimnisvoller Werk⸗ 
ſtatt dennoch nicht müßig verharrt. Davon legt vor allem die un⸗ 
geſchriebene Literatur Zeugnis ab, die reiche norwegiſche Volks— 
dichtung in ihrer dreifachen Form als Volksromanze (kolkevise), 
Volksſage, Volksmärchen. Und das Nationalgefühl erſtarb niemals. 
Frei ſaß der norwegiſche Bauer auf ſeinem Hofe, er ſprach ſeine 
eigene Sprache, er hielt feſt an den alten Sitten und Geſetzen: er 
konnte das von den Vätern Überkommene durch die langen dunklen 
Jahrhunderte bewahren und endlich einem zu neuer Regſamkeit er⸗ 
wachenden Geſchlechte als Troſt und Fördernis überliefern. 

Doch ſind die Volksdichtungen keineswegs die einzigen Lebens— 
zeichen. Von den „Kunſtdichtern“ im Lande verdient wenigſtens 


I Einleitung 3 


der wackere, volkstümliche Petter Daß (1647—1708) mit 
ſeinem Lehrgedicht „Die Trompete des Nordlands‘ erwähnt zu wer— 
den, weil er ſelbſt in ſo engen Grenzen Freiheit, Leichtigkeit und Fülle 
dartut; und außer Landes, unter günſtigeren Umſtänden, ent: 
wickelten ſich Talente, die andernfalls der Heimat zugewachſen 
wären, alſo ihr auch zugute gerechnet werden müſſen. Zwar be— 
ſtand, ſeitdem Norwegen im Anfang des 16. Jahrhunderts däniſche 
Provinz wurde, keine getrennte norwegiſche und däniſche Literatur 
mehr, ſondern nur eine gemeinſchaftliche in däniſcher Sprache (faelles- 
literatur). Der eigentliche Stifter und Vater dieſes däniſchen 
Schriftentums aber, einer der anſehlichſten Schriftſteller Europas 
in ſeinen Tagen und zugleich der größte ſkandinaviſche Dichter, 
war der Norweger Ludwig Holberg (1684 — 1754). Seine 
Landsleute wurden, berichtet uns 1694 ein Engländer aus eigner 
Kenntnis, von ſich ſelbſt und andern hoch über die Dänen geſtellt, 
von denen ſie ſich auf das günſtigſte unterſchieden. Als der junge 
Holberg in Dänemark einwanderte, waren noch ſo gut wie keine 
däniſchen Bücher vorhanden. Der König, der Adel und viele 
Bürger ſprachen gemeiniglich hochdeutſch, die Gelehrten latein, mit 
Ausländern verkehrten Gebildete auf franzöſiſch, und däniſch be— 
nutzte man nur, die Dienſtboten anzufluchen. Holberg ſchrieb 
allein eine ganze wiſſenſchaftliche Bibliothek, geſchichtliche, geogra— 
phiſche, biographiſche, naturwiſſenſchaftliche, juriſtiſche, philoſophiſche 
und philologiſche Werke, in der Landesſprache zuſammen. Zu 
mancherlei Dichtungen machte er ſie erſt geſchickt, gründete eine 
nationale Schaubühne und ſchuf in unglaublich kurzer Zeit jene 
Reihe von Komödien, die ihm unter den komiſchen Meiſtern der 
Weltliteratur Rang und Ruhm erworben hat. Mit berechtigtem 
Stolz vergleichen ihn die Norweger mit einem großen Strome, 
der aus ihrem Gebirg in die däniſche Niederung hinabfloß, dort 
die Fülle ſeines befruchtenden Segens verbreitend. Es fehlte aber 
auch nicht an kleineren Flüſſen derſelben Herkunft. Ein Tullin 
(17281765), ein Weſſel (1742-1785), ein Edvard 


Storm (17491794) wären beſonders zu nennen. 1772 lebten 
1 * 


4 I. Einleitung 


— 


jo viele norwegiſche Poeten in Kopenhagen, daß fie die „Norwegi— 
ſche Geſellſchaft“ bilden und eine beinahe tyranniſche Macht aus⸗ 
üben konnten. Den „Klopſtockianismus“ zu bekämpfen, betrach⸗ 
teten ſie als vornehmſte Pflicht. Faſt zwanzig Jahre hatte der 
Sänger des Meſſias, vom Könige berufen, von einer ganzen Siede⸗ 
lung deutſcher Schriftſteller umgeben, in der däniſchen Hauptſtadt 
Hof gehalten und olympiſch regiert, ohne jemals zu dem Volke 
hinabzuſteigen. Warum hätte er auch däniſcher denken als ſeine 
Gönner, und ſich um Landesart und Landesſprache bekümmern ſollen! 
So literariſch der Streit gegen ihn ſich anließ, es war doch ein 


Kampf gegen geiſtige Fremdherrſchaft, und ein geſundes, zunächſt 


noch gemeinſkandinaviſches Nationalgefühl lag ihm zum Grunde. 

Alle dieſe hiſtoriſchen und pſychologiſchen Tatſachen — wär' 
es auch nur in ſolch raſchem, nicht verweilendem Überblick — ins 
Auge gefaßt, und die Erneuerung der norwegiſchen Nationallitera⸗ 
tur im 19. Jahrhundert, nach eingetretener politiſcher Befreiung, 
wird uns nicht mehr ſo unvorbereitet und überraſchend bedünken. 


Der 17. Mai 1814 iſt der Geburtstag des heutigen Nor⸗ 
wegens. An dieſem Tage gaben ſich die Norweger, von Dänemark 
losgeriſſen und mit Schweden vereinigt, zu Eidsvold ein neues 
Landes⸗Grundgeſetz, eine eigene Verfaſſung, die Bernadotte an- 
erkannte. Die Schöpfer des Grundgeſetzes huldigten durchaus den 
Anſchauungen, die, von England nach Frankreich übergeführt und 
dort erweitert, endlich die Revolution verurſacht hatten: ihr Werk 
beruhte auf den „Prinzipien von 1789“. Das war nur folgerich⸗ 
tig. Denn während die Dänen ſich deutſcher Vormundſchaft be⸗ 
quemten, waren die Norweger das ganze 18. Jahrhundert hindurch 
im regſten geiſtigen Austauſch mit England und Frankreich, hatten 
die norwegiſch⸗däniſchen Dichter beharrlich verſucht, ihre engliſch⸗ 
franzöſiſche Bildung gegen die däniſche Deutſchtümelei in die Wag⸗ 
ſchale zu werfen. So Holberg, jo Tullin, ſo insbeſondere die „Nor⸗ 
wegiſche Geſellſchaft“. 

Allein, war der Anſchluß an die weſteuropäiſchen Nationen 


— — 3 


I. Einleitung | 5 


und die Aufnahme weſteuropäiſcher Ideen politiſch ein Gewinn, 
literariſch wurde nun die feindliche Stellung gegen Deutſchland dem 
jungen Gemeinweſen ein empfindlicher Schaden. Denn nur die 
Deutſchen vollbrachten am Ende des 18. Jahrhunderts und im 
Anfang des folgenden den Umſturz der alten literariſchen Welt— 
ordnung, befreiten den Geiſt vom pfeudosantifen Klaſſizismus, ver⸗ 
kündeten die Menſchenrechte im ganzen Umkreis der Poeſie. Sehr 
bald genoſſen die Dänen des Vorteils ihrer ſtändigen Verbindung 
mit den kühnen Neuerern; ſchon 1802 wurden ihnen durch Adam 
Oehlenſchlaeger die „Prinzipien“ der deutſchen Revolution vermit⸗ 
telt, während die Norweger, verblendet und erbittert gegen das 
Gute, nur weil es deutſch war, abſeits ſtanden und zurückbleiben 
mußten, weil ſie ſtehen blieben. 

Wie hätte das nun unmittelbar nach 1814 beſſer werden ſollen, 
als man, auch vor Dänemark ſich verſchließend, wie auf einer 
Inſel hauſte? Die junge Univerſität zu Chriſtiania (eröffnet 1811, 
in Tätigkeit erſt ſeit 1813) wär im Vergleich mit der däniſchen 
eine ſchlecht ausgerüſtete, untergeordnete Schule, die ſtolze Haupt: 
ſtadt des Königreichs Norwegen eine Provinzſtadt ohne geſell— 
ſchaftliche Sammelpunkte, ohne ein größeres Tagblatt, ohne eine 
Wochenſchrift, ja ohne eine richtige Buchdruckerei. 

Die Zeit der Entwicklung nun von 1814 bis zum kraftvollen 
Eingreifen Ibſens und Björnſons gegen die ſechziger Jahre hin 
wird von den trefflichen norwegiſchen Literarhiſtorikern L. Dietrich— 
ſon und Henrik Jaeger, deren Führung wir uns gerne vertrauen, 
ungefähr übereinſtimmend in Zeiträume geteilt: 

Erſter Zeitraum: die patriotiſch⸗unkritiſche Zeit unter an⸗ 
dauernder Herrſchaft des platten Rationalismus, von der Trennung 
von Dänemark bis zu Wergelands und Welhavens Auftreten, 1814 
bis 1830. 

Dem Sonnenaufgang zu Eidsvold ging eine ziemlich lange 
Morgendämmerung voran. Sie ſpiegelt ſich in den wäſſrigen 
Verſen älterer norwegiſch⸗däniſcher Poeten, die im Anfang des 
Jahrhunderts für immer in die Heimat zurückkehrten. Hatte man 


6 I. Einleitung 


1801 noch von „nordiſchen Männern“ im allgemeinen gefungen 
oder vom „Danebrog“, von „Daniens Strand“ im befondern, 
1808 ſchon ändern ſich die Benennungen. „Für Norwegen“ er: 
klingt das Lied, „Norwegens Mut“, das „Nordmeer“, „Norwegens 
Felſen“ empfangen den Zoll der Begeiſterung. Und die Präludien 
ſchwollen zu endloſen Chören an, als dann der Tag erſchienen. 
„Norwegens Bergzinnen“, vor allem das Dovre-Gebirge, müſſen 
immer wieder der Zeit trotzen, „Norwegens Gießbäche“, vor allem 
der Sarpen-Fall, immer wieder dazu rauſchen; „der Vorzeit Glut 
in Normanns Bruſt“ will und wird nicht erſterben, denn der 
„Nordbewohner“ iſt und bleibt ja „ein Schoß vom alten Helden⸗ 
ſtamm“; noch, ſtets oder ewig wohnt er ruhig, ſtolz, frei auf ſeiner 
Väter Grund uſw. ins Unendliche. Solcher Lyrik wurde gleich die 
Fülle geboten in einer Sammlung, die unter dem Titel herauskam: 
„Nor, eine poetiſche Neujahrsgabe für 1815“. Zwanzig Lyriker auf 
einmal traten vor das lauſchende Vaterland. „Norwegens Löwe“ 
wollte beweiſen, daß er brüllen konnte. Doch nein, es waren nicht 
dieſe Töne. Sie alle ſchlugen die Harfe. Das Wort „harpen“ 
reimt ſich jo ſchön auf „Sarpen“. Und immer noch mußte „Ceres 
niederlächeln“, nur nicht mehr auf die „Zwillingsreiche“, ſondern 
auf Norwegen allein. Die ganze Phraſeologie der Zeit vor Oehlen— 
ſchlaeger blühte hier wieder auf, entfaltete ſich wenigſtens wieder 
wie die vertrocknete Jericho-Roſe im Waſſerglas. 

Sie wollten erhaben ſein und wurden bombaſtiſch. Aber das 
Publikum war ſo genügſam und für alles Kraftpatriotiſche ſo 
dankbar. Es gab „gekrönte“ Nationalgeſänge, denn Wohlmeinende 
ſtifteten Preiſe und reisten damit noch den Wetteifer ſelbſt der Un 
begabteſten. Auch das alljährliche Konſtitutionsfeſt verlangte im⸗ 
mer friſche Feſtgeſänge. Die lächerlichſten Übertreibungen erregten 
keinen Anſtoß. Einmal doch, da ein feuriger Skalde ſang: 


Ob auch der Erdball wankt erſchüttert: 
Norwegens Felſen bleiben ſtehn. 

Er ſah ſelbſt ein, das ging nicht, und wurde ſehr beſcheiden: 
Ob auch der Erdball wankt ein wenig: 
Norwegens Felſen bleiben ſtehn. 


I. Einleitung | | 7 


Eigentlich hat erſt Ibſen durch feinen beißenden Spott in ‚Brand‘ 
und ‚Peer Gynt“ den Phraſenſchwall abgedämmt. 

Der Bergenſer Lyder Sagen (17771850), der älteſte 
nach Jahren ſowohl wie nach Anſchauungen, ſei hier, nicht ſeiner 
poetiſchen Erzeugniſſe wegen, ſondern als typiſche Geſtalt eingereiht. 
Typiſch, ſofern er ſich raſtlos bemühte, ſeine Landsleute zum 
Idealen zu erziehen, perſönlich in ſeinem Kreiſe, im Kleinen er⸗ 
ſtrebend, was berufnere Kunſtgenoſſen dann für das Große und 
Ganze wirkten, von Welhaven an, der ihn an der Bergener Latein— 
ſchule zum Lehrer hatte, bis auf Henrik Ibſen herab. Seine wahr: 
haft befruchtende Tätigkeit reichte weit über die Grenzen der Vater— 
ſtadt hinaus durch die vielen tüchtigen Männer, denen er auf der 
Schulbank den Sinn für das Schöne und die Kunſt für immer 
eingepflanzt hatte. Lyder Sagen ſtarb in demſelben Jahre, in dem 
Ibſens „Catilina“ erſchien. 

Schon nach andern literariſchen Führern, als der Anakreontiker 
Sagen, blickt der um ſo weniges jüngere Johan Storm 
Munch (1778—1832) aus: nach Oehlenſchlaeger und Schiller. 
Durch die Überſetzung des, Don Carlos“ ſchenkt er der norwegiſchen 
Bühne den reimfreien dramatiſchen Vers; ja, der erſte Überſetzer 
der isländiſchen Proſaerzählungen in die Landesſprache, beſchreitet 
er wie ein Herold den Weg der Kommenden. Der Familie Munch 
verdankt Norwegen überhaupt eine Anzahl in Kunſt und Wiſſen⸗ 
ſchaft ausgezeichneter Männer: außer dieſem liebenswürdigen Lyriker 
ſeinen Oheim, den genannten Edvard Storm; ſeinen Sohn Andreas, 
einen geſchätzteren Lyriker als die beiden, ſeinen Neffen P. A. Munch, 
den Geſchichtſchreiber des Landes. 

Wollten ſich die einen gegen den friſcheren Luftzug von Süden 
her ängſtlich ſchützen, ſo riſſen wieder andere gleich Tür und Tor 
auf: nicht ſowohl für Goethe und Schiller als für die allerneueſten, 
einen Tieck, einen Novalis und beſonders Fouqué. Dieſe Ver— 
ehrung der Romantiker, wenn ſie auch raſch genug vorüberging, 
hatte doch den Nutzen, die norwegiſchen Dichter zu größeren Stof— 
fen und Aufgaben hinzuneigen. Die beiden, von denen das haupt: 


8 I. Einleitung 


ſächlich gilt, find Mauritz Hanſen (1794—1842), Nor: 
wegens erſter Novellift, und Henrik Anker Bjerregaard 
(1792-1842), Norwegens erſter Dramatiker. | 

In Mauritz Hanſen iſt ein echtes Talent, das ſich aus Not 
zum Schnellſchreiber für Taglohn herunterwürdigen mußte, früh: 
zeitig zugrunde gerichtet worden. Drei Viertel ſeiner Erzählungen 
ſind, der Mode zu Gefallen, Ritter-, Räuber-, Saga⸗Romantik. 
Nur wo er den Schauplatz nach Norwegen, die Handlung in die 
zeitgenöſſiſche Umwelt verlegt, bewährt ſich ſein künſtleriſches Ver⸗ 
mögen und fördert die Literatur, denn ins Menſchenleben keck 
hineinzugreifen, das war damals ein neuer und vielverheißender 
Gedanke. Zumal ſein Dialog hört ſich oft ſo natürlich an, daß erſt 
Ibſen und Björnſon wieder gleich Gutes geleiſtet haben. 

Auch ſein Freund Henrik Bjerregaard erprobte ſich allein an 
Stoffen des täglichen Lebens als Dramatiker. Sein „Gebirgs⸗ 
abenteuer‘ hat jetzt, nach zwei Menſchenaltern, die Anziehungskraft 
noch nicht eingebüßt, denn immer noch erfreut daran die treffende 
Schilderung der Zeitverhältniſſe, die geſchickte Anwendung der Lokalfarbe, 
der muntere Vaudeville-Humor des Verfaſſers. Eine Verhörfzene iſt 
in echt Holbergiſchem Geiſte gehalten, und über das Ganze breitet ſich 
die prächtige Laune, die Holberg kestivitas zu nennen liebte. 

Während neben Hanſen und Bjerregaard noch die viel Gerin⸗ 
geren, Conrad N. Schwach und Simon O. Wolff, ihre Bewun⸗ 
derer fanden, war ſchon ein jüngeres, weniger leicht zu befrie⸗ 
digendes Geſchlecht herangereift, hatte ſich kritiſche Waffen geſchliffen 
und ſchnitt ihnen unbarmherzig ins Fleiſch. Abgenützte Stoffe, ab⸗ 
genützter Stil, rief man ihnen zu, fort mit dem alten Plunder! 
Die Dichterharfe iſt zur Spieldoſe geworden, die immer dieſelben 
Stückchen herunterleiert. „Das ziemlich allgemein und leicht zu 
erwerbende juste-mileu“ wurde vom Gebiet der wahren Poeſie 
ausgeſchloſſen und dieſe als „eine ſelbſtändige ſchöne Kunſt“ für 
immer vom „behaglichen Zeitvertreib“ und der patriotiſchen Ges 
legenheitsdichtung mit ihrer unbeſchränkten licentia poetica ge- 
trennt. Es beginnt der 


I. Einleitung 9 


Zweite Zeitraum: der Streit um das Weſen und die Be— 
deutung des Nationalen, von Wergelands und Welhavens Auf— 
treten bis zu Wergelands Tod, 1830—1845. 

Der Streit entſpann ſich zuerſt zwiſchen den beiden faſt gleich— 
altrigen Kämpen, als Welhaven Wergelands früh entſtandenes 
Hauptwerk kritiſch zu vernichten trachtete. Durch die, zumal im 
Anfang, grob perſönliche Art der Fehde wirkt doch überall hin— 
durch, was ihr den literariſchen Charakter verleiht, der ſchroffe 
Gegenſatz der Prinzipien: zügelloſes Norwegertum, Sturm und 
Drang auf der einen, Vorliebe für däniſche Geiſtesbildung, lite⸗ 
rariſcher Geſchmack und ausgeprägt wiſſenſchaftlicher Sinn auf der 
andern. So ſcharte ſich denn um Wergeland die radikal- nationale, 
die „Bauernpartei“, um Welhaven allmählich die Partei der „In— 
telligenz“. | 

Henrik Arnold Wergeland, geboren 1808, wuchs auf 
zu Eidsvold, auf der Geburtsſtätte der norwegiſchen Freiheit, wo 
ſein Vater, einer ihrer Mitbegründer, Pfarrer war. Schon die 
Schriften des Vaters atmen glühende Liebe zur Heimat und Haß 
gegen Dänemark, und von ihm erbte Henrik auch den Hang zum 
Pathetiſchen, zum Übertriebenen und Gewaltſamen. Eine ſonder⸗ 
bare Erziehung nach Peſtalozziſchen Grundſätzen, vom Vater in 
einem Schriftchen: „Henricopädie“ erläutert, hatte in den Jüng⸗ 
lingsjahren zunächſt kraftgenialen Übermut zur Folge. Er ſpielte 
ein wenig den Prinzen Heinz. Shakeſpeare war auch ſein Stern 
der höchſten Höhe, und um ein von ihm Stella genanntes Glück der 
nächſten Nähe zu verdienen, zwang er ſich endlich zu geregelter Arbeit. 

An Shakeſpeare ahmte er freilich nur die loſe Form, Miſchung 
von Vers und Proſa, häufigen Wechſel des Ortes nach, denn er 
las ihn wie unſere Klinger und Lenz, machte ſich ihn zu eigen wie 
unſere Schlegel und Tieck, wollte ihn überbieten und geriet ſo in 
ſeinen dramatiſchen Arbeiten geraden Weges in die Parodie. Die 
„Gedichte, erſter Ring‘, — ‚Harfenklänge über Freundſchaft und 
Liebe, Freiheit und Vaterland“ —, ſind aber von allem Barocken, 
was der Strudelkopf herausſchleuderte, das Barockſte. 


10 I. Einleitung 


1830 ſchon trat, nein, ſtürmte er auf den Plan mit dem 
Hauptwerk: „Die Schöpfung, der Menſch und der Meſſias“, das 
er ſelbſt bezeichnet als „das Epos der Menſchheit, die Bibel der 
Republikaner“. Es offenbart „ſein ganzes Inneres“, und ſein 
Leben ſollte nur „ein wahrheitsgetreuer Kommentar“ dazu wer⸗ 
den. Noch ſechzehn Jahre ſpäter, da er es auf dem Sterbebett mit 
letzter Kraft umarbeitete, fühlte er ſich von derſelben Überzeugung 
durchdrungen. 

Einzig nach Form und Weſen ſteht dies dithyrambiſche My⸗ 
ſterium eines Zweiundzwanzigjährigen in geſamter Literatur, dies 
improviſierte Weltgedicht über der Menſchheit Urſprung, Entwick⸗ 
lung und letzten Zweck. Es zerfällt in drei Hauptabſchnitte, die in 
der erſten Ausgabe mit den Worten des Titels, in der zweiten 
„Die Schöpfung“, ‚Die Verirrung“, ‚Die Erlöfung‘ überſchrieben 
ſind. Nirgend herrſcht dogmatiſche Anſchauung; die Geſtalten und 
Ereigniſſe des alten wie des neuen Teſtamentes verwertet der 
Dichter mit Freiheit zu Trägern feiner oft ſehr eigenartigen Er— 
findungen, zu Symbolen einer alle philoſophiſchen und ſtaatlichen 
Theorieen der Zeit umfaſſenden Weltanſicht. Denn, was ihn er⸗ 
füllt und begeiſtert, ſind allgemein europäiſche Ideen, wie ſie un⸗ 
mittelbar vor der Julirevolution die Gemüter bewegten, ein wenig 
vermengt mit den Lehren des Rationalismus im 18. Jahrhundert 
und den ſozialiſtiſchen Träumereien des Saint-Simonismus. Die 
geſchichtliche Auffaſſung der Religionen, die erſt das 19. Jahr⸗ 
hundert zur Wiſſenſchaft erhob, zeigt hier ſchon ihre erſten Anſätze, 
und der revolutionäre Haß gegen jegliche Tyrannei iſt durch die 
Reaktion der Zwanziger Jahre verſtärkt worden. Die verſchie⸗ 
denen Strömungen aber dürfte der junge Epiker aus den Schriften 
des ſkandinaviſchen Philoſophen Treſchow ſeiner Dichtung zugeleitet 
haben. Er glaubte natürlich ſein Beſtes zu geben in dieſen ein— 
geſchalteten Betrachtungen und Erörterungen, über die wir heute 
blätternd hinwegeilen, um uns rein dichteriſchen Stellen zuzu⸗ 
wenden, den oft ſchön bebauten Lichtungen in einem Urwald der 


Phantaſie. 


I. Einleitung 11 


Das erſte Menſchenpaar beſeelt nicht der Schöpfer ſelbſt, der 
in heilig⸗geheimnisvoller Verborgenheit waltet, ſondern zwei Geiſter, 
ein zweifelmütig⸗kraftvoller Geiſt und ein liebend ſich begnügender, 
in ihrer Gemütsanlage etwa Byrons Cain und Adah entſprechend. 
Abiriel, den Unzufriedenen, der die Sterne nicht pflücken kann, wenn 
ihn danach gelüſtet, überkommt beim Anblick des noch nicht zum 
Leben erweckten Menſchenpaares der Gedanke, „ſich ſelbſt aus dem 
Himmel zu verbannen“, ſich „ein Heim“ zu ſuchen in dieſen Erd— 
bewohnern, „denen die Blumen Sterne ſein werden“. Er ver— 
ſchwindet im Manne, der erwacht und aufſpringt. Voller Verzweif— 
lung über den „Geiſtes-Selbſtmord“ feines „Seelengeliebten“, ver— 
ſchwindet der andere, Ohebiel, im Weibe, auf daß aus ihren Augen 
dem Freunde ein gleicher Geiſt entgegenblicke, auf daß die ſinnliche 
Liebe vergeiſtigt, veredelt, verhimmliſcht werde. 

Im zweiten Teile dann wird das Aufkeimen der Liebe zwiſchen 
Adam und Eva ſehr kühn, aber naiv, echt, mit vielen ſchönen 
Einzelheiten neben ungewollt komiſchen geſchildert. Adam bringt 
das erſte Opfer — der in der Gewitterwolke ſich verhüllenden, er— 
zürnten Sonne. Sogleich ſtößt er den Altar furchtlos wieder um, 
zum Zeichen, daß er geben kann und nehmen, frei wie Gott. Eva 
erſchrickt und weint und bringt dem Mond ihr Haar zum Sühn— 
opfer. Da richtet Adam den Altar wieder auf, zum Zeichen, daß 
er bereit iſt, ſeinen Willen zu überwinden. 

Gottheit der Menſchen, ſieh, wir ſind ſo frei, 
Daß wir mit ſelbſtgeſchaffner Frommheit opfern 
Ein Teil von unſrer Freiheit, und doch frei 
Sind wie zuvor. 


Ebenſo unbibliſch und eigen verläuft der Streit der Brüder: 
eine Verſinnlichung des ewigen Kampfes um das Mein und Dein. 
Außerſt realiſtiſch, modern behandelte Szenen folgen, z. B. der alte 
Adam auf dem Sterbelager, von Kindern und Kindeskindern um— 
ringt. Ein Mann ſagt ſeinem Sohne, er ſolle ihn nicht ſo alt 
werden laſſen, lieber vorher erſchlagen; ein Weib, ſie wolle nicht 
jo häßlich werden, fo hinfällig wie Eva uſw. In die lange Reihe 


12 I. Einleitung 


kulturgeſchichtlicher Vorgänge, die weiterhin den Urſprung der 
Herrſchaft, des Prieſtertums, der Kaſten u. ä. erklären, find 
„Zwiſchenſpiele der Herzen“ eingeflochten, überaus zarte Liebes— 
idyllen und Stimmungsbilder. 

Der dritte Teil lehnt ſich mehr an die Schrift an als die 
erſten beiden, aber Jeſus iſt doch nur „der vollkommenſte 
Menſch“, der „Ohebiels Wärme“ mit „Abiriels flammendem Feuer“ 
in ſich vereinigt. Das eigentliche Evangelium des Dichters ver⸗ 
kündet der Schluß: daß die Lehre von der Liebe und Milde ſich 
ſtetig ausbreiten, das ganze Menſchengeſchlecht zu Brüdern um⸗ 
wandeln werde. Dann findet „Jeſu geiſtige Auferſtehung“ ſtatt, 
dann hat die Wahrheit, die Freiheit und die Liebe für immer die 
Lüge, die Knechtſchaft und den Eigennutz verdrängt. 

Trotz des Reichtums an Gedanken und Poeſie war Wergeland 
in Gefahr, den Sinn für Maß und Verhältniſſe gänzlich zu ver⸗ 
lieren. Da brachte ihm ein ſcharfer Angreifer zum Bewußtſein, 
wie roh, noch im Entwurf, er ſein Werk hinausgeſchickt hatte. Der 
Mann, der ihn ſo weit wie möglich zügelte, ſo daß er ſich wenig⸗ 
ſtens um die immer noch ſo mangelhafte Form letzter Hand be⸗ 
mühte, ſtand ſchon bereit, als hätte er nur auf das Erſcheinen dieſer 
720 Seiten langen Dichtung gewartet. 

Johann Sebaſtian C. Welhaven, geboren 1807 zu 
Bergen, ebenfalls Pfarrersſohn, empfing vom Vater das Bedürfnis 
nach Frieden, Milde und Harmonie, von der Mutter einen leb⸗ 
haften, ſtreitbaren Geiſt, Schlagfertigkeit und treffenden Witz. 
Gerade der Drang nach friedlich-harmoniſcher Ausbildung machte 
ihn zum Kämpfer, der die Waffen nicht ſinken ließ einzig und 
allein, damit der von einem dichtenden Berſerker geſtörte Friede 
wieder hergeſtellt werde. 

Einige Charakterzüge des jungen Welhaven kehren ſpäter beim 
jungen Ibſen wieder. Beide, denen die Umſtände verwehrten, ſich 
nach ihrem heißen Wunſche der Malerei zu widmen, rächten ſich 
gleichſam dafür durch Karikaturen auf ſtadtbekannte Perſönlichkeiten. 
Beide gewannen dann auf der Univerſität zu Chriſtiana den 


— 


I Sn N 


ER ee 


MN een 


I. Einleitung | 13 


Studien nur wenig Geſchmack ab, forgten nicht um Examen und 
Amt und gehorchten nur literariſchen Antrieben. Dabei verhehlten 
ſie ſtandhaft ihre bittere Armut, ihre kärglichen Mahlzeiten, ja be⸗ 
wahrten noch eine gewiſſe Eleganz, etwas Ariſtokratiſches in Klei 
dung und Auftreten. Welhaven aber, im Gegenſatz zu dem ener— 
giſcheren Ibſen, bedurfte eines derben Stoßes, um ſich aus der 
äſthetiſchen Beſchaulichkeit zu ermannen. Als ihm von Wergeland 
dieſer Stoß verſetzt wurde, war er ſelbſt noch literariſch unfertig 
und unſicher. Erſt im Streit und durch den Streit entwickelte und 
ſtärkte er alle ſeine Fähigkeiten. 

Anfänglich ſchwirrten grobe Gedichte und Epigramme hinüber 
und herüber. 1822 folgte als ſchweres Geſchoß Welhavens Buch: 
„Henrik Wergelands Dichtkunſt und Polemik aktenmäßig beleuchtet‘ 
unter dem Wahlſpruch: Calumniam sic effugio. Es ſollte er⸗ 
härten, daß der Gegner „mit allen Todſünden der Poeſie gebrand— 
markt ſei“. Wergelands Vater antwortete. Seine „Gerechte Be— 
urteilung von Henrik Wergelands Poeſie und Charakter“, klar, 
tüchtig und freimütig, bekämpft den „Gewiſſenszwang“ auf 
äſthetiſchem Gebiete und verteidigt das Recht der Perſönlichkeit 
ſchon vor Taine mit Tainiſchen Gründen. All das war indes nur 
Geplänkel, eine Streitigkeit im Studentenverein zwiſchen zwei 
Widerſachern und ihren Freunden. Das ganze Volk empörte 1834 
Welhaven gegen ſich mit feinen geharniſchten Sonetten: ‚Nor: 
wegens Dämmerung‘ 

Norwegen ſchlummert in ſeiner Eiskruſte, hebt der Prolog an, 
der Atem gefriert in der Luft, ein Sinn nach dem andern erlahmt, 
und Talglichter ſind bald noch das einzige, was leuchtet. 


Man greift zum Stimulans im Kälteſchauer: 
Punſch trinken ſie, verloben ſich und tanzen, 
Sonſt ſchläft das Leben ein, und auf die Dauer. 


Ich hab' im Schnee, zur Übung, einige Schanzen 
Errichtet, eine hadrian'ſche Mauer; 
Hier ſpiel' ich nun mit literariſchen Lanzen. 


14 I, Einleitung 


Aber die Spitzen waren ſcharf und der Waffengang kein Spiel. 
Nach den empfindlichſten Stellen gezielt, verwundete jeder Stoß 
bis aufs Blut. Nicht nur den „Pöbelhäuptlingen, die ihre Stan— 
darten im Namen des Landes aufpflanzen“, dem großmäuligen 
Patriotismus der Verführten ſo gut wie der Verführer 8 die 
Sonette zu Leibe: 

Wir prahlen mit verroſteten Trophäen, 


Mit unſerm Himmel und mit unſrer Erde, 
Und ſpreizen uns in eitler Kraftgebärde. 


ee Und laut von unſern winterlichen Küſten 
ar Gleich gen die halbe Welt wir mutig bähen 
Und tuen groß, wo wir uns ſchämen müßten. 

Fortſchritt! — worin ſchreiten wir fort? Aufſchwung! — 
wozu ſchwingen wir uns auf? In der Hauptſtadt denkt man nur 
an Klatſch und Verleumdung; in Bergen nur an Fiſche; Dront⸗ 
heim allerdings, das urnorwegiſche, hat — ſeine Domkirche neu 
geweißt. Wahrlich, Norwegens Dämmerung wird nicht weichen, ſo 
lange die Nation nicht aus dem Schlummer erwacht, der bleiern 
ſtets die Augen wieder zudrückt, die ſich öffnen wollen. Daß der 
Dichter zuletzt beteuert, ſchon einen Schimmer des aufſteigenden 
Morgenrotes, ja des lichtſpendenden Tages zu erſpähen, das be⸗ 
rührt, nach einer ſo düſteren Schilderung der Zuſtände, faſt nur 


wie ein Abſchluß aus äſthetiſchen Gründen, ein künſtleriſches 


Wiederanknüpfen an das gewählte Motto aus Byrons Lara: 


Night wanes, — the vapours, round the mountains curld, 


melt into morn, and Light awakes the world. 

Dieſelben Fehler und Unterlaſſungsſünden ftrafte Ibſen ſpäter 
unerbittlich an ſeinen Landsleuten, nur daß er ſie, die Welhaven 
peitſchte, mit Skorpionen züchtigte. Und dieſem ſchon, wie ſpäter 
jenem, tönte von allen Seiten der wütende Ruf entgegen: Volks⸗ 
feind! Allmählich nahm dann der Streit einen durchaus politiſchen 
Charakter an, und Welhaven überließ deſſen Fortſetzung ſeinen 
Parteigenoſſen. Wergeland dagegen ſtürzte ſich, als Journaliſt und 
Redakteur, erſt recht ins Parteigetriebe, in ſeinen Anſchauungen 


I. Einleitung En 15 


und Neigungen ein Vorläufer Björnſons. So ereiferte z. B. er fich 
ſchon für die „reine“ Flagge, um derentwillen ſpäter Björnſon 
förmlich den Kreuzzug gegen Schweden predigte. 

Noch eine Fülle dramatiſcher und epiſch-lyriſcher Dichtungen 
entſtrömten Wergelands beweglichem Geiſte, doch nur wenige voll— 
kommenere in der Form, keine an Ideengehalt und Phantaſie rei— 
cheren als jenes erſte große Werk. Wohl aber mögen wir ſeinen 
nordiſchen Verehrern beipflichten, wenn ſie ihn nicht nur als 
Eponymos dieſes wichtigen Abſchnitts norwegiſcher Literatur- und 
Kulturgeſchichte feiern, ſondern geradezu als die Verkörperung 
dieſer drangvollen Zeit. „Er iſt das junge Norwegen in ſeinem 
ganzen morgenfriſchen Glanze, brauſend, gärend, raſtlos und 
tatenluſtig.“ 

Dritter Zeitraum: Bis zur Entdeckung des Sagaſtiles 
durch Ibſen und Björnſon, 1845 — 1857. Gegenſeitige Annäherung 
von Volk und Literatur, Herrſchaft der Volksdichtung, Empor⸗ 
kommen des Realismus. 

Als ſich die ſchwediſche Romanſchriftſtellerin Frederike Bremer 
1840 von Wergeland zu einer Schilderung des norwegiſchen Volks— 
lebens Sagen und Überlieferungen erbat, erwiderte er, daß er 
von einer norwegiſchen Volkspoeſie ſchlechterdings nichts wiſſe. 
Das Bändchen „Norwegiſche Volksſagen“, von Andreas Faye 
1833 herausgegeben, war ſo gut wie unbeachtet geblieben; der 
Sinn für ſolche Schätze war ſelbſt den Volkstümlern damals noch 
nicht aufgegangen. 

Jetzt aber, nachdem der Kriegslärm der Dreißiger Jahre aus— 
getobt hatte, und man ſich wieder ruhig mit Erwerb beſchäftigen, 
am Beſitz erfreuen konnte, wurden zwei wackere Schatzgräber, As— 
björnſon und Moe, die, durch das Beiſpiel unſerer Brüder Grimm 
ermuntert und belehrt, „Norwegiſche Volksmärchen“ (1842) ans 
Licht hoben, mit lautem Beifall begrüßt und fanden auf allen Ge— 
bieten emſige und glückliche Nachahmer. Ein Geiſtlicher in Tele— 
marken, M. B. Landſtad, mühte ſich viele Jahre um die Volks— 
romanzen und bot dann das nordiſche Wunderhorn dar; ein 


16 IJ. Einleitung 


Muſiker, L. M. Lindemann, ſammelte die Volksmelodien; andere 
wandten ſich den Volkstrachten zu und der heimiſchen Holzarchitektur. 
Geſchichte, Sprache und Literatur der Vorzeit wurden erforſcht von 
Hiſtorikern wie Rudolf Keyſer und Peter Andreas Munch, von 
einem Sprachgelehrten und Herausgeber altnordiſcher Denkmäler 
wie C. R. Unger. Ein philologiſcher Autodidakt, Ivar Aaſen, ver⸗ 
öffentlichte 1848 die Grammatik, 1858 das Wörterbuch der nor⸗ 
wegiſchen Volksſprache; ein anderer (in der „Komödie der Liebe“ er— 
wähnter) Grammatiker, R. Knudſen, ſtudierte die ſtädtiſchen Mund⸗ 
arten und wies ihren Unterſchied vom Däniſchen, ihre Berechti⸗ 
gung nach. a 

So ſah man denn das lang entbehrte Nationale endlich er— 
rungen, und die Begeiſterung für alles, was mit dem Volk zu⸗ 
ſammenhing, für die Bauern und für die Landſchaft, führte einen 
Umſchlag in der Literatur herbei. Lag bisher den Schriftſtellern 
— Söhnen von Beamten aus der Aufklärungszeit! — vornehmlich 
die Bildung der unteren Stände am Herzen, hatte beſonders Werge⸗ 
land bis zum letzten Tage ſeines Lebens unermüdlich an ihnen er⸗ 
zogen: jetzt ging man umgekehrt bei dem einfachen Manne in die 
Schule, jetzt wurde das nur als echt und wahr belobt, was den 
Gebildeten früher als Aberglaube und Ammengeſchwätz verächtlich 
geweſen. Ein nationaler Poet hieß allein, wer die Geſtalten der 
Volksphantaſie zu Schutzgöttern, Kohlenbrenner und Holzhauer, 
Forellenfiſcher und Vogelſchützen zu Helden erkor, und Welhaven, 
der hervorragendſte Vertreter dieſes Zeitraums überhaupt, wurde 
auch der hervorragendſte Vertreter der neuen Bewegung auf ſeinem 
Gebiete, dem Gebiete der Lyrik. 

„Huldrelyrik“ hat man die von ihm in Schwung gebrachte Lyrik 
genannt: nach der norwegiſchen Waldnymphe. „Aus Berg und 
Wald hervor dringt ein ewiges Locken und Rufen; die Elben des 
Landes nahen mit ihren halb erſtickten Erinnerungen und alten 
Klagen und wollen ſie aller Welt verkündet haben“, ſchreibt er an 
einen Freund und preiſt Norwegen als das „hochadelige Land, wo 
der poetiſche Geiſt des Nordens wie durch einen unentweihten Ur— 


I. Einleitung 5 17 


wald ſauſt, wo von jeder Bergeshalde herzergreifende, unſterbliche 
Melodien herwehen.“ Ein ſo inniges Naturgefühl wäre an ſich 
dichteriſch geweſen, hätte keiner allegoriſchen Vermittlung bedurft. 
Aber die Geiſter, die er rief, wurden er und die norwegiſche Litera— 
tur nicht ſo ſchnell wieder los. Die Huldren, Noecken und Niſſen 
ſchoben ſich zwiſchen die Natur und den Beſchauer, und das Walten 
und Weben in Flur und Hain wurde Fabelweſen beigelegt, deren 
engbegrenzte Daſeinsäußerungen, ſtets ſchablonenhaft wiederholt, 
kaum eine Abwechslung geſtatten. Einförmigkeit und Langeweile 
mußten das Ende ſein. | 

Doch war nicht Welhavens geſamte Dichtung dieſen Schemen 
untertan. Vor und nach ſeiner Bekehrung zum Künſtlich-Volks⸗ 
tümlichen reizten ihn mancherlei Motive und Einkleidungen und 
die verſchiedenſten fremden Muſter, Heine, Byron, Schiller, die 
ihn nützlich deuchten, die Sprache ſchmeidigen zu helfen. Seelen- 
verwandt oder dichteriſch ebenbürtig zeigt er ſich keinem von ihnen. 
Schon im Anfang ſeiner Dichterlaufbahn beſpricht er einmal die 
„lyriſchen Vorſtellungen“ als „das Ergebnis einer hohen inneren 
Klarheit“. Allzu klar und zu wenig warm iſt denn auch eine 
große Zahl ſeiner lyriſchen Vorſtellungen beſchaffen. Er wußte 
ſeine ſchönen und edlen Gedanken ſehr oft ſchön auszuſprechen, 
doch eben nur auszuſprechen, und berichtet mehr, was er fühlte, 
als daß er es uns nachfühlen ließe, z. B. in den geiſtlichen Liedern, 
in denen er ſich gegen das Ende ſeines Lebens mit der Gottheit 
in völligen Einklang ſetzte. 

Dasſelbe in ſich verſchloſſene, vor jeder offenen Beichte zurück 
ſcheuende Dichtergemüt wie Ibſen, vermag er ſein Beſtes, wo 
er ſich das Bekenntnis erleichtert, indem er es verhüllt. Seine 
mythologiſchen oder hiſtoriſchen Geſtalten, die nordiſchen, antiken 
und bibliſchen, bergen überall ein Stück eigener Seelengeſchichte oder 
ſeine perſönlichſten Gedanken über fremdes Seelenleben. Glaukos, 
den unſterblich gewordenen, im Meere lebenden Fiſcher des Alter⸗ 
tums, macht er zum Herrſcher der dunklen Tiefe, der trotz heißer 
Sehnſucht nach Luft und Sonne nicht mehr emporſteigen kann, 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 2 


18 5 I. Einleitung 


weil ihn das Getier feines unterirdiſchen Reiches, Polypen und 
Mollusken, umklammernd niederzieht. Gemeint iſt Wergeland. In 
der Verdammnis des fruchtlos ſich quälenden Siſyphos empfindet 
er ſein eigenes Los. Aber einen Troſt kennt er zugleich, den der 
antike nicht hat: ſo oft der mühſam den Berg hinaufgewälzte Stein 
wieder in die Tiefe rollt, zerſchmettert er jedesmal einer Eule den 
Nacken. Bald, voll Vertrauen, iſt er ſich Nehemias, der den 
Seinen befiehlt, die Burg des Herrn zu bauen mit dem Schwert 
in der einen, die Kelle in der andern Hand; bald wiederum, in 
trüber Stimmung, jener Proteſilaos, der auf dem Zuge gegen 
Troja zuerſt an das Ufer ſprang, aber auch als der erſte fiel, in 
deſſen Zelt keine Beute getragen wurde, deſſen Ruhm verblich im 
Laufe der zehn Kampfesjahre vor den Taten der andern. 

Er ſtarb 1873, erlebte alſo noch Ibſens und Björnſons ihn 
verdunkelnde Erfolge, ja noch die Vorboten ihrer modernen Werke. 
Als er aus dem akademiſchen Lehramt ſchied, feierte die ſtudentiſche 
Jugend den geliebten Lehrer mit einem ſchwungvollen Chorlied, 
das Björnſon gedichtet hatte. 

Wie, von einem hohen, für die Überſicht günſtigen Standpunkt 
aus, neben Wergeland ſeine geringeren Kunſtgenoſſen, die Sivertſon, 
Monſen, H. O. Blom u. a. faſt verſchwinden, ſo treten auch vor 
Welhaven und den Realiſten die poetae minores dieſes Zeit⸗ 
raums zurück, ein Jenſen, Riis, Herre, Oſtgaard, Meltzer uſw., 
ja ſelbſt der einſt ſo viel gerühmte Andreas Munch (1811 1884). 
Hingegen lenken einige der verdienten Sammler heute noch auch 
als Lyriker und Novelliſten den Blick auf ihre dichteriſchen 
Leiſtungen: Jörgen J. Moe, Ivar Aaſen und vor allen Peter 
Chriſtian Asbjörnſen (1812— 1885), Norwegens erſter 
Realiſt. Von jeher ein eifriger Jäger, Fiſcher und Naturforſcher, 
beſaß er nicht nur eine gründliche Kenntnis des Landſchaftlichen, 
der Tier⸗ und Pflanzenwelt, ſondern hatte auf ſeinen Ausflügen 
auch eine Reihe prächtiger Volkstypen zu ſkizzieren die günſtigſte 
Gelegenheit. Da regten ihn denn Crofton Crokers ‚Srifche Elfen: 
märchen“ (deutſch von den Brüdern Grimm) dazu an, feine ‚Nor- 


I. Einleitung 19 


wegiſchen Feenmärchen und Volksſagen“ einem Erzähler in den 
Mund zu legen, und jedesmal erſt dieſen zu ſchildern und wie und 
wo er ihn getroffen, ſein Zu⸗Hauſe, ſeine Lebensgewohnheiten, 
ſeinen Charakter. Allmählich wurde ihm der Rahmen wertvoller 
als die Geſchichte, für die er ihn erfand, und er, der mit den Nixen 
beginnt, hört, ganz naturaliſtiſch, mit den „Fuhrleuten“ auf, in 
dem ſo betitelten Abſchnitt ein Meiſterſtück liefernd, das erſt ein 
nachkommendes, an wirklichkeitsgetreue Darſtellung gewöhnteres 
Geſchlecht zu würdigen fähig war. 

In andrem Sinne als er deutet über ihre Zeit hinaus Werge⸗ 
lands hochbegabte Schweſter Camilla Collett (1813-189). 
Schon 1855 prüfte ſie, wenngleich noch taſtend, in dem Romane: 
‚Die Töchter des Amtmanns“ den ſittlichen und praktiſchen Wert 
der Durchſchnittsehen und warf ſpäter die Frauenfrage im Norden 
auf, welcher beiden Probleme ſich Ibſen, nicht zum wenigſten 
durch ſie geworben, in ſeinen erfolgreichſten Werken bemächtigen 
ſollte. Ihr Leben und ihre Schriften näher zu betrachten, wird der 
zweite Band dieſes Buches den paſſenderen Anlaß geben. 

Am früheſten kreuzten Ibſens Bahn Aasmund Vinje und Paul 
Botten Hanſen, ſeine akademiſchen Freunde und eine kurze Weg— 
ſtrecke ſeine literariſchen Bundesgenoſſen. Botten Hanſen 
(1824 1864), von nur mäßigem ſchöpferiſchem Talent, aber der 
Beleſenſte und Gebildetſte, ſei nur erwähnt um des Einfluſſes willen, 
den er auf die beiden andern geübt, und als langjähriger Heraus⸗ 
geber der Zeitſchrift „Illuſtreret Nyhedsblad“, die, fortſchrittlich 
geleitet, Ibſens damals noch unterſchätzten Dramen und vielen 
ſeiner Gedichte eine Heimſtätte gewährte. Aas mund Olafs-⸗ 
ſon Vinje (1818-1870) aber hat in feiner abſonderlichen Art 
an der Löſung der Kulturaufgabe in feinem Vaterland keinen ge— 
ringen Anteil gehabt. Es ereignete ſich nichts in Politik und Kunſt, 
Literatur und Alltagsleben, worüber Vinje, erſt als Berichterſtatter 
einer Zeitung, dann als Herausgeber eines neuen Wochenblattes 
„Dölen“ (d. i. der Talbewohner), es nicht der Mühe wert gehalten 
hätte, ſich vernehmen zu laſſen, und er äußerte ſeine Anſichten ſo 

2 * 


20 I. Einleitung 


urſprünglich, friſch, volkstümlich, daß man ihn ſtets in Perſon vor 
ſich zu haben meinte und ihn bald kurzweg „Dölen“ nannte. Da⸗ 
bei iſt fein ſtiliſtiſches Geheimnis das alte, einfache: mit dem ge— 
meinen Menſchenverſtand urteilen und das Urteil mit Humor, bieder 
und biſſig, vortragen. Nur daß er ohne Wahl an allen Gegen⸗ 
ſtänden ſo verfuhr und nicht bemerkte, wie der gemeine Menſchen⸗ 
verſtand das Kunſtwerk niemals ermißt, wie der Humor, gegen 
Hohes und Ideales gerichtet, nur den Philiſter ergötzt. Zwar Ibſen 
begegnete er, ohne ihn überall zu verſtehen, noch mit Achtung; mit 
Björnſon, dem ſchnell berühmt gewordenen, war er ſchon aus Arger 
nie zufrieden und tadelte, wo er ihn gewiß nicht erreichte. Seine 
„Ferdaminni“, Reiſebilder nach Heines Harzreiſe, feine erzählende 
Dichtung ‚Storegut‘ empfehlen ſich ja durch manche vorzügliche 
Naturſchilderung, manche ſchöne lyriſche Stelle, und dies und jenes 
wackere Gedicht iſt ihm geglückt; das wahre Verdienſt erwarb er 
ſich jedoch, indem er, das Geſtrüpp der Romantik auszuroden und 
das Waldesdunkel zu lichten beſtrebt, den Acker bereiten half für 
die Saaten jener Größeren. 

So wären wir denn an dem Punkte angelangt, wo Ibſens 
emporſteigendes Geſtirn in den Kreis unſerer Beobachtung rückt 
und derart unſre ganze Aufmerkſamkeit fordert, daß der Blick nur, 
wenn ſich eine Vergleichung anbietet, nach den andern noch hin⸗ 
ſchweifen wird. 


II 


Catilina 

m Jahre 1830 erſchien zu Chriſtiania im Selbſtverlag des Ver— 

faſſers ein dreiaktiges Drama: Catilina von Brynjolf Bjarme. 
Verfaſſers ein dreiaktiges Drama: Catilina von Brynjolf Bjarme. 
Es war das erſte Werk Henrik Ibſens, das er im Winter 1848 
auf 49 — in ſeinem einundzwanzigſten Jahre — als Apotheker: 
lehrling zu Grimſtad heimlich des Nachts geſchrieben hatte. Dies 
Buch iſt jetzt eine große Seltenheit, denn es wurden nur fünfs 
undvierzig Exemplare der kleinen Auflage verkauft, der Reſt wan⸗ 
derte als Makulatur in einen Krämerladen, um dem Verfaſſer und 
ſeinem getreulich mit ihm hungernden Freunde Ole Carelius 
Schulerud für einige Tage des Lebens Notdurft zu verſchaffen. 
Doch war das Drama damals, beſonders in Studentenkreiſen, 
nicht unbeachtet geblieben. In der zweitoberſten Klaſſe der Ka⸗ 
thedralſchule zu Chriſtiania, wo die Schüler als Aufgabe im Nor⸗ 
wegiſchen ſelbſtgewählte Stellen aus Dichterwerken vorzutragen 
pflegten, wurden nach dem Bericht eines ehemaligen Schülers von 
mehreren ziemlich lange Stellen aus Catilina“ vorgetragen. Hen⸗ 
rik Ibſen war nicht der einzige Jüngling, den die Ereigniſſe jener 
ſtürmiſchen Zeit: die Februarrevolution, der Aufſtand in Wien, 
die Märztage in Berlin, die Erhebung in Ungarn und an andern 
Orten „in tyrannos“ begeiſtert hatten. 
Gab auch das Jahr Achtundvierzig die rechte Stimmung zu 
einem revolutionären Werke, ſo war es doch ein äußerer zufälliger 
Anlaß, der ihm gerade dieſen Stoff in die Hand ſpielte. Um ſich 
vom Apothekerlehrling womöglich zum Studenten der Medizin 
emporzuſchwingen, hatte er ſich in Grimſtad verſtohlens auf das 
examen artium vorbereitet, von dem die Zulaſſung zur Univer⸗ 
ſität abhing. Salluſts Catilina und Ciceros catilinariſche Reden 
gehörten zu dem Penſum, das durchgearbeitet werden mußte. Der 
Eifrige „verſchlang“ dieſe Schriften, und in wenigen Monaten war 
das Drama fertig. Der Held ſeines erſten Werkes — Catilina! 
* wurde damals und ſpäter mißgünſtig hervorgehoben. Hätte 


22 II. Catilina 


ſich dem Dichter der Räuber zu ſeiner Zeit eben dieſer Stoff und 
nur dieſer Stoff geboten, er hätte wohl auch ſtatt „eines Cati⸗ 
lina“ den Catilina zum Helden erwählt. Den beiden jugend⸗ 
lichen Tyrannenhaſſern war eines gemeinſam: der Haß war, wie 
bei Schiller ſo bei Ibſen, aus perſönlichen Verhältniſſen ent⸗ 
ſprungen. Nur daß er bei Ibſen viel tiefer wurzelte und bis in 
ſeine vierziger und fünfziger Jahre hinein an Lebensumſtänden 
und Erfahrungen immer neue Nahrung fand. 

Henrik Johan Ibſen, geboren den 20. März 1828, hatte 
ſeine Kinderjahre in einem ſchönen, behaglichen Heim verbracht, 
das des Vaters Wohlſtand und geſelliger Sinn jahraus jahr⸗ 
ein mit Freunden und Gäſten bevölkerte. Seine Vaterſtadt Skien 
war damals eine kleine Stadt — nach der amtlichen Statiſtik von 
Norwegen zählte ſie 1835 nur 3200, 1845 nur 4024 Einwohner — 
aber ſie hatte ihre Ariſtokratie und ihre Plebejer. Zu der erſten 
Klaſſe gehörten außer den „hochgebildeten, wohlhabenden und 
angeſehenen Familien“, die in der Stadt ſelbſt anſäſſig waren, 
die Mitglieder einiger vornehmen Geſchlechter in der Nachbarſchaft 
und die Lehrer an den gelehrten Schulen Skiens. Die Ariſtokraten 
bildeten einen ſtreng abgeſchloſſenen Kreis, ſo daß, in einem ſo 
kleinen Gemeinweſen, Reibungen zwiſchen ihnen und den Plebejern 
nicht ausbleiben konnten. Die ganze Stärke des Gegenſatzes ſollte 
Henrik empfindlich fühlbar werden, als — in ſeinem achten 
Jahre — das Geſchäft des Vaters und damit Glück und Wohl⸗ 
ſtand der Familie zuſammenbrach. Der völlige Umſchlag in den 
Verhältniſſen und mehr noch in den Geſinnungen und dem Be⸗ 
nehmen der „Geſellſchaft“ machte auf den nachdenklichen, von 
früher Jugend an ſcharf beobachtenden Knaben einen unauslöſch⸗ 
lichen Eindruck. In einem ſeiner früheſten Gedichte wird die 
Menſchheit in zwei Klaſſen geteilt: die geladenen Gäſte beim Feſte 
des Lebens und die armen Zuſchauer auf der Straße, die zu den 
beleuchteten Fenſtern emporſtarren, vom Nachtwind durchſchauert. 

Aber nicht bloß die ſozialen Zuſtände, das Leben überhaupt 
ſah der der junge Henrik in der düſterſten Beleuchtung. Ein merk⸗ 


II. Satilina | 23 


würdiger Schulaufſatz iſt uns, in den Grundzügen wenigſtens, 
erhalten. Er ſchildert, wie plötzlich im Traum ein Engel über 
dem im Gebirge Entſchlummerten ſteht und ihn auffordert, zu 
folgen: „Ein Geſicht will ich dich ſchauen laſſen, das Menſchenleben 
in ſeiner Wirklichkeit und Wahrheit.“ Sie ſchreiten unter hoch 
ſich wölbenden Felſen über ungeheure Stufen hinab in eine ge⸗ 
waltige Totenſtadt, wo in ſchwach dämmerndem Lichte, wie es 
Kirchenmauern und weiße Grabkreuze über den Friedhof werfen, 
endloſe Reihen gebleichter Gerippe den dunklen Raum erfüllen. 
„Hier ſiehſt du,“ ſpricht der Engel, „alles iſt eitel.“ Da kommt 
ein Sauſen, wie von den erſten Stößen eines beginnenden Sturmes, 
wie ein tauſendfach ſtöhnender Seufzer, und der wächſt an zum 
heulenden Sturmwind, ſo daß die Toten ſich bewegen und ihre 
Arme ausftreden — —. Daß ſich hier ein Dichter ankündigte, 
erkannte damals niemand; er ſelbſt ſuchte ſeine Begabung und 
ſeine Zukunft auf einem andern Gebiete. 

Schon in der erſten Schulzeit hatten Ibſens gute Anlagen 
zum Zeichnen und Malen die Bewunderung der Kameraden erregt, 
aber die Künſtlerträume und Hoffnungen, mit denen er ſich trug, 
mußten unter den veränderten Umſtänden aufgegeben werden. Er 
war darauf angewieſen, möglichſt bald das tägliche Brot zu ver⸗ 
dienen. Aus dem kleinen Skien kam er, ſechzehn Jahre alt, in das 
noch kleinere Grimſtad, ein Städtchen von 800 Einwohnern, und 
ſtatt mit Pinſel und Palette zu hantieren, ſollte er Tränke miſchen 
und Pillen drehen. Nun erſt lernte er die ganze Bitterkeit ſeines 
Loſes kennen: arm ſein, das war nichts — mit heiterem Mute 
hat er ſpäter als angehender Schriftſteller die erſte Zeit in Chri— 
ſtiania gedarbt und gehungert; aber dem eingeborenen, übermäch⸗ 
tigen Drange nicht nachgeben dürfen, das nicht ſein ſollen, wozu 
er ſich im Innerſten berufen fühlte: das iſt dem künftigen Dichter 
des ‚Brand‘ unmöglich geworden. Bezeichnend lauten die erſten 
Verſe ſeiner erſten dramatiſchen Dichtung: 

Ich muß, ich muß; es mahnt mich eine Stimme 
In tiefſter Seele — folgen will ich ihr. 


24 II. Catilina 


Jahrzehnte ſpäter verdeutlicht er dieſes „Ich muß“ im Abriß 
ſeiner „inneren Hiſtorie“: „Alles, was ich je Dichteriſches hervor— 
brachte, hatte ſeinen Urſprung in einer Stimmung und einer Lebens⸗ 
ſituation; ich habe nie gedichtet, weil ich, wie man ſagt, ‚ein gutes 
Sujet“ gefunden hatte ... „Catilina“ wurde geſchrieben in einer 
kleinen Spießbürgerſtadt, wo es mir nicht frei ſtand, all dem Luft 
zu machen, was da in mir gärte, — es wäre denn durch tolle 
Streiche und mancherlei Schabernack: und das zog mir den Un⸗ 
willen der achtbaren Bürger zu, die ſich nicht in die Welt hinein⸗ 
verſetzen konnten, mit der ich mich damals im Stillen trug.“ 

„Catilina“ ſollte kein ſogenanntes hiſtoriſches Drama werden. 
Auf dem letzten Blatt der Ausgabe von 1850 bemerkt der Ver⸗ 
faſſer: „Was die Tatſachen angeht, die dieſem Stücke zum Grunde 
liegen, ſo ſind ſie allzu bekannt, als daß man nicht ſogleich ſehen 
ſollte, welche Abweichungen von dem geſchichtlich Wahren gemacht 
worden ſind und daß das Geſchichtliche bloß teilweiſe benutzt wird, 
ſo daß es beinahe nur als Einkleidung für die durch das Stück 
gehende Idee zu betrachten iſt. Daß ſich der Verfaſſer geſchicht⸗ 
licher Namen bedient hat für Perſonen, die in Hinſicht auf ihren 
Charakter wie auf andere Umſtände anders auftreten als man ſie 
aus der Geſchichte kennen lernt, — wird hoffentlich entſchuldigt 
werden, zumal dieſe Namen kaum ſo hervorragend ſind, daß ihr 
Auftreten unter Verhältniſſen, unter denen ſie in der Geſchichte 
nicht angetroffen werden, ſtörende Eindrücke hervorrufen könnte.“ 
Als er das Schlußwort (vor dem Stücke ſelbſt?) geleſen habe, 
ſagt einer der erſten Ankündiger des Dramas, ſei er ganz bereit 
geweſen, die verlangte Verzeihung zu gewähren; nur hätte ihm 
nicht geahnt, daß ſie auch für die Hauptperſon, für Catilina ſelbſt 
erbeten würde. Nach Ibſens Meinung — damals wie fünfund⸗ 
zwanzig Jahre ſpäter — ſollte ſeine Auffaſſung der Hauptperſon 
keiner Entſchuldigung bedürfen. In der Vorrede zur zweiten Aus⸗ 
gabe (1875) weiſt er darauf hin, daß doch verſchiedenes Große 
und Bedeutende an einem Manne geweſen ſein müſſe, mit dem es 
Cicero, der unverdroſſene Sachführer der Majorität, ſich einzu⸗ 


II. Satilina | 25 


laſſen nicht geraten fand, ehe die Dinge eine ſolche Wendung ges 
nommen hatten, daß mit einem Angriff keine Gefahr mehr ver- 
bunden war. Auch müſſe man ſich gegenwärtig halten, daß es 
wenige hiſtoriſche Perſonen gibt, deren Ruf bei der Nachwelt ſo 
ausſchließlich in der Gewalt ihrer Widerſacher geweſen iſt, wie der 
Catilinas. | | 

Vaſenius hat fich die Mühe gegeben, ausführlich nachzuweiſen, 
daß Ibſens Catilina dem Catilina der neueſten hiſtoriſchen For⸗ 
ſchung völlig entſpreche. Viel näherliegend und notwendiger er⸗ 
ſcheint, was bis jetzt unterblieben iſt: das Drama mit beiden 
Quellen genau zu vergleichen; denn aus den Abweichungen, Ande— 
rungen und Zuſätzen wird ſich erkennen laſſen, was der Dichter hat 
darſtellen wollen im Gegenſatz zu dem, was er damals mit ſeinen 
Mitteln hat darſtellen können. Seine jugendlichen Anſichten und 
Abſichten ſind aber einer um ſo gründlicheren Betrachtung wert, 
als der gereifte Mann erklärt, das Buch enthalte gar manches, was 
ihn ſpäter immer wieder zur Darſtellung gelockt habe, manches, 
wozu er ſich noch bekennen könne. 

Cicero und Salluſt entwerfen uns — der eine mit den grellen 
Farben des Anklägers, der andere mit den ruhigeren des Hiſtorikers 
— ein Bild von Catilina als von dem ruchloſeſten und ver⸗ 
abſcheuungswürdigſten Menſchen der Zeit. Doch können beide 
nicht umhin, hervorragende Eigenſchaften des Geiſtes und Körpers 
in ihre Schilderung aufzunehmen, die ſich mit gänzlicher Ver⸗ 
derbtheit und Verkommenheit nicht wohl vereinbaren laſſen. Dem 
Manne, der mit den Weichlingen und Schlemmern der Haupt⸗ 
ſtadt unaufhörlich allen zerrüttenden Lüſten gefrönt haben ſoll, 
wird wiederholt eine unglaubliche Ausdauer im Ertragen von 
Hunger, Nachtwachen und Kälte nachgerühmt, und was Cicero 
im ſiebenten Abſchnitt ſeiner dritten Rede über ihn vorbringt, 
lieſt ſich abſatzweiſe wie das Lob eines bedeutenden, zum Lenken 
und Befehlen geborenen Staatsmannes und Feldherrn. Ganze 
Sätze könnten mit leichter Anderung von Julius Cäſar ſelbſt ge⸗ 
jagt ſein. Catilinas ſtolzes Wort: „publicam miserorum caus- 


26 II. Satilina 


sam pro mea consuetudine suscepi“ (Sall. c. 35) wird geſtützt 
durch Salluſts Verſicherung, daß „das ganze niedere Volk“ (c. 37) 
Catilinas Unternehmen gebilligt habe und daß der „Staat“ 
ſicherlich eine große Niederlage erlitten hätte, wenn Catilina das 
erſte Treffen gewonnen oder wenigſtens nicht verloren hätte (c. 39). 
Unter „der ganzen großen Menge“ der Anhänger Catilinas war 
nicht einer, der ſich durch die ausgeſetzten beträchtlichen Beloh— 
nungen zur Entdeckung der Verſchwörung hätte verleiten laſſen 
oder aus dem Lager Catilinas entwichen wäre (e. 36), und fo 
wirft endlich noch die ausdrücklich bezeugte Tapferkeit und der 
Todesmut nicht nur des Anführers, ſondern aller Verſchworenen 
(c. 60; 61) einen verſöhnenden Schimmer auf die Kataſtrophe. 

Erinnern wir uns, wie ſich der alte Strauchritter Götz von 
Berlichingen trotz der angeſtrebten Realiſtik unter Goethes Händen 
veredelt hat, „der arm getreuherzige Götz“, der einſt in naiver 
Selbſterkenntnis den Wölfen zurief: „glück zu, lieben Geſellen, 
glück zu überall“; ermeſſen wir an der idealen Geſtalt Karl Moors, 
zu welch erhabenem Verbrecher Schiller den ſalluſtiſchen Catilina 
emporgeläutert hätte, und betrachten wir dann, wie ſich der un⸗ 
belehrte, von der Welt abgeſchnittene Apothekerlehrling von Grim⸗ 
ſtad dieſen Charakter zurechtlegt — nicht um ſeine Arbeit mit Götz 
und den Räubern nach ihrem dichteriſchen Werte zu vergleichen, ſon⸗ 
dern um in ſeiner Auffaſſung des geſchichtlich Gegebenen das Hervor⸗ 
brechen eines neuen Geiſtes, des Geiſtes unſerer Zeit zu beobachten. 

Die ältere Tragödie bedurfte eines Helden im eigentlichen 
Sinne des Wortes; der modernen genügt auch ein Menſch, denn 
ihre Loſung iſt nur: alles verſtehen. Und iſt auch alles verſtehen 
noch nicht alles verzeihen, ſo wird dadurch das Gebiet des tragiſch 
Wirkſamen doch unendlich erweitert. Klopſtock tadelte an Goethe 
„die blind gegriffene Natur ohne Auswahl und Verſchönerung“, 
alſo die Ausdehnung des Kunſtgebietes über die damals gültigen 
Grenzen; heute iſt es wieder die blind gegriffene Natur, wieder die 
mangelnde Auswahl und Verſchönerung, was die Alteren an den 
Jüngeren, Malern wie Dichtern, zu rügen haben. 


II. Catilina | 27 


Nichts wäre einfacher geweſen, als dem Cicero und Salluſt 
lediglich das Gute über Catilina zu entnehmen, das Abfällige 
wegzulaſſen und die Verbrechen zu Rachetaten im Stile eines 
Karl Moor zu adeln. Aber es war einfacher als wahrſcheinlich. 
Ibſen nimmt das Abfällige, wie den Stimmenkauf, unbedenklich 
herüber; er beſchönigt die Verbrechen nicht, weder die geheimen 
perſönlichen, wie die Verführung einer edlen Jungfrau, den 
tempelſchänderiſchen Umgang mit einer Veſtalin, noch die öffent⸗ 
lichen, Aufruhr und Brandſtiftung. Aber das von den Gegnern 
geſpendete Lob läßt dem kritiſchen Blick des jungen Autors die 
Schattenſeiten allzu ſchwarz gemalt erſcheinen; er zieht zunächſt ab, 
was von den offenbar parteiiſchen Alten zu dunkel aufgetragen 
iſt, und ſucht dann das ganze, hierdurch einheitlicher gewordene 
Gemälde zu verſtehen als das eines von Natur edlen und reich— 
begabten Mannes, den ſeine Zeit und Umgebung mit ihrer Ver⸗ 
derbnis zwar angeſteckt und befleckt, aber im Grunde nicht ver⸗ 
derbt haben. Die Worte des Geſchichtsſchreibers: animus audax 
—varius — sui profusus, ardens in cupiditatibus — vastus 
animus — nimis alta semper cubiebat — agitabatur magis 
maquisque in dies animus ferox inopia rei familiaris et con- 
scientia scelerum-—incitabant praeterea conrupti civitatis 
mores — zeichnen auch den Catilina des Dramas, doch mit dem 
beträchtlichen Unterſchied, daß Catilina nicht mehr „ingenio malo 
pravoque“ iſt. Nun erhebt ſich die Geſtalt über das Gemeine, all 
die übrigen aufgezählten Eigenſchaften rücken in ein verändertes, 
beſſeres Licht: ſtatt entſchiedener ſittlicher Verderbtheit und Schlech- 
tigkeit zeigt ſich ein Hin⸗ und Herſchwanken zwiſchen Gut und 
Böſe, ein Gegenſatz von Wollen und Können, wodurch der „kühne“, 
„veränderliche“, „ſtets nach allzu Hohem ſtrebende“ Charakter 
wahrhaft tragiſch wird. 

Mit dieſer Auffaſſung des Charakters iſt zugleich die Idee des 
Dramas gegeben, oder vielmehr dieſe Auffaſſung iſt die Idee 
ſelbſt. Das beſtätigt der Dichter in der Vorrede zur zweiten Aus: 
gabe ſo beſtimmt wie beſcheiden. „So manches, worum ſich meine 


28 II. Catilina. 


ſpätere Dichtung gedreht hat, — der Widerſpruch zwiſchen Ver— 
mögen (evne) und Verlangen (higen), zwiſchen Wille und Mög⸗ 
lichkeit, der Menſchheit und des Individuums Tragödie und Ko— 
mödie zugleich — kommt hier ſchon in nebelhaften Andeutungen 
vor, und ich faßte deshalb den Vorſatz, als eine Art Jubiläums⸗ 
ſchrift eine neue Ausgabe zu veranſtalten.“ 

Die Andeutungen waren nicht ſo unklar und nebelhaft. Die 
Idee des Dramas wird — in der erſten Faſſung ſogar kenntlicher 
als in der zweiten — von Catilina ſelbſt ausgeſprochen. Daß 
ſeine „edlen Seelenkräfte“, ſeine „warme Begeiſterung für ein 
tatenreiches Leben“ „elende Bande“ hemmen, „die das Streben 


des Geiſtes erſticken“, — das empfindet er als den Fluch, den ein 


„dunkles feindſeliges Geſchick“ ihm auferlegt hat. Das Wort 
„Bande“ iſt in der zweiten Ausgabe durch das allgemeinere „Ver⸗ 
hältniſſe“ erſetzt. Aber daß die Verhältniſſe, in denen ſein beſſeres 
Selbſt erſtickt, insbeſondere perſönliche Verhältniſſe — „Bande“ 


ſind, das eben iſt das Bezeichnende, das Moderne ſchon in dieſen 


Anfängen einer jungen Kunſt. Das ſtärkſte Gegenſpiel wird an⸗ 
gewendet, um Karl Moor und deſſen Verbrechen zu rechtfertigen, 
um zu zeigen, daß da lediglich äußere Umſtände einen ſelten gut an⸗ 
gelegten Menſchen in einen Räuber verwandelt haben. Ibſen da⸗ 
gegen verſucht die „elenden Verhältniſſe“, die vor allen den edlen 
Seelenkräften zum Verderben gereichen, ins Innere ſeines Helden 
zu verlegen. Einem Beſſern als Catilina hätten ſich beſſere 
Mittel, beſſere Verbündete zur Rettung des Staates geboten; mit 
Genoſſen, wie er ſie zu wählen gezwungen iſt, kann nichts Großes, 
kann nur etwas Verbrecheriſches ins Werk geſetzt werden. Aber 
nicht zu ſpät läßt ihn der Dichter das einſehen, läßt ihn nicht 
als Verbrecher wider Willen, der mit Böſen Gutes erreichen 
wollte, zugrunde gehen: er erkennt klar, mit was für Männern 
er ſich verbündet, er ſchleudert ihnen ſeine Geringſchätzung mit ſo 
höhniſchen Worten ins Geſicht, daß ſie wütend die Dolche auf ihn 
zücken — ein feiner Zug! — und doch ſtellt er ſich als Hauptmann 
an ihre Spitze. Zu ſehr ein Kind ſeiner verderbten Zeit, ſie einzurenken, 


II. Catilina 29 


will er wenigſtens zerſtören, vernichten, ſich rächen, ſeinen glühenden 
Ehrgeiz befriedigen — ein Verbrecher aus verlorner Tugend. 

Durch die Anderungen der zweiten Ausgabe, „ſtarke“ ſtatt 
„edle“ Seelenkräfte, „Verhältniſſe“ ſtatt „Bande“, ſind — dem 
Bearbeiter unbemerkt — Spuren ſeiner jugendlichen Anſchauungen 
verwiſcht worden. Treffend ſagt H. Jaeger, die Pſalmenklänge 
von Skien ſeien noch nicht völlig verſtummt, der halbpietiſtiſche 
Idealismus, den Ibſen von Haus und Heimat mitbekommen, 
mache ſich in der Auffaſſung von Catilinas Charakter — ich 
würde ſagen von Catilinas Schuld — noch deutlich bemerkbar. 
Und wenn er ſterbend von „dem lichten Frauenbild“ Aurelia 
„nach rechts“, „zu den Wohnungen des Lichts und des Friedens“ 
geleitet wird, ſtatt der dunklen Furia „nach links“, in den Tar⸗ 
tarus zu folgen, ſo iſt es trotz der heidniſchen Einkleidung offen⸗ 
bar die Gnade von oben, die als „roſenfarbne Morgendämmrung“ 
heilverkündend auf ihn niederſtrahlt. An einer andern Stelle der 
zweiten Ausgabe hat Ibſen, der durch die Überarbeitung nur 
klarer machen wollte, was ihm urſprünglich vorſchwebte, der ver⸗ 
ſteckt chriftlichen Anſchauung nachträglich das rechte chriſtliche Wort 
geliehen: er läßt ſeinen Helden nicht mehr den Wunſch ausſprechen, 
zu vergeſſen, ſondern „zu bereuen — zu bereuen!“ 

Das moraliſche Problem Catilina nahm die Aufmerkſamkeit 
des jungen Dramatikers ſo ſehr gefangen, daß er allem, was die 
Gewährsleute von den andern Mithandelnden erzählen, nur die 
flüchtigſte Beachtung ſchenkte. Auch die ſozialiſtiſche Seite der Ver⸗ 
ſchwörung iſt ihm völlig entgangen. Der ausführliche Bericht über 
die verſchiedenen Beſtandteile der Verſchwörung in der zweiten 
catilinariſchen Rede (8, 9, 10) bleibt ebenfalls unbeachtet. Wir 
finden im Stücke, den Manlius ausgenommen, nur eine einzige 
Klaſſe von Verſchworenen, und für dieſe iſt nicht viel mehr als die 
Namen aus den Quellen beibehalten. Selbſt daß es „adelige“ junge 
Römer ſind, erfahren wir nur aus dem Perſonenverzeichnis. Die 
Reden eines jeden könnten jedem andern zugeteilt werden, ohne 
daß das Geringſte geändert wäre: der Autor ſah fie nur ing: 


30 II. Catilina 


geſamt und mit gemeinſamen Zügen vor ſich als die herunter— 
gekommenen, liederlichen, höheren Strebens baren Geſellen, deren 
ſich der Held in Ermangelung beſſerer Kräfte zu bedienen ge— 
zwungen iſt. Coeparius, Gabinius und Statilius werden in den 
Vorlagen allerdings nur erwähnt, nicht geſchildert; Lentulus aber 
und beſonders Cethegus ſind bei Salluſt und Cicero mit charak⸗ 
teriſtiſchen Zügen ausgeſtattet. Von Cethegus heißt es: mutig, 
ungeſtüm, ſchlagfertig, habe er unaufhörlich über die feige Un 
tätigkeit ſeiner Mitverſchworenen geklagt; im Drama ſpricht er ſich 
in einigen fünfzig Verſen als ein ganz leichtſinniger Genußmenſch 
aus und verſichert nachdrücklich, er beſitze keinen Ehrgeiz. Der 
geſchichtliche Lentulus, dem berühmten Geſchlecht der Cornelier 
entſproſſen, senatorii ordinis und Prätor, betätigte ſich in allem 
als Catilinas rechte Hand. Eine Stelle bei Salluſt (c. 47), die 
ſich bei Cicero faſk gleichlautend findet (III, 4) ſcheint jedoch dar⸗ 
auf hinzudeuten, daß Lentulus für ſich ſelbſt die Macht erſtrebte: 
er behauptete, nach den ſibylliniſchen Büchern werde er der dritte 
Cornelier ſein, dem die Herrſchaft Roms zufalle, Cinna und Sulla 
ſeien die beiden erſten geweſen. Dieſe Stelle — die wohl auch 
das Geſpenſt Sullas im letzten Aufzug veranlaßt hat — mag Ibſen 
bewogen haben, Lentulus als Gegner Catilinas aufzuſtellen. Vor 
allem aber wird zu Lentulus, dem Rivalen, dem ſchlechten und 
feigen Geſellen, Spiegelberg das maßgebende Vorbild geweſen ſein. 
Wie Spiegelberg will er ſich den Genoſſen zum Hauptmann auf⸗ 
drängen, wie jener den Razmann zu bewegen ſucht, wirbt er die 
Gladiatoren an, den Nebenbuhler aus dem Wege zu räumen. 
Curius, roh, charakterlos und vermeſſen, von den Zenſoren wegen 
ſittenloſen Wandels aus dem Senate geſtoßen, ein Lüſtling, der 
die Verſchwörung nur aus Gewinnſucht verriet, wird verwandelt 
in einen jungen, unverdorbenen Verwandten Catilinas. Nur durch 
eine ſinnbetörende Leidenſchaft ſich ſelbſt und Catilina untreu, be⸗ 
weint er bald und ſühnt den Verrat mit dem Tod auf dem Schlacht⸗ 
feld. An Stelle der vornehmen, aber feilen Fulvia, der Geliebten 
des geſchichtlichen Curius, durch die ihn Cicero zum Verrat be— 


II. Catilina | 31 


ſtechen ließ, tritt die Veſtalin mit dem bedeutungsvollen Namen 
Furia, die ſich den edlen Curius der Dichtung zum Werkzeug ihrer 
Rache umformt. Von Aurelia Oreſtilla, der Gemahlin Catilinas, 
„an der abgeſehen von ihrer Schönheit kein Guter je etwas loben 
konnte“ (c. 15), hat Ibſens Aurelia nur den Namen überkommen. 
Die Freigebigkeit, die der Oreſtilla nachgerühmt wird (c. 35): fie 
würde mit ihrem Vermögen nicht nur die Schulden ihres Gatten, 
ſondern auch fremde bezahlen, wird die Szene mit dem bettelnden 
Soldaten hervorgerufen haben. Der Manlius des erſten Aufzugs 
iſt der Selbſtſchilderung im 33. Kapitel des Salluſt nachgebildet. 
Daß ein jo biederer und bejahrter Mann „gewöhnlich“ die Geſell— 
ſchaft von jugendlichen Taugenichtſen ſucht, wird nicht weiter be— 
gründet. Im letzten Akte tritt er dann ganz als väterlicher Freund 
Catilinas auf, der nicht um erlittene Kränkungen zu rächen, ſon⸗ 
dern nur um ſeinem Liebling in Not und Gefahr zur Seite zu ſein, 
den Krieg mitmacht. Die von Schuldenlaſt bedrückten, ihren Vor⸗ 
teil wohl berechnenden Allobroger endlich, die ſich von Cicero als 
agents provocateurs benutzen ließen, ſind hier, wo ihre Sprecher 
die Namen Ambiorix und Ollovico führen, einfältige, aus einem 
unverderbten Gemeinweſen ſtammende Leute. Auch reden ſie mehr 
von Kränkungen ihrer Rechte, als von Schulden, und möchten 
gerne einen Kampf für die Freiheit wagen. 

Hiermit ſind alle tragenden Kräfte des Dramas genannt, alle 
Perſonen aufgezählt, iſt alles erſchöpft, was Ibſen den römiſchen 
Vorlagen entlehnte. Er verſchmäht das geſchichtlich gegebene Gegen⸗ 
ſpiel, verzichtet auf einen klar vorgezeichneten, theatraliſch wirkſamen 
Antagoniſten wie Cicero, und überträgt das Werk der heimlich 
durch die Handlungen der Menſchen waltenden Nemeſis einer 
„Rachegöttin“ in Perſon, die ſich ohne Umſtände und Umſchweife 
zu ſeinem Zweck verwenden ließ. Noch hatte er die Anfangsgründe 
der ſchwierigen Kunſt nicht gelernt, worin er ſich ſpäter Meiſter 
erwies, alle Charaktere ſo zu modeln und ſie ſo in Handlung zu 
ſetzen, daß ſie unumgänglich ihrem Weſen gemäß das tun und 
ſagen mußten, was ſeiner alles beherrſchenden Idee diente. Ins⸗ 


32 II. Catilina 


beſondere reichte ſeine Kenntnis des Seelenlebens nicht zu freier, 
ſelbſtändiger Charakteriſierung des Gegenſpiels und der Neben: 
perſonen hin. Sie alle haben nur ſo viel Geſicht und Perſönlichkeit, 
als zum Zwecke unbedingt erforderlich iſt. Die Verſchworenen 
find bloße libertins de fantaisie, viveurs d’opera und die 
beiden Frauen jo blutloſe Geftalten, daß fie ſich am Ende des 
Stückes zu allegoriſchen Schemen verflüchtigen. Catilina ſelbſt ift 
richtiger aufgefaßt und empfunden als dargeſtellt. Alle die ver⸗ 
ſchiedenen, oft gegenſätzlichen Stimmungen und Gefühle, die er an 
den Tag legt, ſind ſehr wohl an derſelben Perſon denkbar, ent⸗ 
ſpringen derſelben Wurzel. Aber wenn wir auch weder im Leben 
noch in der Kunſt, weder in uns ſelbſt noch in andern die ver⸗ 
borgene Wurzel der Individualität je ergründen und ergraben 
können, ſo muß uns doch der Dichter alle Aſte und Zweige aus 
einem ſichtbaren Stamm entſproſſen zeigen. Catilina gleicht einem 
Strauche, deſſen Schößlinge getrennt, für die Anſchauung un⸗ 
zuſammenhängend, aus dem Boden ſprießen. | 

Die gelegentliche Erwähnung Ciceros als eines perſönlichen 
Feindes des Catilina deutet an, daß auch dieſe plaſtiſch hervor⸗ 
tretende Geſtalt damals nur von der einen, dem Helden zugewen⸗ 
deten Seite geſehen wurde. Erſt nachdem der ‚Bund der Jugend‘ 
geſchrieben war, nannte ihn Ibſen treffend und witzig den „Sach⸗ 
führer der Majorität“. Um zwei Pole: das Individuum und die 
Geſellſchaft drehen ſich, wie ſich wohl mit einiger Berechtigung 
ſagen läßt, ſeine ſämtlichen Dramen. Allein im „Catilina“, ſowie 
in allen Werken mit norwegiſch-nationalem Stoff, iſt das Augen⸗ 
merk doch nur auf den einen der beiden Pole gerichtet, auf das 
Individuum. Die Majorität, die Geſellſchaft, die dem einzelnen 
irgendwie entgegenſteht oder entgegentritt, iſt zwar immer vor⸗ 
handen, aber das iſt noch nicht die ſcharf beleuchtete „kompakte 
Majorität“, die „Geſellſchaft“ der modernen Dramen, mit der das 
Individuum den ungleichen Kampf — alle gegen einen — um ſein 
Daſein, ſeine Daſeinsberechtigung auskämpfen muß. Wir ſehen 
Catilina anlegen, zielen, ſchießen, und erfahren, daß er nicht ge⸗ 


II. Catilina 33 


troffen hat; die römiſche Geſellſchaft, der ſeine Pfeile gelten, ſendet 
keinen zurück: es iſt nur eine Scheibe hinter der Szene. 

Die idealen Anwandlungen, die der zwanzigjährige Anfänger 
ſeinem Helden — wie er glaubt — nicht gibt, ſondern läßt, er⸗ 
möglichen ihm, durch den Mund Catilinas die eigene, aus der 
Zeit geborene Begeiſterung für „Bürgerfreiheit“ und „Bürger⸗ 
geiſt“, den jugendlich unbeſtimmten Haß gegen „die Mächtigen“, 
gegen „unrechtmäßige Gewalt“ laut werden zu laſſen. Es werden 
wohl dieſe ſchwungvollen Stellen geweſen ſein, die ſich die Schüler 
der Kathedralſchule zum Vortragen auswählten. Wie viel rein 
Perſönliches außerdem in die Jugenddichtung eingefloſſen iſt, läßt 
eine briefliche Mitteilung der Schweſter Ibſens erkennen. Eines 
Tages machten die Geſchwiſter einen Ausflug auf den Kapitelsberg, 
eine mit Ruinen bekrönte Anhöhe in der Nähe von Skien. Dort 
oben ging dem ſchweigſamen Knaben das Herz auf, er geſtand der 
Schweſter ſeinen innigſten Wunſch: „Das Größte und Dolls 
kommenſte von allem zu erreichen, was an Größe und Klarheit 
zu erreichen wäre.“ „Und wenn du das erreicht hätteſt, was 
wollteſt du dann?“ fragte ſie. „Dann wollt' ich ſterben“, war 
die Antwort. Im zweiten Aufzug weiht Catilina der Betrachtung 
ſeines Lebens eine ſtille Stunde. Und was iſt ſein ſehnlichſter 
Wunſch? 

— — nur einen Augenblick zu leuchten klar 
und flammend wie das Meteor, 

um einzuweih'n mit einer hehren Tat 

den eignen Namen zur Unſterblichkeit — 
ha! ich könnte zu derſelben Stunde noch 

das Leben laſſen; — dann hätt' ich gelebt; — 


ich könnte flüchten an den fernſten Strand, 
ich könnte ſelbſt den Dolch ins Herz mir ſtoßer 


Auch der Monolog Catilinas, der das Drama mit den Worten: 
Ich muß, ich muß! ſo bezeichnend einleitet, lieſt ſich faſt durchaus 
wie ein perſönliches Bekenntnis. 

Catilina ſteht auf einem Hügel am flaminiſchen Weg und 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. a 


34 II. Satilina 


blickt, ſinnend an einen Baum gelehnt, hinüber auf die abendlich 
beleuchtete Stadt: 


Ich muß, ich muß; es mahnt mich eine Stimme 
in tiefſter Seele, — folgen will ich ihr. — 
Ich fühle Kraft und Mut zu etwas Beſſ'rem, 
zu etwas Höh'rem, als zu dieſem Leben. — 
Nein, eine Reihe zügelloſer Freuden 
befriedigt nimmer meines Herzens Drang. 

Ich ſchwärme wild! Vergeſſen möcht ich nur. 
Es iſt vorbei! Mein Leben hat kein Ziel. — — 


(Nach einer Weile.) 

Was wurde wohl aus meinen Jugendträumen? 
Sie ſchwanden hin, wie leichte Luftgeſtalten — 
nur bittere Enttäuſchung blieb zurück; — 
des Schickſals Raub ward all mein kühnes Hoffen. 


(Mit Heftigkeit.) 
Veracht' dich ſelbſt! Veracht' dich, Catilina! 
In deiner Seele fühlſt du edle Kraft; — 
und was iſt wohl das Ziel für all dein Streben? 
Nur Sättigung für ſinnliche Begier. 


(Ruhiger.) 

Zuweilen doch, wie nun in dieſer Stunde, 
glüht heimlich ein Gedanke mir im Buſen. 
Ha, blick' ich hin auf dieſe Stadt, das ſtolze, 
das hohe Rom, — und all die Niedertracht, 
all das Verderbnis, drein ſie längſt verſunken, 
tritt ſcharf und klar vor meine Seele hin, — 
laut ruft dann eine Stimm' in meinem Innern: 
erwache, Catilina, — werd' ein Mann! 


(Abbrechend.) 
Doch, 's iſt nur Gaukelſpiel und nächtige Träume, 
einſamer Stunden Hirngeſpinſte nur. 
Ein bloßer Laut der Wirklichkeit: ſie flüchten 
hinab in meiner Seele ſtille Tiefen. — — — 


— — — — — — — — — — — —. 


II. Catilina | 35 


Diefer mit dem Wortlaut und der Interpunktion der ſchwer 
zugänglichen erſten Ausgabe wiedergegebene Monolog, ſowie die 
folgenden, beſonders die der Furia, mögen zugleich als Stilproben 
dienen, da für die Beurteilung ja nur die urſprüngliche Faſſung 
maßgebend ſein darf. g 

Nach Oehlenſchlaegers und Schillers Vorgang in Jamben ge 
ſchrieben, gemahnt das Drama doch in Stil und Sprachton an 
keinen von beiden. Einige Stellen in den erſten Akten werden 
durch den Reim gehoben, ohne aus dem dramatiſchen Rahmen 
allzuſehr hervorzutreten; die gereimten längeren Stellen des letzten 
Aufzugs — Catilinas Erzählung von ſeinem Traume, der beinahe 
ſtrophiſch anmutende Wortkampf zwiſchen Furia und Aurelia und 
das Finale — ſind durch ein anderes Versmaß, ſechsfüßige Trochäen 
mit Cäſur nach dem vierten Fuß und einer Zuſchlagſilbe, abſichtlich 
ausgezeichnet und auf ſtarke lyriſch⸗muſikaliſche Wirkung angelegt. 

Der Ausdruck iſt durchaus jugendlich mit allen Fehlern und 
Kennzeichen eines naiven erſten Verſuches. Wo ſich das rechte 
Wort im Augenblick nicht einſtellen will, erſetzt es ein kecker Ge⸗ 
dankenſtrich. Unverkennbar indeſſen macht ſich ſchon das Streben. 
geltend nach dem lebendigen, zur Anſchauung zwingenden Bilde 
und fördert neben erſtarrten Metaphern und nicht mehr wirkſamen 
Gleichniſſen auch manches Urſprüngliche und fein Bezeichnende 
zutage. 

Erſtarrte Metaphern und wirkungsloſe nenn' ich ſolche: die 
bittre Schale des Schmerzes wird bis zum Grunde geleert; eine 
ſtarke Hand ergreift das Steuer; Furia hält Curius in einem Netze 
gefangen, das er nicht zerreißen kann; — der Wurm, der ſich mit 
dem Stachel verteidigt; die Schlange, die den Vogel mit dem Blicke 
feſthält; Vöglein im Mutterſchutz; — der ſchöne Lenz des Lebens; 
eine Wolke, die über die Seele zieht; das ſtürmende Meer zur Ver: 
ſinnlichung der Stürme im Innern. Oft aber empfängt auch das 
Abgenützte durch einen Zuſatz, eine neue Wendung wieder Farbe 
und Friſche. | 


Nicht totenbleich iſt die Wange, ſondern marmormeiß mie 
> 3” 


36 II. Satilina 


der Tod. Oder das beliebte Bild von dem Schiffbrüchigen, der fich 
verzweifelt an die letzte Planke klammert, wird ſchön weitergeführt: 
Doch winkt ihm freundlich lächelnd eine Küſte 
mit grünen Hainen längs des Meeres Wogen, 
da wacht die Hoffnung wieder auf im Herzen; 
er ſtrebt dahin, den lichten Wäldern zu. 

Ein wahrer Fund iſt das Beiwort „licht“: beſonnter Laubwald, 
der ſich im Waſſer ſpiegelt — nach der Natur beobachtet und mit 
ſeinem hellen Grün ſymboliſch wirkend. Einer andern ebenſowenig 
urſprünglichen Vorſtellung verleiht auch das Epitheton erſt Bild⸗ 
kraft: Aurelia hat Blumen in Catilinas Herzen zu pflanzen geſucht; 
aber ihrem Wachstum gebricht der warme Frühling, ſeine Seele 
iſt ein ſchattenvoller Herbſttag. | 

Auffallend häufig, mindeſtens ein zwanzig Mal, wird das Licht 
in jeder Form, als Glut und Flamme, als Funke und Blitz, als 
Geſtirn und Himmelsröte zur Vergleichung gewählt. Feuer glüht 
in den Adern; die Blicke flammen; die Kampfluſt loht; der letzte 


Funke des Römergeiſtes ſoll entfacht werden; Sullas Name ſteht 


wie ein Blitz am Nachthimmel, nicht wie ein freundlicher Stern; 
Catilina nennt ſich ſelbſt ein Meteor, er will mit dem Schreckens⸗ 
glanz des Kometen aufſtrahlen über Rom; ſein Leben war Nacht, 
eine roſenfarbige Morgendämmerung iſt ſein Tod. Wiederum aber 


gibt Verwendung an rechter Stelle oder feine Durchführung dem 


von jugendlichem Übereifer zu ſehr abgenützten Mittel ſeine Wir⸗ 
kung zurück: 

Das Leben der Veſtalin in ihren Kloſtermauern iſt matt wie 
das letzte Aufleuchten der Lampe. — Entſetzt über Furias Saum⸗ 
ſeligkeit im Dienſte des Altars rufen die heiligen Jungfrauen: „Das 
Feuer erloſchen!“ „Hier in meinem Herzen flammt es noch!“ er⸗ 
widert die Haßerfüllte. — Aus der Situation ergeben ſich Catilinas 
Worte an die Allobroger im Angeſicht des in den letzten Sonnen⸗ 
ſtrahlen erglühenden Kapitols: auch um Rom flammte die Abend⸗ 
röte, und Nacht der Knechtſchaft hülle die Freiheit ein; doch an 
ſeinem Himmel ſolle bald eine Sonne aufgehen, vor deren Strahlen 


II. Catilina | 37 


jählings das Dunkel ſchwinden werde. — Ganz ungefucht, aus 
lebhaft bewegtem Gemüte, geſtaltet ſich ſpäter das Sehnen des 
Helden abermal zu einem Blitz und Flammen ſprühenden 
Gleichnis: 
5 Ha, könnt' ich hoch empor wie Ikarus 
beſchwingt durchs Blau des Aethers ſchweben, 
und lieh'n die hohen Götter dieſer Hand 
für einen Augenblick nur Rieſenkräfte, 


ich faßte kühn den Blitz auf ſeiner Bahn 
und ſchleudert' ihn herunter auf die Stadt, 
und wenn die hohen lichten Flammen ſtiegen 
und Roma ſänk' in brauner Reſte Staub, 

da rief' ich aus dem Grab zu neuem Leben 
den alten längſt entſchwundnen Römergeiſt. 


In der zweiten Ausgabe hat der Dichter, ohne an mehr als 
einigen Stellen den Sinn zu ändern, ſeinem erſten Werke eine 
glatte, glänzende Form verliehen, die dem Inhalt nicht recht an⸗ 
gemeſſen iſt. 

Er hätte uns lieber die naive urſprüngliche Faſſung mit den 
unabläſſig wiederkehrenden Beiwörtern hoch, ſtolz, wild, groß, 
mit den wuchernden Gedankenſtrichen und den ungezählten Ha! 
geben ſollen. Denn das Stück hat ja doch ganz andere Gebrechen 
und Mängel als die des Ausdrucks — Grundfehler, die durch eine 
vollendetere Formgebung nur mehr hervorgehoben werden. 


Der erſte Aufzug iſt lebendig und der reichſte an Handlung. 
Fünfmal wechſelt der Schauplatz. Vom flaminiſchen Weg, wo die 
vorbeiziehenden Geſandten der Allobroger Catilina aus mutloſen 
Gedanken zu neuen Hoffnungen und Plänen erwecken, werden wir 
in einen Säulengang der innern Stadt verſetzt unter die jungen 
römiſchen Taugenichtſe, die zu verbrecheriſcher Selbſthilfe rat: 
ſchlagend einen Anführer ſuchen. Die dritte Szene ſpielt im Veſta⸗ 
tempel: Catilina ſchleicht ſich ein zu einer nächtlichen Zuſammen⸗ 
kunft mit Furia. Warum ihn ſein Schützling Curius begleitet und 
hinter einer Säule verborgen alles mit anhört, wird nicht erklärt 


38 II. Catilina 


— es erklärt ſich aus der Unbeholfenheit des Anfängers. Curius 
muß von leidenſchaftlicher Liebe zu Furia erfaßt werden und noch 
in dieſem Akt die lebendig Begrabene aus der Gruft befreien. In 
der Veſtalin liebt Catilina eine wahlverwandte, nur heftigere, ge— 
waltſamere Natur. In beiden lebt derſelbe Haß gegen einengende 
Verhältniſſe, dasſelbe Sehnen nach Luft und Licht und Freiheit. 
Mit Klagen und Anklagen betritt ſie das Heiligtum: 


Verhaßte Hallen — Zeugen dieſer Schmerzen, 
Zeugen der Qual, zu der ich bin verdammt! 
Erloſchen iſt, was ich genährt im Herzen, 
mein Trachten und mein Hoffen. Mich durchflammt, 
mit eiſigen Schauern wechſelnd, Fieberwehen, 
heißer und heftiger als die Flamme dort. 


Ha, welch ein Schickſal! Was war mein Vergehen, 
das mich gefeſſelt hält an dieſen Ort, 
das mir geraubt der Jugend froh Ergetzen, 
im ſchönen Lenz des Lebens jede Luſt? 


Doch keine Träne ſoll mein Auge netzen, 
nur Haß und Rache lebt in dieſer Bruſt. 


Eh er ſcheidet, läßt Furia den Geliebten, den ſie nur unter 
dem Namen an, kennt, feierlich ihrem Todfeind Vernichtung 
ſchwören. Nach geleiſtetem Eide offenbart ſich, daß der Elende, 
der ihre junge Schweſter Silvia verführt und in den Tiber ge— 


trieben hat — er ſelbſt iſt, Catilina. Entſetzt eilt er von dannen, 


das heilige Feuer erliſcht, die eintretenden Prieſterinnen führen die 
Pflichtvergeſſene hinweg — zum Tode. Zwiſchen den düſtern Vor⸗ 
gang und ſeine Fortſetzung in der Grabkammer iſt geſchickt ein 
kontraſtierender Auftritt in Catilinas Hauſe eingeſchoben: die ſanfte 
Aurelia ſucht den verzweifelt heimgekehrten Gatten liebevoll zu 
tröſten und zur Flucht von Rom zu bewegen. Die Schlußfzene 
zeugt ebenſo von dichteriſcher Begabung wie von ſicherm Blick für 
das Bühnenhafte. Ein unterirdiſches Gewölbe, von ſchwachem 
Ampellicht ſpärlich erhellt; im Hintergrund eine große eiſerne 


II. Catilina | 39 


Türe; mit langen, ſchwarzen Gewändern bekleidet ſteht Furia in 
lauſchender Stellung. 


— Es dröhnet hohl. Es donnert wohl da oben — 

der ferne Lärm dringt bis zu mir herab — 

— doch in der Unterwelt hier iſt es ſtille! 

— Hal bin ich zu ewig matter Ruh verdammt? — 

Soll ich auch hier in wirren Labyrinthen 

nicht wandern — frei, wie ſtets mein Sinn geweſen? — — 


(Nach einer Pauſe.) 
Das war ein ſeltſam Leben; — ſeltſam Schickſal. 
Gleich dem Kometen kam es und verſchwand. 
Er fand mich! Wie gewalt'ge Zauberkraft — 
zog innre Sympathie uns zueinander; — 
Ich war die Rachegöttin, er mein Opfer; — — 
— doch folgt' die Strafe bald der Rächerin! 


(Pauſe.) 

Nun iſt es droben ſtill. Entfern' ich mich 
abwärts — allmählich — von des Lichtes Wohnung? 
Ha! wohl mir, wenn's ſo iſt, — wenn das Verweilen 
in dieſem Abgrund eine Flucht nur iſt 
ins dunkle Reich hinab auf Blitzes Schwingen, — 
wenn ich mich nähere ſchon dem wilden Styx! 
Da rollt die Woge bleiſchwer an das Ufer, 
da rudert Charon lautlos ſeinen Kahn. — 
— Bald bin ich dort! — da will ich ſtill mich ſetzen 
am Landungsplatze, — fragen jeden Geiſt, 
die flüchtigen Schatten, die vom Reich des Lebens 
mit leichtem Tritt ſich nah'n dem Land des Todes, — 
— will jeden fragen, wie ſich Catilina 
— gebare bei den Lebenden da droben, 
will fragen, wie er ſeinen Eid gehalten. 
Den Toten leucht' ich mit der Schwefelfackel 
bläulichem Lichte in die trüben Augen, — 
denn unter Tauſenden erkenn' ich Catilina. 
— Und wenn er endlich kommt, will ich ihm folgen; — 
— da machen beide wir die Überfahrt, 
betreten beide Proſerpinas Halle; — 
und auch als Schatten folg' ich ſeiner Spur; — 
wo Catilina iſt, muß Furia ſein. 


40 | II. Catilina 7 


(Pauſe.) 
Ha, ſtetig ſchwüler wird die Luft um mich 
und ſtetig ſchwerer jeder Atemzug; — 
ſo nah' ich mich den dunklen Sümpfen ſchon, 
wo ſtill der Unterwelten Ströme fließen. 


(Sie lauſcht, — man hört einen ſchwachen Lärm.) 
Ein dumpfer Schall? Das tönt wie Ruderſchlag. 
Der Toten Fährmann iſt es, der mich heim 
zu holen kommt, — doch hier, hier will ich warten. 


(Die eiſerne Türe im Hintergrunde wird leiſe geöffnet 
und Curius zeigt ſich, ihr winkend.) 
Charon, ſei mir gegrüßt! Biſt du bereit, 
mich einzuführen zu des Todes Hallen? — — — 
Hier will ich warten! — — 


Curius (flüſternd.) 
— — Still! und folg' mir nur. — — 


Hier hat nun die erwähnte Vorliebe für Feuer aller Art richtig 
den einzigen ſtörenden Flecken in dem gut durchgeführten Bilde 
verſchuldet: „auf Blitzes Schwingen“ paßt nicht zu ee 
abwärts“. 

Auf der Höhe des erſten Aufzugs e ſich, nach meinem 
Empfinden, die folgenden nicht zu erhalten. Die drei Szenen des 
zweiten, die uns in Catilinas Haus, in eine Schenke und wieder 
in Catilinas Garten führen, und der dritte, der ohne Szenen⸗ 
wechſel im Lager der Verſchworenen in Etrurien ſpielt, ſind viel 
ärmer an Handlung und, trotz mancher ſchönen Stellen, nicht 
reicher an Poeſie. Was immer Catilina unternimmt, wo immer er 
ſich befindet, ſtets taucht geſpenſtiſch die gerettete Furia auf und 
verwandelt und lenkt, voll brünſtigen Haſſes, alles ihm zum Un⸗ 
heil. Sie verſcheucht die- abergläubiſchen Allobroger, verführt den 
gänzlich betörten Curius zum ſchändlichſten Verrat an feinem Ver⸗ 
wandten und Wohltäter, und wie ſie ſtändig am Werk iſt, das Opfer 
ihrer Rache zu verderben, ebenſo unabläſſig müht ſich Aurelia, ihr 
Gegenſpiel, ihn ihren Einflüſterungen und Anſchlägen zu entziehen. 


II. Catilina 41 


Ungeachtet der Verſchiedenheit des Stoffes drängt ſich der Ge—⸗ 
danke an die Sage vom wilden Jäger auf, dem der gute und der 
böſe Engel abwechſelnd Rat einſprechen. Und ſymboliſch, gleich den 
Geſtalten der Sage, will der Dichter die beiden Frauen — gegen 
das Ende zu mehr und mehr — als das verkörperte Gute und 
das verkörperte Böſe in Catilinas Natur betrachtet wiſſen. Im 
dritten Akt ſieht Catilina im Traum die beiden um ſein Schickſal 
ſpielen. Stolz und aufrecht ſteht die eine, die andere beugt ſich 
über das geheimnisvolle Spielbrett. Sie wechſeln und ſchieben 
die Steine von Feld zu Feld — mit eins iſt das Spiel gewonnen 
und verloren, und „die Frauengeſtalt mit dem lichten Lächeln“ 
verſinkt in die Erde. 

Das Beſtreben, ſeine Idee recht eindringlich zu verſinnlichen, 
dem Zuſchauer über die Bedeutung Furias und Aurelias keinen 
Zweifel zu laſſen, hat Brynjolf Bjarme beſtimmt, ein Übriges zu 
tun und zu rein verſtandesmäßiger Allegorie ſeine Zuflucht zu 
nehmen. Bis zum eigentlichen Ende des Dramas, dem Abgang 
Catilinas und der Verſchworenen, ſind ſie ſymboliſche Geſtalten, 
d. h. als wirklich denkbare und aus menſchlichen Beweggründen 
handelnde Perſonen, in deren Worten und Handlungen wir aber 
unwillkürlich eine tiefere Bedeutung durchfühlen. Die Furia des 
zweiten Aufzugs und der erſten Hälfte des dritten iſt trotz ihres 
Namens noch keine Allegorie. Alles, was ſie tut, läßt ſich aus 
ihrem Racheplan herleiten. Sie ſucht Catilina im Zweifel darüber 
zu erhalten, ob ſie ein lebendes Weſen ſei oder ein Geſpenſt, ſie 
nennt ſich ſeinen „Genius“ — in der zweiten Ausgabe ſeinen 
Schatten — der ihm folgen müſſe uſw. Erſt mit dem Wortkampf 
Furias und Aurelias ſetzt die Allegorie ein, und von da an bis zum 
Schluß iſt die zweite Hälfte des dritten Aufzugs nur ein Nachſpiel, 
das den in wirklicher Handlung ſchon entſchiedenen Sieg Furias 
über Aurelia noch einmal in abſtrakt⸗allegoriſcher Weiſe wiedergibt 
und dann erſt mit einer verſöhnenden Wendung ſchließt. Zwar 
ließe ſich Catilinas Tat — die Ermordung Aureliens auf Furias 
Geheiß — zur Not aus einer plötzlichen Sinnesverwirrung er— 


42 II. Catilina 


klären; aber wäre auch dieſe Begründung ſtärker hervorgehoben, 
als ſie es iſt, wir würden doch immer das Abſichtliche des Vor— 
gangs empfinden. Daß Catilina dann ſelbſt auf ſein Begehren 
von Furia erdolcht wird, um in ſpitzfindiger Weiſe die Wahr⸗ 
ſagung Sullas zu bewähren: er werde von der eigenen Hand und 
doch von einer fremden fallen, wirkt noch mehr als Konſtruktion 
und Klügelei. Solche „Konſequenz“ rühmen, heißt unverſtändig 
loben. Der Hang, das Problem wie eine mathematiſche Aufgabe 
zu löſen, und die Neigung, das anſchaulich Gegebene allegoriſch 
zu kommentieren, leiten und verleiten den Dichter noch in manchem 
Werke. Eines der bedeutendſten, ‚Brand‘, läuft in ganz ähnlicher 
Weiſe in rein allegoriſche Vorgänge aus. 

Schon in ſeinem Erſtling zeigt ſich: es iſt nicht die dramatiſch 
oder theatraliſch brauchbare Fabel, was Henrik Ibſen zur Be⸗ 
arbeitung lockt, noch reizen ihn dramatiſch oder theatraliſch dank⸗ 
bare Charaktere: das Drama iſt ihm von Anbeginn nur die möglichſt 
eindrucksvolle Verkörperung der Ideen, mit denen er ſich von 
früher Jugend auf einſam grübelnd beſchäftigt. Aber nicht nur, 
daß er ſchon im „Catilina! von der Idee ausgeht, macht dem For⸗ 
ſcher die Jugendarbeit wichtig und belehrend: die darin niedergelegte 
Idee ſelbſt iſt das Grundthema der meiſten und berühmteſten Werke 
eines Lebens geblieben, und wo ſie nicht das Grundthema bildet, 
lingt ſie als Geleitmotiv bald lauter, bald leiſer immer wieder 
mit an. Und auch damit wäre der vorbildliche Charakter des 
erſten Dramas noch nicht völlig angegeben. In den beiden Frauen⸗ 
geſtalten, in ihrem Verhältnis zueinander wie zum Helden, liegt 
die ganze Doppelreihe von Frauencharakteren, die ganze Reihe von 
Liebes⸗ und Eheproblemen, die er uns ſpäter mit ſtetig wachſender 
Kunſt vorführt, ſchon im Keime beſchloſſen. Es ließe ſich in der 
Weltliteratur kaum noch ein Erſtlingswerk namhaft machen, das die 
ganze Lebensaufgabe und Lebensarbeit ſeines Urhebers, wie ſchemen⸗ 
haft auch immer, doch ſo unverkennbar und ſo vollſtändig vorbildet. 

„Catilina“ wurde bei feinem Erſcheinen in der einzigen damals 
beſtehenden literariſchen Zeitſchrift Norwegens, in Chr. Langes 


II. Catilina | 43 


Norsk Tidsskrift, beſprochen. Der zeitweilige Herausgeber, Pro— 
feſſor Monrad, fügte der Beſprechung eine Nachſchrift an, deren 
Ibſen noch fünfundzwanzig Jahre ſpäter dankbar erwähnt. Er 
urteilte, daß der Hauptgedanke der Dichtung klar und ſchön ſei, 
wenn auch die Ausführung im einzelnen an mancherlei Unvoll⸗ 
kommenheiten leide, Nachläſſigkeiten in der Verſifikation, Breite 
und Rhetorik uſw. — lauter Anzeichen einer ungeübten Feder. 
„Und gerade deshalb“, heißt es weiter, „finde ich, daß Brynjolf 
Bjarme etwas verſpricht — im Gegenſatz zu dem poetiſchen Pöbel, 
beſonders denen, die für das Theater zu ſchreiben anfangen, die 
im allgemeinen eine gewiſſe Leichtigkeit und Geſchliffenheit des 
Ausdrucks beſitzen und ein Teil guter Einfälle haben, aber nicht 
imſtande ſind, einen einzigen ganzen oder großartigen Gedanken 
zu faſſen. Es iſt beſſer, daß die Entwicklung von innen beginne, 
von der Idee; wo die ſich kräftig rührt, findet ſie ſchon zuletzt 
ihre Form.“ 

Die Prophezeiung Monrads wird durch die ſpäteren Werke 
Ibſens erfüllt. Hier bewährt ſich der alte Satz: Genie iſt eine 
lange Geduld, der die Erfahrung ausſpricht, daß es zweierlei 
Genie gibt und von je gegeben hat: ſeltener die Gabe als Götter⸗ 
geſchenk, olympiſch —apolliniſch, häufiger die Gabe als Aufgabe, 
irdiſch —herakleiſch. 


III 


Das Hünengrab. Die Herrin von Öftrot. 
Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 


Sp aller Schwächen und Fehler ſtempeln Urſprünglichkeit und 
Selbſtändigkeit des jugendlichen Dichters feinen Catilina“ zu 
einem bedeutſamen Werke. Weder einheimiſche noch fremde Klaſ— 
ſiker wurden ihm zum verführenden Vorbild. Zu mächtig trieben 
und drängten die eignen Ideen in ihm nach Außerung, und ohne 
Zaudern goß er Gedanken und Empfindungen in eine Form, ſo 
gut oder ſo ſchlecht er ſie im Augenblick zu ſeinem Zwecke zu bilden 
vermochte. Das abgeſchloſſene Leben in dem Krähwinkel Grimſtad, 
wo es an jedem literariſchen Umgang und Beirat gebrach, be⸗ 
wahrte ihn auch vor perſönlicher Einwirkung und zwang ihn, ſich 
ſelbſt zu helfen und ſich ganz ſo zu geben, wie er war. Dieſe 
vielverſprechende Selbſtändigkeit verſchwand, als er in die Haupt⸗ 
ſtadt überſiedelte. Die ſchlimmen Erfahrungen, die er mit dem erſten 
Verſuche machte, der Einfluß literariſcher Studien und der Um⸗ 
gang mit älteren, gebildeteren Genoſſen mußten ſein Selbſtver⸗ 
trauen ſtören und ihn zur Nachahmung allgemein anerkannter 
und geſchätzter Werke bewegen. 

Im März 1850 verließ der angehende Student Grimſtad und 
ging nach Chriſtiania, um ſo bald als möglich ins Examen „zu 
ſteigen“ — ga op, wie der landesübliche Ausdruck lautet. Wer 
damals ſchnell nach Bedürfnis zugehobelt ſein wollte, begab ſich 
in die Vorbereitungskurſe des wunderlichen, von ſeinen Schülern 
viel geprieſenen Heltberg. In deſſen „Studentenfabrik“ waren 
Aasmund Olafsſon Vinje und Frithjof Foß — beide nachmals 
Schriftſteller von Namen und Ruf — Ibſens Schulkameraden; 
der ſiebzehnjährige Björnſon, den er wohl gelegentlich traf, be— 
ſuchte die Anſtalt erſt ſpäter. Seines vorgerückten Alters und 
ſeiner Armut wegen beſchränkte er die Vorbereitung auf das 
äußerſt Notwendige und ſtellte ſich bereits im Herbſt nicht eben 


III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot | 45 


mit dem beiten Erfolg der „peinlichen Frage“. Es wurden ihm 
in zwei Fächern Nachprüfungen auferlegt, im Griechiſchen und 
in der Arithmetik; er ließ es aber beim erſten Anlauf bewenden, 
ſchob die Wiſſenſchaften zur Seite und widmete ſich hinfort als 
„Student“ Ibſen ausſchließlich einer literariſchen Wirkſamkeit. 
Noch während der überſtürzten Vorbereitungen zum Examen 
hatte er — in den Pfingſtferien — Zeit gefunden, ein einaktiges 
Drama ‚Kjiempehöjen‘ (der Kämpenhügel, das Hünengrab) zu 
vollenden, das ein paar Wochen nach dem Examen zum erſten 
Male im Chriſtianiatheater aufgeführt und binnen kurzer Zeit zwei— 
mal wiederholt wurde. Das hieß unter den Verhältniſſen damals 
einen Erfolg errungen haben. Die Kritik verwies den jungen 
Dichter nicht mehr ſpöttiſch auf Weſſels berühmte Parodie ‚Liebe 
ohne Strümpfe‘, wie beim Erſcheinen Catilinas; denn jetzt hatte er 
nichts Neues, nichts Selbſtändiges verſucht, ſondern war, wie ſich's 
geziemt, bei einem längſt anerkannten Meiſter in die Schule ge⸗ 
gangen. Stoff und Stil ſind Oehlenſchlaeger entlehnt. 
Irgendwo im Süden — nach der erſten Faſſung an der Küſte 
der Normandie, nach der zweiten auf einer kleinen Inſel bei 
Sizilien — iſt einſt auf einem Wikingerzug ein ſchwer verletzter 
Krieger — Audun oder Roderik — von ſeinen Mannen zurück⸗ 
gelaſſen worden. Des Burgherrn Tochter Blanka, die einzige, 
die dem Schwert der Seeräuber entgangen iſt, hat den Alten, 
einen vermeintlichen Kauffahrer, durch liebevolle Pflege dem Tod 
entriſſen. Einſam wohnen ſie ſeitdem beide auf der Inſel. 
Roderik, von der treuen Pflegerin zum Chriſtentum bekehrt, hat 
Schwert und Rüſtung in die Erde geſenkt, einen Hügel darüber 
aufgeworfen und der alſo begrabenen Vergangenheit den Bautaſtein 
errichtet; in Blanka aber iſt gleichzeitig durch Roderiks Er: 
zählungen von ſeiner Heimat eine ſchwärmeriſche Liebe für den 
Norden und für nordiſches Leben erweckt worden. Da landet 
eines Tages Gandalf der Seekönig, an den Bewohnern der Inſel 
Rache zu nehmen für den Tod des Vaters. Er erſcheint Blanka 
als der Held ihrer Sehnſucht, und auch ihn hindert aufkeimende 


46 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


Neigung, an der lieblichen Jungfrau und dem Alten die Blutrache 
zu vollſtrecken. Um ſich dem geſchworenen Eide zu entziehen und 
Blanka zu retten, beſchließt er, ſich ſelbſt zu opfern. Auf ſeinem 
Drachen ſoll ein Scheiterhaufen errichtet werden; den will er be— 
ſteigen und allein auf dem brennenden Schiff ins Meer hinaus⸗ 
fahren. Da gibt ſich Roderik als Gandalfs Vater zu erkennen. 
Blanka zieht mit Gandalf gen Norden, wo ſie das Chriſtentum 
einzuführen hofft; der Alte aber bleibt als Einſiedler auf der Inſel 
zurück und mit ihm Gandalfs junger Skalde, der die Harfe am 
Fuße des Kreuzes niederlegt, nachdem er Asatroens drapa — 
das Todeslied des Aſaglaubens — geſungen hat. 

Der alte Wiking, der ſeine Tage als Einſiedler im Süden 
beſchließt, iſt aus zwei Dramen Oehlenſchlaegers bekannt, und 
Blanka erſcheint als die wiedererſtandene Maria aus dem einen 
dieſer beiden Dramen. Aber in der Auffaſſung der Wikingerzeit 
und im Grundgedanken hat ſich die Nachahmung doch nicht ſo 
getreu an das Vorbild angeſchloſſen. Brynjolf Bjarmes Wikinger 
fand die Kritik damals im Vergleich mit Oehlenſchlaegers geleckten 
und gebildeten Barbaren allzu roh und wild: uns kündigt dieſe 
Abweichung von der Vorlage ſchon das Drama Nordiſche Heer: 
fahrt‘ an. Während Oehlenſchlaeger griechiſcher Geſittung nordiſche 
Naturkraft entgegenſetzt, verſucht ſein Lehrling, ſich des unverſöhn⸗ 
baren Gegenſatzes zwiſchen Chriſtentum und Heidentum zu bemäch⸗ 
tigen. Ibſen greift alſo hier zum erſten Male nach einem Problem, 
das er ſpäter, nach neunjährigem Ringen mit dem Stoff, in 
„Kaiſer und Galiläer“ — und auch dann nicht abſchließend — be⸗ 
handelt, das vielmehr bis in die letzte Zeit, nur in andrer Form: 
auf einen innern Schauplatz, ins Gemüt der handelnden Perfonen . 
verlegt, als Gegenſatz und Widerſtreit zwiſchen dem eingeborenen 
bejahenden Willen und dem anerzogenen chriſtlichen Geiſt der Ver⸗ 
neinung, in ſeinen modernen Dramen immer aufs neue wiederkehrt. 

Hier, wo die Perſonen nur Theaterfiguren ſind, mit denen 
ſich kein weltgeſchichtlicher Gegenſatz ausbilden läßt, wird der Vor⸗ 
wurf nur ganz obenhin behandelt. So benutzt auch der junge 


rn 
ef ERBETEN — 2 ; 


Das Feft auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 47 


Dichter unbefangen die Gelegenheit, ſelbſt ad spectatores zu 
ſprechen. Bezeichnend ſind die zu verſtärkter Wirkung gereimten 
Schlußworte Blankas: 


Von hinnen jetzt! gen Norden dreht den Bug! 
Nordwärts durch Sturm und Schaum geht unſer Zug. 
Bald graut der Morgen überm Gletſcherjoch, 

Bald kennt den Seekrieg nur die Sage noch! 

Dann ſitzt der Wiking gern auf heimiſcher Erd', 
Vorbei die Zeit, da er mit blankem Schwert 

Und Flammen dräuend zog von Strand zu Strand. 
Dem Kriegsgott ſinkt der Hammer aus der Hand, 
Der Norden ſelber wird zum Kämpengrab. 

Doch denkt des Worts, das uns Allvater gab: 
Deckt Moos und Blumenſchmuck des Hügels Seiten, 
Erſteht des Helden Geiſt, aufs neu' zu ſtreiten; 

So ſteigt aus ſeinem Grab der Norden hehr 

Zum Geiſterſtreit auf des Gedankens Meer! 


Ibſen ſelbſt hat wie kein anderer die Weisſagung beſtätigen 
helfen; dennoch denkt man bei der tönenden Apoſtrophe mit une 
willkürlichem Lächeln an die bitter ſarkaſtiſchen Stellen im ‚Brand‘, 
wo nordiſche Großſprecherei und billiger Wortpatriotismus fcho= 
nungslos gegeißelt werden. 

Vom Neujahr 1851 an gaben die gleichſttebenden Freunde 
Botten⸗Hanſen, Ibſen und Vinje zuſammen ein Wochenblatt her⸗ 
aus, das nach Art und Beiſpiel des damals ſo berühmten däniſchen 
„Korſaren“ zugleich „Witzblatt und literariſches Oppoſitionsorgan“ 
ſein ſollte. Ibſen ſteuerte lyriſche und ſchildernde Gedichte bei, 
außerdem eine politiſche Satire in dramatiſcher Form: „Norma 
oder die Liebe eines Politikers‘. Das Blatt wollte ſich keiner 
Partei, keiner Schule oder Sekte anſchließen, es war ſchlechthin 
radikal, den freiſinnigen Ideen des Jahres achtundvierzig ent— 
ſprungen, vom Geiſte Heines, Börnes und des jungen Deutſchlands 
angeregt. Mit kräftigen Worten verkündet Vinje, daß die Wahr⸗ 
heit nicht etwas ein für allemal Gegebenes iſt und fix und fertig 
zu haben: ſie iſt etwas Relatives, Fließendes, das man nicht mit 
groben Fäuſten nehmen und in die Taſche ſtecken kann. Wir ſehen, 


48 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Deftrot 


welche Anſchauungen Ibſen in dieſem Freundeskreiſe gewann oder 


in ſich befeſtigte, wo man ſchon die Gedanken ausſprach, die den 


am meiſten bekämpften ſeiner ſpäteren Werke zum Grunde liegen. 
Populär konnte ein ſolches Blatt nicht werden, dazu nahmen die 
Verbündeten ihre Aufgabe zu ernſt und gründlich. Es erlebte ſein 
viertes Quartal nicht. 

Weder das Honorar für „Das Hünengrab‘, noch der Anteil 
am Ertrag des ‚Andhrimner‘, wie das Wochenblatt nach dem Koch 
in Walhall getauft worden war, hätte für den Lebensunterhalt 
des jungen Schriftſtellers hingereicht, wenn nicht Schulerud, der 
opferwillige „Verleger“ des Catilina, ſein geringes Monatsgeld 
getreulich mit ihm geteilt hätte. So manches Mal gingen die 


beiden vorſichtig zur Mittagszeit aus, um die Hausleute nicht merken 


zu laſſen, daß ſie ſich keine Mahlzeit gönnen konnten, und ſättig⸗ 
ten ſich nach ihrer Rückkehr an Brot und Kaffee. Aber Freundſchaft 
und Hoffnung erhielt ſie zufrieden und vergnügt, ſo daß Botten⸗ 
Hanſen, der faſt täglich mit ihnen verkehrte, ihr Geheimnis erſt 
viel ſpäter entdeckte. Indeſſen hatte Ibſen in den anderthalb 
Jahren als dramatiſcher und lyriſcher Dichter, politiſcher Satiriker, 
Kritiker und Redakteur wenigſtens einige Aufmerkſamkeit auf ſich 
gelenkt und erhielt nun, im November 1851, einen Ruf als Theater⸗ 
dichter und „sceneinstructör“ an das norwegiſche Nationaltheater 
zu Bergen, das der berühmte Geiger Ole Bull kurz vorher tat⸗ 
ſächlich aus dem Boden geſtampft hatte. Im folgenden Jahre 
machte er auf Koſten des Theaters eine Studienreiſe nach Kopen⸗ 
hagen und Dresden, worauf er nach ſeiner Zurückkunft auf fünf 
Jahre verpflichtet wurde. Die techniſche Vollendung, die ſich an 
ſeinen reifen Werken zeigt, iſt der früh begonnenen und faſt zehn 
Jahre dauernden Tätigkeit an norwegiſchen Bühnen zu verdanken. 
Wer als regieführender Dramaturg wohl hundert Stücke in Szene 
geſetzt hat, Stücke jeder Gattung, einheimiſche und ausländiſche, 
eigene und fremde, der hat die einzige Schule durchgemacht, in 
der ſich, bei großer dramatiſcher Begabung, vollendete Meiſter⸗ 


ſchaft erringen läßt. 


dyie "2 


SSS a BR 5 5 Mn bez 
— N ur > > ar m 


a ar De nn 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 49 


Wie das Theater in Bergen der nationalen Begeiſterung jener 
Jahre entſprungen war, ſo wollte man vor allem das norwegiſche 
Volk und ſeine Vorfahren romantisch idealiſiert und ſtiliſiert auf 
der Bühne ſehen. Ibſen hat als „Theaterdichter“ der nationalen 
Romantik reichlichen Zoll entrichtet. Alljährlich zum Stiftungs⸗ 
tag (dem 2. Januar) wurde ein Werk von ihm aufgeführt, wozu 
norwegiſche Gegenwart und Vergangenheit den Stoff geboten 
hatte: im Jahre 1853 ‚Die Johannisnacht“, 1854 „Das Hünen⸗ 
grab“ in neuer Bearbeitung, 1855 ‚Die Herrin von Oſtrot' 
(eigentlich: Frau Inger auf Oſtrot), 1856 ‚Das Feſt auf Sol⸗ 
baug‘ und 1857 ‚Dlaf Liljekrans“. Drei von den vier in Bergen 


vollendeten Bühnendichtungen gehören auch der Auffaſſung und 


Behandlung des Stoffes nach der romantiſchen Richtung an. Da⸗ 
gegen weiſt das geſchichtliche Schauſpiel „Die Herrin von Oſtrot' 
mitten unter den romantiſchen Erzeugniſſen entſtanden, doch anders 
geartet, über Zeit, Geſchmack und Stimmung hinweg auf eine künf⸗ 
tige Entwicklung hin. So wird uns in jedem der deutlich ge— 
ſchiedenen Abſchnitte dieſes Dichterlebens, noch vor dem Abſchluß, 
ein Vorläufer des Kommenden begegnen. 

Nur „Die Herrin von Oſtrot“ und ‚Das Feſt auf Solhaug‘ 
wurden damals gedruckt und ſpäter verbeſſert wieder aufgelegt. 
Die beiden anderen Schauſpiele „Johannisnacht“ und „Olaf Lilje⸗ 
rans“, die auch auf den Brettern wenig Glück hatten, ſind, in der 
3 wenigſtens, bis vor kurzem Manuſfkript geblieben. 


Die erklärende Schlußbemerkung des Verfaſſers zu „Catilina“, 
daß er ſich der Geſchichte vornehmlich zur Einkleidung ſeiner 
Idee bediene, gilt in noch höherem Grade von dem zweiten Vers 
ſuch im hiſtoriſchen Drama. ‚Fru Inger til Österaad‘ (in der 
zweiten Ausgabe Östrät), fünf Akte in Proſa, kann nur inſofern 
ein geſchichtliches Schauſpiel genannt werden, als die Namen der 
Perſonen und ihr Lebenskreis der norwegiſchen Geſchichte, und 
zwar der Zeit der tiefſten Erniedrigung des Landes unter däniſcher 


Gewaltherrſchaft, entnommen ſind. Weder war der ziemlich un— 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 4 


50 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


bedeutende Knut Alfſon, deſſen Name das Stück eröffnet, „Nor: 
wegens letzter Ritter“, noch die geſchichtliche Inger Ottisdatter die 
hochgeſinnte, vaterlandliebende, zur tragiſchen Heldin geeignete Frau, 
die berufene Verteidigerin eines geknechteten Volkes. Ihr Gewiſſen 
wurde durch die Verheiratung ihrer Töchter mit däniſchen Adeligen 
keineswegs belaſtet, ihr Beſtreben ging nur auf kluge Vermehrung 
des Familiengutes, eine politiſche Rolle zu ſpielen lag ihr ganz 
fern. Auch Nils Lykke war nicht der gewiſſenloſe Mädchenjäger 
des Stückes, Lucia — und nach ihr Eline — nicht ſein An, 
der „Dalejunker“ nicht Sten Stures Sohn. 

Den „Dalejunker“, den die hiſtoriſche Herrin von Oſtrot mit 
einer ihrer Töchter verlobte, weil ſie ihn für echt hielt, macht 
der Dichter zu ihrem natürlichen Sohne von Sten Sture und ge⸗ 
winnt ſo ſeinen eigentlichen Vorwurf: den Widerſtreit zwiſchen dem 
innern Beruf der Heldin und ihrer Mutterliebe. Abermal ſind es 
menſchliche „Bande“, welche „die edlen Seelenkräfte“ niederhalten, 
jedoch die Lehre vom Beruf wird ſtrenger und erhabener gefaßt: 
Sendlinge des Himmels ſind die „Berufenen“, alle Kräfte und 
Gaben ſind ihnen zur Erfüllung der Aufgabe verliehen, zu der die 
Stimme im Herzen unabläſſig mahnt, — jede verlockende Leiden⸗ 
ſchaft wird zum Verbrechen. Dieſer Grundgedanke, den Schillers 
Jungfrau in den Worten ausſpricht: 

Weh mir, wenn ich das Rachſchwert meines Gottes 

In Händen führte und im eitlen Herzen 

Die Neigung trüge zu dem irdiſchen Mann! 
tritt im urſprünglichen Text (von 1857) ſtärker hervor, als in der 
zweiten, ſtiliſtiſch vielfach umgearbeiteten Ausgabe. „Weh, weh 
dem,“ heißt es dort, „der zu großem berufen iſt im Leben und 
nicht die Stärke hat, es auszuführen“ — und: „Ich empfing 
Reichtum und Klugheit und einen berühmten Namen als Wiegen⸗ 
gabe, auf daß ich Gottes Bannerträger werden ſollte auf Erden; 
aber ich ging meine eigenen Wege ...“ und weiter: „Es heißt, 
das Weib ſoll Vater und Mutter verlaſſen und dem Manne folgen; 
aber die dazu erkoren iſt, des Himmels Werkzeug zu ſein, darf 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 51 


nichts eignen, was ihr lieb iſt, weder Heim noch Kind, weder 
Freund noch Sippe, und darin, ſeht Ihr, darin liegt der Fluch, zu 
einer herrlichen Tat erkoren zu ſein.“ 

Mit dem ſicheren Gefühl, daß Gott ſelbſt ſein Zeichen auf 
ihre Stirne gedrückt, ſie allein zur Retterin Norwegens berufen 
habe, iſt Inger Ottisdatter, fünfzehn Jahre alt, an Knut Alfſons 
Bahre getreten und hat feierlich den Schwur abgelegt, „allen 
voran für Land und Reich zu ſtreiten“. Voll Vertrauen und Zu⸗ 
verſicht ſieht das Volk zu ihr auf, den Mahnruf zur Erhebung 
erwartend, aber Jahr um Jahr ſchließt ſie ſich tatenlos auf Oſtrot 
ein. Ihr Sohn, die Frucht heimlicher, der hohen Pflicht ver⸗ 
geſſener Liebe, den als zartes Kind Sten Sture mit ſich in ſein 
Vaterland hinweggeführt hat, wird dort von einer ſchwediſchen 
Partei, die gegen König Guſtav, den Bundesgenoſſen der Dänen, 
verſchworen iſt, als Pfand norwegiſcher Hilfe zurückgehalten. Noch 
kämpfen die Aufſtändiſchen mit wenig Glück, und Frau Inger 
fühlt nur als Mutter, lebt nur in der Furcht um den Sohn, daß 
ihm das Schickſal der Beſiegten bereitet werde, ſchmiedet nur Pläne, 
ihn zurückzugewinnen und aus allen Wirrniſſen glücklich zu erretten. 
Um ſeinetwillen hat ſie die Ehe mit dem ungeliebten, mächtigen 
Reichshofmeiſter Gyldenlöve, dem Dänen, geſchloſſen, um feinet- 
willen opfert ſie, Witwe geworden, die Töchter aus dieſer Ehe den 
verhaßten Zwingherren des Landes, opfert ſie die Freiheit ihres 
Volkes, den Ruhm und den Frieden ihres Lebens. Aber was zu ver⸗ 
meiden ſie ihr ganzes Leben ringt und kämpft, das führt ſie endlich 
ſelbſt herbei. Als ihr die Verhältniſſe den Sohn unerkannt ins 
Haus ſenden, läßt ſie ihn ermorden in der Meinung, ſein Leben zu 
ſichern und zugleich ſeinen Nebenbuhler um den ſchwediſchen Thron 
aus dem Wege zu räumen. | 

Eine echt dramatische Fabel! — und „die Fabel ift es, die 
den Dichter vornehmlich zum Dichter macht“. Nicht ſo einfach 
und ſelbſtändig aber, wie es die Fabel ermöglicht hätte, wurde 
die Aufgabe von dem jugendlich experimentierenden Dramaturgen 
ausgeführt. Wohl beſtätigte ihn H. Hettners Schrift über das 

4 * 


52 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


moderne Drama, die er in Deutſchland hatte kennen lernen, in der 
Überzeugung, daß das hiſtoriſche Drama „pſychologiſche Charakter 
tragödie“ ſein müſſe; aber zugleich verlockte ihn die damals viel 
bewunderte Geſchicklichkeit Seribes, kunſtvolle Knoten zu ſchlingen 
und zu löſen, ſich ebenfalls an einem Intrigenſtück zu verſuchen. 
Die Schachzüge einer klugen Frau und eines ſchlauen Diplomaten, 
wie der Herzogin von Marlborough und Bolingbrokes, verfolgen 
wir freien Geiſtes in ungeſtörtem Behagen; das bitter ernſte, end⸗ 
lich verzweifelte Spiel der Herrin von Oſtrot mit dem gewiſſen⸗ 
loſen däniſchen Höfling Nils Lykke kann nur in eine peinliche, 
quälende Spannung verſetzen. Überdies begeht Ibſen den Fehler, 
bis zum Ende des dritten Aufzugs den Einſatz nur mit halben, 
unverſtändlichen Worten anzudeuten. Erſt dann offenbart ſich, 
daß Frau Inger einen Sohn hat, daß ſein, alſo auch der Mutter 
Los auf dem Spiele ſteht. So wird die tragiſche Wirkung, die der 
ſchlichten Durchführung ſicher geweſen wäre, außer durch die übel 
angebrachten tricks der Perſonen im Stücke, auch durch die 
ſchlimmeren des Dichters gefährdet. Er ſelbſt ſcheint in dieſem 
Geheimtun am unrechten Orte viel ſpäter noch keinen Fehler ge 
ſehen zu haben. Wenigſtens hat er nach zwanzig Jahren in der 
„verbeſſerten“ Ausgabe einige Stellen des zweiten Aktes, die deut⸗ 
licher auf den Sohn hinweiſen, verwiſcht oder geſtrichen. 

Den däniſchen Sendling Nils Lykke bloß die Rolle eines 
politiſchen Ränkeſchmiedes ſpielen zu laſſen, verbot die Anlage des 
Dramas, denn um einer Geſtalt, wie Frau Inger wenigſtens ges 
dacht und geplant war, die Wage zu halten, mußte dem Gegen⸗ 
ſpieler gleichſam mehr Subſtanz verliehen werden. Der hiſtoriſche 
Nils Lykke fand ein tragiſches Ende. Zuerſt mit Frau Ingers 
Tochter Eline vermählt, faßte er nach deren Tod eine leidenſchaft⸗ 
liche Liebe zu ihrer Schweſter Lucia. Indes nach den moraliſchen 
Begriffen der Zeit galt eine ſolche Verbindung für Blutſchande und 
„Ketzerei“, und als das Zuſammenleben der beiden nicht ohne 
Folgen blieb, wurde der Unglückliche eingekerkert und endlich auf 
erzbiſchöflichen Befehl im Gefängnis elend erſtickt. Ibſen hat nur 


Das Feft auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 53 


das Verhältnis zu den zwei Schweſtern beibehalten und nach einem 
früher benutzten Schema geſtaltet. Die Zeitfolge ändernd, teilt er 
Lucien das Los der jungen Silvia im „Catilina“ zu, und ihr Ver⸗ 
derber Nils Lykke gewinnt die Liebe der argloſen Eline, wie Cati⸗ 
lina die Furias. Aber Eline verwandelt ſich nicht in eine Nemeſis, 
ſie geht gleich der Schweſter zugrunde und mehrt das Gewicht der 
Schuld auf dem Haupte der Mutter, die ſich ihrer, den Namen des 
Verführers verſchweigend, zur Anlockung und Beſtrafung ihres 
Todfeindes hat bedienen wollen. Mit der Haupthandlung ſtehen 
die Szenen zwiſchen Nils Lykke und Eline noch außerdem in einem 
innigeren Zuſammenhang, als bisher beachtet worden. Frau 
Inger kann im Drama nur erzählen, wie fie nach ſieben⸗ 
jährigem getreuem Feſthalten am beſchworenen „Beruf“ endlich 
doch von der Liebe überwältigt worden iſt. Miterleben ſollen 
wir die Vorgeſchichte der Mutter, wenn das ſtolze, tapfere, 
von Vaterlandsliebe glühende Herz Elinens wehrlos der Leiden- 
ſchaft erliegt. 

Der gewählten Kataſtrophe: „die Mutter tötet ihren uner⸗ 
kannten Sohn“ wird in der ariſtoteliſchen Dichtkunſt ein beträcht⸗ 


licher Grad tragiſcher Wirkſamkeit zugeſchrieben. Hier ſcheidet ſich 


unſer Empfinden und Urteil von dem der ſchickſalsgläubigen Grie⸗ 
chen: unheilvolle Verwechslungen haben die Romantiker, hat ſelbſt 
Schillers ‚Braut von Meffina‘ auf unſerer Bühne nicht heimiſch 
machen können. In der „Herrin von Oſtrot“ iſt die Hinneigung 
zur Schickſalstragödie auf das glücklichſte vermieden. Frau Inger 
zeigt ſich gegen das Ende hin nicht mehr einzig und allein von 
Mutterliebe beherrſcht — das Wort „Königsmutter“, das Nils 
Lykke in ſchlauer Berechnung hat fallen laſſen, findet eine Stätte 
bei ihr. Und der ehrgeizige Gedanke gewinnt nach geſchehener Tat 
eine ſchreckliche Macht über die vom Gewiſſen aufgeregten, ver— 
wirrten Sinne; der Totenpſalm tönt ihr wie die Krönungshymne, 
dem Leichenzug des erdolchten Sohnes blickt ſie erwartungsvoll als 
ſeinem Krönungszug entgegen. „Wer ſiegt, Gott oder ich?“ ruft 
ſie triumphierend in halbem Wahnwitz und erkennt gleich darauf, 


54 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


wen ſie gemordet, bricht zuſammen unter der Fügung nicht des 
blinden Zufalls, ſondern der ſtrafenden Gerechtigkeit. 

Geſchrieben im Winter 1854, gibt das Werk, trotz der ge⸗ 
rügten Schwächen und Mängel, Zeugnis von dem Fortſchritt, be⸗ 
ſonders im Techniſchen, den der Verfaſſer des Catilina“ binnen 
weniger Jahre gemacht hatte. Geſchickt, wie die anfängliche Ex⸗ 
poſition der Verhältniſſe auf Oſtrot und im Lande, iſt auch weiter⸗ 
hin die gelegentliche Darlegung der verwickelten politiſchen Zuſtände 
in den drei nordiſchen Reichen. Die meiſt gewandte Szenenführung 
gemahnt nicht mehr an das Nacheinander des erſten Werkes. 
Weniger zu loben iſt der ſchwerfällige und weitſchweifige Dialog, 
durch den die Kraft und Lebendigkeit der Charaktere leidet; auch 
in den Monologen mutet manches zu geſchraubt oder zu getragen, 
mancher Übergang altmodiſch an. Vorzüglich wird die Stimmung 
feſtgehalten. Sein Drama „Catilina“, meint Ibſen, gehe wohl 
deshalb bei Nacht vor ſich, weil er das Stück des Nachts ge⸗ 
ſchrieben habe; hier iſt die Handlung mit bewußter Kunſt in eine 
ſtürmiſche Nacht verlegt. Nur der Widerſchein des Herdfeuers, 
Ampel⸗ und Kerzenlicht beleuchten die Geſtalten in dem düſtern, 
unheimlichen Ritterſaale. Seinen Gemälden einheitlichen Ton und 
wirkſame Beleuchtung zu geben, das iſt dem „Maler“ Ibſen — 
er hat erſt 1860 der Malerei für immer abgeſagt — damals wie 
ſpäter mit Sicherheit gelungen. 

Das nordiſche Publikum nahm ‚Die Herrin von Oſtrot' ziem⸗ 
lich kühl hin, und auch die Aufführungen in Berlin (1878 und 
1888) hatte keinen Erfolg, wohl weniger, weil der Dichter, „ein 
großes, nationales Intereſſe vorausſetzt, das ihm eben nicht jedes 
fremde Publikum entgegenbringt,“ als vielmehr, weil das Inter⸗ 
eſſe an der Charaktertragödie durch das Intrigenſtück und um⸗ 
gekehrt beſtändig geſtört wird. 


Dagegen hat keines der früheren Werke Ibſens ſo begeiſterten 
Widerhall hervorgerufen wie das anmutige, im Sommer 1855 ent⸗ 
ſtandene Schauſpiel in drei Akten ‚Gildet pä Solhaug' — ‚Das 


— 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljektans 55 


Feſt auf Solhaug‘. Aus dem Dramaturgen, der bewies, was er 
in mühſeliger, verſtandesmäßiger Arbeit gelernt hatte, war mit 
eins der Poet hervorgegangen, der ein rein empfundenes, ſelbſtän⸗ 
diges kleines Kunſtwerk darbot, eines der beſten Stücke, die die 
Romantik in irgendeinem Lande gezeitigt hat. Der erſten Auffüh⸗ 
rung in Bergen folgte noch am ſelben Abend eine muſikaliſche 
Huldigung vor dem Hauſe des Dichters, und nach der Aufführung 
in Chriſtiania veröffentlichte Björnſon, angeregt und hingeriſſen 
wie alle, „eine ſtimmungsvolle, freie Phantaſie, eine dichteriſche 
Improviſation über das Stück und die Vorſtellung“. Nur die 
Kritik — „die richtige Kritik“ hatte ſehr viel daran zu tadeln, 
wofür denn auch „die richtigen Kritiker“ — die Kompetenten, wie 
C. F. Meyer zu ſagen pflegte — im Vorwort zur zweiten Aus⸗ 
gabe ihr gut gemeſſen Teil empfangen. 

Vor allem ſollte „Das Feſt auf Solhaug“ eine Nachahmung, 
und zudem die ſchlechte norwegiſche Nachahmung einer guten däni⸗ 
ſchen Arbeit fein: des Schauſpiels „Svend Dyrings hus‘ von 
Henrik Hertz (1798 — 1870). Der unbefangene Leſer wird weder 
die Fabeln noch die Perſonen der zwei Werke einander irgendwie 
ähnlich finden. Die Handlung in „Svend Dyrings Haus“, die 
mit dem Märchen von der böſen Stiefmutter verquickt iſt, deckt ſich 
faſt Zug für Zug mit der des „Käthchens von Heilbronn‘; Ibſens 
„Nachahmung“ des däniſchen Stückes hat mit dem „Käthchen von 
Heilbronn‘ nicht ein Motiv gemein. Das dünkt mich die beſte 
Abwehr einer Beſchuldigung, der nordiſche Literarhiſtoriker mit 
vielen Gründen widerſprochen haben. Noch mehr muß die Über⸗ 
legenheit der däniſchen Dichtung beſtritten werden. Beide Werke 
ſind ſo verſchiedenen Wertes und Charakters, wie ihre Eingangs⸗ 
ſzenen. Bei Ibſen, wie immer, knappe, treffende, ſtimmungsvolle 
Expoſition; Hertz eröffnet die Szene mit dem nichtsſagenden, dich⸗ 
teriſch allzu geringen Jägerchor der romantiſchen Spieloper, wor— 
auf ſich die Perſonen zugunſten des Zuſchauers ſofort alles Nötige 
vorerzählen — in der alten Weiſe eingeleitet durch die alte For— 
mel: „Ihr erinnert Euch ...“ Und fo iſt das Ganze mehr oder 


56 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


minder nach herkömmlichem Muſter, wenn auch geſchickt und mit 
geübter Hand, durchgeführt. Die Perſonen ſind nur zum Bühnen- 
gebrauch notdürftig charakteriſiert, und kaum die eine Hauptperſon 
Ragnhild hat etwas mehr Geſicht und Lebensfarbe. Stig Hvide 
iſt blutlos gegen fein Urbild den Grafen vom Strahl, Svend Dy- 
ring ohne jegliches eigene Merkmal, Frau Guldborg die böſe 
Stiefmutter, Regiſſe das mißhandelte Aſchenputtel des Märchens. 
Der Geiſt der Frau Helvig erſcheint mit Donnergepolter in voller 
Verſammlung und endet das Stück ex machina. Zum äußern 
Abſchluß noch ein Engelchor — alles fällt auf die Knie — Ans 
betung — Vorhang. Wenn die entlehnten Motive noch pfycho⸗ 
logiſch verwertet wären! Aber es wird nur flüchtig berührt, daß 
Stig Hvide einen Augenblick Mitleid und Zuneigung zu der Un⸗ 
glücklichen fühlt, die ihm, von einer geheimnisvollen Macht ge⸗ 
zwungen, auf allen ſeinen Wegen folgt; es kommt zu keinem dra⸗ 
matiſchen Widerſtreit der Gefühle, und die mancherlei wechſelnden 
Geſchehniſſe verknüpfen ſich zu keiner einheitlichen Handlung. 

Die Mängel ſeines geprieſenen „Vorbildes“ müſſen wir uns 
gegenwärtig halten, um Ibſens feinſinnige Arbeit genugſam zu 
würdigen. n 

Eine mächtige Leidenſchaft ergreift Margit, die Gattin des 
reichen, aber an Geiſt und Gaben armen Herrn von Solhaug, zu 
ihrem heimgekehrten Jugendgeſpielen Gudmund Alfſon. Doch Gud⸗ 
mund neigt in Liebe ihrer jüngeren Schweſter Signe zu, die er als 
Kind verlaſſen hat und als holderblühte Jungfrau wiederfindet. 
In der mit Furia, wie mit Frau Inger nahe verwandten Margit 
regt ſich der wilde Drang, das unerträgliche Joch abzuſchütteln. 
Wäre ſie frei, ſo würde der Geliebte ſie wählen. Gudmunds Er⸗ 
zählung von „Norwegens Königin“, die den verhaßten Gemahl 
vergeben wollte, erweckt die dunklen Gedanken in ihrer Seele. 
Schon iſt der tödliche Trank gemiſcht, da erlöſt ſie ein gütiges 
Geſchick von dem Gatten, noch eh er den Becher berührt, und in 
dankbarer Entſagung die Schweſter mit dem Geliebten vereinend 
nimmt ſie zur Sühne in Sunnives Kloſter den Nonnenſchleier. 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Aehetrans 57 


Den Titel empfängt die neue Variante des Themas „Zwei 
Schweſtern, deren Liebe demſelben Manne gehört“ von dem Feſt, 
das Herr Bengt auf Solhaug gibt, die dritte Wiederkehr ſeines 
Hochzeitstages zu feiern. Schon das Verlegen der Handlung auf 
dieſen Tag bitterer Erinnerung für Margit verrät „den werdenden 
Meiſter. Da muß ſie gedenken, wie es ward und wie es hätte 
werden können,“ da ſchweifen ihre Gedanken zu Gudmund zurück, 
von dem ſie ſieben Jahre ohne Kunde geblieben. So iſt das 
Wiedererwachen ihrer Liebe zu ihm, der als ein Verfolgter uner— 
wartet auf Solhaug Schutz erbittet, ſinnreich vorbereitet. Präch⸗ 
tig geſchmückt, mit angenommenem Stolze tritt ſie ihm entgegen, 
Unglück und Qual ihres Herzens ſeinem forſchenden Auge zu ver— 
bergen: aber das erſte Wort von der Gefahr, in der er ſchwebt, 
endet alle Verſtellung, bringt mit eins das trauliche „Du“ auf 
ihre Lippen zurück und erſchließt das Herz zu dem wehmütigen 
Geſtändnis von verkaufter Jugend, verlorenem Glück. Arm und 
alleinſtehend, wegen ihrer Schönheit von reichen Freiern umworben, 
hat ſie „die Jugend, den fröhlichen Sinn“ für Gold und Güter 
dahingegeben, und beſonders wahr empfunden iſt es, daß gerade 
Gudmunds nie vergeſſene Lieder ſie zu dem ſchwer bereuten 
Schritte verleitet haben: 

Du ſangeſt dereinſt von all der Luſt, 

Die zu bergen vermag eines Menſchen Bruſt; 
Von dem höfiſchen Leben haſt du geſungen 
Unter Rittern und Frauen bei Spiel und Feſt; 
Da kamen die Freier von Oſt und Weſt 

Und ſo — ſo hat mein Gemahl mich errungen. 

Die ganze Fülle ſolcher treffenden Züge hervorheben, hieße 
Szene für Szene rühmend wiederholen. 

Wie „Svend Dyrings Haus‘ ſteht auch das „Feſt auf Sol⸗ 
haug“ dem Märchen nahe, wenngleich weder Zaubermittel zur 
Schürzung des Knotens, noch Geſpenſter zur Löſung aufgeboten 
werden. Der rein menſchliche Vorwurf iſt aus dem Geiſt der 
„Kaempeviſe“, der märchenhaften Volksballade, wiedergeboren. Ibſen 
erzählt uns, wie ihn die Studien zur „Herrin von Öftrot‘ aus 


58 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


dem Mittelalter in die Sagazeit geführt haben. Ein gewaltiger 
Stoff: Sigurd der Seekönig, geliebt von der wilden Hjördis und 
der ſanften Dagny, — ein großes Gaſtmahl als Mittelpunkt der 
Handlung — ſtieg vor ihm auf. Aber die romantiſche Stimmung 
der Zeit, und mehr noch die romantiſche Stimmung des Dichters 
— von zwei leuchtenden braunen Augen ſpricht ein damals ent⸗ 
ſtandenes Gedicht — und, im Einklang mit dieſen Stimmungen, 
das Studium norwegiſcher Volkslieder in Landſtads berühmter 
Sammlung, verwandelten vorläufig die isländiſchen Frauen in 
Margit und Signe, verwandelten den ſtarken Wiking in einen 
höfiſchen Sänger des 14. Jahrhunderts, und dämpften und mil⸗ 
derten den Schluß, doch nicht ſo ſehr, meint der Dichter ſelbſt, 
daß nicht „rechtgläubige Aſthetiker“ den Zug von unvermittelter 
Tragik darin als ein Zeugnis für des Dramas Urſprung leicht 
ſollten herausfühlen können. 

Mag man nun mit ihm annehmen, daß er „Svend Dyrings 
Haus' gar nichts verdanke, oder mag man annehmen, daß ihm 
Hertz, der achtzehn Jahre vorher die däniſche Kaempeviſe der 
Bühne nutzbar machte, wenigſtens das Beiſpiel zur Verwendung der 
norwegiſchen gegeben habe, ſo hat doch er zuerſt und allein die 
Form der Kaempeviſe nicht bloß theatraliſch, ſondern dramatiſch 
verwendet. Das „Feſt auf Solhaug“ ift abwechſelnd in Proſa und 
gereimten Verſen (im Volkston, mit vier und drei Hebungen) ge⸗ 
ſchrieben, Proſa und Vers immer am rechten Ort: zuweilen ſetzt 
der Vers ſpruchartig, zuweilen nach dem Abſchluß proſaiſcher 
Szenen mit einem Monolog, einem neuen Auftritt ein, öfter wird 
die Rede von gehobener Stimmung mit in die Poeſie empor⸗ 
getragen. Die Lieder und Balladen ſind nicht eingeſtreut, ſie 
gehen aus der Handlung hervor und ſind wieder mit der Handlung 
verwoben. Ergreifend wirkt Margits Erkenntnis, daß ſie ſelbſt 
des Bergkönigs Braut iſt, von der Gudmund die Weiſe geſungen: 
verlockt mit güldenen Ringen und Spangen, in des Berges ewiger 
Nacht gefangen, aus der ſie keiner, keiner erlöſt. Zart deutet ſie 
dem Sänger ihre hoffende Liebe an in dem Liede vom Edelknaben 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 59 


und der Fraue, aus deren getrennten Gräbern, nordwärts und 
ſüdwärts an der Kirchenwand, Blumen hervorſprießen und ſich 
über dem Kirchendache rankend vereinen. 


Die Kirche kann zwei nicht trennen, 
Die ſich lieben aus Herzensgrund. 


Zu großer dramatiſcher Wirkung ſteigert ſich das Finale des 
zweiten Aktes, wenn beim Feſt Gudmund und Margit, wie zur 
Kurzweil der Gäſte improviſierend, ſich gegeneinander wenden, er 
im Lied von der böſen Elfenfrau ihre Liebe abweiſt, und ſie, mit 
dem Märchen ihres Lebens antwortend, endlich zuſammenbricht in 
verzweifelter Klage: 


Der Berg iſt verſchloſſen und keine Wiederkehr! 
Alle Sterne ſind erloſchen, nie leuchtet die Sonne mehr! 


Man kann nur mit Edmond übereinſtimmen: Cette fin est 
d'une beauté sauvage. La situation des personnages, à part 
celle du mari, est des plus dramatiques et inspire un intérèt 
passionné et &mouvant. 

Form und Vortragsweiſe wechſelt, und jo wechſeln auch, immer 
gefällig in den kleinen Rahmen gefügt, Szenen, die mehr durch 
Farbe und Stimmung wirken, mit ſolchen, die vortrefflich gewählte 
Einzelheiten bieten. Mit wenigen einfachen Mitteln iſt überall 
das Rechte, Zweckentſprechende geleiſtet. Margits dunkle Geſtalt 
hebt ſich klar und plaſtiſch von dem lichten Hintergrund ab; als 
Heldin tritt. fie am meiſten hervor, iſt am meiſten „heraus— 
gearbeitet.“ Ihr reicheres Seelenleben, ihre Energie und Klugheit, 
das Beſtimmte ihres ganzen Weſens erlauben und finden kräftigen 
Ausdruck und überzeugende Gebärde; Signe, fröhlich und lieb— 
reizend, kann ſchon ihrem glücklichen Alter nach keine ſcharf ge— 
ſchnittenen Züge haben. Auch Signes Partner iſt, allgemein ge— 
halten, eine ideale ritterliche Jünglingsgeſtalt; während Margits 
Gemahl, der dummſelbſtgefällige, materielle, prahleriſche Bengt 
ganz aus dem Leben genommen und eingehend geſchildert iſt, da— 
mit wir ihre Qual, ihren verzweifelten Verſuch, ſich zu befreien, 
teilnehmend verſtehen. Denn ſchon taucht zum erſten Male das 


60 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


Problem der unglücklichen Ehe auf, in der der Mann geiſtig und 
moraliſch tief unter der Gattin ſteht und die bitteren Leiden der 
Enttäuſchung ihr Teil ſind. Der Rollentauſch zwiſchen Mann und 
Weib — ihr die Kraft und ihm die Schwäche — erſtreckt ſich 
hier — mit einem köſtlichen Anflug ſatiriſchen Humors iſt das 
gegeben — bis auf das Bereich der hergebrachten äußeren Tätig⸗ 
keit. Herr Bengt übt geſchäftig die Pflichten der Wirtin; er ſucht 
ſogar die Bettladen ſelbſt aus und läßt die Zimmer richten für 
ſeine Gäſte. In allen wichtigen Angelegenheiten ſpricht er getreu— 
lich die Meinung, ja die Worte der Gattin nach. Die Szene, in 
der Bengt, vom Weine erhitzt, in täppiſcher Art ſeine edle Beute 
liebkoſen will und ihr prahlend und ſcherzend das Elend ihrer 
Ehe und die ſchreckliche Zukunft vor Augen führt, bis ſie ihm, von 
Ekel und Verzweiflung erfaßt, nach hartem Seelenkampf ent⸗ 
ſchloſſen den Giftbecher vorſetzt, iſt eine der beſten, die Ibſen je 
geſchrieben hat. Solche Szenen, nur wenige Monate nach Voll⸗ 
endung der „Herrin von Oſtrot' entſtanden, laſſen dies Schauſpiel 
weit hinter ſich zurück, ſind in ihrem ganzen Gepräge ſo durchaus 
eigenartig und modern, daß der Verfaſſer der Geſellſchaftsdramen 
nichts daran zu beſſern fände. Wird auch unmittelbar daneben 
wieder auf altmodiſch⸗theatraliſche Weiſe die Kataſtrophe durch 
abſichtlichen Zufall vermieden, ſo verdirbt es zwar die Schlußwir⸗ 
kung für den heutigen Zuſchauer, ſollte aber literariſch als Merk⸗ 
zeichen der Entſtehungszeit nicht allzu ſtreng beurteilt werden. 


Die beiden übrigen Stücke der Bergener Jahre, „Die Johannis⸗ 
nacht“ und „Olaf Liljekrans“, in der Urſprache zu veröffentlichen 
und ſeinen Werken einzureihen, hat ſich der ſtrenge Richter ſeiner 
ſelbſt nicht entſchließen können. Doch wurde das zweite vollſtändig 
in die deutſche Geſamtausgabe aufgenommen. 

Auch ‚Die Johannisnacht“ — ‚Sankthansnatten‘ — findet 
ſich nunmehr in den Nachgelaſſenen Schriften. Die Ahnlichkeit 
mit dem Sommernachtstraum beſteht hauptſächlich darin, daß 
Elfen (und Berggeiſter) auftreten, und der Niſſe, um ſich zu be— 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 61 


luſtigen, gleich Shakeſpeares Puck, allerlei Verwirrung ſtiftet. 
Außerdem ſtreift ein hübſches Gedicht — Chor unſichtbarer Elfen — 
die engliſche Vorlage. Die Perſonen des Stückes ſind Menſchen 
der Gegenwart und mehr in der Manier Hoſtrups (1818 — 1892) 
mit den überirdiſchen Weſen zuſammengewürfelt. Der Niſſe miſcht 
einen geheimnisvollen Saft in den Punſch, den eine Geſellſchaft 
junger Leute trinkt, ehe ſie in den Wald zum Johannishügel 
(Sankthanshaugen) ziehen, die Abenteuer der Johannisnacht zu 
beſtehen. Des Niſſen Saft hat die Eigenſchaft, tieferen Naturen 
die Augen zu klären, daß ſie der Schein nicht mehr blendet; doch 
die gewöhnlichen Menſchen, die davon koſten, wandeln in Blind- 
heit wie zuvor. Der Trank bewirkt denn auch, daß zwei Verlobte 
ſich trennen und jedes eine paſſendere Wahl trifft, worauf noch 
durch ein wiedergefundenes Dokument einem der Liebhaber zu 
ſeinem Eigentum verholfen wird und alles in Freuden und Zus 
friedenheit endet. Das Beachtenswerteſte iſt der ſtarke ſatiriſche 
Zug, der ſich durch das Ganze bemerklich macht. Unter den Per: 
ſönlichkeiten, an denen die Wirkung des Saftes verloren geht, tritt 
„ein echter Dichter“ hervor, „finſter und wild und beſonders ſtark 
im Nationalen“. Dieſer dämoniſche, byroniſche Paulſen iſt des 
Glaubens, wohin er komme, da müſſe er ein Unglück anſtellen, 
und überall ſucht er nach feiner „oprindelighed“, feiner „Ur⸗ 
ſprünglichkeit“, feiner „Primitivität“. Die Huldre iſt fein weib— 
liches Ideal geweſen, denn ſie iſt „das Nationalſte vom Natio⸗ 
nalen“, bis er in den Feenmärchen Asbjörnſens — „o der Un— 
menſch, der das Buch geſchrieben!“ — entdeckte, daß die Wald⸗ 
nymphen Schwänze haben, „da mußte er ſie doch aufgeben“. Er 
kann nichts fühlen für ein Weſen, „das behaftet iſt mit den hier 
vorhandenen abnormen, der Schönheitsidee widerſtreitenden Aus— 
wüchſen“ und macht ſich dann an Juliane, eine Vorläuferin des 
Fräulein Elſter und der Frau Paſtor Strohmann in der ‚Komödie 
der Liebe“. Wie die beiden in ihrer Jugend, ſchwärmt auch ſie für 
alles, was „poetiſch“ iſt und faßt gleichzeitig alles ſo proſaiſch 
an wie nur möglich. Da Paulſen ihr von ſeiner Liebe zu einem 


62 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


Ideal ſprechen will, fängt er an: „Erfahren Sie denn, daß ich 
liebe —“. „Aber Herr Paulſen!“ ſagt fie und beiſeite: Gott 
wie mein Herz ſchlägt! Er fährt fort: „— ein Ideal.“ Sie: 
„Schmeichler!“ 

In der Johannisnacht, wenn ſich der Hügel öffnet, und ge— 
klärten Augen darin der Bergkönig mit Gefolge in all ſeiner Herr⸗ 
lichkeit erſcheint, ſieht unſer Idealiſt in den Elfen nur tanzende 
Bauernmädchen und hält den Bergkönig für ein Mitglied des 
Feſtkomitees. Auch in Hoſtrups ‚Meiſter und Lehrling“ (geſchrieben 
1851 auf 52, herausgegeben 1854) ſucht ein verſpotteter Dichter, 
ein „vernünftiger Schwärmer“, überall ſein Ideal; auch da tut 
ſich ein Elfenhügel auf und gibt es eine Salbe, die auf die Augen 
geſtrichen, klar ſehen macht, ſo daß man den wahren Charakter 
des andern erkennen kann. | 

So wenig ſich Ibſen damals der herrſchenden Vorliebe für 
die „Hulderromantik“ entziehen konnte und wollte, ſo wenig ver⸗ 
mochte er ſchon in einem jo frühen Werke — es iſt 1852 auf der 
Reiſe nach Deutſchland entſtanden — die Spottluſt feines ſcharfen 
Verſtandes zu unterdrücken. „Die Johannisnacht' gefiel nicht trotz 
des aufgebotenen romantiſchen Apparats, denn das hieß dem 
Publikum ſein Leibgericht vorſetzen und ihm dann durch wohl⸗ 
berechnete Bemerkungen den Appetit verderben. In dem letzten 
Schauſpiel, das er in Bergen aufführen ließ, ſchrieb er der Roman⸗ 
tik, ohne es zu wollen, in aller Form den Scheidebrief. 


„Olaf Liljekrans‘, zum erſten Male gegeben im Januar 1857, 
wurde in ſeiner urſprünglichen Geſtalt ſchon im Jahre 1850 ent⸗ 
worfen. Damals hieß das Stück nach der Heldin ‚Das Schnee⸗ 
huhn im Juſtethal'“, und dieſe Heldin war die Justedalsrypa, 
von der A. Faye in ſeinem Büchlein norwegiſcher Sagen erzählt: 
das Mädchen, das zur Zeit des ſchwarzen Todes allein im Juſtetal 
am Leben blieb, ſcheu und wild wie ein Schneehuhn im Walde 
hauſte, und ſpäter eingefangen, erzogen und ſchließlich verheiratet 
wurde. Die Überfchrift der endgültigen Faſſung bezieht ſich auf eine 


Das Feft auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 63 


in allen nordiſchen Landen verbreitete Volksdichtung, und zwar auf 
die norwegiſche, von Landſtad mitgeteilte Form, die allein den Zus 
namen „Liljekrans“ enthält. Es iſt die Ballade von Herrn Olaf 
(Olof, Oluf), der, ſeine Hochzeitleut aufzuſuchen, durch den Wald 
reitet und von den Elfen umringt wird. Weder ihren Lockungen 
noch ihren Drohungen Gehör gebend, empfängt er den Schlag aufs 
Herz, der ihn kurz nach der Heimkehr auf die Totenbahre ſtreckt. 
Die däniſche Variante der Ballade iſt zweimal ins Deutſche über⸗ 
jet worden: von Herder in den ‚Stimmen der Völker‘ unter dem 
Titel ‚Erlkönigs Tochter‘ und vollſtändiger von Wilhelm Grimm 
in ſeinen altdäniſchen Heldenliedern. 

Der Olaf des Stückes konnte inſofern nach dem der Kaempeviſe 
benannt werden, als auch er kurz vor ſeiner Hochzeit Verſuchungen 
zu beſtehen hat. Aber außer dem Hinweis auf dieſe Ahnlichkeit 
an einigen Stellen und dem ähnlichen Verhalten der Mutter zum 
Sohne in beiden Fällen hat das Schaufpiel in Handlung und 
Charakteriſtik nichts mit dem Volksliede gemein. 

Frau Kirſten Liljekrans will langwierige Familienſtreitigkeiten 

mit einem Gutsnachbarn, dem reichen Bauern Arne von Guldvik, 
durch die Verheiratung ihres Sohnes mit Arnes Tochter Ingeborg 
für immer ſchlichten. Dem aufſtrebenden Arne wäre die vornehme 
Verwandtſchaft erwünſcht, und der geldbedürftigen Dame Ingeborgs 
Reichtum nicht minder. Aber kurz vor dem Feſte verſchwindet Olaf 
plötzlich, als wär' er in den Berg entrückt — „bjergtagen“. 
Hinauf ins Gebirge gewandert, hat er in einem einſamen, ſeit der 
Peſtzeit nicht mehr bewohnten Tale Alfhild getroffen, die Tochter 
des Spielmanns Thorgejr, die von der Welt Gottes nichts kennt 
als die Weiſen ihres Vaters, und er vergißt Braut und Hochzeit 
und alles und überredet ſie, mit ihm hinabzuziehen und ſeine Gattin 
zu werden. Unten im Tale verfliegt der romantiſche Liebesrauſch, 
der haltloſe Schwächling Olaf gibt den Vorſtellungen der Mutter 
Gehör und kehrt zu ſeiner Verlobten zurück. In ihrer Verzweiflung 
halb von Sinnen, wirft die verlaſſene, vom Hofgeſind verſpottete 
Alfhild die Fackel, mit der ſie den Brautleuten zur Kirche leuchten 


64 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


ſoll, in das Hochzeitshaus und ſteckt es in Flammen. Als Brand⸗ 
ſtifterin verfolgt und eingefangen, wird ſie von Frau Kirſten, die 
ſich für das auf ihrem Grund und Boden begangene Verbrechen 
Gerichtsbarkeit zuſpricht, zum Tode verurteilt. Doch ſoll ihr, fügt 
die Richterin höhniſch hinzu, nach alter Sitte vergeben ſein, wenn 
auch nur der geringſte Knecht ſie zur Ehe begehre. Da tritt un⸗ 
vermutet Olaf reuigen Sinnes hervor und erbietet ſich, die Be— 
dingung zu erfüllen. Frau Kirſten willigt zuletzt ein, nicht ohne 
erfahren zu haben, daß auch Alfhild ein großes Erbe zu erwarten 
hat, und Ingeborg heiratet ihres Vaters Knecht Hemming, von 
dem ſie ſich unmittelbar vor dem Brande hat entführen laſſen. 

In „Olaf Liljekrans“ treiben keine übernatürlichen Weſen ihr 
Spiel; das Stück iſt gleich dem „Feſt auf Solhaug‘ ſozuſagen nur 
romantiſch inſtrumentiert. Auch hier hat es der Dichter nicht 
unterlaſſen, Perſonen wie Arne, Ingeborg und Henning einzu⸗ 
führen, die dem Zuſchauer das Unwahre und Unhaltbare der 
Romantik im Leben in bedenklicher Weiſe nahe legen. Ingeborg 
und Hemming ſind höchſt romantiſch auf Vater Arnes Apfel⸗ 
ſchimmel durchgegangen und finden auch leicht im Gebirge Unter⸗ 
ſchlupf in einer verödeten Hütte. Aber nun zeigt ſich, daß Hem⸗ 
ming ohne Bogen und Fiſchgerät nicht für den Unterhalt ſorgen 
kann, und Ingeborg vermißt ihre Mägde; auch will ſie 1 nicht 
immer im Brautſtand bleiben. 

Ingeborg. Du mußt dich eines Nachts hinunter nach Guld⸗ 
vik ſchleichen und meine Kleider, und was ich ſonſt bedarf, mit⸗ 
bringen. 

Hemming. Und als Dieb gehängt werden! 

Ingeborg. Nein, da mußt du dich eben vorſehen, ſag' ich 
dir. (Bedenklich.) Aber wenn dann der lange Winter kommt? 
Hier oben iſt keine Seele, hier gibt es niemals Tanz und Geſang 
— Hemming, ſollten wir nicht lieber — 

Hemming. Ja, wohin ſollten wir denn ſonſt? 

Ingeborg (ungeduldig.) Aber hier kann ja kein Menſch 
leben! 


| 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 65 


Hemming. Freilich kann man hier leben! 

Ingeborg. Nein, du ſiehſt ja, daß alle hier geſtorben ſind! 
— Hemming, ich denke, es iſt am beſten, ich gehe hinunter zu 
meinem Vater. 

Hemming. Ja, aber was ſoll dann aus mir werden? 

Ingeborg. Du? Du ziehſt in den Krieg! 

Hemming. In den Krieg — und totgeſchlagen werden? 

Ingeborg. Nein doch! Du tuſt etwas Großes, dann wirſt 
du ein Rittersmann und dann weiſt dich mein Vater nicht mehr ab. 

Hemming. Wenn ich aber nun totgeſchlagen werde? 

Ingeborg. Nun, wir können's uns ja noch überlegen. Heute 
und morgen müſſen wir wohl hier bleiben. 

Das klingt harmloſer als die zweiſchneidigen Verſe der Komödie 
der Liebe“, aber eigentlich — das muß man Vaſenius zugeben — 
fehlt doch nur ein Falk, der dieſem Liebespaar den Spiegel vorhält. 

Nicht bloß im Spott, auch im bittern Ernſt wird die nüch— 
terne Wirklichkeit dem romantiſchen Schein entgegengeſtellt: „Der 
Kampf zwiſchen Wirklichkeit und Romantik iſt die Idee des Stückes.“ 
Grauſam und unerbittlich zerſtört die Erfahrung unten im Tale 
der poetiſchen Vorſtellungen, die ſich Alfhild, „die verkörperte 
Romantik“, in Bergeseinſamkeit von der Welt gebildet hat. Ihr 
Vater hat den Tod in ſeinen Liedern ſo ſchön beſungen und ge— 
ſchildert: eine Elfe mit weißen Schwingen erlöſt den Menſchen von 
Not und Kummer und rüſtet ihm ein weiches Lager, 

Wirket von Lilien die Laken klein 
Und Polſter von Roſen rot. 

Nun ſieht ſie ein Begräbnis; das tote Kind liegt auf Stroh 
und Spänen; kein Elfe naht ſich, wohl aber führt eine Mutter 
mit brechendem Herzen die weinenden Geſchwiſterchen hinter dem 
ſchwarzen Sarge her zu der gähnenden Grube. Und alles, was 
Olaf der Geliebten zum Troſte ſagen kann, iſt, daß ihr Vater auch 
vom Leben zu ſchön geſungen. 

Haſt vom Schatz du gehört in des Bergkönigs Schacht? 
Der leuchtet wie rotes Gold in der Nacht; 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 5 


66 III. Das Hünengrab. Die Herrin von Oeſtrot 


* — 


Doch ſtreckſt du die Hand darnach gierig und froh, 
Nichts findeſt du dann als Schutt und Stroh. 
Und glaub' mir, wenn du es recht erkenneſt, 
Das Leben dem trügenden Schatze gleicht: 
Komm ihm nicht zu nah, ſonſt trifft es ſich leicht, 
Daß die Finger daran du verbrenneſt. 
Wohl wahr: es ſtrahlt wie des Himmels Sterne, 
Doch nur, ſo lang du's erblickeſt von ferne. 
Fällt hier die drittletzte Zeile aus dem Bilde, ſo iſt ein anderes 
Gleichnis vom Schatze, das Alfhild vorträgt, um ſo beſſer gelungen: 
Eines Schatzes hat einſt mein Vater gedacht, 
Davon träufeln neun Perlen jegliche Nacht; 
Doch wieviel blanke Perlen der Hort auch ſpendet, 
Seine Kraft und ſein Reichtum ſich nimmer verſchwendet. 
Für mich iſt mein Kummer ein ſolcher Hort, 
Davon träufeln Tag und Nacht hinfort 
Nicht neun — ach viel Tauſend Perlen klein 
Und der Schatz wird nimmer verringert ſein. 


Noch an verſchiedenen Stellen legen Alfhild und Olaf dem 
Kummer, der Sorge, dem Leid als erziehenden Kräften große Be⸗ 
deutung bei — ein zweiter erwähnenswerter Zug, der auf die 
„Komödie der Liebe“ hindeutet. 

Die Kritik fand „Olaf Liljekrans langgedehnt und überſpannt 
(Bergens Tidende), wenngleich ſich der Berichterſtatter „durch die 
ſchöne Verſifikation und die oft wunderſchönen poetiſchen Bilder“ 
angeſprochen fühlte. Das Urteil iſt kaum ungerecht. Es mangelt 
faſt jeglicher pſychologiſche Gehalt und die rein theatraliſche Anlage 
beſticht keineswegs durch beſondere Geſchicklichkeit. Die Expoſition, 


ſowohl die proſaiſche wie die romantiſche, weitſchweifig, ohne Zug 


und Spannung, mit unnötig wiederholten Einzelheiten; die Ver⸗ 
wicklungen und Verwechslungen des zweiten Aktes — aus ſolchen 
allein beſteht die Handlung — auf greifbare Mißverſtändniſſe be⸗ 
gründet; die Löſung opernhaft, äußerlich verſöhnend und aus⸗ 
gleichend, was ſich bei beſtimmter und kräftiger gezeichneten 
Charakteren nie verſöhnen ließe. Der leichte Anflug von Humor 
an einigen Geſtalten und Szenen genügt und befriedigt nicht. Alles, 


Das Feſt auf Solhaug. Die Johannisnacht. Olaf Liljekrans 67 


auch die geringere Verskunſt, ſteht weit hinter dem „Feſt auf Sol⸗ 
haug“ zurück. Das Stück wurde nur zweimal aufgeführt. 

Zwei Jahre ſpäter nahm Ibſen die mißlungene Arbeit noch 
einmal zur Hand, und verſuchte das Schauſpiel zum Text einer 
romantiſchen Oper umzugeſtalten, die ‚Fjeldfuglen‘ (Das Schnee⸗ 
huhn) betitelt werden ſollte. Die Umdichtung rückte aber nicht 
über die erſte Szene des zweiten Aufzugs vor. 

Schwer, wie ſich der Dichter von dem doch nicht beſonders 
dankbaren Stoff trennte, trennte er ſich von der Romantik über⸗ 
haupt und dem liebgewordenen Gedanken, daß gerade aus der 
Kaempeviſe der nationalen Bühnendichtung neuer Gehalt und neues 
Leben zugeleitet werden könne. Oehlenſchlaeger hatte den norwegi⸗ 
ſchen Dichtern ihre Stoffe und Aufgaben vorweg genommen und 
ſie, nach der Meinung der Zeit, trefflich behandelt und gelöſt, und 
ſo erſchien die Volksüberlieferung im engern Sinne, das Volks⸗ 
lied und das Märchen, als die letzte noch unerſchöpfte Quelle. Ein 
längerer Aufſatz Ibſens ‚Über die Kaempeviſe und ihre Bedeutung 
für die Kunftpoefie‘ (1857) ſucht dieſe Anſchauung zu bewähren 
und zu verbreiten. Aber noch in demſelben Jahre gelang ihm das 
Werk, das Oehlenſchlaegers nordiſch-nationale Dramen für immer 
in den Schatten ſtellte: die Nordiſche Heerfahrt'. 

Ibſen erneuerte ſeinen abgelaufenen Vertrag mit dem Bergener 
Theater nicht mehr; er ging im Herbſt 1857 als artiſtiſcher 
Direktor an das Norwegiſche Theater zu Chriſtiania über. Nur auf 
kurze Zeit kam er im folgenden Sommer nach Bergen zurück, um 
ſich — am 18. Juni 1858 — mit Suſanna Daae Thoreſen, der 
Tochter des Probſtes und Paſtors an der Kreuzkirche, zu vermählen. 

An ſeine Stelle in Bergen trat, ebenfalls von Ole Bull ſelbſt 
berufen, der jugendliche Verfaſſer von ‚Synnöve Solbakken': 
Björnſtjerne Björnſon. 


5* 


IV 
Nordiſche Heerfahrt 


m 26. Oktober 1856 ſchreibt Asbjörnſon an Jakob Grimm: 

„Hermendene paa Helgeland (Nordiſche Heerfahrt) iſt nach 
meinem Dafürhalten eine reſpektable Arbeit und ſowohl im Inhalt 
wie in Form und Sprache das reinſte, das eigentümlichſt Nor⸗ 
wegiſche; in Synnöve Solbakken offenbart ſich vielleicht mehr Be⸗ 
gabung, aber obgleich man dem Verfaſſer ein hübſches Talent für 
die Darſtellung der Eigentümlichkeiten unſeres Volkes nicht ab: 
ſprechen kann, ſo ſieht es doch für mich aus, als ob er mehr in 
den isländiſchen Erzählungen, als im Leben und in der Natur 
ſtudiert hätte, was auch von feinem Stile gilt, der allzu chronik— 
artig ſteif und ſagamäßig iſt. Aber Björnſon iſt jung und wird 
hoffentlich bald dazu kommen, etwas viel Beſſeres zu liefern als 
dieſe Arbeit, die ja gewiß hübſch iſt, aber in Dänemark und Schwe⸗ 
den mehr gelobt worden iſt, als ſie eigentlich verdient.“ 


Die Werke, die Asbörnſen mit dieſen begleitenden Worten 


an Jakob Grimm ſandte, waren in zwei aufeinander folgenden 
Jahren, ‚Synnöve Solbaffen‘ 1857, ‚Nordifche Heerfahrt‘ 1858, 
veröffentlicht worden, aber ſie waren faſt gleichzeitig, im Sommer 
Siebenundfünfzig, entſtanden. Alsbald hob da ein ftiller, doch mit 
aller Ausdauer geführter Wettkampf zwiſchen den beiden Dichtern 
an — ein Holmgang, in dem von der zuſchauenden Menge neun 
Jahre lang Björnſon, ihr erklärter Liebling, als der Überlegene 
betrachtet und bejubelt wurde, während Ibſen ſelten aufmunternde 
Zurufe, doch häufig genug Spott und Schimpf zu hören bekam. 
Björnſon, Hüne von Geſtalt und geborner Redner, „verſtand es 
jedenfalls von Grund aus, die Aufmerkſamkeit auf ſich zu lenken“; 
der kleine ſchweigſame Ibſen mußte warten, bis ſeine Werke ſo 
hoch aufragten und ſo laut für ihn ſprachen, daß ſie und ihn 
niemand mehr unbeachtet laſſen konnte. 

„Synnöve Solbakken“ und Nordiſche Heerfahrt‘ (eigentlich: 
Die Heermannen auf Helgeland) entſprangen beide der allgemeinen 


N 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 69 


Begeiſterung, die Asbjörnſens und Moes Sammlung norwegiſcher 
Volksmärchen im Lande zu heller Flamme entfacht hatte. Aber 
Björnſon konnte mit der Veröffentlichung ſeiner gewiß mehr als 
„hübſchen“ Erzählung ſchon Mitte Juni beginnen, während Ibſens 
Drama, im Herbſt dem Chriſtiania⸗Theater eingeliefert, dort 
ſchmählich liegen blieb, erſt im April 1858 gedruckt und erſt am 
24. November desſelben Jahres gegeben wurde. Das volkstümliche 
Wort von dem, der zuerſt kommt und die Braut heimführt, be— 
ſtätigte ſich hier. Wie der Prinz in Uhlands ſinnreichem Märchen 
trat Björnſon „mit feiner Holden“ zuerſt „aus Waldesnacht“ her⸗ 
vor, und alles jauchzte dem Kühnen zu, der die echte nordiſche 
Poeſie, das ſeit Jahrhunderten ſchlummernde Dornröschen, zu neuem 
Leben erweckt hatte. Sein ward und blieb der Ruhm, die knappe 
Sprache und den kraftvollen Stil der Saga wiedergefunden zu 
haben, und nur wenige ſahen, was doch an Ibſens Werke ſo leicht 
zu ſehen war, daß auch er, von einer andern Seite her, durch die 
wuchernde Hecke der Romantik zu echt nordiſcher Art und Kunſt 
vorgedrungen war, daß ihm nicht weniger Preis gebührte. 

Mag er tatſächlich für ſein in Verſen — in Trimetern — 
begonnenes Schauſpiel, erſt durch Björnſon beſtimmt, die archaiſti— 
ſche Proſaform gewählt haben: immerhin kann, Synnöve Solbakken“ 
nur als der äußere, einen innern Prozeß beſchleunigende Anlaß gelten. 
Mit Recht verteidigt ihn Dietrichſon: „Der kräftige Tonfall des 
Sagaſtiles war eine Forderung, die gerade in der Zeit lag als eine 
Reaktion gegen den Anſpruch des Oehlenſchlaegeriſchen Dramas: 
nordiſch zu ſein — dieſer Tonfall war Ibſen ebenſo gewiß wie 
Björnſon.“ Und überdies: „Ein Hakon Jarl in Proſa wäre wohl 
unter den Händen Oehlenſchlaegers ebenſo poetiſch geworden wie in 
Verſen“, hieß es ſchon in Ibſens Aufſatz über die Kaempeviſe, und 
weiterhin: „. .. der nationale Stoff kann doch nur durch eine 
nationale Form vollſtändig zu ſeinem Rechte kommen.“ 

Indes, wären auch die Umſtände ihm günſtiger geweſen, ſein 
Mitbewerber hätte trotzdem den Sieg errungen. Die Zeit, der 
Romantik noch keineswegs entwöhnt, wollte nicht ſo mit eins der 


70 | IV. Nordiſche Heerfahrt 


baren Wirklichkeit gegenübergeſtellt ſein, und Björnſon war viel 
mehr ein Kind der Zeit als Ibſen, der ſchon halb der Zukunft 
gehörte. Björnſon zeichnete ja nur anſcheinend leibhaftige norwe— 
giſche Bauern; in Wahrheit gab er den Zeitgenoſſen, wonach ſie 
verlangten, „Idealität und Poeſie“. So hoch ihn ſeine Kunſt und 
ſeine Kenntnis des Bauernlebens über ſtädtiſche Modeſchriftſteller 


erhebt wie z. B. Claus Pavels Riis, deſſen dramatiſches Idyll 


mit Geſang „Till sæters“ (etwa: „Auf der Alm“, 1850) damals 
mit unglaublichem Beifall in Szene ging: die Novellen waren doch 
demſelben Geiſt der Idealiſierung entſtammte, ſtark „überſetzte“ 
Bilder aus dem Volksleben, an denen ſich die patriotiſchen Nor⸗ 
weger mit ungemiſchter Freude ergötzen und erbauen ſollten. Und 
deuchten ſelbſt ſie manchen Anhänger der alten Schule nicht „edel 
und geläutert“ genug, wie „roh“ mußten erſt Ibſens ungeſchminkte 
Wikinger erſcheinen, wie viel verwerflicher noch als jene ſchon ſo 
herb gerügten zahmen Nachahmungen Oehlenſchlaegers im „Hünen⸗ 
grab“. 

Gerade dieſe „Roheit“, das Aufgeben aller herkömmlichen 
Theaterphraſe und Theaterpoſe, die ſchlichte, getreue Darſtellung 
altnordiſchen Lebens im Geiſt und in der wortkargen, körnigen 
Redeweiſe der Saga, hat dem Dichter das wertvolle Lob des nor— 
diſchen Grimm eingetragen, in Stoff und Sprache das reinſte, das 
eigentümlichſt Norwegiſche hervorgebracht zu haben. 

Die Verſuche ſkandinaviſcher Dichter, nordiſch-nationale Stoffe 
auf die Bühne zu bringen, beginnen ſchon im 18. Jahrhundert. 
1770 ließ Johannes Ewald feinen ‚Rolf Krake“ erſcheinen, deſſen 
Vorwurf dem zweiten Buche des Saxo entnommen war. „Mein 
höchſter Wunſch iſt“, heißt es in der deutſch geſchriebenen Vorrede 
Ewalds zur deutſchen Ausgabe von Joppert, „daß man daraus er⸗ 
kennen möge, daß ich ein Schüler des unnachahmlichen Klopſtocks 
ſey. Er hat es geſehen, ehe es gedruckt ward und er hat es ſeines 
Beyfalls gewürdigt.“ Dem in Klopſtock-Oſſianiſcher Proſa ge 
ſchriebenen Trauerſpiel folgte 1775 „Balders Tod, ein heroiſches 
Singfpiel‘, worin dem verliebten Balder Arien in den Mund gelegt 


* 4 * * * 
e * — erh u ren, 
KT ALTO 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 71 


ſind, wie: „Träne, ſag, weshalb du rinneſt / Auf der ſtolzen 
bleichen Wangen ...“ und Tor ſich darüber entrüſtet, daß eine 
Bruſt „die Tugend ſtählet“, feigen unmännlichen Kummer fühlen 
kann — eines Mädchens wegen. Von dieſen einſt viel geprieſenen 
Anfängen des nationalen Dramas im Norden zu Oehlenſchlaegers 
nordiſchen Dramen läßt ſich der Weg — immer auf deutſchem Ge⸗ 
biete — von Markſtein zu Markſtein verfolgen; von Dehlen- 
ſchlaegers Werken zur Nordifchen Heerfahrt‘ führt kein verbinden— 
der Pfad — Ibſen ſprang ab und ſchlug eine andere, faſt die ent⸗ 
gegengeſetzte Richtung ein. 

Sein Werk, ſo rein und eigentümlich norwegiſch, iſt dadurch 
zugleich modern, modern in dem Beſtreben, ein möglichſt getreues 


Bild der gewählten Zeit zu entwerfen. Neuerdings nach einer 


ſchnelleren, aber durch fremdes Beiſpiel angeregten und geleiteten 
Fortbewegung auch unſerer Literatur in der damals von Ibſen 
eingeſchlagenen Richtung, laſſen ſich Beurteiler vernehmen, er ſei 
eher nicht weit genug als zu weit gegangen. Sie vergeſſen am 
Ziele die Kühnheit des Anfangs und mißachten, daß der Schilde⸗ 
rung entlegener hiſtoriſcher Verhältniſſe doch immer eine Grenze 
gezogen bleibt. Der Menſch iſt zu allen Zeiten derſelbe, aber nicht 
die Menſchen. Der Dichter ſoll eine beſtimmte Wirkung tun, 
nicht bloß wahr ſein wie der Geſchichtſchreiber. Was die Wirkung 
ſchwächt oder ſtört, kann ihm nicht taugen! 


Denn das feſſelt uns nur, was die eigene Bruſt als natürlich 
Nachzuempfinden vermag. | (Geibel.) 


Die ‚Nordiſche Heerfahrt“ führt uns keinen Berſerker vor, 
keine der Roheiten und Grauſamkeiten, die ſich in der isländiſchen 
Saga nicht etwa nur die gemeinen und niedrigen Charaktere, die 
Nebenperſonen, ſondern gerade die Helden der Erzählung, und nicht 


allein gegen Feinde, ſondern gegen Weib und Kind und Geſinde 


zuſchulden kommen laſſen. Freilich bedeutet auch die beſchränkende 
Auswahl ſchon eine Einbuße an Wahrheit, und ſo haben ſich viele 
Neuere, wie Tolſtoi, Zola, Gerhart Hauptmann u. a., wo ſie je 


72 | IV. Nordiſche Heerfahrt 


geſchichtliche Vorwürfe behandelten, für eine nähere DEAN ENDEN 
entſchieden. 

Ibſen ging, wie immer, nicht vom Stoff, ſondern von der 
Idee aus, allerdings nicht von einer, die ſich einem Satz wieder— 
geben läßt, ſondern von der Idee, das Wort wörtlich genommen, 
die er ſich, oder die ſich ihm von zwei beſtimmten Frauengeſtalten 
gebildet hatte. Beim Leſen der isländiſchen Familiengeſchichten war 
ſie ihm aufgegangen: vielmehr, ſie war durch dies Studium wieder 
zu neuem Leben erweckt worden. In der Saga, heißt es im Vor⸗ 
wort zum ‚Feft auf Solhaug“, „fand ich in reichſtem Maße, was 
ich als menſchliche Einkleidung für die Stimmungen, Vorſtellungen 
und Gedanken bedurfte, die mich damals erfüllten, oder auf alle 
Fälle mir mehr oder minder klar vorſchwebten ... ich erinnere 
mich gut, die zwei Geſtalten, die mir zuerſt ins Auge fielen, waren 
die beiden Frauen, aus denen dann Hjördis und Dagny geworden.“ 

In ſeinen erſten Dramen tritt uns eine Doppelreihe von weib⸗ 
lichen Geſtalten entgegen. „C'est la blonde et la brune“, be⸗ 
merkt Tiſſot mit einem Hinweis auf die allgemein verbreitete, 
volkstümliche Pſychologie, die alles Gute, Sanfte, Holde im blon⸗ 
den Weibe verkörpert und dieſem anmutigen Weſen dann eine heftige, 
harte, leidenſchaftliche Nebenbuhlerin mit dunklen Augen und Haaren 
entgegenſtellt. Fein beobachtend weiſt Wilhelm Scherer zwei Grund⸗ 
typen germaniſcher Weiblichkeit aus den Perſonennamen nach, die 
uns von den älteſten Zeiten überkommen ſind. Während die Namen 
der Männer nur Eigenſchaften ausdrücken, „durch die man ſich in 
dem allgemeinen Kampf ums Daſein behauptet“, zerfallen dagegen 
die Frauennamen in zwei ganz verſchiedene Gruppen. „Die eine 
verbindet Natur und Schönheit, ſie ſucht das Liebliche, Anmutige 
zu bezeichnen, das Wohltätige und Erfreuende ... Die andere 
zeigt uns die Frauen des Kampfes froh, Waffen führend, fakel⸗ 
ſchwingend, zum Siege ſtürmend.“ 

Sehen wir von dem allegoriſchen Nachſpiel des Catilina“ und 
überhaupt von der chriſtlich-myſtiſchen Verwendung der Furia und 
Aurelia ab, ſo hatte er ja ſchon dort die zwei Grundtypen ins Auge 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 73 


gefaßt. In den Bergener Dramen war er dann mehr und mehr 
über die ſummariſch und äußerlich charakteriſierende Pſychologie 
hinaus gekommen, ohne doch den wirklichen, dramatiſch ſo wohl 
zu verwertenden Gegenſatz aufzugeben, den der Volksglaube nur 
kenntlich gemacht, nicht erfunden hat. Nun boten die isländiſchen 
Erzählungen eine Reihe von lebensvollen, reich mit eigentümlichen 
Zügen ausgeſtatteten Vertreterinnen, beſonders des einen, des 
Furia⸗Typus, beſtätigten ihm, daß ſich gerade in der Nebenbuhler⸗ 
ſchaft um den Beſitz des Geliebten die Charaktere, beſonders der 
ſtreitbare, leidenſchaftliche, völlig entfalten ließen. Dieſen, ihm 
ſelbſt kongenialeren, faßt der Dichter zunächſt herzhafter an als das 
wohltätige, liebliche Gegenbild, das erſt im zweiten, ruhigeren Ab⸗ 
ſchnitt feines Lebens und Schaffens, in Agnes (‚Brand‘) zum zar⸗ 
ten Umriß Farbe und Wärme gewinnt. Um Hiördis willen iſt 
„Nordiſche Heerfahrt‘ entſtanden, und vor allem durch die vollendete 
Abſchilderung ihres tiefgründigen Charakters nimmt das Drama 
ſeinen hohen Rang unter Ibſens Werken ein. 

C. Roſenbergg und viele andre Kunſtrichter im Norden und 
Süden beſchuldigten ihn, einen großen Stoff verdorben zu haben. 
Sie ſehen in der ‚Nordischen Heerfahrt‘ den notwendig mißlungenen 
Verſuch, die Brynhild⸗Tragödie der Eddalieder in realiſtiſcher Form 
zu dramatiſieren. Das heißt den Dichter gar nicht zu Worte 
kommen laſſen, gar nicht verſtehen wollen. Wie zur Verwahrung 
dagegen betont die Vorrede der deutſchen Ausgabe (1876), daß 
der Stoff nur teilweiſe der Völſungaſaga entnommen iſt. Die 
hauptſächliche Grundlage ſei vielmehr in den isländiſchen Familien— 
geſchichten zu ſuchen, in denen die aus dem Nibelungenlied und 
der Völſungaſaga bekannten rieſenhaften Verhältniſſe und Vorgänge 
oft nur auf menſchliche Maße zurückgeführt erſchienen. 

Ibſen war durch N. M. Peterſens muſtergültige Übertragung 
mit den isländiſchen Profaerzählungen vertraut geworden, die im 
Verlaufe des 13. Jahrhunderts (vor 1270) aufgezeichnet, die Ges 
ſchichte hervorragender Perſonen der merkwürdigen Inſel und gan— 
zer Geſchlechter in dem Zeitraum von 930—1030 berichten. In 


74 IV. Nordiſche Heerfahrt 


ihnen lag der große Stoff, die Brynhild-Tragödie, in allen Grund⸗ 
zügen vor, ſofern die einzelnen nur zuſammen betrachtet und das 
der einen fehlende aus der andern ergänzt wird. 

Die ſchöne Helga (in der Saga von Gunnlaug Schlangen⸗ 
zunge) wird von zwei Männern geliebt, Gunnlaug und Rafn, wie 
Brynhild von Sigurd und Gunnar; wie Brynhild wird ſie des 
Ungeliebten Gemahl, von dem Geliebten — anſcheinend — ver⸗ 
ſchmäht. Aber Rafn und Gunnlaug ſind nicht Freunde und Waffen⸗ 
brüder, und nicht auf Helgas Anſtiften wird Gunnlaug von Rafn 
zum Tode verwundet. 

Dagegen nährt Gudrun Osvifstochter (in der Laxdoelaſaga) 
tödlichen Haß aus verſchmähter Liebe und raſtet nicht, bis ihr 
Gemahl Bolle, der ſie durch Liſt und Lüge errungen, ſeinem Freund 
und „Foſterbroder“ Kjartan, von dem ſie ſich verſchmäht wähnt, 
ein blutiges Ende bereitet. Sie „zeichnet ſich vor anderen Frauen 
durch männlichen Sinn aus“, und Kjartan gilt, wie Sigurd, unter 
den Mannen und bei Hofe als der beſte Held. So ſehr gleicht 
ihr Verhalten gegen Kjartan dem der Valkyrie gegen Sigurd, ſo 
treffend bezeichnet ihr berühmter Ausſpruch: „Ihm war ich am 
ſchlimmſten, den ich am meiſten liebte“ das tragiſche Geſchick 
Brynhildens, daß ihn die Forſchung durchaus in den Eddaliedern 
finden zu müſſen glaubte. Kjartans Gemahl, Hrefna, tritt 
in der Erzählung zwar wenig heraus, ſie nimmt aber doch die 
Stellung der Gudrun in der Völſungaſaga, der Kriemhild im 
Nibelungenlied ein, und die Verſchmähte blickt auf ſie, die 
glücklich Vermählte, mit demſelben Haß wie Brynhild auf Sigurds 
Gemahl. 

Selbſt zu dem berühmten Wortkampf und Rangſtreit der 
beiden Frauen, die mit Brynhilds Niederlage und glühendem Rache⸗ 
begehren endigt, iſt in einer andern Erzählung — von Njal und 
ſeinen Söhnen — ein ſchwächeres Seitenſtück vorhanden. Halgerde 
und Bergthora ſuchen einander beim Gaſtmahl auf Bergthorsvol 
mit den gehäſſigſten Hohnworten und Kränkungen den Vorrang 
ſtreitig zu machen, und die unterliegende Halgerde, ſchön und „har⸗ 


* * u A * £ 
N N 5 
ae v2. SE a En a ae 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 75 


ten Sinnes“ wie Gudrun Osvifstochter, heiſcht Rache von Gunnar, 
ihrem Gatten, wie Brynhild von Gunnar Rache fordert. 

Bei der Vergleichung mit der Heldenſage war es nötig, ſich 
ganz allgemeiner Ausdrücke zu bedienen, um das tertium compa- 
rationis erſichtlich zu machen. Die Ahnlichkeit iſt unverkennbar, 
doch nur im Schema; ſonſt werden die Verhältniſſe überzeugend 
getreu nach dem Leben geſchildert, die Ereigniſſe tragen im einzelnen 
überall den Stempel des Geſchehenen, die Charaktere erſcheinen 
neben den überlebensgroßen, kartonartig umriſſenen Geſtalten der 


Edda wie Porträts, ſcharf geſehen, von Meiſterhand bis ins Kleinſte 


durchgearbeitet. | 

Ibſen erklärte ſich die unähnliche Ahnlichkeit damals durch 
die Annahme, daß Situationen und Begebenheiten des Nibelungen— 
liedes und der Völſungaſaga, die hier mit allen Merkmalen der 
Wirklichkeit wiederkehren, für unſer geſamtgermaniſches Leben in 
den älteſten geſchichtlichen Zeiten typiſch geweſen ſeien. Halte man 
dieſe Annahme feſt, ſagt die Vorrede weiter, ſo falle wohl auch 
der Einwurf weg, daß durch das Schauſpiel unſere Sagenwelt in 
eine Sphäre herabgezogen werde, in die ſie nicht hingehört. 

Die Fachwiſſenſchaft ſtellt eine andre, unanfechtbare Erklärung 
auf: ſie bezeichnet die Ereigniſſe und Geſtalten der Saga als 
typiſiert, und zwar nach den alten epiſchen Liedern typiſiert, oder 
wie es Vigfuſſon noch kürzer ausdrückt, als „epicised“. Von 
wirklichen Ereigniſſen, wirklichen Perſonen, wirklichen Außerungen 
berichtet der Sagaſchreiber und will er berichten; aber er iſt Dichter 
— das bekundet fein Stil, feine oft ſtaunenswerte Kunſt der Er⸗ 
zählung — und er iſt erfüllt von den alten Geſängen ſeines Vol— 
kes. Unwillkürlich formt er ſeine Überlieferung, leiſe modelnd, nach 
den großen Vorbildern, und beachtet es nicht oder kümmert ſich 
nicht, daß er geſtaltend umgeſtaltet. „Solche Schilderungen (wie 
die Laxdoela⸗, Njals⸗, Egilsſaga), bemerkt Peterſen, „können mit 
Recht bezeichnet werden, wie Goethe ſein Leben bezeichnet, als 
Wahrheit und Dichtung, denn ſie beſitzen alle Vorzüge des hiſto— 
riſchen Romans, ohne wirklich erdichtet zu ſein.“ 


76 IV. Nordiſche Heerfahrt 


Dennoch iſt Ibſens Vermutung vielleicht nicht ſchlechthin 
grundlos. Wo ſo ſchonend typiſiert werden konnte, daß der Saga 
die Selbſtändigkeit, die geſchichtliche Prägung in täuſchender Weiſe 
gewahrt blieb, da mochte dies ſchon eine gewiſſe Ahnlichkeit und 
Annäherungsfähigkeit der geſchilderten hiſtoriſchen an die epiſchen 
Situationen und Begebenheiten vorbereitet und erleichtert haben. 
Zu einer Zeit und in einem Lande, wo die Männer auf den Wiking 
zu ziehen und jahrelang auszubleiben pflegten, wird es z. B. nichts 
Ungewöhnliches geweſen ſein, daß eine zurückgelaſſene Geliebte oder 
Verlobte, fruchtloſen Harrens müde oder auch durch falſche Nach⸗ 
richten gereizt, einem andern ungeliebten Freier ihre Hand ge— 
währte. Unredlicher Nebenbuhlerſchaft wurde Raum und Gelegenheit 
zu erfolgreicher Werbung geboten, Streit und Zweikampf nach der 
verſpäteten Rückkehr des erſten Bewerbers blieben bei dem über⸗ 
empfindlichen Ehrgefühl und der Gewalttätigkeit dieſer Naturen 
nicht aus. War die unglücklich Vermählte „harten Sinnes“, ſo 
reizte ſie wohl ſelbſt die Männer zum Kampfe. Ein Thema, das 
ſo viele dieſer Geſchichten behandeln, könnte alſo, wenigſtens in 
ſeiner Grundform, aus dem Leben genommen, es braucht nicht 
durchaus „literariſcher Typus“ zu ſein. Und wär' es doch bloß den 
alten Gedichten entlehnt, ſo dürfte man immer noch mit Ibſens 
Julian („Kaiſer und Galiläer“) fragen: „Haben nicht die erdich⸗ 
teten Sinne und Willen die Bedingungen der erſchaffenen?“ — 

Zart und ſchonend hatte der Sagadichter feinen Stoff „epiſiert“: 
das Wahrzeichen des Lebens durfte nicht verwiſcht, die Glaub⸗ 
würdigkeit der Erzählung nicht gefährdet werden. Den dramatiſchen 
Dichter, der aus der Fülle der Saga ſchöpfte, hinderte nichts, ſo 
viel weiter zu gehen als der Stoff dadurch dramatiſcher wurde, 
ſeinen Vorwurf zu vervollkommnen, der Fabel eine klarere, ein⸗ 
fachere, dem Zuſchauer ſchon vertraute Geſtalt zu geben. Triftige 
praktiſche Gründe ließen ihn nicht auf das fremdartige Nibelungen 
lied oder die Eddalieder zurückgreifen, ſondern auf die proſaiſche 
Völſungaſaga. Es war dieſer Vorlage mehr abzugewinnen, be— 
ſonders den Stellen, die die Lücken der Edda ausfüllen, und alles 


BR. 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 77 


Verwendbare war in der ſpätern Faſſung dem Dramatiker ſchon 
in die Hand gearbeitet. Den „idealiſierten und gewiſſermaßen un- 
perſönlichen“ Geſtalten der Lieder hätte er ſeine Charaktere nicht 
annähern können, ohne ſie — wenn der Ausdruck geſtattet iſt — 
zu entwirklichen; dieſe Brynhild, dieſer Sigurd kamen ihnen auf 
feſtem Boden halben Weges entgegen. 0 

In der Völſungaſaga iſt die Mythenwelt allerdings zuweilen 
in eine Sphäre herabgezogen, wohin ſie nicht gehört. Die Valkyrie 
Sigrun iſt zur Prinzeſſin geworden, die ihrem Geliebten mit einem 
Heer zu Hilfe kommt. Brynhilds vom Feuer umloderte Schild- 
burg, wo ſie nach dem Lied als Schildjungfrau im Schlafe liegt, 
hat ſich in einen Turm verwandelt, in dem ſie ſich — ſehr weib— 
lich — mit kunſtvoller Handarbeit beſchäftigt. Der junge Sigurd 
wird gelehrt: „in vielen Zungen reden, wie das für Königs- 


ſöhne gebräuchlich war“, und er bricht dann, der feinen Er— 


ziehung entſprechend, nicht gewaltſam bei der ſtickenden Brynhild 
ein, „ſondern kommt mit Komplimenten. Das Geſpräch iſt 
recht hübſch, verrät aber die Sentimentalität der Ritterzeit“. Hätte 
Ibſen, wie hier der Kompilator der Völſungaſage, ein „Milieu“ 
gewählt, in dem ſich die Vorgänge der Heldenſage fremd, gezwungen 
und unwahrſcheinlich ausnehmen, ſo möchte ihn derſelbe Tadel 
treffen: Mangel an Urteil und Geſchmack. Er hat aber die Helden- 
ſage gerade in den Lebenskreis verſetzt, aus dem ſie in der Form, 


in der wir ſie beſitzen, hervorgegangen iſt, hat für ſein Drama 


dieſelbe gewaltige Naturſzenerie wie die Eddalieder, ſchildert uns 
die Menſchen, aus deren dichteriſcher Phantaſie die Geſtalten des 
ſüdlichen Siegfriedmythus als Idealgeſtalten ihrer ſelbſt, ihres 
eignen Lebens und Strebens wiedergeboren werden. 

Trotzdem iſt Ibſens Gedanke, das Gemälde altnordiſchen 
Lebens aus altnordiſcher Dichtung zu ergänzen und zu bereichern, 
nur ſelten dem Verdammungsurteil der Kunſtrichter entgangen. 
Die Verwerflichkeit der Transponierung wird entweder als Axiom 
vorgetragen (1) — auch in der Aſthetik erben ſich ja mancherlei 
Geſetze wie eine ewige Krankheit fort — oder damit begründet, 


78 IV. Nordiſche Heerfahrt 


daß fie Ausſcheidung einzelner mythiſcher Beſtandteile der Fabel 
(2) und eine Veränderung der Charaktere (3) zur Folge habe. 

1. Das Axiom lautet in Roſenbergs Worten: Das Drama ſoll 
Typen und nicht Exemplare vorſtellen; ein Held wie Sigurd, götte 
licher Abſtammung und berühmt über alle Welt, Brynhild, 
eigentlich eine Gottheit in Menſchengeſtalt, endlich Gunnar und 
Gudrun, als Kinder einer mächtigen Zauberin und Königin, können 
in einem ganz andern Grade als einfache Menſchen zu Perſonifi⸗ 
kationen einzelner Seiten des Menſchenlebens werden. 

Weſentlicher als die Perſonifizierung einzelner Seiten des 
Menſchenlebens iſt aber tragiſche Wirkung die Aufgabe der Tragödie. 
Aus welchem mythiſchen Bereich der Dichter ſeine Geſtalten hole, 
was immer für übermenſchliche Kräfte er ihnen zuteile: nur inſo⸗ 
fern ſie, ungeachtet ihrer Attribute, menſchlich fühlen und handeln, 
ſprechen ſie uns an, nur inſofern ſie menſchlich leiden, können ſie 
tragiſch wirken. Als tragiſche Perſonen unterſcheiden ſich Götter 
und Heroen von Menſchen, Fürſten und Könige von Bürgerlichen 
nur durch die größere „Fallhöhe“. Noch einen weitern Vorteil 
ſieht Schopenhauer darin, daß mit göttlicher oder doch königlicher 
Macht ausgeſtattete Helden ſich äußerlich in größerer Freiheit be⸗ 
wegen, mehr Herr ihres Schickſals erſcheinen als irgend wem 
untertane. Auch in der Hinſicht verdient Ibſen keine Rüge. Sigurd 
der Seekönig und Gunnar Herſe ſind in ihrem Lebenskreiſe ſo 
frei wie Sigurd Drachentöter und Gunnar der Gjukung, und 
Hjördis erkennt keine Macht über ſich, frei waltet ſie mit 
fremdem Schickſal wie mit dem eignen, ſelbſt der Norne bietet 
ſie Trotz. 

2. Mit dem Abſtreifen des Übermenſchlich⸗-Mythiſchen von den 
Charakteren hängt das Ausſcheiden des Sagenhaften aus der Fabel 
genau zuſammen. Dadurch daß Ibſen den Vergeſſenheitstrank 
wegließ und entſprechend änderte, hätte er demnach die Fabel ver⸗ 
pfuſcht. Auch deutſche Dichter haben den Brynhild⸗Stoff auf die 
Bühne gebracht; ſo verlohnt es ſich wohl, zu unterſuchen, welches 
denn eigentlich, äſthetiſch betrachtet, das Grundſchema der Brynhild⸗ 


No 
* - 


IV. Nordiſche Heerfahrt 78 


Tragödie ſei, das ohne Schaden für die tragiſche Wirkung nicht 
verändert werden kann. 

In ſeiner Abhandlung über die Völſungaſaga behauptet 
B. Symons, die frühere Bekanntſchaft Sigurds und Brynhilds ſei 
der Sage in ihrer urſprünglichen Form fremd geweſen. „Der 
ganzen großartigen Geſtalt der Valkyrie Brynhild kommt es zu, 
daß ſie ſich getäuſcht ſieht, ohne den bereits zu kennen, der ihr 
den Trug bereitet. Daß alsdann mit dem Schmerz, ſich getäuſcht 
zu ſehen, wilde Eiferſucht gegen die, die ihr den nur ihr ſelbſt zu⸗ 
kommenden Mann entzogen hat, in ihr auflodert, iſt pſychologiſch 
tief begründet. Eine frühere Verlobung iſt nur ein ſpäterer 


J Motivierungsverſuch, wie deren die Sage fo viele kennt, durch die 


aber der herrliche, tieftragiſche Grundgedanke der Sage den Bei⸗ 
geſchmack der Intrige erhält.“ 

Ob dieſe Erörterung beweiſt, was ſie beweiſen ſoll, ob ſie die 
äſthetiſche und pſychologiſche Auffaſſung der früheſten Dichter der 
Sage wiedergibt, oder nicht — unſern äſthetiſchen und pſycho— 


* logiſchen Anſprüchen tut die „ſpätere Motivierung“ jedenfalls beſ— 


ſer Genüge. Brynhilds todbringender Haß erſcheint uns keineswegs 


ſo großartig, ihr Los keineswegs fo tragiſch, wenn wir die Hand⸗ 


lung rein aus gekränktem Ehrgefühl entſpringen ſehen. Im Nibe⸗ 
lungenlied, das ein früheres Verlöbnis nicht kennt, fehlt auch Bryn⸗ 
hilds Ende; wäre doch ihre Selbſtvernichtung an der Leiche des 
Gemordeten weder tragiſch noch überhaupt verſtändlich, wenn der 
Held nicht zugleich ihr Held war. Für uns iſt das Tragiſche 
ihres Geſchickes am beſten ausgeſprochen in jenen Worten der 
Laxdoelaſaga: „Ihm war ich am ſchlimmſten, den ich am meiſten 
liebte.“ Darum erblickten auch unſere Dichter nicht die Tragödie 
des gekränkten Ehr⸗ und Standesgefühls in dem Stoffe, ſondern 
die der verſchmähten und ſchmählich verſchenkten Liebe. Selbſt 
Hebbel, der ſich dem Nibelungenlied anſchließt, findet einen ſo 
unbändigen Haß durch gekränktes Ehrgefühl nicht hinreichend be— 
gründet und erklärt: „.. dieſer Haß hat feinen Grund in Liebe! ... 
Doch iſts nicht Liebe, wie fie Mann und Weib zuſammenknüpft .. 


80 IV. Nordiſche Heerfahrt 


Ein Zauber iſt's, durch den ſie ihr Geſchlecht erhalten will, und 
der die letzte Rieſin ohne Luſt wie ohne Wahl zum letzten Rieſen 
treibt“ — eine naturwiſſenſchaftliche Erklärung, die ſeine Rieſin 
nicht zur tragiſchen Geſtalt macht. Sie kann denn auch mit den 
Worten: Rache, Rache, Rache! am Ende des dritten Aufzugs für 
immer aus dem Stück verſchwinden. 

Soll aber verſchmähte Liebe der Urſprung der Handlung ſein, 
dann erſcheint der Zaubertrank unentbehrlich, der Brynhild in Si— 
gurds Gedächtnis auslöſcht. Bräche er wiſſentlich die Treue, taufchte 
wiſſentlich Gudrun um Brynhild ein, dann wäre er nicht der 
herrlichſte, der untadelhafte Held, und die Fabel verlöre ihre beſte 
Kraft. Geibel hat ſich damit geholfen, daß er Brunhild unerwiderte 
Leidenſchaft für Siegfried hegen läßt. Freilich iſt es kein echter 
alter Recke, ſondern ein Kavalier, ein ſchlecht verkleideter „Helene, 
Deutſcher und Chriſt“ von der Tafelrunde des Königs Maximilian 
von Bayern, der vor ihr ſeine Gleichgiltigkeit mit den wohlgeſetzten 
Worten rechtfertigt: | | 

Denn nicht des eignen Weſens Abbild, wiſſe, 

Sein Widerſpiel nur iſt's, was uns die Seele 

Mit Liebesmacht unwiderſtehlich zwingt. 
Allein wie ſchwach und unbedeutend das Werk auch ſei: dem 
Charakter Siegfrieds iſt derart kein Abbruch getan, Brunhilds 
Beweggrund nicht geändert, die Fabel nicht verdorben. Nur kann 
Brunhilds freiwilliger Tod dann nicht ohne weiteres die Wieder⸗ 
vereinigung mit dem Geliebten bedeuten. Sie muß mit gezwun⸗ 
genem, aus ſolchem Munde unerhörtem Raiſonnement über ein 
ſtilles Reich, wo Lieb und Haß in göttlichem Erkennen untergehen, 
auf die reine Löſung hinweiſen, die uns die Edda in den erhabenen 
Schlußworten gibt: 

Zum Unheil werden noch allzulange 

Männer und Weiber zur Welt geboren. 


Aber wir beide bleiben zuſammen, 
Ich und Sigurd. (Simrock.) 


Den verſöhnenden Abſchluß ließ Ibſen fallen, nicht aber, weil 
ihn ſeine Geſtaltung des Stoffes dazu gezwungen hätte. Vielmehr 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 81 


finden fich in der ‚Nordifchen Heerfahrt‘ die als Beſtandteile der 
Fabel erwähnten Züge der Heldenſage alle bis auf einen. Hjördis 
liebt wie Brynhild einzig den beſten Helden und wird von ihm 
wiedergeliebt. Wie Brynhild wird ſie durch den Geliebten hinter— 
gangen, der unerkannt die Kraftprobe für den Freund beſteht und 
ſich dann einer andern vermählt, und wie Brynhild raſtet ſie 
nicht, bis er getötet zu ihren Füßen liegt. Nur der Vergeſſenheits— 
trank fehlt und kann fehlen: Sigurd der Wiking gewinnt, freiwillig 
entſagend, die Geliebte ſeinem Freund und Waffenbruder Gunnar. 

3. Dieſe Motivierung ſetzt unſtreitig einen andern Charakter 
voraus als den Sigurd der Heldenſage. Die Merker hätten alſo 
dem Dichter mit Recht „Veränderung der Charaktere“ aufgekreidet. 
Woher aber leitet ſich die Forderung, an überlieferten Charakteren 
ſchlechterdings nicht zu rühren, auch wenn er unbeſchadet der Fabel 
geſchehen kann? Tovs ue O naosılmuuevovs uöidovs Welr 


a  oöx Sort, erklärt Ariſtoteles. So dürfe die Ermordung Klytäm⸗ 


neſtras durch Oreſt, die Eriphyles durch ihren Sohn Alkmaeon 
nicht geändert werden. Im übrigen aber müſſe der Dramatiker 
hinzuerfinden und die Überlieferung ſchön zu verwerten wiſſen. 
Ibſen hat nicht nur die Fabel, den uödos im ariſtoteliſchen 
Sinne des Wortes, geſchont: auch feine Charaktere, bis auf den 
einen, entſprechen den epiſchen Perſonen fo weit, daß ſie unge— 
zwungen in deren Fußtapfen treten können. Hjördis iſt keine 
Schildmaid mehr, kein Gott entſendet ſie zur Walſtatt, kein Wolken⸗ 
roß trägt ſie brauſend durch die Lüfte. Sie lebt und atmet jedoch 
in dieſen Vorſtellungen, ſie verzehrt ſich in heißem Verlangen nach 
Männertat und Kampf und Streit — eine Valkyrie im Geiſte, 
ſo ſehr ſie im Außern, im täglichen Gebaren den Frauen der Lax⸗ 
doela⸗ und Njalsſaga gleicht. Und Gunnar, ihr Gatte, obwohl 
mehr jenem Gunnar auf Hlidarende nachgebildet, der von ſich ſagt: 
„Ich weiß doch nicht, ob ich für einen ſo viel weniger kühnen 
Mann zu halten bin als andere, weil es mir mehr als andern zu— 
wider iſt, Männer zu töten“ — auch er begehrt wie ſein Namens— 
bruder in der Heldenſage nach dem männlicheren, ſtärkeren, über- 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. | 6 


82 IV. Nordiſche Heerfahrt 


legenen Weibe und übernimmt ſo die klägliche Rolle des Mannes, 
der durch eignen Wert und eigne Kraft nicht bewahren kann, was 
er durch fremde gewonnen. Wie die glücklich vermählte Schweſter 
der Gjukungen, wie Kriemhild (vor Siegfrieds Tode) das Gegen⸗ 
bild der Kämpferin im Panzer, iſt endlich Dagny das weiblich— 
anmutige Gegenbild der ſtreitbaren Hjördis, liebevoll und wohl⸗ 
wollend gegen alle, doch aufflammend und ſelbſtvergeſſen auch ſie, 
wo es gilt, des Gatten Ehre zu ſchützen. Nur Sigurd, in den 
erſten zwei Akten noch dem idealen Recken der nordiſchen Sage, 
dem Siegfried des Nibelungenliedes ähnlich, entpuppt ſich, unver⸗ 
mutete Masken abwerfend, mehr und mehr als ein andrer, eine 
neue überraſchende Erſcheinung in dieſem Kreiſe. 

Aſthetiſch berechtigt iſt die Frage, ob die geänderte Geſtalt 
einheitlich und überzeugend wirke, — und das zu prüfen, wird 
ſich noch Gelegenheit bieten; die grundſätzliche Befugnis zu ſolcher 
Anderung wäre ebenfalls aus der Praxis der Alten zu erweiſen. Ehe 
die richtige Form für ‚Nordifche Heerfahrt‘ gefunden war, wollte 
Ibſen ſeinen Stoff der griechiſchen Tragödie nachbilden und hatte 
ſchon einen Entwurf in Verſen (Trimetern) begonnen. Da mag 
er denn wohl beim Studium der attiſchen Tragiker bemerkt haben, 
daß ſie ſich der Geſtalten des Mythus, von deren Charakter die 
Fabel nicht unmittelbar abhängt, mit vieler Freiheit zu ihren 
dramatiſchen Zwecken bedienen. Selten hätten ſie ſonſt die For⸗ 
derung des Ariſtoteles erfüllen können: aörov os eoͤ gionen dei 
zal ro g ugaoͤcoͤo ue vos yolodar zakös! 


„Ein Leben in dauerndem Frieden und in ruhigem Genuß 
irdiſcher Güter iſt dem vornehmen Isländer nur ſelten vergönnt. 
Wie wäre das auch möglich bei einem fo ſelbſtbewußten, jpottjüch- 
tigen, jähzornigen und rachgierigen Menſchenſchlag, als welcher 
jene Leute in der Saga uns gegenübertreten.“ In den Ein⸗ 
leitungsſzenen des Dramas wird dieſe Lage der Verhältniſſe mit 
wenigen kräftigen Strichen gezeichnet. Daß die Handlung nicht 
auf Island ſelbſt, ſondern im nördlichen Norwegen (Helgeland) 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 83 


fpielt, begründet keinen Unterſchied. Was ich früher einmal den 
Wikinger⸗Comment genannt habe, jene eigentümliche Geſetzlichkeit, 
die ſich herausbilden mußte, wenn jo gewalttätige und leicht ver= 
letzbare Menſchen auf verhältnismäßig engem Raum überhaupt 
noch leidlich zuſammenwohnen wollten, erklärt ſich uns in den 
erſten Auftritten wie von ſelbſt. Der Vorwurf, ſolche rein prak— 
tiſche Geſetzlichkeit ſchnüre die Perſonen des Dramas ein, iſt eitel; 
ſie fühlen ſich — wie in der Saga, ſo im Stücke — moraliſch 
nicht daran gebunden, immer ſteht es in ihrer freien Wahl, ſich zu 
vergleichen und Blutvergießen zu vermeiden, oder nicht. 

I. Mit Heergeleit iſt Ornulf, das Bild eines Recken vom 
Schlage des Kveldulf, des bejahrten Egil Skallegrimsſohn u. ä., 
von Island herübergekommen, Gunnar auf deſſen Hofe heimzu— 
ſuchen: Brautraub muß gebüßt werden, mit dem rechten Sühn⸗ 
geld oder mit Blut, und Gunnar Herſe hat einſt ſeine Plegetochter 
Hjördis entführt. Kaum gelandet, trifft er zuerſt auf Sigurd den 
Seekönig, der von England mit ſeinem Weibe und den Mannen 
nordwärts ſegelnd, vom Unwetter an die Küſte verſchlagen worden. 
Auch an ihn hat der Alte zu fordern: zugleich mit dem Freunde 
und Waffenbruder Gunnar hat ſich Sigurd auf Island eine Braut 
geraubt, Ornulfs eigne Tochter Dagny. Gerne gewährt der Starke 


die geſetzliche Buße und legt noch einen koſtbaren Mantel dazu, 
eine Königsgabe von Aedhelſtan. Den Verſöhnten geſellt ſich Kare 


(Käre), ein Bauer, Schutz erflehend vor Gunnars Hausfrau. 
Gunnar wäre willens geweſen, einen Streit um Weiderecht und 
Totſchlags wegen friedlich mit ihm zu ſchlichten; Hjördis hat es 
hohnredend vereitelt und ihn, in des Gatten Abweſenheit, mit 
Waffen überfallen laſſen. Gunnar tritt auf in Haustracht, nur 
mit einer kurzen Handaxt bewehrt. Vorſorglich hat er tags vorher 
ſeinen kleinen Sohn ſüdwärts geſendet, als er von Ornulfs An— 
kunft vernommen, aber Freundesgruß bietet er den Ankömmlingen 
und zeigt ſich zu jeder billigen Sühne bereit. So exponiert der 
Dichter die Sitten und die Handlung. 

Am hohen Strand, nahe ihrem Lebenselement, dem Meere, 

6* 


84 IV. Nordiſche Heerfahrt 


rechten und vergleichen ſich die Recken. Die See iſt in Aufruhr, 
es herrſcht Sturm und heftiges Schneegeſtöber. Da erſcheint Hjör⸗ 
dis, die eigentliche Tochter dieſer wilden Natur, auf dem Schau⸗ 
platz — im ſchwarzen Gewand, Mantel und Hut, einen Spieß in 
der Hand, von bewehrten Knechten geleitet — mannlich wie 
Gudrun Osvifstochter, hartgeſinnt wie Halgerde, rachgierig wie 
beide. Kalt weiſt ſie Dagnys ſchweſterlichen Gruß ab und gibt 
keinem ein Wort des Willkomms. „Gunnar — und Kare, mein 
Widerſacher — Ornulf und feine Söhne und —“ ſie zuckt leiſe zu⸗ 
ſammen, ihr Blick, die Verſammelten muſternd, iſt auf Sigurd ges 
fallen, nur ſeinen Namen ſpricht ſie nicht aus. Knapp ſind die 
Worte bemeſſen: aus dem, was geſchieht und wie es geſchieht, 
ſollen wir das Ungeſprochene herausfühlen, wie in der Saga, 
wie im wirklichen Leben. Sigurds Ruhm iſt Hjördis verhaßt, ſeine 
bloße Anweſenheit reizt ſie. Hat er Ornulf Sühngeld gegeben, ſoll 
es doch Gunnar nicht, ſoll das Leben nicht „friſten mit feigem Ver⸗ 
gleich“ — denn er hat einſt, ſie zu gewinnen, eine kühnere Tat 
vollbracht, als je Sigurd, der vielberühmte Held. Oder, wird 
Sühne gegeben, ſo wird auch Sühne gefordert: Ornulf ſoll ihrem 
Gatten Blutgeld zahlen für den Tod ihres Vaters, den er einſt im 
Zweikampf erſchlagen. Sie weiß, daß für einen „in ehrlichem 
Holmgang“ Getöteten keine Buße fällig iſt, aber wo es ihrem 
Willen nicht dient, achtet ſie des Geſetzes nicht. Heftige Reden 
fallen, Ornulf weiſt im Zorn die unbillige Forderung mit Be⸗ 
ſchimpfung zurück: haertagen kvinde, das entführte (eigentlich: 
auf dem Heerzug erbeutete, kriegsgefangene) Weib hat vor dem 
Geſetz keinen Gatten, der in ihrem Namen fordern könnte, ſie 
iſt nicht mehr als eine Kebſe. Die ſchwere Beſchimpfung bildet 
das ſogenannte „erregende Moment“ des Dramas. Denn das 
Zerwürfnis mit Ornulf iſt keine vorläufige Epiſode, lediglich zu 
dem Zweck, den Charakter der Hjördis zu exponieren, es iſt auch 
nicht die Haupthandlung, wie Roſenberg unbegreiflicherweiſe an— 
nimmt: es iſt der Beginn der eigentlichen Handlung zwiſchen 
Hjördis und Sigurd. Alle ihre Worte, vom erſten Auftreten an, 


IV. Nordifche Heerfahrt 85 


enthalten Spitzen gegen Sigurd, der an Dagnys Seite ruhig und 
mißbilligend vor ihr ſteht; nun ſagt ſie Ornulf Fehd' an auf Leib 
und Leben, ihm und — jedem, der zu ihm hält. Gewaltſam ſoll 
Sigurd gereizt und in den Streit verwickelt werden. Noch ihre 
letzte Rede zielt vielſagend feindlich auf ihn: ſoll ſie dies Leben 
und dieſe Schmach nur einen Tag länger ertragen, ſo muß ihr 
Gatte eine Tat vollbringen, die ihn berühmt macht über alle 
Miänner. Wie anders, als durch Sigurds Beſiegung könnte Gun— 
naar den höchſten Ruhm unter allen Helden erringen? 

| Entſchloſſen will Ornulf der dräuenden Fehde angreifend be— 
gegnen. Aber Sigurd kann nicht dem Waffenbruder gegen Dagnys 
Vater, kann dieſem nicht gegen Gunnar beiſtehen. Hochherzig bietet 
er all ſein Eigen, zwei gute Langſchiffe, gefüllt mit Königsgaben 
und köſtlicher Beute, als Preis friedlichen Ausgleichs mit Hjördis 
und Gunnar. Auch die Saga meldet von ſteter Freundestreue, 
die Geld und Gut ſo wenig ſpart wie das Leben. „Guter Habe 
gewinnt wohl keiner zu viel“ — doch Hjördis hat Ornulf ge— 
droht: unehrenhaft wär' es nun, Geldbuße zu nehmen. Beſtätigt 
dünkt den Alten die Märe, ihr Vater habe einft feinen Kindern 
ein Wolfsherz zu eſſen gegeben, auf daß ſie grimmigen Sinnes 


würden. 


Das Unwetter hat ausgetobt — die rote Scheibe der Mittags⸗ 
ſonne wird tief am Meeresrande ſichtbar. Eilend kommt Gunnar 
wieder mit verſöhnlicher Kunde: ein feſtliches Mahl in ſeiner Halle 
ſoll Fried' und Freundſchaft aufs neu unter ihnen befeſtigen, und 


2 3 Hjördis füge ſich ſeinem Willen. Sigurd und Dagny gehen zu 


Schiffe, Gaben zu wählen für Gunnar und ſein Geſind. Ornulf 
ſendet nur ſeinen jüngſten Sohn Thorolf mit ihnen; er ſelbſt mit 
den kampferprobten Söhnen bricht gen Süden auf, Kare und deſſen 

Helfershelfern eine koſtbare Beute ſtreitig zu machen: Gunnars 
kleinen Sohn Egil. | 

In der letzten Szene find Dagny und Sigurd allein; fie 
erwarten, in reichen Feſtgewändern vom Strande zurückgekehrt, 
Thorolf und ihre Leute, die die Gaben heraufſchaffen und die Schiffe 


86 IV. Nordiſche Heerfahrt 


ſichern. Mit warnender Bitte wendet der Held ſich zu ſeinem 
Weibe: den Armring abzuſtreifen, den er ihr einſt gegeben, und 
das Kleinod hinauszuſchleudern auf den Grund des Meeres, auf 
daß es nicht manches Mannes Verhängnis werde. Denn die Tat, 
die Hjördis ihren Freiern erſonnen, unerkannt habe er ſie für 
Gunnar vollbracht, unerkannt den Goldreif von Hjördis erhalten. 
Voll freudigen Stolzes, daß Sigurd eine Hjördis hätte gewinnen 
können und ſie gewählt, will Dagny von dem Ringe nicht laſſen; 
ſie gelobt ihn zu verbergen. „In deiner Macht ſteht es nun, ob die 
Fahrt mit Frieden ende oder mit blutigem Streit! Auf,“ befiehlt 
Sigurd, „zum Gaſtmahl in Gunnars Hof!“ 

Die alten Tragiker, vor allen Euripides, haben es eher für 
einen Vorteil als Nachteil betrachtet, daß dem Zuſchauer die Fabel 
ſchon bekannt ſei. Eine der beiden Hauptwirkungen der Tra⸗ 
gödie, die fürchtende Erwartung des kommenden Unheils (sos) 
gewinnt dadurch an Kraft und Dauer. So ſteigt hier ſchon, am 
Schluſſe des erſten Aktes, ein gewaltiges Geſchick vor uns auf, im 
dunklen Umriß wie durch Nebelſchleier geſehen, vergrößert und dräuend. 

II. Der zweite Aufzug ſpielt am Abend desſelben Tages auf 
Gunnars Hof. Vor dem Mahle ſitzen Hjördis und Dagny in der 
hohen, vom Herdfeuer beleuchteten Halle. Hjördis hat Dagny den 
Hof und all ihr Beſitztum gezeigt — ihren Käfig mit den goldnen 
Stangen. Sie freut ſich des Reichtums nicht und nicht ihres Söhn⸗ 
chens: es iſt ein weichliches Kind — der Sohn einer Unfreien, 
einer Kebſe! Immer wieder gedenkt ſie der erlittenen Beſchimpfung. 
Von einer Königin wird erzählt, ſie habe ihrem Sohne das Wams 
ins Fleiſch genäht, ohne daß er mit den Augen zuckte, das will 
ſie mit dem kleinen Egil erproben. Es iſt Ernſt in dem grimmen 
Scherze: oft wandelt fie unwiderſtehliche Luft an, ſolches zu voll⸗ 
führen — das liegt ihr im Blute. 

Ungezwungen, ja ſcheinbar ſpringend, wird das Geſpräch von 
Hjördis geführt. Aber mit großer innerer Wahrheit folgen ſich 
die einzelnen Momente, ſcharf und klar ihren Gedankengang und 
jede leiſeſte Gefühlsregung widerſpiegelnd. 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 87 


Dagnys Gegenwart gibt die Anregung zum Vergleiche, wie 
ſich das Leben beider geſtaltet, was eine jede an Glück und Ehren 
gewonnen hat. Die Wagſchale ſinkt zu Dagnys Gunſten: hohe 
Ehren ſind ihr als Sigurds Gemahl an fremden Königshöfen er— 
wieſen worden; doch das beſſere Anrecht fühlt Hjördis in ihrem 
Herzen: eine Tat gibt es, die Sigurd nicht zu verſuchen gewagt, 
die Gunnar vollbracht hat. Vergebens ſucht ſie ſich Sigurds 
Ruhm zu verkleinern, ſtets kehrt der Gedanke zu ihm zurück, zu 
ihm und zu Dagnys Leben an ſeiner Seite. — Wenn Dagny mit 
auszog in den Seekrieg, iſt da nicht eine unbezähmbare Luſt über 
ſie gekommen, die Waffen zu ergreifen und unter Männern zu 
kämpfen? Nie, ſpricht Dagny, ich — ein Weib. „Ein Weib, ein 
Weib! — Hm, es gibt niemand, der weiß, was ein Weib vermag.“ 
Aber eines muß Dagny doch wiſſen: wenn ein Mann das Weib 
umſchlingt, das er liebt, — iſt es wahr, daß alsdann ihr Blut 
brennt, ihre Bruſt pocht, daß ihr ſchwindelt vor ſeliger Wonne? 
Hjördis hat das nur ein einziges Mal empfunden — in der Nacht, 
als Gunnar die Kraftprobe beſtanden und bei ihr im Zwinger 
ſaß; er preßte fie an ſich, daß die Brünne barſt, und da, da —!“ 
Es war das einzige Mal — nie, nie ſeitdem. 

Mit unmerklicher Abſicht iſt der Dialog auf das wichtige 
Geſtändnis zugeleitet, das helles Licht über das Vorhergehende 
verbreitet und alles Folgende. Nun verſtehen wir die nagende Un— 
zufriedenheit in dieſem begehrenden Herzen, die Neigung zu Bosheit 
und Rachgier in dieſem tatenverlangenden „männlichen“ Sinn, 
ihre Empfindlichkeit und das unabläſſige Beſtreben, ſich und andern 
Gunnars Heldentum immer wieder zu erhärten, Gunnars, deſſen 
Weſen und Gebaren jener nächtlichen Tat und Umarmung ſo wenig 
entſpricht. Hinaus hätte ſie ziehen ſollen auf luſtige Heerfahrt, 
das wäre beſſer geweſen für ſie, „und vielleicht auch — für andere“. 
So aber lenkt das verhaßte Leben am Herde alle ihre Wünſche 
und Kräfte auf Unheil und Verderben. Fünf lange Nächte — denn 
im Norden iſt jede Nacht einen Winter lang — hat ſie hier oben 
geweilt, wie tot, wie begraben. Keine Luſt, kein Ergötzen als im 


88 IV, Nordiſche Heerfahrt 


Unwetter an den Strand hinabzueilen und das Auge zu weiden 
an wilden, weißmähnigen Wogen, oder des Abends bei der Lucke 
zu ſitzen und dem Waſſergeiſte, dem draug zu lauſchen, der im 
Boothaus wimmert, oder auf die Heimfahrt der Gefallenen zu 
warten, die hoch oben vorbeiſauſen auf ſchwarzen Roſſen, mit 
klingenden Schellen, kühne Männer, die im Streite geblieben, ſtarke 
Weiber, die kein ruhmloſes Leben gefriſtet, wie ſie und Dagny. 

Hochgehende Meerflut, Winterſturm und Wetter find der 
Hintergrund für ihre Geſtalt; die Schrecken der heimatlichen Natur 
belebt ſie aus dem Mythus und aus der eigenen düſtern Phantaſie. 
Sie allein von allen Perſonen im Stücke verſucht den unheimlichen 
Bund mit überirdiſchen Mächten zu ſchließen. Deine Zauberkünſte 
ſind dir überſtark geworden, ſie haben dich ſeelenkrank gemacht, ſpricht 
Sigurd im vierten Akte zu ihr. Was ſie ſelbſt in dunkler Seele 
trägt, deſſen ſollen die andern ſchuldig ſein. Sie erhebt gegen 
Ornulf in ſeiner Abweſenheit den ſchweren Vorwurf der Zauberei, 
ſie denkt an Zauber, weil Gunnar ſie gewann, und hier ſchon fragt 
ſie Dagny, ob ſie Zauberrunen ſingen könne. Das müſſe ſie wohl, 
womit ſonſt hätte ſie Sigurd an ſich gelockt! Für Sigurd hatte 
Hjördis die Kraftprobe erſonnen; trotz Gunnars Tat — ſie fühlt 
es — iſt er der größere Held: und eine Dagny hat er ſtatt ihrer 
erkoren. Bitterkeit im Herzen ſpricht ſie ihn lächelnd an, ehe ſie 
zum Mahle gehn, aber was ſie lächelnd ſagt, iſt eine offne Drohung. 
Wehe erſt, wenn fie erfährt —! 

Beim feſtlichen Gelage pflegen kühne Recken ihre Taten zu 
nennen, auf daß alle entſcheiden, wer der kühnſte ſei. Dieſe ge⸗ 
fährliche Kurzweil ſchlägt Hjördis vor, Sigurd zu demütigen. Da 
Gunnar ſich jener unvergleichbaren Tat auf Island nicht rühmen 
will, erzählt ſie ſelbſt, wie er im dunklen Zwinger, nur mit einem 
kurzen Schwerte bewaffnet, den Bären erſchlug, der die Stärke von 
zwanzig Männern hatte. Die Tafelrunde erklärt Gunnar für den 
kühnſten, Sigurd für den zweitkühnſten Mann, doch gelingt es der 
Höhnenden nicht, den edlen Helden zu reizen. Ruhend im Bewußt⸗ 
ſein ſeiner Kraft, weiſt er lächelnd den Vorwurf des Neides zurück. 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 89 


Aber fie ermüdet nicht und ſucht ihre Abſicht nicht zu bergen. Vor 
aller Augen läßt ſie ihre Schlangenhaut ſchillern und glänzen, erhebt 
ſich drohend, zieht ſich geſchmeidig zurück in immer neuen kräftigen 
und graziöſen Biegungen, — ſie funkelt von Geiſt und Bosheit. 
Plötzlich, mit raſcher Wendung fürs erſte einen andern Gegner er— 
wählend, ſteht ſie von Sigurd ab und reizt den jungen Thorolf mit 
einer verächtlichen Anſpielung auf feinen abweſenden Vater. Schlag⸗ 
fertig erwidert der Knabe — den höfiſchen Lehren folgend, die ihm 
Ornulf vor dem Mahle gegeben: „Unnötige Rede ſollſt du nicht 
führen, aber was du ſprichſt, ſoll ſcharf ſein wie Schwertesſchneide. 
Sei liebreich, ſolange dir Gutes erwieſen wird, doch reizen ſie dich, 
dann ſollſt du dazu nicht ſchweigen.“ Es entſpinnt ſich zwiſchen 
den beiden ein heftiger, nicht zu beſchwichtender Zank, bis endlich 
Thorolf triumphierend die Halle verläßt mit der Ankündigung, 
fein Vater ſei ausgezogen, den kleinen Egil zu töten. Gunnar, von 
Hjördis geſtachelt, eilt ihm nach und erſchlägt Ornulfs Lieblings⸗ 
ſohn — und gleich darauf ſieht er den Recken ſelbſt eintreten, das 
wohlbehaltene aus Kares Händen errettete Kind auf den Armen. 

Der heißblütige, von echtem Wikingergeiſt erfüllte Knabe hatte 
des Vaters knappe Worte auf eine Rachetat gedeutet. Durch ein 
Mißverſtändnis fällt Thorolf, erreicht Hjördis ihren Zweck. Denn— 
noch iſt ſie, die unverholen Zwietracht geſät, um Unheil zu ernten, 
die eigentliche Urheberin der Tat — der Zufall läßt ſie ihre Abſicht 
nur ſchneller und vollkommener erreichen. Selbſt die größten Dra⸗ 
matiker, vor allen Shakeſpeare, haben dies Beſchleunigungsmittel 
nicht verſchmäht. 

Entſetzt und erſchüttert blicken Gäſte und Geſinde auf den 
Greis, dem ſeine hochherzige Tat ſo furchtbar iſt entgolten worden. 
Einer üppigen Tanne gleich, wurde er durch ein einziges Unwetter 
all ſeiner Zweige beraubt: auch die ſechs älteren Söhne ſind tapfer 
kämpfend gegen Kares Helfer auf der Walſtatt geblieben. Selbſt im 
Schmerze ein Held, fragt Ornulf, wo Thorolf die Todeswunde 
empfangen. „Quer über die Stirne“, — das iſt eine rühmliche 
Stelle; doch daß er halb ſeitwärts, halb gegen Gunnars Füße 


90 IV. Nordiſche Heerfahrt 


gefallen, das kündet nur halbe Rache. Hjördis unterdrückt die 
Bewegung des Augenblicks, ſie kann nicht und ſie will nicht beſchämt 
und ſchuldig daſtehen und ſich ſo wenig durch Großmut wie durch 
Waffengewalt beſiegen laſſen. Da Ornulf ungebeugt, jede Hilfe 
zurückweiſend, die Leiche des Sohnes hinweggetragen, ſucht ſie ge— 
waltſam das laſtende Gefühl abzuſchütteln, das dumpfe, beklommene 
Schweigen, das über der Halle liegt, mit erzwungenem Lachen zu 
brechen. Die erbarmungsloſe Wildheit und Härte ihres Charakters, 
das Bedürfnis, ihre frühere, feindliche, berechtigte Haltung gegen 
Ornulf und ſeine Freunde wieder zu gewinnen, läßt ſie empörende 
Hohnreden ausſtoßen. Alles wolle ſie Ornulf verziehen haben, nur 
nicht, daß er ihre Wahl ſchmähte. Und bin ich eine Kebſe, ruft 
ſie Dagny zu, ſo hab' ich doch keine Schande davon, denn jetzt iſt 
Gunnar mächtiger als dein Vater, er iſt vornehmer und berühmter 
als Sigurd, dein Gatte! Das iſt zu viel — ſelbſt für Dagny. 
Sigurds Abwehr nicht achtend, verkündet ſie laut vor allen, wer 
die Tat im Zwinger vollführt hat und hält den goldenen Armring 
empor, den Hjördis in jener Nacht Sigurd gegeben. — Zu ſich 
ſelbſt ſpricht Hjördis die Schlußworte: „Nun hab' ich nur noch 
eines zu tun, nur auf eine Tat noch zu ſinnen: Sigurd muß 
ſterben oder ich!“ 

In der Völſungaſaga und im Nibelungenlied führt der Frauen 
„Übermut“ und „üppige Rede“ epiſch⸗gelegentlich zur Offenbarung 
des unſeligen Geheimniſſes. Die dramatiſche Kunſt iſt die Kunſt 
des Vorbereitens und der Steigerung. Ibſen hat in dieſen Szenen 
ein Muſter der Dramatiſierung des epiſch Überlieferten gegeben. 

III. Seit dem Morgendämmer ſitzt Hjördis in der Halle, eine 
ſtarke Bogenſchnur aus ihren eignen Haaren zu flechten. Noch in 
der Nacht hat ſie Pfeile geſchäftet und Zauberſprüche darüber ge⸗ 
ſungen. Sie zeigt Gunnar die bereiteten Waffen: „Mit jeder Stunde 
wird jetzt eine Großtat geboren! Du erſchlugſt meinen Pflegebruder — 
und ich flechte an dieſer ſeit Tagesgrauen.“ Er ſoll den Arm leihen, 
ihre Großtat zu vollbringen. Doch er fühlt ſo deutlich, wie die 
Nornen mit ihm und Hjördis und Sigurd gewaltet und ihre Gaben 


IV. Nordiſche Heerfahrt 91 


zum Schlimmen geteilt haben, daß er im Traume die Wahrheit ſah. 
Ihm träumte, Sigurd lag von ihm erſchlagen; aber totenbleich 
ſtand Hjördis daneben; und auf ſeine Frage, ob ſie nun fröhlich 
wäre, lachte ſie und ſagte: Fröhlicher wollt' ich ſein, lägeſt du, 
Gunnar, an Sigurds Stelle. Hjördis kleidet die Verſuchung in ein 
lockendes Gewand: mit funkelnden Augen verheißt ſie Gunnar 
warme, wilde Liebe, wie er ſie nie von ihr hat erlangen können, 
um den Preis der Rache an Sigurd und Dagny. Schon halb ver— 
führt lauſcht er ihren Verheißungen, da tritt Dagny ein, ihn vor 
Kares Überfall zu warnen. — Sie kommt auch zu Hjördis, Verge⸗ 
bung zu erbitten: ſie ſei ja von nun an noch unglücklicher als 
Hjördis. Dies Wort gibt Hjördis die Rache ein, die ſchwerer zu 
tragen ſein ſoll als der Tod. Von nun an? Bisher denn, dieſe 
fünf Jahre, ſind eine Zeit ungetrübten Glückes für Dagny geweſen. 
Aber Sigurd — kann er dasſelbe ſagen? Argliſtig erinnert ſie dar— 
an, wie der kühne Held einſt vor ſeiner Vermählung auf Island 
geſprochen: wie er ſich da eine hochgemute Hausfrau gewünſcht, 
ſtolzen Sinnes und ehrbegierig, die ihm geharniſcht in den Kampf 
folgen und nicht mit den Augen blinken würde, wo Schwerter 
blitzen. Scharf ſind ihre Worte, gleich ihren Pfeilen, und treffen 
ſicher. Vernichtet geht Dagny hinweg: an ihr iſt Hjördis gerächt: 
noch bleibt Sigurd. 

Im 29. Kapitel der Völſungaſaga wird erzählt, wie Sigurd 
nach dem verhängnisvollen Zank der Frauen zu Brynhild geſandt 
wird, die tötlich Gekränkte zu tröſten. „Betört biſt du,“ hebt er 
an, „wenn du wähneſt, daß ich dir feindlich geſinnt ſei; und der 
iſt doch dein Gemahl, den du dir ſelbſt erkoren.“ Heftig wider⸗ 
ſpricht Brynhild und beſchuldigt ihn, daß er ſie haſſe: „Nicht 
kennſt du recht meinen Sinn: du überrageſt alle Männer, aber 
keine Frau iſt dir verhaßter geworden als ich.“ Da entgegnet der 
Held: „Anders iſt wahrer: ich liebe dich mehr als mich ſelbſt.“ 
In dieſen Worten des längeren Wechſelgeſprächs, das offenbar eine 
ſtrophiſche Vorlage hatte, war dem Dramatiker die entſcheidende 
Szene der Tragödie vorgezeichnet, in der die letzten täuſchenden 


92 IV. Nordiſche Heerfahrt 


und bergenden Schleier gehoben werden und das unabänderliche 
Geſchick der beiden in ſeiner ganzen Tragik ſich enthüllt. 

Auch Ibſens Sigurd ſucht Hjördis auf, aber aus eigenem 
Antrieb. Es nagt an ihm wie eine Krankheit, daß Hjördis ihn 
und ſein Gefühl für ſie verkennt: er kann nicht von dannen ſegeln, 
ehe ſie weiß, warum er tat, was er tat. Mit Vorwürfen empfängt 
ſie ihn und ſagt es ihm unverhohlen, daß die Waffen, die ſie 
wirkt, gegen ihn beſtimmt ſeien, wie die Brynhild der Völſungaſaga 
dem fragenden Recken geſteht, es ſei ihr ſchmerzlichſter Harm zu 
wiſſen, daß ſie es nicht dahin bringen könne, daß ein ſcharfes 
Schwert in ſeinem Blute gerötet werde. Aber Hjördis weiß, wie 
ſie es dahin bringen will: früh oder ſpät ſollen Sigurd und 
Gunnar auf Leben und Tod kämpfen. Und doch, die guten Waffen, 
die ſie dazu bereitet und bezaubert hat, ſind wider Sigurd, aber 
nicht für Gunnar bereitet: ſie wünſcht den Tod des einen, ohne 
dem andern den Sieg zu gönnen. Sigurd meint, das ſei wohl 
das gleiche, — da ſagt ſie ihm lächelnd, als wär' es im Scherz, 
ihren wahren Herzenswunſch: ihr wär' es am liebſten, Sigurd der 
Starke „brennte ſie ein“, ſie und ihren Gatten, d. h. er legte Feuer 
an rings um ihren Hof, wie das in den isländiſchen Erzählungen 
mehrmals geſchildert wird. Oft malt ſie ſich in luſtigen Bildern 
aus, wie es dann weiter gehen ſollte. Alle ihre Mannen wären 
gefallen, nur Gunnar verteidigte ſich noch mit ſeinem Bogen. Da 
riſſe ihm der Strang und er bäte ſie um eine Haarflechte, weil es 
das Leben gilt. Sie aber lachte: „Laß brennen, laß brennen! 
Das Leben iſt mir keine Handvoll Haare wert!“ — Die Erzählung 
von Halgerde in der Njalsſaga, die ihrem Gatten unter gleichen 
Umſtänden, um ſich an ihm zu rächen, die Haarflechte weigert, iſt 
hier mit fein veränderter Motivierung verwertet. 

Die Art, wie Ibſen ſeine Vorlagen benutzt, die leiſe Wen⸗ 
dung, die er ſolchen Entlehnungen gibt, daß ſie nicht moſaikartig 
eingeſetzt, ſondern mit dem Ganzen untrennbar verſchmolzen er— 
ſcheinen, gemahnt an Shakeſpeares Verfahren mit Holinshed und 
den italieniſchen Novelliſten. 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 93 


Sigurd, befangen in dem Gedanken, daß er Hjördis immer 
verhaßt geweſen, hört das verſteckte Liebesgeſtändnis nicht in ihren 
Worten. Aber aufs neue von ihrem geheimnisvollen Reiz erfaßt, 
nähert er ſich und legt das unerwartete Geſtändnis ab, erzählt eine 
Saga „ ſchwer wie das Leben ſelbſt“, die Saga von feiner Liebe zu 
ihr. Vor dem Freunde, dem Waffenbruder trat er einſt ſchweigend 
zurück, einer von ihnen mußte ja weichen, und — ſo ward Hjördis 
Gunnars Gattin, und er freite ein anderes Weib. „Und gewannſt 
ſie lieb?“ fragt Hjördis raſch und ſpähend. Die Frage zeigt den 
Dichter als feinen Kenner und Beobachter weiblichen Seelenlebens, 
als Feminiſten, wie das neue franzöſiſche Kunſtwort lautet. Sigurds 
Antwort läßt die Worte der Völſungaſaga durchſchimmern: „Immer⸗— 
fort .. härmte es mich, daß du nicht mein Gemahl warſt; doch 
unterdrückte ich es, fo viel ich vermochte.“ Er hat Dagny ſchätzen 
lernen, aber nur für ein Weib empfand er Liebe, für ſie, die ihm 
gram war vom erſten Tag an. Hier glaubt er die Saga geendet 
und für immer will er Abſchied nehmen von Gunnars Hausfrau. 
Sigurd hat die Bewegung nicht beachtet, mit der Hjördis der Er- 
zählung lauſcht, und ihre Zweifel an der Wahrheit des Gehörten, 
ihre Ausrufe und endlich den Ausbruch ihres Schmerzes mißdeutet 
— bis ſie mit Worten die heiße Liebe zu ihm bekennt, die ſie 
unter unmildem Weſen nur allzu erfolgreich und lange verborgen. 

Traurig erklärt die Brynhild der Völſungaſaga: „... nun 
finden wir keinen Ausweg mehr“ — und ſchlägt Sigurds drin- 
gende Bitte ab, ihm dennoch anzugehören. Ibſen hat, den anders 
gearteten Charakteren gemäß, die Rollen vertauſcht. Hjördis fragt 
nicht nach Gunnar und Dagny: — „was liegt daran, ob zwei 
elende Leben verſpielt werden?“ Frei ſind beide, ſie und Sigurd, 
wenn ſie nur wollen, und das Glück iſt wohl einer Großtat wert. 
Nicht von Liebesglück ſpricht fie, nicht mehr als fein Gemahl be— 
gehrt ſie ihm zu folgen: wie ein Mann den Mann liebt ſie den 
herrlichſten Helden, in Panzer und Stahl will ſie mit ihm zu 
Felde ziehn gleich jenen ſtarken Frauen, Hildens Schweſtern, den 
Valkyrien, bis ſein Name über alle Lande geht, bis er Norwegens 


94 IV. Nordiſche Heerfahrt 


König beſiegt hat und ſelbſt thronet auf Haralds Königsſtuhl. 
Das waren einſt Sigurds „wilde Jugendträume“; nun weiſt er 
die Verſuchung von ſich. „Böſe Tage zeugen böſe Gedanken“: 
ihn zu zwingen, droht Hjördis, Gunnar und Dagny alles zu ent— 
decken. Aber ſie, die ſich nicht um Recht und Geſetz und Herkommen 
kümmert, wo es ihrem Willen entgegen iſt, hält doch eines hoch: 
Mannesehre. Denn auch die freieſte Perſönlichkeit iſt nicht ganz 
ungebunden und unabhängig von den Anſchauungen ihrer Zeit. 

Daß ſich Hjördis gerade dem Ehrbegriff gefangen gibt, den wir 
an Stelle einer ſittlichen Macht auf alle wirken ſehen, iſt in ihrer 
Natur wohl begründet. An dem einen Bande erfaßt Sigurd 
die Zügelloſe. Wenn er im Zweikampf ihren Gatten erſchlüge 
— und es iſt triftiger Grund zum Streit zwiſchen ihm und Gun⸗ 
nar, der ſeines Weibes Bruder erſchlagen — da könnte ſie Sigurd 
nicht mehr folgen wollen, da müßte ſie ſchweigen und den Gatten 
rächen. So entbietet denn Sigurd den Freund auf den nächſten 
Morgen zum Holmgang: einer von ihnen muß fallen. Gunnar, von 
dem ſich alle Freunde und Nachbarn als von einem gebrandmarkten 
Feigling abgewendet haben, wird durch die Herausforderung in 
ſeiner Ehre wiederhergeſtellt. Dankend faßt er des Helden Hand 
und will ihm zum Kampfe ein gutes Schwert reichen — wohl eine 
Erinnerung aus dem Nibelungenlied. Sigurd lehnt die Gabe ab: 
niemand weiß, ob ich morgen abend noch ein Schwert brauche. 
Wir ahnen, wen er im Zweikampf zu opfern gedenkt. Sinnend 
erwägt Hjördis die Rede der Männer; aber wer auch falle, eines 
iſt feſt in ihrer Seele beſchloſſen: „Sigurd und ich bleiben bei- 
ſammen!“ 

Frühzeitig wird der Schlüſſel zum Charakter der Hjördis ge 
boten, ſeltſam ſpät Sigurds geheimes Herz geöffnet. Und während 
wir faſt vom Anfang an ihre wahren Gefühle durch die Hüllen 
von Haß und Rache ahnend erſchauen, iſt uns das Geſtändnis 
ſeiner Liebe ſo überraſchend wie Hjördis ſelbſt. Im Verlaufe der 
erſten Akte war es unmöglich zu erkennen, daß ſein Benehmen gegen 
Dagny nicht ſeiner Zärtlichkeit, nur einer faſt übergroßen Zartheit 


IV. Nordiſche Heerfahrt | 95 


entſpringt. Aus der Beteuerung gegen Ornulf: „Dagny iſt mir 
lieber als Waffen und Gold, und nie werd' ich vergeſſen, daß du 
ihr Vater biſt,“ war kaum etwas anderes herauszuhören als Liebe, 
wie auch ſonſt kein Wort, keine Gebärde verkündet, weder daß er 
Dagny nur ſchätze, noch daß er Hjördis nicht gleichgültig oder 
abgeneigt gegenüberſtehe. Wohl erzählt Hjördis, der vermeintliche 
Gunnar im Zwinger habe ſie ſo heftig an ſich gepreßt, daß ſein 
Panzer barſt, doch Sigurds klares, kühl überlegenes Gebaren im 
Umgang mit ihr läßt die Vermutung nicht aufkommen, daß er jetzt 
noch wärmer für ſie fühle. Vor allem widerſpricht dem Liebes— 
geſtändnis des dritten Aufzugs ein der Überlieferung entlehnter 
Umſtand der Vorgeſchichte. Der Sigurd der nordiſchen Sage ver— 
ſchenkt unter dem Einfluß des Vergeſſenheitstrankes Brynhilds 
Kleinod an Gudrun, und Siegfried im Nibelungenlied gibt den 
Gürtel einer Fremden, leichtherzig von ihm Betrogenen, dem ge— 
liebten Weibe. Wie aber iſt es zu verſtehen, daß Ibſens Sigurd 
den Armring der Geliebten feinem ungeliebten Weibe zu tragen 
gegeben? 

Auf den unvorbereiteten Wechſel in der Auffaſſung Sigurds, 
zu dem die Einbildungskraft im dritten Akte gezwungen wird, 
ſtützt ſich wohl hauptſächlich der Vorwurf, durch die Transponie⸗ 
rung würde die Fabel oder die Charaktere, wenn nicht beides, 
verpfuſcht. Richtig iſt nur, daß Ibſen den Charakter einheitlicher 
hätte bilden müſſen und können. Wenn ſich Sigurd in den erſten 
Akten immer noch edel, aber doch kälter gegen Dagny verhielte, 
wenn Dagny den Ring unter andern Beuteſchätzen gefunden und 
arglos ihrem Schmucke, ohne daß er widerſprechen durfte, hinzu 
gefügt hätte — wäre des Dichters Zweck nicht ebenſo erreicht, die 
Warnung vor dem Mahle nicht ebenſo begründet? Oder aber: 
wenn Sigurd einſt Dagny ihres lieblichen Jugendreizes wegen ge— 
wählt hätte und nun erſt für Hjördis entbrennte, da er, nach 
fünf Jahren zurückgekehrt, die einſt gleichgültig Eroberte und Ver— 
ſchenkte als die ihm Beſtimmte, ihn Liebende, als ſein weibliches 
Gegenbild erkennt? 


96 IV. Nordiſche Heerfahrt 


Freilich, der Sigurd der ‚Nordifchen Heerfahrt‘ trägt noch eine 
Maske, die er erſt im letzten Aufzug ablegt, und ſo würde uns 
dieſe Geſtaltung der Dinge doch wieder nur vor der erſten, kleineren 
Überraſchung bewahren. 

IV. Hätte Ibſen nach dem Beiſpiel Viktor Hugos die ein— 
zelnen Akte des Dramas mit den Namen der Perſonen überſchrieben, 
die hauptſächlich darin hervortreten, müßte der zweite „Hjördis“, 
der dritte ‚Sigurd‘ heißen. Für den vierten drängt ſich der Name 
Ornulf auf. Der unverhältnismäßige Raum, den Ornulf im Schluß⸗ 
akt einnimmt, hat zu der Bemerkung Anlaß gegeben, im erſten 
und zweiten Akte werde die Handlung durch ihn gefördert, im 
letzten nur unterbrochen. Aber ſo urteilt der kritiſche Leſer, nicht 
der Zuſchauer vor der lebendigen Bühnenhandlung. Gezwungen, 
den drängenden, erſchütternden Ereigniſſen durch zwei Akte mit an⸗ 
haltender Aufmerkſamkeit zu folgen, findet er in der Eingangsſzene 
des vierten — ein tragiſches Idyll könnte man ſie nennen — wohl⸗ 
tätigen Wechſel und Erholung in verweilendem Genuſſe. Oft dient 
das ſogenannte „Moment der letzten Spannung“ dazu, den Geiſt 
zur Aufnahme der Kataſtrophe wieder friſch und empfänglich zu 
machen. Der ſterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear, 
Kreon ſein Todesurteil über Antigone zurücknehmen: „dem Gemüt 
des Hörers für einige Momente Ausſicht auf Erleichterung zu 
gönnen.“ Hier ſind die Würfel gefallen, und es war „dies alte 
anſpruchsloſe Mittel“ nicht mehr zu brauchen. Dennoch ſchafft uns 
der Dichter auf gute Weiſe die Erholungspauſe, indem er zugleich 
Ornulf „ſich ausleben“ läßt, wie es vom Drama für jeden wich⸗ 
tigeren Charakter gefordert wird. Die nächtliche Szene — wenn 
der greiſe Skalde am Grabhügel bei Fackelſchein ſeinen Söhnen 
zum Ruhm und Gedächtnis die Drapa dichtet — erzeugt überdies 
jene eigentümlich weihevolle Stimmung, die das Zermalmende der 
Kataſtrophe in ein Erhebendes verwandeln hilft. 

Dem 69. Kapitel der Egilsſaga iſt der Vorgang entnommen, 
ſo charakteriſtiſch für die Zeit, ſo wirkungsvoll auf der Bühne. 
Nach dem Verluſt zweier Söhne will ſich Egil Skallegrimsſohn 


— Mu Fe Fe 


IV. Nordiſche Heerfahrt 97 


zu Tode hungern. Da beredet ihn ſeine Tochter Thorgerde, erſt 
noch einen Sang zu dichten, der nach isländiſcher Sitte beim 
Leichenſchmaus (eigentlich beim „Erbbier“) vorgetragen werde, wenn 
tapfere Männer der Toten Minne trinken. Je weiter Egil in dem 
Liede kam, das da heißt „Der Söhne Verluſt“, deſto mehr nahmen 
ſeine Kräfte zu, und als er fertig war, ſtand er auf und ſetzte ſich 
auf den Hochſitz, d. h. er war dem Leben wiedergewonnen. 

Ibſen überträgt Dagny faſt wörtlich die Rolle der Thorgerde. 
Doch ſind einzelne feine Züge hinzugefügt. Um den Vater zum Ver⸗ 
laſſen des Grabes zu bewegen, macht ihn Dagny auf das dräuende 
Unwetter aufmerkſam. Sorge dicht nicht, antwortet ſelbſtvergeſſen 
der Alte, dicht iſt der Hügel und gut gebaut, ſie ruhen geſchützt 
darunter. Ornulfs Sang klingt in der erſten und zweiten Strophe 
leiſe an die beiden erſten Strophen Egils an, im übrigen iſt das 
Gedicht eigne Schöpfung, da vom Inhalt nicht viel, und auch von 
den „keningar“, den geſuchten und gekünſtelten Umſchreibungen 
der isländiſchen Skalden, nur eine oder die andre (wie z. B. „Sut⸗ 
tungs Met“ für „Poeſie“) zu verwerten war. Die heilende Wir⸗ 
kung der Dichtkunſt, in der Saga nur durch den Erfolg dargetan, 
wird in den Schlußſtrophen — wohl aus perſönlicher Überzeugung 
und Erfahrung — mit Innigkeit herausgehoben. Ornulf ſchließt: 

Meine Söhne nahm fie [die Norne), 
Doch ſie gab dem Munde, 

Meine Sorg' zu ſingen, 

Kraft und Liedes Kunde. 

Legt' mir auf die Lippen 

Des Geſanges Gabe, 


Daß mein Gruß den Söhnen 
Mächtig tönt am Grabe. 


Heil euch, die in Walhall 
Huld und Heim gefunden! — 
Sanges Göttergabe 
Sänftet Weh und Wunden! 
Leichter wohl iſt der Tadel gegen dieſe wirkſame, künſtleriſch 
zweckdienliche Epiſode zu entkräften, als die Einwände gegen eine 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. | 7 


98 IV. Nordiſche Heerfahrt 


zweite, beſonderliche Überraſchung, die uns durch Sigurd in der 
Szene der Kataſtrophe bereitet wird. Die Szene ſpielt in derſelben 
Sturmnacht am Grabhügel, ſo daß alſo die ganze Handlung des 
Stückes in zwei Tagen und zwei Nächten verläuft. Ornulf und 
Dagny ziehen mit den Knechten gegen den Rache ſuchenden Kare, 
der Gunnars Hof mit Mordbrennern überfällt. Sigurd allein iſt 
zurückgeblieben: er darf Gunnar vor dem Zweikampf nicht begeg⸗ 
nen. Eilend tritt Hjördis auf, in einem kurzen roten Scharlach⸗ 
gewand, behelmt und angetan mit goldner Brünne — gleich der 
Brynhild der Edda im kleinen Sigurdslied —, den Bogen in der 
Hand, ſo wie ſie Sigurd zur Heerfahrt hätte begleiten wollen. In 
wilder Erregung glaubte ſie ſich von einem Wolfe mit glühenden 
Augen verfolgt — ihrer „fylgje“ — und in dem heraufziehenden 
Gewölk des Unwetters erblickt ſie „der Toten Heimfahrt“, durch 
Zauber von ihr herbeigezogen, Sigurd und ſie mitzunehmen. Denn 
nur im Tode können beide zuſammen bleiben. Noch einmal gibt 
fie ihrem männlichen Sinn und der Verachtung weiblichen Be⸗ 
rufes Ausdruck: „Auch iſt es beſſer ſo, als hätteſt du mich hie⸗ 
nieden gefreit im Leben, und ich hätte auf deinem Hofe geſeſſen, 
um Lein und Wolle zu weben und dir Kinder zu gebären — pfui, 
pfui!“ Vergebens weiſt Sigurd auf ihr brennendes Heim hin, 
auf Sohn und Gatten, die in Gefahr ſchweben: ſie achtet es nicht. 
Fort aus dem Leben, hier blüht uns kein Glück! Der Sturm 
bricht los: da iſt ihr Geleite! In der Völſungaſaga träumt 
Gudrun, daß Brynhild den ſchönen Hirſch, den ſie gefangen, ihr 
vor den Knien erſchießt: Hjördis reißt ihren Bogen an die Wange 
und ſtreckt Sigurd nieder. Und nun, da ſie jubelnd zu dem 
Sterbenden hineilt: Sigurd, jetzt gehören wir einander an! — er: 
fahren wir das Erſtaunliche. Mehr als je ſcheiden ſich ihre Wege: 
Sigurd iſt Chriſt! König Aedhelſtan hat ihn zum weißen Gotte 
bekehrt: zu ihm geht er hinauf. Das wilde Heer ſcheint brauſend 
zu nahn, ohne Sigurd will Hjördis nicht folgen. Verzweifelnd 
ſucht ſie Schutz auf dem Grunde des Meeres. 

Gunnars Hof iſt verbrannt, er ſelbſt mit dem kleinen Egil 


FREE 


IV. Nordiſche Heerfahrt 99 


durch Ornulf gerettet. Die Zurückkehrenden finden Sigurds Leiche 
und den Bogen, und Dagny wirft ſich mit lautem Schmerzensruf 
über den Gatten. Von einer Ahnung ergriffen, fragt Gunnar, 
ob Hjördis hier geweſen. „Ich weiß es nicht“, erwidert Dagny, 
„aber das weiß ich: ihr Bogen iſt hier geweſen.“ Plötzlich klam⸗ 
mert ſich der Knabe erſchreckt an Gunnar: hoch oben in den 
jagenden Wolken, auf ſchwarzem Hengſt erkennt er die Mutter. 


Aus rein menſchlichem Bereich hat der Dichter die Fabel 
auf dogmatiſches Gebiet hinübergeſpielt, um die tragiſche Wirkung 
zu erhöhen. Wird ſie nicht eher dadurch beſchränkt — oder wäre 
ſie nicht wenigſtens geſicherter und ſtärker, wenn nur Hjördis und 
nicht auch wir von dem unerwarteten Bekenntnis überraſcht würden? 
„Was braucht der Dichter uns zu überraſchen? Er überraſche 
ſeine Perſonen ſo viel er will; wir werden unſer Teil ſchon davon 
zu nehmen wiſſen, wenn wir, was ſie ganz unvermutet treffen muß, 
auch noch ſo lange vorausgeſehen haben. Ja, unſer Anteil wird 
um ſo lebhafter und ſtärker ſein, je länger und zuverläſſiger wir 
es vorausgeſehen haben.“ (Leſſing.) 

Vielleicht wäre dieſe Schlußwendung nicht weiter vorzubereiten 
geweſen, wenn Sigurds Denken und Tun zu dem der heidniſchen 


Miänner des Dramas in auffallendem Gegenſatz ſtünde. Jedoch 
er bewegt ſich durchaus im Rahmen jener eigentümlichen, ganz 
unchriſtlichen Geſetzlichkeit feiner Zeit. Gewiſſenhaft, makellos, kraft⸗ 


voll iſt er ihr idealer Vertreter, doch nirgend mehr. Jede ſeiner 
Handlungen läßt ſich aus der Saga mit Beiſpielen belegen. Daß 
er Gunnar ſein Glück geopfert hat und Hab und Leben für ihn 
hinzugeben bereit wäre, iſt von heidniſcher Blutsbrüderſchaft her— 


zuleiten. Arinbjörn wagt das Leben für feinen Freund Egil, und 


Svenke ſogar für einen hilfeſuchenden fremden Mann. Darum bes 

wundert Ornulf zwar Sigurds große Opferwilligkeit für Gunnar, 

aber er iſt keineswegs darüber verwundert. Und Ornulf ſelbſt 

zeigt ſich ebenſo hochgeſinnt und edelmütig — nicht gegen einen 

Freund, ſondern gegen Hjördis, von der ihm Haß und Kränkung 
7 


100 IV. Nordiſche Heerfahrt 


widerfahren. Die Herausforderung Gunnars zum Holmgang auf 
Leben und Tod erſcheint nicht weniger heidniſch, weil Sigurd ſich 
töten laſſen will, wie Kjartan ſich von Bolle töten läßt. Und wenn 
er gleich Ornulf die Norne und das Schickſal im Munde führt, 
wer kann erraten, daß er einen andern Sinn mit dieſen Worten 
verbinde? Auch daß er den „wilden Träumen“ ſeiner Jugend 
von kühnen Eroberungen entſagt hat und Hjördis als Verſucherin 
von ſich weiſt, müſſen wir im Zuſammenhang anders verſtehen. Er 
fühlt ſich an Dagny gebunden, die keine Hjördis iſt: „nun begnügt 
er ſich mit geringerem Glück“. Wenn der friedliebende, blutſcheue, 
ſtets vermittelnde Gunnar, der ſich nur im Augenblick der höchſten 
Erregung und von feinem Weibe geſpornt zu einer ſchnellen und ſchnell 
bereuten Tat emporreißt, wenn er ſich plötzlich als Chriſten be⸗ 
kennte, das würde viel weniger überraſchen als Sigurds Geſtändnis. 

Das einzige, was ein Verteidiger noch vorwenden könnte, wäre, 
daß Ibſen auch hier ein getreues Bild der gewählten Zeit habe 
ſchaffen wollen. In den isländiſchen Geſchichten zählen wir eine 
ganze Reihe von Chriſten, an deren heidniſcher Denk- und Lebensart 
die Taufe nichts geändert hat. Der Sendling Olaf Tryggvaſons, 
der deutſche Miſſionär Dankbrand, verweigert den Holmgang nicht, 
und er und ſein isländiſcher Genoſſe Gudleif, ein großer Rauf⸗ 
bold, ſchlagen ihre Widerſacher tot. Hildigunne beſchwört ihren 
Verwandten Floſe bei ſeiner „Chriſti Kraft“, Blutrache für ihren 
Gatten zu nehmen, und Floſe ordnet Gottesdienſt an, eh er zur 
Blutrache aufbricht. Er ſchlägt auch vor, Njal in ſeinem Hofe zu 
verbrennen, obwohl ſie ſich als Chriſten dadurch eine große Ver⸗ 
antwortung vor Gott zuzögen. Die Saga läßt ſogar den weißen 
Gott ein Wunder tun und den blinden Ammunde auf kurze Zeit 
ſehend machen, damit er Blutrache nehmen kann. Allein nur mit 
derartig bezeichnenden Beiſpielen war die charakteriſtiſche Miſchung 
von Heidentum und Chriſtentum zu ſchildern. Es kann nicht 
vorausgeſetzt werden, daß ſich der Zuſchauer, in der Saga be 
leſen, Sigurds ſo ſpät angekündigtes Chriſtentum rückdenkend und 
vergleichend zurechtlege. 


IV. Nordiſche Heerfahrt 101 


Hjördis und ihre geiſtigen Schweſtern in Ibſens Dramen 
werden oft als „dämoniſche“ Frauengeſtalten bezeichnet, weil wir, 
im Banne chriſtlicher Sittenlehre, die Alleinherrſchaft des Willens 
nicht mehr als das Natürliche, Urſprüngliche empfinden und dazu 
neigen, furchtlos unbeſchränkte Willensäußerungen als übermenſch⸗ 
lich anzuſehen. Hier begünſtigt der Dichter ſelbſt eine ſolche Auf— 
faſſung durch eine mythiſch⸗myſtiſche Zutat, den Valkyrienritt, der 
von dem Kinde als wirklich erſchaut wird. Dennoch iſt Hjördis, 
wie Gudrun Osvifstochter, zwar durch keine ſittliche Rückſicht be⸗ 
ſtimmt und gehindert, aber darum nicht minder durchaus menfchlich- 
verſtändlich. Ibſens Lieblingsgedanke, daß jeder bedeutenden Per: 
ſönlichkeit durch ihr eignes Weſen ein „Beruf“, eine beſtimmte, 
unabweisliche Lebensaufgabe gegeben ſei, tritt auch an ihr hervor. 
Er hatte nicht ſchlechthin bloß die Wahl, ſeine Heldin allein aus 
ſinnlicher Leidenſchaft den Geliebten töten zu laſſen, um ihn der 
Nebenbuhlerin zu entreißen und zugleich für den Abfall zu ſtrafen, 
wie Björnſons Hinke⸗Hulda, oder eine Androgyne ohne alle 
Liebesregung darzuſtellen, nur aus gekränktem Ehrgeiz handelnd, 
wie angeblich die Valkyrie der älteſten Heldenſage: es gab noch 
eine Möglichkeit, ſie über eine Hinke⸗Hulda zu erheben, ohne ſie der 
Weiblichkeit ganz zu berauben. Hjördis kann es, gleich der Bryn⸗ 
hild der Völſungaſaga, ihren größten Harm nennen, daß nicht 
Sigurd ihr Gemahl geworden. Aber je mehr ſie im Verlauf der 
Handlung erkennt, was ſie in ihrem Leben ſchwerer entbehrt hat 
als Liebesglück, deſto mehr erſtarkt das Geiſtige ihrer Liebe zu 
Sigurd, das was Goethe „Wahlverwandtſchaft“ nennen würde, 
und was allein eine dauernde, mehr und mehr vom Sinnlichen ſich 
läuternde Zuneigung verbürgt. „Wär ich ein Mann — bei den 
waltenden Mächten, ebenſo könnt ich dich lieben, wie jetzt ich dich 
liebe ... Sigurd, mein Bruder!“ Ihre tiefſte Wurzel hat 
dieſe Liebe in der Überzeugung des hochſtrebenden Weibes von 
ihrem Beruf im Leben: „eine untrügliche Stimme“ im Innern 
ſagt ihr, daß ſie zur Welt gekommen, auf daß ihr ſtarker Sinn 
ihn hebe und halte in ſchwerer Zeit; daß er geboren worden, auf 


102 IV. Nordiſche Heerfahrt 


daß ſie in einem Manne alles fände, was ihr hehr und herrlich 
dünkt. Sie beide ſollten zuſammenhalten, das war der Norne Rat⸗ 
ſchluß, und ſelbſt der Tod ſoll ihn nicht vereiteln. Mit den Göttern 
ſoll Sigurd ſtreiten, auf des Himmels Königsſtuhl will ſie ihn 
ſetzen und ſich ſelbſt ihm zur Seite. Noch in dem Wahngeſpinſt 
des überreizten Sinnes zeigt ſich die Verzweiflung über ihr beider 
verlorenes Leben, der Schmerz um den verfehlten Beruf. 

Und nicht nur rückwärts läuft die verbindende Kette zu „Frau 
Inger“ und „Catilina“, auch vorwärts zu den nächſten Dramen, 
zu den „Kronprätendenten“, zu ‚Brand‘ und weiter. An manchen 
Stellen ſind Probleme geſtreift, die nach Jahren in völlig anders 
gearteten Schöpfungen den Mittelpunkt des Intereſſes und der 
Handlung bilden. Sigurds Ehe mit Dagny, der er Tag für Tag 
eine Liebe vorgaukeln muß, die fein Herz beklemmt — iſt das eine 
echte, wahre Ehe? Iſt es geboten, ja nur erlaubt, einem beſchwo⸗ 
renen Bunde ſein geiſtiges Selbſt, und damit ſein Lebensziel zu 
opfern? Steht nicht höher als anerkanntes „Recht“ und her⸗ 
gebrachte „Pflicht“ das ewige Recht der Perſönlichkeit auf Ent⸗ 
wicklung, auf freie Entfaltung aller Kräfte, und die natürliche 
Pflicht, der gebieteriſchen Mahnung im Innern zu gehorchen? Der 
ſpäteren Werke gedenkend, hören wir dieſe Fragen, aber noch 
werden ſie nicht geſtellt. Sigurds iſt die Schuld, ſeine übergroße 
Freundestreue entzieht zwei Berufene ihrer Beſtimmung: die an⸗ 
erzogenen, heilig gehaltenen Grundſätze zu prüfen, die das Indi⸗ 
viduum ſchuldig werden laſſen, dazu konnten erſt moderne Stoffe 
die Gelegenheit bringen. 

Der däniſche Dichter J. L. Heiberg (1791-1860) ſchrieb als 
Zenſor des Theaters zu Kopenhagen in ſeinem Gutachten über 
„Nordiſche Heerfahrt‘: „Auch dieſes Stück iſt, wie mehrere der 
neueren norwegiſchen Verſuche, ein eigentümliches nationales Drama 
zu ſchaffen, auf die isländiſche Sagaliteratur gebaut, aber jegliches 
Beſtreben auf dieſem Wege iſt nach meiner Meinung ein Miß⸗ 
verſtändnis, und der Weg nur ein Abweg. ... Was an dieſem 
und ähnlichen Verſuchen bemerkt zu werden verdient, iſt das Be⸗ 


IV. Nordiſche Heerfahrt 103 


ſtreben, die Illuſion durch Nachahmung des eigentümlich konziſen 
Stils der Saga zu fördern. Das gibt Anleitung zu gewiſſen 
Konſtruktionsformen, die aber zu ſtehenden Typen werden und in 
Manier und Affektation übergehen. Ein nordiſches Theater wird 
kaum aus dem Laboratorium für ſolche Experimente hervorgehen.“ 

Dies Gutachten bezeichnet deutlich die Schwierigkeiten beſon⸗ 
derer Art, mit denen das Drama vorerſt ſollte zu kämpfen haben. 
Es iſt kein Befund über das Werk ſelbſt, denn ſeiner Handlung, 
ſeines Aufbaues und Bühnenwertes wird mit keiner Silbe gedacht; 
es iſt ein vernichtendes Urteil über eine neue Richtung. Das 
Norwegiſch⸗Nationale in Stoff und Sprache genügte allein, der 
‚Nordischen Heerfahrt‘ die Kopenhagener Bühne und ebenſo das 
von Dänen geleitete Chriſtiania⸗Theater zu verſperren. Wie zu 
Frau Ingers Zeiten politiſch, war Norwegen bis in die fünfziger 
Jahre literariſch vollſtändig von Dänemark beherrſcht. Und wie 
zu Frau Ingers Zeiten wurde die Fremdherrſchaft im Lande nicht 
nur geduldet und ertragen, ſondern kräftig unterſtützt und mit Eifer 
verteidigt. Überzeugt von ſeinem heiligen „Beruf“, dieſe Vor⸗ 
herrſchaft zu vernichten und nationaler Art und Kunſt zum Siege 
zu verhelfen, ſtürzte ſich Ibſen, von Bergen nach Chriſtiania zurück⸗ 
gekehrt, furchtlos in den Streit, den eine kleine, aber wackere Schaar 
mit Björnſon an ihrer Spitze um die Nationalität der Bühne 
erhoben hatte. Die Schilderung der Kämpfe, die er um dieſes 
— und des nächſtfolgenden — Werkes willen beſtand, der bitteren 
perſönlichen Erfahrungen, die er machte, der maßloſen Schmä⸗ 
hungen, mit denen ihn eifernder Parteigeiſt überſchüttete, wird einen 
wichtigen Abſchnitt der Vorgeſchichte der „Kronprätendenten' bilden. 


a 
Die Komödie der Liebe 


1 

enrik Ibſen verlobte ſich in Bergen und vermählte ſich dort im 
| H Sommer Achtundfünfzig. In dasſelbe Jahr fällt die erſte Be⸗ 
ſchäftigung mit dem Plan zur „Komödie der Liebe, Der Plan 
wurde zugunſten eines andern beiſeite gelegt; er war noch nicht 
reif, vielmehr der Unmut des Dichters war noch nicht reif. Junges 
Glück macht den Starken ſtärker: ſein Dichterberuf ſtand ihm über 
alles erhaben und erhob ihn über alles. Der keimende Gedanke 
an ein hohes Lied der göttlichen Berufung, an einen Helden, den 
lautere Weiblichkeit in dienender Liebe tröſtend, wärmend und 
hegend durch Kampf zum Siege geleitet, der Gedanke an die 
‚Kronprätendenten‘ verdrängte das Alltags⸗Gebilde, lenkte den Blick 
hinweg von der Lächerlichkeit und Erbärmlichkeit des Lebens auf 
große Menſchen und ferne Ziele. 

Hätte die komiſche Idee gleich damals Wurzel geschlagen, 
ihr wäre nicht dieſe Komödie der Liebe entſproſſen. Aber ſie 
ſchlummerte lang im Keime, und zwei Jahre ſpäter ſchon baute 
ſich der Dichter hoch über dem „Sommerleben“ im Tale auf 
kalter, klarer Höhe an, wo ein ſcharfer Wind, weht und keine 
Blumen mehr gedeihen. 

Kunde davon gibt ein umfangreiches ſymboliſches Gedicht aus 
dem Jahre 1860: ‚Auf dem Hochgebirge (Pà vidderne). Unter 
dem Gleichnis einer Bergfahrt wird das Abſchweifen des höher und 
höher Strebenden von den Wegen der gewöhnlichen Menſchen ges 
ſchildert. Schwer iſt die Trennung von dem alten Mütterchen und 
dem geliebten Weibe, das ſich ihm noch in der Scheideſtunde zu 


eigen gibt, treu gemeint das Verſprechen zeitiger Rückkehr. Und, 


jo ſehr die reine Bergesluft ihn erquickt und belebt und fein be= 
gierdenheißes Blut abkühlt: anfänglich blickt er doch immer heim⸗ 
verlangend hinab auf die verlaſſenen Stätten ſeiner Kindheit und 


8 
UE ˙ . en IT a 


Ba a a ET a ET EL 


V. Die Komödie der Liebe 105 


ſeiner Liebe. Aber alsbald geſellt ſich ein fremder Schütze zu ihm, 
mit Augen kalt und unergründlich gleich den dunklen Gletſcher⸗ 
ſeen. Wie Goethe in Clavigo, Fauſt, Taſſo die zwei Seelen in 
ſeiner Bruſt in zwei Geſtalten, Gegenſpielern, dramatiſch verkör⸗ 
pert, ſo geſellt ſich hier der Lyriker zu ſich ſelbſt, läßt in kühner 
Perſonifikation ſeinen kühl und beobachtend auf alles Menſchliche 
herabblickenden Geiſt die Obmacht gewinnen über ſein ſehnlich 
nach allem Menſchlichen verlangendes Gemüt. Wenn er nicht ohne 
Rührung drunten die Mutter und ſie, die Geliebte, zur Kirche 
ſchreiten ſieht, das Geſangbuch zierlich ins Tüchlein eingeſchlagen, 
mahnt ihn der Schütze an die „Tat des Tages“, die ihm zu voll⸗ 
bringen beſtimmt ſei, die ihm beſſer zieme als „den Kirchenſteig 
abzutreten“. Vergebens tönen in der Chriſtnacht die Glocken zu 
ihm empor, lodert das Haus der Mutter in Flammen auf; der 
Schütze lehrt ihn durch die hohle Hand die wirkungsvolle Doppel- 
beleuchtung der roten Glut und des bleichen Mondlichtes betrachten. 
Und endlich die härteſte Prüfung: die Braut reitet in feſtlichem Hoch⸗ 
zeitszug mit einem andern zur Kirche. Er ſieht es ohne Schmerz, 
fühlt, wie etwas in ſeiner Bruſt ſich verſteinert, der Kampf iſt aus⸗ 
gekämpft, das Leben zu Ende. Um den Preis des Glückes hat er den 
freien Blick von der Höhe auf die irdiſchen Dinge gewonnen. 

„Erſt nachdem ich mich verheiratet hatte, bekam mein Leben 
einen gewichtigeren Inhalt. Davon war die erſte Frucht das 
längere Gedicht: Auf dem Hochgebirge. Der Selbſtbefreiungsdrang, 
der durch dies Gedicht geht, erhielt jedoch ſeinen vollen Ausdruck 
nicht eher als in der Komödie der Liebe.“ ö 

Entſagung verkündigt das Gedicht, Entſagung um eines höheren 
freieren Strebens willen heiſcht die „Komödie der Liebe“. Sie 
ſteht unter dem Zeichen des Schützen. Doch die Zeit ihrer Voll⸗ 
endung fällt wiederum zwei Jahre ſpäter, und ſchon iſt es nicht 
mehr dieſelbe Entſagung in der Bitterkeit des Herzens und mit 
der Furcht, innerlich zu verſteinern, ſondern ſelbſtgewolltes, frei 
gewähltes Verzichten in der Erkenntnis der Notwendigkeit und mit 
bewahrtem Glücke, wenigſtens in der Erinnerung. 


106 V. Die Komödie der Liebe 


Das Thema iſt Liebe und Ehe. Ibſen war nicht der erſte, der 
es zum „Problem“ erhob und zum Gegenſtand dichteriſchen Vor— 
trags machte. Die Urheberin der Frauenbewegung im fkandina⸗ 
viſchen Norden, Camilla Collett, iſt ihm zuvorgekommen mit 
ihrem Roman ‚Die Töchter des Amtmanns' (1855), einem der 
früheſten und lehrreichſten Dokumente der Frauenfrage. Noch 
handelt es ſich nicht um Rechtsanſprüche im öffentlichen, gejell- 
ſchaftlichen oder politiſchen Leben, ja der Gedanke der Gleichſtel⸗ 
lung wird als abſtoßend bezeichnet, — es handelt ſich nur um die 
Rechte des weiblichen Herzens. Woraus entſtehen all die unglück⸗ 
lichen oder doch freudloſen Ehen? Einzig daraus, daß die Mädchen 
ſich nicht verheiraten, ſondern verheiratet werden, daß nicht ihre 
Neigung, ſondern die gute Verſorgung entſcheidet, daß die Ehe 
als „des Weibes Brotſtudium“ gilt. Getreu nach dem Leben und 
ohne Übertreibung ſind an den Töchtern des Amtmanns die Folgen 
dieſes althergebrachten Verfahrens dargeſtellt. Und die Verfaſſerin 
iſt gerecht und gleichwägend, ſie erörtert die Nachteile für den 
Mann ebenſo wie die für die Frau. 

„Die Männer wählen wie Toren und büßen dafür wie Mär⸗ 
tyrer — wär' es möglich, ſollten ſie überhaupt nicht wählen 
dürfen,“ heißt es in Margaretens Tagebuch, in dem ſich Camilla 
Collett zum Worte verhilft. „Sie wählen meiſt nach ſinnlichen 
Eindrücken, ſie ſtellen den Beſitz über alles. Aber die Frauen 
ſollten auch nicht wählen dürfen. Sie ſind ſo wenig entwickelt, 
daß ſie nicht einmal vernünftig aus Vernunftgründen wählen kön⸗ 
nen. Es gibt nur eines, was wirklich wählen darf, und das iſt die 
Liebe des Weibes.“ 

Ibſen und. Björnſon haben von Camilla Collet Anregungen 
empfangen, Ibſen früher, Björnſon ſpäter, vielleicht erſt durch 
Ibſens Vermittlung. Aber während Björnſon die Fragen, wie 
Frau Collett ſelbſt, meiſt von einem praktiſchen Standpunkt ent⸗ 
ſcheidet, faßte Ibſen die Ehefrage zunächſt von einem durchaus 
idealiſtiſchen, wenn man will von einem hyperidealiſtiſchen Stand- 
punkt auf in der „Komödie der Liebe“. 


V. Die Komödie der Liebe Fe 107 


Camilla Collett hatte in der Konvenienzheirat das Schlimmſte, 
in der Liebe die einzig verläſſige Grundlage der Ehe geſehen. Die 
Ehe, ſagt ſie, entzündet niemals irgendwelche Liebe; es muß im 
Gegenteil ein tüchtiger Vorrat mitgebracht werden, wenn man aus⸗ 
halten ſoll. Ibſen ſucht zu beweiſen, daß Liebe und Ehe über— 
haupt nie und nimmer ſich zuſammenſchicken, daß die Ehe nicht 
nur nichts entzündet, ſondern unfehlbar alle Liebe verlöſcht, daß 
gerade die Konvenienzheirat eine glückliche Ehe verbürgt und allein 
verbürgen kann. Das iſt eine Löſung des Eheproblems, die ihm 
nicht der Zweifel eingab, ſondern die Verzweiflung. Von ſeiner 
idealen Höhe herab das Leben beſchauend, ſah er überall den Bank⸗ 
rott der Liebe in der Ehe, ja ſchon in der Verlobungszeit. Alſo 
konnte die Liebe die Ehe nicht überdauern, alſo durften ſich die 
Liebenden nicht vereinigen, wenn ſie der Liebe nicht verluſtig gehen 
wollten, alſo mußte, falls man überhaupt heiraten wollte, die 
Konvenienzheirat das Richtige ſein. 

Kühn war Camilla Collett, in einer Zeit unbedingter Eltern⸗ 
herrſchaft die Konvenienzheirat zu verwerfen, unendlich kühner 
Ibſen, ſie ſeiner „romantiſchen“ Zeit anzupreiſen. Immer erweckt 
es größte Entrüſtung, das öffentlich ausrufen und rühmen zu 
hören, was alle tun, aber nicht Wort haben wollen, immer erbit⸗ 
tert gewaltſame Umwertung landläufiger Ideale. Auf ſeiner deut⸗ 
ſchen Studienreiſe 1852 hatte er in Hettners Büchlein über das 
Drama geleſen: „Ariſtophaniſcher Inhalt in realiſtiſcher Form, das 
iſt die Zukunft der modernen Komödie.“ Jetzt, da die in dem kör— 
nigen Spruch liegende Mahnung ihre erſte ſchöne Frucht reifte, 
hätte auch gerade Ariſtophanes den Unvorſichtigen lehren können, 
wie ſich der angreifende Dichter, ſelbſt bei größter Keckheit, vor 
Steinigung bewahre. Er muß mindeſtens ein Ideal ſchonen, muß 
in einer Anſchauung mit ſeinem Publikum auf derſelben Stufe 
ſtehen oder zu ſtehen ſcheinen. Das iſt dann der feſte Punkt, 
auf dem ſich die Zuſchauer neben ihm ſicher fühlen und mit Ver— 
gnügen beobachten, wie er alles ſonſt aus den Angeln hebt. Ari⸗ 
ſtophanes, der Menſchenkenner, wählte das allgemeinſte aller Ideale, 


108 V. Die Komödie der Liebe 


das ſeine Volkstümlichkeit nie und nirgends verlieren wird: die 
gute alte Zeit. Ihr Lob, in ſchwungvollen Parabaſen ertönend, 
übte die beruhigendſte Wirkung aus und erlaubte ihm, ſelbſt das 
Würdigſte und die Würdigſten zu verſpotten. Aber Ariſtophanes 
ſtellt alles in den Dienſt der Komik, Ibſen alles, auch die Komik, 
in den Dienſt der Idee. Das ſollte ihm damals ſchlimm genug 
bekommen. 

Schon früher hatte der beginnende Schriftſteller einen Anlauf 
genommen zu dramatiſcher Satire. Nach der Belliniſchen Oper 
ſchrieb er in das kurzlebige Wochenblatt Andhrimner ‚Norma oder 
die Liebe eines Politikers, Muſiktragödie in drei Akten“, und ſein 
Zeitgenoſſe Botten-Hanſen, der alle Beziehungen verſtand, weiß 
uns wenigſtens den erſten Akt als witzig und von treffendem Spotte 
zu rühmen. Der heutige Leſer dürfte kaum einen Unterſchied wahr⸗ 
nehmen und das Ganze ziemlich gering einſchätzen. Den Größen 
des Tages galt der Witz, und nur für den Tag war die flüchtige 
Arbeit berechnet, ein journaliſtiſches Schattenſpiel mit keck aus⸗ 
geſchnittenen Karikaturen; in der „Komödie der Liebe“ hingegen 
verſucht Ibſen die vorüberſchwebende Torheit feſtzuhalten in 
dauernder Erſcheinung und ringt als erſter unter den Mo⸗ 
dernen mit den komiſchen Dichtern der Vergangenheit um den 
Kranz. 

Das Werk wurde zuerſt „in realiſtiſcher Form“, in Proſa 
ausgeführt, oder doch begonnen. Ein Teil des Entwurfes liegt noch 
im Manuffripte vor. Dem Dramatiker, der ſich bis dahin nur des 
Verſes oder ſtiliſierter Proſa bedient hatte, war die Sprache des 
täglichen Lebens noch kein bequemes und geſchmeidiges Ausdrucks⸗ 
mittel; das Niedergeſchriebene erſchien ihm geſtalt⸗ und farblos, die 
Satire ohne Kraft und Schärfe. Er ſchmiedete die Proſa in fünf⸗ 
füßige gereimte Jamben um, hart und biegſam wie Stahl, blitzend 
und haarſcharf zugeſchliffen. Mit der Klarheit des Originals ent⸗ 
geht den Leſern ungenügender Überſetzungen freilich auch die be— 
wunderungswürdige Verskunſt. Sie ſehen, wie Cervantes ſagt, nur 
die Kehrſeite eines Gobelins. 


2 9 , 
ä 8 


— 


— 


Ar ͤ c a Are er he ya 


— 


a a 


V. Die Komödie der Liebe 109 


2. 

Praktiſch wirkt dieſe Tragikomödie als Ganzes; theoretiſch 
laſſen ſich ihre ernſten und komiſchen Beſtandteile ſondern. Die 
tragiſche Haupthandlung iſt das ſich knüpfende und wieder löſende 
Verhältnis Falks zu Schwanhild, die Geſchichte einer Liebe; von 
den komiſchen Epiſoden ſtellt wiederum jede die Geſchichte einer 
Liebe vor. Es gibt ältere Bilder, auf denen ſich um die Hauptdar⸗ 
ſtellung in der Mitte rahmenartig allerlei Szenen reihen, die nur 
erläuternd und ergänzend zum Mittelſtück in Beziehung ſtehen. 
So äußerlich find hier die Epiſoden nicht verwendet, vielmehr über- 
all als gegenſpielende Kräfte der eigentlichen Handlung zweck⸗ 
dienlich eingeordnet. Durch die geſchickt feſtgehaltene Einheit des 
Ortes und beſchränkte Zeitdauer wird die Kompoſition ſtraff und 
geſchloſſen. Die Komödie beginnt an einem Sonnabend (1. Akt) 
und verläuft am darauffolgenden Sonntag nachmittag (2. Akt) 
und abend (3. Akt) im Garten vor dem Hauſe einer Frau Halm in 
Chriſtiania. Sie iſt Witwe aus beſſerem Stande und vermietet 
Zimmer. Acht Nichten iſt ſie ſchon an Zimmerherren losgeworden, 
nun bleiben nur noch ihre beiden Töchter zu verſorgen, Schwanhild 
und Anna. Die übrigen ſieben Perſonen des Stückes ſind Mieter 
oder Freunde und Bekannte der Familie. 

Eher in Bergen als in der Hauptſtadt mögen wohl einige 
der Urbilder im Fleiſche gewandelt haben: dort konnten ſo koſtbare 
Typen am lebenden Modell ſtudiert werden, Verlobungsmumien 
wie Fräulein Elſter und ihr bis in die nüchternſte Nüchternheit 
getreuer Stüber. Denn ſchon den wißbegierigen Reiſenden der 
Korvette La Reine Hortense, die einer Vorſtellung des ‚Feftes 
auf Solhaug“ unter Ibſens Leitung beiwohnten, erzählte damals 
ein anſäſſiger Franzoſe mancherlei von den Sitten des Landes 
und beſonders von der endloſen Dauer der Verlobungen, le temps 
des fiangailles que la mode du pays se complait d'ordinaire 
a prolonger outre mesure. Zwiſchen Heiratsverſprechen und 
Vollzug verfloſſen oft Jahre — des années entières. Und die 
fürchterliche Teilnahme aller Baſen und Tanten, aller Sippen und 


110 V. Die Komödie der Liebe 


Bekannten an dem Glücke Neuverlobter, das neckiſche Keſſeltreiben, 
das mit den armen Opfern zur allgemeinen Ergötzung angeſtellt 
wird — ob der Dichter die Freuden dieſes beliebten Geſellſchafts—⸗ 
ſpieles nicht ein wenig am eignen Leibe hat erproben müſſen? 
ob er ſich nicht in einer Lage befunden, in der es ſchwer war, 
keine Satire zu ſchreiben? 

Drei Paare umgeben Falk und Schwanhild, in drei Stadien 
den unausbleiblichen Verfall der Liebe vorführend. Lind und Anna, 
die Neuverlobten, deren kaum erblühtes Glück unberufene Für⸗ 
ſorge ſchnell und ſicher entblättert; Fräulein Elſter und Regiſtrator 
Stüber, die Dauerverlobten, die nur noch die leeren Stengel auf: 
zuweiſen haben als klägliches Zeichen entſchwundener Roſen; end— 
lich Paſtor Strohmann und Frau mit dem überreichen Kinderſegen, 


bei denen der letzte Reſt mit Stumpf und Stil ausgerodet und 


kaum noch eine Erinnerung übrig geblieben iſt an „jene Tage der 
erſten Liebe“. | 

Im Vortrag des dreifachen „Sic transit gloria amoris“ läßt 
ſich eine ſtete Steigerung bemerken. Das Komiſche des Umſchlags 
in Linds Stimmung und Geſinnung, ſobald ſein Herzensbund mit 
Anna proklamiert und ſanktioniert iſt, wird nur vorübergehend 
und nicht zu ſtark betont. Das Bedauerliche tritt mehr heraus 
als das Lächerliche, wenn der junge, erſt ſo warm empfindende 
Theologe als Bräutigam ſogleich in den „Mäßigkeitsverein der 
Seligkeit“ eintritt, ohne weiters dem Moloch Philiſtertum ſein 
Jugendideal, die Miſſionstätigkeit im Auslande, opfert und Lehrer 
einer Mädchenſchule wird. Anna berührt uns nur wenig; die paar 
Sätze, die ihr zugeteilt ſind, geben ihr keine Phyſiognomie. Das 
zweite Paar, Fräulein Elſter und Stüber, wird ausſchließlich von 
der komiſchen Seite gezeigt und ſchonungslos preisgegeben. Nicht 
gutmütigem Spott und heitrem Gelächter, wie ein ähnliches zwölf 
Jahre lang verlobtes Paar in dem däniſchen Vaudeville ‚Die Une 
zertrennlichen‘, ſondern einem liebloſen Lachen, nicht frei von Ver— 
achtung und Schadenfreude. Kein ſympathiſcher Zug iſt den beiden 
gelaſſen. Die einzige Stelle, wo ſich etwas wie Gemüt in dem 


. Ta he en 


deu Ze a 


a 


V. Die Komödie der Liebe Be 111 


vertrockneten Kanzleimenſchen kundgibt, dient nur zur Verſchär⸗ 
fung der Satire. Stüber, vor dem Fenſter mit Falk auf und ab⸗ 
wandelnd, hört ſeine Braut drinnen eine Melodie ſpielen und ſingen. 
In ſtiller Rührung bleibt er ſtehen. Dieſe einfache Weiſe, die ihm 
zu Herzen drang, als ſie ſich zum erſten Male trafen, die ſoll, 
wenn endlich die Liebe ſtirbt und als Freundſchaft wieder erſteht, 
das Einſt und das Jetzt verbinden, ſoll das Verſchwundene ſtets in 
Tönen wieder aufleben laſſen. Und was ſpielt und ſingt Fräulein 
Elſter drinnen? „Ach, du lieber Auguſtin!“ 

Die muſikaliſche Braut, nicht minder trocken und proſaiſch 
als ihr langjähriger Zukünftiger, führt doch mit Vorliebe das 
Romantiſche im Munde, — das war ja damals die literariſche 
Tagesmode. Wenn der Mond aufgeht, nimmt ſie ihren Stüber 
am Arme: „Siehſt du, wie dorten Luna ſchwimmend thronet? 
Nun wollen wir ſchwärmen.“ Dabei zeigt ſich niemand eifriger 
befliſſen, alles Romantiſche und Schwärmeriſche in Linds und 
Annas eben geſtiftetem Bunde zu zerſtören, als Fräulein Elſter. 
Das unbezwingliche Bedürfnis der ältlichen, mageren, geſchäftigen 
Klatſchbaſe und Allerweltsfreundin, überall dreinzureden, und der 
beinahe inſtinktive Drang aller gewöhnlichen Seelen, zu nivel⸗ 
lieren, iſt hier getreulich und ergötzlich wiedergegeben. Vermöge 
einer ewig beweglichen, alles niederſchwätzenden Zunge ſichert ſie 
ſich in ihrem weiblichen Kreiſe eine Art Herrſchaft und verſteht 
durch geſchickte Verhetzung der Frauen ihren Terrorismus ſogar auf 
die Männer auszudehnen. Durchaus treffend, aber con amore 
boshaft iſt die Beobachtung verwertet, daß dergleichen bei jedem 
freien Wort „Pfui!“ rufende Damen doch dem Menſchlichen, All 
zumenſchlichen nicht ganz fremd ſind. Fräulein Elſter benützt eine 
etwas aufregende Szene, um unwohl zu werden und raſch ihren 
Stüber beiſeite zu ziehen, damit er ihr das Korſett aufneſteln helfe. 

Noch mehr im Stile Hogarths, mit Aufbietung aller Mittel 
des Witzes, der Ironie, des Sarkasmus, bis zur Karikatur derb 
und deutlich wird das Ehepaar Strohmann gezeichnet. Es gibt 
auch in der Zeichnung ein Fortiſſimo, und hier iſt es angeftrebt. 


112 V. Die Komödie der Liebe 


Schon die Einführung der beiden in Begleitung ihrer Nachkommen: 
ſchaft wirkt mit der ganzen Kraft des komiſchen Kontraſtes, nach⸗ 
dem kurz vorher die „romantiſche“ Liebes- und Verlobungsgeſchichte 
des Paſtors lebhaft geſchildert worden iſt. Seit ihren Kinderjahren 
hat Fräulein Elſter „mit großem Reſpekt“ von deſſen „Lebens⸗ 
roman“ erzählen hören. Strohmann war als Kandidat einer der 
beſten Köpfe der Hauptſtadt, verſtand ſich auf Kritik und neue 
Moden, ſpielte Komödie auf Liebhaberbühnen, malte, ſang zur 
Guitarre, komponierte ſogar ſelbſt die Muſik „zu etwas, was einen 
Verleger fand“ — kurz, er war „genial“. Im dramatiſchen Verein 
lernte ihn ſeine Maren kennen, und ſehen und lieben war eins. 
Die vielumworbene Tochter einer blühenden Bauholzfirma ließ alle 
ihre Freier, darunter einen Kammerherrn, im Stich, bot ihrem 
grauſamen alten Vater, „der nur ſo herumging und Herzen 
trennte“, Trotz und eilte in die Arme ihres Strohmann. Ein Bach, 
eine ſtrohgedeckte Hütte, ein ſchneeweißes Lamm, das zwei er⸗ 
nähren könnte, — höchſtens eine kleine Kuh: das war der beiden 
einziger Zukunftstraum. Einſtweilen lebten ſie aber auf Kredit der 
Firma, und ſie gab Klavierſtunden, bis das Handelshaus fallierte 
und Strohmann eine Pfarrei bekam. Von da an hat er nur „für 
die Pflicht gelebt und für fie”. Fünf, ſechs, ſieben, acht, zählt 
Stüber, da nun hinter dem Herrn Pfarrer und Landtagsabgeord⸗ 
neten und der Frau Pfarrerin, gleich den Orgelpfeifen gereiht, die 
Sprößlinge aufziehen — lauter Mädchen. Acht — das iſt ja bei⸗ 
nahe unanſtändig, meint Fräulein Elſter. Aber ſie haben noch 
vier kleinere zu Hauſe, und der Paſtor erwähnt ſpäter vertraulich, 
auf Michaeli erwarte man, wenn alles gut gehe, das dreizehnte. 
Bei ſolchem Kinder- und Sorgenzuwachs iſt aus dem genialen 
Jüngling von ehedem ein ſalbadernder Familienpaſtor geworden, 
der trotz aller Floskeln und Bibelſprüche die Worte „Beruf“ 
(kald) und „Opfer“ nur noch als feſte Beſtallung (norwegiſch 
ebenfalls kald) und Klingelbeutelgabe auffaßt, und der heftig 
erſchrickt und leugnet, wenn ſeines romantiſchen Jugendlebens 
Erwähnung geſchieht. Und Maren, die Muſe von damals, an die er 


V. Die Komödie der Liebe 18 


einſt jene ſieben Sonette gedichtet und komponiert hat, iſt nur 
mehr der armſelige Reſt einer Frau in ſchlecht paſſenden Kleidern 
und ſchief getretenen Schuhen, körperlich und geiſtig herunterge— 
kommen. Vergeblich macht die überanſtrengte Mutter von zwölf 
Pfarrerstöchtern (und kein Ende!) den Verſuch, ſich an einem 
Geſellſchaftsgeſpräch über die Liebe zu beteiligen. Verſchiedene 
Blumen werden genannt, denen die Liebe gleiche. Nein, fällt Frau 
Strohmann ein, 

Nein, einer Blume gleicht ſie — ach! — ſo nett, 

Gleich werd' ich — ſie war grau — nein violett; 

Wie hieß ſie doch — mir war, ich hätt's im Sinn — 

Es iſt zu arg, wie ich vergeßlich bin! 
Sie kann ſich nicht einmal mehr recht an ihre Verlobung erinnern, 
alles iſt mit der Jugend und der Schönheit untergegangen. 

Auch der realiſtiſche Dichter hat das Recht, überall den äußer⸗ 
ſten Fall zu bringen. Nicht mehr tut Ibſen hier, er geht nicht 
über die Lebenserfahrung hinaus. Wenn die Geſtalten trotzdem 
karikiert erſcheinen, ſo liegt das daran, daß ſie zuweilen von ſich 
und über ſich in dem witzig⸗ſatiriſchen Tone ſprechen, den nur ein 
geiſtreicher Beobachter wie Falk anſchlagen dürfte. Das erhöht 
die Wirkung, aber auf Koſten der Wahrſcheinlichkeit. Wir werden 
in ‚Brand‘ und Peer Gynt' und ſelbſt noch in ſpäteren Werken Bei⸗ 
ſpiele eines ſolchen Verfahrens finden. Vielleicht macht auch die 
Schilderung im ganzen deshalb den Eindruck des Übertriebenen, 
weil der Leſer das Entſetzen und die Entrüſtung des Idealiſten über 
dies Alltägliche, ihm Selbſtverſtändliche nicht teilt und leicht die 
Empfindung hat, daß hier mit Kanonen auf Sperlinge geſchoſſen 
werde. Warum ſollt' auch je aus einem Philiſter etwas andres 
werden als ein Philiſter? Begreift Falk, begreift der Dichter nicht, 
daß der biedere Stüber nie etwas Beſſeres war, noch hätte werden 
können, ob er gleich im erſten Rauſche des Verliebtſeins einmal 
ein paar Bogen — jedenfalls wertloſer — Verſe geſchrieben hat; 
daß Strohmanns Jugendgenialität auf allen Kunſtgebieten nichts 
weiter geweſen als Salondilettantismus, für den er dann freilich 
Woerner, Jbſen. I. 3. Aufl. N 8 


114 V. Die Komödie der Liebe 


auf ſeiner Okonomiepfarrei im Norden, bei den Kühen und Bauern, 
keine Verwendung mehr hatte? | 
Steffens Spricht es an einer Stelle feiner Lebenserinnerungen 
fein und wahr aus, wie leicht die Enthuſiaſten dem beſonnenen 
Kritiker ein vollkommener und ſiegreicher Gegenſtand abfälligen 
Urteils werden. Dort iſt von der praktiſchen Auffaſſung des Lebens 
zu politiſchen Zwecken die Rede, allein nicht minder gilt es von 
der theoretiſchen zum Zweck der Darſtellung. Der Dichter der 
„Komödie der Liebe‘ iſt Enthuſiaſt, er hält die Fahne der Idee hoch 
und ſtürmt gegen die Proſa vor, wie und wo er ſie antrifft. 
Dennoch hat er weder damals noch ſpäter Menſchen und Dinge 
einſeitig und in einem falſchen Lichte geſehen. Sein ſcharfer Blick 
und ſeine Wahrheitsliebe behüteten ihn davor. Er hört die Er⸗ 
klärung, die Entſchuldigung an, die ſich ſchließlich für alles Be⸗ 
ſtehende finden läßt, gibt Stüber und beſonders dem hart mit⸗ 
genommenen Paſtor Gelegenheit, ſich ernſt und kräftig zu recht⸗ 
fertigen. Auf einer weltabgeſchiedenen Gebirgspfarre, in jahre⸗ 
langem Mühen und Ringen ums tägliche Brot — „da wird der 
Geiſt nicht, wie die Hände, ſtark“, da vergeht der keck unterneh⸗ 
mende Jugendmut, und das eigene Heim wird dem einſamen 
Kämpfer zur Welt. Wiſſen Sie, was ein Heim iſt? fragt er Falk. 


Falk (ftoß). 
Das hab' ich nie gewußt. 


Strohmann. 

Ich glaub' es gern. 
Ein Heim iſt da, wo fünf wohl finden Raum, 
Ob's unter Feinden reicht für zweie kaum. 
Wo die Gedanken frank und frei ſich rühren, 
Wie Kinder ſpielen auf des Vaters Schoß, 
Wo deine Stimme pocht an Herzenstüren, 
Und froh im Chor „herein!“ ruft Klein und Groß. 
Wo dir das Haar in Frieden kann ergrauen 
Und niemand merkt es, niemand ſchilt dich alt, 
Wo liebe Jugendtage dämmernd blauen, 
Wie ferne Gipfel überm dunkeln Wald. 


V. Die Komödie der Liebe ö 1415 


Und Strohmann verteidigt ſich mit ſteigender Wärme. Daß 
ihn Falk mit einer Henne vergleicht, nimmt er willig hin. Er 
habe aber auch der Henne Herz und Mut, um ſich zu hacken, wenn 
es ſeine Küchlein gelte. Wohl wiſſe er, daß ihn Falk für hab⸗ 
gierig, dumm und ſtumpf halte — 

Ja, ich bin gierig, dumm und ſtumpf — es ſei! 
Gierig für die, die Gott mir gab; im Streit 

Ward ich ſo dumm; in Drangſalseinerlei 

So ſtumpf — auf ödem Meer der Einſamkeit. 

Doch als mein Jugendſchiff, erſt keck und munter, 
Segel um Segel, tauchte mählich unter, 

Da trug ein ſtärkrer Kiel durch Flut und Brandung 

Mich und mein Lebensgut zu ſichrer Landung. 


Falk — und der Dichter — kann ſich eines Gefühls teil⸗ 
nehmender Rührung nicht erwehren; aber auf Strohmanns drin⸗ 
gendes Verlangen, das ſcharfe Urteil zurücknehmen, lautet Falks 
— und des Dichters! — beſtimmte Antwort: 


Des Glückes Meſſing ſtempl' ich nicht zu Gold! 


Keine Rechtfertigung befriedigt ihn, kein Widerſpruch hält ihn 
auf — er kämpft weiter, weil er hofft. Henrik Ibſen iſt bis ins 
hohe Alter nicht jo alt geworden, daß er den Kampf völlig auf⸗ 
gegeben hätte. Mehr als einmal wird ihm die Unvereinbarkeit von 
Ideal und Leben zur bittern Gewißheit, zu einem ſchmerzlichen Ka- 
pitel ſeines Lebenswerkes, doch immer wieder taucht die Begeiſte⸗ 
rung empor und mit ihr die Zuverſicht. Hier zeigt ſich ein ſchroffer 
Gegenſatz zwiſchen Idealismus und Humor. Ein Meiſter des 
Humors — etwa Gottfried Keller — hätte den Geſtalten ebenfalls 
das Rührende wie das Lächerliche gegeben, aber in ſolcher Miſchung, 
daß die Rührung in uns den Spott aufwöge und das Stimmungs⸗ 
ergebnis Zufriedenheit wäre, Verſöhnung mit der Welt, wie ſie nun 
einmal iſt. Ibſen mildert nicht, er kehrt die eine Seite nach der 
andern hervor, lediglich um der Richtigkeit und Gerechtigkeit wil— 
len. Es iſt weder mangelnde Freiheit des Geiſtes — wie würden 
ſonſt beide Seiten mit gleicher Unbefangenheit erkannt? — noch 

ö 8 * 


116 V. Die Komödie der Liebe 


ein künſtleriſcher Mangel, es ift die Verſchiedenheit der Weltauf- 
faſſung, die ſolche Verſchiedenheit der Darſtellung begründet. Ein 
Schema wäre: 

Idealismus — Humor 

Behaupten — Gelten laſſen 

Entrüſtung — Begütigung 

Unbeugſamkeit — Kompromiß 

Zuverſicht — Reſignation. 


3. 

Die eigentliche Handlung des Stückes geht vor ſich zwiſchen 
Falk und Schwanhild mit Goldſtadt als Gegenſpieler. Dieſer faßt 
das Abſtoßende und Abſchreckende der drei Liebesfalliſſemente zu⸗ 
ſammen und läßt es, gleichſam in einen Brennpunkt geſammelt, 
auf die beiden wirken, ſo daß ſie, vor gleichem Schickſal bangend, 
einander fürs Leben entſagen. Um eine ſolche Entwicklung und 
Löſung beſtätigen oder verwerfen zu können, iſt es nötig, nicht 
nur Goldſtadts Argumente zu prüfen, ſondern vor allem die 
Charaktere und die Gemütsverfaſſung der Liebenden. Die Beweis⸗ 
kraft eines Arguments, die Wirkſamkeit eines Motivs hängt jeder⸗ 
zeit von der Perſönlichkeit ab, auf die es zu wirken hat. Es gibt 
darum keine unbedingte, es gibt nur eine zureichende Motivierung. 

Falk, ein junger Schriftſteller, ſagt das Perſonenverzeichnis. 
Wir brauchen ſeine Begabung nicht auf Treu und Glauben hinzu⸗ 
nehmen: mit einem friſchen Trutzlied, das zugleich den Grundton 
der ganzen Dichtung anſchlägt, eröffnet er das Stück. 

Sonnenſchein im Blütenhage, 

Eitel Luſt und Duft und Licht! 
Sorgſt du jetzt, ob Herbſtestage 
Halten, was der Lenz verſpricht? 
Apfelblüte, weiß und wehend, 

Breitet über dich ihr Zelt, 

Was verſchlägt's, wenn ſie vergehend 
Unter Hagelſchauern fällt? 


rr 


3 


V. Die Komödie der Liebe N 117 


Und die kecke Weiſe ſchließt: 
Mein die Blüte! nimmer frag' ich, 


Wer da nimmt den toten Reſt. 

Sorgloſem, ſelbſtſüchtigem Genuſſe des Augenblicks iſt ſein 
Leben gewidmet wie ſein Dichten. Was ein Harm iſt, hat er nie 
gewußt, Sorge und Fürſorge nie gekannt noch erfahren. Darum 
erſcheint ihm all das philiſterhaft und lächerlich; „unſere nächſte 
Liebe“, „unſere nächſte Mahlzeit“, „unſer nächſtes Leben“, immer 
„das nächſte“ — über dem ewigen Hoffen und Harren geht das 
ganze Daſein verloren. So verbringt er denn die Tage in Faul⸗ 
heit mit Nichtstun und geiſtreicher Kritik ſeiner Nächſten. Zu 
dichteriſcher Tätigkeit fehlt ihm der zwingende Anlaß — ein 
großer Schmerz, etwa eine Braut, die „mitten in des Glückes 
wilder Jubeljagd“ ſtürbe, kurz etwas „geiſtige Gymnaſtik“ — dann 
ſollte die Welt Wunder ſehen! Aus der behaglich-frivolen Stim- 
mung nun ſchreckt ihn Linds vertrauliches Geſtändnis auf, daß er 
liebe und wiedergeliebt werde. Dieſe Mitteilung iſt das erregende 
Moment des Stückes, Anfang der Handlung. Denn Falk glaubt, 
Linds Erkorene ſei Schwanhild. Jetzt, da er ſie verlieren ſoll, 
fühlt er, daß er fie liebt. Es find zwei unausgeglichene, unverein— 
bare Naturen in ihm: die cyniſche, an den „Schützen“ gemah- 
nende, und eine wahrhaft gemütreiche. Jene 10 0 er nach außen, 
um dieſe zu verbergen. 

Schwanhild iſt ihm von Anbeginn unter den andern auf⸗ 
gefallen als die einzige, der er je ſein Inneres zeigen möchte. Die 
Löſung des Mißverſtändniſſes erfüllt ihn mit Freude, der Ein⸗ 
blick, den ihm Schwanhild in ihr Seelenleben gewährt, ſteigert ſeine 
Liebe. Nicht vergebens führt ſie den ſtolzen Namen aus der alten 
Saga. Sie denkt ſtolz und groß, ſie fühlt ſich einſam und un⸗ 
glücklich in den kleinlichen Verhältniſſen, unter den kleinen Seelen. 
Selbſt den Todesſprung über einen Abgrund würde ſie unver⸗ 
zagt wagen, winkte auf der andern Seite ein Ziel des Sprunges 
wert. Nicht bloß in Gedanken und Träumen, in der Tat und 
Wirklichkeit hat ſie verſucht, aus dem Alltagsgeleiſe zu kommen 


118 V. Die Komödie der Liebe 


und frei und ſelbſtändig zu werden. Ihre Verſuche find miß— 
glückt: zur Malerin gebrach ihr das Talent, und als ſie dann, in 
nicht zu bezähmendem Freiheitsdrang, die Bühnenlaufbahn ein⸗ 
ſchlagen wollte, miſchten ſich die Tanten und Sippen ein und rieten 
— zu einer Gouvernantenſtelle. 

Leidenſchaftlich bekennt ihr Falk ſeine Liebe und ſchlägt ihr 
vor, nicht etwa, daß er ſie befreien und retten wolle, nein, der 
Sinn ſeiner beſchwingten Worte iſt kurz: Schwanhild ſei mein — 
dieſen Frühling! Noch zeitig genug komme ſie in das goldne 
Bauer, wo das Weib dahinſiecht, wenn die Dame ſich entwickelt. 
Nur das Weib liebe er in ihr. Sie, wenn ſie wolle, könne ihn 
zum Dichter machen. Sie ſolle ihren Seelenreichtum in ihn hinein⸗ 
ſingen, er gebe Sang um Sang dafür zurück, dann möge ſie ruhig 
beim e altern, ſie habe ihren Beruf erfüllt. 

Mein die Blüte! Nimmer frag' ich, 
Wer da nimmt den toten Reſt. 

Doch was hier zu Worte kommt, iſt nicht fo ſehr die Selbſt⸗ 
ſucht des Genußmenſchen als der Egoismus des Dichters. Der 
künſtleriſch Begabte fühlt ſich zu fordern und zu nehmen berechtigt, 
was ſeiner Begabung frommen mag. Je nach Temperament, 
Charakter und Erziehung werden feine Anſprüche gütlicher oder ges 
bieteriſcher laut: die Literaturgeſchichte hat eine Skala aufzuweiſen 
von der zarteſten Andeutung bis zur brutalen Forderung, von den 
Minneſängern bis auf Heinrich von Kleiſt, den anſpruchvollſten 
und darum unglücklichſten Dichter, den geborenen Selbſtmörder. 
Bei Falk findet der künſtleriſche Egoismus am natürlichen einen 
Reſonanzboden. Sein Anſinnen wäre roh und beleidigend, wär' es 
nicht ſo naiv, ſo offenbar gutem Glauben entſprungen. Er würdigt 
nach ſeinem Empfinden Schwanhild nicht herab, im Gegenteil er 
hebt ſie dadurch auf ſeine Stufe. Daß er ihr nur ein zeit⸗ 
weiliges, kein dauerndes Glück bietet, beruht auf ſeiner ehrlichen 
Überzeugung von der Unmöglichkeit eines ſolchen. Nicht ohne 
Grund wird die intime Szene zwiſchen ihm und ihr vor der 
Liebeserklärung abgebrochen und erſt wieder aufgenommen, nach⸗ 


La Be nn ı (| Au ie _ a 7 na 


V. Die Komödie der Liebe 119 


dem ihnen beiden die drei andern Paare vor Augen geführt ſind — 
zum abſchreckenden Beiſpiel. 
Mit unterdrückter Bitterkeit weiſt Schwanhild ſein Verlangen 


zurück. 
Sie ſehn auf mich, wie Knaben ſehn auf Weiden, 
Für einen Tag ſich Flöten draus zu ſchneiden. 


Falk. 
Iſt das nicht beſſer, als im Sumpfe ſtehn, 
Und dann im Herbſt trübſelig zu vergehn? 
(heftig) 5 
Sie ſollen — müſſen! Es iſt ihre Pflicht, 
Für ſich empfingen ſie die Gaben nicht. 
Was Sie nur träumen, mir wird's zum Gedicht! 


Zu ſeinem Nutzen verwertet ſie nun auch ihren feinen Geiſt, 
aber anders als er dachte. Er hatte ſich mit dem kühnen Vogel 
verglichen, nach dem er benannt iſt; ſie nennt ihn einen Dichter⸗ 
drachen aus Papier, der um fremde Hilfe bettle, weil er nicht 
ohne ſie ſteigen könne. Auf eignen Schwingen! heiße die Loſung, 
Lebensdichtung, nicht Papierdichtung! Beſtürzt und ergriffen durch 
die treffende Charakteriſtik, beſchließt er zur Tat, zur Lebensdich⸗ 
tung überzugehen, auf der Stelle zu beginnen — e morgen mit 
ihr zu verloben. 

Ibſen ſcheut ſich nicht, an ſeinem jugendlichen Helden in wirk— 
lichkeitsgetreuer Schilderung auch die lächerliche Seite vorzukehren. 
Es wirkt komiſch und ſoll komiſch wirken, wenn Falk im erſten 
Feuer den vorübergehenden Goldſtadt anpackt, er ſolle ihm ſchnell 
eine große Tat zeigen, die er vollbringen könne, und dann auf 
ſeinem Zimmer in Ermanglung eines Beſſern die Lampe zerwirft, 
die Gardinen herabreißt und das Tintenfaß gegen den Ofen 
ſchmettert. Aber wie echt iſt dieſe knabenhafte Selbſtbetätigung, 
dieſer unbezwingliche Übermut im friſchen Rauſch der Liebe! 

Die große Teegeſellſchaft am Sonntag⸗Nachmittag zur Feier 
von Linds und Annas Verlobung ſchafft ihm dann ſogleich Ge— 
legenheit zum wirklichen Beginn der neuen Lebensdichtung und 


120 V. Die Komödie der Liebe 


Tat, zur Aufnahme des Kampfes gegen das Beſtehende, gegen die 
Geſellſchaftslüge. 

In Camilla Colletts Roman heißt es an einer Stelle: „Be⸗ 
ſchütze, o Menſchheit, dieſe erſte Blüte unſeres Frauenlebens, die 
Liebe ... Hab' acht auf ihr Wachstum und ihre Frucht. Zer⸗ 
ſtöre nicht leichtſinnig ihre feinen Herzblätter in dem törichten 
Glauben, daß die groben Blätter dann noch gut genug ſeien. 
Nein, ſie ſind nicht gut genug. Es iſt ein ebenſo großer Unter⸗ 
ſchied zwiſchen dieſen und jenen, wie zwiſchen dem Tee, den wir 
gewöhnlichen Erdbewohner ſo nennen und womit wir vorlieb 
nehmen, und dem, den allein der Kaiſer des himmliſchen Reiches 
trinkt, und der allein der wirkliche Tee iſt, und der zuerſt ge 
erntet wird und ſo zart iſt, daß er mit Handſchuhen gepflückt 
werden muß ...“ 

Den guten, aber nur beiläufigen Vergleich hat Ibſen zu der 
berühmt gewordenen Teerede entwickelt, in der die Satire des 
Stückes ihren feinſten und dichteriſch wertvollſten Ausdruck er⸗ 
reicht. Nach wenigen einleitenden Worten hebt Falk über den Tee 
und die Liebe alſo an: 

Er hat ſein Heim im fernen Märchenland, 
Ach, dort iſt auch der Liebe Heim gelegen. 
Der Sonne Söhnen nur ward der Verſtand, 
Die Pflanze recht zu bauen und zu pflegen. 
Und mit der Liebe ſteht es ebenſo: 

Rinnt in den Adern uns kein Sonnenblut, 
Gedeiht die Liebe nicht in unſrer Hut; 

Wir werden nie der zarten Blüte froh. 


Fräulein Elſter 
China iſt doch uralt. Wenn darnach man 


Das Alter auch des Tees bemeſſen kann — 


Strohmann. 
China beſtand vor Tyrus und Jeruſalem. 


Falk. 
Beſtand ſchon, da der ſelige Herr Methuſalem 
Sich noch mit Bilderbüchern mocht' beſchäftigen. 1 


a a en 


ee a 


V. Die Komödie der Liebe. 121 


Fräulein Elſter. 
Der Liebe Weſen aber iſt ja jung! 
Wo bleibt da des Vergleichs Berechtigung? 


Falk. 
Sehr alt auch iſt die Liebe. Das bekräftigen 
Wir alle ganz ſo gläubig hier zu Lande, 
Wie die am Kap und die am Rio Grande. 
Ja von Neapel bis hinauf nach Brevig 
Gibt's Leute, die behaupten, ſie ſei ewig. 
Nun, darin liegt wohl einige Übertreibung. 
Alt aber iſt ſie über die Beſchreibung. 


Fräulein Elſter. 


Doch Liebe bleibt ſtets Liebe, ſchlicht und recht; 


Tee gibt's verſchiedne Sorten, gut und ſchlecht. 


Frau Strohmann. 
Ja, man hat Tee von mancher Qualität, der — 


Anna. 
Aus allererſten grünen Frühlingsſproſſen — 


Schwanhild. 
Der wird von Sonnentöchtern nur genoſſen. 


Eine junge Dame. 
Man ſchildert ihn berauſchend, ſtark wie Ather — 


Eine andre. 
Wie Lotos duftend, kernſüß wie die Mandel. 


Goldſtadt. 
Die Sorte kommt hier niemals in den Handel. 


Falk. 
Ach, meine Damen, ſtill in uns, umſchloſſen 
Von unſrer Schüchternheit chineſiſcher Mauer, 
Die freilich auch nicht ſtandhält auf die Dauer, 
Wohl tauſend ſolcher Frühlingstriebe ſproſſen. 
Da ſitzen im Kiosk, verziert mit Glöckchen, 
Seufzend der Phantaſie Chineſendöckchen 
Und träumen — träumen, Schleier um die Lenden, 
Schön⸗goldne Tulipanen in den Händen. 
Ja, denen heimſten Sie die erſten Triebe 


122 V. Die Komödie der Liebe 


Und fragten nicht, was noch zu ernten bliebe. — 
So kommt auch nur, was man zuſammenharkt, 
Zu uns, Nachernte, mehr als Stiele kaum, 

Die man durch Treten abgewinnt dem Baum — 


Goldſtadt. 
Das iſt der ſchwarze Tee. 


Falk (nickt). a 
Der füllt den Markt. 


Ein Herr. 
Holberg ſpricht auch von einem Tee de boeuf — 


Fräulein Elſter (ſchnippiſch). 
Für heutige Gaumen wohl ein fremder Stoff. 


Falk. 
Ach nein, auch eine Liebe gibt's de boeuf, 
Die ihren Mann vors Hirn ſchlägt — in Romanen, 
Nachweislich auch im Heere der Pantoff— 
elhelden, eingerückt zu Ehſtandsfahnen. 
Kurz, mein Vergleich paßt, wo Sie's kaum vermeinen. 
So ſagt ja auch ein altes Wort, der Tee | 
Verliert etwas von feiner Kraft, vom feinen 
Aroma, überführt man ihn zur See. 
Juſt durch die Wüſte muß er, jeder Packen 
Muß Zoll bezahlen Ruſſen und Koſaken. 
Die ſtempeln ihn, damit er weiter fahre, 
Sonſt gilt er uns ja nicht für echte Ware. 
Nun, muß die Liebe nicht, ſei's wie es ſei, 
Auch durch des Lebens Wüſte? Außer ſich 
Geriete ja die Welt, wenn Sie, wenn ich 
Uns unterſtünden, über Freiheitswogen 
Sie kecklich heimzuholen. Welch Geſchrei! 
„Gott, der Moralduft iſt ja rein vorbei, 
Legalitäts⸗Aroma ganz verflogen!“ 
Strohmann (erhebt Sid). 
Gottlob, in unſerm fittenreinen Lande 
Sind ſolche Waren ja noch Kontrebande. 
Falk. 
Ja, ſoll ſie hier zu Lande frei paſſieren, 
So muß ſie durchs Sibirien der Regeln, 


FETT 


Er ²˙ ¹o“«x . in een Ta Arge 


V. Die Komödie der Liebe i 123 


Da ſchadet ihr die Luft nicht wie beim Segeln. 
So muß ſie Brief und Siegel produzieren 

Von Pfarrer, Organiſt und Sakriſtan, 

Von Sippen, Vettern, Ahn und Urian 

Und andern braven Leuten ditto — neben 
Dem Freipaß, den der Gott ihr ſelbſt gegeben. 
Und nun die letzte große Ahnlichkeit. 

Wie ſchwer legt die Kultur in unſrer Zeit 

Auf jenes Reich die Hand, das weit entfernte! 
Zerfallen iſt die Mauer, die Macht geſprengt, 
Der letzte echte Mandarin gehängt, 

Profane Hände pflücken ſchon die Ernte. 

Bald iſt das „Reich des Himmels“ eine Sage, 
Ein Märchen bloß, dran niemand fürder glaubt. 
Farbloſer wird die Welt mit jedem Tage, 

Wenn wir uns erſt das Wunderland geraubt. 
Und dann — wo wird die Liebe noch gefunden? 
Ach, die iſt dann ja auch dahin geſchwunden. 


(Hebt die Taſſe in die Höhe.) 


Nun, was die Zeit nicht halten kann, vergeh! 
Auf Amorn ſelig — eine Taſſe Tee! 


Die ſatiriſchen Spitzen und Ausfälle der Rede werden von 
den Zuhörern bemerkt, es kommt zu erregten Erörterungen und 
ſchließlich zu einem offnen Bruch. Man ſagt ihm die Freundſchaft 
auf, Frau Halm kündigt ihm die Wohnung. Auch dies kein tra⸗ 
giſches Ereignis, ſondern ein komiſches, wie denn überall, mit 
notwendiger Ausnahme einiger Szenen des letzten Aufzugs, bei 
allem Ernſt der Idee der Ton der Komödie gewahrt iſt. Verlaſſen 
ſteht Falk im Garten, da nähert ſich ihm Schwanhild wieder. 
Wenn er gegen die Lüge ſtreiten wolle, werde ſie ihm treu zur 
Seite ſtehen — „als Knappe“ nur, denn er müſſe frei und 
allein den Kampf aufnehmen. Aber Falk iſt andern Sinnes. 
Schwanhild hat ihn verkannt, wie er ſich ſelbſt bis dahin nicht ges 
kannt hat. Es iſt „Herzenswärme“ genug in ihm, ſo ſcheint es, 
den theoretiſchen wie den praktiſchen Egoismus zum Schmelzen zu 


124 V. Die Komödie der Liebe 


bringen. Er will der Welt beweiſen, daß der Liebe eine ewige 
Macht innewohne, die ſie unbeſchadet in ihrer Pracht durch den 
Schmutz auf Werktagswegen trage. Er reicht Schwanhild den 
Ring, und mutig wirft ſie ſich in ſeine Arme. So endet der zweite 
Akt mit wirklicher Verlobung. 

Welcher Mangel an Folgerichtigkeit, hat die Kritik ausgerufen, 
daß dieſer ſelbe Falk das tut, wogegen er eben noch ſo überzeugt 
geſprochen. Iſt der Dichter inkonſequent, wenn er pſychologiſch 
wohl begründete Inkonſequenz darſtellt? Nichts iſt natürlicher 
und richtiger, als daß hier das Herz den Verſtand zum Schwei⸗ 
gen bringt, daß die Liebe Falks ganze Weisheit und Erfahrung in 
den Wind ſchlägt. „Über allen Zauber Liebe!“ Da das neue Ge⸗ 
fühl das Stärkſte iſt, was der bisher Tändelnde jemals empfun⸗ 
den, glaubt er es auch ſtärker als die Gefühle der andern; da er 
ſich durch die Liebe über ſein vergangenes Leben und Tun empor⸗ 
gehoben findet, wähnt er, über alle und über alles erhaben zu ſein, 
eine Ausnahme, ein Begünſtigter, der ſich die Furcht vor dem 
Schickſal der Durchſchnittsmenſchen nicht brauche anfechten laſſen. 
Iſt, wie bei Falk, reiche Begabung und damit ſchon das Bewußt⸗ 
ſein geiſtiger Überlegenheit vorhanden, ſo wird die Selbſttäuſchung 
doppelt begreiflich. Nicht hier war eine pſychologiſche Unwahr⸗ 
ſcheinlichkeit zu ſuchen: aber an ſich unwahrſcheinlich iſt, daß ein 
Liebender — und überdies im erſten Stadium der Leidenſchaft 
— durch Verſtandesgründe von dieſer Illuſion geheilt werden 
könne, was Ibſen im Schlußakt zu erweiſen wünſcht. Dort erſt 
iſt dem Pſychologen Anlaß gegeben, Prüfſtein und Goldwage 
hervorzuholen. 

Den letzten Akt eröffnet wieder ein leicht komiſch gefärbter 
Auftritt. Falk, der noch am ſelben Sonntag abend das Zimmer 
räumt, befiehlt dem Aufwärter, feine Manuſkriptenmappe „mit 
den Wechſeln auf poetiſch Gold“ zu verbrennen und ſchenkt ihm 
ſeine Bücher, aus denen er nichts mehr zu lernen habe. Daran 
ſchließt ſich eine Liebesſzene zwiſchen Falk und Schwanhild, deren 
innig⸗zart⸗gedämpfte Stimmung den Zauber des blütenduftenden 


V. Die Komödie der Liebe i 125 


mondenklaren Abends mit rein dichteriſchen Mitteln wiedergibt. 
Nur begnadete Poeten wiſſen ſo die ſtets ungenügende, ob noch ſo 
geſchickte ſzeniſche Nachahmung der Natur durch eigne Kraft und 
Kunſt zum vollen Eindruck der Wirklichkeit zu erhöhen. Wie in 
Mörikes „Geſang zu zweien in der Nacht“ hat Sie die führende 
Stimme, Er nimmt variierend und vollendend die Weiſe auf, die 
mit den zärtlichen Geſängen der lauen Lüfte harmoniſch ver— 
ſchmilzt. Doch was im lyriſchen Gedicht rein muſikaliſcher Stim⸗ 
mungsinhalt bleibt, wird hier zum Gefühls⸗ und Gedankeninhalt: 
im gemeinſamen Einklang mit der Natur empfinden und erkennen 
ſie die Wahlverwandtſchaft ihrer Seelen. 

Wahlverwandtſchaft gilt als die ſicherſte Bürgſchaft für Kraft 
und Dauer der Liebe. Der Dichter hat ſich durch dieſe Szene die 
Abwicklung der Handlung in ſeinem Sinne beträchtlich erſchwert 
— wohl mit Abſicht, denn er war ſeiner Sache gewiß, und je ver⸗ 
läſſiger das Fundament erſcheint, deſto größern Eindruck macht 
der Zuſammenbruch. Trotzdem aber iſt die Kataſtrophe wohl vor- 
bereitet. Zwiſchen die Liebes⸗ und die Trennungsſzene werden, 
wie im erſten Akt zwiſchen die Liebes- und die Antragsſzene, Auf⸗ 
tritte mit den drei andern Paaren eingeſchaltet, die den Übergang 
aus einer Stimmung in die andre herbeiführen helfen. Noch ein— 
mal haben Falk und Schwanhild Verlobung und Ehe jo anjchaus 
lich vor Augen, daß ihn ein wahrer Ekel erfaßt und ſie flüch⸗ 
ten, fortreiſen möchte, böte ſich nur nicht überall dieſelbe „Tragi⸗ 
komödie“, dasſelbe „Harlekinsmirakel“ dar: „ein Volk, das 
glaubt, was das ganze Volk lügt“. 

Eine zweite Parallelkonſtruktion heiſcht Beachtung. Am Ende 
des erſten Aktes, wo Falk Schwanhild auffordert, ſich ihm zu 
eigen zu geben, den Abgrund kühn zu überſpringen, den nur die 
Konvenienz vor ihr auftue, fragt ſie, einen Augenblick zögernd, 
kaum hörbar: Und wenn wir fielen? Nun, da Strohmann 
und Stüber ihnen eine ſo niederſchlagende Lehre geben, fragt er 
ſchwankend: Wenn die Lehre auch uns gölte? In beiden Fällen 
aber geht die Wiederherſtellung der erſchütterten Zuverſicht von ihr 


126 V. Die Komödie der Liebe 


aus. Auf ihre zweifelnde Frage erwidert Falk: O nein, ich ſehe 
einen Schimmer in deinen Augen, der unſern Sieg verkündet; 
ſeine Frage weiſt Schwanhild ab mit den Worten: Ich ſtehe 
dir zur Seite, wenn du kämpfen willſt, mir iſt es leicht, alles 
aufzugeben und jubelnd zu leiden. Und zum zweiten Male 
macht er dann den Trugſchluß von ihrer Sicherheit auf die ſeine: 
Wir ſtehen im Sturme, uns kann niemand fällen. 

Nun ſetzt das Gegenſpiel ein. Der Großhändler Goldſtadt 
iſt außer Schwanhild die einzige Perſon des Stückes, die ſtets 
mit ernſter Achtung geſchildert wird. Er und Falk leben zwar in 
ſtändiger Fehde und geben einander, geſchickt manövrierend, „oft 
genug eine volle Breitſeite“, aber trotzdem beſteht zwiſchen dem 
geiſtreich übermütigen jungen Dichter und dem welterfahrnen klar 
verſtändigen Manne eine geheime Sympathie, wie immer, wenn 
ſich zwei wirkliche Perſönlichkeiten begegnen. Auf dieſe Sympathie 
baut Goldſtadt nicht zum wenigſten, wenn er es jetzt unternimmt, 


Falk und Schwanhild die Augen zu öffnen. Er beginnt damit, 


Schwanhild in Gegenwart Falks feine Hand anzutragen. Frei ſoll 
ſie wählen zwiſchen ihnen beiden: es gelte, drei Leben für das Glück 
zu bewahren. Gerade durch „die kecke, ſtarke Liebe“ Falks erklärt 
er „mit dem Recht der Erfahrung“ Schwanhilds Glück bedroht. 
Und welcher Erfahrung? Auch er entbrannte einſt für ein Mädchen 
und litt jahrelang um ſie, als ſich ihre Wege trennten. Tags 
zuvor erſt ſah er ſie wieder — von der Liebe regte ſich nichts mehr. 
Seine Angebetete von früher iſt — Frau Paſtor Strohmann. 

Ihr beide, fährt Goldſtadt fort, verſucht nun dasſelbe Wage⸗ 
ſpiel, überzeugt, daß die Liebe der Gewohnheit und der Not, der 
Sorge und dem Alter trotzen werde. Liebe iſt eines, und ihr Weſen 
nicht zu erklären; Verlobung und Ehe aber ſind ein andres, ſind 
praktiſch und darum praktiſch zu behandeln. Zur glücklichen Ver⸗ 
lobung ſchon bedarf's mehr als Liebe, bedarf's der Ubereinſtimmung 
in Geſchmack und Geſinnung auch mit der Familie der Braut. 
Und die Ehe vollends iſt ein Meer von Forderungen, die mit der 
Liebe wenig zu tun haben: häusliche Tugenden, Entſagung und 


V. Die Komödie der Liebe n 


Achtung vor Gebot und Pflicht und noch manches, was ſich in 
Gegenwart von Damen nicht erörtern läßt. Statt dies zu erwägen, 
eilt jedes Liebespaar „ſporenſtreichs zum Altare“. Wenn aber nach 
der Zeit des Rauſches unfehlbar der Tag der Abrechnung kommt, 
zeigt es ſich, daß ihre Jugendblüte dahin iſt und ihr Gedanken⸗ 
flor; dahin ſein Siegermut und ſeine Liebesglut; „bankrott“, 
ſchließt Goldſtadt mit einem kaufmänniſchen Gleichnis, 

. bankrott des Hauſes ganze Maſſe, 

Und beide gingen doch ins Leben ein 

Als eine Liebesfirma erſter Klaſſe. 
Falk widerſpricht und wird mit den eigenen Waffen geſchlagen. Dies 
waren ſeine Worte, als er es mit der ganzen Teegeſellſchaft aufnahm. 

Bis hierher hat Goldſtadt recht, wenn Falk recht gehabt hat. 

Nun aber deutet er wieder auf das Ehepaar Strohmann und Stüber 
hin und ſtellt damit Falk, deſſen wirkliche Begabung uns allent⸗ 
halben entgegentritt, neben die beiden weiland Dilettanten, ſtellt 
die ernſte, ſtrebſame und gemütreiche Schwanhild neben die Pfar— 
rersfrau, die einmal außer einem hübſchen Geſicht höchſtens den im 
„dramatiſchen Verein“ erworbenen „Gedankenflor“ beſaß. Hier iſt 
die Beweisführung brüchig, aber nur im negativen Teile; die 
Wirkung des folgenden pofitiven auf Falk wird keineswegs ab— 
geſchwächt. Falks höhniſche Gegenfragen, warum denn Goldſtadt 
in eine ſo ausſichtsloſe Lotterie ſetze oder ob er etwa Geld als die 
einzig ſichere Grundlage der Ehe betrachte, beantwortet der Ge⸗ 
kränkte mit der Darlegung ſeiner Theorie. Kein dauerndes Glück 
ohne den ſtillen herzenswarmen Strom freundlicher Achtung, ohne 
ein Gefühl für das Beſeligende der Pflicht und Fürſorge, für die 
Traulichkeit eines friedlichen Heims; kein Glück, wenn ſich nicht 
beider Wille ſtets halben Weges freundlich begegnet. Eine milde 
Hand tut not, die Wunden zu heilen weiß, ein Arm, der treu 
und ſicher ſtützt, ebenſo wie Manneskraft, die mit willigem Rücken 
trägt, ein Gleichgewicht, das Jahr' und Jahre nicht zu ſtören ver⸗ 
mögen. Mit zwei Worten: caritas iſt ihm die ſichere Grundlage 
der Ehe, nicht amor. 


128 V. Die Komödie der Liebe 


Goldſtadt hat Schwanhild aufwachſen und ſich entfalten ſehen; 
ſie beſitzt alles, was er am Weibe ſchätzt. Lange hat er ſie nur 
wie eine Tochter betrachtet — nun, wo ihre Zukunft ihm gefährdet 
erſcheint, bietet er, was er zu bieten hat. Kann Falk geloben, daß 
er ihr in derſelben uneigennützigen Weiſe ein Freund im Leben, 
ein Stab auf dem Wege, ein Troſt in Nöten ſein werde, ſo tritt 
er zurück, ſo hat er im Stillen geſiegt, denn ihr Glück allein iſt 
es, wonach er trachtet. Dann ſoll auch ſein großes Vermögen 
dem Paar gehören, ſie ſollen ihm beide an Kindes Statt ſein. 


4. 

Schach und matt! ruft Ibſen, indem er dieſen Zug tut. 
Denken wir uns, ein Dramatiker älterer Schule hätte das Spiel 
gerade ſo, wie es jetzt ſteht, zu übernehmen und zu Ende zu 
führen. Was wäre die Löſung? Falk würde Goldſtadts Zweifel 
an ſeiner Zuverläſſigkeit, Schwanhild den Heiratsantrag, beide das 
Geld mit Entrüſtung zurückweiſen. Falk würde auf ſeiner Behaup⸗ 
tung beharren, wenn nur das Ideal auch in der Ehe das Vorherr⸗ 
ſchende bliebe, ſo könnten zwei durchs Leben wandern mit geretteter 
Begeiſterung und gerettetem Glauben. Schwanhild flöge ihm an 
den Hals und die Liebe, die echte wahre Liebe, bliebe ſiegreich. All 
der Hohn und Spott, der im Stücke ausgegoſſen worden, fiele dann 
nur auf die, die man gerne preisgibt, die Strohmann, Stüber uſw. 
— poetiſche Gerechtigkeit! — und die wohltuend abgerundete 
Komödie der Liebe dürfte des allgemeinen Beifalls ſicher ſein. 
Das aber wäre keine wirkliche Löſung, die Partie bliebe „remis“. 
Das Luſtſpiel, bemerkt Schopenhauer, muß „ſich beeilen, im Zeit⸗ 
punkt der Freude den Vorhang fallen zu laſſen, damit wir nicht 
ſehen, was nachkommt; während das Trauerſpiel in der Regel ſo 
ſchließt, daß nichts nachkommen kann“. Ibſen will den tragiſchen 
Teil ſeiner Komödie ſo ſchließen, daß nichts nachkommen kann. 

Da Goldſtadt gegangen, meſſen ſich die Verlobten mit ſcheuen 
Blicken, jedes ängſtlich die Wirkung des Zweifels am andern 
beobachtend. Jedes erkennt, daß am andern keine Stütze zu er— 


V. Die Komödie der Liebe 120 


hoffen iſt für den eignen wankenden Glauben, daß Goldſtadts 
wohlgezielte Worte ihre „Stärke“ und ihren „Lebenstrotz“ jetzt 
ſchon gebrochen haben. Falk macht noch einen Verſuch, ſich auf— 
zuraffen, „mit wilder Heftigkeit“, „mit ausbrechender Angſt“. 
Und Schwanhild ſtellt die Gewiſſensfrage: „Wenn die Liebe gleich— 
wohl unterginge, haſt du dann noch das, worauf ſich ein Glück 
begründen ließe?“ Falk: Nein, mit meiner Liebe bräche alles zu= 
ſammen. „Und darfſt du heilig mir vor Gott geloben, daß ſie 
das ganze Leben hindurch währen wird?“ Falk, nach einigem 
Zögern: Sie währt wohl — lange. 

Dies iſt die entſcheidende Stelle des Stückes. Falk zeigt ſich 
von Anfang an als wenig zur Ehe geeignet. Seine Erziehung, der 
mangelnde Sinn für Heim und Familie, der Hang zu ungeſtörtem 
Genußleben, zu einem wenn auch vergeiſtigten Epikuräismus, 
ſprechen für die Wahrheit ſeiner Antwort. Wie aber verhält es 
ſich mit der Wahrſcheinlichkeit einer ſo klaren Selbſt⸗ 
erkenntnis, eines ſo aufrichtigen Bekenntniſſes in ſolcher Stunde? 

Nähmen wir an, die Wahrſcheinlichkeit fehle, ſo ſtünd' es 
dem Dichter immer noch frei, ſich auf eine leicht durch Autoritäten 
zu ſtützende licentia dramatica zu berufen. Otto Ludwig erläutert 
wiederholt an Beiſpielen, daß Shakeſpeare feinen Helden eine Ela- 
rere Einſicht in ihr eignes Seelenleben verleihe, als fie in Wirklich- 
keit beſäßen, daß er ſie zuweilen ſagen laſſe, was nur er von 
ihnen zu ſagen wiſſe. Warum hätte alſo Ibſen nicht dasſelbe Recht, 
zum künſtleriſchen Zwecke den erſt nach Jahren eintretenden Ban⸗ 
krott vorauszunehmen? Es bedarf jedoch gar nicht der entſchul— 
digenden Auslegung. Falk handelt und ſpricht durchweg ſeinem 
Charakter gemäß, und die Forderung, ihn im herkömmlichen liebe: 
verherrlichenden Sinne handeln und ſprechen zu laſſen, mag mit 
Goldſtadts Worten abgelehnt werden: „Das nennt man Humbug, 
Humbug, liebe Freunde!“ 

Henrik Ibſen war der erſte moderne Dramatiker, d. h. der 
erſte Dramatiker, der eine pſychologiſch treue, nicht mit überkom⸗ 
mener literariſcher Schablone ee Darſtellung moderner 

Woerner, Jbſen. I. 3. Aufl. 9 


130 V. Die Komödie der Liebe 


Menſchen verſuchte. Und den erſten Verſuch wagte er eben an Falk 
und Schwanhild. Vergleichende Pſychologie iſt eine noch wenig 
gepflegte, zum mindeſten noch nicht methodiſch begründete Wiſſen⸗ 
ſchaft. Man braucht indes nur die Memoiren-Literatur aus der 
erſten Hälfte des Jahrhunderts durchzublättern, etwa des wackern 
Steffens „Was ich erlebte“ oder Varnhagens ſtilloſe, aber ſtoff— 
reiche Aufzeichnungen, und es ſetzt ſich aus den zahlreich da ges 
gebenen Charakterköpfen wie von ſelbſt eine Art Geſamtphyſio⸗ 
gnomie zuſammen, eine Phyſiognomie der Zeit, von welcher die 
unſerer Zeit auffallend abſticht. Das Bezeichnende an jenen Menſchen 
ſcheint mir ein ſtarker, inniger Optimismus, der keinen Zweifel, 
eine unerſchöpfliche Begeiſterungsfähigkeit, die kein Hindernis kennt. 
„Schau um dich!“ hieß die Loſung. Uns dagegen, deren geiſtige Ent⸗ 
wicklung, wie die Ibſens, in die zweite Hälfte des Säkulums fällt, 
wird das „Schau in dich!“ zur gebieteriſchen Notwendigkeit. Es 
iſt der hiſtoriſche Sinn, der in uns erſt lebendig geworden, unſer 
Leben, unſere Wiſſenſchaft und unſere Kunſt beherrſcht. Wie allem 
andern, wollen wir uns ſelbſt als unbeſtechliche Beobachter gegen: 
überſtehen; ein völlig naives Sich-Hingeben an eine Idee oder an 
ein Gefühl, eine Leidenſchaft, iſt nicht mehr das Gewöhnliche. Auch 
hier tritt Prüfung ein und mit der Prüfung die Beſonnenheit, die 
nicht notwendig ſiegt, aber notwendig einen innern Kampf ver⸗ 
anlaßt. All dies gilt ſelbſtverſtändlich nur von den eigentlichen 
Kindern der Zeit, nicht von der immer vorhandenen Menge derer, 
die auf der vorigen oder auf noch früheren Stufen ſtehen ge⸗ 
blieben ſind. 

Belege bietet denen, die ſie nicht aus eigner Erfahrung und 
Beobachtung zu gewinnen vermögen, die gegenwärtige Literatur in 
Hülle und Fülle. Denn hierfür ſind unechte Werke ſo beweiskräftig 
wie echte, weil die Nachahmung ſich ſtets nur am Zeitgemäßen 
anſaugt. | 

Falk und, bis zu einem gewiſſen Grade, Schwanhild find 
ſolche Menſchen von heute, die nicht getroſt Hand in Hand den. 
Sprung ins Dunkle wagen und die Zukunft Gott überlaſſen. Falk 


V. Die Komödie der Liebe 181 


will ſich ſelbſt nicht täuſchen und andere nicht über ſich. Schon 
ſein erſtes, klar ausgeſprochenes Anſinnen, Schwanhild ſolle ihm 
einen Sommer lang angehören, zeugt von ſtolzer Aufrichtigkeit. 
Einige Bemäntelung hätte doch da ſichreren Erfolg verſprochen. 
Und warum ſollt' er jetzt ſich und ſie belügen, wo er ſich gut 
genug kennt, um zu wiſſen, daß bei ihm, wie bei ſo manchem, 
amor und caritas, wie Flamme und Wärme, zuſammen entſtehen 
und zuſammen vergehen. Aber dennoch würde er wohl, wie ſo 
mancher, den Mut nicht finden, rechtzeitig den unumgänglichen 
Schluß daraus zu ziehen, wenn nicht wiederum Schwanhild für 
beide beſonnen und ſtark und tapfer wäre: „Und iſt auch unſrer 
Zukunft Boot geſcheitert, eine Planke iſt über Waſſer — ich weiß 
Rat!“ Auf fie müſſen wir unſer Hauptaugenmerk richten, fie ift 
die Heldin der Komödie der Liebe: „Schwanhild“ war der erſte, 
noch vorhandene Entwurf in Proſa betitelt. 

Ihre Liebe zu Falk hat viel tiefere Wurzeln als die feine 
zu ihr. Die feine zu ihr begann mit naivem Eigennutz, er ſah in 
ihr zuerſt nur ein Mittel zum äſthetiſchen Zweck. Dieſe Gering⸗ 
ſchätzung ihrer Perſon vergalt ſie ſogleich mit einem großen Dienſte: 
ſie ſagte ihm die Wahrheit über ſeine tändelnde Dichterei und wies 
den Weg zu echter Lebensdichtung. Sein Beruf iſt ihr von Anfang 
an das wichtigſte; daß er ihn zu erfüllen vermöge, iſt fie zu jedem 
Opfer bereit. Keine vorwurfsvolle Frage, was aus ihr werde, 
wenn in ihm die Liebe und damit jegliche Teilnahme für ſie erſterbe; 
nur Beſorgnis, daß für ihn dann auf den Frühling ein Herbſt 
folge, wo der Sangvogel in ſeiner Bruſt verſtumme. Und ihre 
ſelbſtloſe Hingabe jo zart ausgedrückt, der eigentliche Sachverhalt 
mit „wir“ und „unſere Liebe“ ſchonend verſchleiert! „Zum Weibe 
für dich bin ich nicht geſchaffen; ich konnte dich das heitere Spiel 
der Liebe lehren, aber darf deine Seele nicht durch den Ernſt des 
Lebens tragen.“ Mit gutem Recht ſagte ſie umgekehrt: zum Manne 
für mich biſt du nicht geſchaffen — wenn ſie ihr Glück im Aug 
hätte, nicht ſeine Begabung. 

So modern Schwanhilds ruhig⸗überlegene Beſonnenheit an 
0 9 * 


132 V. Die Komödie der Liebe 


mutet, ſo unmodern iſt ihr endgültiges Verhalten dem Manne 
gegenüber. Sie beanſprucht keine Rechte, ſie gehört in die Reihe 
der Frauengeſtalten, wie ſie Ibſen vor Nora zu ſchildern nicht 
ermüdete, der Frauen, die nichts begehren als ſich in Liebe für den 


> Mann zu opfern. 


Falk iſt Dichter. Gerade wenn er Schwanhild nicht erringt, 
wenn ſich ſeine Liebe zu ihr nicht im täglichen Zuſammenleben 
erſättigen und abſtumpfen kann, wird die gloria amoris nie ver⸗ 
bleichen, wird die Geliebte in unvergänglicher Schönheit ſein Ideal, 
ſeine Muſe bleiben für alle Zeiten. Ein ähnlicher Gedanke, die 
Hoffnung, den Genius ihres Mannes durch Trauer und Sehnſucht 
zu befreien, trieb die arme Charlotte Stieglitz zu einem heroiſchen 
Selbſtmord. Fein empfunden iſt, daß Schwanhild es mehr fühlt 
und ahnt als erkennt, daß Falk ſelbſt das Unausgeſprochene in 
Worte faſſen muß: 

Ja, nur auf dieſem Wege nah' ich dir! 

Durchs Grab nur führt der Weg zum ewigen Morgen, 
So iſt die Liebe ſelig erſt geborgen, 

Wenn ſie, der irdiſchen Begier entwunden, 

In der Erinnrung ſtill ihr Heim gefunden. 


Nun wird ihm der große heilſam-läuternde und gabenweckende 
Schmerz zuteil, den er ſich einſt halb frivol von Schwanhild er⸗ 
beten, und jubelnd bricht ſie aus in die Worte: 
Gelöſt iſt meine Pflicht! 
Nun hab' ich dich erfüllt mit Sang und Licht! 
Flieg frei! Zum Sieg haſt du dich aufgeſchwungen, 
Und Schwanhild hat ihr Schwanenlied geſungen. 


Große Beiſpiele ſtützen die Idee Ibſens vom Wert der Ent⸗ 


ſagung für einen Dichter: Beatrice, die Dante auf Erden verſagt 
gebliebene, iſt ſeine Führerin zum Empyreum ewigen Ruhmes ge⸗ 
worden; der Schmerz um Laura hat Petrarcas vielgeprieſene 
Sonette hervorgerufen. Warum alſo die abgünſtigen Äußerungen 
über den Schluß der Komödie der Liebe beim erſten Erſcheinen 
des Buches wie heute noch? 


F ͤͤV!—„—„ . ——U— A ¶Ä—2— —— 


CC LIE nn et 


. 


rr 


V. Die Komödie der Liebe N 133 


Aus zwei Gründen. Erſtens, weil ſich Ibſen mit der bloßen 
Trennung der Liebenden nicht begnügt, und mehr noch zweitens, 
weil er den beſonderen Fall zu allgemeiner Gültigkeit zu erheben 
ſucht. Werden beide Punkte zuſammengeworfen, ſo kann es weder 
zu einem klaren noch zu einem gerechten Urteil kommen. 

Ibſen begnügt ſich nicht damit, die Liebenden zu ſcheiden, 
ſondern läßt Schwanhild noch einen äußerſten Schritt tun — die 
Werbung Goldſtadts erhören. Wenn Frauen ideal angelegt ſind, 
ſind ſie gemeiniglich in höherem Grade als die Männer für ein 
erkanntes Ideal zu jedem Opfer bereit. Um das Opfer völlig und 
unwiderruflich zu bringen, fügt ſich Schwanhild dem Wunſche der 
Mutter und reicht Goldſtadt die Hand. Sie iſt eine rührende 
Geſtalt, obzwar weniger theatraliſch als eine Heldin, die den Ge— 
liebten durch den Tod verliert und ſich mit ihm begräbt. Nicht 
durch ehernen Schickſalsſchluß erleidet ſie das Schwere, ſie ſelbſt 
wird vor die Wahl geſtellt und ihre Tat beſiegelnd geht ſie hin 
und begräbt — die Hoffnung. Der Kataſtrophe dieſer Tragödie 
eines ſelbſtloſen Herzens fehlt indes auch das Erhebende und Ver— 
ſöhnende nicht. Thekla glaubt an die Wiedervereinigung mit dem 
Geliebten jenſeit des Grabes, und vom Zuſchauer iſt vorausgeſetzt, 
daß er ihren Glauben teile; auch Schwanhild ſtärkt ſich mit dem 
Troſte: Verloren fürs Leben, gewonnen für immer. Nie wird ſie 
das Sonſt und das Jetzt enttäuſcht und klagend vergleichen müſſen, 
unberührt von den Mächten des Lebens wird der geliebte Mann 
ihrem getreuen Gedenken angehören, „wandellos im ewigen Ruin“. 

Würde blindgläubige Verliebtheit dem Charakter Schwanhilds 
beſſer entſprechen? So nehmen wohl die an, die ihre Entſagung 
überſpannt und verſchroben nennen. Sie ſetzen jedoch im Geiſte, 
ohne es zu bemerken, eine andre Schwanhild an die Stelle, eine, 
die ſie geſchaffen, und die darum handeln müßte, wie ſie es für 
natürlich erklären. Ein ſtets wiederkehrender Vorgang bei be— 
fangenen Beurteilern! Solche warnt niemals der Gedanke, wie 
vermeſſen es doch iſt, Geſtalten eines wirklichen Dichters ſo in 
Bauſch und Bogen abzutun, Geſtalten, die doch Fleiſch ſind von 


134 V. Die Komödie der Liebe 


ſeinem Fleiſche, mit denen er, während das Werk entſtand, Monate 
und Jahre vertrauten Umgang gepflogen, die er durch und durch 
kennt wie ſich ſelbſt, nicht obenhin ſeit einer halben Stunde wie 
der Leſer und Kritiker. 

Anders als mit Charakteren verhält ſich's mit Meinungen; 
in ſeinen Meinungen irrt der Dichter ſo leicht wie jeder Unbegnadete. 
Er kann einen falſchen Satz beweiſen wollen und kann den Beweis 
gründlich verfehlen. Das iſt Ibſen hier widerfahren. Er wollte 
augenſcheinlich machen, daß Liebe und Ehe nicht zuſammen gedeihen. 
Was er wirklich dartut, ließe ſich als Tierfabel etwa ſo erzählen. 
Zuweilen erheben ſich die ſchwerfälligen Gänſe mit großem Geſchrei 
und Geflatter ein paar Fuß über den Boden. Wenn ſie dann 
nach kurzem Fluge wieder herabplumpen, wiebern ſie, die Hälſe 
reckend, ſelbſtzufrieden und vergnügt, und dünken ſich völlig dem 
Falken gleich, der hoch über ihnen mühelos in den Lüften kreiſt. 
Ja, ſie dünken ſich beſſer, denn ihnen bleibt, wenn ſie zum Fliegen 
zu ſchwer werden, der ſchlammige Dorfteich als behaglicher Tummel⸗ 
platz, wo der Falke keine Stätte findet. Allein — ſo könnte man 
nun dagegen in demſelben Stile weiter ausführen — nicht bloß 
der Falke erhebt ſich zur ſonnigen Höhe, das tun auch Schwäne, 
wilde Schwäne, und andres ähnliches Gevögel. Und es gibt auch 
andres, helles, klares Gewäſſer, auf das ſie ſich freiwillig und 
gerne herablaſſen, und wo ſie mit Anmut heimiſch ſind, ven je 
das Fliegen zu entwöhnen. 

Nur die düſtere, troſtloſe Stimmung jener Jahre, in denen 
die „Komödie der Liebe‘ entſtand, verſchuldete die falſche Verall⸗ 
gemeinerung — jene Stimmung und der tief in Ibſens Weſen 
begründete Hang zur Tendenz, ſeine Stärke und Schwäche zugleich, 
wovon erſt bei Betrachtung der Geſellſchaftsdramen ein mehreres 
geſagt werden ſoll. Wie bald er den Irrtum einſah, lehrt ſchon 
das nächſte Werk, vor allem aber ‚Brand‘, wo uns ein durchaus 
hoch geſinntes und hoch ſtrebendes Menſchenpaar in wahrhaft 
idealer Ehe dargeſtellt wird. 

Der Tendenz zu Liebe, nicht eben durch die Fabel gefordert, 


V. Die Komödie der Liebe 5 135 


iſt auch die Anpreiſung der Konvenienzehe. Doch wird in Gold— 
ſtadts Erklärung ſchließlich nur weiter ausgeführt, was ſelbſt die 
begeiſterte Verfechterin des Rechtes der Liebe, Camilla Collett, in 
ihrem Romane zugibt: „Die ſogenannten geſtifteten Partien bieten 
oft größere Gewähr für das gegenſeitige Glück als man glaubt. 
Man ſoll ſie nicht verachten.“ Ob aber zu billigen oder nicht, die 
tendenziöſe Wendung trägt viel zur äſthetiſch wünſchenswerten Ge⸗ 
ſtaltung des Schluſſes bei. Das Ende einer Tragikomödie ſoll 
auch weder rein tragiſch noch rein komiſch, ſondern gemiſcht ſein 
und eine gemiſchte, bitterſüße Empfindung zurücklaſſen. Hier iſt 
Ibſen mit dem unbewußt⸗ſicheren Takte des Künſtlers in Molières 
Fußtapfen getreten. Wir fühlen mit Alceſte den ſchmerzlichen Ver— 
luſt der Liebe und beglückwünſchen ihn doch zu ſeiner Befreiung 
von dieſer Geliebten. So erregt Schwanhilds Schickſal zugleich 
mit der innigen Teilnahme die ſtille Befriedigung darüber, daß ihr 
Fuß auf dem ferneren Lebenswege vor Steinen und Dornen für— 
ſorglich wird bewahrt bleiben. 


Mit der „Komödie der Liebe“ eilte Ibſen feiner Zeit fo weit 
voraus, daß er ihre Anſchauungen und Bedürfniſſe aus dem Ge⸗ 
ſichte verlor. Was Wunder, daß man ihm nachſchalt, ja nach⸗ 
fluchte. Das Werk erſchien am Silveſterabend 1862 in Form 
eines Beiheftes des Illustreret Nyhedsblad ‚als Neujahrsgabe 
für 1863“. Ein Blick auf die Komödien Heibergs, die damals im 
Norden für klaſſiſche Muſter galten, zeigt den Abſtand. Nicht 
nur die Pſychologie, auch die Bühnen- und Sprachform war neu, 
eigenartig, ſeltſam. Ibſen hatte ſich mit einem Ruck aus den 
Feſſeln des Herkommens losgemacht. Nur ein paar Enden der 
abgeriſſenen Fäden ſind geblieben: die altmodiſche Benennung der 
Perſonen mit Anſpielung auf Stand und Charakter, die Einleitung 
des zweiten Aufzugs durch einen Chor. Im übrigen ſämtliche 
Vorgänge und Geſpräche untheatraliſch, ſchlicht, natürlich, einzig 
durch den gereimten Vers vom täglichen Leben abweichend. Aber 
gerade der geringe Unterſchied zwiſchen Bühne und Natur wirkte 


136 v. Die Komödie der Liebe 


damals befremdend — ärgerlich. Herrn Ibſens Arbeit, hieß es, 
ſei ein bedauerliches Produkt literariſcher Unraſt, als dramatiſches 
Ganzes eine Abſurdität. Und vollends die Tendenz! Selbſt ſein 
beſter Freund Botten-Hanſen nannte ihn „idealen Glaubens und 
idealer Überzeugung völlig bar“. Zum Entgelt für die beißende 
Verſpottung der Spießbürgerlichkeit wurde die Auffaſſung der Liebe 
im Stück für echt ſpießbürgerlich erklärt. Einem Onkel oder einer 
Tante laſſe ſich dergleichen zutrauen, dürfe aber einem Dichter 
nicht einfallen. Die Grundanſchauung des Werkes ſei nicht nur 
weſentlich unwahr und unſittlich, ſondern auch unpoetiſch wie übers 
haupt jede Anſchauungsweiſe, die Ideal und Wirklichkeit als un⸗ 
verſöhnlich darſtellt. 

An eine Aufführung war nicht zu denken, da ſchon das Buch 
einen Sturm des Unwillens von ſeltener Gewalt und Verbreitung 
erregte — und das in einem Lande, fügt die Vorrede zur zweiten 
Ausgabe ſarkaſtiſch bei, wo die überwiegende Mehrzahl der Bes 
wohner literariſche Angelegenheiten als fie nicht betreffend an⸗ 
zuſehen pflegt. Niemand erkannte und ſchätzte la perfection du 
vers, le trait de l’epigramme, la débauche de gaieté qui 
fait de ce drame étonannt une veritable saturnale lyrique 
— un morceau d’ironie de main de maitre. 


er he c * ix 7 


VI 
Die Kronprätendenten 


295 Geſchichte des ſpäteren norwegiſchen Mittelalters, mit der 
ſich Ibſen zur Vorbereitung auf die „Herrin von Sſtrot' ein— 
gehend beſchäftigt hatte, war weder beſonders anziehend, noch be— 
ſonders ergiebig an dramatiſchen Vorwürfen. Er wandte ſich dar— 
um von ihr ab und der eigentlichen Sagazeit zu, und zwar, wie wir 
geſehen haben, vorerſt den isländiſchen Familiengeſchichten. „Die 
Königsgeſchichten und überhaupt die ſtrengeren hiſtoriſchen Über 
lieferungen aus dieſem fernen Zeitalter“ feſſelten ihn noch nicht. 
„Ich konnte damals“, berichtet er ſelbſt, „für meine dichteriſchen 
Zwecke von den Streitigkeiten zwiſchen Parteien und Gefolgſchaften 
als Dramatiker keinerlei Gebrauch machen.“ 

Ein Jahr nach Vollendung der ‚Nordiſchen Heerfahrt‘, im. 
Sommer 1358, war die Teilnahme an der hiſtoriſchen Saga ſchon 
erwacht. Der Thronſtreit zwiſchen König Hakon Hakonsſohn und 
ſeinem Mitbewerber, dem ehrgeizigen Jarl Skule, ſchien einen dra 
matiſchen Stoff zu bieten und der Plan zu den, Kronprätendenten“ 
wurde entworfen. Bis zur Ausführung verfloſſen aber noch fünf 
Jahre. 

Auf die eigne Herzenserfahrung iſt in einer großen Programm⸗ 
rede des Dichters aller Nachdruck gelegt, das „Durchlebthaben⸗ 
müſſen“ wird ſchlechthin als das Geheimnis der neueren Dichtung 
bezeichnet. Sicherlich iſt es das Geheimnis ſeiner Dichtung je 
und je geweſen. Erſt mußte er ſelbſt verwickelt werden in den 
Streit der Parteien und Gefolgſchaften, fein Königsrecht in fich 
lebendig fühlen wie Hakon, und doch in erfolgloſem Ringen nach 
der Krone ſich abmühen wie Skule, eh' ihm die Saga von dieſen 
„Thronforderern' zum drängenden Stoff werden konnte, die Haupt- 
und Staatsaktion zu einem Menſchen- und Lebensbild von dauern⸗ 
der Kraft und Bedeutung. N 

Es war kein Theaterſtreit von rein literariſchem Charakter 


138 VI. Die Kronprätendenten 


zur Einführung oder Abwehr neuer Kunſtprinzipien, der in den 
fünfziger Jahren die gebildeten Kreiſe Chriſtianias in zwei Lager 
ſpaltete: hie norwegiſch, hie däniſch lauteten die Schlachtrufe, gei— 
ſtige Unabhängigkeit oder däniſche Bevormundung hieß die Loſung. 
Auf der einen, der nationalen Seite, kämpften vornehmlich die 
Jüngeren, die der Zeit zu ihrem Rechte verhelfen wollten, auf der 
andern die Verfechter des Hergebrachten, das fortbeſtehen ſoll, weil 
es ſo lange beſtanden hat. Dieſe Ewig-Alten konnten ſich auf den 
Brettern keine andere als die däniſche Kunſt und Sprechweiſe 
denken und fanden es völlig berechtigt, daß die erſte Bühne des 
Landes, das ‚Chriftiania-Theater‘, nach altem Brauch von Dänen 
geleitet wurde, faſt ausſchließlich däniſche Kräfte verwendete und 
die Werke norwegiſcher Verfaſſer geringſchätzig behandelte. Es war 
den Vorkämpfern vaterländiſchen Weſens bald klar geworden, daß 
ſich die aufſtrebende norwegiſche Nationalität vor allem der Bühne 
bemächtigen müſſe. Sie hatten zunächſt eine Art dramatiſcher Schule 
gegründet, um norwegiſche Schauſpieler heranzubilden. Aus der 
Schule war dann die Oppoſitionsbühne, das „Norwegiſche Theater‘ 
hervorgegangen und hatte, wenn auch mit ungenügenden Mitteln, 
praktiſch den Kampf gegen das Dänentum begonnen, an dem nun 
Preſſe und Publikum unausgeſetzt tätigen, ja zuweilen ſogar tät⸗ 
lichen Anteil nahmen. 

Führer der nationalen Partei war ein mächtiger Rufer im 
Streit, der junge Björnſtjerne Björnſon. Um es den Leitern des 
„Chriſtiania-Theaters“ deutlich zu machen, daß man die fortgeſetzte 
Berufung däniſcher Schauſpieler nicht mehr dulden würde, veran⸗ 
ſtaltete er bei einem auf Verpflichtung abzielenden Gaſtſpiel ein 
„Pfeifkonzert“, das in der norwegiſchen Literaturgeſchichte berühmt 
geworden iſt, und zwang durch ſeine überlegenen, ſiegesgewiſſen 
Artikel in ‚Morgenbladet‘ die feindliche Seite wenigſtens zu größerer 
Vorſicht und Zurückhaltung. Björnſon ging dann, wie erwähnt, 
im Dezember 1857 als Erſatz für Ibſen nach Bergen. Da fiel 
Ibſen, dem die Leitung des ‚Norwegiſchen Theaters“ übertragen 
wurde, von ſelbſt auch die freigewordne Führerſtelle zu. Mindeſtens 


VI. Die Kronprätendenten | 139 


mußte er ſich bereit halten, ſtets mit dem Schwert in der Hand 
an dem nationalen Werke weiter zu bauen. Aber er warf ſich 
ſogleich entſchloſſen in den Streit, denn es galt Norwegens geiſtige 
Einheit, wie es unter Hakon Hakonsſohn ſeine politiſche Einheit 
gegolten hatte. 

‚Nordische Heerfahrt‘ wurde der Anlaß, daß nach kurzem 
Waffenſtillſtand der Kampf wieder entbrannte. Da ſeine eigene 
Truppe den Erforderungen des Werkes nicht gewachſen ſchien, hatte 
der Verfaſſer die Kühnheit, es dem „Chriſtiania-Theater“ einzu⸗ 
ſenden. Man nahm das Stück an und ließ es liegen. Ibſen 
wartete eine geraume Zeit geduldig, als aber endlich ſeine Bitte um 
Entſcheidung mit Lügen und Ausflüchten beantwortet wurde, griff 
er zur Feder, ſich und die nationale Sache öffentlich zu verteidigen. 
„Hier handelt es ſich nicht um die Verwerfung eines ſchon an— 
genommenen Stückes,“ ſchrieb er, „was hier von Wichtigkeit iſt, 
iſt des Theaters eigne Erklärung, daß es ‚in der nächſten Zukunft‘ 
außerſtande ſein wird, die norwegiſche dramatiſche Literatur zu 
unterſtützen, ihr fortzuhelfen und überhaupt mit ihr ſich zu be⸗ 
faſſen.“ Darum „ſoll und muß nun der Friede in unſerer dramas 
tiſchen Welt gebrochen werden, die Offentlichkeit muß Partei er 
greifen für oder wider“. Er ſollte erfahren, was es hieß, im 
Parteikampf voran zu ſtehen, ohne als Kämpe gefürchtet, als 
Dichter anerkannt zu ſein wie Björnſon. 

Unehrlichkeit und grenzenloſe Eitelkeit wurde ihm vorgeworfen. 
Sein Stück — das noch nicht gedruckt vorlag! — war, nach den 
früheren zu ſchließen, jedenfalls eine mittelmäßige Arbeit. Aus⸗ 
drücke fielen wie „norwegiſches Unkraut“, „norwegiſcher Plunder“. 
„Herr Ibſen iſt als dramatiſcher Dichter eine große Unbedeutend— 
heit“, ſeine Herrin von Oſtrot „iſt in erſtaunlichem Grade aller 
Idealität und Poeſie bar; jeder einzelne Charakter in dieſem Stück 
trägt den Stempel der Niedrigkeit.“ 

Die vergifteten Pfeile prallten nicht ab, das Gift ging ins 
Blut. Von jeher hatte der Dichter die ſtrengſte Kritik an ſeinen 
Schöpfungen geübt und nicht nur begonnene, auch größere ſchon 


140 VI. Die Kronprätendenten 


vollendete Arbeiten verworfen, wenn ſie ſeinem Urteil nicht ge— 
nügten; nun fing er an, alles: ſich ſelbſt, feine Begabung und Ber 
rechtigung mit mißtrauiſchen Augen zu prüfen, und dem Zweifel 

am eigenen Beruf, der ſich ſchon in den erſten Jugendgedichten ge⸗ 
regt hatte, gewann neue Stärke. Nicht daß der Vielgeſchmähte 
aus den vordern Reihen zurückgewichen wäre, er gründete ſogar im 
November 59 mit Björnſon und mit dem ſpäteren Staats⸗ 
miniſter Richter die Norwegiſche Geſellſchaft zum Schutze der 
nationalen geiſtigen Wohlfahrt; aber in demſelben Jahre veröffent⸗ 
lichte er auch eine früher entſtandene zuſammenhängende Reihe 
von Gedichten: ‚In der Bildergalerie“, ein bitter ſchmerzliches Be⸗ 
kenntnis von „ängſtlichen Gedanken, die das Gemüt zwiſchen 
Furcht und Hoffnung, zwiſchen Zweifel und Glauben ſchaukeln“. 

Indes, ſolange die Stimmung noch ſchwankte, ſolange Zweifel 
und Glaube abwechſelten, und der Geiſt nicht völlig in die dunkle 
Tiefe verſenkt war, um ſich dann aus eigner Kraft erſt zur lichten 
Höhe zu erheben, blieben auch Skule und Hakon bloße Schatten, 
und der Dichter befaßte ſich mit andern Plänen. Drei Jahre 
ſchrieb er an dem Werke, das ihm die mangelnde bitterſte Erfah⸗ 
rung eintragen ſollte, an der „Komödie der Liebe“. 

War die öffentliche Beurteilung dieſes Werkes noch irgend 
auszuhalten, ſo wurde die mündliche, der berüchtigte Stadtklatſch 
Chriſtianias, dem gequälten Manne ganz unerträglich. Sein per⸗ 
ſönliches und ſein Familienleben ausſpioniert, ſeine eigene Ehe mit 
den Schilderungen des Buches höhniſch in Beziehung gebracht! 
Ein unabhängiger, in günſtigen Verhältniſſen lebender Schrift⸗ 
ſteller hätte die gehäſſigen wie die einfältigen Urteile verachten, 
ſich dieſer Umgebung entziehen können. Für Ibſen bedeuteten 
ſolche Mißerfolge zugleich Schulden und Sorgen, denn er war nun 
weſentlich auf den Ertrag feiner Feder angewieſen. Das ‚Nors 
wegiſche Theater‘ erlitt im Sommer 1862 Schiffbruch, und wenn 
ſich die Verhältniſſe auch inzwiſchen ſo merkwürdig geändert hatten, 
daß er als künſtleriſcher Beirat und Beiſtand der Direktion beim 
ehedem feindlichen „Chriſtiania-Theater“ unterkam, ſo war ihm 


VI. Die Kronprätendenten 141 


damit nicht geholfen, denn der monatliche Gehalt von 25 Spezies— 
talern konnte ihm, bei den ſchlechten Einnahmen, nie ausgezahlt 
werden. Schließlich war kein Stuhl in ſeinem Zimmer mehr ſein 
eigen, und der ſonſt ſo zierliche und „soignerede Herre“ mußte 
ſich in feiner ſchäbigen Kleidung als verkommenes Genie betrach- 
ten laſſen. Zwei Jahre vorher hatte er ein Reiſeſtipendium aus 
Staatsmitteln nachgeſucht, um dramatiſche Kunſt und Literatur im 
Ausland zu ſtudieren. Seinen Mitbewerbern Björnſon und Vinje 
waren die erbetenen Mitteln bewilligt worden, ihn hatte man im 
Erlaſſe gar nicht erwähnt. Als die Not flieg, wurden dem „Stu— 
denten Henrik Ibſen“ zweimal (1862 und 1863), wie um ihn 
nicht völlig untergehen zu laſſen, kleinere Summen zugeteilt mit 
dem Auftrag, im Lande zu reiſen und Sagen und Volkslieder zu 
ſammeln. Das ſollte wohl eine Mahnung ſein, die poetiſchen 
Allotria aufzugeben und es mit einer geordneten wiſſenſchaft— 
lichen Tätigkeit zu verſuchen. Als er trotzdem von Schulden er— 
drückt, von Gläubigern bedrängt, bald um die jährliche Dichter— 
gage — die Björnſon 1863 erhielt — bald um ein größeres 
Reiſeſtipendium einkam, weil er ſonſt ſeine literariſche Tätigkeit 
abbrechen und nach Dänemark auswandern müſſe, meinte ein 
Mitglied der Univerſitäts⸗Kommiſſion: der Mann, der die „Komö— 
die der Liebe“ geſchrieben habe, verdiene Stockprügel, keine Unter: 
ſtützung. Seine Freunde aber dachten daran, ihm einen en 
im niedern Zolldienſt zu verſchaffen. 

So ſehr hatte er „in der öffentlichen Meinung 1 4 
Einzig ſeine Frau billigte das Werk damals, erzählt er ſelbſt und 
rühmt ſie einen Charakter, wie er ihn juſt brauche — unlogiſch, 
jedoch von ſtarkem poetiſchem Inſtinkt, großer Denkungsart und 
einem faſt ungeſtümen Haß gegen kleinliche Rückſichten. „All dies 
verſtanden meine Landsleute nicht, und ich dachte nicht daran, den 
Kerlen zu beichten. So wurde ich denn in Acht und Bann er— 
klärt; alle waren wider mich. 

Daß alle wider mich waren — daß ich außer ihr niemand 
mehr hatte, von dem ich ſagen konnte: er glaubt an mich, das 


142 VI. Die Kronprätendenten 


mußte . . in mir die Stimmung hervorrufen, die ihre Befreiung 
fand in den Kronprätendenten.“ 


Was iſt ein Dichter? fragt Kierkegaard. „Ein unglücklicher 
Menſch, der tiefe Qualen in ſeinem Herzen birgt, deſſen Lippen 
aber ſo gebildet ſind, daß die ausſtrömenden Seufzer und Wehe⸗ 
rufe lauten wie ſchöne Muſik.“ Auch der Skalde Jatgejr ant⸗ 
wortet auf Jarl Skules Frage, wie er Dichter ward: „Ich em⸗ 
pfing die Gabe des Leids und da war ich Dichter.“ Den hohen 
Wert des Leidens verkündet Ibſen ſchon im „Olaf Liljekrans“ und 
der „Komödie der Liebe“; aber er hat einen weiteren Erfahrungs⸗ 
kreis als der abſonderliche Däne, dem ein einziges Lebensereignis 
Anlaß und Stoff zu allen ſeinen Werken bot. „So iſt es die Gabe 
des Leids, deren der Dichter bedarf?“ fragt Skule weiter. „Ich 
bedurfte des Leids; es mag andere geben, die des Glaubens oder 
der Freude bedürfen — oder des Zweifels —.“ „Catilina! war 
dem Glauben entſprungen, das „Feſt auf Solhaug‘ der Freude. 
„Auch des Zweifels?“ beharrt Skule. „Ja“, antwortet Jatgejr 
— antwortet, aus eigner ſchmerzlicher Erfahrung der Dichter der 
„ Kronprätendenten“ durch Jatgejers Mund. Dringend faßt Skule 
den Skalden am Arme. 


Skule. 
Welcher Gabe bedarf ich, um König zu werden? 
Igtge it. 
Nicht des Zweifels, denn da fragtet Ihr nicht ſo. 
Skule. 
Welcher Gabe bedarf ich? 
Jatgejr. 
Herr, Ihr ſeid ja König. 
| Skule. 


Glaubſt du jederzeit ſo gewiß, daß du Dich ter biſt? 


Immer deutlicher wird das Bekenntnis, immer perſönlicher. 
Feinſinnig weiſt Georg Brandes darauf hin, wie ſich hier das— 


Be A 


11 ²˙ AA ar dr A Zur 


3 


VI. Die Kronprätendenten 143 


Verhältnis umkehrt: was die dramatiſche Fabel bildlich erläutern 
ſoll, wird zum eigentlichen Inhalt und die Fabel zum Bilde. 
Wenn den einſam und beharrlich Strebenden der Zweifel an ſeinem 
Berufe ruhen ließ, peinigte ihn die Furcht, ob es all den 
Widerſachern und Widerwärtigkeiten nicht doch noch gelingen 
werde, ihn geiſtig zu töten. „Trägſt du viele ungedichtete Lieder 
in dir, Jatgejr?“ fragt Skule. N 


Jatgejr. 
Nein, aber viele ungeborene; fie werden eins nach dem 
andern empfangen, erhalten Leben und werden dann geboren. 


| Sfule 
Und wenn ich, der ich König bin und die Macht habe, wenn 
ich dich töten ließe, würde dann jeder ungeborene Dichtergedanke, 
mit dem du dich trägſt, mit dir ſterben? 


Jatgejr. 
Herr, es iſt eine große Sünde einen ſchönen Gedanken zu. 
töten. | N 
Skule. 
Ich frage nicht, ob es Sünde iſt, ſondern ich frage, ob es 
möglich iſt! 


Ich weiß nicht. 


Auch dies „ich weiß nicht“ erzählt von trüben, mutloſen, ver⸗ 
zweifelten Stunden. Jedoch der Entmutigte und Zweifelnde war 
„ſtark und geſund“, wie — nach einem Ausſpruch Jatgejrs — 
die ſein müſſen, denen die Gabe des Zweifels frommen ſoll. Er: 
verſank nicht in das dumpfe Brüten der ungeſunden Zweifler, die 
endlich an ihrem eignen Zweifel zweifeln, in jenen Zuſtand, der 
ſchlimmer iſt als der Tod, weil er den Geiſt in einer Art Halblicht 
(tausmoerket) und Halbleben zu dauernder Qual erhält. Er 
kam dieſem Zuſtande nah — das zeigt die genaue Kenntnis und 
Beſchreibung — aber er raffte ſich rechtzeitig auf. Wie Skule fuhr: 


Jatgejr. 


144 VI. Die Kronprätendenten 


er plötzlich aus dem Grübeln empor: „Wo ſind meine Waffen? 
Ich will ſtreiten und handeln — nicht denken.“ 

Im Anfang des Sommers 1863 zogen die Sänger Chris 
ſtianias zu dem großen nationalen Sängerfeſt nach Bergen. 
Henrik Ibſen begleitete ſie. Er traf dort auch Björnſon wieder, 
der ein ein paar Monate zuvor von einem zweijährigen Aufent⸗ 
halt im Auslande heimgekehrt war. Über die Eindrücke, die er bei 
dieſem Feſte empfangen, iſt uns nichts mitgeteilt. Aber dort im 
Kreiſe begeiſterter und begeiſternder Feſtgenoſſen wird ſich der Um— 
ſchwung in ſeiner Stimmung vollzogen oder doch vorbereitet 
haben. Auf der Rückreiſe erfuhr er die endliche Bewilligung der 
Dichtergage (Erlaß vom 29. Auguſt 1863) — und ſechs Wochen 
ſpäter waren die „Kronprätendenten“ vollendet. Im Sommer 1858 
ſchon geplant und entworfen, im Sommer 1863 erſt — und 
dann in unglaublich kurzer Zeit — ausgeführt! Nicht, weil er 
nach der ‚Komödie der Liebe‘ wieder mit einem Werke kommen 
wollte, das die Eigenliebe des Publikums nicht verletzte, und auch 
nicht, weil er gewiſſenhaft „ſeines Apoſtelamtes“ waltend, 
für ſeine Ideen noch einmal, wenigſtens äußerlich, eine Form 
wählen wollte, die der Menge gefiel, griff er wieder in das Mittel- 
alter zurück; für Ibſen gab es nie eine ſolche Wahl. Er gehört 
zu den „Individualitäten, die äußere Verhältniſſe ſchwerlich zu - 
einer Produktivität treiben können, welche weiter ginge als der 
Antrieb der jeweiligen Inſpiration“. 

Jetzt erſt — nach den inneren Erlebniſſen der letzten Jahre 
— fand er den Gehalt in ſeinem Buſen und die Form in ſeinem 
Geiſt, wodurch die Saga vom König und vom Jarl zu einer Saga 
der Menſchheit erhoben werden konnte. 


In faſt klaſſiſcher Reinheit iſt dieſe Saga von Hakon Hakons⸗ 
ſohn zwiſchen 1263 und 1265 durch den isländiſchen Skalden 
Sturla Thordarsſohn niedergeſchrieben worden. Für keines ſeiner 
Werke war Ibſen ein ſo reicher Schatz der Überlieferung anheim⸗ 
gefallen, bei keinem hat ſich der Dichter auch ſo eng an die ge— 


VI. Die Kronprätendenten 145 


ſchichtliche Vorlage angeſchloſſen. Gerüſt und Gefüge der Hand⸗ 
lung und die meiſten der einzelnen Ereigniſſe bis herab zu den 
anekdotenhaften Zügen fanden ſich in der Saga vor. 

Am freieſten wird mit der Zeit geſchaltet, das erheiſcht die 
den chronicle histories ſich nähernde Art des Dramas. Nach der 
geſchichtlichen Wirklichkeit gemeſſen, würde die Handlung einen 
Zeitraum von ſiebzehn vollen Jahren umſpannen. Denn der 1. Akt 
ſpielt, einer Außerung Hakons zu folgen, ſechs Jahre nach dem 
Oerething, das am 6. Mai 1217, wie herkömmlich, auf dem Wer⸗ 
der (oer) bei Drontheim abgehalten wurde. Das Stück beginnt 
alſo mit dem Jahre 1223, wo denn auch wirklich eine große 
Reichsverſammlung in Bergen ſtattfand, und endet mit dem Falle 
Skules am 24. Mai 1240. Wie alle Zwiſchenereigniſſe in der Zeit⸗ 
folge kunſtvoll umgeſtellt und dramatiſch⸗urſächlich geordnet find, 
ſcheint ſich die Handlung ſtetig und darum verhältnismäßig raſch 
vorwärts zu bewegen. Hakons Ankündigung im 1. Akt, ſeine Hoch⸗ 
zeit ſoll nächſten Sommer gefeiert werden, die Bemerkung Skules 
im 3., es ſei nun „an die drei Jahre her“ ſeit der Hochzeit zu 
Bergen, und andre weniger beſtimmte Zeitangaben bezwecken nur 
die allgemeine Empfindung im Zuſchauer, daß dieſer Kampf um 
den Thron des heiligen Olaf in natürlichen und notwendigen 
Zwiſchenräumen verlaufe. Nicht Wahrheit und Wirklichkeit ſind 
hier maßgebend, ſondern Schein und Wirkung. Wenn man den 
Hinweiſen auf die Zeit genau nachrechnet, ſpielt ſich Schillers 
Wallenſtein, das geſamte zehnaktige Werk nebſt dem Lager, in vier 
Tagen ab, geſchichtlich betrachtet in den Tagen des 22. bis 25. Fe⸗ 
bruars 1634. Vor der Bühne wird ſchon durch den Umfang, der 
die Dreiteilung verlangte, und die Fülle des Stoffes eine ganz andre 
Vorſtellung erweckt: „man hat in der Tat ſo ziemlich ein Bild 
des ganzen Kriegsverlaufes in ſich aufgenommen.“ 

Zu der idealen Zeit eines Dramas im entſprechenden Ver— 
hältnis ſteht das Alter der Perſonen. Für Hakon wie für Skule 
iſt ein Durchſchnittsalter anzunehmen, das ſich in währender Hand⸗ 
lung nicht merklich verſchiebt. Der hiſtoriſche Hakon, geboren im 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 10 


146 VI. Die Kronprätendenten 


Juni 1204, war im Jahre 1223 erſt neunzehn, ſein vornehmſter | 


Mitbewerber um die Krone achtundzwanzig Jahre alt. In der 
Dichtung iſt Hakon, jugendlich-männlich, etwa in den erſten zwan⸗ 
ziger Jahren gedacht, Skule dagegen als Mann, der die Mitte des 
Lebens längſt überſchritten hat, als Fünfziger oder ein weniges älter. 

Der modernen Bühne und Kompoſitionsweiſe tunlichſt an— 
gepaßt iſt die Behandlung des Ortes. In großen Szenen, auf 
drei Schauplätzen, entwickelt ſich das Drama: der 1. und 2. Aufzug 
in Bergen, der 3. und 4. in Oslo, der 5. in und um Nidaros; 
der 1., 3. und 4. Akt mit je einem Szenenwechſel, der 2. un⸗ 
gebrochen, der 5. dreigeteilt durch zwei Verwandlungen. Im ganzen 
demnach nur eine Verwandlung mehr als in dem fo ſtraff kom⸗ 
ponierten Schlußabend der Wallenſtein-Tragödie. 

Seit Leſſings Tagen ſind von den drei Einheiten zwei, die 
der Zeit und die des Ortes, aus der Reihe unverbrüchlicher 
Kunſtgeſetze geſtrichen. Die dritte, die Einheit der Handlung, wird 
nie milder ausgelegt, nie läſſiger angewendet werden können. 
Das tragiſche Ziel iſt, Skules begieriges Herz zur Umkehr zu be⸗ 
wegen, zur Selbſtdemütigung, zum freiwilligen Aufgeben aller hoch⸗ 
fliegenden Pläne, ja zur Opferung des Lebens. Auf feine ſchuld⸗ 
volle Erhebung und den ſühnenden Fall bezieht ſich unmittelbar oder 
mittelbar alles, was geſchieht, als tragiſcher Held beherrſcht er, 
wirklich oder nachwirkend gegenwärtig, jede Szene des Stückes, und 
mit ausnehmender Kunſt wird Hakons ſo anziehende, ſo glänzende 
Erſcheinung in den Grenzen des Gegenſpiels gehalten: die dunkle 
Geſtalt hebt ſich von der lichten ab. Obwohl Hakon ſtets als der 
ruhig und ſicher Handelnde auftritt, Skule ſtets als der Zweifelnde 
und Schwankende, handelt Hakon in allen Hauptſzenen auf Skules 
Veranlaſſung. Sein ganzes Tun iſt ein Fortſchaffen der Hinder⸗ 
niſſe, die Skule ihm in den Weg legt, wie zuletzt noch anſchaulich 
wird durch das Hinſchreiten des ſieghaften Königs über die Leiche 
des Widerſachers. 

Wichtig, ja weſentlich, wie die Einheit der Handlung ſelbſt, 
iſt die Einheit des Tones, der Stimmung. Schon aus der For⸗ 


rn r 


VI. Die Kronprätendenten | 147 


derung des Ariſtoteles, daß die Tragödie Furcht und Mitleid 
wachrufe, könnte ſie als unumgängliches Bedürfnis nachgewieſen 
werden. Das Mitleid ſetzt in der Regel erſt mit der ſinkenden 
Handlung ein und erreicht ſeine größte Stärke bei der Kataſtrophe; 
die Furcht dagegen, das Vorgefühl kommenden Unheils, die Vor— 
ausſicht des Untergangs, muß den Zuſchauer von Anfang an und 
durch das ganze Werk gefangen halten. Sie iſt das eigentlich 
Stimmung Erregende, ſie ſammelt das dräuende Gewölk und 
ſchafft die Spannung in der Luft, von deren Druck wir dann durch 
die Kataſtrophe gewitterartig befreit werden. 

Mit ſtetig wachſender „Furcht“ verfolgen wir die ſteigende 
Handlung der ‚Kronprätendenten‘ von Akt zu Akt, von Szene zu 
Szene; im Verlauf der ſinkenden Handlung wechſelt Teilnahme 
mit banger Beſorgnis, bis zuletzt die Sühne des Helden alles Em⸗ 
pfinden in reines, erhebendes Mitleid auflöſt. 


I. Nachdem Hakon fein Recht auf den Thron erhärtet hat 
und als Sieger über die drei Mitbewerber aus der Königswahl 
hervorgegangen iſt, wählt er ſogleich die Tochter Skules, des Mäch- 
tigſten unter ihnen, zu feiner Gemahlin, und halb beſänftigt gez 
lobt dieſer Frieden und Verſöhnung. Aber gleichzeitig befolgt 
der junge König des Biſchofs Nikolaus argliſtige Ratſchläge: er 
gewährt aus eignem Entſchluß, großmütiger denn klug, dem Jarl, 
als dem früheren Reichsverweſer, faſt unverminderte Macht und 
Größe und reizt ſo wieder den kaum begüteten Ehrgeiz des herrſch— 
gewohnten Mannes. „Endlich bin ich denn König in Norweg“, 
ſagt Hakon, aus voller Bruſt aufatmend, am Schluß des erſten 
Aktes. „Aber ich regiere Land und Reich“, ſpricht Skule und er⸗ 
öffnet mit den wenigen Worten die Ausſicht auf erneuten Zwie⸗ 
ſpalt und endloſen Kampf. 

II. In des Jarls, wie in des Königs Gefolgſchaft glimmt 
der alte Groll unter der Aſche fort. Schon während der Ver— 
mählungsfeierlichkeiten in der königlichen Pfalz zu Bergen wird 
mit Mühe das Aufſchlagen heller Flammen verhindert. Und jetzt 

| 10* 


148 VI. Die Kronprätendenten 


iſt auch für Hakons und Skules gemeinſchaftlichen Gegenſpieler, 
den Biſchof, die lange von ihm vorhergeſehene Stunde des Han⸗ 
delns gekommen. Ein üppiges Erdreich findet er bei Skule, ein 
vom Ehrgeiz ſchon aufgepflügtes, den ſchnell keimenden Samen des 
Zweifels darein zu ſäen. Wie, wenn Hakon dennoch Fein Ab⸗ 
kömmling Sverres wäre, wenn Skule und ſie alle ſich nun viel⸗ 
leicht vor einem Käthnersſohn beugten? Er, der Biſchof, hat 
einſtens, ſo erzählt er, Befehl gegeben, das neugeborene Königs⸗ 
kind zu vertauſchen. Ob es geſchehen oder nicht geſchehen, das 
kann nur einer wiſſen, des Kindes Pfleger, Pfarrer Trond, und 
der iſt nach England geflohen: aus Furcht? — weil er gehorcht? — 
oder weil er nicht gehorcht? Doch dort hat er vor ſeinem Tode ein 
Geſtändnis für den Biſchof niedergeſchrieben und das Sakrament 
darauf genommen, daß er die Wahrheit bekenne. Da Skule eben 
„um Gottes Barmherzigkeit willen“ die Beichte Tronds verlangt, 
tritt der König ein, Gericht über ihn zu halten. 


Der Zuſchauer iſt vom Anbeginn und bleibt überzeugt: Hakon 


allein ſei der Echte und Rechte; aber Skule, in dem Augenblick 
wegen Mißbrauchs des königlichen Siegels zur Rede geſtellt, wo 
der neu belebte Zweifel an Hakons Abſtammung den Geiſt der 


Widerſetzlichkeit in ihm ſtachelt, lehnt ſich um ſo trotziger auf und 


zwingt den König, ihm hart zu begegnen. Die Unterbrechung dient 
hier nicht dem leidigen Zweck, Neugierde zu erregen, ſie beſchleu⸗ 
nigt den Gang der Handlung. Und in der gleichen künſtleriſchen Ab⸗ 
ſicht läßt der Dichter eine Botſchaft eintreffen, die früher oder ſpäter 
gefährlich geworden wäre, die aber jetzt, alſo vorbereitet, den offnen 
Bruch zwiſchen dem König und dem Jarl herbeiführen muß. Ein 
Getreuer Hakons iſt ſoeben von einem Anhänger des Jarls er: 
ſchlagen worden, und Skule weigert ſich der Beſtrafung des Mör⸗ 
ders. Noch in des erzürnten Königs Gegenwart deutet die Kaſ— 
ſandra des Stückes, Skules Schweſter Sigrid, darauf hin, wie der 
Jarl, ſein Geſchick erfüllend, verbrecheriſch nach der Krone greifen 
werde. Daß die Szene, eigentlich die dritte und letzte des Aufzugs, 
in die zweite eingeſchoben iſt und die Beendigung des Zwiegeſprächs 


N 


VI. Die Kronprätendenten 149 


zwiſchen Skule und dem Biſchof den Aktſchluß bildet, erhöht hier 
Klarheit und Wirkung. Skule, durch die erfahrene Demütigung 
wild erregt, iſt nun dem Verſucher ſchon ganz dahingegeben: 
Königsnamen und Königsthron, Heer und Hofſtaat ſchwört er an 
ſich zu reißen, ja Hakon das Leben zu rauben, wenn dieſer nicht 
der rechte ſei. So hat der Biſchof, der Stifter aller Zwietracht, das 
letzte triumphierende Wort, fo erhebt der machtvoll geſteigerte Akt 
ſchluß die Vorahnung, die der erſte Aufzug erweckte, zur ſichern 
Erwartung kommender Schreckenszeit. 

III. Bei ſeiner Seelen Seligkeit hat Biſchof Nikolaus dem 
Jarl gelobt, des Pfarrers Beichte in ſeine Hände zu legen, ſobald 
ſie an ihn ſelbſt gelangen werde. Bis dahin will Skule dem König 
im Wege ſtehen, wo es ſtill und insgeheim geſchehen kann, damit 
dieſer beim Ausbruch des Kampfes nicht ſtärker ſei als er ſelbſt. 
Drei Jahre ſind ſeit dem Gelöbnis verfloſſen, und der nahende 
Tod umdunkelt ſchon des Biſchofs Augen, als er den verhäng⸗ 
nisvollen Brief aus Engelland empfängt. Hin und her ſchwankend 
zwiſchen der Luft am Böſen und der Furcht vor dem ewigen 
Richter, bittet er faſt im letzten Augenblick den angſtvoll harrenden 
Skule, auf dem Kohlenbecken eine Liſte ſeiner Feinde zu verbrennen, 
denen er ſterbend vergeben wolle. Ohne Schlimmes zu denken, 
willfahrt ihm dieſer und beſchwört ihn dann aufs neue, zu reden, 
wo Tronds Brief ſich findet, denn es „gilt das Leben Tauſender“, 
gilt „Norwegs Glück für Jahrhunderte, vielleicht für ewige Zeiten“. 
„Den habt ihr eben verbrannt, lieber Herzog,“ erwidert der 
Biſchof böſe lächelnd und verſcheidet. f 

Spannung und Bühnenwirkſamkeit dieſes Vorgangs waren ſchwer 
zu überbieten. Trotzdem fand der Dichter für denſelben Aufzug eine 
Steigerung höherer geiſtiger Art. Noch iſt nur des Helden ſchwache 
Hoffnung auf äußeren Beweis feines Rechtes zerſtört: die innere Be⸗ 
glaubigung muß ihm entzogen werden. In der Schlußſzene nun wird 
Skule moraliſch vernichtet und dadurch zur entſcheidenden Tat ge— 
trieben, zur Auflehnung gegen Hakon (Höhepunkt des Dramas). 

Von der Leiche des Biſchofs weg eilt er dem König nach in 


150 VI. Die Kronprätendenten. 


den Palaſt. Immer zurückſcheuend vor dem letzten Schritt, tut er 
Vorſchläge gleich einem Unſinnigen. Hakon hat ihn zum Herzog 
ernannt, was kein Mann in Norweg zuvor geweſen, und er ver— 
waltet das halbe Reich. Jedoch er ſpricht: Laß uns teilen, laß 
uns abwechſelnd regieren, laß uns kämpfen mit ſchweren Waffen 
auf Leben und Tod! — Es darf kein König über mir ſein in 
Norweg, ich bin nicht dazu geſchaffen, zu dienen; ich muß ſelbſt 
herrſchen und befehlen! — Da erweiſt ſich Hakon, ſtärker als durch 
alle Proben bisher, durch die Offenbarung ſeines genialen Königs⸗ 
gedankens als der allein vom Himmel Erkorene. Das große Werk, 
zu dem er ſich berufen fühlt, kündet er dem Nebenbuhler: allen 
Streit der Parteien, alle Häuptlingsfehden darniederzuſchlagen, ein 
Reich, ein Volk zu ſchaffen in Norweg. Skule ſtarrt ihn an, das 
Gehörte — Unerhörte kaum faſſend. Dann bäumt ſich der Trotz im 
Herzen des geiſtig Unterlegenen. Auf ſein Schiff zurückgekehrt nimmt 
er den Königstitel an, jetzt erſt in Wahrheit ein Verbrecher, der un⸗ 
aufhaltſam vorwärts taumelt und gleitet, ſeinem Verderben entgegen. 

IV. Lächelnd und gabenſpendend in feſtlich erleuchteter Halle 
lauſcht der gekrönte Empörer im vierten Akte dem Lobgeſang Jat⸗ 
gejrs auf den mittlerweile gewonnenen Sieg, den Spottreden der 
trunkenen Mannen auf Hakons ſchwindende Macht. Aber kaum 
ſind die lauten Gäſte geſchieden, ſinkt er mit erſchlaffenden Zügen 
auf eine Bank. Denn allzeit ſteht Hakon im Geiſte vor ihm als 
der rechte König. Und dieſer, nicht für immer geſchlagen, nahet 
ſchon mit ſeinen Birkenbeinern auf ſchnellen Schiffen. Der Seelen⸗ 
kranke achtet es nicht. In der Stille der Nacht, ſtatt Späher aus⸗ 
zuſenden und zum Kampfe zu rüſten, pflegt er mit dem Isländer 
jene tiefſinnigen Geſpräche über den Zweifel und den Wert des 
Leidens, denen des Dichters eignes Lebensgeſchick den ergreifenden 
Klang verliehen, und die zugleich dem zweiten tragiſchen Zwecke 
dienen, der Erregung des Mitleidens. Edleren und tieferen Geiſtes 
als bisher erſchließt ſich Skule in Frage und Antwort. In dieſer 
Stunde ſcheint ſein größter Fehler der: nicht ein König des Glückes, 
ſondern des Unglücks geboren zu ſein. 


VI. Die Kronprätendenten 15 


Skule hat keinen Sohn. Zu kämpfen für nichts und für 
niemand! Er muß ein Weſen finden, das unverbrüchlich an ihn 
glaubt, das aus treueſter Seele zu ihm hält, deſſen Tod es iſt, 
wenn er fällt. „Kauft Euch einen Hund, Herr,“ rät der Skalde. 
„Sollte ein Menſch nicht genügen?“ fragt Skule dagegen. Noch 
einmal glaubt man beim Leſen für einen Augenblick des Dichters 
Antlitz auftauchen zu ſehen. Die Bitterkeit jahrelanger Enttäu⸗ 
ſchungen liegt in den wenigen Worten. 

Im verzweifelten Gefühl ſeiner Armut möchte König Skule 
den Skalden an Kindes Statt annehmen, als künftigen Erben von 
Norwegs Krone. Zum Beweis, daß Jatgejr nicht heuchelt, daß 
er wirklich an Skule glauben, für deſſen Lebenswerk leben will, 
ſoll er ſeinen Dichterberuf aufgeben, ſoll nie mehr ein Lied dichten. 
Aber das hieße ihm die Krone zu teuer erkaufen, und überdies: 
„Ein Mann kann fallen für das Lebenswerk eines andern, weiter, 
leben kann er nur für ſein eigenes.“ Das iſt für einen der Aus⸗ 
ſprüche Ibſens erklärt worden, die keine zu genaue Prüfung ver⸗ 
trügen. Warum ſollte ein Menſch nicht für das Lebenswerk eines 
andern leben können? Ungezählte tun es. Gewiß! Aber hier iſt 
die Rede nur von denen, die „wandeln auf der Menſchheit Höhn“. 
In den beſtrittenen Worten wird Ibſens Grundgedanke von der 
Tranſzendenz des inneren Berufes in eine der Gelegenheit an— 
gemeſſene Formel gefaßt und unmittelbar hierauf noch anſchaulich 
dargetan durch Jatgejrs Tod für Skule, wie am Schluſſe durch 
Skules Tod für Hakons großes Werk. 

Skules heißer Wunſch geht in Erfüllung: ſeine Jugendgeliebte 
Ingeborg führt ihm in dem jungen Kleriker Peter ihren 
— und ſeinen Sohn zu. Wer will ihm jetzt noch entgegenſtehen? 
Das Schickſal muß gnädig ſein, wenn er für einen andern kämpft, 
für einen, der rein iſt wie ein Lamm Gottes. Er kündet dem 
Jüngling Hakons großen Königsgedanken, als wär' es ſein eigner, 
und weil Peter voll bewundernden Vertrauens zu ihm aufblickt, 
glaubt ſich der Verblendete gerettet. Doch die Birkenbeiner ſind 
zu Tauſenden gelandet: in dem Kampfe, der ſich in den Straßen 


152 VI. Die Kronprätendenten 


von Oslo entſpinnt, iſt wenig Ausſicht auf Sieg für Skule. „Er⸗ 
ſchlagt das Königskind, wo ihr es findet,“ ruft er laut in das 
Schlachtgetümmel, „erſchlagt es im Arme der Königin!“ Da er⸗ 
hebt der ſiegreiche Hakon richtend die Hand zum Eide und ſchwört: 
„Skule Bordsſohn ſoll ſterben.“ 

Der vierte Akt entläßt uns mit dem Gefühle, daß dem ver⸗ 
zweifelten Ringen Skules nur noch knappe Möglichkeit gegönnt ſei. 


Furcht hat das Mitleid wieder verdrängt und gibt auch dem 


fünften Aufzug die Steigerung zu einem Höhepunkt, ehe das 
Drama — nicht ohne ein Moment der letzten Spannung — zur 
Kataſtrophe ſinkt. 

V. Skule iſt geſchlagen und verurteilt von Hakon, geſchlagen 
und verurteilt von dem Rächer und Richter in der eignen Bruſt. 
Aber noch iſt mit der Kraft, zu ſündigen, nicht der Wille gebrochen, 
noch klammert er ſich an den Gedanken, wenigſtens dem Sohne 
das Reich zu retten. Am Schrein des heiligen Olaf muß einem 
rechtmäßigen König von Norweg gehuldigt werden. Mit kirchen⸗ 
ſchänderiſcher Hand reißt Peter den Schrein vom Altare und 
ſchleppt ihn unter den Bannflüchen der Kreuzbrüder in den Hof 
des Palaſtes: alles, damit des Vaters großer Königsgedanke ins 
Leben gerufen werden könne. Entſetzt vor ſolchem Greuel, wollen 
die treueſten Mannen nicht mehr kämpfen, das Heer löſt ſich bei 
Hakons Herannahen in wilde Flucht auf. 

Im Schutz einer Mönchskutte entkommt Skule zu ſeinem 
letzten Zufluchtsort, dem Kloſter Elgeſäter. Auf dem Wege dahin 
bietet ihm der Geiſt des Biſchofs Nikolaus, als Sendbote des älteſten 
Kronprätendenten der Welt, noch einmal die Macht an, wenn er 
gelobe, daß ſein Sohn Peter in Norweg als König folge. Schon 
erhebt Skule die Hand zum Schwure: „Mein Sohn ſoll ...“ 
Da plötzlich kommt es über ihn: „Der Kirchenräuber? ihm alle 
Macht? — Du willſt das Verderben ſeiner Seele! Weiche von 
mir! weiche von mir!“ und mit emporgereckten Armen ſtürzt er 
zur Erde, gen Himmel flehend in ſeiner höchſten Not. (Höhepunkt: 
Umkehr in Skules Herzen.) 


amen 5 
EEE N > 5 
1 . 5 


Be 


ze Di RT DE rer 8 
A Nen 


VI. Die Kronprätendenten 153 


Die Liebe der Gattin und Tochter, nun erſt in der äußerſten 
Bedrängnis erkannt, regt ihm noch einmal den Wunſch und für 
einen Augenblick ſelbſt die Hoffnung auf, weiter leben zu können, 
— ihm und dem Zuſchauer. (Moment der letzten Spannung.) 
Allein er muß Hakon und ſeinem Königsgedanken Raum ſchaffen, 
mehr noch, muß ihn von der Königspflicht befreien, das beſchworene 
Urteil am Vater ſeiner Gemahlin vollziehen zu laſſen. Stück für 
Stück legt er die geſtohlenen Fetzen, die falſche Würde ab, bekennt 
ſeinem Sohne, wem in Wahrheit der große Gedanke angehört, 
und geht endlich Hand in Hand mit ihm freiwillig dem Opfertod 
entgegen. Die Worte, mit denen er ſich den mörderiſchen Waffen 
der Stadtleute von Nidaros ausliefert, ſind die des hiſtoriſchen 
Skule, der nach verlorener Sache, wie ein echter Kriegshäuptling, 
tapfer dem Unvermeidlichen ſich ſtellte. Aber hier verleiht die 
innere Läuterung des Helden auch dieſer letzten Bitte, dem Sohne 
nicht ins Geſicht zu hauen, die tragiſche Weihe. 


Dem bedeutungsreichen Abſchluß: Hakon ſchreitet über die 
Leiche Skules, entſprechen viele ebenſo ungeſucht ſymboliſche Züge 
in währender Handlung. Im Symboliſch⸗Anſchaulichen liegt ein 
Vorzug des Dramas. Schon die Gruppierung der Thronforderer 
in der Eingangsſzene vor der verſchloſſenen Kirchenpforte iſt plaſtiſche 
Expoſition. Auf der einen Seite, allein, Hakon; ihm gerade gegen— 
über, ganz vorn, Skule, weiter zurück der minder berechtigte Sigurd, 
noch mehr im Hintergrund Guthorm. Und ſogleich wird das 
Bezeichnende der Gegenüberſtellung durch die knappen Worte ver- 
ſtärkt, die zum äußern Gegenſatz den innern dartun. „Ruf den 
heiligen Olaf an“, mahnt den Jarl im entſcheidenden Augenblick 
des Gottesurteils einer ſeiner Getreuen. „Jetzt nicht“, wehrt Skule 
ab, „beſſer, ihn nicht an mich zu erinnern.“ Auch Hakons Arm 
ergreift ein Berater: „Bete zu Gott, deinem Herrn, Hakon Hakons⸗ 
john!” „Tut nicht not,“ erwidert er, „ich bin feiner gewiß.“ In 
ähnlicher Weiſe verbindet ſich an allen herausgehobenen Punkten 
Wort und Zeichen. Am Ende des erſten Aufzugs freut ſich Hakon 


154 VI. Die Kronprätendenten 


des erlangten Königtums, Skule ſteckt das Reichsſiegel in den Gurt: 
jenem ward die Würde, ihm bleibt die Macht. Wenn ſpäterhin 
Hakon von dem heimlich gegen ihn Wirkenden Rechenſchaft fordert, 
ſteigt er bei den Worten: „Hier ſteh' ich als Euer König“ eine 
Stufe zum Thronſeſſel hinan und ſtützt ſich auf die Armlehne. 
Bevor er den Mannen des Jarls befiehlt, daß keiner Bergen ver- 
laſſe, er hab' ihm denn Treue geſchworen, zieht er mit ſtumm⸗ 
beredter Gebärde das Schwert. 

Die ſymboliſche Benutzung des Schachſpiels im zweiten Auf⸗ 
zug iſt geſchickt, die Verwendung des Kometen im letzten ſehr 
wirkſam. Zu den Meiſterzügen des Werkes zählt die Verbrennung 
von Tronds Brief durch Skule: wie er ſelbſt ahnungslos ſeine 
letzte Hoffnung vernichtet — zugleich ein treffendes Beiſpiel 
tragiſcher Ironie. Faſt zu theatraliſch dagegen berührt es, wenn 
ſpät abends an Hakons Türe geklopft wird und der Offnende ſeine 
Mutter „wie einen Hund“ auf der Schwelle ſitzend erblickt, oder 
wenn Ingeborg, nachdem ſie Skule den Sohn zugeführt, ſtill im 
Hintergrunde verſchwindet, von den beiden Männern völlig uns 
beachtet. Auch die ſonſt ſchlichte, kräftige Sprache des Stückes wird 
an ſolchen Stellen zu abſichtlich und gemacht epigrammatiſch, mehr 
an romaniſche als germaniſche Art gemahnend. Echt ſymboliſch 
wiederum, d. h. natürlich und doch bedeutſam, erſcheinen Skules 
Befehle in der Stunde der Gefahr, da er einmal in ſinnloſem 
Zweifelmut dem Feinde alle Brücken offen läßt, das andre Mal, 
ſich und den Seinen zum Schaden, ſie alle abbricht. Das Schluß⸗ 
bild des dritten Aufzugs: Hakon Mutter und Gemahl an ſein 
Herz ziehend, deren Liebe — zu rechter Stunde! — ſich ihm ent⸗ 
hüllt, hat ſein eindrucksvolles Gegenbild im letzten Akt, wo Skule 
die unter Schuld und Sünden in der Fremde geſuchte Liebe — zu 
ſpät! — bei Gattin und Tochter findet. 


Die Perſonen eines Dramas ſelbſt werden ſymboliſche Weſen 
durch ihr Gemüt — „die Menſchheit im Menſchen“, ſagt Schiller 
einmal. Für ſymboliſch iſt ſeither das Kunſtwort „typiſch“ auf⸗ 


2 
a 
F 
2 
1 
K 
* 
12 
* 
* 
2 
. 


VI. Die Kronprätendenten 155 


gekommen. Der charakterlos egoiſtiſche Ränkeſchmied des dreißig— 
jährigen Krieges, der bewußte Betrüger der ruſſiſchen Geſchichte, 
der bloß ehrgeizige Jarl der Saga, das waren an ſich keine 
tragiſchen Geſtalten: ihnen mußte „der Gehalt“, das höher-menſch⸗ 
liche Gefühlsleben erſt verliehen werden. Für das Drama genügte 
der Skule nicht, von dem es in der Saga heißt, daß er die meiſten 
Eigenſchaften eines Häuptlings beſaß und daß, wäre das letzte 
unglückliche Jahr nicht über ihn gekommen, man wohl hätte ſagen 
können: unter denen, die nicht vom Königsgeſchlecht entſtammten, 
ſei niemals ein Mann von größeren Gaben als er in Norweg 
geboren worden. Im Drama muß er neben Hakon nicht nur der 
fähigſte, er muß auch der würdigſte ſein. 


Skule. 

Tief wurzelt in ſeinem männlichen Herzen die Ehrfurcht vor 
dem Rechte; ſo grimmig der Wille zur Macht an den Wurzeln 
dieſes echten Gefühles reißt, er kann ſie nur lockern, nicht empor⸗ 
heben. Skule würde ſich nach erlangter Gewähr von Hakons Echt⸗ 
bürtigkeit beugen und ihm dienen. Die qualvolle Ungewißheit, in 
der der Biſchof ihn erhält, iſt eine fein erfundene Zutat des Dichters, 
ſeinen Helden zum äußerſten Schritte zu treiben. Ein Ehrgeiziger 
mit „robuſtem“ Gewiſſen — um ein ſpäteres Wort Ibſens zu ge⸗ 
brauchen — würde nicht nach Urkunden für oder wider forſchen, 
ſondern, eben weil fie fehlen, ſich ſelbſt von aller. Schuld frei⸗ 
ſprechen und, den günſtigen Umſtand klug benützend, ſeiner Sache 
neue Anhänger werben. Skule denkt nicht vor allem an Gewinn 
und Vorteil: um Aufklärung ſeiner Zweifel iſt es ihm zu tun und 
wieder zu tun, ja trotz der mangelnden Beweiſe wird er gefoltert 
durch die untilgbare Überzeugung ſeines Herzens von Hakons Recht. 
Die Stärke des ſittlichen Gefühls in ihm droht endlich den „Rahmen 
ſeiner Natur“ zu zerſprengen. Die negative Wirkſamkeit des Guten 
bereitet alſo auf die poſitive, die nicht vorhandene Härte und Kälte 
auf das noch vorhandene Gemütsleben und feine ſpäten Außerungen 
vor. Schon im „Catilina“ ſpielt die lichte Macht mit der dunklen 


156 VI. Die Kronprätendenten 


ſiegreich um die Seele des Helden. Hier glaubt der Sendbote des 
Ahriman, Biſchof Nikolaus, ſein Spiel gewonnen, da „tut das 
Licht einen Zug, den er nicht gekannt,“ und Skule iſt gerettet. 
Daß der Tiefgeſunkene in Sorg und Angſt um das Seelenheil des 
Sohnes die irdiſche Wohlfahrt preisgeben werde, hat die Hölle 
nicht geahnt. Skule kann noch lieben. 

Das Wichtige an dem nächtlichen Auftritt im Tannenwald 
iſt folglich nicht die Erſcheinung des Geiſtes, ſondern der innere 
Vorgang: daß dem Sündigen das wahre Bild ſeines Tuns und 
Begehrens blitzartig aufleuchtet. Wenig kommt für die Wirkung 
des Macbeth darauf an, ob die Zuſchauer an Hexen glauben oder 
nicht; was ſie ſehen ſollen, iſt, daß jegliche Lockung des Ehrgeizes 
bei ihm ein williges Ohr findet; was ſie hier ſehen ſollen, daß 
der Verſucher — gleichgültig ob in natürlicher oder übernatürlicher 
Geſtalt auftretend — von Skule abgewieſen wird. Die Szene 
kann darum nicht, wie verlangt worden iſt, geſtrichen werden. 

Wegfallen dürfte nur die Strafrede des biſchöflichen Geſpenſtes 
an das norwegiſche Volk, worin der Dichter in bitter ironiſierendem 
Tone ſein Herz erleichtert. Es iſt eine deutlich zu erkennende Ein⸗ 
lage und auch durch die Form, gereimte Verſe, von der ſonſt aus⸗ 
nahmslos angewandten Proſa abgehoben. Sonderbar berührt zu⸗ 
dem, daß Skule die Verſe bemerkt: „Du haſt, wie ich höre, die 
Dichtkunſt erlernt, alter Baglerhäuptling“. Schuld daran iſt offenbar 
der im Dichter ſtetig erſtarkende Trieb zu realiſtiſcher Darſtellung. 

Skule beklagt ſelbſt die Härte ſeines Geſchickes — und die 
Klage wird zur Anklage. „Das iſt der große Fluch, der über 
meinem ganzen Leben liegt: dem Höchſten ſo nahe zu ſtehen — 


nur ein Abgrund dazwiſchen — ein Sprung trüge mich hinüber 


— jenſeits iſt der Königsname, der Purpurmantel, der Thron, die 
Macht, alles; täglich hab' ich's vor Augen — aber nie komm' ich 
hinüber.“ Dreimal ſchon vor Hakons Auftreten hat er geringer 
Befähigten die Krone müſſen zufallen ſehen. Er altert und fühlt 
doch die Königskraft in ſich; jeder Tag, der verſtreicht, iſt ein Tag 
ſeinem Lebenswerke geraubt. Und nun der jugendliche Hakon! 


VI. Die Kronprätendenten 1 


Wie leicht gelingt es ihm nicht, König zu werden! Alles ſchlägt 
zum Beſten aus, was ihn betrifft. „Selbſt die Bäume tragen 
zweimal Früchte, und die Vögel brüten zweimal in jedem Sommer, 
ſeit ſeiner Thronbeſteigung.“ Die Dörfer, die er im Kriege ver— 
heeren muß, blinken bald wieder von neugezimmerten Häuſern und 
alle Acker wallen ſchwer von Ahren im Winde. Es iſt, als ob 
der Herr mit Wachstum ſegnete, was Hakon niedertritt, als ob die 
heiligen Mächte ſich beeilten, jede Schuld auszulöſchen, die er verübt. 

Dem einen die wunderbarſte väterliche Fürſorge, dem andern 
nichts als ſchier unüberwindliche Verſuchungen! Hier läßt ſich aus 
einer wertvollen Bemerkung Shelleys über ‚Beatrice Cenci‘ die 
Definition gewinnen: tragiſch wirkt eine Perſönlichkeit, deren Tat 
zu rechtfertigen wir das Bedürfnis empfinden, zugleich immer 
fühlend, daß die Tat eine Rechtfertigung verlange. Der Wert der 
Perſönlichkeit erregt das Bedürfnis, die Rechtfertigung oder wenig⸗ 
ſtens Entſchuldigung wird in den Lebensumſtänden gefunden. Je 
höher wir den Wert der Perſon ſchätzen, ſei es um bloßer geiſtiger 
Vorzüge willen (Richard III.) oder moraliſcher (Brutus) oder 
beider (Skule), deſto mehr betrachten und beklagen wir die ver— 
leitenden Umſtände als Verhängnis. Bis zu einem gewiſſen Grade 
iſt jede Tragödie Schickſalstragödie. 

„Es war ein Rätſel an ihm“, lautet das Schlußwort Hakons, 
„Skule Bordsſohn war Gottes Stiefkind auf Erden.“ Daß der 
Begünſtigte ſelbſt dies dem Unglücklichen zugeſteht, ſoll die Kraft 
des Ausſpruchs erhöhen. Streng genommen fällt der König damit 
aus der Rolle. Denn die ſich gottbegnadet und gottberufen glauben, 
dürfen den Himmel keiner Ungerechtigkeit zeihen. Es iſt die An⸗ 
ſchauung des Dichters, die hier, in die religiöſe Sprache des 
Stückes gekleidet, dem Zuſchauer nahe gelegt wird — eine An⸗ 
ſchauung, die zu weiterer geſchichts-philoſophiſcher Geſtaltung drängte 
und dann in Julianus Apoſtata den entſprechenden Helden, in dem 
weltumfaſſenden Stoffe „Kaiſer und Galiläer“ den notwendigen 
Spielraum fand. . 

Die Anklage gegen den Lenker der Dinge wird übrigens im 


158 VI. Die Kronprätendenten 


Stücke ſelbſt von einem höheren Standpunkt aus entkräftet und die 
vorwurfsvolle Frage, warum Gott mit Skule ſo verfahren ſei, müßte 
die Antwort erhalten: zu Skules eignem Heile. Die klarſehende 
Vertreterin dieſer ſittlich-religiöſen Auffaſſung des irdiſchen Lebens⸗ 
laufes iſt Skules Schweſter, die Abtiſſin zu Rein. Da Frau Ranhild 
unmittelbar vor der Königswahl für ihren Gatten zum Himmel 
fleht: „Heiliger Olaf, gib ihm alle Macht in dieſem Lande!“ ruft 
Sigrid wild: „Keine! — keine! — ſonſt wird er nimmer gerettet!“ 
Das entſpricht ebenſowohl der religiöfen Färbung des Werkes, wie 
dem Glauben ſeines Urhebers an den Wert des Leidens und findet 
in der läuternden Kraft der Kataſtrophe die Beſtätigung. 
Mit den Worten: 

Wozu der Menſch geſchaffen iſt, das fühlt er, 

Und angeborner Trieb entwickelt angeborne Kraft; 

Er ſetzet es ins Werk ſo gut er kann, 

Und andern Grund bedarf nicht ſeine Tat — 
klingt eine Tragödie Ohlenſchlägers merkwürdig an das Thema 
der Thronprätendenten an. Doch über dies „ſo gut er kann“ 
mußte Ibſen hinausgehen. Hakon, dem Gottbegnadeten und mit 
der Gnade Wirkenden, ebnet ſich das Leben zum glorreichen 
Siegeslaufe. 


Hakon. 
„Wer iſt der größte Mann?“ fragt Biſchof Nikolaus, und 


auch darauf erwidert mehr der Dichter: „Der glücklich ſte. 
er, über den die Forderung der Zeit kommt wie eine Flamme, 
dem ſie Gedanken erzeugt, die er ſelbſt nicht faßt, und die ihm den 
Weg weiſen, der ihn, er ahnt nicht wohin, führt, den er aber doch 
wandelt und wandeln muß, bis er das Volk vor Freude auf⸗ 
jauchzen hört, und ſich umblickt mit weit geöffneten Augen, und 
ſich verwundert, und erkennt, daß er ein großes Werk vollbracht 
hat.“ Nicht minder feurig preiſet Schiller das Glück und den 
Glücklichen: 

Selig, welchen die Götter, die gnädigen, vor der Geburt ſchon 

Liebten 


VI. Die Kronprätendenten | 159 


Ein erhabenes Los, ein göttliches, iſt ihm gefallen, 

Schon vor des Kampfes Beginn ſind ihm die Schläfe bekränzt. 
Ihm iſt, eh' er es lebte, das volle Leben gerechnet, 

Eh' er die Mühe beſtand, hat er die Charis erlangt. 


Hakon beſitzt die unerſchütterliche Sicherheit des Erkorenen 
nicht bloß inſtinktartig im dumpfen Gefühle: er hat mehr — „das, 
was die Römer ingenium nannten“. Der große Königsgedanke iſt 
das Zeichen des Ingeniums und verleiht ihm zum Glücke das Recht. 

Die Überlieferung weiß nur von Hakons wunderwürdigem 
Erfolge, den ſich der Chroniſt auf ſeine Weiſe erklärt. „Und das 
kann nun jeder leicht ſehen“, meint er, „daß Gott dieſem Königs⸗ 
ſohn auf ſo vielerlei Art geholfen habe von wegen des großen 
Nutzens, den er ſpäter ſtiftete durch Erbauung von Kirchen und 
Förderung des Chriſtentums.“ Während aber Ibſen den Charakter 
Skules neu ſchaffen mußte, waren ihm für den jungen König 
wenigſtens Fingerzeige gegeben. Wiederholt beteuert der Hakon der 
Saga ſein ſtarkes Gottvertrauen. Als Kind ſchon nennt er Gott 
und die Heiligen feine Bevollmächtigten, in deren Hand er ver⸗ 
trauensvoll ſeine Sache gelegt habe, und in ſeinem zehnten Jahr 
iſt er klug genug, unnützen Bürgerkrieg zu vermeiden. Vielleicht 
hat auch Hakons Ahn, Sverre, vorbildlich gewirkt, der „weder 
Reichtum noch Sippen eignete, noch Freunde, auf die er ſich ver⸗ 
laſſen konnte, vielmehr jung und allein in das Land kam“. Indes 
Gott ſelbſt im Himmelreiche half ihm, und ſo heißt der erſte Teil 
feiner Saga wegen des vielen furcht- und ſchreckenerregenden Streites 
„Gryla“ (Schreckbild), „aber den letzten Teil des Buches nennt man 
perfectam fortitudinem, das iſt die vollkommene Kraft“. 

All dies Einzelne hätte jedoch dem Dichter noch nicht die 
klare Gegengeſtalt zu dem zweifelnden Skule an die Hand gegeben. 
Er hat in einer andern Geſchichte, der von Harald Schönhaar, 
die ſammelnde und belebende Formel für Hakon, ja, das Schlüſſel⸗ 
wort, ſo zu ſagen, ſeines Werkes gefunden: eben den großen 
Königsgedanken. 

Harald ſendet ſeine Mannen nach einer ſchönen und ſtolzen 


160 VI. Die Kronprätendenten 


Maid, Gyda, die er ſich zur Bettgenoſſin begehrt. Sie aber will 
ihr Magdtum nicht verſchwenden an einen König, der kein größeres 
Reich beſitzt, als etliche Gefolgſchaften. Wunderlich dünkt es mich, 
ſagt ſie, daß da kein König iſt, der ſich ſolchermaßen ganz Nor⸗ 
wegen unterwerfen und ‚Einwaltkönig“ darüber ſein will. Und ſie 
läßt Harald melden, fie würde nur mit dem Beding ſein Ehes 
gemahl, daß er vorher um ihretwillen ſich ganz Norwegen unterwürfe 
und ſo frei darüber herrſchte, wie König Erich über Schweden oder 
König Gorm über Dänemark; denn nur dann könnte er mit 
Recht ‚Volkskönig“ genannt werden. Den Boten erſcheint Gydas 
Wort unſinnig, nicht aber ihrem Herrn. Sie hat mich, ſagt er, 
an etwas gemahnt, wovon es mich wundert, daß es mir nicht 
früher eingefallen iſt. Und er ſchwört einen heiligen Eid, nimmer 
ſein Haar zu ſcheren noch zu kämmen, bevor er nicht ganz Nor⸗ 
wegen eingenommen mit Schatz und Schoß und aller Herrſchaft. . 
Dieſer Gedanke des klug beobachtenden, die Heimat mit den 
Nachbarländern vergleichenden Weibes iſt im Drama ein Mannes⸗ 
gedanke geworden, eingeboren, gottverliehen, ein Gebot zugleich 
und eine ſichere Verheißung. 

Ein hartes Urteil trifft die Herrin von Oſtrot, weil fie, der 
göttlichen Stimme widerſtrebend, ihr Herz irdiſcher Sehnſucht nicht 
verſchließt. Ihren Charakter dramatiſch zu entwickeln, iſt eine ſo 
ſtrenge Forderung des Himmels nötig. Hier, in dem ſpätern 
Werke, wird nun die Forderung in ihr Gegenteil verkehrt. Seinem 
Beruf zuliebe will ſich Hakon, übereifrig, alles menſchlichen Ge⸗ 
fühles abtun: er muß einſehen lernen, daß der Mutter und der 
Gattin der nächſte Platz an ſeinem Herzen gebührt. Sowohl der 
Fehler, zu dem er von tückiſchen Ratgebern verleitet wird, als 
auch die Reue nach beſſerer Erkenntnis entſpricht ſeinem arglos 
geraden, pflichttreuen Charakter. Weicheren Gefühlen wiederge— 
wonnen, bietet er, damit das Argſte verhütet werde, dem Vater 
ſeiner Gemahlin an, was er vordem ſchroff verweigerte, das Reich 
mit ihm zu teilen. Es iſt jetzt, im Drange des Augenblicks, ein 
Vorſchlag des Herzens, nicht der Überlegung, die ſchöne Schwäche 


ne 


ne i e eee eee e 


VI. Die Kronprätendenten | 161 


einer edlen Natur. Und erſt als Skule das Königskind bedroht, 
fällt er das Todesurteil über ihn und ſorgt ſelbſt dann noch, daß 
dem Verurteilten Gelegenheit bleibe zur Flucht. So wird uns 
Hakon menſchlich nahe gerückt und mit leichter Mühe der Gefahr 
ausgebogen, daß er als kalte Perſonifikation ee, als der 
verkörperte Wutz ee 


Biſchof Nikolaus. 

Der erſte Monolog Richards III. iſt einer der früheſten, wenn 
nicht der früheſte Verſuch phyſiologiſch-pſychologiſcher Charakter: 
erklärung in dramatiſcher Literatur. Und es iſt, von beiläufigen, 
freilich ſehr feinen Andeutungen abgeſehen, der einzige, den Shake⸗ 
ſpeare gemacht hat. Den Böſewicht Jago gibt er als Text eye 
Kommentar, ja ſelbſt ohne Randbemerkung. 

Einleitend, in der Art des antiken Prologs, legt Richard feine 
Geſinnungen dar: I" 
Ich, roh geprägt, entblößt von Liebesmajeftät . . . 

Von der Natur um Bildung falſch betrogen, 
Entſtellt, verwahrloſt, vor der Zeit geſandt 

In dieſe Welt des Atmens, halb kaum fertig 
Weiß keine Luſt, die Zeit mir zu vertreiben 
Und darum, weil ich nicht als ein Verliebter 
Kann kürzen dieſe fein beredten Tage, 

Bin ich gewillt, ein Böſewicht zu werden, 

Und feind den eitlen Freuden dieſer Tage. 

Die Klarheit über ſich ſelbſt und das bittersbehagliche Aus⸗ 
malen der eignen Häßlichkeit kommen einem ſolchen Charakter zu 
und muten realiſtiſch an; die Form hingegen iſt noch rein theatra= 
liſche Mitteilung an die Zuſchauer. Nach Form und Inhalt reali⸗ 
ſtiſch, mit dem Schein der Wirklichkeit, wird die Entſtehungs⸗ 
geſchichte eines ähnlichen Charakters in den ‚Kronprätendenten‘ 
vorgetragen. 

Sein Leben lang hat Biſchof Nikolaus heuchleriſch die wilde 
Herrſchbegierde unter dem Gebaren eines Seelenhirten verborgen: 
die Todesſtunde lüftet ihm die Maske und entſiegelt die Lippen 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. | 11 


162 VI. Die Kronprätendenten 


zur Beichte. Gerade dem Unaufrichtigen kann es zum zwingenden 
Bedürfnis werden, einmal doch die lautere Wahrheit zu ſagen. 
Dabei iſt das Verlangen, zu bekennen, ſich zu entlaſten, das Drin⸗ 
gende; die Abſicht, ſich zu rechtfertigen, nur begleitend. Mit der 
Macht des Wortes hält der Sterbende den unwilligen Hakon, den 
andere Kunde heiſchenden Skule an ſeinem Lager feſt, die Grab⸗ 
rede anzuhören, die er ſich ſelber ſpricht. 

Einem der mächtigſten Geſchlechter des Landes entfproffen, 
hat Nikolaus ſchon als Knabe den Durſt nach Großtaten em⸗ 
pfunden. Aber die Natur hat ſchlimmer an ihm getan, als an 
Richard. In der erſten Schlacht iſt ihm ſein Los klar geworden: 
zum Kriegshäuptling, zum König geboren — und feige, — von 
unüberwindlicher Feigheit! Kein Mann gegen Männer und über⸗ 
dies: kein Mann gegen Frauen. Nicht nur entblößt von Liebes⸗ 
majeſtät — der Kraft beraubt, von Geburt an ein Krüppel. So 
iſt er denn Prieſter geworden, Kirchenfürſt. Wie Richard höhnt er 
ſeine Gebrechen — die Weiberſtimme, geeignet bei Kirchenfeſten 
hohe Diskanttöne anzugeben. Herrſchaft auf einem Umweg kann 
ſolchem Geiſte nicht Genüge tun; der unbefriedigte Ehrgeiz und 
das nie geſtillte Luſtverlangen, beide in der Wurzel eins, werden 
zum verzehrenden Neid gegen die Herrſchenden und Genießenden. 
Dem Werke des Neides, der Verneinung und Vernichtung obliegt 
der Biſchof raſtlos bis zum letzten Atemzug als einer Lebensaufgabe. 

„Hat Gott der Herr ein Recht dazu“, fragt die Herrin von 
Oſtrot, „mich zum Weibe zu ſchaffen und dann eine Mannestat 
auf meine Schultern zu bürden?“ Nikolaus haßt „Die da droben“, 
weil ſie von ihm, „dem Halbmenſchen“, fordern wie von einem voll 
Befähigten. „Ich habe nichts verbrochen; gegen mich wurde das 
Unrecht verübt; ich bin der Kläger.“ In gefunden Tagen ſpricht 
der Haß mit dämoniſcher Kraft aus ihm und ſucht in Skule einen 
Genoſſen zu werben. Der Machtgedanke bildet ſich in ſeinem 
Munde zu einer heutigen Tags philoſophiſch klingenden Formel: 
„Ich bin im Stande der Unſchuld, ich kenne nicht den Unterſchied 
zwiſchen gut und böſe.“ Es iſt die natürliche Eigenliebe, die, auf 


VI. Die Kronprätendenten 163 


einer urſprünglichſten Stufe der Entwicklung ſtehen geblieben, gut 
nennt, was nützt, böſe, was hindert. Aber der Geiſt des Biſchofs 
iſt nur theoretiſch ſtark, nicht praktiſch, nicht inſofern er Bewohner 
ſeines Körpers iſt. Auf dem Krankenbett überfällt ihn immer wieder 
feige Angſt vor Strafe und Gericht, bis der nahende Tod, alle 
Bande lockernd, den phyſiologiſchen Einfluß aufhebt und dem Willen 
zu furchtloſer Freiheit und Kühnheit verhilft. „Die Tat eines 
Menſchen iſt ſeine Seele, und meine Tat ſoll auf Erden fortleben.“ 
Das perpetuum mobile ſchwebt ihm vor, das ſein gelehrter Arzt 
Meiſter Sigard von Brabant, vergebens zu erfinden ſich bemüht. 
„Räder und Gewichte und Hebel in der Seele des Königs und 
des Herzogs derart in Gang ſetzen, daß keine Macht auf Erden 
fie zu hemmen vermag —!“ Mit letzter Kraft gibt er den An⸗ 
ſtoß hierzu und ſinkt nach vollbrachtem Werk, im Todeskampfe 
noch lächelnd, zurück. 

In der Saga wird nur vorübergehend des Biſchofs unzu— 
verläſſige, feindliche Haltung gegen Hakon erwähnt; deutlicher 
charakteriſiert ihn der Geſchichtſchreiber des norwegiſchen Volkes, 
P. A. Munch, als unermüdlichen Agitator und Ränkeſchmied. Für 
Ibſens geniale Schöpfung ſind ſo dürftige Nachrichten nicht mehr 
als Richtpunkte geweſen. 

Hakon und Skule erſcheinen verhältnismäßig einfach in Um⸗ 
riß und Kolorit gegen dieſe Charakterſtudie. Doch iſt auch hier 
die Zeichnung nicht kleinlich und überladen, vielmehr der Zug ins 
Große, der freskenartige Stil des Werkes gewahrt. Mit wenigen 
Strichen und Farben, ſparſam, nicht ſpärlich, ſind die übrigen 
Perſonen entworfen: die Männer, Anhänger und Diener, oder 
Gegner jener drei, alle, mit Ausnahme Peters, lebend, nicht bloß 
handelnd; die Frauengeſtalten auf beſchränktem Raume liebevoll 
ausgeführt. 

Die Frauen. 

Auf Skules Selbſtanklagen erwidert die einſt . dann 

vergeſſene Ingeborg: „Das war dein Recht“, und auf ſein Lob 


ihres treuen, ſelbſtloſen Gedenkens: „Das war mein Glück.“ Die 
11* 


164 VI. Die Kronprätendenten 


beiden Antworten enthalten Ibſens damals ſo einfache Löſung 
der Frauenfrage: unbedingte Ergebenheit und unbegrenzte Opfer⸗ 
willigkeit auf Seite des liebenden Weibes gegen gleichviel welche 
Anſprüche von Seite des Mannes. Dies ſind die den Frauen 
des Dramas gemeinſamen Grundzüge des Ewig-Weiblichen, ver⸗ 
ſchieden nur in der Erſcheinung. Margarete, die am meiſten ber: 
vortretende, hängt ihrem Jugendgeſpielen Hakon nicht nur mit 
ganzem Gemüte an, ſondern auch mit klarem Urteil. Schon vor 
der Reichsverſammlung und ihrer Vermählung iſt er ihr „der 
König“ ſchlechthin, unerſchütterlich auf die Erkenntnis ſeines Wertes 
gründet ſich ihr Vertrauen. Da er den über ihren Vater ver⸗ 
hängten Todesſpruch rechtfertigen will, unterbricht ſie ihn: „Mein 
hoher Herr und Gemahl, du richteſt gerecht.“ Ganz anders ihre 
Mutter, Frau Ranhild. Leidenſchaftlich, blind für Verhältniſſe 
und Wertunterſchiede, blind für des Gatten Fehler, iſt ſie ohne 
Prüfung bereit, allen zu fluchen, die wider ihn ſind, ſelbſt dem 
eignen Kinde. Demgemäß ſondert ſich denn auch das Verhalten 
beider gegen die Männer, deren Wahl aus Vernunftgründen, nicht 
aus Herzensneigung auf ſie gefallen. In den langen Jahren ihrer 
Ehe von Skule nicht beachtet, wagt es Frau Ranhild vor dem 
Tage ſeines Sturzes niemals, ihm das leiſeſte Liebeszeichen zu 
geben: ſie hält ſich zu gering für den Gemahl. Margarete, ſo 
klug und beherrſcht als warmherzig, macht dennoch kein Hehl daraus, 
wie ſchmerzlich ſie es empfindet, „nur Königin“ zu ſein. Bei 
aller demütigen Liebe ſind ihre Geſtändniſſe nicht ohne Vorwurf, 
alſo nicht ohne Selbſtgefühl. Aber nicht unzart und aufdringlich 
bekundet ſich ihre Ergebenheit, auch nicht ſtumm und leidend, wie 
die der Mutter, ſondern in Ruhe wirkſam. Dieſen liebenden und 
endlich Liebe erntenden Frauen geſellt ſich Hakons vom Hofe ver: 
wieſene Mutter, dem „herrlichen Sohne“ unwandelbar zugetan, 
nicht rechtend und nicht richtend. 

Ihnen gegenüber ſtehen die entſagenden, dem Himmel ſich 
weihenden, Ingeborg und Sigrid. Die Ingeborg der Überlieferung, 
mit der Skule ſeinen Sohn Peter im Ehebruch zeugte, iſt hier frei 


VI. Die Kronprätendenten 165 


von ſolchem Makel, eine Jugendgeliebte des Jarls, die ihren Fehl— 
tritt in Gebet und Tränen büßt und den Sohn zum Prieſter 
erzieht. Noch hängt ſie mit inniger, aber von irdiſchem Begehren 
geläuterter Liebe an dem trugvollen Manne und ſcheidet ſich um 
ſeinetwillen von dem Sohne, dem Licht und Troſt ihres Lebens. 
Zu lieben, alles zu opfern und vergeſſen zu werden, das nennt ſie 
ſelbſt ihr Los. Ingleichen hat Verluſt des irdiſchen Glückes Sigrid 
zur Entſagung geführt. Aber der Geiſtesſtarken erwächſt hier⸗ 
aus eine neue Lebensaufgabe: ſie muß auch andern den Weg zeigen 
zur ewigen Glorie, vor allen dem geliebten Bruder. 


Und nun, trotz der überzeugenden Pſychologie, trotz ſo vieler 
dramatiſchen Vorzüge doch keine Bühnenwirkung! Selbſt die 
Meininger, in deren Spielplan die ‚Kronprätendenten‘ aufgenom⸗ 
men waren, vermochten ſie bei uns nicht einzubürgern. 

Ein Erfordernis iſt der dramatiſchen und der Baukunſt ges 
mein: ihre Werke müſſen nicht ſymmetriſch, aber ſie müſſen in 
allen Teilen überſichtlich ſein. Ibſens weitläufigem Gebäude ge: 
bricht die Klarheit des Aufbaus. 

Die beiden erſten Akte find, obſchon an der und jener Stelle 
überladen und nicht ſehr deutlich in der Linienführung, noch hin— 
reichend gegliedert und könnten durch eine geſchickte Hand leicht 
bühnengerecht gemacht werden. Drei wohlverknüpfte Szenen um⸗ 
faßt der erſte: Hakon tut gegen die Mitbewerber ſein Erbrecht 
dar, Hakon wird gewählt, Hakons erſte Regierungshandlungen; 
und wiederum in drei Szenen bewegt ſich der zweite vorwärts: 
Skules Mißbrauch feiner Macht, der Biſchof beginnt feine Ber: 
führungskunſt an Skule, offener Bruch zwiſchen Skule und Ha⸗ 
kon. Im einzelnen ſtört hier nur der alte Fehler des Dichters, Be— 
weggründe zu verhehlen und wichtige Ereigniſſe zu ſpät aufzuklären. 
Der Anhänger des Jarls, Andreas Skjaldarband, erſchlägt Hakons 
Mann, Wegard Wäradal. Warum der Mord geſchehen und warum 
der Mörder jo teuer zu bezahlenden Schutz bei Skule findet, er- 
fahren wir erſt im vierten Akte. Auch des Biſchofs Gebaren und 


166 VI. Die Kronprätendenten 


Minierarbeit iſt nicht immer leicht faßlich, befremdend ſein Ein⸗ 
vernehmen mit Wegard und mancher ſeiner Ratſchläge. 

Dem zweigeteilten dritten Aufzug fehlt nicht die pſychologiſche 
Einheit, aber der Zuſammenſchluß. Unmittelbar an die Vorgänge 
im Sterbezimmer des Biſchofs müßte ſich anreihen: Skules letzter 
Verſuch, Hakon zum Nachgeben zu bereden, die Offenbarung des 
großen Königsgedankens, ſein Auftreten als Gegenkönig. Statt 
deſſen wird der zweite Teil nach der Verwandlung eingeleitet wie 
ein neuer Akt, mit einem Stimmungsbilde: Margarete ihrem 
Knaben ein Wiegenlied ſingend. Der Gegenſatz zum Streite der 
Männer iſt ſchön und poetiſch, aber die Geſetze des Dramas gehen 
den allgemein poetiſchen vor. Die ſteigende Handlung darf, eine 
Stufe vor dem Gipfel, nicht verzögert werden. So verflüchtigt ſich 
Skules Erregung ungenutzt, gibt an der Wiege des Kindes grü⸗ 
belndem Nachdenken Raum und muß im Geſpräche mit Hakon aufs 
neue erzeugt und geſteigert werden. Ein etwas längeres Verweilen 
des Königs im biſchöflichen Palaſte oder ein unverzügliches Zu⸗ 
ſammentreffen der beiden Gegner nach dem Wechſel des Ortes ließe 
die Handlung ſogleich um die zwei erforderlichen Schritte weiter 
rücken, die ſie mit geſchwächter Kraft nun erſt tun kann. 

Skules Monologe hemmen und ſtören überhaupt, nicht nur 
an dieſem Punkte. Sie ſind zu weitſchweifig, zu ſehr erläuternd 
und umſchreibend. Otto Ludwig bemerkt zwar, wie erwähnt, daß 
Shakeſpeare bei inneren Vorgängen lieber abſtrakt werde, als daß 
er den Zuſchauer das kleinſte Rädchen in der innern Maſchine über⸗ 
ſehen laſſe. Macbeth zum Beiſpiel in feinem Monolog (I, 7): „Ik 
it were done when ’tis done, then ’twere well“ ſpreche, was, 
unmittelbar genommen, nur der Dichter von ihm ſprechen könnte. 
Allein bei Shakeſpeare durchglüht die Flamme des Gefühls auch 
die abſtrakten Beſtandteile und verſchmelzt alles zu einem Guſſe. 
Skule dagegen erzählt, ſchlimmer noch, er zählt her. Wir ſehen 
und empfinden, wie es mit ihm ſteht, — wozu der Aufwand? 

Die Szenenreihe im Sterbezimmer des Biſchofs iſt zu um⸗ 
ſtändlich befunden, überdies das Ausſcheiden einer ſo bedeutenden 


VI. Die Kronprätendenten l 


Geſtalt in der Mitte des Dramas gerügt worden. Aber geradezu 
ſchädigend dünkt mich weder das eine noch das andere. Nikolaus 
Arnesſohns Tod iſt kein Seitenſtück zu dem des Kardinals Win⸗ 
cheſter, keine epiſodenhafte Schilderung des Endes eines Böſewichts, 
die ohne Nachteil für das Ganze wegfallen könnte. In einem 
Drama, das unter der Agide der göttlichen Vorſehung ſteht, die 
ſich zu ihren Abſichten ausſchließlich menſchlicher Werkzeuge be— 
dient, durfte der Brief, von dem der ganze weitere Verlauf des 
Dramas abhängt, nich® einfach verloren gehen, er mußte gefliſſent⸗ 
lich beſeitigt werden. In dieſen Szenen wird — immerhin etwas 
zu breit — die notwendige Begründung der folgenſchweren Tat 
gegeben. 

Nicht freiwillig verzichtet der Dramatiker halb zurückgelegten 
Weges auf eine wirkungsvolle Geſtalt, doch kann ſeine Fabel ihn 
dazu zwingen. Shakeſpeares Julius Caeſar und die „Kronpräten⸗ 
denten“ ſind ſprechende Beiſpiele. Da iſt mit großem Aufwand 
von Scharfſinn, nicht ohne Spitzfindigkeit, nachgewieſen worden, 
daß Shakeſpeares Titelheld ſofort aus dem Drama verſchwinden 
dürfe, weil ſeine Perſönlichkeit über den Tod hinaus die Handlung 
beherrſche. Zum mindeſten dasſelbe gölte doch von Ibſens Biſchof 
Nikolaus. Er ſetzt vor ſeinem Ende ein diaboliſches perpetuum 
mobile in Bewegung. Auch kehrt Nikolaus ja, gleich Julius 
Caeſar, noch einmal als Geiſt zu den Lebenden zurück, ſein Fort⸗ 
wirken nach dem Tode beſtätigend. 

Geradezu verhängnisvoll wird dagegen die Überfülle und Un⸗ 
klarheit der Geſchehniſſe in den beiden letzten Akten. Allzuviel 
rein geſchichtlichen Beiwerks, aus der Vorlage herübergenommen, 
verdeckt die Konturen der Fabel, als wär' es dem Dichter leid 
geweſen, irgendwie Bemerkenswertes von feiner Darftellung aus: 
zuſchließen. Der ſtark entwickelte hiſtoriſche Sinn unſerer Zeit ver⸗ 
führt den modern Nachſchaffenden leicht zu ſolch unzweckmäßiger 
Ausſchöpfung ſeiner Quellen. Zahlreiche ſchwer zu behaltende 
Namen von Perſonen, die nicht auftreten, Berichte von Vorgängen, 
die nicht notwendig zur Fabel gehören, lenken ab und zerſtreuen. 


168 VI. Die Kronprätendenten 


Betäubend und verwirrend erfüllt das Kampfgetümmel der Saga 
den Schauplatz mit all ſeinen Wechſelfällen. Die Handlung ſcheint 
wichtiger geworden als der Zuſammenhang der Handlung. Das 
iſt epiſch. Arma virumque cano, hebt das Epos an, die Waffen, 
die Taten zuerſt nennend. Des Degmazikerg einziger Gegenſtand 
iſt der Mann. 

Immer neue einander ablöſende Figuren: Nikolaus, Jatgejr, 
Peter; immer neue unvermittelte Motive: Gegenſatz zwiſchen den 
Stadtleuten und Skule, Verhältnis zur Kirche uſw. Peter, die 
führende Geſtalt der letzten Akte, kein lebendes Weſen, keine Per⸗ 
ſönlichkeit! Aus dem jungen Kleriker, deſſen Herz noch kein Hauch 
der ſündigen Welt berührt hat, wird, ſobald er ſeinem Vater heim⸗ 
gegeben ift, ohne Zaudern und Zagen ein Verbrecher und Kirchen: 
ſchänder. Wie ſehr ihn Ingeborg zum Glauben an Skule erzogen 
habe, er kann nicht gelehrt worden ſein, daß der irdiſche Vater 
über dem himmliſchen, menſchliche Befehle über den göttlichen 
ſtünden. So bleibt die plötzliche gewiſſenloſe Wandlung unerklärt und 
unerklärlich, eine bloße Behauptung, und Peter erregt weder unſer 
Entſetzen in ſeinem Verbrechen, noch unſere Teilnahme in ſeiner 
Reue, er iſt eine durch Abſichtlichkeit verſtimmende Perſonifikation. 

Ein Berliner Dramaturg faßte ſein Urteil über die Auffüh⸗ 
rung der Meininger zuſammen in dem Satze: „Die Kronpräten⸗ 
denten ſind kein dramatiſches Meiſterwerk, aber ſie machen uns mit 
einem hervorragenden Dichter bekannt.“ Nein, mit einem hervor⸗ 
ragenden Dramatiker! Was Ibſen hier noch mangelt, iſt einzig 
die ſeiner Begabung angemeſſene realiſtiſche Form, was ihn irre⸗ 
leitet und beeinträchtigt, das romantiſche Vorbild. 

Dennoch trug er über den gefeiertſten nordiſchen Romantiker 
der fünfziger Jahre, Andreas Munch, einen vernichtenden Sieg 
davon. Der Zufall hatte es gewollt, daß beide gleichzeitig den- 
ſelben Stoff behandelten. In einem kurzen Kampfe maß ſich der 
Mann der neuen Kunſt mit dem Vertreter der alten. „Herzog 
Skule“ und ſein Verfaſſer wurden nach der dritten Aufführung 
für immer zu den Toten gelegt. 


VI. Die Kronprätendenten 169 


Der Dichter der „Kronprätendenten“ bewährte, was fein Werk 
als Saga der Menſchheit verkündet: daß ſtets der „Königsgedanke“ 
einer neuen Zeit ſiegt und daß da keine Hoffnung iſt für die, 
die nur das Vergangene, ſchon Dageweſene wiederholen können. 
Dieſe tröſtliche Lehre bekräftigend, wird das Drama von Hakon 
und Skule friſch und wahr bleiben, denn was ſich immer und 
überall wieder begeben muß, auch das veraltet nie. 


VII 
Brand 


„Lehre mich mehr wollen als ich kann.“ 
Brands Geſang im epiſchen Brand. 


1 

D mächtige eiderdäniſche Partei in Kopenhagen hatte den König 

Chriſtian IX. im November 1863 zur Verkündigung einer 
gemeinſamen Verfaſſung für Dänemark und Schleswig bewogen. 
Preußen und Oſterreich, denen Dänemark „die Rechte der Herzog⸗ 
tümer (Schleswig⸗Holſtein) zu achten“ gewährleiſtet hatte, erhoben 
Einſpruch gegen dies vertragswidrige Beſtreben und forderten 
die Zurücknahme der Novemberverfaſſung. Auf Dänemarks Weige⸗ 


rung hin rückten im Januar 1864 preußiſch⸗öſterreichiſche Trup⸗ 


pen unter dem Oberbefehl des Feldmarſchalls Wrangel in den be⸗ 
drohten Herzogtümern ein. 

Zu allem, was der Dichter der „Komödie der Liebe‘ und der 
„Kronprätendenten“ perſönlich erlitten hatte, kam nun der Schmerz, 
die Norweger ſo gleichgültig und untätig zu ſehen, jetzt, da 
Dänemark ihrer oft verſprochenen und feierlich zugeſchworenen 
Hülfe bedurfte. Die Bundesgelöbniſſe erwieſen ſich als eitel Worte. 
Nicht die Überzeugung vom Unrecht Dänemarks, die praktiſche 
„Beſonnenheit“ — die bare Selbſtſucht hielt Norwegens Schwert 
in der Scheide, worüber Ibſen in den aufſchlußreichen Briefen 
jener Zeit nicht müde wird, zu zürnen und zu klagen. 

„Juſt als die Kronprätendenten erſchienen, ſtarb Friedrich VII., 
und der Krieg begann. Ich ſchrieb das Gedicht ‚Ein Bruder in 
Not“. Es blieb natürlich wirkungslos gegenüber dem norwegiſchen 
Dankeetum, das mich auf allen Punkten zurückgeſchlagen hatte. So 
ging ich denn in die Verbannung!“ 

Wie von verfluchtem Grund und Boden floh der bitter ent— 
täuſchte Fürſprecher ſkandinaviſcher Einigkeit aus der Heimat hin⸗ 
weg. Anfang April, noch vor dem Sturm auf die Düppeler 
Schanzen — am 18. des Monats — verließ er Chriſtiania. „Als 
ich nach Kopenhagen kam, fiel Düppel. In Berlin ſah ich König 


ä 8 Ze — e 5 — u 
r . 


VII. Brand tt 3471 


Wilhelm mit Trophäen und Beute ſeinen Einzug halten. In dieſen 
Tagen begann „Brand“ wie Leibesfrucht zu wachſen in meinem 
Innern.“ Von Berlin reiſte er dann über Trieſt und Venedig 
in die ewige Stadt, um ſich dort mit den Seinigen zu dauern⸗ 
dem Aufenthalte niederzulaſſen. 

In Rom gewann der Flüchtling wieder Frieden und Ruhe zur 
Arbeit. Wohl waren ſeine äußeren Verhältniſſe noch eng und dürf— 
tig, aber er hatte „die Ketten zerbrochen“, wie er es ſelbſt aus⸗ 
ſprach, hatte alle heimiſchen Bande abgeworfen und ſog mit vollen 
Lungen die Luft der Freiheit ein. „Rom mit ſeinem idealen 
Frieden, das Zuſammenleben mit der ſorgloſen Künſtlerwelt, ein 
Daſein, das ſich einzig mit der Stimmung in Shakeſpeares As 
you like it vergleichen läßt, —“ da mußte ſich alsbald die 
Schaffensluſt regen. 

Auf der Reiſe, in Kopenhagen, hatte er als Helden eines 
fünfaktigen Dramas den norwegiſchen Freibeuter Magnus Hejnes- 
ſön ins Auge gefaßt, der in der Jugendzeit Chriſtians IV. ſeine 
Rolle ſpielte und 1589 ein tragiſches Ende fand. Indes der Stoff 
verlor in Rom jeden Reiz, ſei es, daß der werdende Brand, ſei es, 
daß die Einwirkung der Klaſſizität, DAR großen Erinnerungen, 
ihn verdrängte. 

Die Denkmäler antiker Kultur, deren er auf Schritt und Tritt 
anſichtig wurde, forderten zu erneuter Beſchäftigung mit dem römi⸗ 
ſchen und griechiſchen Altertum auf. Zu bald hatte der „Student“ 
Ibſen in ſeinem unbezwinglichen Freiheits- und Tatendrang die 
Bücher beiſeite geworfen; der reife Mann nahm ſie wieder vor 
und widmete die erſten Jahre lang erſehnter, ſchwer errungener 
Freiheit dem ſorgfältigen und gründlichen Studium der koſtbaren 
Hinterlaſſenſchaft klaſſiſcher Vergangenheit. Und wie einſt den 
heimlich ſtudierenden Apothekerlehrling ſein Cicero und Salluſt 
gereizt hatte, das Geleſene in dramatiſcher Form wieder erſtehen 
zu laſſen, ſo ſammelten ſich nun die zuſtrömenden Kenntniſſe und 
die tauſend lebendigen Eindrücke der unmittelbaren Umgebung zu 
dichteriſcher Anſchauung und ſuchten ſich in einem großen dramati⸗ 


172 VII. Brand 


ſchen Gebilde, deſſen Mittelpunkt Julianus Apoſtata ſein ſollte, 
von der Seele des Dichters zu löſen. Der Plan wurde erwogen, 
die Fülle der Geſchehniſſe verſuchsweiſe geordnet und eingeteilt. 
Aber zehn Jahre vergingen, ehe das weltgeſchichtliche Schauſpiel 
zur Vollendung gedieh. 

Noch konnte ſich Ibſen nicht freien Gemütes in einen Stoff 
der Vergangenheit verſenken. „In Italien war, als ich dorthin 
kam, das Einheitswerk durch eine unbegrenzte Opferwilligkeit voll⸗ 
bracht, während bei uns zu Haufe —!“ Perſönliche Phraſen⸗ 
macherei über jede „große Sache“, aber niemals Wille, Kraft, 
Pflichtgefühl für eine große Tat. Die vielgeprieſene norwegiſche 
„Beſonnenheit“ bedeute nur jene laue Mitteltemperatur des Blutes, 
die es den ehrſamen Seelen unmöglich macht, eine Dummheit 
großen Stiles zu begehen. Hier unten bekomme man zu fühlen, 
daß es etwas gibt, was mehr iſt, als einen ſcharfen Kopf zu 
haben — und das iſt eine ganze Seele zu haben. Italieniſche 
Mütter ließen ihre vierzehnjährigen Jungen mit auf Garibaldis 
abenteuerlichen Zug nach Palermo, und da galt es nicht einmal, 
das Vaterland zu retten, ſondern einen Gedanken zu verwirklichen. 
Wie viele Storthingsmänner würden das gleiche tun, wenn die 
Ruſſen über Finnmarken vorrückten? „Bei uns tritt die Unmög⸗ 
lichkeit ein, ſobald die Forderung Alltagsanſprüche überſteigt.“ 

Dank dem „hinreichenden Abſtand“, den zu gewinnen für ihn 
„das Entſcheidende und Bedeutungsvolle“ geworden, trat jetzt in 
den ſchärfſten Umriſſen, mit der ganzen Kraft des Gegenſatzes das 
Bild des proſaiſchen, jedem Heroismus fremden Daſeins hervor, 
der kleinlichen, erdrückenden Verhältniſſe, in denen er „da oben“ 
geſchmachtet. Der Befreite fühlte noch den gewohnten Druck der 
Feſſel, und das rege Gefühl des Erlittenen lenkte die ſchöpferiſche 
Vorſtellungskraft immer wieder auf die verlaſſene Heimat zurück. 
„Der Menſch iſt in geiſtiger Beziehung ein fernſichtiges Geſchöpf“, 
ſchrieb er ſpäter an eine befreundete Schriftſtellerin; „wir ſehen am 
klarſten aus einem großen Abſtand ... Man muß aus dem 
heraus, was man beurteilen will; den Sommer ſchildert man am 


VII. Brand 173 


beſten an einem Wintertage.“ So entſtand denn die ſchärfſte Be⸗ 
urteilung norwegiſchen Weſens und Lebens, die getreueſte, kräftigſte 
Schilderung nordiſch-winterlicher Natur im ſonnigen Süden, in Rom. 

Im Sommer 1862 hatte Ibſen, um nach des Storthings 
wohlmeinendem Rate Sagen und Volkslieder zu ſammeln, eine 
Fußreiſe durch Jotunheim unternommen, die ihn von Lom über 
das Hochgebirge nach Fortun und weiter nach Helleſylt (Sundelven) 
führte. In nächſter Nähe dieſes Handelsplatzes lagen die Trümmer 
eines Pfarrhauſes, das die Lawine zerſchmettert hatte. Man wagte 
nicht, es wieder aufzubauen, und der Pfarrer war mit Weib und 
Kind in einem Bauernhof untergebracht, der hoch oben am Felſen 
hing. Ibſen beſuchte die Familie und fragte die freundliche junge 
Pfarrfrau, ob ſie ſich nicht auch hier vor den Bergſtürzen fürchte. 
„O nein,“ erwiderte ſie, „das Haus liegt ſo dicht am Felſen, daß 
die Lauen über uns hinweggehen würden, ohne es zu berühren.“ 

Das enge Fortundal mit ſchroffen kahlen Felswänden, zwiſchen 
denen nur ein ſchmaler Streifen blauen Himmels hereinblickt, in 
der Höhe die lawinenſendenden Gletſcher, in der Tiefe die ſturm— 
gepeitſchten Waſſer des Fjords: das lebte als charakteriſtiſche, ja 
typiſche Vorſtellung der Heimat in des Dichters Gedächtnis auf, 
das wurde die Szenerie zu ‚Brand‘, 

Leicht iſt es, die Stimmung zu verſtehen, aus der dies „drama⸗ 
tiſche Gedicht“ hervorgegangen, ſchwerer ſchon, es auf feine pſychi⸗ 
ſchen Urſprünge zurückzuführen. Der ſtärkſte Antrieb war wohl 
das Bedürfnis nach einer geiſtigen Blutreinigung. Als, im Be⸗ 
ginn der ſiebziger Jahre, die Briefe des Freundes Georg Brandes 
ſich anhörten wie Notrufe des einzigen Überlebenden in einem 
weiten ausgeſtorbenen Landſtrich, gedachte Ibſen ſeiner erſten 
römiſchen Zeit: „Sie ſtehen nun in derſelben Kriſis, wie ich in 
den Tagen ... des Brand, und ich bin ſicher, auch Sie werden 
das Heilmittel zu finden wiſſen, das den Krankheitsſtoff aus dem 
Körper treibt.“ Hierzu fügt ſich von ſelbſt ein Bericht der ‚innern 
Hiſtorie Während er den Brand ſchrieb, hatte er auf dem Arbeits⸗ 
tiſch einen Skorpion in einem leeren Bierglaſe ſtehen. „Ab und 


174 VII. Brand 


zu wurde das Tier krank. Dann pflegte ich ihm ein Stück weiches 
Obſt zuzuwerfen, auf das es ſich raſend ſtürzte und ſein Gift 
hineinſpritzte; darnach wurde es wieder geſund. Iſt es nicht ſo 
ähnlich mit uns Poeten? Die Naturgeſetze gelten auch auf geiſtigem 
Gebiet.“ 

Zudem gewährt der vorhin erwähnte Brief an Laura Kieler 
noch einige Andeutungen. Bisher wurde ſtets nur der Satz heraus⸗ 
gehoben: „Brand entſtand ſeinerzeit als das Ergebnis von etwas 
Durch lebtem, nicht Er lebtem ... etwas, womit ich in meinem 
Innern fertig war.“ Aber das gilt von Ibſens Dichtung über⸗ 
haupt, wie er denn ähnliche Worte auch bei anderem Anlaß öffent⸗ 
lich und programmäßig gebraucht hat. Weiter bringt uns die 
Stelle: „Man muß etwas haben, um darüber dichten zu können, 
einen Lebensinhalt. Hat man den nicht, ſo dichtet man nicht; 
man ſchreibt bloß Bücher.“ Welcher Lebensinhalt, lautet dem⸗ 
nach die Frage, wurde in ‚Brand‘ dichteriſch geborgen? 

Der Brief nennt ihn. „Die Hauptſache iſt, wahr und treu in 
ſeinem Verhalten gegen ſich ſelbſt zu bleiben. Es kommt nicht 
darauf an, dies oder jenes zu wollen, ſondern darauf, das zu 
wollen, was man unbedingt wollen muß, weil man iſt, wer man 
iſt und nicht anders kann. Alles übrige führt nur in die Lüge 
hinein.“ Alſo wieder der Selbſtbeſtimmungstrieb, der Inſtinkt 
des individuellen Willens, das kabula docet der Jugenddramen. 
Aber trotzdem dieſe Grundtatſache im Seelenleben des Dichters 
in der „Herrin von Oftrot‘ und den ‚Kronprätendenten‘, dem chriſt⸗ 
lichen Lebenskreis entſprechend, als göttliche Berufung verkündet 
worden, ihr volles Recht war ihr bisher noch nicht geſchehen. Die 
romantiſch⸗hiſtoriſchen Faſſungen verhüllten allzuſehr den eigentlichen 
Kern des Satzes, daß dem Willen Ziel und Richtung nicht von 
außen — ſei es von oben (Frau Inger, Hakon) oder von unten 
(Biſchof Nikolaus) — ſondern von innen her, von dem eignen 
Selbſt mit zwingender Kraft beſtimmt wird. Nun, im ‚Brand‘ 
gelang die erſchöpfende Darſtellung des pſychiſchen Phänomens, 
jetzt war der Dichter in ſeinem Innern mit dieſer Erfahrung 


F ͤ————— — 
3 —— Er 


C en Du 
EN * f 


VII. Brand 175 


„fertig“ geworden. Und wie jene früheren Werke erſt in ‚Brand‘ 
ihre endgültige Erklärung finden, ſo müſſen alle ſpäteren, die das 
Problem wiederholen, auf ‚Brand‘ zurückbezogen werden. ‚Brand‘ 
nimmt eine zentrale Stellung ein. 

Den Ausſpruch, die Dichtung ſei das Ergebnis von etwas 
Durchlebtem, ergänzt noch ein nicht minder wichtiger, den zuerſt 
Georg Brandes mitteilte. Ihm ſchrieb Ibſen: „Ich hätte ebenſo⸗ 
gut, wie einen Pfarrer, einen Bildhauer oder Politiker wählen 
und ganz denſelben Syllogismus durchführen können. Ich hätte 
mich von der Stimmung, die mich zur Produktion trieb, ebenſogut 
befreien können, wenn ich anſtatt Brands z. B. Galilei bes 
handelt hätte (mit der Anderung natürlich, daß er ſich ſtramm ge 
halten und das Stillſtehen der Erde nicht eingeräumt hätte).“ 
Und noch ein andermal bekräftigt es der „beichtende“ Dichter: 
„Daß Brand Prieſter iſt, iſt im Grunde unweſentlich; die Forde— 
rung nichts oder alles gilt überall im Leben: in der Liebe, in der 
Kunſt uſw. Brand bin ich ſelbſt in meinen beſten Augenblicken ...“ 

So iſt denn weder eine dramatiſche Fabel noch ein merk— 
würdiger Charakter noch eine tragiſche Leidenſchaft „der letzte 
Zweck der Schilderung“ geweſen? Ein Syllogismus, eine logiſche 
Schlußfolgerung, die der Dichter durchzuführen ſich gedrungen 
fühlte, ergibt den Grundplan, beſtimmt die Wahl der Perſonen 
und den Gang der Handlung. Nicht als wäre der nackte Syl⸗ 
logismus, das bare Rechenexempel zuerſt völlig durchgeführt und 
dann aus dem Abſtrakten ins Konkrete überſetzt worden! „Brand 
bin ich ſelbſt in meinen beſten Augenblicken!“ Der ſchwebende, 
ſuchende Bekenntnistrieb entdeckte in einem günſtigen Augenblick 
den anregenden Stoff, bemächtigte ſich ſeiner, entwickelte ihn 
und entwickelte ſich an ihm, gab und empfing, bis zuletzt ein 
Ganzes wurde, das praktiſch untrennbar erſcheint und auch theore— 
tiſch ſchwer in ſeine Beſtandteile zu ſcheiden ſein möchte, wenn uns 
der Dichter nicht ſelbſt die Weiſung gegeben hätte. 

Auch einen Politiker, einen Bildhauer hätte er ſtatt Brands be⸗ 
handeln können, einen Galilei „mit der Anderung natür⸗ 


176 VII. Brand 


lich“, daß ſein Galilei das Stillſtehen der Erde nicht einräumen 
würde. Auf das Nichtnachgeben alſo kommt es an. Es hätte ein Poli⸗ 
tiker ſein müſſen, der gegen die Mehrheit, gegen Freund und Feind, 
auf jede Gefahr hin ſeinen Kurs hielte, ein Bildhauer, der keiner 
Schule, keiner Mode, keinem Erfolg zulieb um Haaresbreite von 
ſeinem künſtleriſchen Ideal abwiche. Zola hat in dem Maler 
Claude einen ſolchen Künſtler geſchildert, der Roman L'Oeuvre 
bildet in mehr als einer Hinſicht ein Seitenſtück zu ‚Brand‘, 
Claude, Revolutionär wie jeder Reformator, wendet ſich gegen das 
Alte, das Herkömmliche, das Geheiligte, der Tempel der Kunſt iſt 
ihm zu klein, er will die Mauern hinausſtoßen, „plein air“ ſeine 
Loſung, Luft und Licht! Kein Zugeſtändnis, wär' es auch im Ge⸗ 
ringſten, keinerlei „Akkord“ mit dem Vorhandenen: es ſoll weg, 
ganz weg, und das Neue, das Echte, das ihm aufdämmernde 
Große ſoll an die Stelle. Unermüdlich arbeitet er dem lockenden 
Ideal entgegen, ringt und kämpft er dem Ziele zu. Er opfert ſein 
Kind, er opfert ſein Weib: „Im Dienſte der Kunſt verzehrt er 
ſich.“ Setzen wir für Kunſt das Wort Idee — und wir haben die 
Fabel von „Brand“! 

Nietzſche bezeichnet in einem kurzen Beitrag zur Pſychologie 
des Künſtlers als die unumgängliche phyſiologiſche Vorbedingung 
der Kunſt den Rauſch, allen noch ſo verſchiedenen Arten des 
Rauſches die gleiche Erregungskraft beimeſſend. In der Seele des 
Claude nun iſt es nicht irgendein Rauſch im Gefolge großer Begierden 
oder ſtarker Affekte, nicht der Rauſch der Geſchlechtserregung 
oder der Rauſch des Wettkampfs, des Sieges, der Zerſtörung, es 
iſt „der Rauſch des Willens, eines überhäuften und geſchwellten 
Willens.“ Alſo auch in Claude wie in Brand dieſelbe Trieb⸗ 
kraft, die einzige — der Wille! Und der Erfolg ſolchen unbeirr- 
baren Strebens, das Ergebnis des ganzen hier wie dort durch— 
geführten Syllogismus? Zola gibt uns noch die Formel dafür: 
ſolche Feinde jeglichen Kompromiſſes, ſolche Helden des Willens 
zum Ideal — fie gehen zugrunde „etrangles par Pidéal“. 
„Brand“ iſt die Tragödie des Idealismus. 


VII. Brand 177 


Als ſich Ibſen gerade noch rechtzeitig auf einer zutreibenden 
Planke aus dem Schiffbruch gerettet hatte, ſchrieb er im erſten 
Hochgefühl der Freude, des Dankes, des Sieges die ‚Kronpräten- 
denten“. Eine Votivtafel — ein Bild überſtandener Gefahr auf 
leuchtendem Grunde. In ihm ſelbſt hatte Hakon über Skule ge⸗ 
ſiegt, und ſo tat er denn mit beinahe religiöſer Begeiſterung kund, 
daß dem unverzagt Wollenden, allzeit der inneren Stimme Gehor: 
ſamen, das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit werden 
müſſe. Allein, nachdem die erſte Freude geſchwunden war, erſchien 
dem ruhig Betrachtenden, die Jahre der Not noch einmal im 
Geiſte Durchlebenden alles in verändertem Lichte. Hatte ihn wirk⸗ 
lich der Zweifel beinahe zugrunde gerichtet? Niemals war von den 
zwei Seelen in ſeiner Bruſt die lichte der dunklen ganz unter⸗ 
legen; das Überhandnehmen des Zweifels mußte damals die Folge, 
konnte nicht die Urſache feines Hinabgleitens geweſen fein. Die Ur⸗ 
ſache war anderswo zu ſuchen: gerade in dem von ihm verherr⸗ 
lichten, als einzige Rettung geprieſenen idealen Streben, gerade in 
dem beharrlichen Wollen, dem raſtloſen Verfolgen deſſen, was die 
innere Stimme ihm zum Ziele ſetzte. Sei Idealiſt, mache keinerlei 
Zugeſtändniſſe, jet unbeugſam der du fein mußt, und du biſt ver- 
loren. Die ewigen Mächte tragen dich nicht empor, im Gegenteil, 
ſie ſcheinen ſich mit allem übrigen gegen dich zu deinem Unter⸗ 
gange zu verſchwören. Untergang iſt da die Regel, Rettung eine 
zufällige Ausnahme. So entwickelte ſich pſychologiſch der im 
‚Brand‘ durchgeführte Syllogismus, fo entſtand die Dichtung als 
Palinodie zu den „Kronprädenten“. 

Schon in der , Komödie der Liebe“ findet ſich ein Keim zu ſolcher 
Weiterentwicklung des Gedankens vom eingebornen Berufe. Falks 
nicht ausgeſprochener Grundſatz iſt derſelbe wie der von Brand ſo 
oft und ſo nachdrücklich ausgeſprochene: alles oder nichts. Falk 
muß auf Schwanhild verzichten, um Idealiſt bleiben zu können, 
oder, wie er es nennt, Dichter, denn „Dichter iſt jedermann, in der 
Schulſtube, im Parlament, in der Kirche, jeder, ſei er hoch oder 
gering, der bei all ſeinem Tun das Ideal im Auge behält“. Der 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 12 


178 VII. Brand 


in der „Komödie der Liebe“ verſuchte Syllogismus iſt mißlungen, 
denn wenn jemand auf allen andern Gebieten „Dichter“ ſein 
kann, warum — ſo wird mit Recht gefragt — ſollt' er es dann 
nicht in der Ehe ſein können? Ibſen durfte aber nur weiter 
prüfen und einſehen lernen, daß ein ſolcher „Dichter“ nicht bloß 
in der modernen Ehe, ſondern überall, in der Kunſt wie in der 
Politik, wie — in der Kirche mit ſeinem „Alles oder nichts“ un⸗ 
möglich durchdringen könne, und der Grund zu ‚Brand‘ war gelegt. 

Die „Komödie der Liebe“, betont Ibſen wiederholt, ſei auch wohl 
als ein Vorläufer des ‚Brand‘ zu betrachten, ſofern er darin ge⸗ 


ſchildert habe „den in unſern ſozialen Verhältniſſen herrſchenden 


Gegenſatz zwiſchen der Wirklichkeit und der idealen Forderung in 
allem, was Liebe und Ehe betrifft“. 

Die Unvereinbarkeit von Ideal und Leben in komiſcher Form 
zu zeigen, dieſe Aufgabe wurde lange vor Ibſen in einem Meiſter⸗ 
werke der Weltliteratur gelöſt, in der klaſſiſchen Komödie des 
Idealismus, Molieres ‚Miſanthrop“. „Hier ſtellt ſich der 
reine Menſch dar, welcher bei gewonnener großer Bildung doch 
natürlich geblieben iſt, und wie mit ſich ſo auch mit 
andern nur gar zu gern wahr und gründlich ſein 
möchte; wir ſehen ihn aber im Konflikt mit der ſozialen Welt, in 
der man ohne Verſtellung und Flachheit nicht umhergehen kann“ 
(Goethe). In ſeinem Verhältnis zur Geſellſchaft wird das Be⸗ 
ſtreben des Helden nach unbedingter Wahrheit und Gründlichkeit 
— alles oder nichts! — erprobt und erwieſen: 


c'est une folie a nulle autre seconde, 
De vouloir se möler de corriger le monde. 


Dies Verhältnis ift wohl auch das einzige, das fich zu komiſcher 
Behandlung eignete. Wir ſind zu ſehr daran gewöhnt, die Ge⸗ 
ſellſchaftslüge unter die unumgänglichen, ja gebotenen Übel zu 
rechnen, daß nicht ſelbſt der Edelſte nur Lächeln erregt, wenn er 
ſich damit abzufinden verſchmäht, während der reine Idealiſt in 
Kunſt und Wiſſenſchaft, in Politik und Religion wohl ein Fanatiker 
und Wahnſinniger, jedoch nie komiſch erſcheinen wird. Ja eine ſo 


VI. Brand 179 


ernſte Sache iſt es um den Idealismus, daß auch der ‚Mifanthrop‘ 
eine Tragikomödie geworden iſt. Goethe will Inhalt und Be 
handlung des Stückes ſchlechthin tragiſch nennen: „einen ſolchen 
Eindruck hat es wenigſtens jederzeit bei uns zurückgelaſſen, weil 
dasjenige vor Blick und Geiſt gebracht wird, was uns oft ſelbſt zur 
Verzweiflung bringt, und wie ihn aus der Welt jagen möchte.“ 

Künſtleriſches und menſchliches Bedürfnis, geleitet durch das 
ſichere Gefühl des Genius, ließ Moliere den Stoff ergreifen, in 
dem er ſein Inneres „vollkommener und liebenswürdiger“ offen⸗ 
baren konnte denn vielleicht je ein Dichter. Auch Ibſen fühlte ſich 
nachträglich bei theoretiſcher Erwägung ſeines Vorwurfs freier, als 
er es in Wirklichkeit geweſen. So ganz beliebig und zufällig war 
die Wahl gerade des Predigers, ſtatt des Künſtlers oder Politikers 
eben nicht. Sie hatte ihren triftigen praktiſchen und auch ihre 
zwingenden ſeeliſchen Gründe. Den norwegiſchen Dichtern liegt das 
Predigen, wie zu glauben, im Blute! Sie haben meiſt ethiſche Ab⸗ 
ſichten, die ſie manchmal unbeſchadet, öfter jedoch zum Schaden 
ihrer Werke verfolgen, ſie betrachten und betreiben ihr künſtleriſches 
Wirken als Miſſionstätigkeit. Einer ſolchen Auffaſſung der Kunſt 
kann man abhold ſein, allein man darf ſie bei der Würdigung 
nordiſcher Schriften nicht außer acht laſſen. Ibſens geſamtes 
Schaffen iſt dieſer inneren Miſſion gewidmet, nur unterſcheidet er 
ſich als der bedeutendſte Künſtler darin von den meiſten, daß er 
durch ſeine Dramen, nicht in ſeinen Dramen predigt — die 
Lehre in Anſchauung umſetzt. In jenen erſten römiſchen Jahren 
nun hatte ſich ſo viel in ihm aufgeſammelt, was er ſeinen Lands⸗ 
leuten nicht bloß beiſpielsweiſe oder ſymboliſch vorhalten, ſondern 
ausdrücklich und eindringlich ſagen wollte, daß er ſich dazu künſtle⸗ 
riſch eine Kanzel ſchaffen, einen Prediger zum Helden wählen 
mußte. Dann war auch beſſere Hoffnung, auf religiöſem Gebiete 
allgemeines Gehör zu erlangen bei einer Bevölkerung, die damals 
noch nicht ſo leidenſchaftlich Politik trieb wie heute, und die 
literariſche Angelegenheiten „als ſie nicht betreffend“ am Wege 


liegen ließ. Nur in Bezug auf etwas, was den Menſchen über 
12* 


180 VII. Brand 


alles geht, darf man ſo über alle Grenzen gehen. Der Verſuch 
mußte in geheiligtem Bezirke gemacht werden. Nur da konnte der 
Dichter, ohne Argernis zu erregen oder an Teilnahme einzubüßen, 
den Willen bis zur Verrücktheit iſolieren. 

Trotzdem, oder vielmehr eben deshalb, iſt ‚Brand‘ nicht — wie 
etwa Byrons ‚Cain‘ — ein Myſterium, das ſich mit religiöſen 
Fragen als ſolchen beſchäftigt. Das Religiöſe dient nur zum Prüf⸗ 
ſtein, an dem das Gold des echten Willens am beſten bewährt 
wird. Die ganze Fabel iſt und bleibt ein Gleichnis — ſymboliſch, 
exempli gratia. 

2. 

Der religiös⸗kirchliche Stoff iſt aus dem Leben gewonnen. 
Was ſich neuerdings im proteſtantiſchen Norddeutſchland öfter zu⸗ 
getragen, ereignete ſich ſchon einmal in der zweiten Hälfte der 
fünfziger Jahre dort oben in Ibſens Vaterſtadt Skien: daß näm⸗ 
lich ein Geiſtlicher der Landeskirche an dem und jenem Glaubens⸗ 
ſatz, der und jener kirchlichen Verrichtung in ſeinem Gewiſſen 
Anſtoß nahm und lieber Lebensſtellung und Unterhalt aufgab, als 
heuchleriſch zum Scheine weiter zu amtieren. Kurz nach ſeiner 
Ernennung zum Pfarrer in Skien entſchlug ſich der Paſtor Guſtav 
Adolf Lammers, damals ein Mann von ſechsundvierzig Jahren, 
der ſchon eine zwanzigjährige Seelſorgertätigkeit hinter ſich hatte, 
einzelner prieſterlicher Verrichtungen, wie z. B. des Ausſprechens 
der Sündenvergebung, und erbat (1855) von der Kirchenbehörde 
einen Hilfsgeiſtlichen, dem er die ihm bedenklichen Amtshandlungen 
übertragen konnte. Die halbe Maßregel beruhigte indes ſein Ge⸗ 
wiſſen nicht, er gab ein Jahr ſpäter, obwohl ohne Vermögen und 
Vater zweier unverſorgten Kinder, das Amt und damit ein Ein⸗ 
kommen von jährlich 5000 Kronen auf. Und der ſtummen und 
leidenden Widerſetzlichkeit ließ er alsbald eine öffentliche und tätige 
folgen, wodurch er dann auch ſeines Ruhegehaltes verluſtig ging. 
Er ſchied aus der Staatskirche und gründete eine „freie apoſtoliſch⸗ 
chriſtliche Gemeinde“ in Skien. 

Daß wir in dieſem bis zur Selbſtaufopferung kühnen und 


. er — 


VII. Brand | 181 


willensſtarken Manne das Urbild Brands und in feiner agitato- 
riſchen Tätigkeit das Bewegende der Dichtung vor uns haben, dafür 
bürgt uns Ibſens eignes Zeugnis und eine Ausleſe von Beleg: 
ſtellen aus Schriften von und über Lammers. Schon als amtieren⸗ 
der Geiſtlicher rügte er ohne Scheu Unordnungen, Sünden und 
Laſter auch im häuslichen und bürgerlichen Leben. Sein ſtrenges, 
gebieteriſches Auftreten, ſein heftiges Verdammen aller Schwäche 
und Weltlichkeit forderte ebenſoviel Widerſtand, Spott und Hohn 
auf der einen Seite heraus, als ihm auf der andern ſeine 
nimmer müde Sorge für das irdiſche und ewige Wohl jedes Ge⸗ 
meindemitglieds Vertrauen und Hingabe erwarb. Die Abſchieds⸗ 
predigt, die er drucken ließ, erinnert nicht nur im Ton und in der 
Art des Angriffs an manche Strafreden Brands, einzelnen Stellen 
kommt die Dichtung auch im Wortlaut nahe. „Ich bemühte mich“, 
ſagt Lammers, „die Verordnungen unſerer Staatskirche ins Werk 
zu ſetzen oder doch, ſoweit es möglich iſt, die zum Grunde liegende 
Idee, und fühlte, daß es ein Unding war, weil ſie durch Geſetz 
und Zwang das hervorbringen will, was nur zur Erlöſung 
führende Wahrheit werden kann durch die vollkommenſte Frei⸗ 
willigkeit.“ Ein erzwungen befolgtes Gebot, ein erzwungen ge⸗ 
brachtes Opfer kann nichts nützen, betont Brand immer wieder. 
Daß Agnes blutenden Herzens der Zigeunerin das letzte Andenken 
an ihr verſtorbenes Knäblein gibt, genügt ihm nicht. Zweimal 
fragt er, ob ſie es „willig“ gegeben? Und dann erſt ſpricht er: 
Ja, nun haſt du geſiegt. — Die Sakramente ſind nicht für alle 
und jeden, verkündigt Lammers, „ſondern nur für diejenigen, 
die ſich wahrhaft zum Herrn bekehren. Die Unbußfertigen . . 
ſollen keinen Teil daran haben.“ Brand verweigert der eignen 
Mutter auf dem Sterbebett die letzte Wegzehrung, weil ſich die 
Geizige nur in der Todesfurcht von einem Teil ihres Geldes, nicht 
mit bußfertigem Herzen von dem ganzen Mammon trennen will. — 
„Lieber ungetaufte und uneingeſegnete Kinder, lieber ehrliche 
Heiden,“ ruft Lammers aus, „als dem Druck der bürgerlichen Ver: 
hältniſſe nachgeben und die Einrichtungen der Staatskirche be⸗ 


182 VII. Brand 


nutzen, um fürderhin ein Lügner- und Heuchlergeſchlecht groß⸗ 
zuziehen!“ Und Brand, voll Abſcheu vor aller Halbheit, heiſcht 
Ehrlichkeit und Mut, ſei es im Guten, ſei es im Böſen. 

Sei immerhin ein Knecht der Luſt, 

Doch ſei es dann aus voller Bruſt. 

Sei nicht heut dies und morgen das 

Und etwas andres übers Jahr, 


Das, was du biſt, ſei ganz und gar, 
Nicht ſtückweis 


Lammers und ſein dichteriſcher Nachfolger wenden ſich gegen das 
Sonntagschriſtentum. Jener verlangt „Anbetung Gottes im Geiſte 
und in der Wahrheit, an Feiertagen und an Werktagen, während 
der Ruhe und Erquickung wie während der Arbeit im Schweiße 
des Angeſichtes, in der Freude wie in der Betrübnis“; dieſer will 
jede gemeinſte Verrichtung des täglichen Lebens zum Gottesdienſt 
geadelt, will die Lehre im Leben verkörpert ſehen und verdammt 
heftig die herkömmliche Sabbatreligioſität, die nur vor angezündeten 
Altarkerzen betet, die Flagge des Herrn nur am Sonntag aufzieht 
und die Gottesverehrung dann wieder mit den Sonntagskleidern 
ſechs Tage in die Truhe legt. Vor allem aber iſt der Gründer 
der freien Gemeinde zu Skien darin für Brand vorbildlich ge⸗ 
worden, daß er mit ſeinen Anhängern hinauswanderte ins freie 
Feld oder auf die Höhen, um dort Gottesdienſt zu halten: ſchon 
ihm wurde, wie Brand, die Kirche zu klein. 

Aus den „Aſthetiſchen Studien‘ von Georg Brandes iſt in 
vielen Schriften die Behauptung übergegangen, daß Ibſen von 
einem ganz andern Extheologen das Muſter und den geiſtigen 
Gehalt ſeines Werkes empfangen habe. Beinahe jeder entſcheidende 
Gedanke in dieſem Gedichte finde ſich ausgeſprochen bei Kierke⸗ 
gaard, und das Leben des Helden habe ſein Beiſpiel im Leben 
dieſes Mannes. Es ſcheine, als ob Ibſen geradezu nach der Ehre 
getrachtet hätte, Kierkegaards Dichter genannt zu werden. 

Nur die äußere Ahnlichkeit des Kampfes, der ſich gegen eine 
entgeiſtigte Staatskirche richtet, und die Kühnheit, womit er in 


VII. Brand N 183 


beiden Fällen geführt wird, konnte da an Entlehnung denken laſſen. 
Aber jeder entſcheidende Gedanke im ‚Brand‘ iſt voll gewappnet 
aus dem Haupte des Dichters entſprungen, und wer vorurteilsfrei 
prüft, den wird der weſentliche Unterſchied des Rechten belehren, 
auch ohne Ibſens eigne den Vorwurf abwehrende Worte. „Wie 
kann mich ein Mann zu einer Dichtung angeregt haben, der mir 
immer unſympathiſch geweſen iſt?“ äußerte er einmal im Geſpräche 
und wiederholte noch eine Bemerkung, die ſchon H. Jaeger mit⸗ 
teilt: „Kierkegaard war zu ſehr Stubenagitator, Lammers dagegen 
der war gerade ſolch ein Freiluftagitator, wie Brand einer iſt.“ 

Er hatte kaum vier bis fünf Bogen der Schriften Kierke— 
gaards geleſen, ehe ‚Brand‘ entworfen wurde, ein wenig von 
Enten⸗Eller (Entweder⸗Oder“) und einiges aus Ojeblikket (‚Der 
Augenblick). ‚Der Augenblick“ iſt der Geſamttitel einer Reihe von 
Aufſätzen gegen das Staatschriſtentum aus Kierkegaards letztem 
Lebensjahre, nach Art einer Zeitſchrift in neun Nummern ver— 
öffentlicht, die erſte datiert vom 24. Mai 1855, die letzte vom 
24. September, ideenreich, ſcharf und ſchlagend. Dem „Geiſtes— 
menſchen“ (Aands⸗Mennesket), der da dem ſogenannten Chriſten 
als der wirkliche und echte entgegentritt, gleicht Brand in allen 
Punkten — bis auf einen. Aber der eine Punkt zeigt klar die 
verſchiedene Weltanſchauung, aus der dieſe zwei ſcheinbar ähnlichen 
Geſtalten hervorgegangen ſind. Kierkegaard ſagt: Die ſogenannten 
Chriſten gehen hin mit einem Mädchen am Arme und laſſen ſich 
trauen. Ein echter Chriſt des Neuen Teſtamentes würde es anders 
machen. „Wenn der Mann wirklich ſo lieben könnte, daß das 
Mädchen die in Wahrheit einzige und mit der ganzen Leidenſchaft 
der Seele geliebte wäre — ſich ſelbſt und die Geliebte haſſend, 
würde er da von ihr laſſen und Gott lieben.“ Denn „das Chriften- 
tum im Neuen Teſtament beſteht darin, Gott im Menſchenhaß zu 
lieben, im Haß gegen ſich ſelbſt und dadurch gegen andre Menſchen, 
indem man Vater und Mutter haßt und Weib und Kind uſw. — 
der ſtärkſte Ausdruck für die qualvollſte Iſolation“. Brand weiß 
nichts von ſolcher Verneinung des Lebens. Stößt er Agnes von 


184 VII. Brand 


ſich, beſinnt er ſich nur einen Augenblick, ſie zum Altare zu führen? 
Kennt er überhaupt irgendwelche Askeſe, irgendwelche Entſagung 
nur um der Entſagung willen? Die „qualvollſte Iſolation“ 
kommt in der Dichtung nur als Karikatur vor in der Geſtalt des 
Muckers Ejnar. Wo Brand opfert und entſagt, andern Ent⸗ 
ſagung und Opfer zumutet, geſchieht es immer zu einem Zwecke. 
Der Bauer in der Einleitungsſzene ſoll mit Lebensgefahr übers 
Gebirge gehen, weil die Tochter vor ihrem Hinſcheiden nach ihm 
verlangt; er ſelbſt ſteuert im wildeſten Sturm über den Fjord, 
um dem ſterbenden Mörder Troſt zu ſpenden; er opfert ſein Kind, 
er opfert ſein Weib, aber alles im Dienſte der Idee, der er ſein 
Leben gewidmet hat. Solange die Idee kein Opfer fordert, genießt 
er Liebesglück und Vaterfreude ohne den Schatten eines Skrupels. 


Ganz anders geartet iſt darum auch der Haß, zu dem er ſich be⸗ 


kennt; es iſt gleicherweiſe Haß zum beſtimmten Zwecke, der Haß 
des Vaters, der blutenden Herzens die züchtigt, die er liebt. 

Gen dies Geſchlecht doch, ſchlaff und laß, 

Hier iſt die beſte Liebe — Haß. 


(Erſchreckt.) 
Haß! Haß! Ein Weltenkampf, zu wollen 
Dies leichte Wörtchen! Haſſen ſollen! 


Wenn Kierkegaard fragt: „Sind wir (d. h. wir Staatschriſten) 
wirklich Chriſten — was iſt dann Gott?“ ſo gibt Ibſen darauf 
die Antwort in Brands Sarkasmen über den alten Himmelvater, 
daß er den Gläubigen dargeſtellt würde: dünnhaarig, weißbärtig, 
wohlwollend, aber ſtreng genug, unartige Kinder einzuſchüchtern 
uſw. Brands dichteriſch kraftvolle Beſchreibung ſeines Erlöſer⸗ 
helden jedoch, kann die im Geiſt oder im Wort der däniſchen Flug⸗ 
ſchrift irgendwo aufgeſpürt werden? Und ſo iſt es mit vielen 
Stellen. Man mag Anklänge heraushören, Anregungen durch— 
fühlen: ſelbſt gegen des Dichters Einſpruch, denn es gibt auch un⸗ 
bewußt empfangene und unbewußt bewahrte; allein, was Ibſen 
zuletzt geboten hat, trägt ſein ureigenes Gepräge, das Beſte und 
Wertvollſte daran iſt immer von ihm ſelbſt, und zwar gerade da, 


F u Ei) en per na hen: De 


rr 


Rn En ar Sean er hie 111 


VI. Btand ER 


wo er Kierkegaard am nächſten kommt. „Überall, wo es in Wahr: 
heit Ernſt ſein ſoll“, ſagt Kierkegaard, „heißt das Geſetz: entweder 
— oder; entweder ich bin der, der ernſtlich mit der Sache zu tun 
hat, dazu berufen und unbedingt willig, in entſcheidender Weiſe 
zu wagen, oder, wenn das nicht mein Fall iſt, dann beſteht der 
Ernſt darin: daß ich mich ſchlechterdings nicht damit befaſſe. 
Nichts iſt abſcheulicher, niederträchtiger, nichts ſo verräteriſch und 
bewirkt eine ſo tiefe Demoraliſation, wie das: auch ſo ein wenig 
mit in einem Verhältnis ſtehen wollen zu dem, was da ſein ſoll: 
aut — aut, aut Caesar — aut nihil; auch fo ein wenig mit da⸗ 
bei ſein wollen, ſo herzlich wenig, darüber ſchwatzen, und ſich um 
dieſes Geſchwätzes willen vorlügen, daß man beſſer iſt als die— 
jenigen, die ſich mit der ganzen Angelegenheit überhaupt nicht bes 
faſſen.“ Hier haben wir freilich Ibſens Programm, „alles oder 
nichts“, wie er es im ‚Brand‘ — und ‚Peer Gynt‘! — durchführt, 
wie er es auch an der und jener Stelle „nur mit ein wenig andern 
Worten“, mächtig und anſchaulich dartut. Aber dies fein Lebens 
programm, das ſchon in den Jugendwerken überall im Anſatz 
vorhanden iſt, — ſteht es denn nicht ſchon in der Schrift? „Weil 
du lau biſt, und weder kalt noch warm, werde ich dich ausſpeien 
aus meinem Munde.“ Und ſelbſt wenn Ibſen da oder dort ge— 
ſchöpft hätte, das von ihm vollbrachte Verwandlungswunder wäre 
darum nicht weniger ſtaunenswert. 

„Im ganzen genommen“, heißt es in einem Briefe Ibſens, 
„iſt mehr Objektivität in Brand, als man bisher bemerkt hat, und 
darauf tue ich mir, qua Poet etwas zugute.“ Das Gedicht rein 
objektiv auf ſeine poetiſchen Abſichten hin zu unterſuchen, iſt denn 
auch der wichtigere Teil unſerer Aufgabe. 


3. 

Urſprünglich war ‚Brand‘ als epiſche Dichtung geplant. Ob 
in dieſer Form ein Teil niedergeſchrieben und dann erſt dramatiſch 
umgeſtaltet wurde, entzog ſich zu des Dichters Lebzeiten unſrer 
Kenntnis. Der einen oder andern ſchildernden Stelle einen epiſchen 


186 VII. Brand 


Urſprung zuzuweiſen, verhindert die Erwägung, daß in dem für 
eine ideale Bühne gedachten, mehr zum Leſen beſtimmten Drama 
auch der Rahmen, Szenerie und ſzeniſcher Vorgang, poetiſch 
miteinbezogen werden muß, wofür Goethes Fauſt, beſonders der 
zweite Teil, zahlreiche Belege bietet. Nunmehr beſitzen wir die 
lange verſchollenen, von einem däniſchen Sammler zufällig wieder⸗ 
gefundenen Anfänge des epiſchen Brand, verfaßt zwiſchen dem 
Juli 1864 und dem Juli 1865. 

Ein volles Jahr hatte ſich der Dichter gemüht an dieſer 
Arbeit, „mit der es nicht vorwärts wollte“. Da trat er eines 
Tages im Vorübergehen in die Peterskirche — er war aus ſeiner 
Sommerfriſche Ariccia, einer Beſorgung wegen, in die Stadt ge⸗ 
kommen — und „mit einem Male“ ging ihm „eine ſtarke und 
klare Form“ auf für das, was er zu ſagen hatte. Das Begonnene 
wurde über Bord geworfen — vielmehr es wurde ſorgfältig und 
faſt erſchöpfend bis ins einzelne verwertet für den dramatiſchen 
Brand, ja noch für Peer Gynt! — und das Neue ging ihm von 
der Hand, wie nie etwas zuvor. Denn Stoff und Stimmung 
hatten wie ein Alb auf ihm gelegen, ſeit ihn die Ereigniſſe im 
Norden dazu gebracht hatten, in ſich ſelber zu blicken und in das 
heimatliche Leben, und nachzudenken über Dinge, die früher flüchtig 
an ihm vorübergeſtrichen waren, ohne daß er den rechten Ernſt 
für ſie gehabt hätte. In Ariccia herrſchte ein geſegneter Friede; 
keine Bekanntſchaften; er las nichts anderes als die Bibel —: „die 
iſt kräftig und ſtark“. Binnen weniger als drei Monaten war das 
dramatiſche Gedicht vollendet. 

„Stoff aus der Gegenwart, ernſter Inhalt — keine Komödie 
der Liebe.“ Es galt eine Abrechnung des Dichters mit ſeinem 
Volke und ſich ſelbſt. Die Flucht ins Ausland hatte, zu ſeinem 
Beſten, jo manches in ihm „unterſt zu oberſt gekehrt“. Er ſah 
jetzt die ganze hohle Verlogenheit des ſogenannten öffentlichen 
Lebens zu Hauſe, aber zugleich die Unſicherheit, Unklarheit, das 
Unzuſammenhängende des eignen Innenlebens. Daheim war er 
furchtſam geweſen, ſolange er mitten in der Herde ſtand, im 


VII. Brand 187 


feuchtkalten Knäuel, und das Gefühl hatte von ihrem häßlichen 
Lächeln hinter ſeinem Rücken. Dann gab er ſich anders in ſeinem 
Schaffen, anders der Welt gegenüber, und ſo wurde auch ſein 
Schaffen nichts Ganzes. Dies beklemmende, ſchier körperliche Un⸗ 
behagen — das ſich nach Jahrzehnten noch bei jedem Beſuch in der 
Heimat wiederholte — war nun freiem freudigem Kampfesmut 
gewichen. Er fühlte einen „Kreuzzugsjubel“ in ſeiner Bruſt, und 
Gott ſollt' ihn ſtrafen, wenn er um der Dichtergage willen nur 
eine Zeile änderte, — wie ſie den Storthingsmännern auch 
ſchmecken möge, dieſen Seelen in Taſchenformat! Lieber ein 
Bettler bleiben lebenslang. „Kann ich nicht ich ſelbſt ſein in dem, 
was ich ſchreibe, ſo iſt das Ganze Lüge und Humbug, und davon 
hat unſer Land genug, auch ohne noch Extragagen dafür zu zahlen.“ 

Die epiſche Darſtellungsart wieder aufzugeben, nötigte alſo 
den Dichter, der nicht ruhig beſchauen und ſchildern wollte, ſondern 
„raſen und aufräumen“, das Bedürfnis nach dramatiſch-epigram⸗ 
matiſcher Kürze, nach dem unmittelbar lebendigen Wort, nach der 
Wirkung aufeinander treffender Gegenſätze. Einer ſtrengeren, 
bühnengemäßen Faſſung aber wollte ſich der Stoff, wollte ſich die 
Stimmung des neu Befreiten nicht fügen. So viel als möglich 
Raum, ſo wenig als möglich Zwang! Die Freude an der Freiheit 
hat die freie, fauſtartige Faſſung der beiden nächſten Werke ‚Brand‘ 
und ‚Peer Gynt' entſchieden. 


Auf wehendem Banner die Inſchrift ‚Ereelfior‘ zieht in den 
Schatten ſinkender Nacht ein Jüngling des Wegs durch ein Alpen⸗ 
dorf, empor den ſchimmernden Gipfeln entgegen. Zur Einkehr 
laden die traulich erleuchteten Wohnſtätten; liebeverheißend ertönt 
ihm der Jungfrau Gruß, warnend vor Sturm und Gießbach und 
Lawine des Alten Stimme; ſeine einzige Antwort: Excelſior! Bei 
Tagesanbruch finden ihn die Brüder vom St. Bernhard erſtarrt 
im Schnee, das Banner noch feſt umklammernd. 


Im kalten Dämmergrau, vor Tag, 
Leblos, doch verklärt der Jüngling lag, 


188 VII. Brand 


Und hoch vom Himmel, ruhig und fern, 
Eine Stimme fiel, wie ein fallender Stern: 
Excelſior! N 

Statt Geſtalten und Begebenheiten, die lediglich um eines zu 
erratenden Sinnes willen beſtehen und Wert haben, wie in dieſem 
Gedichte Longfellows, hat Ibſen Charaktere und Handlungen er⸗ 
ſonnen, die um ihrer ſelbſt willen Teilnahme finden, zugleich aber 
allvorbildlich, allmenſchlich — ſymboliſch. Kein unbeſtimmt⸗viel⸗ 
deutiges Excelſior die Loſung des Helden, ſein Ziel klar wie ſein 
Weg, beide gebieteriſch ihm vorgezeichnet durch das eigene Weſen. 

Brands Mutter hat einſt die Liebe zum armen Käthnerſohne 
gewaltſam in ihrem Herzen unterdrückt, um der Werbung des 
wohlhabenden bejahrten Freiers Gehör zu geben. In ſeiner ur⸗ 
ſprünglichen Außerung gehemmt, verſiegte das Gefühl vollends in 
der Ehe mit dem ungeliebten, erwerbgierigen Mann, und die Luſt 
am Beſitze wurde zum zähen, unermüdlich zuſammenſcharrenden 
Geiz. Der ſtarke Wille, der fähig iſt, ſich alles zu verſagen, er⸗ 
ſcheint dem Sohne vererbt, doch in ihm wieder mit gleich ſtarkem 
Gefühle gepaart und deshalb nicht auf ein ſelbſtſüchtiges, ſondern 
auf ein edles Ziel gerichtet, auf das Heil der Geſamtheit. Freudlos 
und freundlos aufgewachſen in eng⸗düſterer Gebirgseinöde, als 
Kind ſchon der Mutter entfremdet, die er unter der Leiche des 
Vaters im Bette nach verborgenem Geld wühlen ſehen, dann als 
Jüngling wieder einſam unter lebensfrohen Studiengenoſſen aus 
dem ſchönen offenen Süden des Landes, iſt Brand durch eigne 
Erziehung ein unbeugſamer Charakter geworden, ein Kämpfer und 
Bezwinger, ſelbſt fertig, darum hart im Urteil, ſtreng im Fordern, 
ohne Kenntnis menſchlicher Bedürftigkeit, ohne Verſtändnis menſch⸗ 
licher Schwäche. Wie Vater und Mutter, drängt er eine Überfülle 
von Energie aufſpeichernd in ſich zuſammen und richtet ſie auf 
einen Punkt, blind für alles andere. Außerſter Egoismus und 
äußerſter Altruismus, ſo verſchieden im Ziel, ſo merkwürdig ähn⸗ 


lich als pſychiſche Phänomene. 
Gleich dem Jüngling in ‚Ereelfior‘, auf lebensgefährlicher 


VI. Brand | 189 


Wanderung über Gebirge, tritt uns Brand zuerſt entgegen. Dichter 
Nebel verbirgt die Wegſpuren, Regenwetter unterwäſcht den 
Gletſcherrand, der führende Bauer warnt und mahnt und will als 
verantwortlicher Geleitsmann endlich zur Umkehr zwingen; Brand 
wirft ihn mit ſtarker Fauſt in den Schnee und geht fürbaß. Den 
Bauern hält feige Furcht um ſein Leben zurück, ob ihn ſchon die 
Pflicht zur ſterbenden Tochter riefe; angeborener Mut und Ver⸗ 
achtung aller Zaghaftigkeit treibt Brand vorwärts, wo er, wenn 
es auch nicht um Tag und Stunde eilt, auf dem Wege des Be⸗ 
rufes ſchreitet. So vertrauen Männer, die ſich auserwählt fühlen, 
ihrem Gott oder ihrem Glück; vermeſſen oder tollkühn nennen es 
die andern. 

Die Sonne bricht durch den Nebel, und ein fröhlich ſich 
neckendes Liebespaar weckt den Wanderer aus ſeinem Sinnen über 
die willenloſe e des Menſchen. 


Ejnar. 
Agnes, mein lieblicher Schmetterling, 
Spielend erhaſch ich dich wieder; 
Aus kleinen Maſchen flecht' ich ein Garn, 
Und die Maſchen ſind meine Lieder! 


Agnes 
wRust rücklings vor ihm her und entſchlüpft ihm ſtets aufs neue). 
Bin ich ein Schmetterling zierlich und zart, 
Laß mich nippen, wo Tautropfen hangen; 
Und biſt du ein Knab', der zu ſpielen begehrt, 
So ſollſt du mich jagen, nicht fangen! 


Ejnar. 
Agnes, mein lieblicher Schmetterling, 
Nun hab' ich geflochten die Maſchen; 
Nun hilft dir nimmer dein Schweben und Fliehn, 
Das Netz ſoll dich Flatternde haſchen. 


Agnes. 
Bin ich ein Schmetterling, jung und fein, 
Wird leicht wohl die Flucht mir gelingen; 
Doch fängſt du mich unter des Netzes Geſpinſt, 
So rühre nicht an meine Schwingen! 


190 VII. Brand 


Ejnar. 

Nein, ſorglich auf Händen heb' ich dich auf 

Und verſchließe dich ſicher im Herzen; 

Da ſollſt du ſpielen dein Leben lang. 

Dein Leben lang ſpielen und ſcherzen. 
Singend und tanzend nähern ſich die beiden unvermerkt dem Ab: 
grund: ſie ſtürzten hinab, rettete ſie Brands Zuruf nicht im letzten 
Augenblick. Unerſchreckt lauſchen die Sorgloſen der Warnung. 
Gott iſt ſo gut gegen ſie, er wird es immer ſein, ein Leben voll 
eitel Luft und Sonnenſchein liegt vor ihnen, ein ewiges Hochzeitsfeſt. 
Von dieſen Kindern der Freude, die mit der Redſeligkeit des Glückes 
ihm gleich ihr Herz auftun, will ſich Brand mit kurzem Gruß ent⸗ 
fernen, da erkennt Ejnar, der Maler, einen Schulgenoſſen in ihm 
und fordert nun auch Rede und Antwort. Brand iſt Geiſtlicher, 
aber an keine Stelle gebunden, und jetzt auf dem Wege nach ſeiner 
nahegelegenen Heimat — „und weiter“. Von den Lebensverhält⸗ 
niſſen wird Ausreichendes mitgeteilt, die Handelnden als wirkliche 
Menſchen der Gegenwart erſcheinen zu laſſen, nirgend aber ſo viel, 
daß die großen ſymboliſchen Umrißlinien geſtört würden. Als 
Realiſt vermeidet Ibſen weder die Anrede „Sie“, noch die Er⸗ 
wähnung des Dampfſchiffes u. dgl., aber der Realismus iſt hier 
nicht unbeſchränkt herrſchend wie bei Rembrandt oder Tolſtoi, 
ſondern dienend, einem idealiſtiſchen Stilgeſetz untergeordnet wie 
bei Dürer und Shakeſpeare. Mitgeadelt und mitverklärt in alles 
erhebender Harmonie, gibt das Werktäglich⸗Lebenswahre dem Ge 
dicht eine Kraft und Dauer der Wirkung, vor der Dichtungen mit 
gleichmäßig geſteigerter Redeweiſe, mit durchaus bewahrter 
„Poeſie“ des Inhalts und der Sprache, wie Byrons Manfred, 
phantomartig verblaſſen. 

Ejnars leichter Sinn und der wiederholte Hinweis auf Gottes 
Güte reizen Brand, aus ſeiner Zurückhaltung zu treten. Jenen 
ewig milden und nachſichtigen Familiengott der Weltchriſten, unter 
dem es ſich ſo bequem lebt, ins Grab zu legen, das eben iſt ſein 
Ziel und ſeine Aufgabe. Er iſt kein Mucker, kein „Predigthengſt“, 
ja kaum weiß er, ob er ſich einen Chriſten nennen darf. Nicht 


EIER WERE I EEE 


VII. Brand 191 


dem Dogma und der Kirche gilt ſein Streben, denn die ſind in 
der Zeit entſtanden, ſo mögen ſie wohl mit der Zeit vergehen. 
An unſeliger Halbheit krankt das ganze Geſchlecht, zu ſchwach zum 
Guten und nicht ſtark genug zum Böſen, kleinlich ſeine Vorzüge 
wie ſeine Fehler. Aus dieſen Seelenſtümpfen, dieſen Häuptern, 
dieſen Händen ſoll abermal nun ein Mann erſtehen, in dem der 
Herr ſein größtes Werk wieder zu erkennen vermag, feinen Spröß⸗ 
ling Adam, jung und ſtark. Zu ſolcher heilenden Erneuerungstat 
fühlt Brand Kraft und Beruf in ſich, er ſchaut Gott im eignen 
Bild und Gleichnis: einherbrauſend wie der Sturm, jung wie 
Herkules, in Feuerflammen gewaltig wie er vor Moſes ſtand auf 
Horebs Berg, wie er die Sonne hemmte in Gideons Tal und 
Wunder wirkte ohne Zahl. Brand iſt eine urgermaniſche Geſtalt, 
nahe verwandt den alten Sachſenrecken, denen der Dichter des 
Heliand den chriſtlichen Erlöſer zum Erlöſerhelden umſchaffen 
mußte, zum Häuptling und Heerführer. 

In dreifacher Form begegnet ihm das Feindliche, Schädliche 
auf dieſer Gebirgswanderung als Schlaffſinn (slapsind), als 
Leichtſinn (letsind) und noch als Wahnſinn (eigentlich Wild— 
ſinn, vildsind). Das Zigeunermädchen Gerd läuft ihm über den 
Pfad; ſie ſchleudert Steine nach einem eingebildeten Habicht, von 
dem ſie ſich überall verfolgt glaubt. Gerd gewinnt erſt weiterhin 
dichteriſche Bedeutung, wenn ſie menſchliche Bedeutung für Brand 
gewinnt, wenn er in ihr das lebendige Zeichen einer zu ſühnen⸗ 
den Schuld — die Tochter jenes Jünglings erkennt, den ſeine 
Mutter einſt verſchmäht und in ein zügelloſes Leben mit den 
Zigeunern getrieben. Hier, am Ende der erſten „Handlung“, wo 
wir noch nichts von dem geheimnisvollen Bande wiſſen, das ſie 
mit ihm verknüpft, berührt die Gleichſtellung des Wahnſinns mit 
Schlaffſinn und Leichtſinn, der unverſchuldeten Geiſteskrankheit mit 
ſelbſtverſchuldeter Krankheit des Willens, und Brands Beſchluß, 
dieſe „Tripelallianz“ mit den nämlichen Waffen zu bekämpfen, fo 
mittelalterlich wie befremdend. 

Von der Höhe des Berges ſchon hat Brand bangen Herzens 


192 VII. Brand 


hinabgeſehen auf die ſonnenloſe Stätte ſeiner Kindheit in der 
Felſenkluft am düſtern Fjord, und Mut und Macht iſt ihm ent⸗ 
wichen im Gefühl der Zuſammengehörigkeit mit den armſeligen 
Erdenſklaven da unten. Nun tritt er zu ihnen, die, von Hungers⸗ 
not heimgeſucht, am Werktag vor der Kirche verſammelt ſind, 
knappe Spenden aus Staatsmitteln entgegen zu nehmen. Der An⸗ 
blick des Elends gibt ihn ſich ſelbſt zurück; die Drangſal zum 
Segen zu wenden, iſt, was ihm obliegt. Ejnar und Agnes ver⸗ 
teilen ihr Letztes, er aber verweigert jegliche Hilfe. Gutes meint 
der Herr den in eintöniger Frone ums tägliche Brot ſtumpf Ge⸗ 
wordenen, mit einer Zuchtrute will er ihren ſchwachen Willen auf⸗ 
peitſchen, daß ſie ſich ermannen zum Kampf und zum Glauben 
an den Sieg. Wenn die Not das Volk nicht adelt, iſt es der 
Erlöſung nicht wert. Wie Hohn klingen ſolche Worte den Hun⸗ 
gernden, und drohend erheben ſich ſchon die Hände, da zeigt ihnen 
die kühnſte Tat ſein hilfsbereites Herz und echte Mannesart. Und 
zugleich enthüllt ſich in der Stunde der Gefahr ein Frauencharakter 
dieſes Mannes würdig — Agnes. 

Jenſeit des Fjords hat ein Vater ſein Kind erſchlagen, um 
es nicht länger leiden zu ſehen, und dann vor Entſetzen Hand an 
ſich ſelbſt gelegt. Er „kann nicht leben, wagt nicht zu ſterben“ 
ohne prieſterlichen Zuſpruch. 

Aber der Sturm tobt auf dem Waſſer und verwehrt die Über⸗ 
fahrt. Brand löſt ohne Zaudern das Boot; er bedarf eines Helfers, 
Schöpfkelle und Segel zu handhaben, während er ſteuert. Alle 
weichen zurück, auch Ejnar, auch des Unglücklichen Weib, das die 
Botſchaft gebracht. Da erbietet ſich Agnes und ſtößt mit ihm vom 
Lande. Auf Ejnars verzweifelte Warnung ruft ſie zurück: „Hier 
ſind drei an Bord!“ 5 

Bei der erſten Begegnung mit Brand im Hochgebirge iſt 
Agnes ein fröhlich plauderndes Kind, über ihre Seele hat noch 
kein trüber, kein ernſter Gedanke ſeinen Schatten geworfen. Vor 
Brands ſtrafender Rede erſchauert ſie und ſchmiegt ſich ſtumm an 
den Verlobten. Wie verwandelt iſt ihr danach die Welt, die 


VII. Brand 193 


Sonne untergegangen, die Luſt zu ſpielen vorbei. Ein neues Leben 
wogt in ihrem Innern, Gedanken und Gefühle, angeregt und be= 
herrſcht von der hohen Geſtalt, die noch zu wachſen ſchien bei den 
mächtigen Worten. Schon hat ſich eine unüberbrückbare Kluft auf: 
getan zwiſchen ihr und Ejnar; ſie bemerkt es erſt am Ufer des 
brandenden Fjords, wo ſie hohen Sinnes ihn der edlen Tat weihen 
will und feiger Eigennutz ihr antwortet. Gelöſt von allen Banden 
ihres früheren Lebens ſitzt ſie furchtlos dann im ſturmgetriebenen 
Boote, mit ſtillen Augen den Stimmen der Zukunft lauſchend. 
Und nach beſtandener Fahrt, vom Lager des verſöhnt Geſchiedenen 
kommend, findet Brand die Schweigſame am abendlichen Geſtade 
wieder in ſich verſunken. 
Brand. 


So mit ſinnender Gebärde 
Folgſt du des Fjordes Krümmen? 


Agnes 

(ohne ſich zu wenden.) 
Nicht des Fjordes, nicht der Erde, 
Die vor meinem Blick verſchwimmen. 
Gen die Lüfte, klar umriſſen, 
Seh' ich eine Welt ſich ründen; 
Meere wogen, Flüſſe münden; 
Sonnenblitz aus Finſterniſſen; 
Seh' um Gipfel, dunſtbedeckte, 
Flammen lohen und verſchwinden; 
Sehe Wüſten, weit geſtreckte: 
Palmen ſtehen hoch am Rande, 
Werfen, ſchwankend in den Winden, 
Dunkle Schatten auf dem Sande. 
Leben nirgend noch zu finden; 
Eine Welt iſt's im Entſtehen. 
Und ich hör's in Tönen wehen 
Und ich höre Stimmen künden: 
Jetzo mußt du überwinden 
Oder mußt zugrunde gehen. 
Tu das Werk, dir aufgegeben: — 
Dieſe Welt ſollſt du beleben! 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 13 


194 VI, Brand 


Brand 
(Hingeriffen). 
Sag’, was mehr du ſiehſt — 
Agnes 
(legt die Hand auf die Bruſt). 
ö Hier innen 
Fühl' ich Kräfte heimlich quellen, 
Fühl' ich Fluten ſteigend ſchwellen, 
Seh' ich neuen Tag beginnen. 
Mächtig will das Herz ſich weiten, 
Eine Welt, nach allen Seiten — 
Und ich hör's mir aufgegeben: 
Dieſe Welt ſollſt du beleben! 

Männer der Gemeinde ſind Brand ins Haus des Toten nach⸗ 
gegangen mit der Bitte: Werde du unſer Prieſter! Er hat es 
abgelehnt; ihn verlangt nach Rittertaten des Geiſtes auf würdigem 
Schauplatz vor den Augen der Welt. Der Strom will ſich brau⸗ 
ſend ſeinen Weg bahnen durch die Lande zum ewigen Meer! 

Sollt' er in Sumpf und Moor verrinnen, 
Er wird als Tau das Meer gewinnen — 


iſt ihm erwidert worden, und des ſchlichten Mannes Rede hat 
an ſein Herz gepocht. Nun pocht Agnes ſtärker an, und klar und 
klarer wird ihm: nicht nach außen, nach innen geht der Weg, da 
liegt die neu zu ſchaffende Gotteswelt, da wird der neue Adam 
geboren. Aber ein dritter Mahnruf erſt verſcheucht für immer 
die lockenden Siegesträume und entſcheidet ſein Bleiben und Wirken 
auf ſteinigem Heimatboden: die Seelennot der Mutter. Noch kann 
ſie das ſtrenge Gebot des Sohnes nicht erfüllen: Alles abwerfen 
und nackt ins Grab ſteigen! Doch vielleicht in der Todesangſt 
ſendet ſie reuig nach ihm: dann ſoll ſich 1 welke, kalte Hand 
nicht vergebens ausſtrecken. 

Bis zur Stunde iſt er ſich keines wärmeren Gefühles für 
Agnes bewußt geworden. Junges Mädchen, junges Weib, redet er 
ſie an mit der abweiſenden Würde eines jugendlichen Propheten. 
Tiefer indes als er weiß, iſt ihr Wort und Weſen bereits in feine 


VII. Brand 195 


Seele gedrungen, Starres lockernd, Schlummerndes weckend, wie 
zuweilen im Frühling ſchon die erſten Blumen ſprießen, wenn die 
Eisdecke noch liegt. Solcher Mannescharakter, in ſeinem Berufe 
ſich ſelbſt genug, kennt kein Sehnen und Wünſchen, wie ſehr auch 
der mildernden Ergänzung bedürftig. Notwendig aber ſtrebt die 
weibliche Natur in Agnes zu dem ergänzenden Manne hin, denn 
ihr fehlt zur Ausübung ihres Berufes Ziel und Beſtimmung. 
Auf Ejnars flehentliche Bitten, ihn zu begleiten oder heimzukehren 
zur Mutter, verweigert ſie es, ſich zu trennen „vom Lehrer, Freund 
und Bruder“. Kein Wort von Liebe! Vielmehr ſchildert ihr 
Brand ſein künftiges Leben in der Halbnacht ragender Bergwände, 
erklärt faſt drohend ſein Feſthalten an der Forderung: Alles oder 
nichts! bis zum äußerſten, bis zum Tode. Er entfernt ſich, ihre 
freie Entſchließung nicht zu beirren — ſie folgt ihm 

In die Nacht — bis in den Tod! 

Drüben dämmert Morgenrot! 

Drei Jahre ſpäter beginnt die dritte Handlung. Über die Zeit 
des Glückes — einen bloßen Aufſchub der Prüfung — geht der 
Dichter hinweg. Weib und Kind haben die Schätze gehoben, die 
von früher Jugend her in Brands Gemüte verborgen und ver— 
ſchüttet lagen. Er iſt empfänglich geworden für die Freuden, aber 
auch für die Qualen mitfühlender Liebe. Auf ihn ſelbſt, der ſich be⸗ 
rufen glaubt, ein ſchwaches Geſchlecht mit ſtrafendem Geißelſchlag 
zu retten, wird jeder Streich zurückfallen, den er führen muß. 
Nicht länger ſteht er gewappnet gegen die Pfeile und Schleudern 
des Geſchickes: er kann in ſeinen Lieben getroffen werden. Das 
Kind kränkelt in der eiſigen Felſengruft, noch aber wird Brands 
Beſorgnis abgelenkt durch die Angſt um das Seelenheil ſeiner 
Mutter. Es geht mit der Greiſin zu Ende. Warte nicht auf Bot⸗ 
ſchaft! bittet Agnes, drängt der alte Doktor, der ſelbſt, ohne Aus⸗ 
ſicht auf Entgelt, im Schneegeſtöber zu der Kranken übers Ges 
birge geeilt iſt. Brand darf nicht, er darf der Mutter nicht er— 
laſſen, was er jedem zum Geſetz macht: Alles oder nichts! Als 


Jeſus auf dem Olberg in Todesſchrecken flehte: nimm dieſen Kelch 
| 13* 


196 VII. Brand 


von mir, willfahrte ihm der Vater und nahm den Kelch von 
ſeinem Munde? Da naht der Bote: die Sterbende bietet ihr halbes 
Gut fürs Sakrament. Ein zweiter trifft ein: neun Zehntel! „Nein, 
reiner Tiſch für Wein und Brot!“ Tränen erſticken ihm die 
Stimme, doch wie könnt' er anders antworten? 

Zuerſt hat nur Agnes ſchüchternen Einwand gewagt gegen 
ſeine zu hohen Forderungen. Kräftiger ſpricht der humane Arzt, 
am kräftigſten und deutlichſten nun der praktiſche, nüchterne Vor⸗ 
ſteher des Bezirks, der Vogt. Ein Pfarrer, der zu gleicher Zeit 
pflügen und mähen will, der Ideal und Leben, fürs Himmelreich 
ſtreiten und Kartoffel bauen, als eines hinſtellt, der taugt nicht 
unter dies arme Gebirgsvolk, der ſuche ſich ein größeres Arbeits⸗ 
feld. Brand bleibt gegen alle eignen Sinnes und kündigt der 
ſchädlichen, jeden Aufſchwung hemmenden Tätigkeit des Vogtes 
den Krieg an. Die Nachricht vom unbußfertigen Tod der Mutter 
erſchüttert ihn, aber feſtigt nur ſeinen Entſchluß: in ſühnender 
Wirkſamkeit auf der Stätte auszuharren, wo die Mutter geſündigt. 
In dieſem Augenblick ruft ihm der Arzt zu: Beſchick dein Haus 
und ziehe fort! Das zarte Leben deines Kindes welkt unter dem 
Hauch vom Pole: nur ſchleunige Flucht in einen mildern Himmels⸗ 
ſtrich vermag die Gefahr abzuwenden. 

Im erſten Schrecken iſt Brands einziger Gedanke: Hinweg aus 
dem Bereiche des Todes! Aber, wie er dreimal gemahnt worden 
zur Nachſicht gegen andere, ertönt jetzt dreimal der Weckruf zur 
Strenge gegen ſich ſelbſt. Der alte Doktor, menſchlich-milden 
Sinnes und voll Mitleid mit Agnes, kann doch nicht umhin, dem 
„Himmelſtürmer“ vorzuhalten, wie ſchnell ſein Mut gewichen, ſein 
„Alles oder nichts“ vergeſſen ſei. Entſetzt fährt Brand auf, ein 
plötzlich Erweckter: die Stunde des Opfers iſt gekommen. Ein 
Mann ſeiner Gemeinde ſpricht die zweite Warnung aus: Du haſt 
mich aus der Tiefe gezogen, ohne dich ſink' ich verloren zurück, 
reiſe, wenn du kannſt! Das war der Menſchen Stimme; einer 
Mahnung des Himmels gleichen die Reden der wahnſinnigen Gerd. 
Der Prieſter iſt fort, jubelt ſie, jetzt ſteigen all die häßlichen Trolle 


VII. Brand 197 


und böſen Geiſter, die er verſcheucht hat, wieder aus den Tiefen! 
Und da Brand ihre Phantaſien „Abgottsweiſen“ nennt, zeigt ſie 
hin auf das Kind, das Agnes wohl eingehüllt zur Reiſe im Arme 
hält: „Abgott? Mann, hier ſiehſt du einen!“ 

Der Gequälte fleht Agnes an, den ſchrecklichen „Kelch der 
Wahl“ von ihm zu nehmen. Wie vermöchte ſie es als Mutter? 
— als Gattin iſt ſie bereit zu gehorchen. „Geh den Weg, den Gott 
dir gebot!“ Da deutet er auf die verlaſſene Schwelle: dorthin! 
Das Kind wie ein Opfer hoch gen Himmel emporhebend, trägt es 
Agnes ins Haus zurück. Brand ſinkt in Tränen auf die Vortreppe 
nieder: „Jeſus, Jeſus, gib mir Licht!“ — und oben an der Fels— 
wand verglimmt der letzte Strahl der untergehenden Sonne. 


4. 

Warum — ſo fragt der gemeine Menſchenverſtand — ſendet 
Brand nicht Weib und Kind allein ſüdwärts? Hätte ihn der 
Dichter wenigſtens nicht kurz vorher durch das mütterliche Erbe 
wohlhabend werden laſſen, könnt' er das koſtbare Leben nur durch 
Aufgeben des Berufes retten, ſo würde der Pflicht zwar ein großes, 
aber ein begreifliches Opfer gebracht. Der gemeine Menſchen⸗ 
verſtand iſt unwiderlegbar in feinem Bereich: nur dürfte die 
Tragödie nicht in dieſem Bereiche liegen. Grundverſchieden von 
dem armen, pflichtgetreuen Helden des erbaulichen Rührſtücks iſt 

der tragiſche Held. Er muß können, aber nicht wollen, — nicht 
wollen können! 

Paſtor Manders in den ‚Gefpenftern‘ unterläßt es, eine 
fromme Stiftung gegen Feuersgefahr zu verſichern, weil ihm das 
als Mangel an Gottvertrauen ausgelegt werden möchte. Die Zus 
verſicht, die Manders nur vorſchützt, iſt Brands Lebensanſchauung 
und Lehre: vertraue ganz oder gar nicht, gib alles oder du haft. 
nichts gegeben! In dem Augenblick, wo er das Kind fortſendet 
— einen Teil der Gabe ſichert, ausbedingt, — wird er ſeinem 
Berufe abtrünnig, ſchlimmer noch, er wird zum Heuchler, unerbitt⸗ 
lich gegen andere, gegen die eigne Mutter, feig und nachgiebig 


198 VII. Brand 


gegen ſich ſelbſt. An Flucht konnt' er in der erſten Wallung des 
Gefühles wohl denken, nicht aber an Ausflucht. Ja oder nein iſt 
ſein Weſen, das Weſen des Idealismus, der Sinn der Dichtung. 

Brand hört die Stimme ſeines Gottes: dieſen deinen eigenen 
Sohn, den du lieb haſt, ſollſt du mir darbringen, und er gehorcht 
gleich dem Erzvater des alten Bundes. Das bildet den Höhepunkt 
des Dramas, den Schluß der dritten Handlung; beim Beginn der 
vierten iſt das Kind geſtorben und begraben. Weiſe übergangen 
wird die Sterbeſzene, die nicht dramatiſcher wirken könnte als die 
des Entſchluſſes. Wie jedes der Gatten das Unvermeidliche hin⸗ 
genommen, das ſpiegelt ſich nun in ihrer Stimmung und Haltung. 

Den willensharten Mannescharakter hebt, ihn hält im Schmerze 
das Bewußtſein erfüllter Pflicht, ein Gefühl ſelbſtſicherer Ruhe in 
der Notwendigkeit. Brand iſt nicht gebrochen, eher geſtärkt durch 
das Opfer, überzeugter denn je von dem Evangelium des Willens. 
Agnes zu ſtützen und zu tröſten, das tröſtet und ſtützt ihn zugleich 
ſelbſt. Und er kann ſeiner Wirkſamkeit nachgehen wie vor Alfs 
Tode, ſich ablenken durch Arbeit, Mut und Kraft erfriſchen im 
Kampfe mit Sturm und Wogenſchwall auf gefährlichen Berufs⸗ 
wegen. Anders die Frauennatur, die Mutter. Agnes hat ſich 
nicht aus eignem Antrieb das Übermenſchliche auferlegt, es iſt ihr 
auferlegt worden; ſie fühlt nur die Bürde, nicht die Genugtuung. 
Durch den Verluſt ihres Kindes iſt ihr Wirkungskreis eingeengt 
auf die ſtummen häuslichen Geſchäfte, ihre Tätigkeit des Beleben⸗ 
den, Erquickenden, Mühelohnenden beraubt. Tagelang einſam im 
öden Pfarrhauſe neben dem verſchneiten Friedhof, der ihr Liebſtes 
herbergt, — wie kann ſie vergeſſen, wie ſollen ihre Blicke und 
Gedanken nicht immer wieder zu dem kleinen Hügel zurückkehren? 

In dem nicht zu ſtillenden Schmerze der jungen Mutter birgt 
ſich eine neue Gefahr, eine neue Prüfung. Wozu hat er Agnes 
dem eitlen Leben der Freude entrückt, wozu ihrem Gehorſam das 
Schwerſte aufgebürdet, wenn ſie halben Weges die Laſt abwirft, 
zurückgewandt zu dem unwiderruflich Verlorenen? Dann weh ihnen 
beiden, dann war das Opfer zu koſtbar und zu groß, denn es 


VII. Brand | 199 


war eitel. Heiß und heimlich betet Brand zu. dem Herrn, ihm 
zwiefach zu tragen zu geben, nur barmherzig zu ſein gegen ſie. 
Am Weihnachtsabend, wo die Erinnerung an das Vorjahr allen 
Schmerz, alle Sehnſucht wach ruft, naht abermal die Stunde 
der Entſcheidung. Für Agnes iſt es nicht die Leiche, die draußen 
unter dem Hügel ruht, es iſt das Kind ſelbſt, Alf, der frierend 
und verlangend aus dem dunklen Grabe herüber blickt in die helle, 
warme Stube, und eifrig wiſcht ſie die Scheiben und ſtellt die 
Weihnachtslichter ans Fenſter, daß der Schein hinausfällt über 
die Grabſtätte ihres Lieblings. War es ſchwer für Brand, hart 
zu ſein gegen ſeine habſüchtige Mutter, die er nie geliebt hatte, 
wie viel ſchwerer nun, ſtandhaft zu bleiben gegen das einzig ge— 
liebte Weib, „den grimmen Habicht des Geſetzes herabzuſenden“ 
auf dies wunde Herz. Aber das Wort Abgott tönt ihm noch 
immer warnend durch die Seele: der Laden muß geſchloſſen werden. 
In Agnes regt ſich die Verzweiflung. Alles iſt zu groß für ſie, 
Brand, ſein Wille, ſeine Forderung, ſein Ziel; der ragende Fels 
über ihr und der hemmende Fjord vor ihren Füßen; der Schmerz 
und die Sehnſucht und das Dunkel und der Streit — alles. 
Klar mit einem Male erſchließt ſich ihr das geheimnisvolle Wort 
der Schrift: „Wer Jehova ſchauet, ſtirbt.“ In aufwallender Liebe 
birgt Brand ihr Antlitz an ſeiner Bruſt, daß ſie nicht ſchaue, — 
doch nur einen Augenblick. Dann geht er raſch von ihr in ſeine 
Stube, und Agnes hört ihn laut leſen. Gewaltſam will er die 
flehende Stimme in der eignen Bruſt übertäuben. 

Ohne Troſt läßt er die arme Mutter allein; auch Gott ſcheint 
ſie nicht zu hören, er muß heute den Dank und Jubel der glück⸗ 
lichen, kinderreichen Mütter lauſchen. Da ſucht ſie ſtill ihren Reich⸗ 
tum hervor, Alfs Kleidchen und Schleier und Haube, Schätze der 
Erinnerung mit ihren Tränen befeuchtet. Zurückkehrend beobachtet 
Brand ſie von der Schwelle, die Hände ringend in ſeinem Schmerz 
aber es bleibt ihm erſpart, ihr dies letzte ſelbſt zu entreißen. 

Auf der Flucht vor den Häſchern des Vogts ſtürzt ein Zigeuner⸗ 
weib ins Zimmer und greift gierig nach den warmen Hüllen für 


200 VI. Brand 


ihr faſt erſtarrtes Kind. Agnes ſchaudert wie vor einem Sacrileg, 
einem Verbrechen gegen den kleinen Toten; dennoch, wenn es ge— 
ſchehen muß, will ſie teilen. Allein es gibt keinen Ausweg aus dem 
ehernen Ringe der idealen Forderung. „Teilen? — Agnes; 
teilen?“ Alles was an Widerſtandskraft in ihr lebt, bäumt 
ſich jählings auf, um dann für immer zuſammenzuſinken. Stück 
für Stück ſchenkt ſie dem Weibe ihr Koſtbarſtes. Aber noch iſt das 
Gebot nicht erfüllt: ſie hat nicht willig gegeben, hat mit einer 
rührenden Liſt der Notwehr heimlich ein Häubchen behalten. 
Brand wendet ſich ab: wertlos und vergeudet iſt die Spende. Da 
ſendet ſie noch dies letzte der Bettlerin nach. Wie eine große Stille 
überkommt es ſie; hohe ſtrahlende Freude leuchtet auf über ihr 
Antlitz und jubelnd wirft ſie ſich dem Gatten an die Bruſt: ſie iſt 
frei, ſie hat geſiegt! Abgefallen ſind alle Feſſeln des Irdiſchen, ge⸗ 
lockert aber auch und der völligen Löſung nahe alle Bande, die ſie 
mit der Erde, mit dem Leben verknüpft haben. Entſetzt erkennt 
Brand die drohende Erfüllung des Wortes: Wer Jehova ſchauet, 
ſtirbt. Noch einmal iſt die Wahl in ſeine Hand gelegt: das 
Zigeunerweib ſitzt außen auf der Treppe: noch kann er für Agnes 
die abgöttiſch bewahrten Kleider wieder erlangen, kann das Licht 
löſchen, das verzehrend in ihr brennt, und den verklärt empor⸗ 
ſtrebenden Geiſt wieder herablocken in das himmelblinde Alltags⸗ 
leben mit ſeinen armen, ſo ſchwer aufgegebenen Freuden und 
Schmerzen. Er kann — wenn er Beruf und Opfer und ſich ſelbſt 
vergeſſen kann. Hier iſt keine Wahl und keine Hoffnung. Dank 
für alles und gute Nacht bietet ihm Agnes, ihr Tagewerk iſt ge⸗ 
endet — für immer. 

Die Frauengeſtalten Ibſens ordnen ſich dem aufmerkſam Be⸗ 
trachtenden zur Doppelreihe; ſie ſind, wie ſchon das vierte Kapitel 
erläuter, auf zwei Grundtypen zurückzuführen, die füglich nach der 
Aurelia und Furia des erſten Dramas zu benennen wären. Den 
Furia⸗Typus hat ſchon ein verhältnismäßig frühes Werk, die ‚Nor⸗ 
diſche Heerfahrt‘, in ſcharfer Prägung; der Aurelia-Typus erreicht 
erſt in Agnes Vollendung, mit ihr verglichen ſind Dagny, Schwan⸗ 


> 


VII. Brand | 201 


bild, ja ſelbſt die Margarethe der „Kronprätendenten“ nur Vor⸗ 
ſtudien. Neben Hjördis ſtehen die ſpäteren „Dämoniſchen“, Rebekka 
Weſt und Hedda Gabler, gleichwertig, nicht bloß als Wiederholungen 
in anderer Umwelt; die der Agnes verwandten Charaktere der Ge— 
ſellſchaftsdramen vermannigfaltigen zwar den Typus in ſehr feſſeln— 
der Weiſe, aber doch eigentlich ohne Bereicherung. Wie das 
Drama, in dem Agnes erſcheint, unter ſämtlichen Dramen, nimmt 
ſie unter ſämtlichen Frauen ihrer Reihe eine zentrale Stellung ein. 

Das germaniſche Ideal einer Gattin und Mutter hat, dünkt 
mich, kein ſtammgenöſſiſcher Dramatiker vor dieſem norwegiſchen 
alſo erhöhet, keiner hat die ideale Ehe derart in den Mittelpunkt 
eines Hauptwerkes geſtellt. Kleiſt in der Hermannsſchlacht, Grill 
parzer im treuen Diener ſeines Herrn ſchildern vollkommene Ehen, 
und Shakeſpeare gibt im Macbeth das Bild einer ſolchen — 
zwiſchen Verbrechern. Die Handlung aber ſpielt nicht zwiſchen 
den Gatten, ſie ſpielen nur beide eine gemeinſchaftliche Rolle in 
der Handlung. Desdemona iſt eine Ausnahme und doch keine. 
Allerdings bewegt ſich die Fabel um ſie, aber wie ein Rad um die 
unbewegte Nabe; ſie ſtirbt — ein Kind, ein verheiratetes Mädchen. 
Auch Hermione iſt bloß ein Opfer. Und wo ſonſt bei den ge— 
nannten Dichtern, oder bei Goethe, Schiller, ideale Gattinnen und 
Mütter auftreten, ſind es Epiſodenfiguren (Götz, Tell). Früher 
durften im allgemeinen eben nur Liebende, die Verhältniſſe vor der 
Ehe, breiteren Raum anſprechen. 

Ibſen wählt und wendet die Fabel ſo, daß beide Gatten als 
ſolche in Mitleidenſchaft gezogen werden, daß ſie an der Ehe ſich 
zu bewähren haben und die Ehe ſich an ihnen. Brand opfert das 
Kind ſeiner Überzeugung, Agnes — ihrer Überzeugung von ihm. 
Die Szene wird vorgekündet in den Worten Margarethens zu 
Hakon, der ihren Vater gerichtet hat: „Mein hoher Herr und Ge— 
bieter, du urteilſt gerecht.“ Nur daß hier nicht der „Herr und Ge⸗ 
bieter“ unbeſchränkte Macht beſitzt über die Seele des Weibes, 
ſondern der „Lehrer, Freund und Bruder“. Und mit demſelben 
echt weiblichen Vertrauen legt ſie die Entſcheidung über ihr Leben in 


202 VII. Brand 


ſeine Hand und empfängt das Todesurteil voll der Freude, daß ſie 
ihre ſchwächere Natur hat überwinden können — in ihm und durch 
ihn. Ein äußerſter Fall wird dargeſtellt, aber nicht überlebensgroß, 
ſinnbildlich für tauſende wahrer Ehen. 

In dieſen vierten ſchönſten Akt der Dichtung — einen der 
ſchönſten, die überhaupt je geſchrieben worden — iſt, das hier fort— 
laufend Erzählte in zwei Stücke zerteilend, ein Auftritt andrer 
Farbe und Stimmung eingeſchaltet, eine Unterredung Brands mit 
dem Vogte. Nur Typus und Vertreter ſeines Standes, gleich dem 
Doktor, dem Probſte, dem Schulmeiſter ohne Namen aufgeführt, 
erſcheint der Vogt doch, wenigſtens anfänglich, nach dem Leben 
gezeichnet. Ein kleiner, beleibter, beweglicher Mann, als Beamter 
pflichtgetreu und unermüdlich, als Menſch gutmütig und wohl⸗ 
wollend, beides aber nur in ſicheren, engen Grenzen. Alles zur 
rechten Zeit und am rechten Ort, iſt ſeine Grundregel: Sonn⸗ 
tags in der Kirche — die Religion; bei feſtlichen Gelegenheiten 
— die Begeiſterung; werkeltags aber tüchtige Arbeit, Leiſtungen 
von greifbarem Vorteil. Gewiß erſtrebt er in feiner Art das ge⸗ 
meine Beſte, aber feine Art und die Brands verhalten ſich wie ge- 
rade Gegenſätze, wie Leben und Idee. Er will ſich in ſeiner Tätig⸗ 
keit nicht ſtören, die Leute nicht ſcheu machen laſſen durch die Lehre: 
„Wolle wenigſtens, was du nicht kannſt,“ und bekämpft darum 
den unnachſichtigen Prediger mit allen Mitteln, ſelbſt mit ein 
wenig Lüge und Verleumdung. Zuerſt hält es auch die Mehrheit 
mit dem Vogte, aber allmählich iſt es anders geworden: um Brand 
ſchart ſich vollgezählt die Gemeinde, und weit über den Sprengel 
hinaus dringt ſein Ruf und ſeine Macht. 

Ein geſchlagener Mann kommt der Vogt am Weihnachtsabend 
zu dem Geiſtesgewaltigen, um Frieden mit ihm zu ſchließen und 
zugleich die neue Lage der Dinge zu verwerten. Die Wahlen 
ſtehen vor der Türe, etwas Gemeinnütziges muß geſchehen zur 
Hebung ſeines geſunkenen Anſehens, ſonſt wird ein andrer als 
Volksbote nach der Hauptſtadt geſchickt. Und Anerkennung und 
Lohn will er bei aller Pflichttreue durchaus nicht entbehren; für 


VI. Brand | 203 


nichts, bloß für eine Idee müht ſich kein Vernünftiger, zumal 
kein Familienvater mit einer Anzahl unverſorgter Töchter. Der 
Plan wäre, für den Bezirk ein großes öffentliches Gebäude zu er- 
richten, ein Armen⸗, Arreſt⸗ und Feſthaus, alles unter einem 
Dache; zur Beſchaffung der nötigen Beiſteuer ſoll Brand die Kraft 
ſeines Wortes leihen. 

In allen Punkten iſt der Vogt das Widerſpiel Brands, und 
der in dem Zwiegeſpräch geſammelte und verſtärkte Gegenſatz wird 
auch inſofern förderlich für die Weiterentwicklung des Dramas, 
als Brand den Plan mit einem Gegenplane abſchlägt: er beſtimmt 
das ſchuldbehaftete Erbe der Mutter zum Bau einer neuen, größeren 
Kirche. Aber nur zu dieſem künſtleriſchen Zwecke hätte es nicht 
eines Aufwands von 473 Verſen bedurft. An Umfang über die 
Hälfte des Aktes, hat die Szene noch andern Zweck und Inhalt: 
ſie dient, wie auch einige ſpätere, zu ſcharfer Satire auf norwegiſche 
Zuſtände. Es genügte dem ſchwer Gereizten nicht, die Macht⸗ 
haber der Heimat mit ernſter Strafrede zu demütigen, ſie ſollten 
empfindlicher mit der Geißel des Spottes gezüchtigt werden. 
Sarkasmus bezeugt Überlegenheit, Spott hingegen nimmt Würde. 
So gab denn Ibſen den Ermahnungen Brands einen leicht ſar— 
kaſtiſchen Zug und wählte im übrigen den Ausweg, das Beamten⸗ 
tum, die Vertreter der weltlichen und geiſtlichen Gewalt, durch ihren 
eignen Mund lächerlich zu machen. Es ſcheint ihm entgangen zu 
ſein, daß derartige Mittel der Ariſtophaniſchen Komödie in einem 
ernſten, ſonſt lebensgetreuen Werke nicht angebracht ſind. Je 
ſinnlicher die Geſtalten, deſto unwahrſcheinlicher die Selbftverjpot- 
tung, deſto ſtörender die Abſichtlichkeit. Unwahrſcheinlich, daß ſich 
der Vogt ſelbſt in ſolcher Beleuchtung ſieht; unwahrſcheinlicher, 
daß ſich der kluge und praktiſche Mann ſo vor Brand bloßſtellt; 
undenkbar, daß er allen Ernſtes die Geſchichte von dem großen 
Loch in der nicht mehr vorhandenen Mauer erzählt. Durch Streichen 
dieſer Witze und ſtarke Kürzung des Auftrittes würde dem vierten 
Akt erſt Einheit des Tons und Zuſammenhalt verliehen. 

Schlimmer ins Komödienhafte hinübergezogen ſind der Schul— 


1 


204 VII. Brand 


meiſter und der Glöckner, die zu Beginn der fünften Handlung 
Brands neuerbautes Gotteshaus für die Einweihung ſchmücken. 
Dem Zuſchnitt der Perſon entſpricht es noch, wenn der Schul 
meiſter Brands Grundſatz pfiffig verdreht: 

Man ſoll nach unſers Pfarrers Lehren 

Sich immer nur an eines kehren, 

Denn keiner kann, fiel's ihm auch ein, 

Zugleich Menſch und Beamter ſein. 
Doch die weiteren Variationen der beiden über dies Thema fallen 
ins Burleske und bilden einen zu gewollten Kontraſt zu dem Orgel⸗ 
ſpiel, das ſtimmungsvoll aus der Kirche herübertönt. 


Es iſt Brand, der ſich am frühen Morgen des heimlich 
quälenden Schmerzes um Weib und Kind in Tönen zu entlaften 


ſucht. Umſonſt! — als ob der Herr zornig ſeinen Geſang und 
ſein Gebet verachtete, weil ſie nicht mit vollem Klang empordringen, 
ſondern wie Jammergeſchrei und Stöhnen aus gepreßter Bruſt. 
Was er von Agnes heiſchte, das vermag er nun ſelbſt nicht: in Ge⸗ 
horſam und Gottvertrauen ſich zu erheben über irdiſchen Verluſt 
und das Leid des Lebens. Zum Kleinmut geſellt ſich der Zweifel 
an ſeinem Werke. Gleicht die neue Kirche dem Tempel, den er im 
Geiſte hoch und weit ſich wölben ſah über alles Erdenweh? Mehr 
und mehr wird von hier an das Gebäude zum Symbol des endlich 
Erreichten im Gegenſatz zu dem ſtets unerreichbar vorſchwebenden 
Ideal. 

Der Grund, auf dem die Kirche errichtet worden, hat Blut ge⸗ 
trunken: das Teuerſte hat er hingegeben an dieſer Stätte, um ſich 
des Volkes und ſeiner geiſtigen Not zu erbarmen. Und jetzt, da es 
ihm gelungen, ſtatt der gedankenloſen, bloß ſonntäglichen Gottes⸗ 
vererhrung eine neue das ganze Leben umfaſſende zu begründen: 
jetzt muß er aus den Geſprächen des Vogtes und des Probſtes 
erkennen, wie die Herrſchenden im Lande ihn und ſein reines 
Gotteswerk zu ihren weltlichen Zwecken mißbrauchen wollen, wie 
er dem Volke nur eine neue Lüge bietet ſtatt der alten, wenn er 
ſeine Bruſt mit dem Ordenszeichen ſchmücken und das Feſt der 


EL ER 8 


— 


Eee 


en 


VII, Brand | 205 


amtlichen Heuchelei feiern läßt. Der Probſt iſt ſatiriſch gezeichnet, 
doch nicht übertrieben, und die Unterredung mit ihm, ungleich der 
mit dem Vogt im vierten Aufzug, fördert die Handlung. Dieſem 
ſalbungsvollen Vertreter der Staatskirche mißfällt nichts ſo ſehr 
an dem jungen „Freunde“, als daß er die Gemeinde, die ſchön in 
Reih und Glied zur Seligkeit marſchieren ſoll, in Perſönlichkeiten 
ſondert und um das Heil jeder einzelnen Seele ſorgt. Das öffnet 
Brand die Augen über die weite Kluft zwiſchen ihm und den 
Amtsbrüdern, zwiſchen Beruf und Beſtallung, und bereitet ſo 
ſeinen Abfall vor. 

Mehr als je eines Menſchen bedürftig, „deſſen Bruſt nicht von 
Holz oder Stein wäre“, trifft Brand mit dem einzigen Bekannten 
früherer Jahre zuſammen, mit Ejnar. Voll Verlangen ſtreckt er 
ihm die Arme entgegen, aber ſchroff zurückweiſend ſteht Ejnar vor 
ihm, bleich, abgezehrt, ſchwarz gekleidet, verwandelt von außen und 
von innen: erſt durch Sünde und ſelbſtverſchuldete Krankheit der 
Lebenskraft beraubt, dann von Frömmlern „bekehrt“ — einer 
jener fanatiſchen Bußprediger, die aller Welt ihr trauriges Heil 
aufzwingen wollen. Hier der Gegenpol zu dem behäbigen Probſte 
— die beiden äußerſten Enden kirchlicher Gläubigkeit. Bei dieſem 
Anblick ermannt ſich Brand: ſo will er denn mutig der eignen 
Fahne folgen, wenn nötig — allein. Excelſior! 

Von den Kirchenſtufen redet er zu dem Volke: Es gibt kein 
mehr oder minder, größer oder kleiner, es gibt keine wahre Kirche 
als die, deren Grund die Erde, deren Gewölbe der Himmel iſt, 
die das ganze Leben und Tun heiligend umſpannt. Satan heißt 
der Geiſt der Nachgiebigkeit und „Alles oder nichts“ das Wort des 
Herrn. Weit hinausgeſchleudert in den Bergſtrom verſinken die 

Schlüſſel der uneröffneten Kirche, und wie vom Geiſte ergriffen 
folgt die Gemeinde ihrem Hirten, der ſich von der Scholle losſagt 
und ſie führen will durch die Lande, überall die gefangenen Seelen 
zu läutern, zu befreien, und die Erde umzuſchaffen in einen 
Gottestempel. 

Raſch verlodert, wenn 1165 alsbald durch Erfolge genährt, 


206 VII. Brand 


die Begeiſterung der Menge; im genialen Menſchen brennt die 
himmliſche Flamme ſtätig, und das trügeriſche Vertrauen auf die 
gleiche Beſtändigkeit bei allen wird ihm zum Schickſal. Brand hat 
das Volk dem gewohnten dumpfen Leben entriſſen, aber der Weg, 
den er ihm zeigt, iſt ſteil und mühenreich. Unter den Beſchwerden 
erlahmt der Mut, Hunger und Durſt quält die Glaubenspilger. 
„Tue Wunder,“ erheben ſich mehr und mehr Stimmen, ob der 
Kampf lange währe, wollen die Ungeduldigen wiſſen, und was für 
jeden der Siegespreis ſei. Lebenslang, erwidert Brand, und eine 
Dornenkrone der einzige Lohn! Da umringen ſie ihn mit raſendem 
Geſchrei: Verraten, betrogen! und jetzt iſt der Augenblick für die 
verdrängten Machthaber gekommen. Probſt und Vogt ſtellen ſich 
ein, jener mit ſanft begütigenden Worten, dieſer mit der ſchnell 
erfundenen Lüge: daß ein großer Wanderzug von Fiſchen im Fjord 
geſehen worden. Stürmiſcher noch wendet ſich das Volk gegen 
Brand. Glöckner und Schulmeiſter, die ſtets mit der Mehrheit 
gehen, reizen nun am heftigſten gegen ihn, um die Verzeihung 
ihrer Obern zu erlangen. Seine ſchwerſten Opfer, ſelbſt der Tod 
von Weib und Kind werden ihm als Verbrechen vorgeworfen, ja 
endlich ruft die ganze Schar ihr „Steiniget, ſteiniget ihn!“ Da 
ſich der Mißhandelte blutend von dannen ſchleppt, dünkt den Vogt 
dieſes Volksgericht doch allzu „inhuman“. Aber „vox populi, 
vox dei“ meint, die Schultern zuckend, der Probſt. 

Nur der erſte Teil des großen Monologs, Brands Klage über 
ſein vergebliches Wirken, gehört zur Dichtung; das übrige fällt, 
wie die Rede des Biſchofs im fünften Aufzug der „Kronpräten⸗ 
denten“, aus dem Zuſammenhang. In der Form eines prophe⸗ 
tiſchen Traumgeſichtes ſchilt der Dichter wiederum ſein Volk, das 
Dänemark nicht zu Hilfe kam und im Steinkohlendampf Brit⸗ 
taniens, der ſich ſchwer und dunkel über die ſchönen norwegiſchen 
Gaue ſenkt, den letzten Reſt idealen Sinnes erſticken läßt. 

Der Stimme der Verzweiflung in Brands Innern antwortet 
der „Chor der Unſichtbaren“ im Sauſen des Sturmes: „Niemals, 
niemals wirſt du Ihm gleichen!“ und in der lichtumfloſſnen Ge⸗ 


S ro Se 


VI Band. 207 


ftalt feines Weibes tritt zu dem bitterlich Weinenden der Verſucher 
aus dem Nebel, ihn abzulocken von dem Grundſatz: alles oder 
nichts! „Alf und ich leben,“ ſpricht die Erſcheinung; „du haſt 
nur geträumt, vergiß die drei Worte und komm zu uns!“ Er aber 
kommt nicht zu ihr, er fordert ganz wie einſtens, daß Agnes i h m 
folge. Und auf die flehende Bitte: „Halt ein, Brand! Was willſt 
du?“ erwidert er: Leben, was ich bis jetzt geträumt, wahr 
machen, was nur Schein geweſen. „Und wenn alle Schreck— 
niſſe abermal durchzukoſten, alle Opfer abermal zu bringen wären?“ 
Ich muß. „Das Paradies iſt verſchloſſen und ein Abgrund davor— 
gelegt, den du nicht überſpringſt!“ So iſt doch der Weg der 
Sehnſucht offen geblieben. — Da verſchwindet der Verſucher. 

Am Ende eines langen Leidensweges bereit ſein, von vorn zu 
beginnen, — das heißt dem Dichter Mann ſein, Held des Willens: 
in dieſer Szene vollendet er das Urbild des Ewig-Männlichen, 
dem er ſelbſt in einem enttäuſchungsreichen Leben unbeirrt zum 
Beſten ſeines Volkes nachgerungen. Sich ſelbſt zu ſtärken, ſchrieb 
er die Zeilen: 

Brand: 
Nicht um Lohn hab' ich gelitten, 
Nicht für eignen Sieg geſtritten! 
Die Erſcheinung: 
" Für ein Volk in Grubennacht! — 
Brand: 
Vielen Licht kann einer geben — 
Die Erſcheinung: 
Die verflucht ſind, ſo zu leben! — 
Brand: 
Groß iſt eines Willens Macht. 

Aber noch ohne jedes Unterpfand, daß ſein Glaube belohnt, 
ſeine Hoffnung erfüllt würde, ſicher nur ſeiner unwandelbaren 
Liebe zum Berufe, führt er die Dichtung zu einem tragiſchen Ende. 

Gerd geſellt ſich zu dem Verlaſſenen. Staunend erblickt ſie 
das Blut auf feiner Stirne und ſpäht nach den Nagelſpuren in 


208 VII. Brand 


ſeinen Händen: „Du biſt der Größte, du biſt der Erlöſerheld!“ 
Aber Hoffart hat keine Gewalt über ihn: „Ich bin der ärmſte 
von allen, ich ſtehe noch auf der erſten Stufe der Treppe.“ In 
der Eiskirche ſtehſt du, frohlockt die Wahnſinnige, denn zu ſeinen 
Häupten ragt der Rand eines Gletſchers wie ein Gewölbe über die 
Talſchlucht. Hoch auf der Zinne glaubt ſie den Habicht, ihren ein⸗ 
gebildeten Verfolger, zu ſehen, reißt die Büchſe an die Wange, 
ſchießt — und mit Donnergetöſe ſtürzen Eis- und Schneemaſſen 
hernieder, eine gewaltige Lawine, die beiden begrabend. 


5. 

Reiner Idealismus, alles oder nichts! — das iſt das Schöne, 
das Unmögliche, das iſt Sieg und Tod. Der Überwinder wird zum 
Überwundenen, er muß im Leben, am Leben erliegen. „Stirb, du 
taugſt nicht für die Welt!“ ruft der Dämon noch im Verſchwinden 
Brand zu. Er ſpricht höhnend die Wahrheit. 

Soviel erkannte der unbeſtochene Betrachter des Lebens, ſo⸗ 
viel tut er wirklich dar: damit hätte der ſpätere Ibſen aufgehört, 
damit hört er in der Wildente auf! Verſuchte er damals noch, 
feine Werke — „Brand“, ‚Peer Gynt‘, ja noch den ‚Bund der 
Jugend“ und die „Stützen der Geſellſchaft“ — im Stil und Ges 
ſchmack der alten Schule abzurunden, ihnen einen „befriedigenden“ 
Schluß zu geben? f 

Da Brand als Arbeiter im Weinberge des Herrn vorgeführt 
wird, ſollte die Frage nicht unbeantwortet bleiben: wie ſtellt ſich 
der Herr zu dieſem Kampf und Ende, billigt oder verwirft er die 
Forderung „alles oder nichts“? Aber war eine Möglichkeit, das 
an und für ſich nur menſchlich, nicht religiös gefaßte Problem 
zuletzt noch religiös-chriſtlich zu löſen? Ließ Ibſen den Helden 
ſchlechthin zu Grunde gehen, wie Zola feinen Claude, ſo beſtätigte 
das die Worte des Probſtes: vox populi, vox dei, und ſchwächte, 
ja vernichtete die erweckende Wirkung, die Brands Geſtalt und Bei⸗ 
ſpiel ausüben ſoll. Ließ er den Himmel ſich zuſtimmend äußern 
und die Standhaftigkeit mit der Strahlenkrone des Märtyrers bes 


ee N REN IE 


VII. Brand 209 


lohnen, ſo befand er ſich in einem ſeltſamen Widerſpruch mit der 
ganz durch ſich ſelbſt getragenen Art feines Reformators. Denn 
dieſer Gottesſtreiter hat wahrlich wenig von der Demut, die einem 
Luther die Worte eingab: 

Mit unſrer Macht iſt nichts getan, 

Wir ſind gar bald verloren; 


Es ſtreit für uns der rechte Mann, 
Den Gott hat ſelbſt erkoren. 


Den „rechten Mann“ ruft Brand zwar einige Male in 
höchſter Not an, aber es iſt immer nur ein chriſtlich artikulierter 
Verzweiflungsſchrei. Nach eignem Geſtändnis entgleitet ihm Jeſus 
wie ein altbekanntes Wort, das auf der Zunge ſchwebt und das 
er doch nicht finden kann. Ja, er verwirft das Mittleramt Chriſti, 
bekämpft aufs äußerſte die kirchliche Lehre, daß Chriſti Blut und 
Verdienſte unſre Sünde und Schwachheit auszulöſchen, alles uns 
Fehlende vor dem Richterthron des Ewigen zu erſetzen vermögen. 

Aber auch zu Gott, zu ſeinem Jehova, hat er kein Sohnes⸗ 
verhältnis. Er verſchmäht das Gebet, dies ewige „um Gnade 
Schreien zum Rätſel aller Rätſel“. Tell, der einfache Landmann, 
beſteigt das Boot im raſenden Sturme nicht ohne wiederholten 
Hinweis auf einen höheren Beſchützer; Brand, der Diener am 
Wort, ſchickt ſich an, die gleiche Gefahr zu beſtehen ohne Bitte um 
göttlichen Schutz, ohne noch ſo kurze Anrufung. Und wenn er in 
den Tagen des Leides um Hülfe fleht und dabei Troſt empfindet, 
iſt es ſtets nur wie eine innere Sammlung der eignen Kraft. 
„Betete ich da?“ fragt er ſich ſpäter, „hat Gott mit mir. ge 
ſprochen? hat er mich gehört? Was weiß ich!“ | 

Triumphierend ſchließt der Hochgeſang einer ebenſo heftigen, 
aber kirchlich gebundenen Männlichkeit: 

Nehmen ſie den Leib, 

Gut, Ehr, Kind und Weib: 

Das Reich muß uns doch bleiben! 
Für Brand überbrückt kein fremdes Verdienſt den Abgrund vor 
dem Paradieſe, er hat keine Gewißheit des Heiles, ihm bleibt nur 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 14 


210 VII. Brand 


die Hoffnung und die Sehnſucht. So hat denn auch umgekehrt der 
Himmel keinen rechten Zugang zu ihm: dieſer eherne Turm ſelbſt⸗ 
ſicherer Manneskraft iſt verwahrt und gedeckt auch nach oben. 
Rein äußerlich abſchließend, innerlich unwahr wirken darum die 
Worte am Ende der Tragödie. Auf die Frage des Sterbenden an 
die ewige Macht, ob zur Erlöſung nichts helfe: Manneswille 
quantum satis? antwortet eine Stimme von oben: „Er iſt deus 
caritatis.“ 

Alſo ein gütliches Übereinkommen des Dichters mit dem „Gott 


der Liebe“ am Schluſſe eines durchaus gegen alles und jedes Uber⸗ 


einkommen gerichteten Werkes! — eine Verbeugung vor dem guten 
alten, mit Wenigem zufriedenen Himmelvater, den die Menſchen 
nach ihrem Bild und Gleichnis gemacht haben und für den ihm 
bisher kein Hohn zu ſcharf, kein Ausdruck zu ſtark geweſen! — 


und ſchlimmer noch, ein Bückling vor der humanen, dem un⸗ 


bedingten Idealismus feindlichen Welt! Denn nicht willkürlich ſind 
die lateiniſchen Floskeln angewendet; ſie beziehen ſich auf ein 
tadelndes Wort des alten Arztes gegen Brand: er könne wohl 
Manneswille quantum satis als ſeinen Reichtum buchen, aber ſein 
Conto caritatis ſei ein unbeſchriebenes Blatt. 

Die Verkündigung des deus caritatis, ernſtlich als Ziel der 
Dichtung genommen, würde völlig ihr Weſen und ihren Wert ver⸗ 
ändern, mehr noch die Verheißung als der Vorwurf, die beide 
darin liegen, würden die Grundidee vernichten. Dann wäre Ibſen 
Lügen geſtraft, daß er ebenſo gut mit einem Bildhauer oder 
einem Politiker ganz denſelben Syllogismus hätte durchführen 
können; dann wäre ‚Brand‘ nicht die Tragödie, ſondern die 
Bankrotterklärung des Idealismus und kein Wahlſpruch geeigneter 
als der Herenvers aus dem Macbeth: 

Schön iſt häßlich, häßlich ſchön. 

Vor dem Erſcheinen des epiſchen ‚Brand‘ mußte man dies über⸗ 

raſchende Umbiegen entwicklungsgeſchichtlich zu deuten ſuchen, 


mußte annehmen: nicht ſo mit eins, wie auf ethiſchem Gebiet, habe 


der vorwärts Stürmende auf äſthetiſchem alle Schranken hinter 


VII. Brand 211 


ſich gelaſſen. Die Bezeichnung „Verlegenheitsſchluß“ ſchien gerecht⸗ 
fertigt — Verlegenheit aus künſtleriſchen Rückſichten, nicht aus 
ſittlichen Bedenken. Nun aber finden wir in zwei Strophen des 
epiſchen ‚Brand‘ einen Zwieſpalt in der Seele des Helden ges 
ſchildert, der des Dichters eigne zwieſpältige Gemütsverfaſſung 
offenbart und das logiſch Widerſtreitende des Schluſſes pſycho—⸗ 
logiſch verſtehen hilft. 

Kaum hat Brand bei der Begegnung im Hochgebirge Ejnar 
und Agnes von ſich gewieſen, da wird es ihm leid, daß er „dem 
ſommerfrohen Sänger“ Sang und Sonne geraubt und, die Stirne 
noch umleuchtet von Kreuzträgerglück, beginnt er „zu ſchwelgen in 
der ſchmerzvollen Luſt, die eine Seele ſaugen kann aus dem Wort 
‚bereuen‘ — auf dem Sprunge zwiſchen Umarmen und Ver⸗ 
fluchen“. Mit offnen, dem Wind entgegengebreiteten Armen eilt 
er dem Paare nach, eine ſalzig heiße Träne brennt auf ſeiner 
Wange, er ruft, wie in Angſt, Ejnars Namen 

Der Dichter ſelbſt war damals noch „auf dem Sprunge 
zwiſchen Umarmen und Verfluchen“, war noch nicht undurchdring⸗ 
lich gepanzert in die Härte ſeines Alles oder Nichts, wie ſpäter 
im Kampfe gegen die Geſellſchaft. Er breitete ſelbſt, am letzten 
Ende, erſchüttert und gerührt, die Arme aus und zog den hin- 
geſunkenen Brand an ſein Herz — als deus caritatis. 

Vielleicht birgt dies Mitleid und Erbarmen mit Brand, ſeinem 
idealiſierten Selbſt — und ſpäter mit dem „durch Selbſtanatomie“ 
gewonnenen Peer Gynt — auch ein wenig Selbſtliebe. Gerade in 
Ibſens Schule lernt man auf ein ſolches Vielleicht achtſam werden. 

Der anſcheinend kirchliche Schluß hat das Buch in Norwegen 
zu einem beliebten Einſegnungsgeſchenke gemacht. Denn immerhin 
iſt geſchickt verhütet, daß Idee und Einkleidung jemals zu ſichtbar 
auseinander klaffen, daß der Hauptcharakter den ihm eigentlich 
fremden Lebenskreis irgend in auffälliger Weiſe überſchreitet. Aber 
der Dichter läßt ſich den ungewollten Beifall des Pietismus ent⸗ 
ſchieden nicht zur Laſt legen. Ebenſogut könne man Luther vor⸗ 


werfen, er habe die Spießbürgerei in der Welt einführen wollen — 
14* 


212 VII. Brand 


„Das lag ja doch nicht in ſeiner Abſicht, alſo trägt er keine Schuld 
daran“. 

Alle jene befangenen — oder ſollte man ſagen, unbefangenen? 
— Leſer hat die „pietiſtiſche“ Löſung doch nicht befriedigt. So 
ſchreibt der abſonderliche E. O. Vinje: „um das Glänzende in 
‚Brand‘ recht zu genießen, muß ich ihn ſcherzhaft nehmen. Das 
Gedicht iſt zu raſend verrückt, wohl verſtanden, um ernſthaft zu 
ſein. . .. Wär’ es dagegen ernſthaft gemeint, fo wär' es geradezu 
verbrecheriſch.“ Nach ihm iſt es eine verſteckte „Satire auf den 
romantiſchen Geſchmack der Zeit“. Das möchten wir nun wieder 
ſcherzhaft, ja raſend verrückt finden, daß ein Dichter die ganze 
Kraft ſeines Geiſtes und den Reichtum ſeines Gemütes an einen 
Helden verſchwendet, mit dem er ſatiriſch zu wirken, und daß er 
zugleich die volle Schale ſeines Spottes ausgießt über deſſen 
Widerſacher, denen er Recht zu geben wünſcht. 

Eher noch könnte da ein ethiſches, als ein äſthetiſches Prinzip, 
eher noch der Puritanismus, als der Romanticismus ad absurdum 
geführt ſein. Brand läßt den ſtrengen Jehova des alten Teſta⸗ 
mentes wieder aufleben im Gegenſatz zu dem Gott der Liebe des 
neuen Bundes. Dasſelbe tat der Puritanismus zu einer Zeit 
religiöſer Erſchlaffung und verſuchte — auf die Dauer ebenſo er⸗ 
folglos! — die Menſchen hinwegzuleiten von ihren warmen Wohn⸗ 
ſtätten auf die eiſigen Höhen abſtrakt⸗idealer Geſetzeserfüllung. 

Mehr tief als klar nennt Georg Brandes die Symbolik — 
in Hinſicht auf den Schluß nicht ohne Grund. Zwar die Umriß⸗ 
linie iſt auch hier feſt gezogen: wir ſehen und verſtehen, daß der 
konſequente Idealiſt durch Wahnſinn endet; im einzelnen aber gibt 
die Kataſtrophe manche Rätſel auf. Brand gelangt unvermerkt in 
die Eiskirche: das dürfte ſagen wollen, er läuft Gefahr, innerlich 
zu erſtarren, alles Gefühl für das Menſchliche zu verlieren. Dafür 
ſpricht ſeine Verſicherung, daß er weit davon entfernt ſei, hier 
„Kirchengaſt“ zu werden, ſeine erwachende Sehnſucht nach Licht 
und Wärme und Mildheit, ſeine Freude darüber, daß die Eisrinde 
um ſein Herz in Tränen dahinſchmilzt. Nicht Reue meinen dieſe 


c 


VII. Brand 213 


rührenden Worte — hat er doch unmittelbar vorher den Verſucher 
abgewieſen; ſondern um die Kataſtrophe deſto eindrucksvoller zu 
machen und zugleich durch die Gemütsbewegung auf den deus 
caritatis vorzubereiten, gönnt ihm der Dichter einen letzten 
Aufblick. 

Der Habicht wurde als „Geiſt des Akkordes“ gedeutet. Noch 
weiter zu deuteln und überall nach geheimnisvollen Beziehungen zu 
forſchen, erſchwert nur das Verſtändnis und mindert den Genuß. 
Bemerkenswerter als allegoriſche Einzelheiten iſt, daß der fünfte 
Aufzug nichts anderes vorſtellt, als eine ſymboliſche Wiederholung 
deſſen, was Brand in den erſten vier Akten vor unſern Augen 
getan und erlitten hat. Der realiſtiſchen Handlung fehlt nur 
Brands Ende, jo daß der Held überhaupt bloß zu einem bild⸗ 
lichen Ende gelangt, bildlich im kühnſten Sinne des Wortes. Er 
geht nicht im Wahnſinn unter, ſondern der Wahnſinn in Perſon 
lockt die tötende Lawine auf ſein Haupt herab. In dieſem Betrachte 
nähert ſich ‚Brand‘ ſogar dem Erftling Catilina. 

Ibſens Sprache, in der „Komödie der Liebe“ fein zugeſchliffen, 
biegſam, glänzend, betätigt im Erhaben⸗Tragiſchen andre ent- 
ſprechende Eigenſchaften: Macht und Schwung und edle Schönheit. 
Der größte Vorzug, das wahrhaft Moderne daran, iſt die Sicherheit 
des Übergangs vom ſchlichten, alltäglichen Ausdruck zum dichteriſch 
erhöhten, der umfaſſende Charakter ſeines Stiles, kraft deſſen das 
abgenützte Kupfer der gewöhnlichen Rede in poetiſches Gold ſich 
verwandelt. 

Im ganzen ein klaſſiſches Werk der neunorwegiſchen Litteratur, 
iſt Brand im einzelnen nicht ſo ebenmäßig ausgearbeitet und gefeilt 
wie die „Komödie der Liebe“. Schon beim Erſcheinen des Buches 
ſagte die nordiſche Kritik, man ſtolpere zuweilen über Stock und 
Stein, über eine geſchmackloſe Wortzuſammenſetzung, über einen 
wenig zutreffenden Vergleich; indes ſei es tröſtlich, daß man ſich 
ſtets ſehr ſchnell wieder erhebe. Die „Wergelandismen“ der Rede, 
Spuren der Einwirkung des Dichters Wergeland, hat zuerſt Vinje 
beachtet. Ich möchte hinzufügen, daß gerade von dieſer Einwir—⸗ 


214 VII. Brand 


kung, der ſich Ibſen glücklicherweiſe bald völlig entſchlug, die Mehr: 
zahl der rügenswerten Metaphern herrührt. 

Durchaus Verdienſtliches und Großes geleiſtet hat hier ſeine 
Verskunſt. Die gewählten einfachen Maße ſind regelrecht vier⸗ 
füßige Jamben und vierfüßige Trochäen, fortlaufend oder ver⸗ 
ſchränkt gereimt. Über die jambiſche Grundtonart trägt in harmo⸗ 
niſchem Wechſel der Trochäus die entſcheidenden Stellen mächtig 
empor, die bewegten, aus Herzensgrund quellenden Monologe 
Brands, die daran ſich anſchließenden Dialoge mit Agnes, Gerd 
und der Erſcheinung des Verſuchers. Für die Wahl dieſes Metrums 
gibt das Gemüt den Ausſchlag; wo ruhige Betrachtung vorwiegt, 
durfte ſelbſt im Monolog der Jambus verbleiben. Auch ſind 
ſchroffe Übergänge gemieden. Nach Brands rein verſtandesmäßigen 
Auseinanderſetzungen mit dem Vogte (Akt IV) wird in einem 
jambiſchen Zwiegeſpräch mit Agnes der Ton erſt allmählich ge⸗ 
ſteigert, bis ein Monolog ohne Härte trochäiſch einſetzen und in die 
erhabene Schlußſzene des Aktes überleiten kann. Andrerſeits iſt, 
um der Einheit willen, bei Eröffnung der neuen Kirche (Akt V) 
der Trochäus im Geſpräche Brands mit allen Perſonen feſt⸗ 
gehalten, was die feſtliche Erregung der Sprechenden auch pſycho⸗ 
logiſch rechtfertigt. 

Durch Siebolds „Bearbeitung“ mußte der deutſche Leſer den 
Eindruck empfangen, als wäre ‚Brand‘ eine genaue Nachahmung 
goethiſchen Vorbildes. Drei ſpätere Verſuche geben Inhalt und 
Form gewiſſenhafter, doch ſprachlich und dichteriſch ebenfalls un⸗ 
zureichend wieder. Aus einer guten Überſetzung würde die Selb⸗ 
ſtändigkeit der Urſchrift in Geiſt und Gehalt, in Wort und Ton 
klar hervorleuchten. 

In immer neuen, der ſtetig wechſelnden Stimmung gehorſamen 
Rhythmen und Weiſen bewegt ſich Goethes Dichtung vom Himmel 
durch die Welt zur Hölle; Fauſt trägt die Toga des Gelehrten, 
das Kleid des Ritters und die prunkvolle Hoftracht nach Laune 
und Bedürfnis. Nur eine Stimmung beherrſcht, ſich hebend und 
ſenkend, das Gedicht vom Kampfe und den Leiden des empor— 


VII. Brand | 215 


ſtrebenden Willens in der Ode nordiſchen Hochgebirges; Brand 
trägt nur das dunkle Gewand des Predigers und Prieſters. Es iſt, 
als wären zu dieſem Gemälde keine Farben verwendet worden, nur 
Schattierungen aus der unendlichen Skala zwiſchen Schwarz und 
Weiß. Um ſo bewunderungswürdiger die Kunſt, mit den ſchlichten 
Mitteln Reichtum und Mannigfaltigkeit zu erzielen. 


VIII 


Peer Gynt 
1. 
Om „Brand hält Ibſen die gewaltige Strafpredigt über den Text 
AN aus Milton: To be weak is the true misery; im ‚Peer 
Gynt‘ nun folgt den Donnerworten die vernichtende demonstratio 
ad oculos. 

Brand iſt der willensſtarke, der überſtarke, furchtloſe, der den 
geraden Weg zum erkannten Ziele über die Leichen der Seinigen 
hinweg fortſetzt, der ſozuſagen durch Fels und Mauer hindurch 
will. Sei, wozu du beſtimmt biſt, heißt ſeine Loſung, ſei du 
ſelbſt! Peer iſt der willenloſe, zielloſe, der ſich überall und in 
alles fügt, überall „außen herum“ möchte, überall den Rückzug 
offen hält und feilſcht und heuchelt und ſchmeichelt, der Feigling, 
der Egoiſt. Seine Lebensregel lautet: Tu immer nur, was dir 
genehm und bequem, lebe dir ſelbſt! 0 

Ein deutſcher Philoſoph vergleicht den ſelbſtſüchtigen, allen 
Lebeweſen eingeborenen Willen mit der den Körpern innewohnenden 
Schwerkraft. Sicherlich iſt ein Streben in uns, das keinerlei An⸗ 
ſtrengung koſtet, das gehemmt werden muß wie die Schwerkraft, 
wenn es ſich nicht äußern ſoll, das ſich ſelbſt in der erzwungenen 
Ruhe als Druck nach einer beſtimmten Richtung hin geltend macht. 
Und dieſem natürlichen Streben begegnet ein anderes nicht natür⸗ 
liches ſondern erworbenes, erlerntes, das den entſchiedenſten Kraft⸗ 
aufwand fordert und trotzdem im Großen wie im Kleinen oft er⸗ 
liegt. Das eine wie das andere aber bezeichnen wir gemeiniglich als 
wollen, Wille, obſchon das herrſchende Sittengeſetz im erſten Falle 
von einem Hinabſinken, im zweiten von einem Emporſteigen redet. 
Volkstümlich geſprochen „wollen“ beide, Brand und Peer Gynt; 
nur daß Brand der ſteigenden Waſſerſäule des Spring⸗ 
brunnens gleicht, die widriger Wind zwar erſchüttern, doch nicht 
von ihrem Streben nach oben abbringen kann, Peer Gynt dem 
talabwärts fließenden Gewäſſer, das ſich zwiſchen den Hinder⸗ 


VIII. Peer Gynt | 217 


niſſen hindurchſchlängelt, an allem Feſten „außen herum“ feinen 
Weg ſucht und, mit Weichem bequem ſich vermiſchend, leicht als 
ſtehender träger Pfuhl endet. So ſollteſt du ſein! ſpricht jede Zeile 
im ‚Brand‘ zum norwegischen Volke, hier aber wird der Nation ein 
Bild ihres Weſens und Charakters vor Augen gebracht, unbe— 
ſchönigt, ungemildert, mit allen Laſtern und Fehlern: So biſt du! 

Die dem ‚Peer Gynt' nach Zweck und Vorwurf am nächſten 
ſtehende germaniſche Dichtung iſt Frederik Paludan⸗Müllers „Adam 
Homo‘, der Lebenslauf eines typiſchen Vertreters des däniſchen 
Bürgertums. Da aber dieſe allzu behaglich in dünnen ottave 
rime vorgetragene Geſchichte ein bürgerliches Seitenſtück zu Byrons 
„Don Juan“ bildet, liegt es nahe, vorerſt über das ſchwächliche 
Mittelglied hinweg ‚Peer Gynt' mit „Don Juan“ zuſammenzu⸗ 
ſtellen. Die Verſchiedenheit der äußern Form ſtört nicht, wo ſich's 
nicht um Einteilung in einem Lehrbuch der Dichtkunſt handelt. 
Auch iſt ‚Peer Gynt‘, wie wir ſehen werden, „epiſch“ genug. Das 
tertium comparationis aber gibt Byron ſelbſt. In dieſen Tagen, 
ſchreibt er an ſeinen Verleger Murray, iſt das große primum 
mobile Englands die Lüge; politiſche Lüge, poetiſche Lüge, religiöſe 
Lüge, moraliſche Lüge, aber ſtets Lüge, die ſich in allen Phaſen des 
Lebens wiederholt. Norwegen für England geſetzt, könnte die An⸗ 
klage wortwörtlich in einem Briefe Ibſens enthalten ſein. Die 
Alleinherrſchaft der Lüge im freiwillig gemiedenen und doch mit 
der Kraft des Zornes geliebten Vaterlande war es, was beide 
Dichter im ſchönen ſonnigen Süden nicht raſten und genießen ließ, 
was ihre Blicke immer wieder auf die Heimat zurücklenkte und ihnen 
den Bogen mit den fern treffenden Pfeilen in die Hand zwang. 
Im „Don Juan“ — ich ſchöpfe die Belege nun aus H. Kraegers 
vortrefflicher Schrift — ſagte Byron der Mitwelt, „wer und was 
ſie eigentlich war. Auch Byron gehört zu den Sittenpredigern, 
die der engliſche Boden von je reichlich genährt hat.... Der Don 
Juan war das Buch eines Krieges, den Byron zu Land, zu Waſſer 
und in der Luft in ſicheren Schlägen gegen ganze Heere auszu⸗ 
kämpfen hatte. ... Er führte feinen jugendlichen Schlingel zwar 


218 VIII. Peer Gynt 


über den ganzen europäiſchen Kontinent; aber... der Ruſſe und der 
Deutſche, der Türke und der Spanier ſind bloß die Prügeljungen, 
um die Hiebe abzufangen, die John Bull von Rechts wegen hätte 
bekommen ſollen. . .. Im Spiegel der ſatiriſchen Dichtung ſollte 
ſein Volk zur Beſinnung kommen.“ Ahnlichkeit der Abſicht und 
der Aufgabe bei völliger Unähnlichkeit der Dichtercharaktere. Klänge 
es nicht gewagt, möchte ich ſagen, ‚Peer Gynt‘ 0 ein „Don 
Juan“, geſchrieben von einem Carlyle. 

In der erwähnten Briefſtelle wird das engliſche cant mit Lüge 
wiedergegeben, weil unſere Sprache für dieſe beſondere inſulare 
Schattierung der Lüge kein eigenes Wort bietet. Es wäre ein 
lohnender Verſuch für den Völkerpſychologen, die verſchiedenen 
nationalen Färbungen der Lüge vergleichend zu ſtudieren. Daß der 
Romane anders lügt als der Germane, fällt ſchon dem gewöhn⸗ 
lichen Zeitungsleſer auf, der über die Berichte der franzöſiſchen 
Kammerverhandlungen lächelnd den Kopf ſchüttelt und nicht be⸗ 
greift, wie gebildete Menſchen ſolche Dinge zu ſagen, ſolche Dinge 
mit Beifall anzuhören vermögen. Aber auch in Italien wird 
anders gelogen als in Frankreich oder Spanien, in Deutſchland 
anders als in England oder in ſkandinaviſchen Ländern. Ibſen 
ſucht im ‚Peer Gynt' das Weſen und die Wurzel der beſonderen 
norwegiſchen Lüge bloßzulegen. 

Don Juan iſt ein ariſtokratiſches Gewächs, Adam Homo 
Pfarrersſprößling, Peer Gynt Bauernſohn. Daß Peers Vater not⸗ 
gedrungen zuletzt Hauſierhandel getrieben, ändert daran nichts. 
Einen verliederten Bauernhof hinterläßt er ihm, unter Bauern 
wächſt Peer auf, um Bauerntöchter freit er, in ſeine Bauernheimat 
kehrt er am Ende eines bunten Abenteurerlebens wieder zurück. 

Die Norweger betrachten ſich jetzt noch mit Vorliebe als 
Bauernvolk. Man hört Damen in Geſellſchaft ihre „bäuerliche“ 
Herkunft hervorheben, und der Storthingspräſident wurde mir mit 
rühmender Betonung als Bauer bezeichnet. Auf dem norwegiſchen 
Parnaß iſt darum, ſo lang ihn die nationale Romantik beherrſchte, 
eine wahre Bauernvergötterung im Schwang geweſen. Vinje war 


rn a n * 
n Me 


Fa Ale a nn a 


— 
— 


NN 


— 


* 


VIII. Peer Gynt 219 


einer der erſten, die dagegen wirkten, und er richtete ſeine Angriffe 
gerade auf das dichteriſch wertvollſte Erzeugnis jenes Geſchmackes, 
die Björnſonſche Bauernnovelle. Allein bloße Kritik vermag wenig 
gegen die lebendige Darſtellung eines echten, dazu im beſten Sinne 
volkstümlichen Dichters: Björnſons „unwahre“ Auffaſſung konnte 
nur auf dichteriſchem Gebiete von einem Ebenbürtigen mit gleichen 
Waffen niedergeſchlagen werden. Zu dieſer nationalen und not⸗ 
wendigen Tat hielt ſich Ibſen berufen. 

Schon in ‚Brand‘ hatte der Kampf begonnen. Alle früheren 
norwegiſchen Dichter ſchildern nur die Schönheit, nicht die Schrecken 
der heimatlichen Natur, und auch Björnſon hatte nur in einer 
kleinen Erzählung „Blakken“, die Stätte ſeiner Kindheit, die un⸗ 
wirtliche Pfarrei Kvikne, kurz beſchrieben, hatte ſich aber dann den 
berühmten herrlichen Gegenden des Landes zugewendet. Ibſen, als 
der erſte, entwirft das Bild der rauheſten, unfruchtbarſten Gebirgs⸗ 
gegenden. Und mit der ſchönen Umrahmung verſchwand der 
ideale Bauer. Der armſelige Bewohner der Einöden, der nur die 
vierte Bitte des Vaterunſers unabläſſig zum Himmel ſchreit, 
deſſen ganzes Daſein im madstrev, im harten Kampf ums täg⸗ 
liche Brot verläuft, wurde zum „wirklichen“ norwegiſchen Bauern, 
zum wahren Vertreter des Volkstums. Aber noch war da nur ein 
allgemeiner Gegenſatz aufgeſtellt; das genügte nicht; im einzelnen, 
in jedem Punkte ſollte dem glänzenden Schein die heilſam-un⸗ 
erfreuliche Wirklichkeit entgegengeſetzt werden. Und jo wurde ‚Peer 
Gynt‘, was ſich Zug für Zug nachweiſen läßt, ein vorbedachtes 
Gegenſtück zu ‚Synnöve Solbaffen‘ und ‚Arne‘, 

L'auteur de Synnœve Solbakken présente les döfauts 
de ses compatriotes comme des qualités; Ibsen accentue les 
defauts de leurs qualités. Auch der heutige Norweger iſt noch 
ſtark und ſtreitbar wie ſeine Ahnen, meint Björnſon und führt 
uns mit kaum verhehltem Stolze den Thorbjörn als ſtärkſten und 
ſiegreichſten Kämpen des Kirchſpiels vor. Gemeine Raufluſt und 
Prahlerei, rohe Prügeleien! — ſagt Ibſen dagegen, und damit 
man nur ja bemerke, daß Peer Gynt nichts anderes ſei als Thor: 


220 VIII. Peer Gynt 


björn ohne „poetiſche“ Beſchönigung, wählt er Ort, Gelegenheit 
und Vorſpiel zu einer Rauferei gerade ſo wie in der Novelle. Peer 
und Thorbjörn erſcheinen unerwartet auf einer Hochzeit, beide 
werden zum Trinken aufgefordert und dann von den Burſchen, 
die ein Schauſpiel haben wollen, geſtichelt und angetrieben. Der 
Gegner und Nebenbuhler um die Meiſterſchaft verlangt den Ent⸗ 
ſcheidungskampf hier wie dort faſt mit denſelben Worten, die Alten 
miſchen ſich drohend und mahnend ein uſw. In beiden Fällen 
wird auch dem Bräutigam „nicht ſo große Freude, als es ſcheint,“ 
denn die Braut iſt einem andern zugetan und nimmt ihn nur ge⸗ 
zwungen. Je bemerklicher die Ahnlichkeit in all den Umſtänden, 
deſto ſchärfer tritt der moraliſche Unterſchied hervor. Thorbjörn 
kämpft nur ſchwer gereizt und wo er eigentlich nicht anders kann, 
Peer möchte gleich jedem, der ihm zuwider iſt, das Meſſer in den 
Leib rennen; Thorbjörn prahlt nur gelegentlich im Zorne, Peer 
prahlt immer, mit Luſt und aus Gewohnheit; Thorbjörn iſt im 
übrigen ein tüchtiger Menſch und fleißiger Arbeiter, Peer allezeit 
ein unverbeſſerlicher Tagdieb. Was fehlt dem handfeſten, ein wenig 
trotzigen, aber im Grunde guten Sohne des Volkes anders als 
die richtige Leitung? Laßt ein treffliches Mädchen Macht über 
ihn gewinnen, ſagt Björnſon, und ihr werdet Wunder ſehen. Ich 
zeige euch, was ihr ſehen werdet, antwortet Ibſen, und folgt 
wiederum zunächſt Schritt für Schritt dem Vorgänger, um recht 
klar zu machen, wo Björnſons Pfade von der Wirklichkeit ab⸗ 
biegen ins romantiſche Land. Solvejg, die Peer Gynt unverdienter⸗ 
weiſe ihre Liebe ſchenkt, iſt Synnöve Solbakkens Zwillings⸗ 
ſchweſter, von demſelben mildſonnigen Weſen, das die Namen an⸗ 
deuten. Die Eltern beider ſind „Leſer“, d. h. fromme, viel in der 
Schrift leſende Haugianer und blicken abgünſtig und voll Miß⸗ 
trauens auf die ſchlagfertigen Verehrer ihrer Töchter. In beiden 
Mädchen erſtarkt trotzdem die Liebe zu den wilden Burſchen mehr 
und mehr und überwindet jedes innere und äußere Hemmnis. Hier 
aber endet die Ahnlichkeit. An Thorbjörn wird das Werk der Läute- 
rung vollbracht, obwohl die zurückhaltende Synnöve ihn ihr Gefühl 


N eo m * 


VIII. Peer Gynt 221 


nur ahnen läßt; an Peer Gynt vermag die Liebe nichts zu ändern 
und nichts zu beſſern, obgleich Solvejg, allein ihrem Herzen 
folgend, Vater und Mutter aufgibt, um das Los des Verfehmten, 
aus der Gemeinde Ausgeſtoßenen zu teilen. 

Wenn Thorbjörn ſeine Arbeit getan hat, legt er ſich auf den 
Rücken in das rotbraune Heidekraut, die Hände unter dem Kopf, 
und ſchaut hinauf in die laubreichen Kronen und zwiſchen ihnen 
durch in den blauen Himmel. Dann vernimmt er, was die be⸗ 
wegten Wipfel einander zurauſchen, die Bäume reden wie die 
Menſchen und es gibt eine richtige Geſchichte. Der Norweger iſt 
ein phantaſiereicher Träumer, ein Stück von einem Dichter, ja, er 
kann ein ganzer Dichter werden, behauptet Björnſon und beſchreibt 
die Entwicklung dieſes Triebes der Volksſeele in einer zweiten 
ſchönen, mit Gedichten durchwobenen Erzählung: ‚Arne‘. Solch 
ein begabter Naturburſche liebt Sagen und Märchen und Helden: 
lieder und befindet ſich „mehr in der Gewalt unwillkürlicher Ge— 
danken“ als er weiß. Mehr als er weiß, beſtätigt Ibſen, dem 
Thorbjörn und Arne zu einer Perſon, zum gefälſchten Typus der 
Nation zuſammenfließen, und anders als dergleichen romantiſche 
Schmeichelredner glauben machen wollen. Sein Trachten — ge 
meiner Eigennutz, ſein Dichten — unwürdige Selbſttäuſchung. 
„Peer, du lügſt!“ ruft die erſte Zeile dem norwegiſchen Volke zu. 
Thorbjörn und Arne ſind in ſich verſchloſſene, wortkarge Naturen. 
Die Wortkargheit hatte ja Björnſon als nationale Eigentümlich⸗ 
keit entdeckt und nicht zum wenigſten durch deren geſchickte litera⸗ 
riſche Verwertung ſein Glück gemacht. Peer Gynts Zunge hin— 
wiederum ſteht nicht ſtill, nichts kann er für ſich behalten, an allem 
und an allen muß er ſeine Redekunſt verſuchen. Merkwürdige 
Gegenſätze! Björnſon, der viel und lebhaft ſprach, hebt am Nor⸗ 
weger die Schweigſamkeit hervor, Ibſen, der die Worte wog und 
zählte, ſchilt ihn Schwätzer, Aufſchneider, Faſelhans. 

Die Schilderungen im ganzen verglichen find wohl beide ein— 
ſeitig. Der eine betrachtet und zeichnet ſeinen Gegenſtand von 
der Lichtſeite, der andere gegen das Licht. Jener bringt nur da 


222 VIII. Peer Gynt 


und dort ein modellierendes Schattenfleckchen an, dieſer ſieht alles 
ſcharf begrenzt aber völlig dunkel. Die Stellung gegen das Licht 
hatte Ibſen nicht gewählt, ſie ergab ſich von ſelbſt. Wenn ſein nach 
Schönheit verlangendes Auge auf der beſonnten Pracht des Südens 
weilen wollte, ſchob ſich immer wieder die Heimat in dunkel⸗ 
ſcharfem Umriß dazwiſchen. ‚Beer Gynt' iſt auf Ischia und in 
Sorrent entſtanden. 
2. 

So vollkommen iſt es Ibſen gelungen, ſeinen als Vertreter 
des norwegiſchen Volkes gefaßten Helden ſich rein menſchlich aus⸗ 
leben zu laſſen, daß ſelbſt die kluge Camilla Collett über die 
„Idee“, von der er hier wie immer ausging, getäuſcht wurde. 
Man komme beſtändig auf die Nationalität zurück, ſchreibt ſie, der 
Ibſens Held angehöre. Peer Gynt ſei aber keine nationale Figur, 
ſondern „ſchlechtweg der Mann“, wie heutige Verhältniſſe ihn 
formten. Größeres Lob konnte dem Dichter nicht geſpendet werden: 
auch hier die Menſchheit im Menſchen. 

Der Eindruck des Typiſchen wird nicht durch Verallgemeine⸗ 
rung erreicht, ſondern durch das Gegenteil, durch Herausarbeiten 
des Eigentümlichen, Perſönlichen. Die klaſſiſche Tragödie der 
Franzoſen gelangt durch Abſtraktion nur zum Schablonenhaften 
und läßt uns kalt; wir betrachten Shakeſpeares ſo ganz beſondere, 
einzige Helden, einen Hamlet, einen Lear, und das Geſchick der 
Menſchheit erſchüttert unſre Seele. 

Ibſen, als moderner Dichter, bietet nicht nur des Perſön⸗ 
lichen die Fülle, er ſammelt und ordnet die mannigfaltigen Züge 
unter gewiſſen Geſichtspunkten, er ſtellt begründend dar. Wie ſich 
in Brands Charakter von den Eltern Ererbtes und Angewöhntes 
unterſcheidet, ſo iſt Peer Gynt ein Erzeugnis des Angeſtammten 
und der Erziehung oder vielmehr Vernachläſſigung. Vom Vater 
wird auch hier nur erzählt, die Mutter wiederum, deren Einfluß 
auf das Kind größer iſt, lernen wir von Perſon kennen. 

Jon Gynt, der verſtorbene Vater Peers, hat es meiſterlich 
verſtanden, dem Gelde, das der Großvater erworben, Füße zu 


VIII. Peer Gynt \ 223 


machen. In allen Kirchſpielen unbeſehen Grund und Boden 
kaufen, in vergoldeten Wagen fahren, Gaſtereien halten, bei denen 
der Übermut Flaſchen und Gläſer an der Wand zerſchmettert, das 
iſt ſeines Tuns und Treibens geweſen. Verlangt das Söhnchen, 
mit einem Gießlöffel ſpielend, ein wenig Blei, drückt man ihm einen 
Silbertaler in die Hand. Lobt ein durchreiſender Pfarrer Peterchens 
Verſtand, empfängt er von dem geſchmeichelten Wirte Pferd und 
Schlitten zum Geſchenk. Dies Leben in Überfluß iſt dem ver— 
zogenen Jungen gar herrlich eingegangen, und das Großtun und 
Sichbrüſten zur zweiten Natur geworden. Und als die Herrlich— 
keit dann ein frühes Ende gefunden, da iſt ihm die verwichene, 
als Ziel feiner Sehnſucht, zur künftigen geworden, zu einem Zus 
kunfts⸗„Kaiſertum“, das einem fo begabten und berufenen „Prin— 
zen“, für den er ſich anſehen gelernt, nicht entgehen könne. 

Probſt und Kapitän als tägliche Gäſte, die zugleich mit dem 
Reichtum auf Nimmerwiederſehen verſchwinden — der freigebige 
Vater, der ſchließlich mit dem Hauſierkaſten umherziehen muß: das 
iſt, wie wir wiſſen, ein Kapitel aus des Dichters Jugendgeſchichte, 
doch an dieſer Stelle künſtleriſch frei verwertet. Aus anderem 
Metall, obzwar Sohn eines verarmten Hauſes, iſt der Dichter, 
wie Brand, unter ſeines Schickſals Hammerſchlägen zur Entſagung 
und zum Lebenskampfe geſtählt worden. 

Hat Peer Gynt die eitle Selbſtſucht, den Hang zu Wohl⸗ 
leben und Glanz vom Vater, ſo iſt die bewegliche Einbildungskraft 
ein Erbteil von der Mutter Aaſe (geſprochen Ohße). Gleich die 
Eingangsſzene liefert ein Beiſpiel von der merkwürdigen Erregbar— 
keit ihrer Phantaſie. Mit zerriſſenen Kleidern kommt Peer aus 
den Bergen heim und erfindet, ihr Schelten zu beſchwichtigen, die 
unglaublichſte Geſchichte: wie er rittlings auf einen angeſchoſſenen 
Renntier⸗Bock niedergeſeſſen, ihn vollends mit dem Meſſer zu töten; 
wie das Tier, jählings aufſpringend, mit ihm einen fürchterlichen 
Todeslauf begonnen über den ſchmalen Grat eines Bergrückens — 
rechts und links unten die See; wie der Bock vor einem Schnee— 
huhn geſcheut und ſamt dem unfreiwilligen Reiter hinabgeſetzt habe 


224 VIII. Peer Gynt 


in die Tiefe, in den dunklen Fjord, aus dem ſich beide dann 
ſchwimmend gerettet. Anfänglich ſpottet Aaſe der handgreiflichen 
Lügen, aber mehr und mehr wird fie von der lebhaften Schilde⸗ 
rung gepackt, ſie ſieht alles mit Augen, den Ritt — den Sprung, 
der Atem ſtockt ihr vor Schrecken. Erſt eine ſpöttiſche Wendung 
des ſelbſtzufriedenen Erzählers löſt ſie aus dem Banne des Ge⸗ 
hörten. Und trotzdem ihr nun bewußt wird, daß der Unverſchämte 
nur ein altes Märchen mit kecker Ausſchmückung ſich angeeignet 
hat, rühmt ſie ſpäter gegen andere Peers Jägerſtücklein mit dem 
Bock, ja auf dem Sterbebett noch gedenkt ſie dieſes Abenteuers 
ihres Herzensjungen, als hätt' er's wirklich beſtanden. 

Solcher Macht der Phantaſie über die Wirklichkeit hat die 
charakterſchwache Frau in ſich und ihrem Kinde von Anfang an 
allen Vorſchub geleiſtet. Der Vater ein Säufer, die Mutter toll, 
kein Wunder wird der Junge ein Tropf, muß Peer mit eignen 
Ohren von den Kirchſpielleuten hören. Wenn Jon auf endloſen 
Rundfahrten Hab und Gut verzechte, ſaß ſie, unfähig zum Wider⸗ 
ſtand, mit dem kleinen Peer zu Hauſe und wußte ſich nichts 
Beſſeres, als zu vergeſſen. 

Dem Schickſal ins Aug' ſehn, ſtatt ſich zu fügen, 
Das iſt häßlich; man hält ſich doch gern 

Die Sorgen und trüben Gedanken fern: 

Der eine mit Branntwein, der andre mit Lügen. 


Sie hat ſich denn mit Märchen drüber weggeholfen, hat ſich und 
dem Kind immer wieder mit Prinzen und Trollen, mit Entfüh⸗ 
rungen und allerhand Abenteuern zu ſchaffen und zu denken ge⸗ 
geben. Und nur allzuſehr ſind „die Teufelsgeſchichten“ in ihr und 
ihm haften geblieben. 

Not und Verlaſſenheit haben die beiden gelehrt, zuſammen⸗ 
zuhalten, Aaſe hängt mit wahrer Affenliebe an ihrem Peer. Sie 
ſchilt und ſchmäht in heller Wut über den Schwindler und Faul⸗ 
pelz, reißt ihn an den Haaren und will ihm mit dem Stock zu 
Leibe, aber es iſt nur Zorn aus Enttäuſchung, aus gekränktem 
Stolz, nur Strohfeuer. Er könnte überall der Erſte ſein, wenn er 


EEE 


Wr 


e e e 


r 


2 


VIII. peer Gynt 225 


— 


wollte. Kommt er von einer Schlägerei, jammert ſie über den 
Raufbold; klagt er zum Scherz, als wär' ihm übel mitgeſpielt 
worden, jammert ſie noch mehr, daß er ſich habe prügeln laſſen. 
Wie Peer mit der entführten Ingrid auf den Armen vor den 
Augen der Hochzeitsgäſte eine ſteile Felswand emporflüchtet, ſchimpft 
ſie wütend zu ihm hinauf, er möge den Hals brechen, ruft aber 
gleich angſtvoll nach: tritt vorſichtig auf! fleht Gott um ſeinen 
Schutz an und wendet ſich trotzig gegen den Brautvater und alle, 
die ihn bedrohen. Später weint ſie und freut ſich doch zugleich: 
es iſt eine ſchändliche Tat, aber doch eine Tat! Freilich, wer 
hätte gedacht, daß die dummen Märchen, worin dergleichen wohl 
geſchieht, ihn ſo anſtecken würden. Alles wird ihr zur Strafe 
dafür gepfändet und fie gerät durch den Sohn in die äußerſte 
Bedrängnis; aber das will ſie nicht Wort haben. Wenn ihr 
Junge wirklich etwas verbrochen hat, ſo iſt der Teufel daran ſchuld 
oder der Branntwein. Heimlich ſchafft ſie dies und das für ihn 
beiſeite; es iſt zwar Sünde, aber der Prieſter wird ihr das ſchon 
vergeben — mit dem andern. Und gegen Peer wird der liebe 
Gott nicht zu hart ſein; er iſt ja ein ſo vortrefflicher Junge. 
Auf dem Totenbette noch fürchtet ſie, ihn zu ſtreng gehalten 
zu haben! 

Wie durch einen Schleier ſchimmern auch hier Jugendein— 
drücke, ohne daß man doch Aaſe als Porträtſtudie auffaſſen dürfte. 
„Mit den nötigen Übertreibungen,“ bemerkt der Dichter, habe ſeine 
eigene Mutter für Aaſe das Modell abgegeben, und auch ſonſt 
enthalte das Gedicht vieles, was aus ſeinem Jugendleben herrühre. 

Peer liebt die Mutter, der er ſo ähnlich iſt, in ſeiner Art, 
ſucht ſie zu begütigen, einen Kuß von ihr zu erlangen, wenn ſie 
ſchilt, treibt Poſſen mit ihrem würdeloſen Zorn — immer gut⸗ 
mütig, doch ohne alle Achtung. Sie iſt, eh er Solvejgs Liebe 
gewinnt, ſein einziger Freund, das fühlt und vergilt er, wie er es 
kann und wie ſie es verdient. Die Szene ihres Hinſcheidens 
(Ende des 3. Aktes) — ein Gegenbild zum Tode der Mutter 
Brands — rückt das beiden Gemeinſame und ihr darauf ſich 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 15 


226 VIII. Peer Gynt 


gründendes Verhältnis zueinander abſchließend ins hellſte Licht. 
Aaſe erkaltet ſchon an Händen und Füßen, da tritt Peer, der 
geächtete Brauträuber und Flüchtling, bei Nacht verſtohlen in die 
kahle, nur vom Herdfeuer erleuchtete Stube. Da die Kranke vom 
nahen Ende zu reden anfängt und von ihrem Sarge — einen gold⸗ 
beſchlagenen möchte ſie haben, wenn ſich's machen ließe — ſucht 
der Sohn ſeine und ihre Gedanken abzulenken. „Dem Schick⸗ 
ſal ins Aug' zu ſehn, das iſt ſo häßlich“ — lieber plaudern, 
um zu vergeſſen, was beunruhigt und quält und verſtört. Nun 
ſitzt er auf das Bettende, wo die Mutter ſo oft bei ihm geſeſſen, 
— und damals ſtellte das Bett einen Schlitten vor, und die 
Mutter hielt einen Stock in der Hand als Peitſche und eine an 
den Stuhl gebundene Schnur als Zügel, und im Fluge ging's 
dahin nach dem Märchenſchloß Soria Moria öſtlich von der 
Sonne und weſtlich vom Mond. „Weißt du noch, Mutter?“ Und 
um ihr über Schmerzen und Klagen wegzuhelfen, wirft er flugs 
eine Schnur über den Stuhl, auf dem die alte Katze ſchläft, und 
ſchwingt den Stock — und wieder ſauſt das Gefährte dahin. Der 
armen Alten klingt und brauſt es in den Ohren — ja das ſind 
die Schlittenglocken und die rauſchenden Tannen; es blinkt und 
blitzt ihr vor den Augen — das ſind die leuchtenden Fenſter des 
Schloſſes, und drinnen tanzen ſie, und Sankt Peter tritt heraus, ja 
Gott Vater ſelbſt, Mutter Aaſe zu bewillkommnen. Aber warum 
iſt ſie ſo ſtill? Peer wendet ſich um: — ſie iſt tot. Mit einem 
„Dank für alles“ ſchließt er ihr die Augen und drückt ſeine Wange 
an ihren kalten Mund, daß auch ſie ihm mit einem Kuß danke 
für die letzte Fahrt. Dann geht er in die weite Welt, das Be⸗ 
gräbnis der Nachbarin überlaſſend. 

Peers Gefühle für ſeine Mutter, wie wenig tief ſie auch 
wurzeln, erweiſen doch, daß fein Herz nicht von vorne herein uns 
fruchtbares Erdreich geweſen und, ſorgfältiger gehegt, wohl reicher 
getragen hätte. Sie bereiten uns vor auf das ſchnelle Aufkeimen, 
aber auch auf das frühzeitige Abwelken ſeiner Liebe zu Solvejg. 

Das Führende und Bewegende, die eigentliche Handlung der 


EEE eee e e eee 


VIII. Peer Gynt 227 


erſten drei Akte, bildet, ob ſie gleich verhältnismäßig geringen 
Raum einnimmt, die Geſchichte dieſer Liebe. 

Zum erſten Male begegnet ihm das Mädchen auf jener ſelben 
Hochzeit, die der Anlaß zu ſeiner unſinnigen Tat wird. Vor 
einem Jahr erſt eingeſegnet, fromm erzogen und nicht an viele 
Menſchen gewöhnt, blickt ſie ſchüchtern auf die weiße Schürze und 
ihre Schuhe nieder, mit der einen Hand der Mutter Rockfalten 
faſſend, das ins Tüchlein geſchlagene Geſangbuch in der andern. 
Schnell redet Peer den Vater an und holt ſich die Erlaubnis, mit 
ihr zu tanzen: fie find indflytterfolk, aus einem andern Kirch⸗ 
ſpiel Eingewanderte, ſie wiſſen nicht, wen ſie vor ſich haben. 
Niemand ſonſt will es ja mit ihm halten, weder Dirnen noch 
Burſchen. Der echte Sohn aus verkommener Familie, hat er alles 
getan, den ſchlechten Ruf der Eltern an ſeinem Teil zu verdienen, 
als Rauf⸗ und Maulheld die Geringſchätzung zu überbieten. Wo 
er ſich nähert, ſchweigt man; entfernt er ſich, ſchauen ſie ihm 
höhniſch lächelnd und flüſternd nach. Könnt' er ihnen nur die 
Verachtung mit einem Schlächtergriff aus der Bruſt reißen! Doch 
Geduld, er wird noch alles Volk beſchämen, wird einmal in nie 
geſehener Märchenpracht daherreiten, den Erſtaunten, ihn Um⸗ 
jubelnden Gold hinſtreuen wie Kieſelſteine! — Einſtweilen aber 
ſteht er im zerriſſenen Rock, ungeladen, ungelitten unter den ge 
putzten Gäſten, weniger um der Braut willen gekommen, die ihn 
heimlich liebt, als um auch bei Tanz und Feſt und beim Ver⸗ 
geſſen ſchaffenden Bechern mit dabei zu fein. Da wirkt Solvejgs 
liebliche Erſcheinung unerwartet mächtig auf ſein beſſeres Selbſt; 
bald kann er kein Auge von ihr laſſen, ja ſchiebt den erſt gierig 
gewünſchten Branntwein zurück. Doch wie er ihr die Hand reicht 
zum ſchon bewilligten Tanz und ſeinen Namen nennt, zieht ſie die 
ihre weg und geht unter einem Vorwand von ihm. 

Finſter gibt er nun nach und leert die von den Streit 
luſtigen ihm aufgenötigten Flaſchen, bis er „in Zug kommt“ und 
fie ihn umdrängen: Was kannſt du alles, Peer? Erzähl' uns, er⸗ 
zähl'! O, er kann den Teufel rufen, ihn in eine Nuß bannen, kann 

15* 


228 VIII. Peer Gynt 


durch die Luft reiten, daß das ganze Kirchſpiel ihm zu Füßen 
fallen ſoll. . . . Lautes Gelächter, Spott und Drohungen find die 
Antwort. Aber Solvejg tritt wieder aus dem Haufe, und ſogleich 
geht er zu ihr mit leuchtenden Augen, ſeine Bitte zu wiederholen. 
Sie will nicht: „Du haſt getrunken!“ „Du ſchämſt dich nur, 
weil ich ausſehe wie ein Bettler.“ „Nein, das tuſt du nicht“ — 
der hübſche, ſtarke Burſche hat ihr immerhin ſchon gefallen. „Ich 
habe nur getrunken, weil du mich gekränkt haſt. Komm' nun!“ 
Nein — ſie darf nicht — der Vater! Zornig raunt er ihr ins 
Ohr, er werde ſich um Mitternacht in einen Wehrwolf verwandeln 
und ſie quälen, wenn fie nicht mit ihm tanze, — und plötzlich 
wieder umſchlagend, ängſtlich: „Tanz mit mir, Solvejg!“ „Nun 
warſt du häßlich“, ſagt ſie und läßt ihn ſtehen. 

Das Maß ſeines Trotzes iſt voll. Ingrid, die Braut, habe 
ſich eingeſchloſſen, klagt der Tölpel von einem Bräutigam, ob Peer 
nicht Rat wiſſe. Augenblicklich weiß er Rat: er entführt das Mäd⸗ 
chen — um die allzu Willfährige am andern Morgen ſchon in 
der Einſamkeit des Gebirges ernüchtert von ſich zu ſtoßen. 

Die Roheit ſeiner Handlungsweiſe ſteht hier in eindrucks⸗ 
vollem Gegenſatze zum edlen Beweggrund. Haſt du Schüchternheit 
in den Augen, herrſcht er die Flehende an, kannſt du nein ſagen, 
wenn ich bitte, wird Feiertag in der Seele, wenn man dich an⸗ 
ſieht? Wie erſt den Branntwein, verſchmäht der verachtete Lumpen⸗ 
prinz ihren reichen Beſitz um einer reinen, neu erwachten Neigung 
willen. Mehr und mehr ſcheint es die lichte Macht über ihn zu 
gewinnen, denn da Ingrid, ihn voll Haß verlaſſend, zurückruft, er 
werde den Frevel an ihr teuer büßen müſſen, antwortet er nur, 
die teuerſte Buße wäre noch billig. 

Wieder bekundet Ibſen den Glauben an das Heilſame, Stär⸗ 
kende der Verfolgung. Mit Büchſen und Stangen ziehen die em⸗ 
pörten Bauern wider Peer aus, und das leiht ihm für den Augen⸗ 
blick Bärenkraft. Stark genug fühlt er ſich, den Bergſtrom zu 
ſtemmen, die Fichten mit den Wurzeln auszureißen. Das iſt Leben 

und Luſt, das härtet, fort mit den wäſſrigen Lügen! Allein die 


rr 


7 A Een an 
* 2 * 5 


VIII. Peer Gynt 229 


Selbſterkenntnis, nur ein leichter Anflug, ſchwindet ſo raſch wie 


ſie gekommen, und die aufgeregte Kraft entlädt ſich bei der erſten 
Gelegenheit in wüſter Ausſchweifung. Mit drei liebestollen Senne⸗ 
rinnen jagt und jauchzt er gen Abend, wenn die Schatten länger 
werden, über die Höhen hin: 


Finſtern Sinnes in frecher Luſt, 
Lachen im Auge mit weinender Bruſt. 


Das iſt Gewiſſensbetäubung, Reue ohne ſittlichen Rückhalt, ähn⸗ 
lich, wenn auch weniger titaniſch, wie die der Byroniſchen Helden, 
Trotz und Verzweiflung gemiſcht, im Grunde 5 und 
Selbſtvergebung. 

Von den Sennerinnen aufs neue mit Met trunken gemacht, 
irrt Peer bei Sonnenuntergang im Hochgebirge umher. Ein 
glühender Ring preßt ihm die Schläfe, die ganze Natur nimmt 
ein geſpenſtiſches Ausſehen an, Palaſt um Palaſt ſteigt auf in 
blauender Pracht, die Bäume werden zu Rieſen mit Reiherfüßen. 
Dann leuchtet ein ſchöner, lichter Gedanke aus dem Wirrnis ſeiner 
phantaſtiſchen Vorſtellungen. Zwei braune Adler ſegeln hoch über 
ihm in Lüften: a 

Ich will mit! Ich will rein mich baden 
In ſauſender Lüfte Strom! 


Will mich läutern im Taufborn der Gnaden, 
Im ſtrahlenden Himmelsdom! 


Eines ſo inbrünſtigen Aufſchwungs zeigt ſich der Phantaſie⸗ 
begabte fähig, aber der Fittich trägt nicht, ſogleich ſinkt er wieder 
zur Erde herab. Seine Sehnſucht iſt überall nichts als der 
Wunſch nach Befreiung aus einer peinigenden Lage, feine Luft: 
ſchlöſſer haben alle die Begierde nach einem mühelos zu erreichenden 
Glücke zum Grundſtein. Kein Gedanke mehr an Solvejg in dieſen 
abenteuerlichen Träumen von einem Kaiſertum jenſeits der See; 
nichts ſinnt er aus, was ihm für ſie gelingen, was ſie an ſeiner 
Seite genießen möchte; wie ſtets vorher, krönt er im Geiſte nur 
ſich ſelbſt. Dagegen miſchen ſich Jugenderinnerungen in das Bild 


230 VIII. Peer Gynt 


— Feſtlichkeiten im Vaterhauſe — des Probſtes Trinkſpruch auf 
den Gyntiſchen Stammhalter, 
— der da widerhallet im Saal: 


Von Großem biſt du gekommen, 
Peer Gynt, und wirſt Großes einmal! 


Begeiſtert von ſich und dem Ausblick in die glänzende Zukunft, 
rennt er blindlings gegen einen Felsblock, ſtürzt nieder und bleibt 
liegen. — | 

Bis hieher wandeln alle Perſonen und vollzieht ſich alle 
Handlung auf feſtem Boden in Alltagsbeleuchtung. Das Märchen⸗ 
hafte ſpukt nur durch Peers Kopf, mit ſolcher Lebhaftigkeit freilich, 
daß er ſelbſt nicht immer klar weiß, ob „Traum ein Leben“ ſei 
oder „Leben ein Traum“. Die nächſten Auftritte nun ſpielen im 
Fabellande. Stets wird jedoch das Symboliſche der Geſtalten und 
Geſchehniſſe durchgefühlt, und das aus dem Märchen Entlehnte 
dient ſchließlich nur als Mittel zum Zweck, zur Projizierung 
ſeeliſcher Vorgänge auf die Bühne. 

Peers Untreue gegen Solveig, d. h. gegen alles Beſſere in 
ihm, ſchon zur Tat geworden in der Begegnung mit den Senne⸗ 
rinnen, wiederholt ſich, wenn er einer Trollprinzeſſin, der „Grün⸗ 
gekleideten“, beim erſten Anblick mit Liebeswerbung folgt bis in 
ihres Vaters unterirdiſches Reich. Und dann in der ſchlimmen 
Nacht, wo er ganz in die Gewalt der Kobolde, d. h. in die ſeiner 
niedern Begierden und Leidenſchaften verfällt, empfinden wir, wie 
er tiefer und tiefer von der reinen Geliebten wegſinkt. Sie aber 
iſt doch im Geiſte immer in Treuen um ihn. Gleich nach ſeiner 
Flucht hat ſie Aaſe im Gebirge nach ihm ſuchen helfen, und eher 
noch wird die eitle Mutter müde von ihm zu erzählen als Solvejg 
zu hören. In der höchſten Bedrängnis fühlt er es auch jedesmal, 
auf weſſen Beiſtand allein er bauen kann. Erſt ruft er nach der 
Mutter, und ſogleich verſchwindet das Trollenreich beim Klang der 
Kirchenglocken, die Aaſe läuten läßt, und zum andernmale gedenkt 
er innig der Geliebten und rettet ſich durch den Gedanken an ſie 
im Kampfe mit einem Ungeheuer — dem „großen Krummen“ — 


El BEER, Ur 
7 — 2 


r 


VIII. Peer Gynt 231 


das gleichſam noch als letztes und mächtigſtes Hindernis ſich hin— 
ſtreckt vor der Türe der Oberwelt, des lichten Tages und ſeiner 
wieder zu erlangenden Menſchlichkeit. 

Und wieder iſt ſie ihm nahe nach beendetem Kampf bei 
Sonnenaufgang und ſendet Speiſe und Trank dem erſchöpft vor 
der Almhütte Liegenden. Helga, ihr Schweſterchen, bringt die 
Labung, während ſie ſich hinter der Hausecke verbirgt. Er darf 
auch keinen Verſuch machen, ſie zu erreichen, nur aus der Ferne 
ihr geſtehen, wo er die Nacht geweſen, dann eilt ſie von dannen. 
Raſch holt er einen ſilbernen Knopf aus der Taſche, des Kindes 
Fürſprache zu gewinnen, läßt es hart an und fleht gleich wieder 
ſanft: „Bitte ſie, daß ſie mich nicht vergißt!“ 

Mit dieſer wortknappen, in ihrer Einfachheit ſtimmungsvollen 
Szene ſchließt ein größerer innerer Abſchnitt der Liebesgeſchichte 
und ein äußerer Abſchnitt des Stückes. Nach und neben der un— 
vergleichlichen Schilderung der Agnes iſt Solvejgs, des weltfremden, 
wohl behüteten zarten Mädchens Liebe zu dem wilden, verlotterten 
Peer in Ibſens Dramen eines der ſchönſten und rührendſten Ge— 
mälde weiblicher Hingebung, alles überdauernder Treue, groß⸗ 
herziger Geſinnung ohne Wunſch nach Dank und eigenem Glück. 
Vom Schluſſe abgeſehen, der die Erinnerung an Gretchen weckt, 
gemahnt ſie durch Artung und Schickung mehr an eine andere 
berühmte Geſtalt deutſcher Poeſie, an das Käthchen von Heilbronn. 
Wie jenes viſionäre Kind, nur alles moderner und ſchlichter auf— 
gefaßt, wird auch ſie, ſchier willenlos einer geheimnisvollen Stimme, 
einer höheren Macht gehorchend, zu dem Manne geführt, ſich ihm 
zu ergeben als dem unbedingten Gebieter über Leben und Schickſal. 

Zu Beginn des dritten Aktes iſt es Winter geworden und 
Peer hauſt immer noch im Walde. Es glückt ihm nicht mehr, 
ſich durch die alten Hirngeſpinſte über Hunger und Entbehrungen 
wegzutäuſchen. Er hat ungewohnte Arbeit tun müſſen, Bäume 
fällen zur ſelbſtgezimmerten Hütte, und eben iſt er beſchäftigt, noch 
einen großen Holzriegel an die Türe zu ſchlagen, da kommt ſein 
holdes Mädchen in der Abenddämmerung auf Schneeſchuhen über 


232 VIII. Peer Gynt 


die Heide, ein Tuch um den Kopf geſchlungen, ihr Bündelchen in 
Händen. 
| Solvejg. 
Gott ſegne die Arbeit! Mußt mich nicht vertreiben. 
Ich komm' ja gerufen, ſo laß mich denn bleiben. 


Peer. 
Solvejg! Kann ich glauben —? Du biſt es, ja! 


Und du fürchteſt dich nicht und du kommſt mir ſo nah? 


Sol vejg. 
Botſchaft von dir bracht' Helga, das Kind, 
Heimliche Botſchaft brachte der Wind. 
Was deine Mutter ſprach — jegliches Wort 
Klang mir in Träumen nach, drängte mich fort. 
Tage ſo leer und ſchwer, Nächte beklommen 
Brachten die Botſchaft: nun müßt' ich kommen. 
Ich konnt' nicht von Herzen mehr lachen noch weinen, 
Als wär' mir das Leben verſiegt bei den Meinen. 
Ich wußte nicht klar, wie dir ſtünde der Sinn, 
Ich wußte nur klar, was mich rief und wohin. 


Peer. 
Und dein Vater? 


Solvejg. 
Auf Gottes weiter Erd' 
Iſt mir fürder nicht Vater noch Mutter beſchert. 
Hab' gelöſt mich von allen. 


Peer. 
Solvejg! Um mein — 
Um zu mir zu kommen? 


Solvejg. 
Zu dir allein. 
Du biſt mir nun alles, Freund und Berater. 


(Weinend.) 
Ach, die Schweſter verlaſſen war ſchwer genug, 
Doch ſchwerer noch fiel mir die Trennung vom Vater, 
Doch am ſchwerſten von ihr, die am Herzen mich trug. 
Nein, verzeih mir Gott, 's iſt mir am ſchwerſten gefallen, 
Mich zu trennen von ihnen allen — allen. 


S 


r 
a 


RR 


— 


* 


135 
1 
I 
4 
Ik 
7 


VIII. Peer Gynt | 233 


A FEB 


Peer. 


Und kennſt du mein Urteil? Verſtoßen, gemieden! 
Von Haus und Heimat für immer geſchieden. 


Solvejg. 
Meinteſt du, daß ich für Gut und Geld 
Mich von allem Liebſten getrennt auf der Welt? 


Peer. 


Und weißt du den Bannſpruch, verlefen dabei? 
Vorm Walde draußen bin ich vogelfrei. 


Sol vejg. 
Auf Schneeſchuh'n lief ich fort; wußt' nicht ein noch aus; 
Wohin des Wegs, ſie fragten; ich ſagte nur: nach Haus. 


Peer. 


Weg denn mit allen Klammern und Planken! 

Nun brauch' ich keinen Riegel gen Trollen-Gedanken. 
Trittſt du herein, mit dem Schützen zu leben, 

So weiß ich, wird Segen die Hütte umgeben. 
Solvejg, laß dich anſehn! — fol — nicht zu nah! 
Nur anſehn! — Nein, wie lieblich ſtehſt du da! 
Laß dich heben, Liebſte. Wie biſt du leicht und fein! 
Darf ich dich tragen, nie werd' ich müde ſein. 

Will dich nicht beſchmutzen; mit geſtrecktem Arme 

Halt' ich weit dich von mir, du Holde, du Warme! 
Daß ich dich könnte locken — nein, wer hätt' es gedacht! 
O — aber mein Sehnen warſt du Tag und Nacht. 
Hier, ſieh nur, hab' ich gezimmert für mich; — 

Das reiß' ich wieder ein, du; 's iſt zu gering für dich. 


Sol vejg. 
Gering oder prächtig, — hier heimelt mich an. 
Wie leicht ſich's hier atmet, ſtreicht der Wind durch den Tann! 
Drunten war es ſchwül und die Bruſt ſo beengt, 
Ja, es iſt auch das, was mich fortgedrängt. 
Doch hier, wo ich höre der Fichten Gebrauſe — 
Wie Geſang in der Stille! — hier bin ich zu Hauſe. 


Peer. 
Und weißt du das gewiß? 's gilt dein Leben und Glück! 


234 VIII. Peer Gynt 


Solvejg. 
Der Weg, den ich gegangen, führt niemals zurück. 


Peer. 
So hab' ich dich, Solvejg! Tritt über die Schwelle! 
Flink für den Herd ſchaff' ich Brennholz zur Stelle. 
Traulich ſoll es leuchten und hell die Hütte zieren. 
Warm ſollſt du wohnen und niemals ſollſt du frieren. 


(Er ſchließt auf, Solvejg tritt hinein. Er ſteht eine 
Weile ſtill, dann lacht er laut auf vor Freuden und 
ſpringt in die Höhe.) 

Meine Königstochter! Gefunden, gewonnen! 
Hei, nun wird mein Königsſchloß von Grund auf neu begonnen! 

Aber ſchon ſtellt ſich die Vergangenheit wider ihn in Geſtalt 
der nun häßlich und alt erſcheinenden Trollprinzeſſin, und die Sünde 
— daß er ihrer begehrt hat in Gedanken — tritt in einem 
hinkenden Jungen, ſeinem und ihrem Sohn, lebendig, verkörpert 
ihm vor Augen. Die Häßliche wird zugegen ſein, wo immer er 
weilt, für ſie hat er mitgebaut, als er ſein Obdach errichtet, kein 
Fluch treibt ſie fort, keine Drohung ſchüchtert ſie ein, wenn er 
mit Solvejg koſt, wird ſie ſich dazwiſchen ſchieben, alle Liebe und 
Freude ſchändend und verderbend. Solvejg, mein reinſtes, lichteſtes 
Gold! klagt Peer. Ja, die Unſchuldigen müſſen es büßen, höhn 
die Hexe: | 

Sie und ich wollen tauſchen und teilen; 

Willſt du heiraten, Schatz, ei ſo tu's ohne Weilen! 
Ihre Brut, lahm am Schenkel, wie der Vater lahm am Sinn, 
wirft noch zornig ſpuckend den Bierkrug nach ihm, dann verſchwin⸗ 
den die beiden im Dickicht. 

Peer brütet vor ſich hin; wohl fühlt er, daß es trotzdem 
noch einen Weg gäbe zurück zu „ihr“ — durch Reue; doch würde es 
ein hartes Leben ſein und manches Jahr ins Land gehen, bis er ſie 
alle aus den Gedanken vertrieben hätte, die ihn verfolgen und 
peinigen, Ingrid und die Sennerinnen und die Trollhexe. Trüg' er 
künftig die Geliebte und wäre fein Arm auch jo lang wie die Tan⸗ 
nen, immer noch käme ſie ihm zu nah, und verloren wär' ihr 


VIII. Peer Gynt 235 


Glanz und ihre Zier. So hält er wieder inne, ſtatt, wozu er ſchon 
den Fuß hebt, vor ſich ſelbſt bei ihr Schutz zu ſuchen, zu ihr zu 
eilen, und nennt es Kirchenſchändung, ihr noch einmal zu nahen. 

Aus der Türe fragt ſie, ob er komme. Schon bereit zum 
Ausweg — „ſo daß es weder Gewinn werde noch Verluſt“ — 
ſchon zur Flucht entſchloſſen, erwidert er: du mußt warten. „Ja, 
warten“, ſagt ſie und nickt ihm zu und wartet — ein Menſchen— 
leben lang. 

3. 

Erſcheinen in einem Märchenſpiele die Fabelweſen von Anfang 
an auf der Bühne, ſo läßt ſich mit Goethe ſagen: „ſind eben da“. 
Erſt mitten im zweiten Akt ſie einzuführen, mitten in die bis ins 
Kleinſte getreue Abſchilderung des Bauernlebens hinein, ohne daß 
etwas Fremdes fühlbar wird, ohne gewaltſamen Sprung aus einem 
Bereich in das andere, das gelingt hier dem Stoff und Stim⸗ 
mung beherrſchenden Künſtler. Den unmerklichen Übergang bildet 
die Szene mit den Sennerinnen und der ſich anſchließende Monolog 
Peers. Laut rufen die ausgelaſſenen Dirnen in die Berge nach 
den Trollen, zu kommen und in ihren Armen zu ſchlafen. Sie 
nennen ſie bei Namen, halten ſie, wie die freche, mit Abſicht ſo 
deutliche Aufforderung zeigt, für leibhaftig genug. Das wirkt auf 
die Einbildungskraft, wir würden uns nicht wundern, kämen die 
Gerufenen alsbald um die Felsecke. Ferner hilft Peers Trunken⸗ 
heit über die Kluft hinweg. Zunächſt mag er und mögen wir 
glauben, daß ihm all das Seltſame nur im Rauſche träume. 
Während der quälenden Vorgänge bei den Unterirdiſchen ſeufzt er 
nach Befreiung vom Alp: „Ich wollt', ich wachte auf!“ und un- 
mittelbar nach ihrem Abſchluß, nach dem Kampfe mit dem Krummen, 
liegt er in tiefem Schlafe und wünſcht beim Erwachen einen ſcharf— 
geſalzenen Hering für ſeinen Jammer. Aber das iſt durchaus kein 
rationaliſtiſches Wegerklären des Wunderbaren. Sind wir fürs 
erſte daran gewöhnt, haben die Trolle Zeit gewonnen, uns von 
ihrer Weſenswirklichkeit zu überzeugen, dann darf die Tochter des 
Bergkönigs, dürfen weiterhin im letzten Akt der Knopfgießer und 


236 VIII. Peer Gynt 


ſeinesgleichen ohne vermittelnde Umſtände auftreten — alles wohl 
beglaubigte Sendlinge einer nun ſchon bekannten Welt. 

Es gibt zwei Möglichkeiten, dieſe Welt der Phantaſie mit 
der gegenwärtigen in künſtleriſchen Einklang zu bringen. Die eine 
iſt, dem Menſchen, der mit Geiſtern verkehren ſoll, bis zu einem 
gewiſſen Grade die Erdenſchwere zu nehmen, ihn übers Alltagsleben 
emporzuheben, wie es die Romantiker, Dichter ſowohl als Maler, 
verſucht haben, die andere, gerade umgekehrt das Schemenhafte mit 
menſchlicher Körperlichkeit auszuſtatten, worin die niederländiſchen 
und altdeutſchen Meiſter vorangegangen ſind. In unſerer Zeit 
hat ſich auf dem Gebiete der bildenden Kunſt vor allen Böcklin in 
realiſtiſcher Behandlungsweiſe der Fabelwelt bemächtigt; auf dichte⸗ 
riſchem, neben ihm und unabhängig von ihm, Ibſen im „Peer 
Gynt“. Stuck und Hauptmann folgten auf ſchon gebahntem Wege. 
Daß jede Regung, jedes Streben des modernen Geiſtes während 
der letzten fünfzig Jahre in Ibſens Werken — und meiſt da zu⸗ 
erſt! — ihren Ausdruck gefunden, wird zu leicht überſehen, weil 
er bei keiner dieſer Bewegungen verweilt, keine zu ſeiner Beſonder⸗ 
heit macht. Erkennen wir die Schranken ſeines Darſtellungs⸗ 
vermögens auf der einen Seite, ſo dürfen wir auf der andern 
dieſer Allheit die Beachtung nicht verſagen. 

Der „leitende“ däniſche Kritiker zu damaliger Zeit, Clemens 
Perſen, nahm Anſtoß an der „Gedankenſchwindelei“, an dieſen 
„Rätſeln, die nicht lösbar ſind, weil ſie leer ſind,“ und ſuchte nach⸗ 


zuweiſen, daß „Peer Gynt‘ „nicht eigentlich Poeſie ſei“ und zwar, 


weil das Werk bei der Umformung von Wirklichkeit in Kunſt halb 
die Forderungen der Kunſt und halb die Forderungen der Wirklich⸗ 
keit preisgebe. Dem doktrinären Aſthetiker erwiderte der Dichter: 
„Mein Buch iſt Poeſie; und iſt es keine, dann ſoll es Poeſie 
werden. Der Begriff Poeſie wird ſich ſchon dem Buche noch an⸗ 
paſſen.“ So ſpricht der Künſtler und behält jederzeit Recht. 
Aber der „leitende“ Kritiker fährt in alle Ewigkeit fort, mit fertigen 
Maßſtäben zu meſſen, mit fertigen Formeln zu verdammen. 
Schon in Hoſtrups Komödien und in Ibſens ihnen ähnlichem 


Zn 


FP 


2 


VIII. Peer Gynt 237 


„Johannisabend“ ſpielen Menſchen und Märchenweſen nebenein- 
ander. Aber dort führt der Verſtand, nicht die Einbildungskraft 
das Wort und bedient ſich der Niſſen, Feen uſw. mit billiger 
Überlegenheit und billigem Witze bloß dazu, eine literariſche Nich- 
tung dem Geſpötte auszuſetzen. Solches hat nur den geringſten 
Wert, wenn überhaupt einen. Der wahre Genius — nach Lambs 
klaſſiſchen Worten — verfährt anders: From beyond the scope 
of Nature if he summon possible existences, he subjugates 
them to the law of her consistency. Böcklins Centaur, der 
in einer Dorfſchmiede den Huf zur Beſichtigung auf den Ambos 
legt, er leibt und lebt ſo gut wie der Meiſter Schmied, der prüfend 
dabei ſteht. Ob die Dinge in einem neugeſchaffenen Lebenskreiſe 
zuſammenſtimmen, iſt die Frage, nicht ob eins und das andre da— 
von in den unſern paſſen würde. So faßt auch der naive Menſch 
das Kunſtwerk auf als eine Wirklichkeit für ſich, und nur einem 
Gelehrten der Naturwiſſenſchaften konnte es bekommen, der Kunſt 
Fabelweſen unterſagen zu wollen, weil ſich ſolche anatomiſch nicht 
denken ließen. 

Unſere deutſchen Romantiker haben die volkstümlichen Märchen 
vom geſtiefelten Kater, vom Ritter Blaubart dramatiſiert. Erfüllte 
nur gleich viel Dichterkraft und ernſter Sinn ihre „Spiele“ wie 
das nordiſche Werk, ſie wären koſtbares Gemeingut geworden. Denn 
bei ſolchen Fabeln erfreut ſich ja auch der neuere Dramatiker des 
großen Vorteils der Alten: der Stoffwahl aus bekannten Sagen. 
Ibſens Landsleute bedürfen keiner Erklärung zu ‚Peer Gynt‘, das 
Befremdliche des Stoffes, das den deutſchen Leſer zuerſt abſchrecken 
mag, iſt für fie nicht vorhanden. Der Held und feine merkwür— 
digſten Erlebniſſe ſind ihnen vielmehr wohl vertraut aus P. Chr. 
Asbjörnſens Feenmärchen (Norske Huldre-Eventyr og Folke- 
sagn). | 

In alten Tagen, erzählt der nordiſche Grimm (II, 77), lebte 
in Kvam ein Jäger und der hieß Peer Gynt. Noch ſpät im Herbſt 
zog er einmal hinauf ins Gebirge, da längſt alle Leute zu Tal 
getrieben hatten, bis auf drei Sennerinnen. Als er an den Saeter 


238 VIII. Peer Gynt 


(Sennhütte) kam, wo er nächtigen ſollte, war es ſo finſter, daß 
man die Fauſt nicht vor den Augen ſehen konnte. Plötzlich ſtieß 
er auf etwas und wie er darnach faßte, war es kalt und groß 
und ſchleimig. „Wer iſt das?“ ſagt Peer, denn er fühlt, daß es 
ſich rührt. „Ei, das iſt der Böig“ (der Bogige, Krumme), ant⸗ 
wortet es. Da war nun Peer ebenſo klug; aber er ging ein Stück 
um den Spuk herum, denn irgendwo muß ich doch durchkommen, 
dachte er. Da ſtieß er wieder auf etwas und wieder war es kalt, 
groß und ſchleimig. „Wer iſt das?“ ſagt Peer Gynt. „Ei, das 
iſt der Krumme“, antwortet es wieder. „Ja, ob du nun grad 
biſt oder krumm“, ſagt Peer, „durchlaſſen mußt du mich doch“, 
denn er merkte, daß er rundum im Kreiſe ging und daß der 
Krumme ſich um die Sennhütte geringelt hatte. Da ſchien er ein 
wenig auszuweichen und Peer kam hinein. Drinnen war es nicht 
heller als draußen, und wie er ſich ſo an den Wänden entlang 
taſtet, fühlt er wieder das Kalte und Große und Schleimige. 
„Wer iſt das nun?“ ruft Peer. „Ei, das iſt der große Krumme“, 
antwortet es, und wohin er griff und wohin er ſich wandte, überall 
ſtieß er auf den Ring vom Krummen. Hier iſt nicht gut ſein, 
dachte Peer, denn dieſer Krumme iſt drinnen wie draußen, aber 
dem will ich's geben. Er nahm ſeine Büchſe, ging hinaus und 
taſtete ſich vorwärts, bis er den Kopf fand. „Was biſt du für 
einer?“ ſagt Peer. „Ei, ich bin der große Krumme aus dem 
Etnedal,“ ſagt der Rieſentroll. Da ſchoß ihm Peer Gynt drei 
Kugeln mitten in den Kopf. „Schieß noch einmal“, ſagt der 
Krumme uſw. uſw. „Der Peer Gynt, das war einer,“ ſchließt das 
Märchen, „ein richtiger Lügenſchmied und Aufſchneider: der erzählte 
euch die älteſten Geſchichten ſo, als wär' er ſelbſt dabei geweſen.“ 

Hier alſo fand Ibſen den Grundzug im Charakter ſeines 
Helden und zugleich durch den ſchöpferiſchen Gedanken, das Ringen 
mit dem Krummen ſymboliſch zu verwerten, die Idee zu ſeinem 
Werke. Aus derſelben Märchenſammlung ſtammt auch ein Teil 
des übrigen Stoffes und beſonders all das Spuk- und Kobolö- 
weſen der drei erſten Akte. 


r 


CCP 


VIII. Peer Gynt 239 


Was Peer gleich in der erſten Szene der Mutter als ſelbſt⸗ 
erlebt vorlügt, iſt die „alte Geſchichte“ von Gudbrand Glesne 
(I, 53). Für die Hochzeit Ingrids war eine andere, die Rund— 
borgs (II, 18) das Vorbild: der Bräutigam ein „Tölpel und 
Mädchenſchreck“, die Braut mag ihn nicht; er läuft unter die Gäſte 
und weint, fie läßt ſich, noch am Hochzeitstage, von ihrem Ge: 
liebten ins Gebirge entführen. Wenn das Ziſchen und Flüſtern 
der Übelwollenden dem Peer des Dramas durch und durch geht 
wie das Knirſchen eines Sägeblatts unter der Feile, ſo mag ſelbſt 
dieſer Vergleich von Asbjörnſen (I, 7) entlehnt ſein. Den drei 
frech nach den Trollen rufenden Sennerinnen begegnet ſchon der 
Peer des Märchens (II, 43) und jagt ſie dem „Thrond im Wal⸗ 
berg“ und den andern beiden ab. Die Huldren, oft grüngekleidet 
(I, 86), verheiraten ſich mit Menſchenkindern, die fie in ihr unter 
irbiſches Reich locken (I, 89, 199). Solchen werden aber, damit 
ſie die kuhähnliche Häßlichkeit der Bergmaid (I, 48, 199, 203) 
nicht wahrnehmen, die Augen zum Schielen verdreht (I, 54) und 
fie müſſen die ekelerregenden Speiſen der Trollen genießen, Kuh⸗ 
miſt, Fröſche u. dgl. (I, 52, 54; II, 40, 83) — Umſtände, die 
ſich der Dichter nicht hat entgehen laſſen. Die in den Berg Ent— 
rückten befreit das Geläute der Kirchenglocken (I, 24, 62, 107; 
II, 21, 38, 41, 74), aber noch im Hinausgehen tun ihnen die 
Unholde Schlimmes an (I, 200), was auch Peer erfahren muß. Die 
Trollhexe und ihr Junge mit dem Bierkrug ſpielen ſchon dieſelbe 
Rolle in einer Sage (I, 40) und endlich ſind die ſchreckenden Vogel— 
ſtimmen des dritten und die belebten Garnknäuel des letzten Aufzugs 
durch Ahnliches der Vorlage (II, 79 und I, 47, 51, 74) angeregt. 

Auch Asbjörnſens und Moes „Volksmärchen? — um die 
Quellenangaben hier vollſtändig einzureihen — haben Verwend— 
bares ergeben, wie z. B. Peers Lieblingsbeſchäftigung, auf dem 
Herde liegend in der Aſche zu wühlen gleich dem norwegiſchen 
männlichen Aſchenbrödel (II, 1, 4, 21, 27) und Soria-Moria 
(I, 27), das Schloß öſtlich von der Sonne und weſtlich vom Mond 
(I, 11). Peers luſtige Erzählung vom Teufel in der Nuß iſt da— 


240 VIII. Peer Gynt 


ſchon in zwei Lesarten aufgezeichnet (I, 30 und 21). Einzig den 
Schwank vom Teufel und dem Schwein (5. Akt) hat ein viel 
älteres Buch beigeſteuert, die Fabeln des Phädrus. 

Im norwegiſchen Märchen wird der mythiſche Gegenſtand 
meiſt nicht mit Ehrfurcht, ja nicht einmal mit Achtung behandelt, 
es neigt von ſelbſt zum Humoriſtiſchen und zur Satire und bot 
dem nachſchaffenden Dramatiker allenthalben bequeme Handhaben, 
den Stoff ſo anzufaſſen. Dieſes Vorteils bediente ſich Ibſen auch 


in der geiſtvollſten Weiſe, ohne doch den derben Holzſchnittſtil bes, 


ſonders der Volksmärchen nachzuahmen. Ob nun die Derbheit 
mehr den Erzählern oder der Überlieferung Schuld zu geben ſei: 
jedenfalls ſind unſere Grimmſchen Märchen durchweg edler, ſittiger 
im Tone gehalten als die oft nur um ein Geringes abweichenden 
norwegiſchen Varianten. Grimms drei Spinnerinnen haben z. B. 
als Merkmale ihres Geſchäftes die eine den Platſchfuß, die zweite 
eine große Unterlippe, die dritte einen breiten Daumen davon⸗ 
getragen; Moes drei Mumen eine lange Naſe, Triefaugen und 
einen dicken Allerwerteſten. Oder: die deutſche Königin, die ſich 


ein Kind wünſcht weiß wie Schnee, rot wie Blut, ſticht ſich in 


den Finger; der norwegiſchen blutet — die Naſe. Wo ein ſinn⸗ 
liches Element aufzunehmen iſt, geſchieht es im deutſchen Märchen 
ernſt, pathetiſch oder ſchlicht, naiv; im norwegiſchen findet ſich mehr 
als nötig davon und auch Anzügliches, Schlüpfriges. Hakon 
Borkenbart (deutſch: König Droſſelbart) und Der reiche Peter 
Krämer (deutſch: Der Teufel mit den drei goldenen Haaren) ſind 
auffallende Beiſpiele. Peer Gynts Verkehr mit der Trollprinzeſſin 
nach ſolchen Vorbildern „realiſtiſch“ zu geſtalten, lag nahe genug; 
Ibſen verſchmäht es. Auf ſeiner ganzen Laufbahn hat ſich der 
kühne Freund ungeſchmückter, wahrhaftiger Darſtellung eine gewiſſe 
äſthetiſche Vornehmheit bewahrt. Wo es unvermeidlich in ſeinem 
Wege, berührt er wohl das Niedrige, Gemeine prüfend im Vor⸗ 


übergehen, aber nicht mit der Hand, nur mit dem Stocke. Niemals 


war eine literariſche Verleumdung weniger gerechtfertigt als die, 
daß er unſere lichten Seelen beſchmutze, denn er beſchmutzt ſich 


VIII. Peer Gynt 241 


ſelbſt nicht. Asbjörnſen und einige neuere deutſche Märchen: 
dramatiker ſteigen, den Geſchmack des Volkes teilend, zum Volke 
hinab; die Brüder Grimm und Ibſen ſuchen es, ihrer Natur 
folgend, zu ſich emporzuleiten. 

Das aus dem Märchen Entliehene hat Ibſen pſychologiſch 
und ſatiriſch umgewertet, hat es vollkommen zu ſeiner eigenen Er⸗ 
findung geprägt. „Erfindung“ aber, ſagt Heinrich von Kleiſt, „iſt 
es überall, was ein Werk der Kunſt ausmacht.“ 

Es iſt Trollenart, Steinwüſten für Paläſte, Lumpen für 
Königsſtaat, Häßlich für Schön zu nehmen. Den Weg in ihr Reich 
kann alſo Peer Gynt nicht wohl verfehlen, den iſt unſer „Prinz“ 
in zerriſſenen Beinkleidern, an deſſen „Palaſt“ die zerbrochenen 
Fenſter mit Flicken verſtopft ſind, von jeher und immer gewandelt. 
Raſch wird er mit der Grüngekleideten, der Tochter des Bergkönigs, 
liebes⸗ und handelseinig, denn daß des Mädchens „ſeidnes“ Ge— 
wand, näher betrachtet, ſchlechtes Werg und ihr beider „Brautroß“, 
auf dem ſie feſtlich ins Berginnere einreiten, ein Rieſenſchwein iſt 
mit einem Sack zum Sattel und einem Strick zum Zügel — ſolche 
kleine Unzulänglichkeiten der Dinge ſieht man ſich eben gegenſeitig 
nach. Der Dovre-Alte — menſchlich-gemütlich wie Raimunds 
Alpenkönig, nur beträchtlich feiner, künſtleriſcher gezeichnet — wäre 
mit dem Schwiegerſohn nicht übel zufrieden. Zwar hat Peer keine 
drei Köpfe, das iſt aber auch nicht mehr de rigueur. 

Dreiköpfige kommen rein aus der Mode, 
Selbſt Zweiköpfer ſieht man nur hie und da 
Und die Köpfe ſind auch nur ſo ſo, la la. 
Indes einige Bedingungen muß der Bewerber erfüllen. Nicht etwa 
daß er ſeinem Chriſtenglauben abſchwöre, wird verlangt. Bewahre. 
| Der Glaube geht zollfrei; wer gibt darauf acht? 
An Schick und Schnitt muß den Troll man erkennen. 


Sind wir nur eins in Manieren und Tracht, 
Nenn' ruhig Glaube, was Angſt wir nennen. 


Es handelt ſich um anderes. Erſtens, ſtatt der ethiſchen Vorſchrift: 


„Sei du ſelbſt!“ iſt die landesübliche: „Lebe dir ſelbſt!“ zu 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 16 


242 VIII. Peer Gynt 


befolgen. Das hat weiter keine Schwierigkeiten. Härter ſchon ge⸗ 
horcht ſich's der Forderung, die ekelhaften Speiſen und U 
der Trollen zu koſten. 

Die Kuh gibt Kuchen, die Stute Met, 

Ob ſauer oder ſüß: es muß gehn und es geht; 

Denn Grundſatz bleibt: nichts auf den Tiſch gebracht, 

Was nicht hausgemacht. 
Hier bekommen die übernorwegiſchen Norweger, die Heimatsfana⸗ 
tiker, einen Stüber, der kräftiger wiederholt wird, da Peer auch 
ſeine Chriſtenkleider ausziehn und ſich zur Staatstracht der Trolle 
bequemen ſoll: Schweif mit brandgelber Schleife. Wieder beteuert 
der Alte: 

Alles hier gewirkt, nichts von draußen gekommen, 

Die ſeidene Schweifmaſche ausgenommen. 


Peer (gornig). 
Ich hab' keinen Schweif. 
Der Alte. 
Tut nichts, lieber Mann. 
Hoftroll, bind' ihm meinen Sonntagsſchweif an! 
Die dritte Probe iſt, wie ſtets im Märchen, am ſchwerſten zu be⸗ 
ſtehen. Da Peer trotz ſeines Talentes, die Dinge ſo zu ſchauen, 
wie er ſie wünſcht, zeitweiſe nicht umhin kann, die lächerliche Häß⸗ 
lichkeit der Braut zu bemerken, ſollen ihm die Augen zum Schielen 
verſchnitten werden. 

Peer ſträubt ſich vorerſt gegen jedes der drei Anſinnen, fügt 
ſich aber ſchließlich doch, und jedesmal — mit Berufung auf ein 
Bibelwort. Es ſteht ja geſchrieben, der Menſch ſoll ſeine Natur 
zwingen, ſagt er, und würgt ſpukend das Dargebotene hinunter. 
Durch einen Schweif wird man freilich zum Tier erniedrigt, allein 
es heißt ja, der Menſch iſt nur wie Rauch — ergo! Und über 
die verlangte Operation ſucht er ſich gar hinwegzuhelfen mit der 
Stelle: Argert dich dein Auge, ſo reiß es aus. Pſychologiſch ein 
feiner Zug und zugleich der beißendſte Hohn auf das frömmelnde 
Norwegen: wie ſie ſich mit den Worten des Heils abfinden zu 
ihrem Heile. | 


a ee WE ne 


a 


a a — 


ug“ 


— 


Ra Br —— — 


VIII. Peer Gynt 243 


Wo der rechte Winzer keltert, bleibt kein Tröpfchen in der 
Traube. — „Wann heilt das Auge und wird wieder zum Men⸗ 
ſchenauge?“ fragt Peer vorſichtig den Dovre-Alten, ehe er ſich 
mit deſſen „Glasmeiſterzeug“ behandeln läßt. „Niemals, mein 
Freund.“ „Ach ſo! dann dank' ich —“ verſetzt Peer und will 
eilend ſeiner Wege. Sich einen Schwanz anbinden laſſen, warum 
nicht? man wird ihn leicht wieder los; ſchwören, daß eine Kuh 
ein ſchönes Mädchen ſei? — auch einen Eid kann man jederzeit 
hinunterſchlingen; aber ſich zu etwas verſtehen, „wovon man 
niemals wieder zurücktreten kann“ — nie und nim⸗ 
mer! Erſt die Nachgiebigkeit, nun, charakteriſtiſcher noch, dieſe 
Weigerung. Du biſt meiner Tochter zu nahe gekommen, erklärt 
entrüſtet der Trollvater, du mußt fie heiraten. Was? eifert Peer, 
ich hätte —? „Du haft ihrer begehrt, das kannſt du nicht 
leugnen.“ 

Peer (höhniſch blaſend). 
Sonſt nichts? Wer zum Teufel fragt darnach? 
Der Alte. 

| Schweig'! 
Ihr Menſchen bleibt euch doch immer gleich. 
Den „Geiſt“ mit dem Maul bekennen — o ja; 
Doch, was die Fauſt nicht packt, iſt nicht da! 
So, du meinſt alſo, das gilt nichts — begehren? 
Du ſollſt dich bald eines andern belehren. 


Peer. 
So fängſt du mich nicht! Spar dir den Verdruß! 


Die Grüngekleidete. 
Mein Peer, du biſt Vater vor Jahres ſchluß. 
d. h. Vater jenes lendenlahmen Gedankenſohnes, der ſich mit der 
Mutter zwiſchen Peer und Solvejg drängt, den kein Riegel von 
der Hütte auszuſchließen vermag. Übrigens trifft dieſer Wurf noch 
über die Bühne hinaus ein Ziel. Solches Miſchlingszeug, wie 
der Sproſſe Peer Gynts und der Grüngekleideten, das wächſt und 
vermehrt ſich unglaublich raſch, verſichert der Alte hier ſchon, und 
zur Beſtätigung weiſt der Dichter im Schlußakt mit einer Art in⸗ 
| 16* 


244 VIII. Peer Gynt 


grimmiger Entdeckerfreude auf Norwegen hin, wo das Gyntiſche 
Geſchlecht ſich über das ganze Land verbreitet habe. 

Die Menſchen ſind angezogene Tiere, ſchilt Carlyle. Nun, 
die Trollen ſind ausgezogene Menſchen. Peer findet auch keinen 
ſonderlichen Unterſchied zwiſchen ihnen und ſeinesgleichen. Ein 
Unterſchied ſei dennoch, belehrt ihn der Dovre-Alte: wie zwiſchen 
Morgen und Abend — Beginn und Vollendung. Das Trollen⸗ 
reich offenbart die niederen Begierden und Leidenſchaften im Men⸗ 
ſchen, daher die Ahnlichkeit, aber es zeigt ſie rein und in ihrem 
höchſten Grade, als Urbilder gleichſam. Man ſoll ſehen, was Peer 
und feine Wahlverwandten wären, wenn fie den Mut ihrer Nei- 
gungen hätten: unbedingte Materialiſten ohne jegliches metaphyſiſche 
Bedürfnis — mit dem Lucreziſchen Wort kormido mortalis be⸗ 
zeichnet der Alte den Glauben! — und unbedingte Epikuräer: Lebe 
nur dir ſelbſt! Lediglich das Herkommen und, was für feinen Ton 
gilt (die Schwanzſchleife!), übte dann noch feine Macht und legte 
ihnen innerlich ſein Geſetz auf. So weit kann man verſuchen die 
Trollſzenen auszulegen, aber ohne Reſt lösbar ſind ſie nicht. Die 
Geſchöpfe der Phantaſie erlangen ja mit der Körperlichkeit ihr ſelb⸗ 
ſtändiges Daſein, fie bedeuten nicht bloß, fie find. Goethes 
Märchen von der Schlange widerſtrebt fortlaufender und ſicherer 
Auslegung. Und obſchon der Dramatiker ſo frei nicht ſchaltet wie 
der Erzähler, ein allzu ängſtliches Bemühen um verborgenen Sinn 
wird auch hier nur herausholen, was es ſelbſt hineingeheimnißt hat. 

Gegenſtand vieler Erklärungsverſuche iſt beſonders Peers Aben- 
teuer mit dem Krummen geweſen. Nachdem beim fernher tönen⸗ 
den Geläute geweihter Glocken die Halle des Dovrekönigs zu⸗ 
ſammengeſtürzt und der ganze Spuk verſchwunden iſt, fällt tiefes 
Dunkel über den Schauplatz und im Dunkel hört man Peer mit 
einem Aſt verzweifelt um ſich ſchlagen. Dreimal ruft er dem ge 
ſtaltloſen Feind zu: Wer biſt du? Dreimal lautet die Antwort: 
„Ich ſelbſt; kannſt du das auch von dir ſagen?“ Aus dem Wege! 
ruft er drohend. „Geh außen herum, Peer!“ tönt es zurück. Da 
die Waffe nichts nützt wider den Unverwundbaren, will ihn Peer 


VIII. Peer Gynt 245 


mit den Händen packen. „Hi — hi“, höhnt die Stimme wieder, 
„verlaß dich nur auf deine Fäuſte, Peer, dann kommſt du ans Ziel.“ 

„Soweit dies rätſelhafte Weſen erklärt werden kann,“ ſchreibt 
Vaſenius, „bedeutet es wohl Peers erwachendes Gefühl davon, daß 
er auf dem Wege iſt, ſein Ich zu verlieren ...“ Ehrhard dagegen 
meint: Le grand Tortueux qui s'opposse au passage de Peer 
et qui lui erie: „Fais un detour“, c'est la masse confuse 
des forces qui contrarient le libre exercice de la volonte. 
Dieſe beiden Auslegungen verſchmolzen — die hemmenden Kräfte 
in das Gefühl des Helden verlegt — ergeben das Richtige. Früher 
hat man zwiſchen oberen und unteren Seelenkräften unterſchieden. 
Der Widerſtreit beider iſt hier verſinnlicht: Peers Kampf mit dem 
eignen Charakter, mit der eignen willensträgen Natur, die ſich wie 
ein zäher Ring um ſein beſſres Selbſt legt und es nicht durchlaſſen 
will zur Freiheit, zum Lichte. Darum ſagt der Krumme: ich bin 
ich ſelbſt — Peers Selbſtſucht, Faulheit, Lügendrang, kurz das 
Gemeine in ihm voll entwickelt, aber ſein edler Teil kann nicht 
das Gleiche behaupten. Darum lacht der Krumme, mit Fäuſten bin 
ich nicht zu beſiegen, und rühmt ſich ohne Kampf zu gewinnen, 
umſchlingend, erſtickend. Darum endlich ſchrumpft er machtlos zu 
nichts zuſammen, ſobald Peer an Solvejg denkt, der das Beſſere 
ihn ihm, allein zu ſchwach im Streite, hilfeſuchend zuſtrebt. Nur 
in dieſem Sinne iſt die Szene mit dem großen BUN der Kern 
der Fabel zu nennen. 

Auch der ſatiriſchen Nebenabſicht mit den Märchenfiguren 
darf man nicht zu peinlich nachſpüren. Wie Peer ſich (in 
den drei erſten Akten wenigſtens!) von ſelbſt als Vertreter Nor⸗ 
wegens darſtellt, ſpringt auch ſie überall ungeſucht in die Augen. 
Um den Sockel eines vaterländiſchen Denkmals ordnet der Bildner 
wohl gerne die Idealgeſtalten der Tugenden, der Stärke, Wahrheit, 
Gerechtigkeit mit ſtill⸗feierlichen Zügen und ſchönem Faltenwurf der 
Gewänder: Ibſen ſetzt dem Standbild, das er ſeinem Volke errichtet, 
mißgeſtaltete, hämiſch grinſende Kobolde und Ungeheuer, die Sinn⸗ 
bilder nationaler Laſter, zu Füßen. 


246 VIII. Peer Gynt 


4. 

Wie ‚Brand‘ war auch „ſein Gegenſatz, ‚Peer Gynt““ ur⸗ 
ſprünglich als epiſche Dichtung geplant. Der Konflikt in ‚Brand‘ 
forderte dramatiſchen Aufbau mit ſtrenger Linienführung; die Idee 
des ‚Peer Gynt“, nicht in die Höhe ſtrebend, ſondern in die Breite, 
ließ ſich nur an einer Folge von Zuſtänden und bunt wechſelnden 
Ereigniſſen entfalten. Das Gedicht, das von vielen für ſein beſtes 
angeſehen werde, ſei wild und formlos, bemerkt der Dichter, 
und ſchlechterdings nicht für die Bühne berechnet. „Peer Gynt‘ 
iſt, trotz der äußeren dramatiſchen Form, epiſch geblieben: ein 
Zyklus von Bildern aus Peers Leben, höchſt geiſtvoll, phantaſtiſch 
und zur Deutung anregend, manche figurenreich mit dramatiſcher 
Gruppierung, das Ganze wie eine Serie Radierungen von Max 
Klinger. 

Die lange Szenenreihe zerfällt der Benennung nach in fünf, 
dem Inhalte nach nur in drei klar voneinander getrennte Ab⸗ 
teilungen. Akt I bis III: Peers, des Tunichtguts Jugendjahre; 
Akt IV: Peer im reifen Mannesalter, ein ſelbſtgemachter Mann 
und amerikaniſcher Kröſus; Akt V: der viel umgetriebene Graukopf 
Peer, zuletzt noch Pelzjäger und Goldgräber, abenteuermüd in ſein 
Vaterland heimkehrend. Anfang und Schluß entſprechen ſich ſehr 
gut, der mittlere Teil ſteht allein und abgeſondert. Kann der Be⸗ 
trachtende den Raum zwiſchen IV und V zur Not im Geiſte über⸗ 
brücken, ſo trägt ihn doch keine Erfahrung über die Lücke zwiſchen 
III und IV. Der unverbeſſerliche Tagdieb und Träumer, den wir 
aus den erſten drei Aufzügen ſo gut kennen, ſoll es durch eigne 
Tatkraft zum reichen Schiffsreeder gebracht haben. Sei er noch 


ſo unbedenklich in der Wahl der Mittel geweſen, Erfolg und Wohl⸗ 


ſtand werden gerade da drüben nur der geſchäftlichen Begabung, 
der unermüdlichen Ausdauer zuteil. Wie wäre das alſo denkbar? 
Nun, Not bricht Eiſen. Ja, aber unſer Held iſt Kautſchuk! Ge⸗ 
bogen oder geſtreckt, das ſchnellt immer wieder zurück. Man ſagt, 
im norwegiſchen Charakter lägen Träumerei und nüchterner Er⸗ 
werbsſinn unvermittelt nebeneinander, darum habe auch der Dichter 


FT Re u 


r 


VIII. Peer Gynt 247 


recht getan, ſie unvermittelt nebeneinander zu ſchildern. Aber das 
tut er nicht, er ſchildert ſie nach einander. Sein Peer des erſten 
Teiles träumt nicht wie Thorbjörn während der Raſtzeit, er 
träumt und faulenzt immer; er zeigt nicht die Spur von dem 
naeringsvid (wörtlich Nahrungswitz), den auch Asbjörnſen dem 
Nordländer zuſchreibt: Haus und Hof verliedert, und die reiche 
Bauerntochter, die er haben könnte, läßt er einem andern. Und 
wenn man ferner ſagt, der Geſchäftsſinn erwache erſt in reiferen 
Jahren, im Auslande: dann iſt es dies eben, wovon wir Zeugen 
ſein müßten. Ein Bilderzyklus bringt wohl nur die hauptſäch⸗ 
lichen, die entſcheidenden Ereigniſſe — aber fehlt deren eines, hört 
er auf, ein Zyklus zu ſein. 5 

Ibſen gibt — und wer wollte es ihm vorwerfen! — die 
Charaktere ſtets nur, wie ſie ſind, niemals, wie ſie werden. Siehe 
alle feine früheren Werke von „Catilina“ bis zu „Kaiſer und 
Galiläer- und wiederum vom ‚Bund der Jugend“ bis herab zu 
den letzten Schöpfungen. Nur daß der Verfaſſer der Geſellſchafts⸗ 
dramen durch das Aufgeben von ſynthetiſcher Kompoſition aus 
dem unumgänglichen Mangel eine Tugend zu machen gelernt hat. 
Die von ihm neugeſchaffene analytiſche Form ſichert die Einheit 
der Handlung (Geſpenſter, Rosmersholm). Hier, wo die lockerſte 
Syntheſe angewendet wird, fehlt Verbindung und Zuſammenhalt. 
Schon in der griechiſchen Kunſtlehre werden jene dichteriſchen oder 
bildneriſchen Nachahmungen von Handlungen die ſchlechteſten ge⸗ 
nannt, denen Einheitlichkeit gebricht: „die epiſodiſchen“, d. h. die, 
deren einzelne Epiſoden nicht notwendig oder wahrſchein— 
lich auseinander hervorgehen. Geſtehen wir nun auch Ibſen, trotz 
der dramatiſchen Form, die epiſche Verknüpfung durch bloße 
Wahrſcheinlichkeit zu und ſchätzen das Ergebnis alſo nach Maupaſ⸗ 
ſants beherzigenswertem Grundſatz suivant la nature de P'ef- 
fort, jo wird das den vierten Akt dennoch vor Verurteilung nicht 
bewahren. Aſthetiſche Geſetze wie das der Einheitlichkeit find un- 
umſtößlich, denn — ſie ſind ſelbſtverſtändlich. 

Einmal abgeſchweift vom Wege der Wahrſcheinlichkeit, ließ 


248 VIII. Peer Gynt 


ſich der Dichter von ſeiner Spottluſt querfeldein verlocken. Die drei 
erſten Aufzüge und der fünfte ſind rein ſymboliſche Satire, aus ſich 
ſelbſt zu verſtehen und zu genießen; der vierte, mehr von der Ten⸗ 
denz beherrſcht als von der Pſychologie, zum Teil auch auf ganz 
beſtimmte nordiſche Verhältniſſe und Perſönlichkeiten gemünzt, 
kann weder ſo allgemeines Verſtändnis fordern, noch ſo dauerndes 
Vergnügen gewähren. Das Aufgebot des Geiſtes und Witzes 
täuſcht und tröſtet keinesfalls über den fehlenden glaubwür⸗ 
digen Fortgang der Handlung! Nicht nur den Helden führt Ibſen 
aus dem vollen Menſchenleben hinweg in die Wüſte: auch uns — 
in die Wüſte der Allegorie. 

Der vierte Akt geht in Afrika vor ſich. Ob nun auch, das 
Singen der Memnonsſäule ausgenommen, nichts Übernatürliches 
hereinſpielt, wirkt doch alles befremdend — unnatürlich. Die 
Trollen der erſten Akte ſtampfen luſtig auf feſtem Boden umher, 
dies Afrika mit ſeinen Perſonen und Ereigniſſen ſchwebt in der 
Luft. Dort verdient Ibſen das von Taine an Swift geſpendete 
Lob: er ſchildert das Phantaſieland mit ſo genauen, ſo überein⸗ 
ſtimmenden Einzelheiten, wie ein erfahrener Forſchungsreiſender 
fremde Länder und Sitten. Hier entſchlägt er ſich dieſer Mühe 
mit der geſucht genialen Sorgloſigkeit eines Romantikers älteſter 
Schule. Peer ſpaziert allein und ohne Hilfsmittel im ſchwarzen 
Erdteil umher wie in irgendeiner europäiſchen Gegend, er zieht 
über ſeinen Reiſeanzug gefundene orientaliſche Kleider an und gilt 
dann den Söhnen der Wüſte ohne weiteres als der vom Himmel 
wiedergekommene Prophet uſw. Daß ſolches gegen die gemeine 
Möglichkeit iſt, wäre gleichgültig genug; aber unſere Einbildungs⸗ 
kraft feiert, ſie wird durch bloß witzige Einfälle nicht in Tätigkeit 
geſetzt. in Beweis mehr zu den von Tieck und andern ſchon 
unfreiwillig gegebenen, daß das allegoriſch, alſo ver ſtandes⸗ 
mäßig Phantaſtiſche niemals künſtleriſche Wirkung zu tun vermag. 

Die zahlreichen größern, kleinen und kleinſten Auftritte des 
Aktes ordnen ſich zu Szenengruppen um drei Erlebniſſe Peers: 
ſeine Beraubung an der marokkaniſchen Küſte, ſein Prophetentum 


* 
Be 
= 


* 


1 
DE a CET ENT? 


— EB 


VIII. Peer Gynt 249 


bei einem Araberſtamme, ſeine Kaiſerkrönung im Irrenhauſe 
zu Kairo. 

Am wenigſten mutet die erſte Gruppe an; die Satire iſt 
teilweiſe ſogar in den Bühnenanweiſungen, den Überſchriften ſtecken 
geblieben. Maſter (2) Cotton, Monſieur Ballon, von Eberkopf 
und Trumpeterſträle bilden auf den Vergnügungsreiſen des reichen 
Peer fein Schmarotzergefolge, und hinter den altmodiſch bezeichnen⸗ 
den Namen ſtehen keine Charaktere wie in der ‚Komödie der Liebe“, 
ſondern nur Karikaturen, plumpe, überdeutliche Zerrbilder der vier 
Nationen. Ibſen iſt da in ſeinem durch den däniſchen Krieg ge— 
nährten Grolle von der hohen, ihm ziemenden Stufe in die Arena 
der politiſchen Witzblätter hinabgeſtiegen. Auch nicht der Schein 
dramatiſchen Lebens wird gerettet; die viere verhöhnen ſich nicht 
gegenſeitig, ſondern gleich dem Vogt, dem Lehrer, dem Küſter im 
‚Brand‘ wird wiederum jeder durch den eignen Mund lächerlich 
gemacht. Voltaire begeht denſelben Fehler und Stendhal ruft 
warnend aus: C'est qui'l est par trop contre nature qu'un 
homme se moque si clairement de soi-m&me. Es i ſt gegen 
alle Natur: Masken ſtatt menſchlicher Geſichter, die ſich der Sa 
tiriker der Reihe nach vorhält, um durch die Mundöffnung mit 
ſeiner Stimme zu ſprechen. Auch Peer, ob ihm ſchon eine gewiſſe 
unverſchämte Offenheit von je eigen iſt, ſtellt ſich vor den bettel⸗ 
haften Speichelleckern zu ſehr bloß und verliert dadurch an leben⸗ 
diger Perſönlichkeit. Norwegen ſoll eben am härteſten mitgenommen 
werden, ſelbſt härter als Deutſchland. Der Engländer und der 
Franzoſe, der Deutſche und der Schwede ſind Schufte: er übertrifft 
ſie alle, ſeine Gemeinheit entlockt ſogar ihnen noch Ausrufe des 
Erſtaunens und der Entrüſtung. 

Das Prahlen und Aufſchneiden hat der reiche Peer natürlich 
nicht verlernt, nur hat er inzwiſchen alles eingebüßt, was den 
jugendlichen Taugenichts noch erträglich machte. Der Reſt von 
Gefühl und Gewiſſen iſt nun verſandet, das letzte ſeicht wachſende 
Gute verdorrt und das Schlechte hat in dem ſteinigen Boden zähe 
und tiefe Wurzeln geſchlagen. Damit fällt die Spannung weg, die 


250 VIII. Peer Gynt 


früher der innerliche Widerſtreit, das Schwanken zwiſchen Solvejg 
und der Trollenwelt erzeugte. Zwar wechſelt einmal mitten im 
Akte das Bild: wir ſehen auf einen Augenblick die nordiſche Block 
hütte im Wald und vor der Türe die Verlaſſene am Spinnrad, 
noch immer in geduldiger Liebe des Ungetreuen harrend. Aber 
die Szene mahnt nur uns, nicht ihn an das längſt aus ſeiner Er⸗ 
innerung entſchwundene Mädchen — alſo ein dramatiſch unfrucht⸗ 
barer Gegenſatz. 
Im übrigen ſind auch nur die ſchon bekannten Seiten des 
Gyntiſchen Weſens, wenngleich in launiger, unterhaltender Weiſe, 
aufs neue hervorgekehrt. So will Peer, den mit zunehmendem Alter 
über ſeine unchriſtlichen Handelswaren, Neger und Fetiſche, die 
Furcht vorm Jenſeits anwandelt, die Ausfuhr von Götzenbildern 
nach China „neutraliſieren“, indem er jeder Ladung Götzen eine 
Ladung Miſſionäre folgen läßt. Noch immer hilft er ſich gern im 
Geſpräche mit Worten der Schrift, aber nun ſind ihm die Aus⸗ 
ſprüche des Bergkönigs oder des Krummen ebenſo geläufig, ja ſeine 
eigne pfiffig⸗praktiſche Weltweisheit zitiert er als die irgendwo ge⸗ 
leſene eines „Denkers“. In Grund und Boden geſpottet wird jenes 
Gottvertrauen, das immer erſt in der Not erwacht und ſich mit 
Gebeten von naivfter Selbſtſucht an den Himmel wendet. Während 
Peter an der marokkaniſchen Küſte in einem Palmenhain Sieſta 
hält, fahren die vier Geſellen mit ſeiner ſchnell „annektierten“ Jacht 
und allen Schätzen unter Volldampf ihm vor den Augen davon. 
Verzweifelnd läuft er am Geſtade hin: 


Die Racker, die! Lieber Gott, hör' mich ſchrei' n! 
Du biſt ja ſo weiſ' und gerecht! Schlag' drein! 


(Mit erhobenen Armen.) 
Jſch bin's, Peter Gynt! Vater, laß es nicht zu! 
Nimm dich meiner an, zu ſpät iſt's im Nu! 
Laß ſie Gegendampf geben, nimm du die Steuerung, 
Halt' ſie auf! Verſtör etwas in der Feuerung! 
Hör' michl Laß jetzt alles andre ſtehn! 
Die Welt wird von ſelber ſchon weiter gehn! — 


VIII. Peer Gynt 251 


Herrgott, ob er hört! Stellt ſich taub mit Fleiß! 
Das iſt ſtark, wenn ſich Gott nicht zu helfen weiß. 


(Winkt hinauf.) 
Pſt! Ich hab' ja den Negerhandel ſiſtiert! 
Hab' Miffionäre nach Alien ſpediert! 
Ein Dienſt iſt doch einen andern wert! 
So hilf mir — 
(Ein Blitzſtrahl ſchießt aus der Jacht empor und dicker 
Rauch wälzt ſich darüber hin, man hört einen dumpfen 
Knall; Peer ſtößt einen Schrei aus und ſinkt nieder in 
den Sand nach einer Weile verzieht ſich der Rauch; 
das Schiff iſt verſchwunden.) 
Peer Gynt bleich und leiſe.) 
Das war der Strafe Schwert! 
O Dank und Preis, daß du mich bewahrt, 
Mich trotz meiner Fehler dem Schlimmſten entriſſen — 
(Atmet tief auf.) 
Es iſt doch ein Troſt ganz beſonderer Art, 
Sich ſo ſeparat beſchützt zu wiſſen. 
Aber hier in der Wüſte, wo alles gebricht? 
Ach, ich finde wohl etwas. Das muß Er verſtehn, 
's iſt nicht ſo gefährlich; — 
(Laut und einſchmeichelnd.) 
Er will gewiß nicht, 
Daß ich kleiner Sperling ſollte vergehn. 
Nur demütig ſein, ihn auch nicht drängen, 
Den Herrn laſſen raten, nicht die Ohren hängen — 
Nur auf ihn gebaut. Er wird meine Portion 
Von Bitternis nach meinen Kräften richten. 
Väterlich ſorgt er für meine Perſon; — 
(Wirft einen Blick aufs Meer hinaus und ſeufzt.) 
Aber ökonomiſch, das iſt Er mit nichten! 


Abſichtlich ſind einzelne Auftritte, um ergötzliche Parallelen 
zu bilden, früheren angenähert. So, wenn Peer ſich mit den Affen 
genau wie mit den Trollen ſchlägt und verträgt oder das geſtohlene 
Roß des Sultans, das ihm in die Hände fällt, mit denſelben 


252 VIII. Peer Gynt 


Worten beſteigt wie einſt das Rieſenſchwein der Dovreprinzeſſin. 
Sein ewiger Traum von einem Kaiſertum jedoch nimmt nun andre, 
mehr geſchäftsmäßige Formen an. Vermöge der Macht des Geldes, 
durch großartige, den dunklen Erdteil umgeſtaltende Unter⸗ 
nehmungen will er Kaiſer werden. Nicht bloß dem Erzähler, auch 
dem Politiker Björnſon möchte Ibſen hier entgegenarbeiten und 
ſeinem Volke die eitlen Gerngroßgelüſte austreiben. Die Sahara 
unter Waſſer zu ſetzen, plant Peer, und mitten darin will er dann 
auf einer fetten Oaſeninſel die norwegiſche Raſſe fortpflanzen. 
Man hat ohnedies ſchon faſt königliches Blut, arabiſche Kreuzung 
mag das übrige tun. Die Welt iſt alt und abgelebt — wörtlich 
hab' ich das von jungen Norwegern verkündigen hören! — ſo komme 
denn jetzt die Reihe an Gyntiana, das junge Land mit der Haupt⸗ 
ſtadt Peeropolis! | 
Wieder mehr auf allgemein menſchliche Schwächen iſt es ab- 
geſehen mit der Prophetenrolle Peers. Schon die Art, wie er ſich 
immer „Herr der Situation“ fühlt und jeden unfreiwilligen Tauſch 
vortrefflich findet, kann überall beobachtet werden: „Hans im 
Glück“ hat viele näher oder entfernter Verwandte auf der Welt. 
Eben noch war dem reich gewordenen Emporkömmling das Geld 
„die Grundlage“, darauf er ſtehen und „er ſelbſt ſein“ wollte, da 
verliert er's — der Zufall führt ihn zu „Naturkindern“, die ihn 
als Geſandten des Himmels betrachten — und ſogleich iſt ihm die 
neue Rolle mundgerecht. Dem Reichen wird ja keine Huldigung 
zuteil, nur ſeinen Brillanten, ſeinen Goldfüchſen; hingegen als 
Prophet Lobgeſang und Weihrauch für die eigne Perſon, für ſein 
Selbſt empfangen, „da weiß man doch ganz anders, wie man dran 
iſt“. Der Hans des Märchens tauſcht für ſein Gold zu guter 
Letzt eine Gans; Peer für ſein Prophetentum eine arabiſche Schöne 
von beſchränkteſtem Faſſungsvermögen. Anitras dunkle, etwas 
„extravagante Formen“ haben ihn bezaubert, ihre beſondere Ver⸗ 
ehrung wäre ihm lieber als die Gebete des ganzen Stammes, in 
ihrem jungfräulichen Herzen will er „ſeines Weſens Kalifat“ er⸗ 
richten. Mit breitem Behagen ſind dieſe Szenen ausgeſponnen, 


VIII. Peer Gynt 253 


ſeine Werbungen und Geſpräche, bei denen ſie, die „keine Seele“ 
hat, einſchläft, ſein Ständchen vor dem Zelt, in dem ſie ſchnarcht, 
endlich die Entführung. Eines um das andere ſchenkt er der 
Gierigen die Sultanskleinodien und kann ſich nicht genug tun in 
Liebesbeweiſen. „Schäm dich, alter Prophet“, meint ſie. Da ſteigt 
er vom Pferde und hüpft und tanzt im Schweiße ſeines Angeſichts 
als „glückſeliges Hähnchen“ ſingend nebenher, zu zeigen, wie jung 
er noch ſei. Um alle Reizmittel der Liebe zu koſten, verlangt er 
endlich auch nach der wonnigen Pein eines kurzen Schmerzes. Sie 
zieht ihm denn willig mit der Reitgerte einen ſcharfen Hieb über 
die Finger und jagt wie der Sturmwind davon. 

Der betrogene Peer legt die Türkenkleider Stück für Stück ab 
und ſteht wieder in ſeiner europäiſchen Tracht da. Das kennzeichnet 
die Wüſtenidylle. Als ſeeliſches Erlebnis wahr und beluſtigend, 
äußerlich eine Maskerade. Auch Anitras Hautfarbe hielte ſchwerlich 
die Wäſche, ſonſt aber iſt das Mädchen echt. Anders die Ge— 
ſtalten, denen Peer im folgenden begegnet: keine Perſonen, nur 
ſatiriſche Einfälle in allegoriſcher Verpuppung. Denn leider, 
wie in den Gärten des 18. Jahrhunderts, gibt es im vierten 
Aufzuge neben der unverfälſchten Natur allerlei künſtliches 
Spielwerk: Hohlkugeln, die jedes Menſchenbild verzerrt zurück 
werfen und Figuren in Zellen, die ſich beim Tritt auf die 
Feder wie lebend erheben. Nach den natürlichen Kunſtmitteln 
der erſten Akte können ſolche Überraſchungen dem Geſchmacke nicht 
mehr zuſagen. 

Wieder wünſcht ſich Peer in langen und ſich zuweilen auch 
wiederholenden Monologen Glück, daß er ſein Prophetentum recht⸗ 
zeitig abgeſtreift hat. „Einen Schritt weiter, jo wär' ich lächer⸗ 
lich geworden.“ Und er entdeckt ſogleich einen neuen Beruf: als 


Hiſtoriker will er nun reiſen, als Forſcher und Gelehrter. 
Kühn zu zerreißen jegliches Band, 
Das an Freunde uns knüpft und Heimatland, 
In die Luft ſeinen Mammon zu ſprengen wagen, 
Dem Glück der Liebe Valet zu ſagen, 
Nur um zu finden der Wahrheit Myſterium — 


254 VIII. Peer Gynt 


(Trocknet ſich eine Träne aus dem Auge.) 
Das iſt des wahren Forſchers Kriterium. 

Bei den ägyptiſchen Wundern beginnt er mit dem Notizbuch in der 
Hand. Die Memnonsſäule erinnert ihn an den Dovre⸗Alten, der 
Sphinx an den großen Krummen. So weiß er einem Dr. Begriffen⸗ 
feldt auf die Frage, wer der Sphinx ſei, zu antworten: er ſelbſt. 
Außer ſich vor Entzücken über das gelöſte Rätſel des Lebens nimmt 
ihn dieſer verrückte Irrenhausdirektor mit in ſeine Anſtalt, ſperrt 
die Wärter: Michel, Schafmann, Schlingelberg, Fuchs“) in die 
Käfige und läßt die Narren frei als Leute, die „ganz verdammt 
ſie ſelbſt ſind und nichts anderes“. Peer aber ſoll ihr Kaiſer ſein. 
Die drei Verrückten, die ihn vor allen bedrängen, konnten nur im 
Norden verſtanden werden. Huhu, der Lobredner der Orangutang⸗ 
Sprache, ſoll die in Norwegen verſuchte künſtliche Herſtellung einer 
neuen Landesſprache geißeln; der Fellah mit der Königsleiche auf 
dem Rücken verhöhnt Schweden, deſſen einziger Ruhmestitel ſein 
„Heldenkönig“ Karl XII. iſt, und der Miniſter Huſſein, der ſich 
einbildet, eine Schreibfeder zu ſein, zielt auf das zweckloſe Adreſſen⸗ 
und Notenweſen des ſchwediſch-norwegiſchen Staates während des 
Krieges von 1870, beſonders aber auf einen hervorragenden 
ſchwediſchen Staatsmann, der ſeinen ſchriftlichen Leiſtungen damals 
wirklichen Einfluß auf den Gang der Ereigniſſe zutraute. Da Peer 
zuletzt ſeines Verſtandes nicht mehr ſicher, ſeiner Sinne nicht mehr 
mächtig zu Boden ſinkt, wird er mit einem Strohkranz feierlich 
gekrönt: — Kaiſer Peers Glück und Ende. 


5. 

‚Stadien auf dem Lebenswege“ heißt ein Buch von Kierke⸗ 
gaard: ſo könnte auch dies Drama überſchrieben ſein. Nur folgen 
wir der abenteuerlichen Laufbahn des Helden nicht von Meilenſtein 
zu Meilenſtein, wir treffen, wie im letzten Aufzug der Knopfgießer, 
immer an Kreuzwegen mit ihm zuſammen. 


*) Dieſe Namen, wie auch Begriffenfeldt, find hier nicht überſetzt, ſon⸗ 
dern ſtehen deutſch in der Urſchrift. 


VIII. Peer Gynt 255 


Peers Aufenthalt unter den Pelzjägern der Hudſonsbai, unter 
den Goldgräbern Kaliforniens erweiſt ſich lediglich an einem Ent⸗ 
wicklungsergebnis: unter den Harten und Rohen iſt der Mann, der 
nun eisgrau und wettergebräunt mit einer kleinen mühſam er⸗ 
worbenen Summe nach Norwegen heimſegelt, vollends verhärtet 
und verroht: die rückſichtsloſe Selbſtliebe ſeiner mittleren Jahre iſt 
in Neid und Bosheit ausgeartet. Das führt eine Schiffsſzene uns 
vor, die den beſten eliſabethiſchen ähnlichen Stiles gleichkommt. 
Von friſcher Seeluft iſt ſie erfüllt, echt und kräftig. Gegen Sonnen⸗ 
untergang bei ſtürmiſchem Wetter auf die Reling gelehnt, plaudert 
Peer, halb ſeemänniſch gekleidet und ſpuckend wie ein Matroſe, 
mit dem Kapitän. In einer Anwandlung von Freigebigkeit, viel⸗ 
leicht milder geſtimmt durch den lang entbehrten Anblick der nahen 
Heimatküſte, verſpricht er, die bedürftige Mannſchaft bei der Ab- 
rechnung zu bedenken. Doch kaum hört er, daß auf alle Weib 
und Kinder warten, daß ſein Geld das Wiederſehen in den Hütten 
dieſer Armen zu einem frohen, wenn noch ſo beſcheidenen Feſte 
erhöhen würde, ſchlägt er mit der Fauſt aufs Geländer und nimmt 
ſein Verſprechen zurück. Ihn erwartet, ihn empfängt niemand, 
und was er nicht hat, ſollen andre genießen? Ja, Branntwein 
wird er ihnen geben laſſen, daß ſie in der Trunkenheit Weib und 
Kinder mißhandeln! Aber der Sturm bricht los und „in ſolcher 
Nacht iſt unſer Herrgott gefährlich“. Da ein Wrack mit drei 
Menſchen vorübertreibt, bietet Peer eifrig Belohnungen aus für 
ihre Rettung: „Auch ſie haben Weib und Kinder daheim, die auf 
ſie warten“ —! Niemand will das Unmögliche wagen. Er flucht 
und wettert. Mit ſolchem Pack, das den Zorn des Himmels 
offen herausfordert, ſoll nun er, der Fromme, der Schuldloſe, der 
doch gleich in den Beutel griff, zugrunde gehen. Das hat man 
von ſeiner Opferwilligkeit! Doch er wird es anders halten, ſitzt 
er erſt trocken zu Hauſe. Keinen Pfennig gibt er mehr: hat 
das Schickſal ihn geprügelt, wird er wieder andre zu prügeln 
finden — —. 

Wenig Hoffnung iſt, daß ſich dieſer Sünder bekehre und lebe. 


256 VIII. Peer Gynt 


Aber eh ihm endgültig das Urteil geſprochen wird, ſoll kein Mittel 
unverſucht bleiben, ſein Gewiſſen wach zu rütteln, ſeine Reue und 
Umkehr zu bewirken. Paludan⸗Müllers Adam Homo erfährt alle 
Qualen und Schauer der Angſt erſt nach dem Tode, wo ſie nichts 
mehr fruchten, Peer Gynt bei lebendigem Leibe. Den Zweck der 
Schiffsſzene klar zu machen, iſt der Schrecken verkörpert. Im 
Dunkel des heraufziehenden Sturmes, kurz vor dem Untergang 
des Schiffes, ſteht plötzlich „ein fremder Paſſagier“ neben Peer am 
Geländer und grüßt freundlich. Selbſt blaß wie eine Leiche, redet 
der ſeltſame, während der ganzen Reiſe nicht ſichtbar geweſene 
Fahrgaſt mit Entzücken von den ſchönen Leichen, die der Sturm 
ans Land treiben werde, und bittet endlich Peer, im Falle des 
Scheiterns, um deſſen „geehrten Kadaver“ — zu wiſſenſchaftlichen 
Zwecken: 

Ich forſche beſonders dem Sitz der Träume nach 

Und im übrigen prüf' ich kritiſch die Säume nach. 
— Auch an Adam Homos Charakter werden von einem über⸗ 
irdiſchen Kritiker die Säume unterſucht. — 

Mit Mahnungen, mit dem Hinweis auf die dräuende Gefahr 


iſt der felſenfeſte Egoismus Peers nicht zu erſchüttern, vielleicht 


daß die Gefahr ſelbſt ihn endlich erſchüttern hilft. Der Fremde 
zieht ſich abwartend zurück, das Schiff geht in Trümmer und alle 
werden in die Fluten geſchleudert. Aber Peers Denken und Wollen 
dreht ſich auch jetzt nur um den einen Punkt, um ſein koſtbares 
Ich, ſein bißchen Leben. Erbarmungslos kämpft er mit dem 
Schiffskoch um den ſchmalen Raum auf einem gekenterten Boote. 
Was kümmert's ihn, daß der arme Burſche noch jung und Fa⸗ 
milienverſorger iſt. Nur ſo lange hält er ihn beim Schopf über 
Waſſer als hinreicht, ein Vaterunſer zu beten. „Gib uns heute ...!“ 
ſtammelt der, „gib uns heute ...“ und verſinkt. „Amen, Koch“, 
ſagt Peer zufrieden, „warſt doch du ſelbſt bis zum letzten Augenblick!“ 
a Da taucht der fremde geſpenſtiſche Warner wieder auf und 

erneut, nebenher ſchwimmend, ſein Anſinnen. Peer gerät außer 
ſich über das „Satansſpiel“. 


e 


VVT 


* 


2 


3 
1 
} 


52 
— 
* 
. 
* 


VIII. peer Gynt 257 


Der fremde Paſſagier 
(leiſe.) 

Pflegt der in des Lebens nächtlichen Gründen 

Durch heilſame Furcht eine Leuchte zu zünden? 

Freund, haſt du nur einmal in ſo viel Jahren 

Im Herzen den Ernſt der Angſt erfahren? 

Ja, haſt du nur einmal im ganzen Leben 

Den Sieg erlangt, der in Angſt wird gegeben? 
„Weiche von mir, Schrecken!“ ruft Peer wütend, „ich will nicht 
ſterben, ich muß ans Land!“ — Durch die raſchen Übergänge ins 
Pathetiſche und wiederum in die Ironie fällt die unheimliche Ge⸗ 
ſtalt nicht aus dem Tone, wohl aber mit dem dürftigen Witzwort 
im Stile der ‚Verkehrten Welt“ von Tieck: „Man ſtirbt nicht 
mitten im fünften Akt!“ 

Der Dichter will es — in zwei Briefen an Björnſon — 
nicht Wort haben, daß der „verſtörte Schiffspaſſagier“ etwas 
„bedeute“ — „der Begriff Angſt“ ſei. „Stünde ich auf der Richt⸗ 
ſtatt und könnte mein Leben freikaufen mit dieſer Erklärung — 
ſie wäre mir nicht eingefallen. Ich habe nie daran gedacht; ich 
ſchmierte die Szene hin als eine Kaprice.“ Ja, mit derartigen 
Deutungen mache er ſich anheiſchig, die Werke aller Dramatiker 
von Anfang bis Ende in Allegorien umzuwandeln. Dabei komme 
nichts heraus, als daß es keine Poeſie iſt. 

Der Dichter hat recht und unrecht. Recht, wenn er ein 
verſtandesmäßiges Ausgehen vom „Begriff“ Angſt leugnet; unrecht, 
wenn er die Geſtalt zu einem zufällig mitreiſenden Geiſteskranken 
herabſetzt. Denn, zu ſchweigen davon, daß der Fremde für einen 
ſolchen zu bedeutſam ſpricht und — zu gut ſchwimmt: ſoll etwa 
dem weſensgleichen Knopfgießer des letzten Aktes ſein beſtes dich— 
teriſches und dramatiſches Vermögen auch ſo rationaliſtiſch abge— 
ſprochen werden? Dabei käme erſt recht nichts heraus, als daß es 
keine Poeſie iſt. 

Wohl ſind dieſe 3 aus der Fülle zuſtrömender Er: 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 17 


258 VIII. Peer Gynt 


findung nur ſo hingeſchrieben worden als Kapricen — jedoch als 
ſymboliſche Kapricen, als Einfälle genialſter Schöpferlaune: 
Gehalt und Geſtalt, Leben und Bedeutung untrennbar in Einem! — 

Dieſelbe falſche Nutzanwendung wie aus dem letzten Gebet 
des Koches zieht Peer, der noch einmal Gerettete, aus allem. Sein 
Weg führt ihn an einem Friedhof vorbei, wo ſie gerade einen in 
die Grube ſenken. Gott ſei Dank, daß ich's nicht bin! ſagt er 
mit den Neugierigen am Grabe Adam Homos, und verweilt, die 
Leichenrede anzuhören. Der Mann, der da beſtattet wird, hat 
ſich einſt ſelbſt die Hand verſtümmelt, um nicht Soldat werden zu 
müſſen. Und doch war der halb Ausgeſtoßene nicht ſchlechtweg ein 
Feigling, nicht ohne Wert als Menſch. Hoch oben, am Gebirge 
angeſiedelt, verwandelte ſeine Tatkraft mit unſäglicher Mühe Ode⸗ 
land in fruchtbare Marken, beharrlich immer und immer wieder 
von neuem beginnend, ſo oft ihm Frühlingsfluten und Schnee⸗ 
ſtürze Haus und Hof hinwegfegten. Seine Knaben mußten zur 
Schule, und der Weg war ſteil und gefährlich. Er ſeilte ſie an, 
er trug ſie auf Arm und Rücken. Raſtlos plagte er ſich und 
ſtritt, ein demütig⸗ſtiller Kämpfer, im kleinen Krieg des Bauern 
Jahr für Jahr. Sein Leben war wie dumpfer Klang des Saiten⸗ 
ſpiels unterm Dämpfer, aber mit dieſem Klange war er geſchaffen 
worden; Volk, Vaterland, die hohen Worte blieben ihm unverſtan⸗ 
den, aber in ſeinem engen Kreiſe, da war er groß, denn er war — 
er ſelbſt. Schwerlich, ſchließt der Prediger, wird dieſer Mann 
als Krüppel ſtehen vor ſeinem Gott. 

Der Rede kommt Bedeutung zu für die Beurteilung Peers 
und mehr noch für die Lebensanſchauung des Dichters überhaupt. 
Sie verkündet, daß die Lehre von des Menſchen Beſtimmung und 
der daraus hervorgehenden ſittlichen Pflicht nicht nur auf die 
Großen und Hohen anwendbar ſei, ſondern alle umfaſſe, auch die 
Armen im Geiſte. Der Geringſte wuchere mit dem einen ihm 
verliehenen Pfunde, das iſt ein Geſetz hoch über den Geſetzen, wie 
die leuchtende Wolkenzinne über den Zinnen der Berge. Und an 
einer ſpäteren Stelle, die ergänzend hieher zu vergleichen iſt, weiſt 


VIII. Peer Gynt 259 


die Dichtung ausdrücklich auf ‚Brand‘ zurück. Sei du ſelbſt, was 
heißt das im Grunde? fragt Peer. Ertöte dich ſelbſt! lautet die 
Erklärung. Brands „Weg, gebaut aus Opferſteinen“ iſt der ein- 
zige Weg zum Ziele. 

Nur die Verzeihung der feigen Fahnenflucht hört Peer aus 
des Paſtors „erbaulichen“ Worten und ſetzt getroſt den Stab heim— 
wärts vom Grabe „dieſes Geiſtesverwandten“, nicht ahnend, daß 
er, an ihm gemeſſen, ſchlecht beſtehen würde. Was er dann zu 
Hauſe mit anſieht und — hört, drückt freilich ſeine Stimmung 
herunter. Da lebt ſeine nichtsnutzige Jugend wieder vor ihm auf, 
denn es werden juſt des berühmten Peers, den ſie im Auslande 
längſt gehängt glauben, Reliquien verſteigert. Die Hinterlaſſen⸗ 
ſchaft der Tochter des Hägſtadtbauern iſt unter dem Hammer, der⸗ 
ſelben, die Peer entführt hat, und mit dem letzten Gerümpel wird 
ausgeboten, was ihm der erzürnte Bauer einſtens hat abpfänden 
laſſen. Ein Burſche kauft unter Lachen den Löffel, „in dem Peer 
Gynt feine ſilbernen Knöpfe gegoſſen“, ein andrer den Kram⸗ 
kaſten, mit dem Vater Gynt hauſieren gegangen. Alle Lügen und 
Streiche ſind unvergeſſen, und er hütet ſich wohl, von den Genoſſen 
früherer Tage, von Aslak, dem vertrunkenen Schmied, der die Ent— 
ehrte geheiratet, und Mads Moen, dem betrogenen Bräutigam, er⸗ 
kannt zu werden. In bitterem Galgenhumor bietet er nun ſeinerſeits 
feil, was er „mit Verluſt gekauft“: einen Traum von einem Geſang⸗ 
buch (Solvejg) — ſein Kaiſertum — eines Narren Grauhaar —! 
Die luſtige Geſchichte aber, mit der er ſich von der lachenden 
Menge verabſchiedet, gilt wohl mehr den Zuhörern vor, als denen 
auf der Bühne. Der Teufel, ſo heißt es frei nach Phädrus, trat 
einmal öffentlich als Nachahmer von Tierſtimmen auf und machte 
ſich anheiſchig, wie ein Schwein zu grunzen. Er konnte es, denn 
er hielt ein lebendiges Schwein unter dem Mantel verborgen, das 
er zwickte, daß es ſchrie. Allein der Erfolg blieb aus: man fand 
die Leiſtung „allzu ſtudiert und äußerſt outriert“. 

Seht, ſo ging es dem Teufel, denn er war dumm, 


Und berechnete nicht ſein Publikum. 
177 


260 VIII. Peer Gynt 


Was ſich der Verfaſſer des ‚Peer Gynt' ſarkaſtiſch hier weisſagt, 
iſt ihm alsbald widerfahren. Seine Landsleute haben dieſe Leiſtung, 
obwohl er einen leibhaften Norweger unter dem Mantel ſeiner 
Dichtung birgt, äußerſt outriert gefunden. 

All ſein Mißgeſchick immer wieder vor ſich ſelbſt auszu⸗ 
ſchmücken, die Gewohnheit iſt Peer auf der langen Strecke von 
der Jugend zum Alter auch durch das Schlimmſte nicht verleidet 
worden. Der weißhaarige Knabe betrachtet die Welt noch immer 
mit Trollenaugen. „Vom Cäſar heruntergekommen zum Nebukad⸗ 
nezar“, ſucht er im Walde nach Erdlauch, um ſeinen Hunger zu 
ſtillen. Aber muß er ſchon auf allen Vieren kriechend das Leben 
friſten, ſo bleibt doch der Troſt, der Beſtien vornehmſte zu ſein, 
und in die Rinde des Baumes, unter dem er verenden wird, kann 
wenigſtens noch die Inſchrift geſetzt werden: Hier liegt Peer Gynt, 
Kaiſer über alle andern Tiere. Nur ſind jetzt ſolche Außerungen 


Willen kauft ſich ſo aufs billigſte von Reue und Beſſerung los. 
„Inwendig lachend“ zerpflückt er eine Zwiebel Haut für Haut: dies 
iſt mein Goldgräber-Ich, dies der Pelzjäger, der Forſcher, der 
Prophet, der Millionär, Schalen über Schalen bis ins Innerſte, 
dann nichts, kein Kern. „Die Natur iſt wizig; — aber der 
Teufel grüble!“ 

Am Ende der Szene wieder einer der jähen, kräftigen, ſicher 
berechneten Übergänge aus einer Stimmung in die andere, deren 
das Werk und beſonders der Schluß viele zählt. Schon einmal iſt 
die Hütte der verlaſſenen Geliebten gezeigt worden, ohne Wirkung, 
zwiſchen die afrikaniſchen Bilder hinein. Jetzt nähert ſich ihr Peer 
tatſächlich, und ſtärker als Schiffbruch und Leichenrede pocht dieſe 
letzte Mahnung an ſein immer noch verſchloſſenes Gemüt. Geſang 
ertönt: Solvejgs Geſang, Worte treuer Liebe und ſehnlicher Er— 
wartung. Still erhebt er ſich, totenbleich: 

Eine, die gedacht, — und einer, der vergeſſen . 
O, Angſt! — Hier war mein Kaiſertum! 
Den verzweifelnden Brand umbrauſt im Wehen des Sturmes 


VIII. Peer Gynt 261 


ein Chor der Unſichtbaren: Peer vernimmt auf ſeiner Flucht durch 
den Wald, halb wie Kinderweinen halb wie Geſang, vorwurfs— 
volle Stimmen im Raſcheln der Blätter und geknickten Halme, im 
leiſen Fall der Tropfen und ſchließlich wie aus weiter Ferne Mutter 
Aaſes anklagenden Ruf. Daß die Laute der Natur zum Gemüte 
ſprechen, iſt wahr und ſchön; aber wie ſehr ſtören, unvermittelt in 
ſolcher Umgebung, die ſprechenden Garnknäuel aus dem Märchen, 
die Peer zuerſt über den Pfad rollen. 

Wiederholt find uns Nachklänge aus Adam Homo‘ auf⸗ 
gefallen, und offenbar verdankt Ibſen den letzten Geſängen des 
däniſchen Gedichtes Anregungen für den Schlußakt. Das ſoll er⸗ 
örtert werden, ſelbſt auf die Gefahr hin, ſeinen Ruhm bei jenen 
Kritikern zu vermindern, die auch den kanaitiſchen Wein nicht als 
Wein möchten gelten laſſen, weil das Waſſer dazu irgend woher 
geholt worden. 

Paludan⸗Müller läßt uns dem Gericht über den Verſtorbenen 
im Jenſeits beiwohnen — die beſte Erfindung des ganzen Ge— 
dichtes! Vor einer rieſigen Wage, die zwiſchen dem Himmel und 
dem dunklen Höllenabgrund ſchwebt, muß Adam auf dem Armes 
ſünderbänkchen Platz nehmen. An die eine Wagſchale iſt ſein Name 
geſchrieben, was in die andre gelegt werden ſoll, harrt der Ent— 
ſcheidung. Als Verteidiger und Ankläger treten vor: advocatus 
hominis und advocatus diaboli. Während der Reden und Gegen⸗ 
reden, bei denen die Wagſchalen wechſelnd ſteigen und ſinken, ſteht 
der Bedrohte ein ums andre Mal die Angſt der Verdammnis aus. 
Völlig aber vernichtet ihn ſein im Strahlenglanz des Himmels 
erſcheinendes Idealbild — der Anblick deſſen, was er glaubend, 
liebend, hoffend hätte werden können und ſollen. Da ſchirmt 
ihn die einſt ſchmählich verlaſſene Alma, nun eine Verklärte, vor 
dem Anwalt der Hölle und rettet den Unwürdigen, Treuloſen in 
die Obhut ihrer Liebe. 

Genau mit dieſem Ausgang wurde der Rechtsſtreit um die 
Seele — übrigens ein uraltes Motiv — in den ‚Peer Gynt' 
herübergenommen. Allein dem realiſtiſchen Dichter taugte nicht 


262 VIII. Peer Gynt 


der wolkige Schauplatz des Jenſeits und die Unbeſtimmtheit der 
ſtreitenden Geſtalten, dem Dramatiker nicht die ſtumme Untätig⸗ 
keit des Helden. Nach überſtandener Todesnot, aber noch im 
Fleiſche wird Peer gerichtet, und der nie um einen Ausweg ver⸗ 
legene iſt in eigener Sache advocatus hominis. Zugleich aber 
gibt die Grundidee der Dichtung dem Streit eine ganz unvermutete 
Wendung. Wer weder mit feſtem Willen nach dem Guten getrach⸗ 
tet, noch mit Kraft und Entſchiedenheit böſe geweſen — den mag 
weder Himmel noch Hölle, der iſt Ausſchußware und wird mit 
andern Mißratenen, mit Hinz und Kunz, zu neuem Guſſe wieder 
eingeſchmolzen. Und ſo muß denn Peer, um ſein geliebtes „Selbſt“ 
zu behalten, ſchließlich beim Teufel für ein Unterkommen plai⸗ 
dieren — auch advocatus diaboli in eigner Sache! 

Die Form iſt ſatiriſch-⸗komiſch; aber auch hier waltet überall 
kräftig hervor derſelbe unerbittliche Geiſt, der im Inferno denen, 
die da gelebt haben senza infamia, e senza lodo — ohne 
Schimpf und ohne Lob — ſelbſt den Ort der Qual verſchließt: 
Ch’ alcuna gloria i rei avrebber d’elli — auf daß die Ver⸗ 
dammten ſich nicht ſtolz fühlen im Vergleich mit ihnen! 

Seit Goethes Mephiſto, ſeit Chamiſſos und Hauffs umgäng⸗ 
lichen Satansgeſtalten ſind wir daran gewöhnt, den Teufel recht 
menſchlich gebaren zu ſehen: neu und wohl geglückt iſt hier das 
moderne Gegenſtück dazu, der Abgeſandte des „Meiſters“, der Engel, 
ungeflügelt und ohne Strahlen, nicht einmal in erhabener Erſchei⸗ 


nung, ſondern in der alltäglichen eines Knopfgießers mit Hand⸗ 


werkszeug und Gießlöffel. Auf offner Heide, nicht unter ſeltſam⸗ 
unheimlichen Umſtänden wie der fremde Paſſagier, begegnet er dem 
umherirrenden Peer, zeigt ſeinen Auftrag ſchriftlich vor und ſpricht 
ihm gütlich und gemütlich zu, ſich ohne viel Federleſens zu fügen. 
Mit den Himmelsboten älteren Stiles gab es kein Verhandeln, mit 
dem Mann aber läßt ſich reden. Und Peer redet, er hat Anlage 
zum Sachwalter, ja er fordert und erwirkt zweimal Vertagung, 
um Zeugen und Atteſte zu beſchaffen. 

Zuerſt will er feſtſtellen, daß er jederzeit er ſelbſt geweſen, 


* 


er een ee 


VIII. Peer Gynt 263 


und wer läuft ihm da wie gerufen in den Weg? Der weiland 
Dovrekönig, jetzt ein Vertriebener, mittellos, vom Alter gekrümmt, 
mit Stecken und Bettelſack. Wenn einer, wird ihm der „liebe 
Schwiegervater“ die zähe Beharrlichkeit des Gyntiſchen Selbſt be— 
ſtätigen können. Aber der ſagt dem „Prinzen Peer“ anders, was 
er immer geweſen. „Lebe dir ſelbſt“, den Wahlſpruch der Trollen 
hat er ſich angeeignet, damit iſt er in die Höhe gekommen und 
nun — der Alte fängt an zu weinen — nun will er's nicht ein— 
mal Wort haben. Und die Nachkommen Peers von der Dovre— 
prinzeſſin, „die nun im Lande ſo ſchwere Macht beſitzen“, ſind 
ebenſo undankbar und verleugnen ihre wahre Herkunft, verweiſen 
ihren Urahn ins Reich der Fabel ...! Peer ſträubt ſich, ihm 
zu glauben. Ich ein Troll, ein Egoiſt? Da hätt' ich ja ruhig 
im Bett bleiben und mir die ganze Mühe ſparen können! — Die 
unvergleichliche Szene iſt nicht zu ſchildern, ſie will genoſſen werden. 

Dies fehlgeſchlagen, kann dem Geängſtigten nichts mehr helfen 
als Siegel und Brief darüber beizubringen, daß er ein großer 
Sünder geweſen. Nach einem Beichtvater fahndend, der ihm ſein 
Sündenregiſter, das Reifezeugnis für die Hölle, ausfertige, ſtößt 
er auf eine magere Perſon in hoch aufgeſchürztem geiſtlichem Ge— 
wande mit einem Vogelfängernetz auf der Schulter. Der Pferde 
huf und ein „merkwürdig ausgebildetes Nägelſyſtem“ verraten, 
wer der Herr Paſtor iſt. Nun müßte ſich Peer ſo ſchwarz malen 
wie möglich, fängt aber unwillkürlich mit Beſchönigungen an und 
findet dann, wie er einlenken will, natürlich keinen Glauben mehr. 
Wieder verſpielt! Das wird ihm von Ehren Diabolus ſogar noch 
an einem recht modernen Gleichnis klar gemacht. Auf zweierlei 
Art nämlich kann ſich eine Seele in ihrer Lebensführung photo— 
graphieren, als Poſitiv und als Negativ. So ein Negativ mit 
umgekehrtem Licht und Schatten ſieht häßlich aus, aber die Ahn⸗ 
lichkeit iſt gleichwohl darin und die Platte wird einfach dem Teufel 
überantwortet zu weiterer Behandlung mit Schwefel und derlei 
Ingredienzien. Wer ſich aber, wie Peer, „halb ausgewiſcht“ hat, 
den rettet nichts, der wird kaſſiert. 


264 VIII. Peer Gynt 


Das Urteil iſt ihm geſprochen, er fühlt es in ſtiller Ver⸗ 
zweiflung, und ſchon will ſich der Knopfgießer ſeiner bemächtigen, 
da bezwingt den Dichter, nachdem er ſeinen Peer ſo unerbittlich 
gezüchtigt, mit einem Male Rührung und Mitleid, er wirft die 
Geißel weg und drückt den Unwürdigen an fein Herz. Wir ſtehen 


mit geteilten Gefühlen dabei, unvermögend, den jähen Umſchlag 5 


des väterlichen Empfindens in uns zu wiederholen. 
Im einzelnen ſchließt ſich Ibſen teils eng an Paludan⸗Müller 
an, teils geht er weit über ihn hinaus. Erhebe deine Stimme zur 


Klage gegen mich, ſeufzt der ſterbende Adam Homo, und Alma 


erwidert: Meine Freude warſt du ſo viele Jahre. Klag' an, ſprich 


es aus, wie ſehr ich mich verſündigt, ruft Peer Gynt, endlich zu 


Solvejgs Füßen hingeſunken. Durch dich ward mein Leben zu 
einem herrlichen Geſang, iſt ihre Antwort. Und ſie legt mit 
Segensworten die tröſtende Hand auf ſein Haupt wie Alma. In 
beiden Dichtungen endlich gibt das Idealbild den Ausſchlag, in 
jener freilich zur Verdammnis, in dieſer zur Losſprechung des 
Sünders. Weil Peers ideales Selbſt, makellos wie es dem Gottes⸗ 
gedanken entſprungen, immerdar in Solvejgs Herzen gelebt, wird 
ſeinem irdiſchen Selbſt der ſchmählichſte Lebenswandel verziehen. 
Mit ungläubigem Staunen vernimmt er ſolche Heilsbotſchaft, und 
wir mit ihm. | | 

Goethe hat dem Ewigweiblichen läuternde Kraft zugeſchrieben, 
doch nur bei tätiger Mitwirkung des Gefallenen. „Wer immer 
ſtrebend ſich bemüht“ .... Paludan⸗Müller ſchon durchbricht 
dieſe Einſchränkung, ſein Adam Homo iſt ein Wicht bis zum letzten 
Atemzug, aber er ſchickt wenigſtens den von Alma unverdienter⸗ 
weiſe Befreiten zu einigem Erſatz ins Fegefeuer. Ibſen nun läßt 
ohne Bedingung Gnade für Recht ergehen bei ſpäter, erzwungener, 
zweifelhafter Reue. Seine Erlöſungslehre iſt die bequemſte und 
nach den möglichen Folgen die bedenklichſte. Nur eine beinahe 
religiöſe Überzeugung vom Wert und Gnadenamt des „unſchuldigen 
Weibes“ macht den Schluß des Peer Gynt überhaupt be— 
greiflich. 


VIII. Peer Gynt 265 


6 

Mit einem andern Werke der däniſchen Literatur berührt 
ſich Peer Gynt noch in der Pſychologie, ohne daß jedoch irgend— 
welcher Einfluß ſtattgefunden hätte, mit Hans Egede Schacks Ro⸗ 
man ‚Die Phantaſten' (1857). 

Aus den unangenehmen Verhältniſſen einer harten und öden Ge— 
genwart flüchtet beſonders die Jugend gern in das Land der Träume. 
Wir alle haben uns einmal, je nach Begabung und Temperament, 
dieſem Hang überlaſſen, und die geliebten Volks- und Kindermärchen 
verdanken nichts anderm ihrem Urſprung. Selten auch wird einer 
demütig genug ſein, ſich ſelbſt in ſeinen Glücksträumen auf einer 
niedern Stufe zu gefallen, etwa die Rolle des getreuen Dieners zu 
übernehmen. Man baut ſeine Luftſchlöſſer nicht für andere Prinzen. 

Eine ſehr getreue, zum Teil offenbar autobiographiſche Schil— 
derung ſolcher „Jugendlichkeiten“ eröffnet Schacks Buch. Unter 
einer Eiche kommen die Phantaſten zuſammen, nicht um zu 
ſpielen wie andre Knaben, ſondern um ſich an Hirngeſpinſten zu 
ergötzen. Sie unterhalten ſich z. B. damit, auszudenken, was jeder 
von ihnen als König von Dänemark zu Napoleons Zeiten und 
als deſſen Verbündeter tun würde. Der eine gründet gleich ein 
öſterſeeiſches Kaiſertum, malt ſich aus, wie er als ſiegreicher 
Kaiſer in ſeine Hauptſtadt zurückkehrt, unter welchen Zeremonien, 
wie das Volk ſteht und gafft uſw. Die entſprechenden Stellen 
im ‚Peer Gynt‘ drängen ſich von ſelbſt auf und der ähnliche 
ſeeliſche Zuſtand tritt unverkennbar hervor, wenn weiterhin Kon— 
rad (der Verfaſſer) von ſeinen Knabentagen erzählt, er habe 
immer im ſtillen erwartet, es würde ihn wohl ein oder die andre 
Begebenheit plötzlich zur Größe erheben, und ſein Glaube daran ſei 
ſo ſtark geweſen, daß er geradezu ein innerliches Unbehagen gefühlt 
habe bei dem Gedanken, einen wirklichen, aber ſo geringen Schritt 
gegen das Ziel hin zu tun wie den, ernſtlich einen beſtimmten Be— 
ruf zu wählen. Schack warnt eindringlich vor den Gefahren eines 
ſolchen Phantaſiedaſeins; ſein Held entzieht ſich gerade in letzter 
Stunde durch energiſche Selbſtzucht dem drohenden Wahnſinn. 


266 VIII. Peer Gynt 


Lediglich als Einzelfall hingegen und ohne ethiſche Abſicht, 
darum ohne Ibſens Entrüſtung und Schacks Entſetzen, ja mit 
parteilicher Milde betrachten zwei berühmte Erzähler, ein ruſſiſcher 
und ein deutſcher, dieſe merkwürdige Erſcheinung des Seelenlebens. 

Rudin, der Titelheld einer Novelle von Turgenjew (1855), 
iſt eine Gyntiſche Geſtalt. Er hat mit Peer gemein: reiche natür⸗ 
liche Anlagen, vor allem die Gabe der Rede und die ſtets ver— 
lockende Fähigkeit, ſeine eigene Einbildungskraft und die der Zu— 
hörer nach Willkür zu erregen und zu lenken, das Bedürfnis, eine 
Rolle zu ſpielen vor ſich und andern, den Trieb, die Gemüter zu 
beherrſchen, die feige Scheu vor allem Endgültigen, Unumſtößlichen, 
vor Verantwortung und Verpflichtung. 

Beide find von einer verwitweten Mutter abgöttiſch geliebt 
und verzogen worden, gewinnen die erſte Liebe eines reinen jungen 
Herzens und verraten ſich im Glück als unwürdige Egoiſten. Nur 
iſt die Selbſtſucht des feineren, gebildeteren Rudin nicht ſo robuſt 
wie die Peer Gynts, wirft nicht alle Schleier zuletzt ſchamlos ab, 
entwickelt ſich nicht aus dem Naiv-Unbewußten zu einem ſelbſt⸗ 
bewußt ſchlechten Charakter. Im Gegenteil, was Rudin nicht fehlt, 
die in mancherlei Mißgeſchick erſtarkende Selbſterkenntnis, verhin⸗ 
dert eine ſolche Entwicklung und läßt ſein ziel- und erfolgloſes 
Leben faſt als Verhängnis erſcheinen, ſo daß Turgenjew in der 
zweiten Hälfte der Geſchichte mehr und mehr Partei ergreifen und 
unſer Mitleid anſprechen darf. 

Peer Gynts Weſen iſt Eigenliebe und Phantaſterei in ſteter 
Wechſelwirkung. Wie uns nun Rudins Charakter die Grundzüge 
jenes Egoismus nahe bringt, erläutert Paul Heyſes Märtyrer 
der Phantafie‘ (1874) die romantiſche Art dieſes Träumens 
mit offnen Augen. Schon die Überſchrift kündigt die Stellung des 
Verfaſſers zu feinem Helden an. Nicht richten, verſtehen und ver— 
zeihen ſollen wir — um ſo mehr, als ſich hier die Einbildungs— 
kraft nicht im Frondienſt eines begehrlichen Willens betätigt. 
Auch dieſer Märtyrer wurde in früher Jugend von einer alten 
Wärterin mit Märchen gefüttert und lernte „die Kunſt, ſich an 


N S 


VIII. Peer Gynt 267 


Hirngeſpinſten zu ergötzen“. „Wo ich ging und ſtand, naſchte ich 
allerlei Phantaſterei.“ Er hat dann „für nichts ein rechtes 
Herz“, weder grämt noch ärgert er ſich, weder haßt noch liebt er 
und beim Verluſte ſeiner Angehörigen erfaßt ihn mehr ein Ge 
fühl der „Beklommenheit“ als wirklich menſchliches Empfinden. 
Auch Peer überwindet raſch den Tod der Mutter, auch ihm geht 
alles nur skindeep. Niemals fällt der Schmerz ſolche Naturen 
an „wie ein gewappneter Mann“. Sie ſind keineswegs ganz ohne 
Gutmütigkeit und Empfindung, aber ihre Gefühle, gleich den gas- 
gefüllten Luftkugeln der Kinder, ſteigen alsbald in die dünne 
Atmoſphäre der Phantaſie empor und zerplatzen. | 
Einen Punkt noch, wichtiger als die eben angeführten, wird 

der Hinweis auf die Novelle klären. Im letzten Aufzug kommen Peer 
Gynt ſeine Unterlaſſungsſünden zum Bewußtſein, welke Blätter, 
geknickte Halme, wehende Lüfte flüſtern ihm zu in der Nacht: 

Wir ſind Gedanken, 

Du ee uns denken fen! 


Wir ad eine fung, 
Die 11 8525 du künden 0 


Wir oed Kinder, 

Du hätteſt uns ſingen ſollen! 
„Anklagende Worte,“ meint G. Brandes, „womit der Dichter in 
ſchlaffen Zeiten ſich ſelbſt geſpornt haben mag, die man ſich aber 
unmöglich in Form einer Selbſtanklage Peers vorſtellen kann.“ 
Man kann es wohl, ſofern Peer Vertreter der Nation iſt. Und 
außerdem: „Wenn ich nur etwas mehr Bildung gehabt hätte,“ 
klagt Heyſes Tagesträumer, „vielleicht hätte ich ſo was wie einen 
Poeten abgegeben und mit der Zeit gelernt aus der Not, die meine 
arme Seele durch dies Uberwuchern der Phantaſie erlitt, eine Tugend 
zu machen.“ Auch Peer hätte das lernen können. Er legt gleich 
in der erſten Szene mit der Schilderung ſeines Rittes über den 
Gendingrat und weiterhin bei Gelegenheit Zeugnis ab von einer 
gewiſſen Begabung, die jene Anklagen rechtfertigt. Hiedurch iſt 


268 VIII. Peer Gynt 


nicht ausgeſchloſſen, daß ſymboliſch auf die Nation angeſpielt wird, 
und ebenſowenig, daß die Verſe auf den Dichter ſelbſt Bezug 
haben. Nach dieſer Seite hin mochte er ſich mit ſeinem Helden 
verwandt fühlen, wie ſich Heyſe geradezu in der Vorrede „in ge⸗ 
wiſſem Sinne von Berufs wegen eine Art Leidensgefährten“ ſeines 
armen Sünders nennt „und bei manchen Stellen ein deutliches 
de te fabula narratur vom eigenen Gewiſſen ſich hat zuraunen 
laſſen“. 

Eine ſehr feine Gattung Lüge iſt es denn auch, die Ibſen 
ſeinen Landsleuten zuſchreibt, Lüge aus Überſchwang der Phan⸗ 
taſie, eigentlich die bloße Entartung einer künſtleriſchen Tugend, 
kein philiſterhaftes Laſter wie das britiſche cant. Sie hätten 
ſich darüber nicht ſo ereifern brauchen, wie ſie nach dem Er⸗ 
ſcheinen des Werkes (im November 1867) getan haben. Und 
beſchaute der Dichter den ſchillernden Fehler auch ingrimmig durch 
die Brille des Sittenrichters — eigne Wahrhaftigkeit und Vater⸗ 
landsliebe gaben ihm ein doppeltes gutes Recht. „Glauben Sie 
nicht,“ ſchrieb er an die früher erwähnte L. Kieler, „daß ich ſo 
unfreundlich gegen meine Landsleute geſtimmt ſei, wie man mir 
vorwirft. Auf alle Fälle, das kann ich verſichern, bin ich nicht 
freundlicher gegen mich ſelbſt als gegen andre.“ Einprägen wollt' 
er auch ihnen den Wahlſpruch Tycho Brahes, den er zu dem ſeinen 
gemacht hatte: Non haberi sed esse! einprägen in jeder Weiſe, 
die ihm zu Gebote ſtand, pathetiſch im ‚Brand‘, — im ‚Peer 
Gynt‘ durch „Scherz, Satire, Ironie und tiefere Bedeutung“. 


IX 


Kaiſer und Galiläer 


1 

kule war Gottes Stiefkind auf Erden, das war das Rätſel an 
„ ihm.“ Schon 1864, als dieſes Schlußwort der „Thronforderer“ 
niedergeſchrieben wurde, wandte ſich Ibſens Augenmerk auf einen 
andern Zweifler und Widerſetzlichen, deſſen tragiſcher Untergang 
mehr noch als der des norwegiſchen Häuptlings zu einem ſolchen 
Urteil herausforderte und zur Löſung des Rätſels reizte. Er trug 
ſich mit einem Drama Julian den frafaldne — Julian der Ab⸗ 
trünnige. Aber nicht nur ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' ſchoben ſich 
zwiſchen Abſicht und Ausführung: zwei Jahre nach ‚Peer Gynt', 
1869, erſchien als Vorläufer einer Reihe von ganz anders bes 
ſchaffenen Werken das moderne Luſtſpiel ‚Bund der Jugend“, und 
erſt neun Jahre nach gefaßtem Gedanken wurde das „weltge⸗ 
ſchichtliche Schaufpiel‘ in zwei Teilen abgeſchloſſen. 

Über die Entſtehung und die Verzögerungen dieſes Welt⸗ 
dramas — wie es zuerſt benannt werden ſollte, denn „es handelt 
von Himmel und Erde“ — ſind wir durch reichhaltige Zeugniſſe 
wohl unterrichtet. 

Die heißen Sommermonate des Jahres 64 verbrachten die 
Freunde Ibſen und Lorentz Dietrichſon in Genzano. „Nachmit⸗ 
tags“, erzählt Dietrichſon in feinen Erinnerungen, „lagen wir ges 
wöhnlich leſend oder plaudernd unter den Bäumen auf einem Hügel 
am Nemiſee, und ich erinnere mich beſonders an einen Tag, als ich 
dort lag und las, des Ammianus Marcellinus Beſchreibung vom 
Feldzug Julians des Abtrünnigen: daß da Ibſen von dem Buche 
ſehr gefeſſelt wurde. Das Geſpräch kam auch auf Julian, und 
ich weiß, der Plan, dieſen Stoff dichteriſch zu behandeln, feſtigte 
ſich in ihm an jenem Tage zu ernſter Abſicht. Wenigſtens ſagte 
er am Schluſſe des Geſprächs, er hoffe, es werde ihm keiner mit 
der Behandlung dieſes Stoffes zu vorkommen.“ 

Schon im September hatte Ibſen die Tragödie in Vorberei— 


— 


270 IX. Kaiſer und Galiläer 


tung: „Eine Arbeit, die ich mit unendlicher Freude umfaſſe, 
von der ich gewiß glaube, daß ſie mir glücken wird.“ Bis zum 
nächſten Frühjahr oder ſpäteſtens im Laufe des Sommers hoffte 
er, fertig zu ſein. Im März 6s hebt denn auch ein Stipendien⸗ 
geſuch an die Drontheimer Geſellſchaft der Wiſſenſchaft beſonders 
hervor, das im Süden begonnene Werk aus der römiſchen Ge⸗ 
ſchichte müſſe auch im Süden vollendet werden. Mitten in ſolcher 
Schaffenstätigkeit den Aufenthaltsort wechſeln, heiße nichts andres, 
als zugleich Stimmung und geiſtigen Geſichtspunkt wechſeln. Da⸗ 
durch würde die künſtleriſche Einheit jedenfalls leiden, wenn nicht 
ganz und gar zerſtört werden — eine Vorherſage, die in der Tat 
nicht unerfüllt geblieben iſt. i 

Wiederum ein Jahr ſpäter, nachdem er 1865 den Brand in 
unglaublich kurzer Friſt bewältigt hatte, fühlte er mehr und mehr 
Luft, ſich „ernſtlich“ mit Kaiſer und Galiläer einzulaſſen, trotzdem 
der Däne Carſten Hauch ihm mittlerweile zuvorgekommen war mit 
einem ‚tragiſchen Drama‘ Julian der Abtrünnige. Er enthielt ſich, 
Hauchs Buch zu leſen; ſeine Auffaſſung werde ja gewiß in allem 
und jedem grundverſchieden ſein. Als dann Peer Gynt auf Brand 
wie von ſelbſt gefolgt war, nutzte er noch die letzten Monate ſeines 
römiſchen Aufenthalts zu erneuten Studien für Kaiſer Julian und 
ſuchte die gewaltige Stoffmaſſe vorläufig im Geiſte zu gliedern. 

Im Herbſt 1868 mußte ſich der Verehrer des päpſtlichen 
Rom zu dem gefürchteten Wechſel des Ortes entſchließen und 
— von dieſer einzigen friedſamen Stätte in Europa — nach 
Dresden überſiedeln. Dahin brachte er wohl einen Plan zum, Bund 
der Jugend“ mit und konnte das Luſtſpiel denſelben Winter aus⸗ 
geſtalten; doch für „Kaiſer und Galiläer“ war noch immer kein 
Grundriß entworfen und alſo noch weniger etwas niedergeſchrieben, 
abgeſehen von Studien und geſchichtlichen Aufzeichnungen. Und 
immer Neues trat dazwiſchen: im Sommer 69 eine Reiſe nach 
Stockholm, in den Spätmonaten des Jahres die Fahrt nach Agypten 
zur Eröffnung des Suezkanals. Nach der Rückkehr lockten allerlei 
literariſche Pläne und bald auch beſchäftigten die Weltbegebenheiten 


IX. Kaiſer und Galiläer a 271 


des Dichters Gedanken ſo ſehr, daß er ſich auf nichts Tieferes 
mehr konzentrieren konnte. Indes, gerade dieſe Weltbegebenheiten, 
die ſiegreichen deutſchen Kämpfe gegen Frankreich, erhellten und 
beſtätigten nun, wie wir erkennen werden, jene Ideen, die ſo lange 
nicht zu hinreichender Klarheit hatten gedeihen wollen, und ſtellten 
den engeren Zuſammenhang her mit den Bewegungen der Gegen— 
wart — „eine unumgängliche Forderung für jede moderne Be— 
handlung eines ſo fern liegenden Stoffes, ſoll er, als Dichtung be— 
trachtet, Intereſſe erwecken“. 

Beſondrer Beachtung wert, neben, ja vor den andern Be— 
weggründen und Förderniſſen, dünkt mich ein rein künſtleriſches 
Verlangen, das uns die „innere Hiſtorie“, der Brief an Peter 
Hanſen, enthüllt. „Der Erdboden hat großen Einfluß auf die 
Formen, in denen die Einbildung ſchafft. Kann ich nicht, une 
gefähr wie Chriſtoff in „Jakob von Tyboe“, auf ‚Brand‘ und ‚Peer 
Gynt' hinweiſen und ſagen: Siehe, dies war ein Weinrauſch? Und 
ft nicht im ‚Bund der Jugend“ etwas, das an Knackwurſt und 
Bier erinnert? Ich will damit das Stück nicht herabſetzen; aber 
ich meine, daß der Geſichtspunkt ein andrer geworden iſt, weil 
ich hier in einer bis zur Langweiligkeit wohlgeordneten Geſellſchaft 
ſtehe. Was ſoll erſt daraus werden, wenn ich einmal ganz nach 
Hauſe komme! Ich muß meine Rettung ſuchen im Fernliegenden, 
und da denke ich nun, „Kaiſer Julian“ vorzunehmen.“ 

Gleichwohl, der Boden, die Umgebung machten ſich auch für 
das Fernliegende geltend und der Geſichtspunkt blieb derſelbe wie 
für das moderne Luſtſpiel: Realismus — Wirklichkeitstreue! Aber: 
es wurde eine Herkulesarbeit, ſich friſch und anſchaulich in eine ſo 
ferne und fremde Zeit einzuleben, — in ſtrengem Anſchluß an 
das Hiſtoriſche, das alles gleichſam vor ſeinen Augen ſich ereignen 
zu laſſen — die Geſtalten im Lichte ihrer Zeit zu ſchauen und 
fie unmittelbar fo dem Leſer vor Augen zu führen —: ein energiſch 
geſehenes Bruchſtück der Menſchengeſchichte. 

Dieſe an verſchiedene Freunde gerichteten Bemerkungen faßt 
Ibſen beinahe programmartig zuſammen in einem Briefe an ſeinen 


272 IX. Kaiſer und Galiläer 


engliſchen Kritiker und Herold Edmund Goſſe. Daß „Kaiſer und 
Galiläer‘ in Verſen geſchrieben fein müßte und dadurch gewonnen 
hätte, ſtreitet er ihm unbedingt ab. Es ſei doch in der denkbar 
realiſtiſcheſten Form angelegt, um die Illuſion der Wirklichkeit zu 
erzeugen, den Eindruck des wirklich Vorgefallenen. Der Vers hätte 
ſolcher Abſicht und Aufgabe entgegengearbeitet. Die vielen all- 
täglichen und unbedeutenden Charaktere, die er vorſätzlich in das 
Stück gebracht habe, wären vermiſcht und ineinander gemengt 
worden, wenn er ſie alleſamt in rhythmiſchem Takt hätte ſprechen 
laſſen. „Wir leben nicht mehr in Shakeſpeares Zeit, und in den 
Kreiſen der Bildhauer redet man allmählich ſchon davon, die Statuen 
mit natürlichen Farben zu bemalen. Darüber läßt ſich vieles pro 
und contra ſagen. Ich möchte die Venus von Milo nicht bemalt 
haben, aber einen Negerkopf möchte ich lieber in ſchwarzem, als 
in weißem Marmor ausgeführt ſehen. Im großen und ganzen 
muß die ſprachliche Form ſich nach dem Grade von Idealität richten, 
der über die Darſtellung gebreitet iſt. Mein neues Schauſpiel iſt 
keine Tragödie im Sinne der älteren Zeit; was ich habe ſchildern 
wollen, find Menſchen, und juſt deshalb bin ich nicht willens ge 
weſen, fie ‚mit Götterzungen“ reden zu laſſen.“ 

Doch nicht allein um des angeſtrebten Realismus willen 
koſtete die Ausarbeitung des fernliegenden Stoffes ſchwere Mühe; 
Ibſen rang mit Julian, ſo zu ſagen, Perſon an Perſon. Es war 
ein Teil ſeines eignen geiſtigen Lebens, den er in dem Werke 
niederlegte: was er ſchildert, hatte er in andern Formen ſelbſt 
durchlebt. Ein Brief eben aus jener Zeit an die Schriftſtellerin 
Magdalene Thoreſen handelt von der Wichtigkeit und von der 
Schwierigkeit, für ſich ſelbſt klar das Er lebte vom Durch lebten 
zu ſcheiden; denn nur das Durchlebte könne Gegenſtand der Dich— 


tung ſein. Und die Vorbedingungen reicher Produktion? „Warmer 


und voller Stimmungsgehalt, Erfahrungen und Beobachtungen von 
Charakteren wie von Situationen, Geiſt im Überfluß und ideale 
Anſchauung: um die Wirklichkeit in die Sphäre der innern, 


W 


Ne 


IX. Kaiſer und Galiläer | 273 


höhern Wahrheit hinaufzuheben — eine Verwandlung, in der doch 
eigentlich alles poetiſche Zuſtandekommen (tilblivelse) liegt.“ 

Viel Selbſtanatomie ſteckt in dem Buche, bekennt der Auf: 
richtige und verhehlt jo wenig wie bei ‚Peer Gynt', daß ſich im 
Charakter des Helden mehr geiſtig Durchlebtes finde, als er dem 
Publikum gegenüber Wort haben möchte. Björnſon ſoll dann 
„Kaiſer und Galiläer“, noch ehe er es kennen konnte, für „Atheis— 
mus“ erklärt und hinzugefügt haben, daß es natürlich mit Ibſen 
dahin habe kommen müſſen. | 

„Das Stück behandelt einen Ringkampf zwiſchen zwei uns 
verſöhnlichen Mächten im Weltenleben, der ſich zu allen Zeiten 
wiederholen wird, und auf Grund dieſer Univerſalität nenne ich 
das Buch ein weltgeſchichtliches Schauſpiel.“ Auf Grund dieſer 
Univerſalität dürfte er es auch — in drei Briefen! — als ſein 
Hauptwerk angekündigt haben. Die poſitive Weltanſchauung, welche 
die Kritiker ſo lange von mir heiſchten, hier wird man ſie erhalten! 
ruft er, nicht ohne Genugtuung, dem Verleger zu. Den Aſthetiker 
Brandes aber beruhigt er, keine Angſt zu haben vor irgendwelchem 
Tendenzweſen; er ſehe auf die Charaktere, auf die ſich kreuzenden 
Pläne, auf die Geſchichte, und gebe ſich nicht ab mit der Mo⸗ 
ral des Ganzen — vorausgeſetzt, daß man unter der Moral der 
Geſchichte nicht ihre Philoſophie verſtehe: denn daß eine ſolche als 
endgültiges Urteil über das Kämpfende und Siegende hervorſcheinen 
werde, das ergebe ſich von ſelbſt. 

Und eben dies endgültige Urteil ſich zu bilden, hat den auf 
deutſche Erde Übergeſiedelten unſer Kampf und Sieg gelehrt. Dank⸗ 
bar bezeichnet er „Kaiſer und Galiläer‘ als das erſte Werk, das 
er unter dem Einfluß des deutſchen Geiſteslebens geſchrieben, und 
begründet es aufs deutlichſte, warum er vorher, während des vier— 
jährigen römiſchen Aufenthaltes, nur Studien geſammelt, aber 
keinen Schritt vorwärts getan zur Ausführung. „Meine Lebens⸗ 
anſchauung war damals noch nationalſkandinaviſch, und ich konnte 
deshalb mit dem fremden Stoffe nicht zurecht kommen. Dann er⸗ 
lebte ich die große Zeit in Deutſchland, das Kriegsjahr und die 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 18 


274 IX. Kaiſer und Galiläer 


nachherige Entwickelung. Dies alles hatte für mich an vielen 
Punkten eine umwandelnde Kraft. Meine Anſicht der Weltge⸗ 
ſchichte und des Menſchenlebens war bisher eine nationale Anſicht 
geweſen. Jetzt erweiterte ſie ſich zu einer Stammesanſicht, und ſo 
konnte ich Kaiſer und Galiläer ſchreiben. Es wurde im Früh⸗ 
jahr 1873 vollendet.“ 

Das Wiedererſtehen des Reiches, der Anblick des frei und 
mächtig ſich entfaltenden deutſchen Volkstums hatte alſo den Ver⸗ 
faſſer des viel beſprochenen Gedichtes ‚Ballonbrief an eine ſchwe⸗ 
diſche Dame‘ vom Dezember 1870 fo glücklich an einem für uns 
beſonders merkwürdigen Punkte umgewandelt. Damals, noch von 
nationaler Anſchauung beherrſcht, gegen Preußen, das Dänemark 
gedemütigt hatte, von ſkandinaviſchem Haſſe erregt, nannte er den 
Sieg über Frankreich einen Sieg der Ziffer, der Stabsmaſchinerie, 
warf er Moltke vor, die Poeſie des Kampfes gemordet zu haben, 
und Bismarck, daß ihm der Sinn mangle für den Hunger der 
Zeit nach Schönheit. Schon zwei Jahre ſpäter war der immer 
aufrichtig der Wahrheit nacheifernde Mann dazu gelangt, ſeinen 
kurzſichtigen nordiſchen Groll zu verabſchieden und, mitten unter 
uns wohnend, ſich als Germanen zu fühlen, als ſolcher unſere 
Taten und Loſe in einem das rechte Maß gebenden Zuſammen⸗ 
hang zu beurteilen. 1872 ruft er dem Norden zu: „Das Geſetz 
der Zeit, Cavour und Bismarck ſchrieben es auch für uns!“ und 
feiert 1875 in dem ſchönen Gedichte ‚Weit fort!“ die deutſche 
Einigung, die er abermals den Seinigen als Beiſpiel aufſtellt. Es 
war ihm ergangen wie Conrad Ferdinand Meyer, dem auch erſt 
„die großen Zeitereigniſſe“ das Stammesgefühl verliehen, aus deſſen 
„Gewalt“ ſein Hutten geboren wurde. Freilich: deutſcher Sieg 
und Hutten, das vereinbart ſich von ſelbſt, — kraftvoll ertönt 
Meyers Lied in des alten Recken eigner, veredelter und geſteigerter 
Art; in welchem Sinne dagegen unſer Kampf und die dadurch ge⸗ 
weckte allgermaniſche Empfindung gerade zur Tragödie von Julian 
dem Apoſtaten unerläßlich geweſen, iſt nicht ohne weiteres zu er⸗ 
kennen. Unerläßlich wohl als Vorſtufe zu einem noch höheren 


IX. Kaiſer und Galiläer 275 


Standpunkt, von dem aus, bei wiederum erweitertem Geſichtskreis, 
der für das weltgeſchichtliche Drama nötige allumfaſſende Überblick 
zu gewinnen war. 

Anfangs hatte der Dichter dem Walten der Vorſehung nur 
in den Geſchicken der Heimat nachgeforſcht, ihren Wegen nur in 
Bezug auf dies kleine Stück Welt nachgeſonnen. Das verleitet un⸗ 
verſehens dazu, den Demiourgos in altheidniſcher oder iſraelitiſcher 
Weiſe als Gott des eignen Volkes zu betrachten, von dem man ſich, 
wie Ibſen ſelbſt im ‚Peer Gynt‘ ſpottet, „ganz ſeparat beſchützt“ 
wähnt. Über die echt menſchlich enge Auffaſſung hinaus führte 
dann die Erkenntnis der beſondern geſchichtlichen Aufgabe eines 
jeden Stammes. Erſchien aber der Sieg des einen als Beſtim⸗ 
mung, jo mußte es auch die Niederlage des andern fein. Die Auf- 
merkſamkeit wurde darauf hingelenkt, wie häufig ſolcher Wechſel 
der Gunſt von oben in der Vergangenheit ſchon ſtattgefunden hatte, 
wie alſo für die Leitung der Dinge geheimnisvolle, über das Wohl 
und Wehe der einzelnen erhabene Ziele geſetzt waren, und es be⸗ 
beſtigte ſich die Vorſtellung von einer Weltregierung, der alles nur 
Mittel zum Zweck, alle nur beliebig zu verwertende und nach Er— 
fordernis ohne Bedenken zu opfernde Steine in einem großartig 
angelegten Spiele ſind. 

Nicht nur die plötzlich umwandelnde Kraft, auch ein ſtetes 
inneres Fortſchreiten während der neun Jahre läßt ſich an dem 
geiſtigen Gehalt, dem für die Forſchung wertvollſten Beſtandteil 
des Dramas „Kaiſer und Galiläer“, wohl ziemlich ſicher bis ins 
einzelne nachweiſen. „Der Gedanke und die Idee ſind während 
der Ausarbeitung gewachſen.“ Zuerſt iſt die Frage: Was hat 
Ibſen ſchon 1864 zur Wahl Julians als Helden vermocht? — Die 
Idee vom Berufe, wie der unmittelbare Anſchluß an die „Thron— 
forderer‘ und das Wiederaufnehmen des Problems in ‚Brand‘ und 
„Peer Gynt' lehrt. 

Auf größerem Schauplatz, weiter hin ſichtbar, ſollte nun ein 
Herrſcher des Erdkreiſes die unwiderſtehliche Macht göttlicher Bes 
rufung dartun — auserleſen wie Hakon, widerſtrebend wie Skule, 

18* 


276 IX. Raifer und Galiläer 


Erwählter und Zweifler in einer Perſon. Dann, mit dieſer Idee in 
unlöslicher Verbindung eine zweite, ſchon in früheren Werken, be⸗ 
ſonders „Olaf Liljefrans‘, der „Komödie der Liebe“, den „Kron⸗ 
prätendenten“, gelegentlich vorgetragene: die Idee vom Nutzen des 
Leidens. Das junge Chriſtentum iſt zu Julians Zeit nahe daran, 
als Hof- und Staatsreligion zu entarten, feines urſprünglichen 
Geiſtes verluſtig zu gehen. „Was das Chriſtentum nötig hat“, 
ſagt Kierkegaard, „iſt nicht die erſtickende Protektion des Staates, 
nein, was es nötig hat, iſt friſche Luft, Verfolgung.. Der 
Staat richtet nur Unheil an, er wehrt die Verfolgung ab.“ Durch 
Verfolgungen und Leiden muß hier der Kaiſer, im Einklang damit, 
den Chriſten wieder zur Ermannung, zum Mute des Martyriums, 
zum Leben im Geiſt und in der Wahrheit verhelfen und ſo als 
Verneinender das Vorhaben des Himmels und ſeinen Beruf erfüllen. 
Zugleich mag der Gegenſatz von Heidentum und Chriſtentum, den 
Ibſen ſchon im „‚Hünengrab“, wenn auch in ganz romantiſcher 
Auffaſſung, dichteriſch zu verwenden ſuchte, mit zur Wahl des 
Stoffes angelockt haben. 

Ferner wäre zu fragen, was während des gewinnreichen Auf⸗ 
enthaltes in Italien und ſpäter hinzukam, und was ſich an den 
älteren Vorſtellungen veränderte? — Mitbedingt wurde die Fabel 
nun durch die Idee vom alleinigen Werte des Willens und zwar 
des in ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' verkündigten Opferwillens, der 
niemals fordert, immer gibt. Julian fordert; er greift mit Be⸗ 
gierde nach dem Purpur und trachtet, beſonders im zweiten Teile, 
mehr und mehr „ſich ſelbſt zu leben“. Seine Ruhmſucht und ſein 
Dünkel ſteigen ins Ungeheuerliche, er läßt ſich von den Soldaten 
als Gott verehren und erledigt ſo wiederum ſeine Aufgabe, alle 
edlen Gemüter dem Chriſtentum in die Arme zu treiben. Dazu 
gekommen iſt vor allem eine neue metaphyſiſche Idee von jener 
verhüllten, unnahbaren Macht, welche die Einzelnen als Werkzeug 
erwählt. Schon Hakons Schlußurteil über Skule fiel aus dem 
kirchlich-religiöſen Lebenskreis des Stückes heraus; im ‚Brand‘ 
mußte zur Milderung der Kataſtrophe, die des Dichters fühlſames 


IX. Kaiſer und Galiläer 277 


Herz verlangte, der deus caritatis gewaltſam und gegen die Logik 
der Fabel herbeigezogen werden; der Knopfgießer wie der Teufel 
im ‚Peer Gynt‘ laſſen auch den ganz im Hintergrunde gehaltenen 
„Meiſter“ nur mehr als ſymboliſche Geſtalt erſcheinen. 

Während alſo Ibſen bei der chriſtlichen Ethik in ihrer ſtreng— 
ſten Form beharrt, ja ſie zur Forderung der Askeſe ſteigert, ver— 
liert ſeine Anſchauung vom Lenker der Dinge in fühlbarer Weiſe 
den dogmatiſchen Charakter. Jetzt iſt es ausgeſprochenermaßen 
nicht mehr die Vorſehung, nicht mehr das Göttliche, was Julian 
ſeine Stelle in der Geſchichte und ſein Wirken anweiſt, ſondern 
der Weltwille. Darum heißt es auch jetzt nicht mehr wie in 
‚Brand‘ und ‚Peer Gynt‘, du ſollſt wollen, ſondern du mußt 
wollen. Schon im ‚Brand‘ iſt die Freiheit des Willens als 
zweifelhaft aufgefaßt, wird von Brand ſelbſt mindeſtens als ſehr 
beſchränkt empfunden, wodurch eben das Werk an die Prädeſti⸗ 
nationslehre anklingt; hier nun iſt das liberum arbitrium in- 
differentiae auf das beſtimmteſte geleugnet und, der Idee nach, 
geradezu ein Beiſpiel gegeben zu Goethes Urworten: „Wie an dem 
Tag, der dich der Welt verliehen, die Sonne ſtand zum Gruße der 
Planeten, biſt alſobald und fort und fort gediehen nach dem Geſetz, 
wonach du angetreten.“ Der Weltwille zwingt das Individuum, 
ſo zu wollen, wie es für den Gang der Weltereigniſſe notwendig 
iſt. Die Freiheit iſt nur Schein, Geſtalten wie Julian ſind „Frei⸗ 
gegebene unter der Notwendigkeit“ (krivigne under nödvendig- 
heden) — d. h. frei, ſo weit der Spielraum reicht unter einer 
Leitung, der ſie nicht entrinnen. 

Aber auch dieſe Leitung betätigt ſich nur mittelbar und 
natürlich. Als Georg Brandes urteilte, daß „der durchgeführte 
Determinismus“ die Wirkung des Dramas ſchwäche, entgegnete 
Ibſen: „Nach meiner Anſicht kommt es ungefähr auf eines heraus, 
ob ich vom Charakter einer Perſon ſage: ‚das liegt im Blut‘, oder 
ob ich ſage: ‚er iſt frei — unter der Notwendigkeit“. 

In ‚Brand‘ hatte Ibſen der Vererbung nachgegrübelt, dieſer 
eigentlichen Prädeſtination, und der Erziehung, dem ſchlechten Bei— 


278 AR, Kaiſer und Galiläer 


ſpiel, die des Willens Reinheit trüben in einem Alter, wo wir uns 
noch nicht dagegen zu wehren vermögen; hier werden ſolche Ge 
walten in erſchreckender Weiſe als Mittel des Weltwillens angeſehen, 
das Individuum zu formen und umzuformen, bis es ſeinem Zweck 
fürs Allgemeine dienlich wird. Julian muß, dem Sieg des Chriſten⸗ 
tums zuliebe, werden, wie er ſich im zweiten Teile zeigt, ob er 
gleich darüber zugrunde geht. „Schlachtopfer der Notwendigkeit“ 
nennt ihn ſein Dichter durch den Mund des Myſtikers Maximos 
und ſpricht: „Der Weltwille wird für Julians Seele Rechenſchaft 
ſtehen.“ 

Wie Julian find ſchon andere vom Weltwillen genutzt worden. 
Kain, das „erſte Opferlamm der Erwählung“ und Judas Iskariot, 
der „elende Sklave“, der da „half bei der nächſten großen Welt⸗ 
wendung“. Ihre Verbrechen waren notwendig, darum abſichtlich 
herbeigeführt. In einer bühnenwirkſamen Szene beſchwört Maximos 
ihre Geiſter, daß ſie Julian antworten und uns einweihen in die 
das Drama beherrſchenden Anſchauungen. Der Brudermörder er⸗ 
ſcheint, groß und ſchön wie Herakles, doch mit einem roten Streifen 
quer über die Stirne. 

Julian: Was war dein Beruf (hverv — Gewerbe) im 
Leben? 

Eine Stimme: Meine Schuld. 

Julian: Warum vergingſt du dich? 

Die Stimme: Warum wurde ich nicht mein Bruder? 

Julian: Keine Ausflüchte. Warum vergingſt du dich? 

Die Stimme: Warum wurde ich ich ſelbſt? 

Julian: Und was wollteſt du als du ſelbſt? 

Die Stimme: Was ich mußte. 

Julian: Und weshalb mußteſt du? 

Die Stimme: Ich war ich. 


Julian: Und welche Frucht hat deine Schuld getragen? 
Die Stimme: Die herrlichſte. 
Julian: Was nennſt du die herrlichſte? 


IX. Kaiſer und Galiläer. 279 


Die Stimme: Das Leben. 

Julian: Und des Lebens Grund? 

Die Stimme: Den Tod. 

Julian: Und des Todes? 

Die Stimme (verliert ſich in einem Seufzer): 
Ja, das iſt das Rätſel. 

Den Verräter erblickt Julian als rotbärtigen Mann mit zer⸗ 
riſſenen Kleidern und einem Strick um den Hals. 

Julian: Was warſt du im Leben? 

Die Stimme: Des Weltwagens zwölftes Rad. 

Julian: Das zwölfte? Schon das fünfte wird als unnütz 
erachtet. 

Die Stimme: Wohin wäre der Wagen gerollt ohne mich? 

Julian: Wo rollte er hin mit dir? 

Die Stimme: In die Herrlichkeit. 

Julian: Warum halfſt du? 

Die Stimme: Weil ich wollend war. 

Julian: Was wollteſt du? 

Die Stimme: Was ich wollen mußte. 

Julian: Wer erwählte dich? 

Die Stimme: Der Meiſter. 

Julian: War der Meiſter vorauswiſſend, als er dich er— 
wählte? N 

Die Stimme: Ja, das iſt das Rätſel. 

Die Zweifel und Fragen, mit denen beide Geſpräche enden, 
verraten noch den Weg, auf welchem Ibſen vom Glauben an eine 
göttliche Vorſehung zur Annahme des unbeugſamen, unbarmherzigen 
Weltwillens gelangt iſt. So ungefähr muß ſein Gedankengang 
geweſen ſein: die alte — von Goethe in klaſſiſche Form gebrachte 
— Erklärung des Verneinenden, des Böſen in der Welt als einer 
heilſam reizenden, die Menſchheit vor Erſchlaffung bewahrenden 
Kraft beſtätigt ſich wohl in der Erfahrung — iſt auch nur die 
Lehre vom Werte des Leidens, anders gewendet; allein neben dem 
Begriff Gottheit läßt ſich für den Begriff des Böſen mit utilita— 


280 IX. Kaiſer und Galiläer 


riſcher Auslegung doch kein Raum gewinnen. Der Dichter des 
Fauſt gleitet vorſichtig genug über die Schwierigkeit hin („Von 
allen Geiſtern, die verneinen, iſt mir der Schalk am wenigſten 
zur Laſt“), teilt alſo die allgemein gültige Auffaſſung: Gott laſſe 
das Böſe zu. Von einem vorwiſſenden, allmächtigen Weſen ges 
braucht, kann aber „zulaſſen“ nichts anderes bedeuten als „wollen“. 
Iſt das Böſe da, fo iſt es gewollt da, und die Macht, die es will, 
kann nicht der herkömmlichen dogmatiſchen Vorſtellung angemeſſen 
ſein. Kein ihr entgegengeſetzter Geiſt der Finſternis, ſie ſelbſt wirbt 
unter der Menſchheit die Verneinenden, die großen „Helfer in der 
Verleugnung“. 

Fatalismus wäre für die in Kaiſer und Galiläer“ vorge⸗ 
tragene überſinnliche Anſicht keineswegs das richtige Wort. Wohl 
iſt der Weltwille eine Art Verkörperung der Notwendigkeit, aber 
eben einer wollenden, nach einem Ziel zuſtrebenden, nicht eines 
blinden Fatums. Ja, als Ibſen den Plan zuerſt ins Auge faßte, 
war dieſe Notwendigkeit noch Vorſehung, und iſt es im Weſen, 
nur entgöttlicht, noch jetzt. Darum haften ihr Attribute an wie 
der „Zorn“ Gottes: Kain, Judas, Julian heißen „Eckſteine unter 
dem Zorn der Notwendigkeit“. 

Die erhaltenen Entwürfe verraten, welch ſchwierigen, wider⸗ 
ſpruchsvollen Fragen der metaphyſiſche Gedanke begegnen mußte, 
ſolange der bibliſch-chriſtliche Jehova als Lenker der Geſchicke vor⸗ 
ausgeſetzt wurde —: 

„Hätte Jehova zu Kain geſagt: geh hin und werde deines 
Bruders Mörder, und hätte Kain geantwortet: Herr, ſoll ich meine 
Seele verlieren, und hätte der Herr ihm geantwortet: tu, wie ich 
gebiete — was dann? Hätte der Herr zu Judas geſagt — 
ich brauche dich, meinen Sohn zu verraten, auf daß das Werk 
vollendet werde, und wäre Judas hingegangen und hätte ſeinen 
Herrn verraten und ſeine Seele im Gehorſam verſcherzt — was 
dann?“ 

Der „Herr“ wird ſchon in den Aufzeichnungen abgelöſt von 
einem attributloſen „Weltengeiſt“, der die Seelen verſucht und 


IX. Kaiſer und Galiläer 281 


verführt, bis er keine mehr findet; dann bricht der jüngfte 
Tag an. 

Auch iſt noch klar genug zu erkennen, daß — zu einiger 
Milderung des ungöttlich⸗göttlichen Verfahrens — Julian urſprüng⸗ 
lich die Wahl haben ſollte, ſeinen Beruf bejahend zu erfüllen, und 
ihn nur zur Strafe, weil er nicht feinhörig iſt für die innere Stimme, 
dann verneinend erfüllen muß. Als Kind hielt er voll glühenden 
Eifers Anſprachen an ſeine Altersgenoſſen und bekehrte ſie: das 
war der ihm angebotene Weg, auf dem fortſchreitend er ein Hakon 
des Chriſtentums hätte werden können. Er ſchlug einen andern 
ein: — ſeine Schuld. Das entlaſtende „Ich kann nicht anders, 
denn ich bin ich“, das die größere Hälfte der Schuld, nein die 
ganze, den Geſtirnen zuſchiebt, dem Verhängnis über uns, kam zu⸗ 
letzt hinzu, denn es iſt noch in ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' nicht 
vorhanden. 

Weder Fatalismus in der gewöhnlichen Bedeutung, noch Peſſi— 
mismus im eigentlichen philoſophiſchen Sinne hat in Ibſens Welt⸗ 
anſchauung eine Stätte, ſei es in den ſpäteren, ganz düſter ge⸗ 
färbten Werken, ſei es in den früheren, heller getönten. Davon 
überzeugt, daß es auf Erden beſſer werden kann, ja immer beſſer 
werden muß, geißelt er, was beſteht. Aber ſelbſt hier, in dem rein 
darſtellenden Werke, findet er, ganz im Gegenſatz zu Schopenhauer 
und jedem echten Peſſimismus, Berechtigung und Zweck im raſt— 
loſen wilden Kampfe um die Obmacht und ein Verſöhnendes und 
Erhebendes in der rückſichtsloſen Tätigkeit des Weltwillens, näm⸗ 
lich das Beſtreben und die Sorge für der Menſchheit ſteten Fortſchritt. 

Herder, überreich an Gedanken und Geſichten, die wir als 
modern empfinden, hat auch dieſe Anſchauung ſchon vorweg— 
genommen. Er ſpricht von Shakeſpeares Charakteren: „Jeder gleich— 
ſam für ſich Abſicht und Zweck, und nur durch die ſchöpferiſche 
Kraft des Dichters zugleich Mittel; als Abſicht zugleich Mitwirker 
des Ganzen. So ſpielt im großen Weltlauf vielleicht ein höheres 
unſichtbares Weſen mit einer niedern Klaſſe von Geſchöpfen: jeder 
läuft zu ſeinem Zweck und ſchafft und wirket; und ſiehe! unwiſſend 


282 IX. Kaiſer und Galiläer 


werden fie eben damit blinde Werkzeuge zu einem höheren Plan, 
zu einem Ganzen eines unſichtbaren Dichters!“ 

Der Weltwille iſt die perſonifizierte oder wenigſtens formu— 
lierte Kulturnotwendigkeit; die dem Schöpfer des Dra⸗ 
mas wichtigſte der neuen Ideen aber, die aus dem Verlaufe ſeiner 
Entwicklung notwendig in das Werk gekommen, iſt die Idee 
vom dritten Reich. 

„Es gibt drei Reiche“, kündet Maximos beim Sympoſion 
mit den Geiſtern Kains und Iskariots. „Erſtlich jenes Reich, 
das auf den Baum der Erkenntnis gegründet ward; dann jenes 
Reich, das auf den Baum des Kreuzes gegründet ward; das dritte 
iſt das Reich des großen Geheimniſſes, das Reich, das auf den 
Baum der Erkenntnis und den Baum des Kreuzes zuſammen ge⸗ 
gründet werden ſoll, weil es beide haßt und liebt und weil es 
ſeine lebendigen Quellen hat unter dem Hain Adams und unter 
Golgatha.“ 

Im zweiten Teile werden die myſtiſchen Worte erläutert, und 
dadurch geoffenbart, daß ſie ſich mit den Ideen Leſſings über die 
„Erziehung des Menſchengeſchlechts“ gar innig berühren. 

Julian nimmt als Kaiſer den fruchtloſen Kampf auf für das 
untergegangene erſte Reich gegen das zweite, das des Galiläers. 
„Wer wird ſiegen, der Kaiſer oder der Galiläer?“ fragt er Ma⸗ 
rimos. „Untergehen werden beide, der Kaiſer und der Galiläer“, 
lautet die Antwort, „ob in unſern Zeiten oder nach Hunderten 
von Jahren, das weiß ich nicht ... Sie werden beide unter: 
gehen, aber nicht ver gehen. Geht nicht das Kind unter im Jüng⸗ 
ling und wiederum der Jüngling im Manne? Aber weder das 
Kind noch der Jüngling vergeht ... Das Reich des Fleiſches iſt 
verſchlungen vom Reiche des Geiſtes. Aber das Reich des Geiſtes 
iſt nicht das abſchließende, ebenſowenig wie der Jüngling es iſt. 
Du haſt den Jüngling hindern wollen zu wachſen — hindern, ein 
Mann zu werden. O du Tor, der das Schwert gezogen gegen 
das Werdende, gegen das dritte Reich.“ Und Leſſing? „Sie wird 
kommen,“ weisſagt er mit derſelben Überzeugung, „ſie wird gewiß 


IX. Kaiſer und Galiläer 283 


kommen, die Zeit der Vollendung ... die Zeit eines neuen 
ewigen Evangeliums... Vielleicht daß ſelbſt gewiſſe 
Schwärmer des dreizehnten und vierzehnten Jahrhunderts einen 
Strahl dieſes neuen ewigen Evangeliums aufgefangen hatten... 
Vielleicht war ihr dreifaches Alter der Welt keine ſo 
leere Grille, und gewiß hatten ſie keine ſchlimme Abſichten, wenn 
ſie lehrten, daß der Neue Bund ebenſowohl antiquieret wer⸗ 
den müſſe, als es der Alte geworden ... Nur daß ſie ihre Zeit⸗ 
genoſſen, die noch kaum der Kindheit entwachſen waren, ohne 
Aufklärung, ohne Vorbereitung, mit Eins zu Männern machen 
zu können glaubten, die ihres dritten Zeitalters würdig 
wären.“ | 

Wie Leſſing hier den mittelalterlichen Myſtikern beipflichtet, 
hat ſich Ibſen wiederholt auch außer dem Drama zu den Lehren 
des „Schwärmers“ Maximos als zu den ſeinen bekannt. Schon 
in dem erwähnten Ballonbrief aus dem Jahre Siebzig, der die 
Eröffnung des Suezkanals ſchildert, iſt vom Lande der Verheißung 
die Rede, von der Morgenröte einer neuen Zeit, der die Menſchheit 
hoffnungsfreudig „auf den Kanälen des Werdenden“ entgegen- 
ſteuert, und in einer zu Stockholm 1887 gehaltenen Bankettrede 
wird mit Hinweis auf dieſe Szenen das Herannahen und die Er— 
füllung des dritten Reiches angeſagt. Unſere Zeit als einen Ab- 
ſchluß betrachtend, aus dem etwas Neues im Begriffe ſei, geboren 
zu werden, fährt der Dichter wörtlich fort: „Ich glaube nämlich, 
daß die Lehre der Naturwiſſenſchaft von der Evolution auch in 
Beziehung auf die geiſtigen Lebensfaktoren Gültigkeit hat. Ich 
glaube, daß uns nun recht bald eine Zeit bevorſteht, wo der 
politiſche Begriff und der ſoziale Begriff aufhören werden, in den 
gegenwärtigen Formen zu exiſtieren, und daß aus ihnen beiden eine 
Einheit zuſammenwachſen werde, die vorläufig die Bedingungen für 
das Glück der Menſchheit in ſich trägt. Ich glaube, daß Poeſie, 
Philoſophie und Religion zu einer neuen Kategorie zuſammen⸗ 
ſchmelzen werden und zu einer neuen Lebensmacht, von der wir 
jetzt Lebenden übrigens keine klarere Vorſtellung haben können. 


284 IX. Kaiſer und Galiläer 


Man hat bei verſchiedenen Anläſſen von mir behauptet, daß ich 
Peſſimiſt ſei. Und das bin ich auch, inſofern ich nicht an 
die Ewigkeit der menſchlichen Ideale glaube. Aber 
ich bin auch Optimiſt, inſofern ich feſt glaube an das Fort⸗ 
pflanzungsvermögen der Ideale und an ihre Entwicklungsfähig⸗ 
keit. Namentlich und näher beſtimmt glaube ich, daß die Ideale 
unſerer Zeit, indem ſie zugrunde gehen, nach dem hinſtreben, was 
ich in meinem Drama Kaiſer und Galiläer mit der Bezeichnung 
das dritte Reich“ angedeutet habe.“ 

Leſſing iſt der Meinung, „daß das große langſame Rad, 
welches das Geſchlecht ſeiner Vollkommenheit näher bringt, nur 
durch kleinere ſchnellere Räder in Bewegung geſetzt werde, deren 
jedes ſein einzelnes eben dahin liefert.“ Er vertraut alſo auf das 
Volk, auf die Maſſe, und ihm geſellt ſich unter den Neueren als 
Geſinnungsgenoſſe Tolſtoi (ſiehe Krieg und Frieden!“); Ibſen da⸗ 
gegen, als Heldengläubiger, nimmt ſeinen Platz neben Carlyle. 
Es ſind die zwei Grundanſchauungen, die mehr als je die Geiſter 
trennen und im politiſchen Leben offner oder verſteckter um die 
Herrſchaft ringen. Sollte unſer großes Jahr und der ſchönheit⸗ 
feindliche Bismarck gerade in dieſem Punkt Einfluß auf den Ge⸗ 
danken des Dramas gehabt, ſollte nicht wenigſtens Ibſens Lehre 
vom Genius, wie er ſie gegen G. Brandes auch brieflich ausſprach, 
unmittelbar durch die Ereigniſſe ſo zuverſichtliche Form empfangen 
haben? Heroworship predigt er, alles Große auf Erden geſchieht 
auf einmal und durch einen, der in die Speichen greift und das 
Rad mit einem gewaltigen Ruck herumreißt. Wann immer es 
geſchehen ſoll, wird alle ſonſt zerſplitterte Kraft in dem einen ge⸗ 
ſammelt. Und im Drama als Parabel: „Die Weltſeele iſt wie 
ein reicher Mann, der unzählige Söhne hat. Verteilt er ſeinen 
Reichtum gleichmäßig unter alle ſeine Söhne, ſo werden ſie alle 
wohlhabend, aber keiner von ihnen wird reich. Macht er fie je 
doch erblos bis auf einen und ſchenkt dieſem Einen alles, dann 
ſteht dieſer Eine als ein reicher Mann da in einem Kreiſe von 
Armen.“ Demgemäß iſt die Erfüllung des dritten Reiches abhängig 


IX. Kaiſer und Galiläer 285 


von dem Kommen des „Rechten, der den Kaiſer und den Gali— 
läer verſchlingen wird“, des „Friedenskönigs“, des „Zweiſeitigen“, 
der die beiden Reiche der Einſeitigkeit, die Krieg miteinander führen, 
verſöhnen und vergleichen ſoll. Kein Ausdruck iſt dem Dichter zu 
hoch, dieſen Genius, die vollkommenſte ihm denkbare Blüte der 
Menſchheit, zu verherrlichen. Dem „Meſſias des Geiſtesreichs und 
Weltreichs“, nennt er ihn, „weder Kaiſer noch Erlöſer“, aber 
„beide in einem und einer in beiden“; den „Kaiſer-Gott, Gott⸗ 
Kaiſer, Kaiſer im Reiche des Geiſtes und Gott in dem des Fleiſches“, 
in deſſen Reich „das aufrühreriſche Wort des Vorläufigen (d. h. 
Chriſti) Wahrheit wird: gib dem Kaiſer, was des Kaiſers iſt, und 
Gott, was Gottes iſt“ — denn „da iſt der Kaiſer in Gott und 
Gott im Kaiſer ... Logos in Pan, Pan in Logos.“ 

Und abermals führt Ibſen der Weg ſeines Gedankens neben 
Leſſing her, in der gleichen Richtung. „Warum“, heißt es in der 
„Erziehung des Menſchengeſchlechts“, „könnte jeder einzelne Menſch 
auch nicht mehr als einmal auf dieſer Welt vorhanden geweſen 
ſein? Iſt dieſe Hypotheſe darum ſo lächerlich, weil ſie die älteſte 
iſt? weil der menſchliche Verſtand, ehe ihn die Sophiſterei der 
Schule zerftreut und geſchwächt hatte, ſogleich darauf verfiel? ... 
Warum ſollte ich nicht ſo oft wiederkommen, als ich neue Kennt: 
niſſe, neue Fertigkeiten zu erlangen geſchickt bin?“ Ibſen aber 
verſichert: „Einer iſt, der immer, in gewiſſen Zwiſchenräumen, 
wiederkommt im Leben des Menſchengeſchlechts. Er iſt gleich einem 
Reiter, der in der Reitbahn ein wildes Pferd zähmen ſoll. Jedes— 
mal wirft das Pferd ihn ab. Über eine Weile ſitzt der Reiter 
wieder im Sattel, immer ſicherer, immer geübter: aber herunter 
mußte er in ſeinen wechſelnden Geſtalten bis auf den heutigen Tag. 
Herunter mußte er als der gottentſprungene Menſch in Edens 
Hain: herunter als Grundleger des Weltreichs; — herunter muß 
er als Fürſt des Gottesreichs. Wer weiß, wie viele Male er ſchon 
unter uns gewandelt iſt, ohne daß einer ihn kannte.“ Und Julian 
wird gefragt: „Weißt du, ob du nicht ſchon warſt in dem, den 
du jetzt verfolgſt?“ 


286 IX. Kaiſer und Galiläer 


Die Ideen von den drei Reichen, von der Weltſeele oder 


dem Weltwillen, der ſich unter den Menſchen Werkzeuge wählt und 
formt oder vielmehr, der von Zeit zu Zeit die Summe der vor: 
handenen Kräfte wieder zu einem Werkzeug formt, ſeine Kultur⸗ 
pläne um einen Schritt zu fördern: alle die Ideen hängen zu— 
ſammen und greifen ineinander wie Glieder einer Kette. Nur eine 
beſonders zu beachtende metaphyſiſche Darlegung läßt ſich nicht wohl 
mit den bisher erläuterten in Zuſammenhang bringen: ſie erhebt 
ſich gleichſam darüber und dünkt mich des Dichters letzten und 
kühnſten Gedanken, ſeine eſoteriſche Lehre zu bergen. „Siehe, 
Julian“ — ſo ſpricht wiederum Maximos — „als das Chaos 
ſich wälzte in der entſetzlichen Ode und Jehova allein war — an 
dem Tage, da er, nach den alten jüdiſchen Schriften, ſeine Hand 
ausſtreckte und ſchied zwiſchen Licht und Finſternis, zwiſchen Waſſer 
und Land, an dem Tage ſtand der große ſchaffende Gott auf 
der Zinne ſeiner Macht. Aber mit den Menſchen entſprang Wille 
(in der Urſprache die Mehrzahl: entſprangen Willen, viljer) auf 


Erden. Und Menſchen und Tiere und Bäume und Kräuter ſchufen 


ihresgleichen nach ewigen Geſetzen, und nach ewigen Geſetzen gehen 
alle Sterne im Himmelsraum. Hat Jehova bereut? Die alten 
Sagen aller Völker wiſſen von einem bereuenden Schöpfer zu er⸗ 
zählen. Das Geſetz der Erhaltung hat er in die Schöpfung gelegt. 
Zu ſpät zur Reue! Das Geſchaffene will ſich erhalten — und 
ſo wird es erhalten.“ Wohl im Hinblick hierauf hat Ehrhard den 
Weltwillen Ibſens aus Schopenhauers Hauptwerk und etwa dem 
Willen in der Natur‘ herleiten wollen. Es iſt nur ein Anklang 
in der Benennung, im weſentlichen nicht die geringſte Ahnlichkeit. 
Feſt ſteht dem Dichter, im Gegenſatz zu Schopenhauer, von An⸗ 
fang an und bleibt ihm feſt in allen Wandlungen feiner meta- 
phyſiſch⸗mythologiſchen Anſichten: die Überzeugung vom ewigen 
Fortſchritt, von der ſteten Entwicklung auf Erden. Durch die 
modernen, im Ausland aufgenommenen Ideen entgöttlicht ſich ihm 
die ſolches waltende Vorſehung und geſtaltet ſich ſchließlich zum 
Weltwillen um. Wir empfangen den Eindruck, daß dieſer überhaupt 


3 n x 8 
— TE LE DU EEE 


IX, Kaiſer und Galiläer 287 


an Stelle des Gott⸗Schöpfers getreten ſei. Aber zuletzt nun — die 
eben angezogene Erörterung iſt die letzte derartige im Drama — 
zeigt es ſich, und das iſt das Bemerkenswerteſte, daß Ibſen doch 
vom Dualismus nicht loskommt, daß ſich ihm der Weltwille, d h. 
das in den Geſchöpfen Wille gewordene Geſetz der Erhaltung, in 
prometheiſcher Auflehnung gegen den Schöpfer betätigt. Gleich 
ſeinem Helden Julian kann er, trotz aller Sehnſucht, die alten 
Feſſeln nicht gänzlich abſtreifen. Dennoch dürfte auch er, wenn 
es nötig ſein ſollte, ſich zur Verteidigung das Wort des heiligen 
Auguſtinus vorſchützen: Haec omnia inde esse in quibusdam 
vera, unde in quibusdam falsa sunt. Baſilios nennt die Lehre 
des Maximos „ein Geſpinſt von Licht und Nebel“. 

Es mag befremden, daß wir alles, womit es Ibſen ſo ernſt 
iſt, im Drama aus dem Munde eines Wahrſagers hören. Maximos 
würzt für Julian erſt beſonders berauſchende Getränke, ehe er die 
Erſcheinungen vorführt, und ſein Gebaren wie ſeine Anſtalten unter⸗ 
ſcheiden ſich in nichts von dem theatraliſchen Weſen, das bei Bes 
ſchwörern von alters her üblich iſt. Die Erklärung, damit ſei 
gemeint, im dritten Reich werde Verkehr mit der Geiſterwelt ſich 
anknüpfen und der Spiritismus eine Rolle ſpielen, iſt ſeltſam und 
wenig ſchmeichelhaft für den heutigen Spiritismus wie für den 
künftigen. Wohl aber wäre Maximos aufzufaſſen etwa wie die 
ägyptiſchen Prieſter, die das beſte Wiſſen ihrer Zeit beſaßen und 
den beſten Teil ihrer Geheimlehre wohl ſelbſt glaubten, jedoch, 
wenn es galt, ſich der Sinne der Adepten zu bemächtigen oder das 
Volk zu blenden, Wunder und Gaukeleien keineswegs verſchmähten. 
Beſonders im zweiten Teile iſt klar erſichtlich, daß Maximos Julian 
nicht bloß täuſchen will, daß er ihn liebt und Großes von ihm 
erwartet. In Zeiten, wo zwiſchen dem abgeſtorbenen Alten überall 
Neues hervorſprießt, Kraut und Unkraut, find ſolch phantaftifch- 
zweideutige Geſtalten möglich und erfahrungsgemäß. Zudem läßt 
ihn der Dichter beſtändig in der Form der Parabel ſprechen und 
verleiht ihm ſchon dadurch eine beſondere gleichſam ſymboliſche 
Stellung außerhalb und über den Perſonen. Eine logiſch-hiſtoriſche 


288 IX. Kaiſer und Galiläer 


Begründung wurde nicht geſucht und in der Hinſicht kein Be⸗ 
denken gehegt — von Adams Hain und von Golgatha philo⸗ 
ſophiert der Heide Maximos und gibt eine Einteilung der Welt: 
entwicklung bis zu Julians Zeit, in der die griechiſch-römiſche Welt 
höchſtens neben dem Judentum eine Stätte findet! — wie denn 
Ibſen wiederholt die Rolle des Erklärers, [eine Rolle unbeküm⸗ 
mert wem immer überträgt. Die Strafrede an das norwegiſche 
Volk durch den Mund des geſpenſtiſchen Nikolaus, das Schlußwort 
Hakons, viele Reden der wahnſinnigen Gerd ſind Belege dafür; 
mehr noch, in den modernen Dramen, ein Vertreter des Dichters 
wie Gregers Werle (Wildente). Schlegel und Tieck würden darin 
keinen Mangel, ſondern vorzügliche Beiſpiele der von ihnen auf 
den Schild gehobenen Ironie geſehen haben. 

„Brand“, ‚Peer Gynt‘ und „Kaiſer und Galiläer' find als 
„philoſophiſche Dramen“ bezeichnet worden. Die Neigung aber, 
grübelnd über den dramatiſchen Teil der Aufgabe hinauszugreifen, 
und zugleich ein Anſatz zu dem hier behandelten Thema laſſen 
ſich ſchon im „Catilina“ erweiſen. Mir ſchwebt eine Stelle des 
urſprünglichen Wortlautes vor, die in der zweiten Ausgabe verwiſcht 
worden und darum in Überſetzungen nicht ſo zu leſen iſt. Curius 
bekennt dem Freunde, daß er es geweſen, der ihn verraten hat. 

Catilina (ſchmerzlich): O Schickſal, Schickſal! 

Curius (ihm verzweifelt den Dolch hinrei— 
chend): Stoß ihn mir in die Bruſt! 

Catilina (milde): Du warſt bloß das Mittel — 
konnteſt du dafür? 

„Der Ausgangspunkt für mich“, äußerte ſich Ibſen gegen 
O. Brahm über ſeine Art zu ſchaffen, „iſt eine gewiſſe Stimmung, 
die nach Geſtaltung verlangt. .... Oft nun iſt das Ergebnis ein 
weſentlich andres als die Stimmung, von der ich angetrieben wurde, 
mein Ausgangspunkt und mein Endpunkt ſind verſchieden — wie 
Traum und Wirklichkeit.“ Vielleicht urteilen in Bezug auf, Kaiſer 
und Galiläer“ manche abgünſtig genug, das umzukehren: wie 
Wirklichkeit und Traum! oder einem orthodoxen nordiſchen Kritiker 


IX. Kaiſer und Galiläer 289 


beizupflichten: „Mit all ſeinem Reichtum von Gedanken hat Ibſen 
doch nichts zu geben.“ Würden ſie doch lieber die ſchönen Worte 
unſeres Gotthold Ephraim aus dem Eingang zur Erziehung des 
Menſchengeſchlechts beherzigen: „Der Verfaſſer hat ſich auf einen 
Hügel geſtellt, von welchem er etwas mehr als den vorgeſchriebenen 
Weg ſeines heutigen Tages zu überſehen glaubt. Aber er ruft keinen 
eilfertigen Wanderer, der nur das Nachtlager bald zu erreichen 
wünſcht, von ſeinem Pfade. Er verlangt nicht, daß die Ausſicht, 
die ihn entzückt, auch jedes andre Auge entzücken müſſe. Und ſo, 
dächt' ich, könnte man ihn ja wohl ſtehen und ſtaunen laſſen, wo 
er ſteht und ſtaunt!“ 
2 

Im Jahre 1798 berichtet Schiller an Goethe: „Ich möchte 
wohl einmal, wenn es mir mit einigen Schauſpielen gelungen iſt, 
mir unſer Publikum recht geneigt zu machen, etwas recht Böſes 
tun und eine alte Idee mit Julian dem Apoſtaten ausführen. 
Hier iſt nun auch eine ganz eigene beſtimmte hiſtoriſche Welt, bei 
der mirs nicht leid ſein ſollte, eine poetiſche Ausbeute zu finden, 
und das fürchterliche Intereſſe, das der Stoff hat, müßte die 
Gewalt der poetiſchen Darſtellung deſto wirkſamer machen.“ 

Das recht Böſe, was Schiller tun wollte, war, den Stoff 
mit dem Geiſte ſeiner Götter Griechenlands zu durchdringen: „Da 
ihr noch die ſchöne Welt regieret ... wie ganz anders, anders 
war es da“; die poetiſche Ausbeute wäre der Begeiſterung Julians 
für die untergegangene Zeit im Gegenſatz zur aufſteigenden ab⸗ 
gewonnen worden: „Damals war nichts heilig als das Schöne... 
Eure Tempel lachten gleich Paläſten“; worin er das fürchterliche 
Intereſſe ſah, offenbaren die Verſe: „Einen zu bereichern unter 
allen, mußte dieſe Götterwelt vergehn.“ 

Die Auffaſſung Schillers war im weſentlichen, in der partei⸗ 
lichen Liebe zum untergehenden Altertum, auch die Wielands und 
Goethes. Man erinnere ſich an Wielands Göttergeſpräche, be— 
ſonders das ſechſte, in dem Merkur den verſammelten Olympiern 
ihre Abdankung durch das Chriſtentum AREA, und an Goethes 

Woerner, Ibien. J. 3. Aufl. 19 


290 IX. Kaiſer und Galiläer 


Braut von Korinth: „Und der alten Götter bunt Gewimmel hat 
ſogleich das ſtille Haus geleert. Unſichtbar wird einer nur im 
Himmel und ein Heiland wird am Kreuz verehrt.“ Goethe brachte 
ja „einen wahrhaft julianiſchen Haß“ gegen das Chriſtentum aus 
Italien mit. Der Sänger des Meſſias hingegen hatte ebenſo ent— 
ſchieden gerade Julians Taten und Schriften zum Text einer Art 
Predigt wider die „Freygeiſter“ benützt, dabei im echten Kanzelton 
ſich entſchuldigend, daß er des Apoſtaten „Feindſeligkeiten gegen die 
Religion“ nicht alle aufzähle, noch ſeinen Charakter ganz „ausbilde“, 
weil ihm das Leſen ſeiner Werke „ſo unangenehm“ geworden ſei. 

Der lyriſchen Auffaſſung jener „Freygeiſter“ des 18. Jahr⸗ 
hunderts ſetzt der moderne Dichter eine vom entwickelteren ge⸗ 
ſchichtlichen Sinne des 19. Jahrhunderts getragene entgegen: „Die 
alte Schönheit iſt nicht länger ſchön und die neue Wahrheit nicht 
länger wahr“ geweſen zur Zeit Julians. Das unvermeidliche 
Los des Schönen auf der Erde abzuwenden, wäre Schillers Held 
gefallen, tragiſch als Opfer idealſten Strebens, Mitleid und Furcht 
erweckend, indem die Zuſchauer feine Beweggründe und feine Bes 
geiſterung hätten teilen, zugleich aber das Hoffnungsloſe, ihm ſelbſt 
Verderbliche ſeines Beginnens hätten vor Augen haben ſollen. Ibſen 
entflammt uns weder für die alte Schönheit — „Woher weißt 
du, daß jene vormalige Schönheit ſchön geweſen, an und für ſich, 
außer in der Vorſtellung des Beſchauers?“ (Maximos) — noch 
nimmt er uns für die neue Wahrheit ein, die bloß den Wert 
des Leidens beſtätigen ſoll, über der er, nur das Kreuz, nicht den 
Gott am Kreuze gläubig verehrend, in der Ahnung ſchon das 
dritte Reich aufdämmern ſieht. Daß untergehen müſſe, wer mit 
Gewalt das Untergegangene wieder ans Licht reißen will, auch das 
gilt ihm ſelbſtverſtändlich. Worin alſo beruht für ihn das Tra⸗ 
giſche, das fürchterliche Intereſſe? i 

Erſcheint auch ſein Weltwille, feine Art der Betrachtung ges 
ſchichtlicher Vorgänge phantaſtiſch: ſie entbehrt doch nicht ſo ſehr 
der Grundlage, daß keine tragiſche Fabel darauf gebaut werden 
könnte. Uralt iſt die Frage nach dem Schickſal und immer wieder 


IX, Kaiſer und Galiläer 291 


taucht ſie empor. „Was iſt es nun, das die Nationen erhöhet 
und erniedrigt?“ fragt der klaſſiſche Geſchichtſchreiber der Deutſchen. 
„Iſt es die Entwicklung ihrer Natur, Wachſen und Vergehen, wie 
eines Menſchenlebens? Aber oft wirken äußere Umſtände wunder⸗ 
bar zuſammen. Oder wäre es ein göttliches von vornherein be— 
ſtimmtes Verhängnis zum Verderben wie zum Glück?“ Das Stu⸗ 
dium der Geſchichte mit dem Überblick, den es gewährt, legt die 
Frage beſonders nahe, und wer ſie ſo ſtellt, neigt ſchon merklich 
hin zu ihrer Bejahung. Der Dramatiker hat das Ja nur energi⸗ 
ſcher ausgeſprochen. Kaiſer und Galiläer iſt eine 
Schickſalstragödie. 

Aber es werde nicht an die eigentlich ſo genannte, die roman⸗ 
tiſche Schickſalstragödie gedacht; in ihr iſt das Schickſal ein Po⸗ 
panz, den nicht Schillers dramatiſche Kraft, geſchweige die viel 
geringere ſeiner Nachfolger hat furchtbar machen können. Und 
auch nicht an die antike Schickſalstragödie. Denn was iſt — 
nach Paul Langes feiner Definition — das griechiſche Schickſal? 
„Jener unendliche Reſt, mit dem die Griechen in ihrer ſpezifiſchen 
Religion nichts anzufangen wußten. Euripides nennt es die Göttin, 
welche weder Altar noch Bild hat; aber das Eigentümliche an der 
griechiſchen Religion war eben, daß alle Götter Altar und Bild 
haben ſollten. Es iſt kalt, tot, in feinem Weſen ungriechiſch. .. 
die große Unendlichkeit ...“ Gerade den unendlichen Reſt, das 
Kalte, Tote hat Ibſen zu beſeitigen verſucht. Die unheimlich⸗ 
unbegreiflichen Beſchlüſſe des Schickſals — Tetheimena, das Feſt⸗ 
geſtellte, ſagten die Griechen kurz — erſetzt er durch das Walten 
einer lebendigen Macht mit erkennbar wohltätigen Zielen. Trotz⸗ 
dem gehören ſeine neuen „Ideen zur Philoſophie der Geſchichte 
der Menſchheit“ — mit Fug habe ich fie in einem vorläufigen, ge: 
ſonderten Abſchnitt geſammelt! — nicht notwendig zur Handlung, 
ſind ein bloßer metaphyſiſcher Kommentar, ohne den „Kaiſer und 
Galiläer“ ebenſo gut Schickſalstragödie wäre. Dennn der Welt: 
wille lenkt Julian nicht wie eine Puppe am Faden. Jenes Hin⸗ 
einrennen der antiken Helden in unſichtbare Schlingen, die da ſind, 

19 * 


292 IX. Kaiſer und Galiläer 


niemand weiß wozu, ihr Anſtürmen gegen eine dunkle eherne Mauer, 
an der ſie ſich zerſchmettern, niemand weiß warum, hat etwas Be⸗ 
drückendes, iſt mehr grauenvoll als erſchütternd. Aus ſeinem Cha⸗ 
rakter entfließen alle Handlungen des Kaiſers, und den Charakter 
als das Verhängnis des Menſchen nachzuweiſen, darin erblickt die 
moderne Schickſalstragödie ihre Aufgabe. Sie behauptet mit 
Calderon: des Menſchen einzige Schuld auf Erden it, 5 er 
geboren ward. 

Ihr erſtes und vollkommenſtes Beiſpiel, das moderne Seiten⸗ 
ſtück zum König Odipus, iſt König Lear. Zwar haben Aſthetiker 
älterer Ordnung Wahnſinn und Tod des greifen Recken zu ihrer 
Befriedigung aus einer beſondern, der Sühne genau angepaßten 
„Schuld“ hergeleitet, wie das die bekannte poetiſche Gerechtigkeit 
erheiſcht. Das Tatſächliche widerſtreitet jedoch deutlich genug. 
Lears „Schuld“ wäre die Verſtoßung Cordeliens und Kents? 
Wenn er gar keine Tochter Cordelia, keinen treuen Diener Kent 
hätte, das Reich aber in derſelben törichten Weiſe an eine Regan 
und Gonerill verſchenkte, würde es ihm anders ergehen? Seine 
Schuld — vielmehr ſchuld an ſeinem Untergange, ſein Verhäng⸗ 
nis — iſt ſein Charakter, die ihm angeborenen und die in dem 
gegebenen Lebenskreiſe dazu erworbenen Eigenſchaften, ſeine not⸗ 
wendig ſo gewordene Perſönlichkeit. Ja, ſelbſt die äußeren Um⸗ 
ſtände, die den Charakter zu unheilvoller Tätigkeit reizen — ſonſt 
gewöhnlich incommenſurabel, ein Reſt des antiken Schickſals —, 
laſſen ſich hier ganz auf ihn zurückführen. In den Töchtern trotzt 
ihm ſein eigner Charakter entgegen, die ſchlimmen und die guten 
Eigenſchaften, aber nicht mehr ſich die Wage haltend, ſondern ge⸗ 
trennt, an verſchiedene Perſonen verteilt, darum die ſchlimme Seite 
ſeines Weſens in den beiden älteren Töchtern unbeſchränkt über 
alles Maß hinausgewachſen, die gute in Cordelia freier entfaltet, 
doch mit einem Zuſatz ſeines Eigenſinns eben ihre Herkunft be⸗ 
zeugend und dem Vater verhängnisvoll werdend. 

Daß der Menſch notwendig wird, was er wird, bedarf es, 
das zu begründen, überhaupt der noch unſichern Ergebniſſe neuerer 


IX. Kaiſer und Galiläer 293 


Forſchung? „So ſagten ſchon Sibyllen, ſo Propheten.“ Auf 
allen Blättern lehrt es die Geſchichte, überall, wenn auch nicht 
immer an großen Beiſpielen, das Leben. Aus einer durch Liebe 
geſchärften Beobachtung an Goethe vermittelt uns den Eindruck 
ſtark und treffend Fritz Jacobi, wenn er über den neu gewonnenen 
großen Freund an Wieland ſchreibt Er iſt „ein Beſeſſener, 
dem faſt in keinem Falle geſtattet iſt, willkürlich zu handeln. Man 
braucht nur eine Stunde bei ihm zu ſein, um es im höchſten 
Grade lächerlich zu finden, von ihm zu begehren, daß er anders 
denken und handeln ſolle, als er wirklich denkt und handelt“. 

Solche Beſeſſenheit überzeugend darzutun, — freilich nicht 
die in einem großen Menſchen und Künſtler ſegensvoll tätige, 
ſondern die mehr leidende, in einer heftigen und dennoch nach 
ihrem Maß und Zuſchnitt vielfach begrenzten Perſönlichkeit, — alſo 
kein anderes Ziel als Shakeſpeare mit dem Lear, ſteckt ſich, bei 
ganz verſchiedenem Vorwurf, Ibſen, der Dramatiker, mit Julian. 
Er will uns deſſen Kampf und Untergang aus ſeinem notwendig 
ſo gewordenen Weſen mit Notwendigkeit folgern. Inwiefern ihm 
das gelungen und nicht gelungen — davon allein hängt die künſt⸗ 
leriſche Wertſchätzung des Dramas ab. 

Von Anfang bis zum Ende ſeiner Laufbahn — die drei 
erſten Akte des zweiten Teiles etwa ausgenommen, wovon ſpäter 
— bewährt ſich Ibſens Julian als eine edlere Natur, keine von 
denen, deren geiſtiges Antlitz zur Erde gebeugt iſt, deren Denken 
und Trachten aufgeht im Streben nach phyſiſchem Genuß und 
Wohlſein; er hat ein nicht auszutilgendes metaphyſiſches Bedürf⸗ 
nis, das ſich äußert in glühender Sehnſucht nach Wahrheit und 
Schönheit, in der Stetigkeit und dem Ernſt ſeines Ringens nach 
höheren Gütern. Durch den idealen Grundzug iſt ihm trotz aller 
egoiſtiſchen Verirrungen dauernder Wert verliehen und ſeinem 
Schickſal die tragiſche Wirkung geſichert. Schon in der urſprüng⸗ 
lichen Anlage neigt aber der hohe Sinn auch ſtark zur Ruhmſucht, 
die ihn unter Umſtänden gefährden, ja verderben kann; das meta⸗ 
phyſiſche Bedürfnis bekundet ſich zugleich als ein Bedürfnis der 


294 IX. Kaiſer und Galiläer 


Abhängigkeit von irgendeiner übernatürlichen Macht, das leicht 
ſchon der Aberglaube befriedigt. Nur wo ſich keine Gewiſſensfrage 
ſtörend einmengt, gebietet Julian gegebenen Falles über die Eigen— 
ſchaften eines bedeutenden Feldherrn, klaren Blick, ſchnellen Ent⸗ 
ſchluß, Tatkraft. In Speiſe und Trank übt er Mäßigung bis 
zur Askeſe; ſein Verlangen nach ſchöner Sinnlichkeit iſt geiſtiger, 
um nicht zu ſagen theoretiſcher Art. Wohlwollen, Güte, Gerechtig⸗ 
keitsgefühl ſind vorhanden, und ein lebhaftes Gefallen an der 
Freundſchaft hochgebildeter Männer, das freilich zum Teil auch 
von der Eitelkeit und Beſtimmbarkeit ſeines Weſens herrührt. 

Dies der Aufzug des Gewebes; nun der Einſchlag der ſchick⸗ 
ſalwebenden Umſtände! Je klarer während der Handlung würde, 
was unter günſtigen Verhältniſſen Großes und Schönes aus Julians 
Leben hätte werden können, deſto tragiſcher wirkte ſein Untergang. 

Die Geneſis des Unheils enthüllt ſich in der Vorgeſchichte. 
Nach orientaliſcher Sitte läßt Kaiſer Konſtantios, um ruhig zu 
thronen, ſeinen Bruder und deſſen Familie ermorden. Nur die 
beiden Knaben Gallos und Julian bleiben verſchont. Julian ge⸗ 
nießt in Kappadokien, wo er fern vom Hofe erzogen wird, eine 
kurze Zeit ungetrübten Glückes, die ihm ſpäter wie ein Traum 
erſcheint. Es iſt die Zeit kindlicher Unbefangenheit, noch nicht er⸗ 
wachter Triebe. Sein empfängliches, begeiſterungsfähiges Gemüt 
nimmt mit ſolcher Inbrunſt die chriſtliche Lehre auf, daß er ſie als 
jugendlicher Apoſtel den Spielgenoſſen predigt. Alsbald, mit der 
Erkenntnis ſeiner Lage, deſſen, was ihm vom Kaiſer jeden Augen⸗ 
blick droht, kommt die Todesfurcht über ihn: jede Nacht liegt er 
in Angſtſchweiß, daß der verfloſſene Tag ſein letzter geweſen ſein 
könnte. Und die Angſt vor dem Tode iſt nicht die ſchlimmſte: bei 
fortſchreitender geiſtiger und körperlicher Reife wird ihm die Heils⸗ 
botſchaft zur Schreckensbotſchaft, wird ſeine ganze Jugend eine 
beſtändige Furcht vor dem Kaiſer und vor Chriſtus. Überall, wo 
er vorwärts will, tritt ihm der erbarmungsloſe Gottmenſch groß 
und ſtreng in den Weg mit ſeiner unerbittlichen Forderung: du 
ſollſt wollen gegen deinen eignen Willen. Er ſoll, wogegen ſich 


IX. Kaiſer und Galiläer 295 


ſeine geſunde innerſte Seele auflehnt, den Feind, den Mörder ſeines 
Geſchlechtes lieben; er ſoll den Sinn bezähmen, der ihm nach den 
Stätten und Bildern der vergangenen Griechenwelt hinſchweift, 
und das Eine ſuchen, was not tut; er ſoll des Körpers ſüße Luſt 
und Begier nach dieſem und jenem erſticken: hier abſterben, um dort 
zu leben. Sein Haß gegen Konſtantios iſt nicht ſo ſtark, daß er 
die Hand wider ihn erhöbe; ſein Begehren nach den lockenden Ge— 
nüſſen der Erde nicht ſo groß, daß er wie ein Schwimmer darin 
untertauchen möchte; aber liebt er darum ſeinen Feind, haßt er 
darum des Fleiſches Luſt? Die Forderung des Fürſten der Ent— 
ſagung iſt ſtets außer ihm, niemals in ihm, und ſo entſteht der 
ſchmerzliche Zwieſpalt in ſeinem nach Harmonie dürſtenden Weſen, 
der es zerſtören muß, wenn er ſich nicht unbedingt auf die eine 
Seite zu ſtellen vermag oder auf die andere. 

Wie er Schritt vor Schritt zur Entſcheidung gedrängt wird 
und welchergeſtalt er ſich entſcheidet, das entrollt in fünf Akten 
der erſte Teil, betitelt Cäſars Abfall‘. 

Julian als neunzehnjähriger, noch nicht völlig entwickelter 
Jüngling aus der Weltabgeſchiedenheit nach Byzanz an das Hof⸗ 
lager berufen, verrät ſchon durch die linkiſchen, heftigen Gebärden, 
den jähen Aufſchlag der braunen Augen, die Unruhe, die ihn 
heimlich verzehrt. Bei jeder Anrede des Kaiſers erbleicht er, die 
Angſt zwingt ihn, dem Blutigen demütig und heuchelnd die Hand 
zu küſſen. Überall von Horchern und Spähern umlauert, greift 
er nach der verborgenen Waffe, wenn ihm jemand unverſehens 
naht, kann er ſich überall des Mißtrauens nicht erwehren, ſelbſt 
nicht gegen einen harmloſen kappadokiſchen Jugendfreund, der ihn 
mit beſter Abſicht aufſucht. Daß das Gerücht von ihm als Nach- 
folger des Konſtantios flüſtert, erfüllt ihn mit Bangen. Der 
Boden glüht ihm unter den Füßen, — hinweg aus der Haupt⸗ 
ſtadt, hinweg aus der doppelten Gefahr! Denn neben der körper— 
lichen droht hier eine ſchlimmere für die Seele: die heidniſche Bil— 
dung, nach der ſeine Seele darbt, der ſpielende Hohn und die 
„unumſtößlichen“ Gründe des berühmten Weisheitslehrers Libanios. 


296 IX. Kaiſer und Galiläer 


Seinen wankenden Glauben vor dem Verſuͤcher zu retten, erfleht 
er vom Kaiſer deſſen Verbannung, ja in einem Ausbruch des in⸗ 
neren Kampfes wünſcht er ihm den Tod — nur weil er ſich ſo 
übermächtig zu ihm, zu ſeiner Redekunſt hingezogen fühlt. 

Dem von Furcht und Argwohn gepeinigten Julian, dem Ver⸗ 
folgten, dient als Folie Kaiſer Konſtantios, der nicht minder von 
Furcht und Argwohn gepeinigte Verfolger. Vierunddreißigjährig, 
von vornehmem Außern, mit finſterem Blick der Augen, in Gang 
und Haltung ein Bild der Unruhe und Schwäche. Erſt bezichtigt 
er Julian barſch und drohend hochverräteriſcher Gedanken, dann 
zieht er ihn unmittelbar darauf bittend zur Seite: „O laß uns 
zuſammenhalten, Julian, teurer Verwandter.“ Schreckensbleich im 
Purpur einſt hinaufgeſchwankt auf den Kaiſerthron, purpurn auch 
vom Blute ſeiner nächſten Angehörigen — nicht ſämtlicher, ein 
paar Leben mußten verſchont bleiben, für die er ſich ein wenig 
Verzeihung erkaufen wollte — nun in all ſeinem Tun gegen die 
beiden Überlebenden wie ein Schiffswrack ohne Steuer, bald nach 
links treibend auf dem Strome des Mißtrauens und dann zu jeder 
neuen Bluttat fähig, bald nach rechts geworfen vom Sturmwind 
der Reue. In Ohnmacht und Hilfloſigkeit ſteht der hinſchwindende 


Menſchenſchatten unter der Gewalt körperlicher Stärke, ſeines her⸗ 


kuliſch gebauten äthiopiſchen Leibſklaven, den der Hof umſchmeichelt 
und ſelbſt die Kaiſerin „guter Memnon“ anredet. Es iſt Oſter⸗ 
nacht, der Kaiſer ſoll in die Kirche, das Abendmahl zu empfangen. 
An der Türe weicht er ſchaudernd zurück: „Sie wollen mir den 
heiligen Wein darbieten. Ich ſeh' ihn! Er funkelt wie Schlangen⸗ 
augen im Goldkelch. Blutige Augen!“ Memnon faßt ihn ums 
Handgelenk: „Komm, gnädigſter Herr! komm, ſag' ich“. Der 
fremde Wille wirkt auf ihn wie eigner Entſchluß, er richtet ſich in 
die Höhe und ſpricht mit Würde: „Hinein in das Haus des Herrn!“ 
Aus der Kirche zurückgekehrt, fühlt er Himmelsfrieden über ſich — 
ſeine durch die Schreckbilder des Gewiſſens überreizte Phantaſie 
hat die Taube herniederſchweben ſehen und die Schuldbürde hinweg⸗ 
nehmen — und die ganze abergläubiſche Feigheit ſeiner Furcht 


IX. Raifer und Galiläer 297 


vor Chriſtus kennzeichnet ſich in den Worten: „Jetzt darf ich viel 
wagen, Memnon.“ Memnon benützt die günſtige Stimmung. Zu 
einiger Sühne will der Kinderloſe einen der Bruderſöhne zum 
Erben und Nachfolger erwählen und zwar, auf Betreiben der 
Kaiſerin, Julian. Trotzdem wird nun der gewalttätige und mehr 
zu fürchtende Gallos zum Cäſar ernannt, denn Julian hat Mem⸗ 
nons ſpartaniſchem Hund einen Fußtritt gegeben. Erleichtert ver⸗ 
fügt ſich Konſtantios zum Freudenmahl in Erwartung einiger neu 
erfundenen Faſtenſpeiſen ſeines capuaniſchen Koches. In den zwei 
kurzen Auftritten iſt der grauſame Schwächling als Menſch und 
Herrſcher geſchildert, eine der vollendetſten Charakterſchöpfungen 
dieſes Werkes, der Kunſt Ibſens überhaupt. | 
Julian, dem zum Erſatz für die Cäſarenwürde zwei Wünſche 
gewährt worden, die Verbannung des Libanios und Erlaubnis zu 
reiſen, verläßt die Hauptſtadt und folgt dem Libanios nach Athen, 
gegen den Willen des Kaiſers und ſein Gewiſſen übertäubend mit 
dem Selbſtbetrug, daß er die griechiſche Weisheit nur erſehne als 
Waffe gegen das Heidentum. Roſen im Haar, mit flammendem 
Geſicht bewegt er ſich dort im Schwarm der übermütigen Weis⸗ 
heitsſchüler; doch er durchſchaut die niedrige Geſinnung ſeiner 
Genoſſen, die Selbſtſucht ſeines Lehrers Libanios. Völlig nüchtern 
beteiligt er ſich an dem tollen Treiben: warum nicht einen hellen 
Sommertag leben, ehe der Blitz einſchlägt? Er harrt der Strafe 
des Kaiſers. Nur ſchöne Redeformen und Bücherweisheit pflegt die 
Schule; heimlich ſucht er, der Chriſt, in den Eleuſiniſchen Myſterien 
Erleuchtung. Da ſchüchtern die gemeldeten Schandtaten des Cäſars 
Gallos ſein Gewiſſen ein, denn die Furcht vor Chriſtus, wie die 
vor dem Kaiſer, iſt nur künſtlich beruhigt. Er will alle Neigung 
zum Heidentum überwinden, er will, wozu ihn Mahnrufe aus 
der Nähe und aus der Ferne auffordern, als der wiedergeborene 
David die heidniſchen Streiter zu Boden ſchmettern. Doch einer 
der eifrigſten Mahner, Gregor von Nazianz, verweigert es feige, 
mit ihm auszuziehen, und einer der gewandteſten Fürſprecher des 
Chriſtentums, Baſilios von Cäſarea, muß ihm auf die Frage, wo 


298 IX. Raifer und Galiläer 


es denn zu finden ſei in dieſer Zeit der Sekten und fanatiſchen 
Greuel, antworten: in den Schriften der heiligen Männer. Bücher, 
immer und überall nur Bücher! Ihn hungert nach Leben, nach 
Zuſammenleben —, Angeſicht zu Angeſicht mit dem Geiſte! Wurde 
Saulus ſehend durch ein Buch? War es nicht eine Lichtflut, eine 
Erſcheinung, eine Stimme? Nach neuer Offenbarung lechzt er, 
willens, mit ſeinem Blute dafür zu bezahlen. In dieſen Seelen⸗ 
kämpfen kommt ihm die Kunde von einem Maximos aus Epheſos, 
der auf wunderbare Weiſe den Verkehr mit der Geiſterwelt ver⸗ 
mitteln könne. Licht auf meinem Pfade! jubelt er und eilt dem 
Meiſter der Geheimniſſe zu. 

Durch äußere und innere Erlebniſſe iſt ſo der Einfluß, den 
Maximos über Julian gewinnt, wohl vorbereitet. Sein Vertrauen 
auf Weisſagungen und Träume ſteigert ſich in Epheſos bei asketi⸗ 
ſcher, die Phantaſietätigkeit erhöhender Lebensweiſe, Pflanzenkoſt, 
Faſten, zu viſionären Zuſtänden; ſein echtes und leidenſchaftliches 
Streben nach Erkenntnis beſchäftigen Lehren, denen ſich immerhin 
ein tiefer Sinn unterlegen läßt; ſein durch die Werbungen der 
Chriſten, die Huldigungen der Heiden ſtetig gewachſener Eigen⸗ 
dünkel wird leicht zur Selbſtverherrlichung. Maximos flößt ihm den 
Glauben ein, ſelber gläubig, wie es ſcheint, daß in ihm, Julian, 
der reine Adam wieder Fleiſch geworden ſei, wie ſchon früher in 
Moſes, Alexander, Jeſus, aber größer und der Gottheit näher, 
ähnlicher als ſie. Denn ihm ſei das reine Weib verheißen, mit 
dem er ein neues Geſchlecht zeugen und das Kaiſerreich des Geiſtes 
auf Erden errichten werde. Noch iſt der Schrecken, der von Kon⸗ 
ſtantios ausgeht, nicht verringert, noch verſäumt der innerlich Ab⸗ 
gefallene, um ſein verpöntes Tun zu decken, keinen chriſtlichen 
Gottesdienſt: da geſchieht wiederum ein Unerwartetes, was den 
fürſtlichen Jüngling mit einem Schlage erretten, was ihn aber 
auch noch mehr gegen den Abgrund zu führen kann. Ihm, dem 
das Reich verheißen worden und das reine Weib, verleiht der 
unberechenbare Kaiſer die Würde eines Cäſaren und gibt ihm ſeine 
ſchöne Schweſter Helena zur Gemahlin. Maximos hegt Bedenken, 


IX. Kaiſer und Galiläer 299 


die chriſtlichen Freunde warnen: Julian hört aus allen Weis⸗ 
ſagungen, aus zufällig damit übereinſtimmenden Worten heraus, 
was ſeinen Wünſchen genehm iſt. Wie eine lange niedergehaltene 
Feder ſchnellt ſeine Ehrſucht empor: er faßt mit beiden Händen 
nach der dargebotenen Herrlichkeit der Welt. 

An die gefährdeten Grenzen Galliens geſendet, vielleicht nur, 
damit er dort umkomme, übertrifft Julian als Heerführer jede 
Erwartung und trägt einen ſo entſcheidenden Sieg über die Bar— 
baren davon, daß ſeine Legionen, ihm zujauchzend, die Anrede eines 
gefangenen Alemannenhäuptlings wiederholen: Kaiſer Julian! Er 
aber, immer unter dem Bann der zwiefachen Furcht, weit entfernt, 
dem Konſtantios kühnen Griffes die Zügel der Regierung zu ent⸗ 
reißen, kehrt vom Schlachtfeld nicht ein Triumphator, nein, ein 
flüchtender Verbrecher nach Lutetia heim. Ohne Erfolg reizt ihn 
ſeine herrſchbegierige Gemahlin zu Abfall und Widerſtand: geiſt⸗ 
voller Spott iſt die einzige Waffe, die er gegen den kaiſerlichen 
Sendboten wendet, obgleich dieſer ihm offen die Frucht des Sieges 
entwinden, ja ihn entwaffnen will. Erſt da Helena jählings ſtirbt, 
von Konſtantios vergiftet; erſt die Entdeckung in ihrer Todesſtunde, 
daß ſie, die eifrige Chriſtin, die allein und über alles Geliebte 
ihn ſchändlich betrogen hat; erſt die äußerſte Gefahr des Unter⸗ 
ganges bewegt ihn, dann aber mit Klugheit und Bemeiſterung des 
Augenblicks, die Anſchläge des Geſandten zu vereiteln, die wankend 
gewordenen Soldaten auf ſeine Seite herüberzulocken und ſich zum 
Gegenkaiſer ausrufen zu laſſen. 

Wie Konſtantios in zwei Szenen des erſten Aufzugs, iſt ſeine 
Schweſter Helena, ein üppiges Weib von berückender Schönheit, 
in zwei Szenen des vierten neben Julian am meiſten heraus⸗ 
gearbeitet, auch ſie ein Typus der Verderbnis und des entarteten 
Chriſtentums an dem ſittlich von der Heilslehre ganz unberührten 
Hofe. „Chriſtus iſt gut, ſei fromm, und er verzeiht viel,“ ſo 
ſtachelt ſie zum Aufſtand gegen den von Gott eingeſetzten Ober— 
herrn. Die Alemannen, die ſich dem Kreuze nicht beugen, ſollen 
ſterben; wie ein ſüßer Rauch wird ihr Blut zum Himmel empor— 


300 IX. Kaiſer und Galiläer 


ſteigen, und in dem Blute der alemanniſchen Jungfrauen — es iſt 
doch kein Mord und das Mittel ſoll untrüglich ſein — will ſie 
badend Verjüngung ſuchen. Eine krankhafte Miſchung von Fana⸗ 
tismus, Grauſamkeit und Gefallſucht, in der bald auch eine Schat⸗ 
tierung von Wolluſt ſich zeigt. Warum er den gefangenen Bar⸗ 
barenfürſten nicht habe martern laſſen, fragt ſie Julian und ſtellt 
ſich voll Begierde den Hingeſunkenen vor, mit des Entſetzens 
Schauern in ſeinen kräftigen Gliedern. Aber erſt im Delirium, 
nach genoſſenem Gifte, offenbart ſich das Geheimſte ihres Weſens, 
ihre meſſaliniſche, ſtets nach neuer Erregung lüſterne Sinnlichkeit. 
Es genügt für den Zweck des Dramas nicht, daß Julian erfahre, 
wie ſehr ſie ihn und ſeine „Tugend der Ohnmacht“ verabſcheut, 
wie ſie an den einſtens heiß begehrten Gallos zurückdenkt; er muß 
auch ihre überſchwängliche Verehrung des Gebenedeiten am Kreuzes⸗ 
ſtamm als heimliches Laſter erkennen: im Dunkel des Betzimmers, 
in des Weihrauchs verſchleiernden Wolken hat ſie die Sehnſucht 
ihrer Tage, das Entzücken ihrer Nächte in Geſtalt eines Prieſters 
umarmt. Unbeweglich ſteht er einen Augenblick, dann ballt er die 
Hände gen Himmel: „Galiläer!“ 

Aber ſelbſt jetzt noch gebricht ihm der Mut zum Kampfe 
gegen den Galiläer und ſeinen Geſalbten; er will auf den Tod 
des hinfälligen Kaiſers warten. Bis nach Vienna vorgerückt, ver⸗ 
bringt er die Tage mit Maximos unter der Erde in den Kata⸗ 
komben, nach Wahrzeichen forſchend. Schon iſt der Hof vor dem 
nahenden Gegenkaiſer aus Rom entflohen; ſeine Soldaten verlangen 
ungeduldig dahin, alles drängt und treibt zur Tat: vergebens. 
Angſtlich erwägt er das Für und das Wider, will bald in die 
Einſamkeit und zu ſeinen Büchern zurückkehren, bald gegen die 
Hauptſtadt ziehen, haſcht nach Entſchuldigungsgründen und Sophi⸗ 
ſtereien und ſucht den Entſchluß, der ihm allein not täte, überall, 
bei ſeinen Getreuen, bei Maximos, in den Eingeweiden der Opfer⸗ 
tiere, nur nicht in der eignen Bruſt. „Biſt du der Achilleus, von 
dem deine Mutter träumte, daß ſie ihn der Welt ſchenken würde?“ 
fragt Maximos vorwurfsvoll, „dann richte dich auf, Herr! Eine 


IX. Kaiſer und Galiläer 301 


verwundbare Ferſe macht keinen zum Achilleus.“ Er empfindet es 
ſelbſt ſchmerzlich, was ihm fehlt: „Odieſe Wehrhaftigkeit 
des Willens“, wie ſie die Heiden beſitzen, die nie unter der 
Gewalt des Gekreuzigten geſtanden haben, deren Götter einem 
Manne rings um ſich Raum laſſen, zu handeln, „o dies griechiſche 
Glück, ſich frei zu fühlen!“ Und er geht nicht vorwärts, wieder— 
um wird er vorwärts geſtoßen. Nicht nur, daß die Prieſter 
Lobgeſänge auf Helena, die Reine, die Heilige anſtimmen: es ge⸗ 
ſchehen Wunder des Glaubens an der Leiche, Fallſüchtige und 
Krüppel werden durch die Berührung geheilt. Das endlich iſt zu 
viel für Julian: „Das Leben oder die Lüge!“ heißt nun die Wahl. 
Er greift zum Opfermeſſer, um mit dem Blute des Tieres die 
Taufe abzuwaſchen. 

Kein Unentſchloſſener aus Willensſchwäche, das bezeugen ſeine 
Kriegstaten; kein Fürchtender, kein Feiger aus Schuldbewußtſein 
wie Konſtantios — vielmehr, nach Ibſens Meinung, eine heidniſche 
Seele von des chriſtlichen Gedankens Bläſſe angekränkelt, in ihrem 
freien natürlichen Streben geknickt, der Wehrhaftigkeit des Willens 
beraubt. Ein Gleichnis, das als Kennſpruch dem ganzen Werke 
vorangeſchickt werden könnte, iſt Julian ſelbſt in den Mund gelegt. 
Wir, d. h. alle, die unter der Furcht des Geoffenbarten ſtehen und 
doch die Offenbarung nicht mit dem Herzen aufnehmen können, 
„wir ſind wie Weinſtöcke, die umgepflanzt worden ſind in ein 
fremdes ungewohntes Erdreich; — pflanzt uns wieder zurück, ſo 
werden wir ausgehen; aber in dem neuen gedeihen wir nicht.“ 

Sei es, daß Ibſen der fremde Stoff — der einzige, den er 
außer Catilina behandelt hat, — nicht lag, ſei es, daß die lang 
hinausgezögerte Ausführung Schuld habe, wir vermiſſen an Cäſars 
Abfall“ manche Eigenfchaften, die feinen reifen Werken ihr beſon— 
deres Gepräge aufdrücken. Von vielen abſprechenden Außerungen 
dürfte, ſchon um der Perſon des Beurteilers willen, die des däni— 
ſchen Dichters J. P. Jakobſen Aufmerkſamkeit verdienen. In einem 
Briefe an E. Brandes (1874) ſchreibt er: „Geſtern las ich Kaiſer 
und Galiläer, den erſten Teil. Was den Dialog anlangt, ſo kann 


302 IX, Kaiſer und Galiläer 


man darüber nichts anderes ſagen, als was man über den andrer 
ſchlechter däniſcher Dramen geſagt hat. Es iſt kein Zug im Stücke, 
das Stück iſt kalt, die Perſonen ſind ohne Perſönlichkeit, ſie ſind 
lebende Leitartikel über die Anſchauungen der verſchiedenen Parteien 
und Standpunkte. Helena iſt gar nichts, Julian alles mögliche, 
ein junger norwegiſch⸗deutſcher(!) Mann, der feinen Sören Kierke⸗ 
gaard geleſen hat und gelegentlich einen Anflug von Hamlet, Man⸗ 
fred oder Antonius in Julius Cäſar bekommt. Es iſt das am 
wenigſten Ibſeniſche, was Ibſen bisher gemacht hat. Er kann 
Reim und Rhythmus durchaus nicht entbehren; in der Proſa gerät 
er in eine allzu platte Sprechweiſe, und was er von andern gelernt 
hat, läßt ſich nicht an einem ſo ſchwachen Feuer umſchmelzen wie 
das, an dem er feine Proſa formt. ... Wahrſcheinlich iſt dies 
Urteil ungerecht, da die Charaktere wohl erſt im zweiten Teil Form 
und Feſtigkeit bekommen, aber es bleibt immer ein Fehler, daß 
Hekebolios und Libanios nicht zu den ausgezeichnetſten ihrer Rich⸗ 
tung gemacht werden, ſie dürften nicht Betrüger und Hofgeſchmeiß 
ſein, das ſetzt ja Julians ganze Bedeutung herab und macht ihn 
zu einer auffallend kleinen Figur in dem Kleeblatt: Kain, Judas 
und Julian.“ 

Leicht ſind die begründeten Vorwürfe des Einſiedlers von 
Thiſted zu ſcheiden von den unbegründeten. Ablehnen müſſen wir 
die geringe Wertung der Charaktere ohne Ausnahme, müſſen gewiß 
wenigſtens Julian (im erſten Teil), Konſtantinos und Helena aus⸗ 
nehmen. Mit Sören Kierkegaard begegnet ſich Ibſen hier in 
der einen, ihm längſt geläufigen Überzeugung von der erziehenden 
Macht des Leidens, nicht aber erhielt er den geſamten Ideenſchatz 
von ihm. Nur in Äußerlichkeiten ähneln die Geiſtererſcheinungen 
denen des Manfred; Wort und Gehalt haben eignen Charakter. 
Auch ſpielt Julian nicht in den Farben Hamlets und Manfreds. 
Keinen Zug hat er mit ihnen gemeinſam, will man nicht jeden 
Grübler einen nachgeahmten Hamlet, jeden innerlich Zerfallenen 
und Gequälten einen Manfred nennen. Die Rede, mit der Julian 
die Soldaten in Gegenwart des kaiſerlichen Geſandten empört 


* EZ S 


. U = 20 206 


IX. Kaiſer und Galiläer | 303 


und für fich gewinnt, hat allerdings die des Antonius zum Mufter, 
und fein Mißtrauen gegen die Getreueſten unmittelbar vor der Kata⸗ 
ſtrophe gemahnt vielleicht an Macbeth. Früher, in kräftigeren und 
reicheren Zeitaltern, find ſolche Anlehen bei ſonſt gewahrter Selb⸗ 
ſtändigkeit dem Künſtler nicht verargt worden. Außerſt ſonderbar 
mutet endlich der Vorwurf an, daß der Verfaſſer der ‚Nordischen 
Heerfahrt‘ und der ‚Thronforderer‘ Reim und Rhythmus nicht 
entbehren könne. Doch iſt das Drama in Wahrheit das am wenig— 
ſten Ibſeniſche von allen, am wenigſten knapp und kraftvoll im 
Dialog, am wenigſten urſprünglich und „formig“ in der Charakter⸗ 
bildung, am wenigſten zweckentſprechend in der Geſtaltung des 
Gegenſpiels. Und zwar gilt das, können wir jetzt ſagen, ohne jede 
Einſchränkung auch für die erntereiche, erſt den Ruhm des Dichters 
in Europa verbreitende Folgezeit, die der nordiſche Landsmann 
nicht mehr erlebte und nicht vorausſehen konnte. 


3 

Die Hoffnung Jakobſens auf den zweiten Teil, daß der ſein 
Urteil werde ungerecht erſcheinen laſſen, hat ſich nicht erfüllt. Die 
ganze Stoff⸗ und Gedankenmaſſe wurde an einem zu ſchwachen, 
an einem immer ſchwächer werdenden Feuer umgeſchmolzen. 

Meiſt haben Ibſens Charaktere, ſchon ehe ſie in Handlung 
geſetzt werden, eine beſtimmte Stufe erreicht und die Aufgabe iſt, 
ſie vor uns zu analyſieren, zu erproben, als unveränderlich zu er⸗ 
weiſen. Nie vorher und nie wieder nachher iſt er dem Werden 
eines Charakters ſo eingehend gefolgt, wie im erſten Teil von 
„Kaiſer und Galiläer‘, Aber auch nur im erſten Teil. Mitten 
im Werke wird, was wir fchon an ‚Peer Gynt' mit Staunen be⸗ 
obachtet haben, die Darſtellungsart geändert. Cäſars Abfall‘ 
bietet — ſoweit das im Drama möglich iſt — eine Entwick— 
lung, „Kaiſer Julian“ nur ein Ergebnis: nämlich den Abſchluß 
und die Kataſtrophe jener Entwicklung, auseinandergezogen in 
fünf Akte. i 

Träte Julian im Anfang des zweiten Teiles vor uns, wie 


304 IX. Kaiſer und Galiläer 


wir ihn am Ende des erſten verlaſſen haben: wir dürften immer 
noch einer feſſelnden pſychologiſchen Entwicklung gewärtig fein. 
Statt deſſen finden wir vom erſten Anfang an alle Eigenſchaften 
und Eigenheiten ſeines Weſens ausgebildet, die zu ſeinem letzten 
aberwitzigen Tun führen, und ſo iſt nur ein Crescendo möglich, 
ein allmähliches Anſchwellen des von vorneherein angeſchlagenen 
Akkordes. : 

Und der Grundton des Akkordes — die Eitelkeit. Woran ſchon 
der Jüngling ſich nicht erſättigen konnte, Lob, Schmeichelei, das 
wird dem Kaiſer von allen Seiten und in jeder Form geſpendet. 
Seine Art, Schönredner abzuwehren, verrät Wohlgefallen und for⸗ 
dert zu neuen Hymnen auf die Beſcheidenheit im Purpur heraus. 
Den Zuruf, daß er ein göttlicher Menſch ſei, rügt er zwar an⸗ 
fänglich noch als Übertreibung, er ſelbſt aber verweilt ermunternd 
auf dem Worte Platons: nur ein Gott vermöge über Menſchen 
zu herrſchen. Eitler Selbſtgenuß iſt es, ob er ſich als Diogenes 
gebärdet oder als Alexander, ob er im Kreiſe der Beifall klatſchen⸗ 
den Günſtlinge ſalomoniſche Urteile ſpricht oder im zerriſſenen 
Philoſophenmantel durch die Straßen zieht, um ein gutes Beiſpiel 
zu geben. Unverſchämte Schmeichler belohnt er mit dem Konſu⸗ 
late, dem unverſchämteſten überträgt er es als noch höhere Be⸗ 
lohnung, ihm mit einer Lobrede zu huldigen. 

Aus dem Eigendünkel läßt ſich ſein Trachten und Treiben 
ſtets herleiten, aus ihm allein entſpringen ſeine Fehler, große 
wie kleine. Die heuchleriſche Beſcheidenheit: beim Empfang der 
Leiche des Konſtantios rühmt er ihn, den Mörder ſeiner Nächſten, 
den willensſchwachen, verächtlichen Tyrannen, einen „großen und 
tugendhaften und hochgeliebten“ Kaiſer. Die gelehrte Pedanterei: 
er gefällt ſich in übeklangen Anreden und Ermahnungen, verfaßt 
Bücher und ſatiriſche Schriften gegen die anders Denkenden, gegen 
die Chriſten, die Bürger von Antiochia, ja gegen die eignen Höf⸗ 
linge. Der Mangel an Urteil und Menſchenkenntnis: ein bieg⸗ 
ſameres Rohr iſt er in den Händen der Untergebenen als ſelbſt 
ſein Vorgänger, und wird auf die plumpſte Weiſe von jedem und 


IK. Kaiſer und Galiläer | 305 


allen hintergangen, von einem Haarſchneider eben ſo leicht wie von 
feinem ehemaligen Lehrer Hekebolios, welche beiden in ſchlauer Be— 
rechnung ſchnell zum Heidentum übertreten, oder von Libanios und 
den andern Rhetoren, deren Hohlheit und Habgier er doch in Athen 
verſpottet hatte. Die Ungerechtigkeit und Härte: ein alter, getreuer 
Diener verliert Amt und Leben, weil er darauf zu beſtehen wagt, 
daß eine vom fernſten Oſten anlangende Geſandtſchaft noch an 
Konſtantios beſtimmt geweſen. Endlich der mehr und mehr ſich 
betätigende Haß gegen die Chriſten, die ihm keinen Beifall zollen, 
ſich von ihm, dem Kaiſer, nicht belehren laſſen, und ſchon darum, 
trotz aller philoſophiſchen Worte von Milde und Nichtzwingenwollen, 
überall weder Gerechtigkeit noch Mitleid von ihm erfahren, ja bald 
die grimmigſte Verfolgung leiden. So bringt ihm eine moraliſche 
Niederlage bei, wer immer mit ihm zuſammentrifft, die Willfährigen 
und die Widerſpenſtigen, die einen mit der Lüge, die er nicht 
durchſchaut, die andern mit der Wahrheit, die er nicht ertragen will. 

Wohl verlautet noch gelegentlich in einem Ausrufe die frühere 
Sehnſucht nach Weisheit, Licht, Schönheit. Nicht zu tief ſollte 
Julian in unſern Augen ſinken. Aber da durfte nicht zugleich eine 
Art der Verblendung an ihm dargetan werden, die ans Komiſche 
ſtreift und in einem Luſtſpiel an ihrem guten Platze wäre. Es 
erregt ein Lächeln nicht frei von Mißachtung, wenn der gekrönte 
Weisheitsfreund ſich öffentlich zeigt, den durchlöcherten Mantel mit 
einem Stricke gebunden, Haar und Bart ungekämmt, die Finger 
mit Tinte beſchmutzt, in beiden Händen, unter den Armen und im 
Gürtel Pergamente und Papierrollen, und wenn der Stil ſeiner Ant— 
worten auf die Verhöhnung des Dichters Heraklios und ſpäter auf die 
der keineswegs eingeſchüchterten Menge ſolcher Erſcheinung würdig 
iſt. Stolz brüſtet er ſich vor den Bürgern, daß ſein Bart — der 
Bart eines Weiſen — Ungeziefer beherberge wie das Weidengebüſch 
Wild und droht ihnen mit ſeiner neueſten e die „der Bart⸗ 
haſſer“ heiße. 

Bricht dann das Tragiſche in dies Narrenfeſt der Eitelkeit 
herein, was im raſcheſten Wechſel mehrmals geſchieht, werden die 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 20 


306 IX. Kaiſer und Galiläer 


Chriſten zur Folter geſchleppt und ihre Qualen geſchildert, kommt 
der Lehrer Kyrillos zurück und wirft, ſeine Wunden zerreißend, dem 
Gottesleugner die blutigen Fetzen vor die Füße, zerfleiſcht eine 
Mutter, die vergebens für ihren Sohn gefleht hat, ſich ſelbſt mit 
dem Opfermeſſer des heidniſchen Prieſters die Bruſt, ſo wirken 
die grellen Gegenſätze künſtleriſch unvermittelt und unerträglich, 
gräßlich, nicht erſchütternd und ergreifend. 

Dieſe teils burlesken, teils traurigen, aber immer gleich um⸗ 
ſtändlichen, lang ausgeſponnenen Szenen ſind es eigentlich erſt, die 
den Helden in dem Kleeblatte Kain, Judas, Julian „zu einer auf⸗ 
fallend kleinen Figur machen“. Aus dem ernſthaft ſtrebenden, von 
Gemüt ſanften Jüngling des erſten Teiles iſt halb ein Tor, halb 
ein römiſcher Selbſtherrſcher geworden wie die meiſten, d. h. ein 
Henker, der, am Geiſte beſchränkt, am Herzen verhärtet, den Leiden 
um des gleichen Ideales willen, für das er einſt bereit geweſen, 
ſein Leben hinzugeben, eine geradezu rohe Unempfänglichkeit der 
Seele entgegenſetzt und nicht die liebſten Genoſſen ſeiner Jugend 
verſchont. 

Wir haben in der Pförtnerſzene des Macbeth ein klaſſiſches 
Beiſpiel dafür, daß Derbkomiſches in der Tragödie ſehr wohl 
ſtatthaft iſt — vermöge der alles bewältigenden tragiſchen Stim⸗ 
mung, unter deren Bann wir immer bleiben. Der umgekehrte 
Verſuch, blutige Szenen mit luſtſpielartigen zu einer Tragikomödie 
zu verbinden, mußte wohl mißglücken, denn was könnte hier das 
Verſchiedenartige zur Einheit des Tons zuſammenzwingen? 

In der Schilderung des Ammianus, ſeines durchaus ehr⸗ 
lichen zeitgenöſſiſchen Geſchichtſchreibers, die ſich mehr im Gleich⸗ 
gewicht hält, Fehler und Schwächen des Kaiſers nicht verſchweigt 
noch beſchönigt, aber auch nicht breiter ausführt als die Taten 
und das edle Streben, ſteht er größer, in jedem Sinne anziehender 
vor uns. Ibſen zeichnet den tatkräftigen Julian in einem, den 
vom Hochmut umnebelten Pedanten, ununterbrochen in drei Akten; 
den Mann idealer Geſinnung und tiefen Gefühles in wenigen 
Geſprächen mit Maximos, den Lobſüchtigen, leicht Getäuſchten und 


ee Se ET EEE eh ni 


IX. Kaiſer und Galiläer 307 


Grauſamen in einer ganzen Reihe von kaum variierten Auftritten. 
Für die Nachbildung des Ungünſtigen bis ins Kleinſte lieferten 
eben Julians Werke ergiebigen und bequemen Stoff, man hatte da 
alles aus feinem eignen Munde, und mit derſelben verhängnis- 
vollen Sorgfalt, die ſich nach ihm der Verfaſſer des Florian Geyer‘ 
angelegen ſein ließ, hat denn auch Ibſen ſie und die Dokumente 
der Zeit ausgeſchrieben. Le plus curieux — ſagt Erhard — 
c'est de voir comment Ibsen a réussi à s’approprier le 
style de son heros. Allerdings! Es hätten einige Proben der 
gewundenen, überladenen Perioden, ein kleiner Teil der faſt wört— 
lich aus des Kaiſers Schriften herübergenommenen Stellen zur Cha⸗ 
rakteriſierung ausgereicht. Nicht ſchlecht iſt der Dialog gleich dem 
„andrer geringer Schauſpiele“, doch ſehr oft weitſchweifig und 
ermüdend. Wir erfahren es an uns ſelbſt, wie unerträglich der 
philoſophierende Imperator feiner Umgebung wird. Ibſens Meifter- 
werke verurteilen das und lehren: Wiedergabe des Wirklichen, 
nicht wirkliche Wiedergabe, Realismus, nicht Naturalismus. 

Das iſt auch die Urſache, daß Julian durch feine Gegen⸗ 
ſpieler gedrückt wird und ſie durch ihn. Libanios und Hekebolios 
müßten in der Tat die Vorzüglichſten ihrer Richtung ſein, nicht 
habgieriges, unehrliches Hofgeſchmeiß. Weil jedoch die Quellen 
keinen Bedeutenderen in der kaiſerlichen Umgebung erwähnen als 
Libanios und viele von der Sorte des Hekebolios, ſchienen ſie dem 
Dichter die wahren Vertreter, und ſo ſchildert er auch Gregor 
von Nazianz und Baſilios von Cäſarea, wie er ſie ſich aus ihren 
Schriften herauslas, nicht wie ſie vor den Augen der chriſtlichen 
Mitwelt geſtanden haben müſſen. Man begreift nicht, wie Baſilios 
zu dem Beinamen „der Große“ kommt; auch unterſcheiden ſich 
die zwei eifrigen Sachwalter des Chriſtentums kaum voneinander, 
und ihre Reden find ohne jedes perſönliche Gepräge. Der ver: 
meintlichen Wahrheit wird die künſtleriſche Wirkung geopfert, 
denn der Stil iſt nicht allemal der Menſch, beſonders nicht in 
Zeiten, wo die geſamte Bildung nur vom Abhub der Vergangen- 
heit zehrt. 

20* 


308 IX, Kaiſer und Galiläer 


Allzu ſpät, erſt in der letzten Szene des dritten Aktes, in 
der nächtlichen Zwieſprach mit Maximos über das dritte Reich, 
erklingt ein Ton wieder, den man für immer verklungen geglaubt. 
Der Kurzſichtige und Rechthaberiſche, müßig⸗geſchäftig ſich Ver⸗ 
lierende, ſpricht und handelt plötzlich als eine Herrſchernatur, die 
keine andre Macht auf Erden neben ſich dulden will, ein zweiter 
Alexander, voller Begierde, die Welt zu erobern. Es iſt noch, 
oder vielmehr, es iſt wieder jener Julian, der voll Begierde den 
Purpur nahm und die galliſchen Heere in glänzender Schlacht 
vor ſich niederſtreckte. | 

So verwandelt, ſieht er auch den „Zimmermannsſohn“ wieder 
in neuer Beleuchtung. Er entdeckt in ihm einen zweiten Prome⸗ 


theus, einen Widerſetzlichen und Zerſtörer. „Wenn es wahr iſt, 


was geſagt wird, daß ſein Vater die Welt geſchaffen hat, dann 
verachtet der Sohn des Vaters Werk. Und gerade um dieſes ver⸗ 
meſſenen Wahnwitzes willen wird er ſo hoch geprieſen.“ 

Fände Julian in den vielen Geſprächen mit den Chriſten 
jemals irgendeinen halb ſo geiſtreichen Vorwurf und fänden die 
Begabteſten unter ihnen die rechte, ſcharfſinnige Abwehr, damit der 
ganze Gehalt der beiden Weltanſchauungen erſchöpft würde und 
ſie mit voller Macht aufeinander ſtürmten! Aber die Anklage und 
die Widerklage verhallen matt an unſerm Ohr, ohne jene Über⸗ 
redungskunſt, die den Zuhörer in den Vorſtellungskreis des Spre⸗ 
chenden bannt. Es werden manche Gedanken geſät und nur gar 
wenige gehen kümmerlich auf. Man möchte faſt vermuten, der in 
dieſem Drama viel grübelnde Dichter will, daß allein in den 
Szenen mit dem Propheten der neuen Weltanſchauung, die be⸗ 
ſtimmt iſt, die ältere heidniſche und chriſtliche zu beſiegen, der 
Geiſt ſich erhebt und Licht und Wärme ausſtrahlt. 

Die nur freilich gar nicht vorbereitete Auferſtehung des 
Geiſtes in Julian ſelbſt bringt die Handlung am Schluſſe des 
dritten Aufzugs endlich von der Stelle und verleiht dem bis dahin 
abwechslungsloſen Seelengemälde wieder etwas Fülle und Leben. 
Der Held wird unſerer Teilnahme dann auch dadurch angenähert, 


—— — 


IX. Kaiſer und Galiläer 309 


daß ſich die in einem mittleren Grade unerträglichen Schwächen 
jetzt zum Krankhaften, zum Wahnſinn ſteigern. Es verkleinert ihn 
nicht mehr, wenn er, umnachtet und verblendet, auf dem Feldzug 
gegen die Perſer ſtets das Falſche anordnet, dem Überläufer traut, 
die Schiffe verbrennen läßt; wenn er, der Kranke, ſich zum Gott 
erklärt und mit erhobener Hand den Elementen gebietet; wenn er, 
zum Rückzug gezwungen, ſpurlos verſchwinden, in einem ſchwarzen 
Gewäſſer ſein Ende ſuchen möchte, damit ſich dann die Sage ver⸗ 
breite, der Kaiſer ſei von der Erde entrückt und in die Gemein⸗ 
ſchaft der Götter aufgenommen worden. Zugleich enthüllt ſich 
wieder klar der edle Kern ſeines Weſens, das tief metaphyſiſche 
Bedürfnis, das Heimweh nach dem Licht und der Sonne und allen 
Sternen. Mit dem Worte: „Galiläer, Du haſt geſiegt!“ ſoll der ge⸗ 
ſchichtliche Julian gefallen ſein. Ibſens Julian fällt mit demſelben 
Bekenntnis in der Schlacht, indes auf ſeinem Sterbelager, an einer 
Wunde innerlich verblutend, erblickt er ſchöne Tempel — Bilder 
— laubbekränzte Jünglinge — tanzende Mädchen — doch ſo weit 
entfernt — und er ſinkt auf das Kiffen, die Sonne anrufend: „O 
Sonne, Sonne, warum betrogſt du mich?“ Auch ihn hat der Gali⸗ 
läer überwunden, aber nicht bloß den Kaiſer auf dem Schauplatz 
des Reiches, ſondern den Menſchen in ſeinem innerſten Seelenleben. 

„Nicht verzagt, Julian!“ ermutigt ihn Maximos kurz vor 
dem Entſcheidungskampf, „der Wollende ſiegt!“ „Und was ge⸗ 
winnt der Siegende?“ fragt Julian mehr ſich ſelbſt als den ge— 
treuen Berater. „Lohnt es zu ſiegen? Was hat der makedoniſche 
Alexander, was hat Julius Cäſar gewonnen? Griechen und 
Römer ſprechen von ihrem Ruhm mit kalter Bewunderung — 
während der andere, der Galiläer, der Zimmermannsſohn, als 
König der Liebe in warmen gläubigen Menſchenherzen thront. 
Ich träumte jüngſt von ihm. Ich träumte, ich hätte mir die ganze 
Erde unterworfen. Ich befahl, des Galiläers Gedächtnis ſollte 
ausgelöſcht ſein auf Erden; und es war ausgelöſcht. Da kamen 
die Geiſter und dienten mir und banden mir Schwingen an die 
Schultern, und ich ſchwang mich hinaus in den grenzenloſen Raum, 


310 IX. Kaiſer und Galiläer 


bis ich meinen Fuß auf eine andere Erde ſetzte. . .. Da ſah ich 
hernieder auf meine eigne Erde, des Kaiſers Erde, die ich galiläer⸗ 
los gemacht hatte, — und ich fand, daß alles, was ich gemacht 
hatte, ſehr gut war. — Aber ſiehe, mein Maximos, — da kam 
ein Zug an mir vorbei auf der fremden Erde, wo ich ſtand. Es 
war Kriegsvolk, Richter und Henker an der Spitze, und weinende 
Frauen folgten dem Zuge. Und ſieh — mitten in der langſam 
ſchreitenden Schar ging der Galiläer leibhaftig und trug ein Kreuz 
auf dem Rücken. Da rief ich ihn an und ſprach: Wohin, Galiläer? 
Er aber wandte mir ſein Angeſicht zu, lächelte, nickte langſam 
und ſagte: Zur Schädelſtätte! — Wo iſt er jetzt? War jenes auf 
Golgatha bei Jeruſalem nur eine Schauſtellung gleichſam auf der 
Durchreiſe durch eine Landſtadt, in einer freien Stunde? Geht er 
und geht und leidet und ſtirbt und ſiegt immer wieder von einer 
Erde zur andern? — O könnt' ich die Welt veröden! Maximos, 
gibt es kein Gift, kein verzehrendes Feuer, das Geſchaffene zu ver⸗ 
öden, wie es an jenem Tage war, da der einſame Geiſt ſchwebte 
über den Waſſern? ... Zu denken, daß Jahrhunderte folgen 
auf Jahrhunderte und daß immer neue Menſchen leben werden, die 
wiſſen, daß ich es war, der unterlag, und er, der ſiegte! — Ich 
will nicht unterliegen! Ich bin jung, ich bin unverwundbar — 
das dritte Reich iſt nahe!“ Plötzlich unterbricht er ſich mit einem 
lauten Schrei: „Dort ſteht er! — zwiſchen den Baumſtämmen — 
mit Krone und Purpurmantel.“ Er geht drohend auf die Erſchei⸗ 
nung los. „Weichen mußt du mir! Du biſt tot. Dein Reich iſt aus. 
Weg mit dem Gauklermantel, Zimmermannsſohn! — Was tuſt 
du da? Was zimmerſt du —?“ Und er fährt zurück, denn er glaubt 
die Antwort zu vernehmen: Ich zimmere den Sarg des Kaiſers. 
Die ganz eigentümliche und perſönliche, durch Neid und ge— 
heime Nebenbuhlerſchaft bedingte Stellung zum Weltheiland war, 
neben dem Spielraum, den ſolche weltgeſchichtlichen Begebenheiten 
einem philoſophiſchen Geiſte ließen, das eigentlich Verlockende an 
dem Stoffe, die darin ruhende tragiſche Möglichkeit. Helena iſt 
nur zu dem Behufe mit der laſterhaften, überreizten Sinnlichkeit 


. — 


IX. Kaiſer und Galiläer 311 


ausgeſtattet, damit Chriſtus auch in ihrem Herzen Julians ſieg⸗ 
reicher Nebenbuhler ſein, ihn auch von dort verdrängen könne. In 
die mühſelige Kleinmalerei des zweiten Teiles ſich vertiefend, ver⸗ 
gißt der Dichter ſeiner urſprünglichen großen Abſicht und erlangt 
darum erſt hier, wo er ſich endlich ihrer wieder erinnert, wahren, 
leidenſchaftlichen und rührenden Ausdruck für ein titaniſches Ringen 
und ein titaniſches Leiden. | 

Und ein Zweites wurde dadurch verſäumt. Zum Bilde des 
Kampfes des anerzogenen Chriſtentums mit dem angeborenen 
Heidentum in einer ernſthaften Natur wollte der Dramatiker den 
geſchichtlichen Stoff verinnerlichen, und wäre ihm das künſtleriſch 
vollkommen gelungen, er hätte gerade unſerer Zeit ein Werk von 
beiſpielloſer Allgemeingültigkeit der Symbolik geſchenkt. 


4 
Im Rückblick auf das ganze Doppelwerk wollen wir dem 
Verhältnis zu den Quellen, das vorhin ſchon geſtreift wurde, der 
Technik und dem Aufbau noch eine kurze Betrachtung widmen. 
Die Hauptquelle für den geſchichtlichen Stoff iſt Ammianus 
Marcellinus geweſen. Außerdem ſind, wie erwähnt, zahlreiche 
Stellen zum Teil wörtlich benutzt aus Julians eignen Schriften 
und aus vielen andern: Gregor von Nazianz, Gregor von Nyſſa, 
Chryſoſtomos, Theodoretos, Zoſimos, Zonaras, Sozomenos, Euna⸗ 
pios, Libanios, Rufinus, Philoſtorgios, Sokrates, Suidas uſw. 
Doch hat der Dichter, der in ſeiner Jugend nur ein geringes Maß 
philologiſcher Unterweiſung genoß und ſich nie einer ihm entbehr- 
lichen Gelehrſamkeit befleißigte, ſo ziemlich alles — abgeſehen von 
Ammian — aus zweiter Hand empfangen. „Ich habe“, ſchreibt 
er, „eine ganze Reihe kirchenhiſtoriſcher Schriftſteller durchgegangen 
und ausgezogen und bin in dieſer Hinſicht der deutſchen Bibliothek 
auf dem Kapitol großen Dank ſchuldig.“ Aufzuzählen, was dem 
Ammianus und zur Ergänzung den Broglie, Joh. Ev. Auer, 
Neander, den Ullmann, Pfeil, Arnold uſw. entlehnt iſt, müßte man 
Handlung und Text großenteils wiederholen. Statt deſſen ſeien 


312 IX, Kaiſer und Galiläer 


die wenigen Abweichungen und Zutaten und zugleich aus der 
Maſſe des Verwendeten einige für die Art der Verwendung lehr⸗ 
reiche Beiſpiele verzeichnet. 

Unweſentlich ſind die Anderungen, welche die dramatiſche 
Okonomie erheiſchte, wie z. B. die nicht geſchichtliche Gegenwart 
Julians bei der Ernennung ſeines Bruders zum Cäſaren; die Über⸗ 
ſendung des Purpurs an Julian nach Epheſos: Konſtantios ſelbſt 
bekleidete ihn damit zu Mailand; das Eintreffen des kaiſerlichen 
Sendboten Decentius nach der Schlacht bei Straßburg, während 
der hiſtoriſche erſt drei Jahre ſpäter eintraf u. ä. m. Willkürlich, 
aber mit eben ſo gutem Rechte ändert der Dramatiker manches zu 
ſeinen pſychologiſchen Zwecken. Konſtantios, deſſen Mäßigkeit die 
Gewährsleute ausdrücklich bezeugen, wird zum Feinſchmecker gemacht 
und ihm die Vergiftung Helenas — Ammian bezichtigt die Kaiſerin 
Euſebia — zur Laſt gelegt. Das eine wie das andere fügte ſich 
eben dem Charakterbild paſſend ein. 

Eine der wirkſameren Nebenperſonen zu geſtalten unter den 
vielen, die wenig Geſicht und wenig Hervorſtechendes haben, dazu 
genügte eine nicht ſehr deutliche Stelle im Briefe Julians an die 
Athener (§ 12) und verſchiedene Anhaltspunkte bei Ammianus und 
Zoſimos. Ammian erzählt von geheimen Überwachern, und Zoſi⸗ 
mos, der ja längſt in deutſcher Sprache zugänglich iſt, berichtet, der 
mißtrauiſche Konſtantios habe ſeinem Verwandten einen Salluſt in 
Gallien beigeordnet und dieſem, nicht dem Prinzen, die Einrich⸗ 
tungen dort anvertraut. Daß Ibſens Salluſt den bei Hofe ver⸗ 
leumdeten Cäſar durch anonyme Briefe warnt, wird wohl eben⸗ 
falls, mittelbar oder unmittelbar, aus Zoſimos herſtammen, wo in 
gleicher Abſicht die Tribunen ſolche im Lager ausſtreuen. Vereint 
wurden all dieſe Züge zu einem reumütigen Verräter nach dem 
Muſter des Curius im „Catilina. — Wie und weshalb Urſulus 
in Ungnade fällt, das bildet eine der zweckmäßigſten Epiſoden, 
gewonnen durch die freieſte Umkehrung der Tatſachen: nach den 
Urkunden kam die Geſandſchaft zu Julian, nicht zu ſeinem Vor⸗ 
gänger. 


——. —— —·⸗ͤ 
r er A —— u . 


IX. Kaiſer und Galiläer 313 


Ibſen borgt gleicherweiſe, was ihm taugt, aus heidniſchen 
und chriſtlichen Schriftſtellern, ſelbſt wenn dieſe den Apoſtaten nicht 
genug entadeln und verdächtigen können. Den Bacchuszug entwickelt 
er aus den Angaben des Chryſoſtomos und Gregor von Nazianz, 
die Julian mit ausſchweifenden jungen Leuten und verlorenen 
Frauen durch die Straßen ſchwärmen laſſen. Eine andere chrift- 
liche Beſchuldigung, er habe einer ſchwangeren Frau den Leib auf— 
geſchnitten, um aus ihren Eingeweiden die Zukunft zu leſen, wird 
kulturgeſchichtlich verwertet. Das müſſe ein Barbarenweib geweſen 
ſein, keine Griechin, meinen die Soldaten, und damit gilt ihnen 
der Kaiſer für entſchuldigt. Zum Pathos erhöht ſind, wovon wir 
uns ſchon überzeugt haben, drei andere Anekdoten der Kirchenväter 
und ⸗hiſtoriker: die des Gregor von Nazianz, daß Julian in den 
Fluten den Tod ſuchen wollte, um für einen Gott gehalten zu 
werden; die des Theodoret von einem chriſtlichen Pädagogen, der 
während des Perſerzuges auf die höhniſche Frage, was der Zimmer⸗ 
mannsſohn nun treibe, erwiderte: er zimmere eine Bahre; und end⸗ 
lich die des Zonaras von der Erſcheinung des Sonnengottes. Zu 
Antiochia habe Julian im Traum einen Jüngling mit rötlichem 
Haar geſehen, der ihm ſeinen Tod in „Phrygien“ weisſagte. An 
einem gleichnamigen Orte im Orient tödlich verwundet, ſoll er dann 
ausgerufen haben: „O Sonne, du haft den Julian zugrunde ge— 
richtet!“ Nicht daß Ibſen die Prophezeiung mit dem täuſchenden 
Ortsnamen herübernimmt, iſt zu beachten, ſondern zu welcher poeti⸗ 
ſchen Viſion des Sterbenden er die dürftige Fabelei geſteigert hat. 

Durchaus eigne Schöpfung des Dichters ſind die beiden 
Frauengeſtalten. Für Helenas Charakter gibt es keinen geſchicht— 
lichen Untergrund, für Makrina gewährte die von ihrem Bruder, 
Gregor von Nyſſa, verfaßte legendenartige Lebensbeſchreibung auch 
nichts Förderliches. Sie waren nach urſprünglicher Abſicht und 
noch wahrnehmbaren Anſätzen des Planes wieder als Gegenſatz, als 
Furia und Aurelia gedacht. Weit voneinander getrennt, wie ſie nun 
in die Handlung treten, Helena im vierten Akte des erſten Teiles, 
Makrina im vierten und fünften des zweiten, wird man ſich ihres 


314 IX. Kaiſer und Galiläer 


Gegenſatzes erſt bei vergleichendem Nachſinnen bewußt. Makrina 
wäre das reine Weib, nach dem ſich Julian ſehnt, die ihm Be⸗ 
ſtimmte, während ihn an Helena nur ihre ſinnliche Schönheit be⸗ 
ſtrickt. Er wird aber nicht eigentlich vor die Wahl geſtellt, denn 
er kennt ſie nicht von Angeſicht, ſo lang es an der Zeit iſt. Schon 
in Athen beteuert er ihrem Bruder: „Was du mir aus ihren 
Briefen mitteileſt, das iſt, als wenn ich etwas Großes und Volles 
vernähme, wonach ich lange geſeufzt habe“, und fügt hinzu, er 
brenne vor Begierde, ſie zu ſehen. Jedoch durch ſechs folgende Akte 
hören wir nichts mehr von ihr, bis Julian ſie endlich auf dem 
Feldzug erblickt, wo ſein Geiſt bereits umwölkt iſt und nur vor⸗ 
übergehend noch einmal der Gedanke in ihm auftaucht: „Gern hätte 
ich dieſes Weib vor heute gekannt.“ Erſt der Schluß beſtätigt dann 
wieder die geheimnisvollen Beziehungen zwiſchen ihm und ihr. War 
er bei Helenas Gericht und Tod zugegen, iſt ſie es bei dem ſeinen, 
erweiſt ihm die letzten Liebesdienſte und ſpricht die letzten Worte 
des Stückes, den verſöhnlichen Nekrolog. Alſo auch hier wieder 
eines der Lieblings motive Ibſens: das reine Weib — Aurelia, 
Solvejg! — in und durch Liebe jede F vergebend und 
mildernd. 

Die Technik der zwei Dramen, in den Einzelheiten nach⸗ 
geprüft, deutet durch mancherlei Merkmale auf die Nähe der, Kron⸗ 
prätendenten‘ und — vollkommen einwandfrei, durchaus nicht im 
Sinne Jakobſens zu verſtehen — auf das ſchon dieſen fruchtbar 
gewordene Studium Shakeſpeares. Beſonders erinnern die ſehr 
lebendigen und anſchaulichen Volksſzenen an das große Vorbild. 
Nicht beſſer konnte das Drama eingeleitet werden, als durch den 
Streit vor der Kirche. Wir ſind mitten in die religiöſen Wirren 
der Zeit verſetzt, wenn drei chriſtliche Handwerker einen Heiden 
mißhandeln, bis ſie ſich gegenſeitig als Anhänger verſchiedener 
Sekten erkennen und nun der Kainit wütend über den Donatiſten, 
beide über den Manichäer herfallen. Ebenſo erfahren wir im 
zweiten Teile, wie unmöglich es iſt, das Volk wieder zum Heiden⸗ 
tum zu bekehren, aus des Volkes eigenem Munde. Julian begeht 


IX. Kaiſer und Galiläer 315 


zu Antiochia das Feſt des Apollon. Der Mann mit der weißen 
Binde um die Stirn iſt der Kaiſer, ſagt einer der Zuſchauer. Aber 
warum iſt er weiß gekleidet? fragt ein anderer. 

„Wahrſcheinlich der Hitze wegen, oder nein, warte, ich denke 
als Opferprieſter.“ | 

„Was iſt denn das eigentlich für ein Apollon, von dem die 
Leute jetzt ſo viel reden?“ 

„Das iſt ja der Prieſter in Korinth — er, der bewäſſerte, 
was der heilige Paulus gepflanzt hatte.“ 

„Ei, ei, ei, das iſt nicht der Apollon; das iſt ein ganz 
andrer; das iſt der Sonnenkönig, — der große Leierſpieler 
Apollon.“ 

„Ach ſo, der Apollon! Iſt der beſſer?“ 

„Ja, das ſollt' ich meinen . .” 

An einer ſpätern Stelle bemerkt ein Mann, da der Kaiſer 
zum Bilde der Kybele hinwallfahrtet: „Der Stein ſoll wieder ges 
füttert werden“, und die Menge murrt wider den Opfernden: „Gib 
den Bürgern zu eſſen, die Götter mögen ſich helfen, wie ſie können!“ 
Oder: der davongejagte Haarſchneider begrüßt einen Purpurfärber: 

„Du ſiehſt auch nicht glücklich aus.“ 

„Ach, die Zeit der Purpurfärber iſt vorbei.“ 

„Ja, richtig; nun werden nur noch Chriſtenrücken gefärbt. 
Aber was ſchleppſt du da?“ 

„Ein Bündel Weidenrinde — Narrenmäntel zu färben für 
die Weisheitsfreunde.“ 

Solche kurze ſchlagende Fragen und Antworten machen viele 
vom Dichter nötig befundene Auseinanderſetzungen der Lage und 
Verhältniſſe überflüſſig. Echt iſt das Kolorit des ausgehenden 
vierten Jahrhunderts überall, auch zugunſten der Chriſten nirgend 
gefälſcht, obwohl ſie, an denen die Wirkung des Leidens erwahrt 
werden ſoll, ſchon um deſſen willen moraliſch im Vorteil ſind. Die 
Erzählung Agathons z. B., daß der Herr der Rache drei volle 
Tage und Nächte in den Gläubigen ſtark geweſen, daß ſie unter 
Pſalmengeſängen, mit heiligen Fahnen voran durch die Stadt zogen 


* 


316 IX. Kaiſer und Galiläer 


und als Sendboten des Zornes gegen die Heiden vordrangen, ihnen 
ihre Koſtbarkeiten raubten, Brände in ihre Häuſer warfen, die 
Fliehenden in den Straßen ermordeten, malt ein ſo wahres wie 
lebhaftes Bild der Zeit, in der eine Hypatia vom chriſtlichen Eifer⸗ 
geiſt grauſam hingeopfert wurde. 5 

Der kräftig epigrammatiſche Stil der ‚Thronforderer“ wird 
hier in mancher eindrucksvollen ſymboliſchen Wendung erneuert. 
Gleich im Anfang ſchilt Julian einen blinden Bettler ſeines Un⸗ 
glaubens wegen. Auf die Frage, wer der Tadelnde ſei, antwortet 
er: „Ein Bruder in Unglauben und Blindheit.“ Am Ende des 
erſten Aktes weilt er mit Agathon an der Landungsbrücke und 
ſpäht nach dem Schiffe des Libanios, entſchloſſen, ihm gegen ſein 
Gewiſſen zu folgen. „Ah“, ruft er plötzlich zum Himmel auf⸗ 
ſehend, „— dort fiel ein Stern!“ Nicht ſo verſtändlich ſind einige 
Anſpielungen des fünften Aufzugs. Julian ſteigt nach langem 
Zaudern und Schwanken in einen tieferen Teil der Katakomben 
hinab, wo der Opferaltar verborgen ſteht. Seiner Zurückkunft 
harrend, wechſelt Maximos unruhig den Ort — wie Hamlet, wenn 
der Geiſt ſein „Schwört!“ aus der Tiefe vernehmen läßt, — und 
flüſtert vor ſich hin: „Dieſe gleitenden feuchten Schatten! Pfui, 
dies ſchleimige Gewürm um die Füße —!“ Bedeutet das Gewürm 
um die Füße, ähnlich dem großen Krummen, die hemmenden 
Eigenſchaften, Schwächen und Zweifel, dem Hellſeher Maximos 
gleichſam gegenſtändlich geworden, — die Julian im Vorwärts⸗ 
ſchreiten hindern? Um ſo klarer ſtellt dann der Schluß des erſten 
Teils ſymboliſch die zwei nun bald ſich heftig bekämpfenden Mächte 
einander gegenüber. Julian ruft unten im Gewölbe: „Helios! 
Helios!“ Maximos antwortet: „Befreit!“ Aus der Kirche im 
Hintergrund ertönt Chorgeſang: „Vater unſer, der du biſt in dem 
Himmel!“ Nach vollendetem erſten Opferdienſt ſteigt der Abtrünnige 
herauf und ſpricht: „Zerriſſen die Nebel der Furcht!“ „Das Er⸗ 
ſchaffene iſt in deiner Hand,“ erwidert Maximos — „Dein Wille 
geſchehe wie im Himmel alſo auch auf Erden,“ der Chor. „Mein 
Heer, mein Schatz, mein Kaiſerthron!“ jubelt der Cäſar, jetzt be⸗ 


IX. Kaiſer und Galiläer 317 


reit, über alle Schranken hinwegzuſtürmen zur höchſten Macht; 
„Führe uns nicht in Verſuchung, ſondern erlöſe uns vom Übel,“ 
mahnt der Geſang. Da eilt er die Treppe zur Kirchentüre empor 
und ſchlägt ſie weit auf, daß man in das hell erleuchtete Innere 
blickt, wo vor dem Hochaltar die Prieſter pſalmieren und Scharen 
von Andächtigen um den Sarg der heilig geſprochenen Helena 
knien. 

Juliant: Frei, frei! Mein iſt das Reich! 

Salluſt: Und die Kraft und die Herrlichkeit! 

Der Chor (in der Kirche): Dein iſt das Reich und die 
Kraft und die Herrlichkeit — 

Julian (geblendet vom Lichtglanz): Ah! 

Maximos: Sieg! | 

Der Chor (in der Kirche): — in Ewigkeit Amen. 

Von bacchiſch geſchmückten Dirnen und Gauklern umringt, 
reitet im zweiten Teile Kaiſer Julian, ſelbſt als Dionyſos gekleidet, 
mit Weinlaub um die Schläfen, den Thyrſosſtab in der Hand, 
durch die Straßen von Konſtantinopel, nicht auf einem Panther, 
ſondern auf einem in Pantherfell geſteckten Eſel. „Auch der ver⸗ 
götterte, gottähnliche Kaiſer muß in Wahrheit dasſelbe Grautier 
reiten, auf dem der Galiläer einſt ſeinen Einzug hielt in Jeru⸗ 
ſalem“ (Schlenther). — Der Zuſammenſtoß von Heidentum und 
Chriſtentum iſt durch die Begegnung des Apollozuges in Antiochia 
mit chriſtlichen Blutzeugen vor Augen gebracht. Roſenbekränzt 
ſingen die einen das Lob ihres Gottes, kettenbeladen preiſen die 
andern den Martertod für Chriſtus. Wer Sieger bleiben wird, 
verkündet nach kurzer Friſt das dumpfe Rollen des Erdbebens und 
der Einſturz des Apollotempels. — Auch Julians Gang über die 
freie Höhe, während ſich das Heer unter ihm durch die Schlucht 
windet (2. Teil, 4. Akt), hat etwas von einem Gleichnis. In der 
Tiefe drängen die Scharen in den Paß: „. .. den Weg um eine 
Stunde zu kürzen, ein wenig Mühe zu erſparen auf der Wanderung 
dem Tod entgegen — keine Sehnſucht nach dem friſchen Luftzug 
hier oben, der die Bruſt weitet zu freiem Atmen. Da gehen ſie 


318 IX. Kaiſer und Galiläer 


und gehen und gehen, und ſehen nicht, daß ſie engen Himmel über 
ſich haben, — und wiſſen nicht, daß es Höhen gibt, wo er größer 
iſt.“ — Endlich: der unter Martern irrſinnig gewordene Agathon 
ſtößt Julian mit einem Speere nieder, wähnend, es ſei „die Römer⸗ 
lanze von Golgatha“, und derſelbe Jovian wird des Kaiſers Nach⸗ 
folger, der, zum Wiederaufbau des Tempels nach Jeruſalem ge⸗ 
ſendet, durch die wunderbaren Ereigniſſe dort an Chriſtus hat 
glauben lernen. 

All dies ſind zerſtreute Strahlen, das Vergebliche des julia⸗ 
niſchen Kampfes zu beleuchten. Sie werden wie in einem Brenn⸗ 
punkt geſammelt von Maximos als dem Chorus des Dramas. 
Sein fürſtlicher Jünger klagt ihm: „Den verlorenen Schatz grie⸗ 
chiſcher Weisheit wollt' ich den Menſchen zurückbringen. Wie vor⸗ 
dem Dionyſos, jung und froh kam ich zu ihnen, mit Laub um die 
Stirne, mit der Trauben Fülle in meinen Armen. Sie aber ver⸗ 
ſchmähen meine Gabe, und ich werde verhöhnt und gehaßt und 
verſpottet von Freunden und Feinden. 

Maximos: Warum? Ich will dir ſagen warum. 

In der Nähe einer Stadt, wo ich einmal lebte, lag ein Wein⸗ 
berg, weit berühmt für ſeine Trauben; und wenn die Bürger der 
Stadt recht ſüße Früchte für ihre Tafel wünſchten, ſo ſchickten ſie ihre 
Diener hinaus nach jenem Weinberg und ließen dort Trauben holen. 

Nach Jahren kam ich wieder in dieſelbe Stadt; aber da wußte 
niemand mehr Beſcheid über die einſt ſo hoch geprieſenen Trauben. 
Da ſuchte ich den Gärtner des Weinbergs auf und fragte ihn: 
Sage mir, o Freund, ſind deine Weinſtöcke verdorrt, da niemand 
mehr deine Trauben kennt? Nein, antwortete der Gärtner, aber 
weißt du nicht, daß junge Weinſtöcke gute Trauben geben, aber 
geringen Wein; alte Weinſtöcke hingegen ſchlechte Trauben, aber 
guten Wein? Deshalb, o Fremdling, erfreue ich noch immer die 
Herzen meiner Mitbürger mit dieſes Weinbergs Überfluß, nur in 
anderer Geſtalt — als Wein und nicht als Trauben. 

Das iſt es, worauf du nicht geachtet haſt. Der Weinſtock der 
Welt iſt alt geworden, und doch meineſt du, wie vormals denen, 


IX. Kaiſer und Galiläer 319 


die da dürſten nach neuem Wein, die Trauben roh darbieten zu 
können.“ — 

Für eines hat Jakobſen in dem benannten Briefe über den 
erſten Teil bezeichnenderweiſe weder Lob noch Tadel; er beachtet 
nicht, was ihm ſelbſt völlig mangelt: die Kompoſition. 

„Kaiſer und Galiläer“ iſt zweigeteilt, wie — von dem Vor⸗ 
ſpiel abgeſehen — der Wallenſtein, aber nicht, gleich dieſem, eine 
kunſtvolle Verflechtung zweier Stücke und zweier Handlungen in⸗ 
einander, ſondern Julians Leben in zwei Dramen nacheinander, 
wie wenn Schiller ſeiner Maria Stuart in England eine Maria 
Stuart in Schottland vorausgeſchickt hätte. 

Schon im Winter 1864 auf 65, während der früheſten Be— 
ſchäftigung mit dem Stoffe, rief der Dichter einmal in Gegenwart 
Lorenz Dietrichſons aus: „Weshalb kann man kein Drama in 
zehn Akten ſchreiben? In fünfen kann ich gar nicht alles unter— 
bringen.“ Und ein Jahr ſpäter verſicherte er dem däniſchen 
Schriftſteller Bergſöe, er habe ſich für eine Tragödie in neun Akten 
entſchloſſen. Auf die Warnung, das möchte den Zuſchauern zu 
viel werden — beſſer teilen, erwiderte er nachdenklich: „Ja — ich 
kann ſie teilen.“ 

Das Doppeldrama ſollte urſprünglich ein myſtiſches Vorſpiel 
einleiten und zuſammenhalten, worüber ſich ein Skizzenblättchen 
gefunden hat: 

„Der Schauplatz iſt die Feſte der bodenloſen Tiefe. Rechts 
Licht und Strahlen; links die Finſternis. 

(Sternennacht; die Geiſter der Toten ſchweben empor; die 
Dämonen der Finſternis halten ſie an Fäden; ſie ſinken er— 
mattet — —).“ 

Später war, bei ganz realiſtiſcher Anlage, eine Geiſter-Ouver⸗ 
ture nicht mehr möglich, wenigſtens nicht für einen ſo ſtrengen 
Stiliſten. Auch das Geheimnisvoll⸗Überweltliche mußte er mittelbar 
geben und pſychologiſch zu rechtfertigen ſuchen. 

Dann wurde eine Trilogie geplant: Julian und die Weisheits⸗ 
freunde; Julians Abfall; Julian auf dem Kaiſerthron. Die beiden 


320 IX. Kaiſer und Galiläer 


„Schauspiele“ in je drei Aufzügen; das dritte, die Tragödie, in 
fünf. Nun konnte der zu weit geſpannte Rahmen nicht gleichmäßig 
mit Handlung ausgefüllt werden, und Ibſen ging endlich auf ſeine 
erſte Abſicht zurück: zehn Akte, zwei Dramen. Auch dieſe Teilung 
wäre aber weder durch die Lebensumſtände des Helden, noch durch 
die Stoffmenge unbedingt erfordert geweſen, hätte ſich der neue 
Realismus des Dramatikers an der Schilderung des einzelnen 
genug tun können, hätte er die Wiederholungen, die Parallelſzenen 
des zweiten Teiles zu wenigen, in der Wirkung geſammelten Auf⸗ 
tritten verſchmolzen. Mit Recht nehmen die Herausgeber der nach⸗ 
gelaſſenen Schriften an, daß Ibſen, allzulange demſelben Vorwurf 
nachſinnend, beim zweiten Teile ermüdet ſei. Er hat es nicht mehr 
über ſich vermocht, hier, wie ſtets vorher und nachher, die formende 
Hand zu rühren, bis das geeinigte und gerundete Werk ſeinen 
höchſten Anforderungen entſprach. Sonſt hätte er ſpäter nicht, in 
vertraulichem Geſpräche, die Notwendigkeit einer Bearbeitung an⸗ 
erkannt und die Hoffnung erweckt, daß er ſelbſt „Kaiſer und Gali⸗ 
läer“ noch für die Bühne umgießen werde. 

Zur Erläuterung empfiehlt ſich das Verfahren G. Freytags, 
der, um den Bau des Wallenſtein zu zergliedern, die geſamte 
Handlung auf fünf Akte verteilt und ſo eine wenn auch theoretiſche 
Urform bildet. Die Dispoſition wäre da folgende: 

I. Akt. Einleitung: Julians aus inneren und äußeren Gründen 
unerträglicher Aufenthalt am Kaiſerhofe. Erregendes Moment: 
Agathons Viſion, die Julian „das Reich“ verheißt. Erſte Stufe 
der Steigerung: die Erlaubnis zu reiſen, um ſeine große Sehn⸗ 
ſucht nach Wiſſen zu befriedigen. 

Dieſem erſten Aufzug entſpräche alſo ganz der vorliegende 
erſte von ‚Säfars Abfall‘, Wie die Einleitungsſzene der „Kron⸗ 
prätendenten“ vor einer Kirchentüre ſpielend, haben ja auch die 
echt dramatiſchen Auftritte des Konſtantios noch viel von deren 
energiſcher und ſicherer Expoſition, während die mit Agathon und 
Libanios ſchon durch den ſchlafferen (ſpäteren?) Stil geſchädigt 
werden. 


IX, Kaiſer und Galiläer 321 


II. Akt. Zweite und dritte Stufe der Steigerung: Julian 
auf der hohen Schule zu Athen, enttäuſcht durch die Lehre wie 
durch die Lehrer, enttäuſcht auch durch ſeine chriſtlichen Freunde, 
weiht ſich gläubig der Magie, die ihm aufs neue das Reich ver- 
heißt. Die gleichzeitige Wahl zum Cäſaren erhebt ſeinen Glauben 
zur feſten Überzeugung. 

Dieſer zweite würde demnach den vorhandenen zweiten und 
dritten vereinigen. Schiller ſchuf ſich in währender Arbeit für 
eine Lieblingsgeſtalt, den Max, beſonderen Spielraum; ähnlich 
Ibſen für ſeine Lieblingsidee vom dritten Reiche. Ihr verſtattete 
er, als dem philoſophiſchen Höhepunkt, den ganzen dritten Akt, 
ſo daß der zweite nur Julians Aufenthalt in Athen ſchildernd, 
Situationsbild blieb, und der dramatiſche Höhepunkt an die ungün⸗ 
ſtigere vierte Stelle verſchoben wurde. 

Im Schema ſetzen wir ihn an die richtige dritte zurück und 
verſchmelzen wiederum den vierten und fünften zu einem einzigen 
Aufzug. 

III. Akt. Julian, der Kronfeldherr, erntet in Gallien glänzende 
Siege. Höhepunkt: aus Notwehr bietet er dem Konſtantios Trotz, 
indem er ſich ſelbſt durch das Heer zum Kaiſer ausrufen läßt, 
und bietet — als tragiſches Moment unmittelbar anzuſchließen! — 
Chriſtus Trotz, indem er ſich, erbittert durch die Ruchloſigkeit ſeines 
chriſtlichen Weibes, den alten Göttern zuſchwört und ihnen opfert. 

IV. Akt. Sinkende Handlung: Julians fruchtloſes Bemühen, 
das Volk zum Heidentum zurückzuzwingen. Einſturz des Apollo⸗ 
tempels als zuſammenfaſſendes Symbol dafür. Entſchluß, den 
Mißerfolg durch Kriegstaten aufzuwiegen. 

Ein einziger Akt würde genügen, nicht den Inhalt, wohl aber 
den dramatiſchen Gehalt der drei erſten des zweiten Teiles auf: 
zunehmen. Denn in gerader Linie, ohne entſchiedene Steigerung, 
zeigen ſie nur das törichte Unterfangen, den Götterdienſt wieder 
zu beleben, an einer langen Reihe von Beiſpielen, pſychologiſchen 
und kulturhiſtoriſchen Situationsbildern, loſe gefügt, mit beſtän⸗ 
digem Szenenwechſel. In „Cäſars Abfall“ verlangt nur jeder Akt 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 21 


322 IX, Kaiſer und Galiläer 


einen eigenen Schauplatz, im ‚Kaifer Julian“ jede einzelne der acht⸗ 
zehn Szenen — alſo dort keine, hier dreizehn Verwandlungen. 
Motive und Vorgänge kehren ſtets wieder: mehrmals opfert Julian 
in prieſterlicher Kleidung vor dem Volke, mehrmals treten ihm 
furchtlos chriſtliche Mahnredner in den Weg und verfluchen ihn 
feierlich. Und immer erfolgt ſein Abgang in derſelben Art, lautet 
die Bühnenweiſung: er geht „eilig“ oder er geht „zornig“ ab. 
Wiederholung aber ſtärkt nur in der Muſik und zuweilen in der 
lyriſchen Poeſie den Eindruck; im Drama ſchwächt ſie oder ver⸗ 
wiſcht ihn gar. 

V. Akt. Die Kataſtrophe: der Zug gegen die Perſer, Julians 
Wahnſinn und Tod, welche bewegteren Vorgänge, Schlag auf 
Schlag, an Wirkung gewinnen müßten, während ſie zur Not die 
zwei letzten Aufzüge von „Kaiſer Julian“ füllen. 

Daß die beiden Dramen nur eine Kataſtrophe haben, legte 
den Gedanken nahe, ſie für die Bühne in eines zuſammenzuziehen. 
Derart wurde das Werk 1896 im neuen Leipziger Stadttheater 
zum erſten Male aufgeführt. Der Regiſſeur Leopold Adler hatte 
die zehn Akte in ſechs (fünf und ein Vorſpiel) zuſammengezogen, 
deren Aufführung immer noch vier Stunden währte. Die Be⸗ 
arbeitung vermochte ſich nicht einzubürgern, und auch das erfolg⸗ 
reichere Beiſpiel des Berliner Belle-Alliance-Theaters, wo Georg 
Droeſcher 1898 zu Ibſens ſechzigſtem Geburtstag die ſchwere Auf⸗ 
gabe zu löſen verſuchte, hat keine Nachahmer gefunden. Dennoch 
wird die deutſche Schaubühne nicht dauernd auf die Darſtellung 
dieſes „Hauptwerkes“ verzichten dürfen. 


1 
A, 
* 


X 
Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


1871 gab Ibſen ſeine geſammelten Gedichte heraus, ein 
ſchlankes Bändchen, nur fünfundfünfzig Nummern umfaſſend, das 
öfter wieder aufgelegt, aber im Lauf faſt dreier Jahrzehnte nur 
um neun vermehrt wurde. Davon ſind ſechs noch aus den Sieb— 
ziger Jahren, zwei von Sechsundachtzig und eines von Zweiund⸗ 
neunzig. Er hatte ſich nach Vollendung des ‚Peer Gynt' offen⸗ 
bar des Verſes entwöhnt und ſoll einmal die vorwitzige Frage, ob 
er auf den Vers nun für immer verzichte, mit dem halb ironiſchen 
Beſcheid abgewehrt haben, ſein letztes Werk möchte er wohl in Verſe 
kleiden — wenn man nur wüßte, welches das letzte wäre. Jeden⸗ 
falls ſchließt die Würdigung der Gedichte mit Fug und Recht den 
erſten Band ab, denn bis auf wenige Nachzügler gehören ſie alle 
ſchon dem norwegiſchen Ibſen an; für den europäiſchen iſt es 
charakteriſtiſch, daß er ſich der ungebundenen Rede bedient. 

Seine Dichterſprache iſt, von Drama zu Drama, ſoweit es 
möglich war, dem deutſchen Leſer nahe gebracht worden. Das ſoll 
auch für die Gedichte geſchehen. Bei ihnen freilich iſt die Schwie- 
rigkeit unendlich viel größer, denn nicht im Inhalt des Wortes 
allein, im Gepräge und Klang, in der Verbindung gerade mit dem 
oder jenem Nachbarworte birgt ſich ja das Stilverleihende, und 
mit irgendeinem kleinen, in fremder Zunge ſich verflüchtigenden 
Etwas entſchwindet zuweilen das Geheimnis der Wirkung, verblaßt 
das Zeichen der Meiſterſchaft. 

Muß es demnach ſkandinaviſchen Forſchern überlaſſen bleiben, 
vollſtändige Rechenſchaft von der Kraft und dem Werte des Dichter: 
wortes zu erſtatten, jo werde doch hier, mit Hilfe eines der be⸗ 
rufenſten unter ihnen, von der Sprache, in der Henrik Ibſen ſchrieb, 
von ſeinen großen Verdienſten um ihre harmoniſche Entwicklung 
zu einer Kultur⸗ und Dichterſprache, als Nachtrag zu den Dramen, 
als Einleitung zu den Gedichten, kurz berichtet. 


Johann Storm, ein Altmeiſter der Philologie, hat für die 
21* 


324 0 Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Feſtſchrift, die nordiſche Schriftſteller und Gelehrte dem Dichter 
zum ſiebzigſten Geburtstage widmeten, ſeine lehrreichen Prolegomena 
zu einer Ibſen-Grammatik geſpendet. Die Ergebniſſe der wichtigen 
Abhandlung, doch ohne die zahlreichen Beiſpiele, ſeien denn in ge⸗ 
drängter Faſſung mitgeteilt. 


1 

Während der Vereinigung Norwegens mit Dänemark ſprachen 
und ſchrieben die Norweger däniſch mit einzelnen Provinzialismen. 
Sie brauchten norwegiſche Worte, wo es ſich um Gegenſtände han⸗ 
delte, die keine andern Namen hatten, oder ſie gerieten auf nor⸗ 
wegiſches Sprachgebiet, weil ſie kein „richtiges Däniſch“ konnten. 
Das widerfuhr zuweilen auch Holberg, aber im Ganzen und 
Großen ſchrieb er däniſch und beſſer als die Dänen ſelbſt. 

Bei der Trennung Norwegens von Dänemark 1814 war 
wenig oder kein Unterſchied zwiſchen Däniſch und Norwegiſch. Aber 
ſchon 1844 wies N. M. Peterſen — derſelbe, deſſen vortreffliche 
Überſetzung der altisländiſchen Erzählungen Ibſen für die Nordiſche 
Heerfahrt‘ benutzt hat, — darauf hin, wie viel ſich in der kurzen 
Zeit geändert hatte, und meinte, in einem halben Jahrhundert 
werde ſich die norwegiſche Schriftſprache von der däniſchen ſcheiden. 

Am Ende des halben Jahrhunderts war ſeine Weisſagung 
in Erfüllung gegangen. Langſam aber gleichmäßig iſt die Sprache 
mehr und mehr eine eigene geworden. Norwegiſche Wörter und 
Wendungen drängen ſich aus der Volksſprache in die ſtädtiſche 
Umgangsſprache und von da in die Schriftſprache ein. Zuerſt 
zeigt ſich das Neue gerne bei einem einzelnen Schriftſteller; iſt es 
ein glücklicher Griff in die Wirklichkeit oder ein glücklicher Fund, 
ein beſonders gut gebildetes Wort, das eine Lücke ſchließt, ſo er⸗ 
langt es, bei allgemeiner Zuſtimmung, bald allgemeine Gültigkeit. 

Das erſte Geſchlecht nach der Trennung ſchrieb noch weſentlich 
däniſch, wenn auch mit weniger Scheu vor mundartlichem Ausdruck. 
Bei den Vorgängern Ibſens und Björnſons, den Dichtern Werge— 
land und Welhaven, treten die einheimiſchen Beſtandteile ſchon 


X, Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 325 


beſtimmter und beſtimmender auf. Bei Wergeland äußert ſich das 
Wilde, titaniſch Gärende, Unklare ſeines Weſens und Dichtens 
auch in der Sprache. Eine Maſſe neuen, zum großen Teil brauch⸗ 
baren Sprachgutes hat er der Nation zugeführt, aber mit gewalt⸗ 
ſamer Neubildung, ohne Wahl und Harmonie. Bei ſeinem Wider— 
ſacher hingegen, dem akademiſch feinen, ruhig ausgeglichenen Wel⸗ 
haven, der zuerſt noch rein däniſch ſchrieb, bemerkt man, von den 
Vierziger Jahren an, nur ein wenig vordringliches, aber ganz 
anders harmoniſches Norwegiſch, indem er mit achtſamer Hand 
und ſicherem Sprachgefühl die beſten, ſchönſten, treffendſten Wörter 
aus der Volksſprache nahm, ſo wie ſie im Munde des Volkes 
lebten. Wergelands Norwegiſch iſt bloß künſtlich, das Welhavens 
künſtleriſch. 

Die eigentlichen Reformatoren aber, die den vollen norwegiſchen 
Sprachton in der Literatur anſchlugen, waren Asbjörnſen und Moe. 
Mit ihren gemeinſchaftlich herausgegebenen ‚Volksmärchen' (1842) 
und Asbjörnſens „Feenmärchen (1845), auch ſchon mit Moes 
„Volksliedern“ (1840), ging dem norwegiſchen Volk eine neue Welt 
auf: hier fand es ſich ſelbſt wieder. Und trotz der großen Neue⸗ 
rung, ja trotz aller Veränderungen, deren noch von Ausgabe zu 
Ausgabe, beſonders die Feenmärchen teilhaftig geworden, damit ein 
ſtets reineres Norwegiſch erzielt würde, war doch die Sprache über⸗ 
all aus einem Guſſe. Beide Männer haben gleiches Verdienſt, und 
alle Späteren ſtehen auf ihren Schultern. 

Wiederum einen Anſtoß erhielt die Sprachbewegung durch 
den mit Wergeland weſensverwandten Björnſtjerne Björnſon (ge 
boren 1832). In ſeinen glücklichſten Stunden hat Björnſon Werke 
geſchaffen, die ſich dem Beſten der Weltliteratur anreihen dürfen; 
aber ſeine Begabung iſt nicht ebenmäßig, ſein Stil oft unklar und 
verwickelt, der Ausdruck oft weit hergeholt und manieriert. Alt⸗ 
nordiſcher Sagaſtil und gangbare Dialektformen, eine Menge rein 
däniſcher, ja daniſierter Redensarten, Formen wie ſie das maal- 
strev, der Verſuch, künſtlich eine neunorwegiſche Schriftſprache zu 
erzeugen, in Umlauf geſetzt hat, und von ihm ſelbſt nicht immer 


326 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


geſchickt Erfundenes oder Verbeſſertes mengen ſich da zu einer 
eigentümlichen, buntſchillernden Miſchung. 

Nur einer hat ſich ſtets innerhalb der richtigen Grenze zu 
beſcheiden gewußt, ſtellt allein das Zentrale in der ganzen Be⸗ 
wegung vor, das ruhig und ſtätig Fortſchreitende: — Henrik 
Ibſen. An ſeinen Werken können wir das Wachstum der Sprache 
während des letzten Jahrhunderts beobachten. Stets mit der Zeit 
gehend, frei von maalstrev (das er ja im ‚Peer Gynt' ver⸗ 
ſpottet!), gibt er die Sprache jeder Periode getreulich wieder, wie 
ſie iſt, wenn ſie ihr Beſtes leiſtet. Seine Sprachkunſt iſt verwandt 
mit der Welhavens, aber reicher an norwegiſchem Metall, ſchärfer 
in der Prägung. Ein feines und zartes Anfaſſen, verläſſiges 
Sprachgefühl und die Formvollendung im Idiomatiſchen machen 
ſeine Sprache geſetzgebend und muſtergültig — klaſſiſch. 

In ſeinen erſten, beſonders den romantiſchen Dramen, haftet 
er noch an der überlieferten Sprache aus dem zweiten Viertel des 
Jahrhunderts oder ahmt, dem Stoffe gemäß, ältere Sprechweiſe 
nach. Doch hört man auch hier, ja ſelbſt ſchon im „Catilina“, 
an ſchönen Stellen echt norwegiſchen Klang. In ſeinem vierund⸗ 
dreißigſten Lebensjahre erfolgte dann der große Umſchlag mit der 
„Komödie der Liebe“, an die ſich ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt‘ an⸗ 
ſchloſſen. Mit einem Male trat er da von der Romantik über 
zum Realismus, von der Vorzeit zur Gegenwart, vom altertüm⸗ 
lichen Sprachton zur lebenden Sprache, vom Däniſchen zum Nor⸗ 
wegiſchen, von fremder zu eigner Art. Den Höhepunkt dieſer Ent⸗ 
wicklung bezeichnet die norwegiſcheſte aller feiner Dichtungen, ‚Peer 
Gynt“. In den modernen Werken, vom ‚Bund der Jugend' an, 
wird dann die Sprache ſcheinbar weniger ausgeprägt norwegiſch, 
aber der Unterſchied iſt nur der, daß wir aus der Welt der Poeſie 
hinüberkommen in die der Proſa, der Wirklichkeit des modernen 
Kulturlebens mit ſeiner Sprache, ſeinen Gedanken und Problemen. 

Fremdem Einfluß hat ſich Ibſen während ſeines langen Auf⸗ 
enthaltes im Ausland nicht ganz entziehen können, wovon einige 
Danismen, einige ſchwediſche und zahlreichere deutſche Spuren zurück⸗ 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 327 


geblieben ſind. Die Danismen fallen zum Teil dem däniſchen 
Korrektor zur Laſt, denn Ibſens Werke wurden in Kopenhagen 
verlegt, und er ſelbſt las niemals die Druckbogen; zum Teil ſind 
ſie ein kleines Zugeſtändnis an die däniſche Leſewelt; zum Teil auch 
ſind es gute, ſich ſelbſt erklärende Wörter, mit Abſicht gewählt, 
um ihnen Bürgerrecht zu verleihen. Schwediſche Ausdrücke, wenn 
ſie nicht allgemein gäng und gäbe ſind, hat er meiſt nur als 
Pikanterien, als poetiſche Freiheiten im Vers; deutſche einzeln ſchon 
in den Jugendwerken, ſchon vor dem Aufenthalt in Deutſchland. 
Seit den Siebziger Jahren bekundet ſich deutſche Angewöhnung 
in einer Reihe von kleineren Wörtern, namentlich Ausrufwörtern, 
alſo in dem Unwillkürlichſten und Intimſten der Sprache, was 
man jeden Augenblick hört und darum leicht annimmt. Die vielen 
„Ha!“ im „Catilina“ verbeſſerte der Dichter ſpäter in „Ah!“, aber 
auch das iſt im Norwegiſchen nicht heimiſch. Der pathetiſch⸗tra⸗ 
giſche Stil kennt es noch, nicht aber die Alltagsſprache, während 
er es in ihr, gleich den Deutſchen, wieder und wieder benützt, um 
Teilnahme oder Überraſchung lebhaft zu äußern. Ebenſo deutſch iſt 
das abweiſende „Was!“, „Ach was!“ — auch zu Sätzen erweitert, 
wie „Was tut das“, „Was kümmere ich mich darum“, „Was iſt 
das für Gerede“ — dann der Gebrauch des ärgerlichen „Ach“ 
(„Ach, der dumme Einfall!“) des einräumenden „Nun“ („Nun, er 
ſieht ja gut aus!“) und des unbeſtimmten „So“ („Das hat ſo 
ſeine Gründe“). Außerdem ſtoßen wir in allen ſeinen Werken auf 
eine ziemliche Anzahl von nachgebildeten idiomatiſchen Wendungen 
oder auf norwegiſche Wörter, beſonders Zeitwörter, in deutſchem 
Sinn und mit der deutſchen Bedeutung, und es iſt auffallend, daß 
er in den Siebziger Jahren, in einigen neueren Ausgaben, ur⸗ 
ſprünglich norwegiſche Ausdrücke in deutſche veränderte. 

Soweit Storm. Zur Ergänzung wäre vielleicht hinzuzufügen, 
daß auch unter den vielen zuſammengeſetzten Wörtern Ibſens ein 
beträchtlicher Teil aus dem deutſchen Sprachſchatze ſtammt oder 
nach deutſchem Muſter geſchmiedet ſein dürfte. Alfred Erikſen, der 
über die zuſammengeſetzten Wörter bei Ibſen geſchrieben hat, führt 


328 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


als Neubildungen uns ſo Wohlbekanntes und Naheliegendes an 
wie: vogelfrei, eis (zapfen) kalt, ſchönheitsarm, Spottgedicht, Flügel⸗ 
pferd, Blutwerk, Wiegenkind, Königsfetzen, Erdenſklave u. ä. m. 

Nicht ohne eine gewiſſe Befriedigung vernehmen wir Deutſchen 
von den immerhin leichten und den norwegiſchen Charakter des 
Stiles nicht ſchädigenden Einwirkungen unſerer Sprache auf den 
größten norwegiſchen Dichter, ihn, der in Deutſchland früher ver⸗ 
ſtanden und gewürdigt wurde als in der eigenen Heimat. 


2 

Ibſen hielt ſtrenges, ja faſt hartes Gericht über ſeine lyriſchen 
Schöpfungen, ehe er ſie geſammelt herausgab. Es wären, beſonders 
aus früherer Zeit, genügend vorhanden geweſen, einen ſtattlichen 
Band zu füllen. Schon 1850 oder 51 hatte er an die Samm⸗ 
lung denken können, und der erſte Bogen wurde damals auch 
gedruckt: dann zog er ihn wieder zurück. 1858 trug er ſich aber⸗ 
mal mit dem Vorſatze. Die Univerſitätsbibliothek zu Chriſtiania 
beſitzt die Handſchrift: ‚Ein Lebensfrühling von Henrik Ibſen“. 
Aber auf der ſiebenten Seite, mitten in einem Gedichte, bricht die 
Handſchrift ab, und er wartete, bis mehr als zwanzig Jahre 125 
ſchen Schaffens hinter ihm lagen. 

Eine ſo lange Verzögerung begründet ſich nicht in bloßer 
Unzufriedenheit mit der Form — was wäre es für den Vers⸗ 
künſtler der „Komödie der Liebe“ wohl geweſen, hier nachzuhelfen! 
Die klare Erkenntnis ſeines eigentlichen Gebietes mochte ihn be⸗ 
wogen haben, was ſo beiläufig aus ſeiner geübten Hand hervor⸗ 
ging, erſt größeren Werken als willkommene Zugabe folgen zu laſſen. 
Auch wir empfinden bei aller Bewunderung für dies und jenes 
Gedicht, dieſe und jene Strophe, daß nur weniges an die lyriſchen 
Stellen im ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' hinanreicht, wie er denn 
oft nicht aus ganzem Holze geſchnitten, ſondern in der drama⸗ 
tiſchen Werkſtätte Abgefallenes verwendet hat. Er traf auch, als 
die Zeit gekommen war, die ſorgfältigſte Auswahl für die Samm⸗ 
lung: ſie umfaßt nur die beſten Erzeugniſſe der zwei Jahrzehnte, ein 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 329 


einziges epiſches Gedicht, die den Dramen eingeflochtenen lyriſchen 
und die Gelegenheitsdichtungen, darunter viele politiſcher Gattung. 

Außer jenem ‚Lebensfrühling‘ bewahrt die Univerſitätsbibliothek ein 
achtundſiebzig Seiten ſtarkes Büchlein, in grün und ſchwarz geſpren— 
keltes Papier gebunden, mit Saffian-Rücken und⸗Ecken, den Rücken 
entlang ein Goldornament. Auf dem Titelblatte lieſt man in Schnörkeln 
geſchrieben: ‚Vermifchte Dichtungen aus den Jahren 1848, 49 und 50“. 
Es find ſechsundzwanzig jugendliche Verſuche, vom Dichter des, Catilina“ 
eigenhändig und mit ſichtlicher Liebe und Genugtuung aufgezeichnet. Sie 
waren lange verſchollen, auch für Ibſen ſelbſt, und nur Motiv und 
Stimmung eines einzigen wiederholt ſich in der Sammlung. 

Im Büchlein das erſte und überhaupt das früheſte uns er⸗ 
haltene Gedicht aus dem Jahre 1847 trägt die Überſchrift ‚Reſig⸗ 
nation‘, Wir dürfen das vielleicht nicht allzu tragiſch und bedeutſam 
nehmen. Eine im Jünglingsalter ſehr häufige ſchwelgeriſche Melan⸗ 
cholie wurde eben hier genährt und geſteigert durch die bittere 
Wirklichkeit. Dem Apothekerlehrling zu Grimſtad, dem mittelloſen 
„Studenten“ zu Chriſtiania ging es wahrlich ſchlimm genug, daß 
ihn öfter Stimmungen des Verzagens an feinem Können und Ge 
lingen anwandeln mochten, als Regungen der Freude und Zuverſicht. 
Aber die düſtern Strophen find nicht das Beſte an jenen Erſt⸗ 
lingen. So gebührt z. B. im „Herbſtabend“, feinem Lied an die 
zukünftige Geliebte, oder in der „Meerfahrt bei Mondſchein“, alles 
Lob nicht der klagenden Lyrik, ſondern der anſchaulichen und 
empfundenen Schilderung — dort des Innenraums, hier der Natur⸗ 
ſzene. Und den Vorzug unter ſämtlichen verdient etwa das von 
Herzen kommende Abſchiedslied“ an den getreuen Freund und 
Helfer Ole Carelius Schulerud. 1859 ſang er ihm noch einen 
ſchlicht⸗ſchönen Scheidegruß in die Gruft nach: 

Uns ſoll das Hoffnungswort umklingen 
Vom Wiederſehen ſchlummerlos . 

Merkwürdiger, wenn auch im Zuſammenhang mit der Schwer⸗ 
mut, erſcheint des angehenden Dichters Kultus der Erinnerung. In 
elf von den ſechsundzwanzig Nummern wird ſie verehrt und ge— 


330 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


prieſen. Ein Tempel iſt dieſer ſtillen, ſinnenden Muſe im Herzen 
errichtet, darinnen ſie auch weiterhin thronen bleibt. Verſe von 
1859 rühmen als einzigen Troſt und einzige Rettung für Traum⸗ 
genies den Troſt der Erinnerung: die Poeſie. Hier wird wohl 
ein Grundzug ſeines lebensſcheuen Weſens verraten. Je und je 
war er froh, „Diſtanz zu gewinnen“ zu Erlebniſſen, ſelbſt genuß⸗ 
reichen, wie die ägyptiſche Reiſe, und von dem geborgenen Tempel⸗ 
heim der Erinnerung darauf zurückzublicken. Dann erſt wurde das 
Erlebte zum Durchlebten — zum Troſt der Erinnerung — zur Poeſie. 

Außer dem Inhalt des Saffianbändchens haben die emſigen 
Herausgeber der Werke noch zu des Meiſters Lebzeiten eine be⸗ 
trächtliche Anzahl älterer Gedichte teils handſchriftlich aus Privat⸗ 
beſitz zu erlangen gewußt, teils in alten Zeitſchriften, Zeitungen, 
Sonderdrucken aufgeſpürt. Es bedurfte vieler Überredung, ihm die 
Erlaubnis zum Druck abzugewinnen: mit der Begründung, daß 
auch dieſe zur Geſchichte ſeiner Entwicklung gehörten. Vor allen 
der große Zyklus „In der Bildergallerie (1859) — mit den äftheti- 
ſchen Bekenntniſſen der Sonette VII, VIII, IX, die, im Einklang 
mit Proſaſchriften jener Jahre, voreilend ſchon den Realismus, 
die charakteriſtiſche Kunſt verkünden als die einzig wahre. 

Dichteriſch höher zu bewerten dünken mich einzelne der Ge⸗ 
legenheits- und namentlich der Feſtgedichte des Nachlaſſes, an⸗ 
mutend durch echt lyriſche Tönung, wie ſie in der Sammlung von 
1871 ſich ſelten nur findet, oder ſprachgewaltig, von hinreißendem 
Schwung und Sang. Ein gutes Beiſpiel jener Art wäre das 
Feſtlied ‚auf Ladegaardsöen 1851“ („Ein Lüftchen mit gedämpftem 
Klang Geht durch die Tannen, ein Beben ...“) und muſtergültig 
für dieſe das ‚Lied zum Feſt auf Klingenberg‘, 1861, deſſen 
meiſterlich behandelte Strophe, mit dem dreifachen Reim an vor⸗ 
letzter Stelle, noch in fünf andern Geſängen wiederkehrt. 

Lied zum Feſt auf Klingenberg 
(17. Mai 1861) 
Wir ſind ein Volk auf freiem Grund! 
Das trugen von Tal zu Tale 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


331 


Aus Redners und aus Sängersmund 

Die Jubelſturmſignale. 

Mit Schmerzen geboren, vom Leide geſäugt, 
Unter Freiſchwur getauft und als edel bezeugt, 
Brach Norges Geiſt, dem Geſetz nur gebeugt, 
Seinen Schlummer mit einem Male. 


Doch weh dir nun, norwegiſcher Mann, 
Willſt du dich träg verliegen, 
Sturmſicher im Ahnenſaal fortan 

Nur träumen von Ahnenkriegen. 

Haſt manchen Strauß noch zu beſtehn, 
Haſt manchen Drangſalsweg zu gehn, 
Haſt manches Kampfes Frucht zu ſehn, 
Eh' Raſt dir geziemt — — nach Siegen! 


Frei biſt du erſt, darf frei am Schaft 
Das Banner des Geiſtes prangen, 
Darf donnern wieder mit alter Kraft 
Im Lied, was die Väter ſangen. 

Frei biſt du erſt, wenn mit Liebesgebot 
Lenzmorgengold, Herbſtabendrot 

Ins Herz dir leuchtet, ins Herz dir loht 
Mit Heimatluſtverlangen. 


Frei biſt du, wird dem Norden nur 

Gegen Süd ein Bollwerk geſchichtet, 

Wird dunkler Zeiten Knechtſchaftsſpur 

Dem Oſten zum Trotz vernichtet. 

Frei biſt du nur mit dem ganzen Nord! 
Denn erlitte dein Bruder Harm und Tort, 
Und du täteſt ihm nicht nach deinem Wort — 
Für immer dann wärſt du gerichtet. 


So ſchirm' dein Erbe mutbedacht, 
Laß Horn und Trommel ſchallen; 


332 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Auf nächtlichen Steigen obliegt euch die Wacht, 
Euch Bergesſöhnen allen! 

Späht über die Grenze; Feuerſchein 

Von den Höhen ſei Bote Tal aus, Tal ein; 
Der Freiheit Gott ſtürmt mit uns drein — 
Sein Heerbann kann nicht fallen! | 


Ob Ibſen nicht wenigſtens die formvollendeten dieſer Verſchol⸗ 
lenen anerkannt hätte? Haben doch fünf der poetiſchen Beiträge zu 
dem Wochenblatt ſeiner Freunde Botten⸗-Hanſen und Vinje, zu 
jenem ‚Andhrimner‘ (1851), der fein drittes Quartal nicht über⸗ 
lebte, vor dem prüfenden Blicke des Sammlers von 1871 Gnade 
gefunden, ja zwei davon gehören, freilich erſt in ihrer letzten Ge⸗ 
ſtalt, zu den Zierden des Buches. 

Durch die ſorgfältig, faſt peinlich nachbeſſernde Feile ſind nun 
die Altersunterſchiede der ſämtlichen Gedichte in der äußern Form 
ſo gut wie verwiſcht. Einige würden ſich trotzdem auch dem Leſer, 
der ihre Entſtehungszeit nicht kennte, von ſelbſt in eine frühere 
romantiſche Epoche zurückdatieren. 

Zum Beiſpiel gleich das erſte, einſt im ‚Andhrimner“ er⸗ 
ſchienene ‚ Spielleute“. Der kunſtfertige Noeck, dem ein un⸗ 


glücklich Liebender die Zauberweiſe nachſpielen lernt, um ſich das 


widerſpenſtige Mädchenherz zu unterjochen, wird urſprünglich aus 
einem der Waſſerfälle Grimſtads aufgetaucht ſein. Wenigſtens 
haben wir im grünen Büchlein, in den Verſen auf den, Müller⸗ 
burfchen‘, einen damals von Ole Bull entdeckten und von vielen 
geprieſenen Geiger aus dem Volke, ſchon den Nix des Waſſerfalls, 
ſein Harfenſpiel und alle begleitenden Umſtände, die ſolche elbiſche 
Muſik den Zeitgenoſſen „poetiſch“ machten. 

Im ‚Müllerburfchen‘ heißt der Waſſermann kossegrim, in 
den nur wenig älteren ‚Spielleuten‘ orekrat wie in Welhavens 
„Ruhe im Walde“, und daß man von den Naturgeiſtern ſüßes 
Saitenſpiel erlernen könne, das hat ebenfalls Welhaven zuerſt ge⸗ 
ſungen. Seine ‚Neuen Gedichte‘ (1845), merkt Jaeger an, erhoben 
die naturſymboliſche Huldre⸗Lyrik zur Tagesmode. Welhaven ver⸗ 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 333 


ſinnbildet mit den muſikaliſchen Wald⸗ und Waſſergeiſtern nur das 
Brauſen der Wipfel oder das Rauſchen der Wellen, oder, um dem 
Gedichte mehr als bloßen Stimmungsgehalt zu geben, webt er 
Märchenmotive ein mit empfindſamer Deutung. Sein Teuerſtes 
muß dem „Noeck in der Mühle“ opfern, wer das „lieblich ſauſende“, 
die Sorgen einſchläfernde Spiel erlernen will. Der Romantiker 
ſingt eben nicht wie der Vogel, der auf den Zweigen wohnet, — 
das wäre natürlich, gemein; er hat des Geſanges Gabe geheimnis⸗ 
voll und mit Qualen erkauft, er leidet, er iſt intereſſant. Die 
ſelbſtbewußte Leidensmiene ſetzt auch der Poet des ‚Andhrimner“ 
auf, und „Spielleute“ könnte den Untertitel haben: Wie ich Dichter 
geworden. Den Stempel der Zeit hat die kürzende Überarbeitung 
— es ſind nur vier von neun Strophen geblieben — keineswegs 
getilgt. Die beiden letzten lauten nun: 


Ich rief den Noeck aus der Tiefe, 
Sein Spiel hat von Gott mich gewandt; 
Doch als er mein Meiſter geworden, 
Reichte ſie meinem Bruder die Hand. 


In große Kirchen und Säle 
Führte mein Spiel mich hin; 
Doch des Waſſerfalls grauſige Weiſe 
Wich nimmer aus meinem Sinn. 


In der Abkehr von Gott liegt etwas Byroniſches, etwas 
von dem beliebten „Fluche“, der dem Genie das Kainszeichen auf⸗ 
drückt, und die Erzählung des Unglücks iſt nach Heines Art epi⸗ 
grammatiſch zugeſpitzt. Die allzu weiche Manier Welhavens behagte 
eben dem Schüler ſchon damals nicht, er ſuchte, nach bewährten 
Muſtern, Kräftigeres beizumiſchen und beſiegte endlich den Lehrer 
durch die eigene Dichterkraft in dem „Hochgebirgsleben'. 

Bei einer Abendunterhaltung im Chriſtianiatheater 1859 wurde 
K. Bergsliens Gemälde ‚Ein Abend auf der Alm‘ als lebendes 
Bild geſtellt und von dem Dichter⸗Dramaturgen das poetifche Wort 
dazu geſpendet. Bergslien huldigte offenbar der Mode des Tages 


334 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 
und behandelte das Motiv, wie wir es auf den Landſchaften aus 
den Fünfziger und Sechziger Jahren gewohnt ſind: die Sennerin 
oder der Geisbub, rötlich angeſtrahlt, blicken mit der beſchattenden 
Hand über den Augen ſchwärmeriſch ins Weite. Wohin ſie blicken 
und ſchmachten, das ſchildern ebenſo übereinſtimmend die dichtenden 
Zeitgenoſſen, im Norden vor allen der Chorführer Welhaven: 

Am Rande des Almenhanges 

Steht der Hirtenjunge im Abendglanz — 
und der Hirtenjunge lauſcht den Klängen der Huldre und ſehnt 
ſich. An das Motiv war Ibſen gebunden und das elbiſche Weſen 
als Sinnbild der Sehnſucht ahmte er noch getreulich nach, aber 
zugleich regte ſich ſchon in ihm das Bedürfnis, in ein unmittel⸗ 
bares Verhältnis mit der Natur zu treten, jene reinere Kraft, 
welche dann aus der Hochgebirgslandfchaft einen jo mächtigen 
Hintergrund für feinen ‚Brand‘ zu ſchaffen wußte, und er entwarf 
ein Gemälde der „ſtillen Welt“, vor deſſen leuchtenden Farben die 
Schilderungen Welhavens und überhaupt der Romantiker gänzlich 
verbleichen. 


Hochgebirgsleben 

Im Tale ſpreitet Sommernacht 
Die Schattenſchleier lind; 
Doch oben um der Berge Wacht, 
Da wallt ein Meer im Wind: 
Da rollen Nebelwogen grau 
Verhüllend auf zum Firn, 
Zum Gletſcher, der im reinen Blau 
Tagsüber blickt auf Fels und Au 
Mit ſonnenklarer Stirn. 


Doch über Nebelwogen ſchwer, 
In Gold: und Bernſteinglanz, 
Erhebt ſich Land, entſteigt dem Meer 
Friedlich ein Inſelkranz. 
Und große Vögel ſegeln weit, 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 335 


Gleich Schiffen, ihre Bahn 
Weſtwärts, wo Zinnen aufgereiht 
Wie Trolle ſtehn im Waffenkleid 
Und dräuen himmelan. 


Dort liegen fern im Gletſcherduft 
Almen auf ſteilem Feld, 
Blau ſchimmert Schnee in Spalt und Kluft 
Um dieſe ſtille Welt. 
Dort lebt das Volk mit Elb und Gnom 
Hoch oben und allein, 
Vom Dorf getrennt durch Sturz und Strom; — 
Sie haben größern Himmelsdom 
Und hellern Sonnenſchein. 


Hinab in Glut und Schatten blickt 
Lautlos die Sennerin; 
Ein Sehnſuchts⸗Elbe ſie beſtrickt 
Und locket Aug' und Sinn. 
Sie kennt ihn nicht und ſein Begehr, 
Und ihn benennt kein Wort; 
Die Herde läutet rings umher, 
Da trägt ſie's fort ins Sonnenmeer — 
Zu einem fernen Port? | | 4 


Mit der Frage würde das Gedicht ſchön und ſchwungvoll 
enden. Doch in einer fünften Strophe gibt Ibſen alsbald die be⸗ 
ruhigende, nüchterne Antwort: Nicht im fernen Port landet die 
Sennerin, ſondern — am Ofen. 


So kurz iſt deine Hochlandszeit 
Auf grünem Almenhang; 
Bald wirft den Mantel faltig⸗weit 
Der Schnee den Berg entlang. 
Dann weileſt du in ſichrer Hut 


336 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Im Tal am warmen Herd; — 
Dann ſpinne du, ſpinn wohlgemut: 
Vom Berg ein Blick in Abendglut 
Iſt wohl den Winter wert. 

Im Original ſitzt das Mädchen tatſächlich „an den Kohlen 
des Ofens“. Wir haben alſo jene drei Stadien, die der Dichter 
in ſeiner Entwicklung durchlaufen hat, herkömmliche Romantik, 
kraftvoll⸗ſelbſtändige ſtiliſierende Poeſie und Alltags-Realiſtik, in 
ein und demſelben Gedichte! Zwar als Bild geht es nicht zu⸗ 
ſammen — wie die Maler ſagen —, iſt aber gerade dadurch um 
ſo belehrender. 

Ziemlich früh ſchon werden die von der literariſchen Mode 
ihm empfohlenen Geſtalten der Volksſage, Nix und Troll und Elbe, 
vom Romanzen- und Balladenartigen abgelöſt und rein künſtleriſch 
umgewertet. Sie verleihen norwegiſche Lokalfarbe, — wie hier die 
Trollen, mit denen die trotzig emporſtarrenden Bergzacken verglichen 
werden; ſie treten glücklich an die Stelle der mythologiſch⸗klaſſiſchen 
Symbole, — wie der Sehnſuchts⸗Elbe. 

Von ſolcher Verwendung noch ein Beiſpiel: 


Mit einer Waſſerlilie 


Laß mich dir die Blume bringen, 
Liebſte, mit den weißen Schwingen. 
Traumſchwer in des Mittags Gluten 
Schwamm ſie auf den ſtillen Fluten. 


Willſt ihr eine Heimat geben, 
Steck' ſie an die Bruſt, mein Leben! 
Wieder ſchwebt ſie, ſanft gebogen, 
Dann auf tiefen, ſtillen Wogen. 


Hüte dich am See zu ſäumen, 

Kind, Gefahr bringt's, dort zu träumen; 
Noeck, der tut, wie wenn er ſchliefe; 
Lilien ſpielen ob der Tiefe. 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 337 


Kind, an deinem Buſen ſäumen 
Bringt Gefahr, Gefahr, zu träumen: — 
Lilien ſpielen ob der Tiefe; — 

Noeck, der tut, wie wenn er ſchliefe. 
(1863) 


Das Gedicht hat, wenn man will, einen kleinen Fehler. Die 

Grundidee iſt: Der Dichter warnt ſich ſelbſt vor der Geliebten. 
Daß er in der dritten Strophe auch ſie warnend anredet, verwickelt 
den Gedanken, dämpft aber zugleich den Vorwurf, den die letzte 
enthält. 
Im „Peer Gynt“ wird die Märchenwelt auf geiſtreich tiefe 
Art den ethiſchen Zwecken dienſtbar gemacht. Auch in den Ge— 
dichten verkörpert ſich, was uns alle bändigt, das Gemeine in 
dögnets trolde — in den „Trollen des Tages“. Dreimal be— 
gegnen uns dieſe alles Höhere und Edle untergrabenden Wirklichkeits— 
mächte, und das freilich kaum zu überſetzende Gedicht ‚Eine 
Kirche“ erläutert noch beſonders, was unter dögn im verächt⸗ 
lichen Sinne zu verſtehen ſei. Der König baut eine Kirche; des 
Nachts, wenn die Werkleute ruhen, kommt der Troll und ſchafft 
nach ſeinem Sinne daran weiter. Da ſich die Kirche endlich bis zur 
Turmſpitze erhebt, hat des Trolles geheime Arbeit zweierlei Stil 
verſchuldet. Die Gemeinde aber zieht ruhig in gutem Glauben ein; 
denn — ſo wäre der Schluß vielleicht zu umſchreiben — das Ge 
miſch von Edlem und Gemeinem, das gerade taugt dem Alltags— 
volk (dögnfolk), der Menge. Es iſt wieder die Klage der beiden 
großen Versdramen, daß die Menſchen weder gut noch ſchlecht 
ſeien, weder weiß noch ſchwarz, ſondern grau. Ein norwegiſcher 
Fremdwörterfeind brachte die Bezeichnung „Trolle des Tages“ 
allen Ernſtes für — Materialiſten in Vorſchlag. 

Welhavens dauernder Einfluß in Form, Tonfall und Bau 
der Strophe wäre mit Beiſpielen in norwegiſcher Sprache vielfach 
zu belegen. Vornehmlich noch in einer „Geſpenſterballade“ iſt trotz 
der Veränderungen — vier der urſprünglichen Strophen wurden 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 22 


338 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


verworfen und ſechs neue hinzugedichtet — ganz ſeine Manier zu 
erkennen. Auf Akershus,, der alten Stadt-Feſte Chriſtianias, 
erwachen in der Sommernacht die Blutmänner einer dunklen Vor⸗ 
zeit. Wieder ſitzt, vornüber gebeugt, in ſeinem Stuhle König 
Chriſtian mit den fahlen Wangen, mit der gerunzelten Stirn und 
dem ſtieren Blick, nach dem Schwerte faſſend, deſſen Scheide von 
Blutflecken roſtig iſt. Und drunten im Fjord liegt die däniſche 
Flotte, von der eben Knut Alfſon als Leiche zurückgerudert wird, 
er, der ſich wehrlos an Bord begab, um für ſein Vaterland zu 
ſprechen. „Wer war Knut Alfſon?“ — „Norwegens letzter Ritter“, 
lauten die Eingangszeilen der „Herrin von Oeſtrot“. An die düſtre 
Stimmung dieſes Schauſpiels und ſeinen patriotiſchen Unterton 
gemahnt das nächtliche Geſicht, das — nach bewährter romantiſcher 
Spuk⸗Ordnung für ſolche Viſionen — durch den Ruf der Schild⸗ 
wache plötzlich in nichts zerrinnt. 

Auch „König Hakons Feſtſaal' (in Bergen), 1858, ge⸗ 
hört der Technik nach hierher. An Lear, den ſeine Töchter dem 
Sturme preisgeben, erinnert den Dichter der von einem undank⸗ 
baren Geſchlechte vernachläſſigte ehrwürdige Bau, das Denkmal 
ruhmreicher Vergangenheit. Die vorletzte Strophe iſt noch ſchärfer 
ſatiriſch: | 

Nun tagt es, Alter, dein Volk iſt erwacht; 
Wir flicken, auf daß ſie dich ſchütze, 
Mit Lumpen zurecht deine Königstracht; 
Schon trägſt du die Narrenmütze. 


Auch anders geartete Dichtungen der früheſten Zeit haben, 
in der Form gänzlich umgewandelt, Aufnahme in die Geſamtaus⸗ 
gabe gefunden. Jenes Büchlein der Univerſitätsbibliothek herbergt 
mancherlei Elegiſches, wie ſchon die Titel verraten: Reſigna⸗ 
tion (1847, das älteſte der erhaltenen Gedichte), Her bſt⸗ 
abend, Mondſcheinfahrt auf dem Meere, Abend⸗ 
wanderung im Walde, In der Nacht, Mondſchein⸗ 
ſtimmung, endlich: 


X, Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 339 


Mondſcheinwanderung nach einem Balle 
Ringsum ſtille Nacht! Verklungen iſt im Saal der muntre Reigen; 
Keine Stimme, nicht ein Laut mehr dringet durch das tiefe Schweigen. 


Fern im Weſt die letzten Strahlen wirft der Mond auf Schneegefilde, 
Und die Erde, traumverſunken unter Lilien, ſchlummert milde. 


Längſt geendet iſt der Ball; noch immer unter weißen, ſchlanken 
Schweſtern die Sylphide ſeh' ich leicht hinſchweben in Gedanken. 


Bald verſinkt der Mond, und löſend naht der Schlaf, — daß die befreite 
Seele mit Erinnerungsſchätzen übers Meer der Träume gleite! 
uſw. 
Daraus iſt geworden: 


Entſchwunden 
Den Letzten, die gehen, 
Wir folgen zur Pforte; 
Im Nachtwind verwehen 
Die Abſchiedsworte. 


Dunkel und Schweigen; — 
Der Park nur rauſchet, 
Wo ich trunken dem Reigen 
Des Feſtes gelauſchet. 


Ein Glück in Haſt nur 
Zwei flüchtige Stunden; 
Sie war ein Gaſt nur, — 
Nun iſt ſie entſchwunden. 


Zu der „Mondſcheinwanderung nach dem Balle“ wird in der 
Handſchrift ausdrücklich bemerkt: „Geſchrieben auf Verlangen von“ 
L dann folgen drei überſchraffierte, noch leſerliche Namen. Das 
0 Lied vom dahingeſchwundenen Glück iſt aber dennoch einem Bes 
dürfnis des Herzens entſprungen, nicht bloß dem äſthetiſchen 
Waunſche, die Jugendarbeit zuſammenzudrängen und dadurch zu 

verinnerlichen. Jene Abſchiedsſtimmung erneuert ſich dem Dich— 
ter, als ein friſcher Verluſt ſein Gemüt berührte nach einem Feſte, 
22* 


340 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


das im Sommer 1864 in Genzano einer zu kurzem Beſuche wei⸗ 
lenden norwegiſchen Familie gegeben wurde. 

Kein erlittener oder erträumter Schmerz klingt nach in einem 
zweiten Trennungsgedichte, betitelt Eine Vogelweiſe' (1858), 
worin das Scheiden und Meiden epigrammatiſch gemeldet und 
ſcherzhaft beſungen iſt. Die Liebenden treffen ſich heimlich in einer 
Allee, die von Sperlingen bewohnt wird. 


Über uns in den Zweigen, 

Da zwitſchert es hin und her; — 

Doch wir, wir ſagten uns ſchön Lebwohl 
Und trafen uns nimmermehr. 


Wenn er nun einſam die Allee auf und niederſtreicht, läßt ihm 
das gefiederte Volk keinen Augenblick Ruhe. Frau Sperling hat 
das erlauſchte Geſpräch in Muſik geſetzt und verbreitet. 
„Entſchwunden“ und die ‚Vogelweiſe“ find die einzigen Liebes⸗ 
gedichte im ganzen Bande! Man müßte denn die ſchönen römi⸗ 
ſchen Strophen von 1871 noch hierher rechnen, in denen der Dichter 
feiner Lebensgefährtin aus warmem Gemüte den,Dank' entrichtet. 
Meiſt bieten die früheren und ſpäteren Faſſungen, neben⸗ 
einander betrachtet, künſtleriſch und pſychologiſch wertvolle Auf? 
ſchlüſſe. Gerade die ſchönſten der Gedichte gehen nämlich aus einen 
Metamorphoſe, einer eigentümlichen Entpuppung hervor. Im erſten 
Entwurf auf Allgemeines zielende Symbole oder Parabeln, etwas 
unbeſtimmt, lehrhaft, mit beigefügter Erklärung, werden ſie, wie 
durch Abſtreifen einer Schale, in ihrer eigentlichen Lebensform 
herausgeſtellt, Sinnbilder ganz perſönlichen Seelenlebens, warm 
im Tone und doch fein verhüllend, Bekenntniſſe eines Skalden, 
der ſein Inneres nicht aller Welt eröffnen will. Das zärtliche 
Schamgefühl, die Scheu vor der ſeeliſchen Entblößung, teilt Ibſen 
mit Grillparzer. „Es iſt etwas in mir, das ſagt: es ſei ebenſo 
unſchicklich, das Innere nackt zu zeigen als das Außere,“ ver⸗ 
traut uns der öſterreichiſche Dichter. Nicht anders ſpricht Ibſens 
Jatgejr, der beim lärmenden Gelage gleichſam Mantel und Wams 


c 


rt da 


EEE . — TRERBBERLTOT 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 341 


über jeden ſeiner Gedanken zieht: „Ich habe eine ſchamhafte 
Seele, darum kleide ich mich nicht aus, wenn ſo viele in der 
Halle ſind.“ 

Eines der älteſten ſolcher Gedichte und wohl das vorzüglichſte 
des Bandes, vielleicht aus derſelben Zeit wie jene ‚Mondſchein⸗ 
wanderung nach dem Balle“, jedenfalls nicht viel ſpäter, lautet 
nach geſchehener Verwandlung alſo: 


Der Bergmann 


An die Bergwand Tag für Tag 
Dröhnend pocht mein Hammerſchlag! 
Raſtlos muß ich abwärts dringen, 
Bis das Erz ich höre klingen. 


In des Berges öder Nacht 
Winket mir die reiche Pracht — 
Diamant und Edelſteine, 
Goldgezweig in rotem Scheine. 


Drunten iſt des Friedens Hort, 
Ewig wohnt das Schweigen dort; — 
Brich den Weg mir, ſchwerer Hammer, 
Zur geheimen Herzenskammer! — 


Einſtmals unterm Sternenzelt 
Freut' ich, Knabe, mich der Welt, 
Freute mich im Lenz der Blüte, 
Kindesfrieden im Gemüte. 


Ich vergaß des Tages Pracht 
In dem mitternächtigen Schacht, 
Hain und Hag vergaß ich lange 
In der Grube Tempelgange. 


Als ich ſtieg herniederwärts, 
Schuldlos wähnte da mein Herz: 


342 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Alle Rätſel, wenn ich riefe, 
Löſten Geiſter mir der Tiefe. 


Noch hat mich kein Geiſt gelehrt, 
Was mich dünkt ſo fragenswert; 
Keines Strahles Wunderleuchte 
Noch das Dunkel mir verſcheuchte. 


Trügt mich meine Zuverſicht? 
Führt der Weg zur Klarheit nicht? 
Such' ich droben in der Helle, 
Blendet mich des Lichtes Welle. 


Nein, im Dunkel iſt mein Ort, 
Ewig wohnt der Friede dort; — 
Brich den Weg mir, ſchwerer Hammer, 
Zur geheimen Herzenskammer! — 


Hammerſchlag auf Hammerſchlag 
Bis zum letzten Lebenstag. 


Ob kein Morgenſtrahl, ob keine 
Hoffnungsſonne mir erſcheine. 


Zuerſt im ‚Anödhrimner‘ (1851) erſchienen und Brynjolf 
Bjarme unterzeichnet, ermangelte das Gedicht noch der Kraft, der 
klaſſiſchen Völligkeit des Ausdruckes. Statt „Bergwand“ hieß es 
urſprünglich nur „Felſen“; ſtatt „brich“ den Weg mir, „bahne“ 
den Weg mir, ſchwerer Hammer; ſtatt in der „Grube Tempel⸗ 
gange“, in des Felſens „gewölbtem“ Gange; ſtatt keine „Hoffnungs⸗ 
ſonne“, keine „Klarheitsſonne“ u. ä. m. Trotzdem hatte Brynjolf 
Bjarme für den ganzen Gedanken ſchon die endgültige Umrißlinie, 
für die Mehrzahl der Strophen die feſte Form, das Gedicht war 
alſo, wie C. F. Meyer bei gelungenem Entwurfe zu ſagen pflegte, 
damals ſchon „geſichert“. Und dennoch erhielt es nach Jahren erſt 
— im „Illuſtreret Nyhedsblad‘, Februar 1863, — durch das Weg⸗ 
ſtreichen eines einzigen Wortes, einer einzigen Strophe, die heutige 
Geſtalt: Die Schlußzeile der dritten Strophe lautete früher: Bahne 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 343 


den Weg mir, ſchwerer Hammer, zur „Herzenskammer der Na— 
tur“, und mit Bezug darauf hieß es nach der ſechſten Strophe 
weiter: „Sie (die Geiſter der Tiefe) ſollen mich lehren, wie die 
Knoſpe ſprießen kann, weshalb die ſchönen Blumen der Halde ver— 
welken, wenn der Herbſt kommt.“ Damals war der Bergmann 
noch der Jüngling, deſſen erwachenden Forſchungstrieb das Rätſel 
um uns, das ewige Werden und Vergehen beſchäftigt; jetzt iſt er 
der Mann, dem es Lebensaufgabe geworden, dem Rätſel in uns 
raſtlos nachzuſpüren, über die ethiſchen Grundlagen unſeres We— 
ſens, über das, was wir ſind, und das, was wir ſollen, ſich und 
andern, wenn auch in mühſeliger Frone, wenn auch um den Preis 
eigenen Glückes Klarheit zu erringen. Wie ſcharf kontraſtiert dies 
bitterentſchloſſene: Ich muß forſchen! mit Leſſings freudigem: 
Ich will forſchen! — und hier der traurige, dort der heitere, 
freiwillige Verzicht auf den Erfolg! 

Ein andrer poetiſcher Beitrag zum ‚Andhrimner‘ von ſech— 
zehn Strophen wurde auf ſieben vermindert: 


Der Eidervogel 


Der Eidervogel hoch im Nord 
Hat er ſein Heim am bleigrauen Fjord. 


Er pflückt aus der Bruſt ſich den weichen Flaum, 
Sein Neſt zu bauen am Klippenſaum. 


Des Fjordes Fiſcher mit hartem Sinn, 
Der plündert's; kein Fläumchen läßt er darin. 


Wie grauſam der Fiſcher, der Vogel ſogleich 
Pflückt wieder den Buſen warm und weich. 


Und wieder geplündert, abermals deckt 
Er mit Daunen das Neſt, in den Winkel verſteckt. 


Doch dreimal beraubt, da ſpreitet er ſacht | 
Die Schwingen in einer Frühlingsnacht, 


344 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Und mit blutender Bruſt durch den Nebel hin zieht 
Er zu ſonnigen Küſten — gen Süd, gen Süd! 


Erſt war es nur ein moraliſches Exempel, dem „Menſchen“ 
zur Lehre und Nachahmung. Wie die Fabeldichter Biene und 
Ameiſe als Muſter des Fleißes beloben, jo wurde — in getrage— 
nerem Tone, doch in derſelben lehrhaften Meinung — der aus⸗ 
dauernde Strandvogel als Beiſpiel unerſchütterlicher Treue gegen 
ſich ſelbſt, gegen ſeine Beſtimmung gerühmt. Er ſoll den Klein⸗ 
mütigen beſchämen, der ſich beim erſten Verluſte ſchon der Ver⸗ 
zweiflung überläßt: 

Wird er einmal nur um ſein Beſtes gebracht, 
Gleich hüllt ſich die Seele in ewige Nacht. 
Hinſiechet die Kraft und die tatfrohe Luſt, 

Es bleibet ihm nur eine blutende Bruſt. 


Als der Dichter nach herben Erfahrungen, nach notgedrun⸗ 
gener Flucht vom Fjord zum gaſtlichen Süden, die Verſe wieder 
erwog, bedünkte ihn der grauſam beraubte Flüchtling ein Bild 
eignen Geſchickes. Das Allgemeine wurde mit leiſe löſender Hand 
abgeſtreift, und an Stelle des Menſchen, der lernen ſoll, ſteht nun 
das Ich, das leidend gelernt hatte. 

‚Bergmann‘ und ‚Eidervogel‘ find lyriſche Parabeln. 
Auch der nicht Eingeweihte muß den intimen Reiz fühlen, das ver⸗ 
borgene Bekenntnis. 

Ein drittes Gedicht des ‚Andhrimner“: Vogel und Vogel: 
fänger“ hatte ſchon urſprünglich den autobiographiſch⸗paraboliſchen 
Charakter, aber dem rein verſtandesmäßig durchgeführten Gleich⸗ 
nis fehlt das Gemütbewegende dieſer beiden. „Als Knabe ſchnitzt' 
ich mir eine Vogelfalle und ſchreckte den gefangenen Vogel mit 
zornigem Blick und drohenden Gebärden. War ich der Grauſam⸗ 
keit müde, dann wurde die Klappe geöffnet. Voll ängſtlicher Be⸗ 
gierde, ſich hinaus zu ſchwingen ins Licht, in die Freiheit, ſchoß 
er gegen die Fenſterſcheiben und fiel zerſchmettert zu Boden. Armer 
Gefangener, nun biſt du gerächt! Nun iſt der Knabe ſelbſt ein⸗ 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 345 


geſchloſſen, und ein drohendes Auge ſtarrt ihn erſchreckend und ver⸗ 
wirrend an. Und wenn er ſich den Weg zur Freiheit aufgetan 
glaubt, ſtürzt auch er getäuſcht mit zerbrochenen Schwingen nieder.“ 
Hebbel hat ein genaues Gegenſtück dazu: „Der arme Vogel“. Trau⸗ 
rig ſieht er den kleinen gefiederten Sänger ſich im Käfig verbluten, 
ein Opfer des ungeſtümen Freiheitsdranges, und klagt: „O Herz, 
dein eigen Bild!“ 

Mehrmals wenden ſich Ibſens Gedanken vom Jetzt zum Einſt, 
doch ſtets in derſelben Weiſe, nur ruhig eines am andern meſſend 
und prüfend. Er ſingt nicht ſo recht „aus der Jugendzeit“, 
hat kein Lob zu verſchwenden an jene ſchönen Tage, keine Sehn— 
ſucht zu äußern nach ihren entflohenen Freuden. Der Nachdruck 
liegt auf dem Jetzt, auf dem Gewordenen, fein Mannestun Bes 
ſtimmenden, nicht auf dem Geweſenen und Genoſſenen. 


Lichtſcheu 
Keck war mein Mut und prahlend, 
Als ich zur Schule ging, 
Solange die Sonne ſtrahlend 
Und hell am Himmel hing. 


Doch legte ſich draußen vorm Fenſter 
Die Nacht über Berg und Moor, 
Da kamen die Schreckgeſpenſter 

Aus Märchen und Sage hervor. 


Kaum ſchloß ich die Augen, in bangen 
Träumen wand ich mich ſchon, 

Und all mein Mut war gegangen, 
Weiß Gott, wohin entflohn. 


Nun hab' ich wohl einen andern 
Sinn getauſchet mir ein, 

Nun geht mein Mut aufs Wandern 
Beim erſten Morgenſchein. 


346 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Des Tags Unholde, die lauern, 
Des Lebens lärmende Luſt 
Erfüllet mit eiſigen Schauern 
Mir nun die bebende Bruſt. 


Ich berge mich unter dem Schleier 

Des Dunkels — ich flieh es nicht mehr; 
Da hebt ſich mein Sehnen freier, 
Schwebt adlerkühn wie vorher. 


Den Flammen trotz' ich vermeſſen, 
Den Fluten, ſegelnd im Blau'n, 

Und Jammer und Not iſt vergeſſen — 
Bis zum nächſten Morgengrau’n. 


Dann ſinket die tragende Schwinge, 
Im Lichte verſagt mir die Macht; 

Ja, wenn ich einſt Großes vollbringe, 
Es wird eine Tat der Nacht. 


In feiner Urform gehörte „Lichtſcheub dem Zyklus ‚Sn der 
Bildergallerie“ an, unter welchem Titel eine Reihe von Stim⸗ 
mungen und Eindrücken aus Ibſens erſtem Dresdener Aufenthalt 
(1852) vereinigt wurde. Der Dichter erzählt von einer Malerin, 
die er als ſchönes junges Mädchen mit feuchtſchimmernden, fern⸗ 
hin träumenden Augen Murillos Madonna kopieren ſah und nach 
Jahren, gealtert und verblüht, an derſelben Stätte und vor der⸗ 
ſelben Aufgabe wieder antrifft. Was ihn feſſelt, iſt nicht ihre 
künſtleriſche Bemühung — ſie fertigt dieſe „netten“ Kopien wohl 
nur für Kirchen und Touriſten ums tägliche Brot — ſondern die 
nimmer geſtillte und doch nicht erlöſchende Sehnſucht nach dem 
„Unzulänglichen“, nach dem Ideale. Noch immer ſchweift ihr 
feuchtſchimmerndes Auge in die Ferne, noch immer baut ſie Schön⸗ 
heits⸗Reiche in ihren Träumen. — Unausgeſprochen leſen wir 
zwiſchen den Zeilen oder hören es der emphatiſch wiederholten 
Strophe nachklingen wie einen Refrain: O Herz, dein eigen Bild! 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte | 347 


So war es ein Leichtes, ſechzehn Jahre ſpäter das einzelne Ge— 
dicht, das jetzt den Titel ‚Lichtfcheu‘ führt, aus dem Zuſammenhang 
zu löſen: eine Kindheitserfahrung, damals der Malerin geliehen, 
wird nun dem eignen Ich wieder zugeſchrieben. 

Sonſt iſt aus den früheren Dresdener Stimmungsbildern nur 
ein und das andere Motiv ſpäter wieder belebt worden, z. B. das 


witzig⸗ſarkaſtiſche: 
Mein junger Wein 
Du nannteſt dich meinen jungen Wein, 
Mich die Tonne mit Laub verzieret. 
Du dufteteſt ſüß, du perlteſt fein, 
Du goreſt heiß, und du warſt mein — 
Da ward der Prozeß ſiſtieret. 


Mein Wein ward geſtohlen von einem Wicht, 
Die Hefe nur blieb zurücke. 
Mein Schatz, ich bin nicht aufs Knallen erpicht, 
Schlaf ruhig, ich explodiere nicht, 
Ich falle bloß in Stücke. 


Wörtlich lautet die Schlußzeile: Ich zerfalle bloß in Stäbe 
(staver, Dauben). Das bedeutet aber im Norwegiſchen auch ſo 
viel wie „in Träumerei verſinken, verträumt ſein“, ein Doppel⸗ 
ſinn, der wohl überhaupt das Gedichtchen veranlaßt hat. 

Auf das Gebiet des Sarkasmus und der Ironie lenkt der 
Dichter der „Komödie der Liebe“ ſein Flügelpferd jederzeit gerne 
hinüber. Ja, er verkehrt in ſolcher Laune die Pointe eines Scherz— 
gedichtes bei der Überarbeitung in das gerade Gegenteil. 1858 
hieß es: 

Baupläne 

Ich denke noch des Abends, als wär' es heut geſchehn, 
Da ich gedruckt im Blatte mein erſt Gedicht geſehn. 
Auf meiner Stube ſaß ich, paffend nach Herzensluſt, 
Ich rauchte und ich träumte ſo ſelig ſelbſtbewußt. 


348 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


„Ein Schloß will ich mir bauen bis in die Wolken hinein; 
Zwei Flügel ſollen es zieren, einer groß, der andre klein. 
Ein Genie ſoll der große behauſen, das unſterblichen Ruhm gewinnt, 
Der andre wird eingerichtet für ein allerliebſtes Kind.“ 


Mir ſchien in meinem Plane die ſchönſte Harmonie; 
Doch dann kam eine Störung, daß er mir nicht gedieh. 
Seitdem ich ward vernünftig, närriſch war's da beſtellt: 
Zu klein der große Flügel, doch der kleine — war meine Welt. 


Das ſah aus wie zugeſtandenes Eheglück, das durfte nicht 
bleiben zur Freude des Philiſters, und ein entſchiedener Federzug 
änderte (1871): 


Der Meiſter wurde vernünftig; ſeitdem iſt's närriſch beſtellt: 
Zu klein der große Flügel, und der kleine — der verfällt. 


Unleugbar hat die Sammlung im Ganzen durch ſolche An⸗ 
derungen einheitlichere Phyſiognomie gewonnen. Nun iſt da z. B. 
kein Widerſpruch mehr mit dem kecken Trutzliede Falks, das ſich 
durch eine neue Überſchrift als perſönliche Außerung und keines⸗ 
wegs bloß für das Stück gedichtet kund gibt. Es ſei darum hier 
vollſtändig überſetzt, ein Dokument der kampfes- und ſiegesfrohen 
Laune, die zu Anfang der Sechziger Jahre den noch ungebrochenen 
Jugendmut beherrſchte. 


Des Dichters Weiſe 


Sonnenſchein im Blütenhage, 
Eitel Luſt und Duft und Licht! 
Sorgſt du jetzt, ob Herbſtestage 
Halten, was der Lenz verſpricht? 
Apfelblüte, weiß und wehend, 
Breitet über dich ihr Zelt; 
Was verſchlägt's, wenn ſie vergehend 
Unter Hagelſchauern fällt? 


— nl U De Zu ze a 5 u u 


* EN SE UL EELE WERBDE Ey RR WE, WERE 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 349 


Willſt du lang nach Früchten fragen 
In des Baumes Blütenzeit? 
Warum ſeufzen, warum klagen, 
Abgeſtumpft in Sorg' und Streit? 
Warum, daß kein Vöglein ſtehle, 
Lärmt die Klapper Tage lang! 
Bruderherz, die Vogelkehle 
Birgt doch einen beſſern Klang! 


Warum ſelbſt den Sperling jagen 
Aus dem blühenden Gezweig? 
Laß ihn fort als Sanglohn tragen 
Deine Hoffnung, — biſt ſo reich! 
Glaub' mir, du biſt's, der gewinnet, 
Tauſcheſt Sang um ſpäte Frucht; 
Denk' daran: „Die Zeit verrinnet“, 
Nimmſt vorm Winter bald die Flucht. 


Ich will ſingen unverdroſſen, 

Bis das letzte Blatt verdorrt; — 

Hab' ich Luſt und Duft genoſſen, 

Fegt getroſt den Plunder fort! 
Auf das Gitter, das die Herde 

Nicht im Garten weiden läßt! 

Mein die Blüte! Was dann werde, 

Frag' ich nicht, aus totem Reſt. 


Wir haben die Angriffe und Verfolgungen kennen lernen, die 


den übermütigen Ton gar bald verſtummen machten. Nach Italien 


ausgewandert, ſpannte Ibſen andre Saiten auf ſeine Leier. Jetzt 
diente auch die Gleichnisrede nicht mehr zur Verſchleierung, ſon⸗ 
dern zur Verſchärfung. Niemals hätte eine Anklage in offenen 
Worten ſo ſarkaſtiſch wirken können wie dies Geſchichtchen nebſt 
Kommentar: 


350 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Macht der Erinnerung 


Wiſſen Sie ſchon, wie der Treiber den Bären 
Zur Tanzkunſt erzieht? Ich kann es erklären. 


Den Petzen in einen Braukeſſel binden, 
Iſt das erſte, und Feuer drunter anzünden. 


Hierauf zur Ermunterung löblichen Strebens 

Spielt man ihm auf der Orgel vor: „Freu dich des Lebens!“ 
Da zwingt ihn der Schmerz zu Extravaganzen: 

Stehn kann er nicht, ſo muß er denn tanzen. 


Und ſpielt man die Melodie hernach wieder, 
Gleich fährt ihm der Tanzteufel in die Glieder. 


Ich ſelber ſaß einmal im Keſſel gebunden 
Bei luſt'ger Muſik und entſetzlich geſchunden. 


Und damals verbrannt’ ich mehr als die Haut mir, 
Vor der bloßen Erinnerung daran graut mir. 


Und kommt mir ein Klang aus der Zeit zu Ohren, dann 
Iſt mir, als ginge gleich wieder das Schmoren an. 
Das brennt auf die Nägel, das peinigt verſtohlens: 
Auf Versfüßen tanz’ ich nolens volens. 
(Ungefähr 1864) 

Mit feinem Dichterloſe und dem der Brüder in Apoll ſich 
zu beſchäftigen, liebt Ibſen überhaupt. Hier ein Seitenſtück zur 
‚Macht der Erinnerung‘, doch weniger ſcharf und weniger deutlich 
auf die eigene Perſon bezogen, alſo mehr dem ‚Eidervogel‘ ſich 
annähernd: 5 


Die Sturmſchwalbe 
Von Schiffern weiß ich: die Sturmſchwalbe brütet 
Auf offnem Meer, nicht behauſt noch behütet. 
In den Wogengiſcht taucht ſie die Schwingen blinkend, 
Die Brandung beſchreitet ſie, nimmer verſinkend. 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 351 


Mit dem Meere ſich ſenkt, mit dem Meere ſteiget ſie, 

Im Sturme ſchreit, in der Stille ſchweiget ſie. 

Ein wunderlich Treiben! halb Schwimmen, halb Fliegen, 

Zwiſchen Himmel und Abgrund ein träumendes Wiegen. 

Zu ſchwer für die Luft, zu leicht für die Wogen: 

Dichtervogel! — um beides betrogen ! 

Und ſchlimmer als ſchlimm: — die Gelehrten rügen 

Das meiſte davon noch als Schifferlügen. | 

Die allgemeine Faſſung, die hier das Perſönliche erhält, leitet 
uns über zu den Parabeln, in denen das Ich nur geſtreift wird 
oder ganz verſchwindet. 


Die Schlucht 
Schwer zieht's herauf, ein Regenguß 
Stürzt in die Schlucht; ſie wird zum Fluß. 
Und tobt und rauſcht und ſchäumt und brauſt, 
Solang das Wetter niederſauſt. 
Es zieht vorbei mit Schlag und Krach; 
Der Strom ſchrumpft wieder ein zum Bach. 
Da ſprüht und funkelt Waſſerſtaub, 
Und Perlen raſcheln durch das Laub. 
In Hundstagshitze — wie vorher — 
Liegt bald die Schlucht ſteinig und leer. 
Doch blieb der Klang: da rieſelt Staub, 
Da kniſtert Reiſig, raſchelt Laub! 
Faſt klingt's, als ging' ein Quell zu Tal. 


Ich ſelber ſchwärmte dort einmal. 
(186465) 


Feiner iſt die falſche Romantik nie abgetan worden: rieſelnder 
Staub, der nur dem Ohre des Schwärmers den Klang rieſelnden 


352 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Waſſers vortäuſcht und ihn ſchwelgen läßt, ohne wahren Genuß 
wie ohne wahres Verlangen, in lächerlicher, eingebildeter Natur⸗ 
begeiſterung. | 

Viel ſchwerer iſt der Sinn eines andern, ſehr ausgearbeiteten 
Bildes zu verſtehen, das, ähnlich der „Komödie der Liebe‘, etwas 
paradoxe Gedanken über Liebe und Ehe zu verkünden ſcheint: 


Verwicklungen 
Es ſtand im Garten ein Apfelbaum; 
Vor Blütenſchnee ſah man die Aſte kaum. 
Des Wegs kam ein Bienchen emſiglich; 
In ein Apfelblütchen verliebt es ſich. 
Sie verloren die Herzensruh dabei, 
Und da verlobten ſie ſich, die zwei. 
Weit fort flog das Bienchen; inzwiſchen ward 
Die Blüte ein Böllchen, grün und hart. 


Nun trauerte Bienchen und Böllchen litt ſehr! 
Aber zu tun war doch da nichts mehr. 


Dicht unter dem Baume lebt' in der Erd' 
Ein Mäuschen, arm aber ehrenwert. 


Das ſeufzte heimlich: Du Böllchen fein, 

Mein Loch wär der Himmel, wäreſt du mein! 
In die Ferne wieder nahm Bienchen die Flucht. 
Als es heimkam, war das Böllchen Frucht. 

Da trauerte Bienchen, die Frucht litt ſehr; 
Aber zu tun war doch da nichts mehr. 

Dicht unter der Dachtraufe, wirr und zerzauſt, 
Hing ein Vogelneſt, drin ein Sperling hauſt'. 
Der ſeufzte heimlich: Du Frucht ſo fein, 

Mein Neſt wär' der Himmel, wäreſt du mein! 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 353 


Und das Bienchen trauert’, die Frucht, die litt, 
Mit der Herzensqual Mäuschen und Sperling ſtritt. 


Doch alles im Stillen; ſie hehlten es ſehr; 
Denn zu tun war ja in der Sache nichts mehr. 


Da fiel die Frucht ab und zerſprang auf dem Fleck. 
Ach! ſeufzte das Mäuschen, fiel um und war weg. 


Und der Sperling ſtarb auch; — längſt verſchlief er den Gram, 
Als zu Weihnacht aufs Dach die Kornſtange kam. 


Da das Bienchen frei war, ſtand alles kahl; 
Der Sommer war fort und die Blüten zumal. 


Da ging's heim in den Korb, wo den Frieden es fand. 
Es verblich dann ſpäter als Wachsfabrikant. — 


Seht, all der Jammer blieb ihnen erſpart, 
Wenn das Bienchen zu rechter Zeit Mäuschen ward. 


Und alles ging gut und ſchön hinaus, 


Ward wieder rechtzeitig zum Sperling die Maus. 


(1862, 1871) 


Georg Brandes nennt das Gedicht das „witzigſte und weiſeſte“ 
unter allen, leider ohne uns ein erklärendes Wort zu gönnen. Es 
drängen ſich doch ſo mancherlei den Sinn verdunkelnde Zweifel und 
Bedenken auf. Blütchen verſchmäht offenbar alle Liebhaber außer 
dem erſten. Ganz dahingeſtellt nun, was ſeine Verwandlungen, 
auf Menſchliches übertragen, bedeuten mögen, — ſtimmen denn alle 
Umſtände, wenn man das Erzählte auch nur buchſtäblich nimmt? 
Mäuschen kann das Böllchen wohl nicht erreichen, warum aber 
ſollte der Sperling lange nach der Frucht ſchmachten? Über den 
Sperling bringt der Dichter auch ſchon in Falks Lied etwas be— 
fremdliche Theorien vor. Dort iſt vom Geſang des Sperlings die 
Rede und daß er ſich mit Blüten als „Sanglohn“ begnüge; hier 
wird dem Spatzen gar die Rolle des Ritters Toggenburg zugewieſen! 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 23 


354 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Ferner: was hätte es dem Bienchen geholfen, Maus zu werden, 
da Mäuschen ja auch nicht zum Ziele kommt? — und was hätte 
es Mäuschen genützt, Sperling zu werden, da der Sperling auch 
vor Gram ſtirbt? 0 

Statt die Gedichte, wie es bei den meiſten unſerer Lyriker 
immer üblich geweſen, nach Form oder Inhalt in Gruppen zu 
ſondern, mengt ſie Ibſen in möglichſt bunter Reihe ſo, daß oft 
gerade die verſchiedenartigſten Nachbarn werden. Unmittelbar vor 
den „Verwicklungen“ iſt die epiſche Dichtung eingeſchaltet, Terje 
Vigen, in 43 neunzeiligen Strophen. Eigentlich eine ſehr weit⸗ 
läufige Ballade in der Art etwa der ‚Vergeltung‘ von Annette 
von Droſte-Hülshoff, auch hier wie dort dieſelbe durch die Idee 
gebotene Zweiteilung. Aber hier eine Tat, pſychologiſch begründet, 
dort nur ein Vorgang — ein wenig im Geſchmacke der Kalender⸗ 
geſchichten. Annette erzählt von einem Paſſagier, der beim Schiff: 
bruch in roher Selbſtſucht einen armen Kranken vom rettenden 
Balken ins Meer ſchleudert, um ſich ſelbſt hinauf zu ſchwingen. 
Der Balken zeigt die Inſchrift „Batavia 510“. Seeräuber fiſchen 
den Paſſagier auf, und mit ihnen gefangen, wird er trotz aller 
Beteuerungen mit ihnen gehangen. Am Strand aus Treibholz iſt 
der Galgen errichtet, und da der unſchuldig Verurteilte kurz vor 
ſeinem Ende zu ihm aufblickt, lieſt er wieder daran: „Batavia 
510“. Ibſen erzählt von einem norwegiſchen Fiſcher, der im 
Kriegsjahr 1809, als engliſche Kreuzer alle Häfen ſcharf bewachten 
und Hungersnot herrſchte, in einem Boote, drei Tage und drei 
Nächte rudernd, Lebensmittel für Weib und Kind übers Meer holte, 
aber ganz nahe der Küſte von einem feindlichen Schiffe angehalten 
und in Gefangenſchaft geſchleppt wurde. Erſt 1814, beim Friedens⸗ 
ſchluß freigelaſſen, findet er nur mehr das Grab der Seinen und 
ſiedelt ſich finſter und halb verſtört auf der äußerſten nackten Inſel 
an, als Lotſe ſeinen Unterhalt verdienend. Da, nach Jahren, wird 
er im Unwetter von einer gefährdeten engliſchen Jacht zu Hilfe 
gerufen. Schiffsherr iſt derſelbe Lord, der einſt als Befehlshaber 
jener Korvette hart blieb gegen Terjes Bitten und ſeine Tränen 


—ů — — — — . Ce 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 355 


verhöhnte. Sobald ihn der Alte in ſeiner Gewalt hat, ihn und 
die feine Lady und ihr zartes Kind, ſtößt er mit dem Ruder ein 
Loch in das Rettungsboot, ſo daß es Waſſer ſchöpft bis an den 
Rand, und allen der Untergang nahe iſt. Aber die Mutter hebt 
ihr Kind empor mit einem Schrei, der dem Alten ans Herz greift 
wie eine Erinnerung. Raſch beidrehend läßt er das Boot auf dem⸗ 
ſelben Riffe, zwei Fuß unter Waſſer, aufprallen, auf dem damals 
ſein Fahrzeug mit den drei Tonnen Buchweizen verſenkt worden, 
und gibt ſich dem Lord zu erkennen. Nun beugt der Stolze das 
Knie vor ihm. 


Doch Terje, geſtützt auf des Ruders Schaft, 
Reckt ſich hoch, wie er ehedem war; 
Sein Auge flammt in unbändiger Kraft, 
Im Winde flattert ſein Haar. 
„Auf ſtolzer Korvette fuhrſt du einher, 
In einem geringen Boot 
Für die Meinen wagt' ich mich übers Meer; 
Du nahmſt ihr Brot und es fiel dir nicht ſchwer, 
Mich zu höhnen in meiner Not. 


Deine reiche Lady iſt licht und zart, 
Ihre Hand wie Seide ſo fein; 
Meines Weibes Hand war grob und hart, 
Doch war ſie nun einmal mein. 
Dein Kind hat Goldhaar und Augen blau, 
Iſt hold wie nur Engel ſind, 
Meine Tochter — das Leben war ſtreng und rauh — 
Sie blieb, Gott beſſer' es, mager und grau 
Wie armer Leute Kind. 


Sieh, das war mein Reichtum auf dieſer Welt, 
War alles, was Gott mir beſchert; 
Doch galt mir's höher als Gut und Geld, 


Dir ſchien es der Rede nicht wert. 
235 


356 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Nun koſte du, wie mir zumute war, 

Nun ſchlägt der Vergeltung Stund'! 

Aufwiegen ſoll ſie manch langes Jahr, 

Das den Nacken mir beugte und bleichte mein Haar 
Und ſenkte mein Glück auf den Grund. 


Von dem Riff bis zur Küſte iſt ſeichtes Waſſer, und ſie ſind 
in Wirklichkeit außer Gefahr; doch die Strafe ſoll dem Zerſtörer 
ſeines Glückes nicht erſpart werden. So viel verlangt das elemen⸗ 
tare Rechtsgefühl, ſo viel darf es nach großmütig aufgegebener 
Rache verlangen, wenn das einfache Gemüt von den jahrelang 
quälenden Zweifeln an der Weltordnung geneſen ſoll. Die Frau 
und das Kind umſchlingend, droht Terje: Ein Schritt — und 
beide ſind verloren! Der Brite will kämpfen, die Seinigen an ſich 
reißen — das Entſetzen lähmt ihm die Arme —, ſein Haar wird 
grau in der einzigen Schreckensnacht. Terje aber atmet wieder 
ruhig und frei wie aus einem Gefängnis erlöſt, ſeine Stirne iſt 
klar und ſeine Stimme ruhig. Bisher tobte ſein Blut wie ein 
Strom über Felſen; jetzt iſt er wieder er ſelbſt; er mußte, mußte 
Vergeltung haben! Sobald es Tag wird, gewinnen ſie den Strand. 
Ehrerbietig ſetzt der Lotſe das Kind nieder und küßt ihm die 
Händchen. „Wir zwei ſind quitt“, ſpricht er zu dem Fremden, 
„und glaubſt du, du habeſt Unrecht erlitten, dann wende dich an 
unſern Herrgott, der mich ſo erſchaffen hat.“ 

Trotz der mancherlei ſchönen Einzelheiten mutet uns das Ganze 
etwas altmodiſch-deklamatoriſch an. Die geräumige Strophe will 
gefüllt ſein, und ſo verbraucht zuweilen der Erzähler, zuweilen 
Terje, beſonders um den Dreireim zu ermöglichen, mehr und 
ſchönere Worte, als der heutige Geſchmack erlaubt. 

Gerade in dieſem Punkte ſticht davon ab die wertvolle lyriſche 
Gedichtreihe aus demſelben Jahre 1860: Auf dem Hoch— 
gebirge, deren Inhalt ſchon im fünften Kapitel (S. 104) ſkiz⸗ 
ziert wurde. Hier nun, bei aller Schwierigkeit der Reimſtellung, 
eine durchaus modern-⸗xealiſtiſche Sprache, eine unverzagte, ſelbſt⸗ 


7FFF ee ee 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 357 


ſichere Ausdrucksweiſe, die jedes Ding mit ſeinem gewöhnlichen 
Namen bezeichnet, nichts umſchreibt und vermeidet. Der Schütze 
rundet die Hand zum „Perſpektive“ und beſchaut ſo die aus 
Mondlicht und dem Widerſchein des Brandes „zuſammengeſetzte 
Nachtbeleuchtung“ u. a. m. Trotzdem werden wir im Genuſſe nicht 
behindert, weil der Grundton Ironie iſt, aber eine energiſch empor⸗ 
drängende, ſelbſt das Unedle mit emporreißende. Neben Terje 
Vigen“ bezeugt auch dies Hochgebirgslied, gleich jenem von 1859, 
wie ſich damals das Neue mit dem Alten in Ibſens poetiſcher 
Welt um den Vorrang ſtritt, bis die „Komödie der Liebe“ den 
Kampf entſchied. 


Faſt die Hälfte, in der Ausgabe letzter Hand 28 von 64 
Nummern, ſind Gelegenheitsgedichte. Bei ſolchen kommt es darauf 
an, ob die Gelegenheit des Poeten Schiff erfaßt wie eine günſtige 
Briſe, ihm die Segel bläht, daß es leicht und frei hinausgleitet auf 
die offene See mit ihrem unbegrenzten Geſichtskreis. Denn iſt das 
nicht, muß der Dichter, der keinen treibenden Hauch verſpürt, die 
Gelegenheit zum Vorſpann nehmen und ſein unbewegliches Fahr⸗ 
zeug von ihr ſchleppen laſſen, ſo wird die träge Fahrt immer nur 
am Ufer entlang gehen, auf den Kanälen des Alltäglichen dahin. 
Von ſo gewollter Poeſie enthält Ibſens Büchlein nur wenig; 
das meiſte wird bereitwillige Teilnahme und Gefolgſchaft für ſich 
werben, indem es, vom Beſonderen bloß die Richtung empfangend, 
uns weit darüber hinausträgt. Einige ſogar, des Zufälligen ganz 
entledigt, find erſt durch den Bibliographen als Gelegenheits⸗ 
gedichte kenntlich geworden. 

Unter denen, die Perſonen, lebenden oder verſtorbenen, ge— 
widmet ſind, ſtehen, der Zeit nach, zwei an König Oskar I. oben 
an. Das eine verſicherte in herzlichen Worten den todkranken 
Fürſten Am vierten Juli 1859, feinem letzten Geburtstage, 
der Liebe des norwegiſchen Volkes; das andere, VolEstrauer‘, 
wurde am Begräbnistage (dem 8. Auguſt) der Herold des unge 
heuchelten Schmerzes zweier Reiche. 


’ 


358 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


In Schmerzensnächten lange ſchon 
Mit ſeinem König litt 
Das Volk: nun iſt verwaiſt der Thron, 
Und der ſo treulich ſtritt, 
Wir geben ihm zur Gruft Geleit. 
Ihn mähte hin der Tod; 
Doch die er ins Gefild der Zeit 
Geſenkt, die Saat, wird blühen weit, 
Vom Schnitter nie bedroht. 


In zwei ſpäteren Gedichten auf fürſtliche Perſönlichkeiten er⸗ 
tönt, hell und ſchmetternd wie Fanfaren, ein leidenſchaftliches: Hie 
Dänemark! Des Dänenkönigs „Friedrichs VII. Gedächt⸗ 
nis“ feiert ein 1864 dem Studentenverein zugeeigneter Trutzgeſang, 
der dem däniſchen Landſoldaten den Sieg weisſagt über „Deutſche, 
Slaven und Kroaten“ (in der Sammlung: „Slaven, Wenden 
und Kroaten“), und vierzehn Strophen, betitelt ‚Ohne Namen‘, 
geſendet „an den Ritterlichſten“, d. h. den König Karl XV. von 
Schweden und Norwegen, ſollen deſſen Verhalten während des 
Krieges rechtfertigen. Als einen Mann, der ſtumm auf die Tat 
verzichten mußte, zu der er berufen ſchien, redet ihn der Dichter 
mitempfindend an: „Ich verſtehe, wie das Schwert brennt in den 
gefeſſelten Händen, — und die da ſagen, daß hier nur Träume 
geopfert wurden, ſie wiſſen nicht, was Träume ſind. Mehr als 
das Leben iſt ein Traum, der ſich nicht durchringt zum Leben. 
Er iſt wie ein Gedicht, das ich zurückzwinge in der Seele ver⸗ 
ſperrte Kammern, das da löwenwild wider ſein Gefängnis wütet 
und Tag und Nacht von mir fordert das Befreiungswort: 
Werde!“ 


„Ohne Namen‘, wie die Verſe auf Karl XV., find die auf 
den Tod des ſcharfen Kritikers der ‚Nordiſchen Heerfahrt‘, J. L. 
Heiberg, denn ſie könnten wohl nach dem Tode jedes bedeutenden 
Mannes gerichtet werden an — 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 359 


An die Überlebenden 
Nun iſt Lob in aller Munde, 
Weil er fühllos ſchläft im Grunde. 


Der ein Licht entfacht' im Lande, 
Ihr brandmarktet ihn mit Schande. 


Der ein Schwert euch lehrte ſchwingen, 
Ihr ließt es ins Herz ihm dringen. 


Tückiſch eure Lügengilden 
Drückten tot ihn zwiſchen Schilden. 


Was ſein Mut euch half erwerben, 
Ehrt es nun als teue Erben, 


Daß der Häuptling ruh' verſöhnet, 
Den mit Dornen ihr gekrönet. 

Nicht ſo allgemein gültig, aber dichteriſch gehaltreich iſt das 
Studenten⸗Chorlied zum Jubiläum des Profeſſors Schweigard, 
ebenfalls von 1860. Ein Bauernvolk auf karger, widerſtändiger 
Scholle, haben die Norweger für alles, was mit „dem kleinen Krieg 
des Bauern“ um neuen Ackerboden zuſammenhängt, kurze, treffende 
Bezeichnungen. Deſto reizvoller war es, dem verdienten Lehrer Lob 
und Dank in eine einzige, der harten Feldarbeit entlehnte Metapher 
zu ſammeln. Wie ein Stück friſch urbar gemachten Landes (im 
Texte ein Wort: nybyg) lag Norwegen in den dichten Wäldern; 
der Sonne bedurfte es vor allem, ſich zu baden im Glanze des 
Tages. Da zog eine Reihe wackrer Männer aus, mit blankem 
Beil zu reuten und das Dunkel zu lichten: rydningsmæend (Reute⸗ 
männer) im Reiche des Geiſtes — uſw. Überhaupt waren 
Ibſen für das Werk der Erziehung Sinnbilder willkommen, die es 
ſolcher Tätigkeit im Freien gleichſtellen und betonen, daß ohne 
Luft und Licht hier wie dort vergebens geſät, gepflanzt und gehegt 
werde. In feinem Feſtgeſange Das Schulhaus“, zur Ein⸗ 
weihung der Latein⸗ und Realſchule in Lillehammer (1858), predigt 
er nach dem Herzen aller echten Pädagogen: 


360 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Nie von des Lebens Lenznatur 
Getrennt ſei der Gedanke, — 
Und Dach und Mauer erhebe ſich nur 
Als Schutz, doch nicht als Schranke! 


Unter den übrigen Verſen an berühmte Perſonen fällt noch 
der bündige Spruch auf: ‚Einem Komponiſten ins 
Stammbuch“. Der Empfänger war Eduard Grieg und der 
Schreibende — das verrät nicht bloß die Jahreszahl 1866 — 
arbeitete damals am ‚Peer Gynt‘. Orpheus, jagt er mit dem be⸗ 
kannten grimmigen Humor, ſpielte Feuer in die Steine und Geiſt 
in die wilden Tiere. Nun, Steine haben wir in Norwegen genug 
und Beſtien die ſchwere Menge. Spiele, daß die Steine Funken 
ſprühen, ſpiele, daß die Tierhäute berſten! i 


Was man unter die Überſchrift ‚Gefellige Lieder“ einordnen 
müßte, ſind Gaben für Sängerfeſte und gemeinſkandinaviſche Stu⸗ 
dentenzuſammenkünfte, bei denen gleicherweiſe der Kunſtgeſang, von 
der akademiſchen Jugend des Nordens mit bewunderungswürdigem 
Eifer und Erfolge gepflegt, den ſchönſten Teil der Feier bildet. 

‚Preiſet die Frauen‘ hebt eine ſchwungvolle Huldigung 
unſeres damals ſeit Jahresfriſt vermählten Dichters an, die 1859 
auf dem Balle des Sängerfeſtes zu Arendal vorgetragen wurde. 
„Sehnſucht nach dem Lichte allüberall: im knoſpenden Laub, im 
Geſange der Vögel, in unſerer ſchwellenden Bruſt.“ Und woher 
die Sehnſucht? „Hoch im lockenden Lande des Lichtes iſt der Frauen 
Heim! Sie ſenken uns des Liedes Keime ins Herz; zu ihnen ſendet 
die vollaufgeblühten Lieder empor. Geprieſen ſeien die Frauen! 
Sie ſind der ſchönſte Tagesglanz in des Sängers Frühling!“ 

Zwiſchen dieſem und dem folgenden Chorliede, gedichtet auf 
der Fahrt zum Sängerfeſt in Bergen, Juni 1863, liegen die trau⸗ 
rigen, im ſechſten Kapitel erwähnten Jahre. Aber kein Nachhall 
trüber Zeit durchbebt die jubelnden Strophen des Geneſenen, nur 
reine Jugendluſt, Hoffnung und froher Schaffensdrang. 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 361 


Sängerfahrt 
Hinrauſcht unſer Schiff durch die Wellen, 
Durch der Inſeln ſich öffnende Reihn, 
In den Sonntagsmorgen, den hellen, 
Mit wehenden Wimpeln hinein. 


Der Jugend Geſang am Borde, 
Jubel aus Herz und Mund, 
Rauſcht mächtig über die Fjorde, 
Hallt wider von Sund zu Sund. 


Hörner und Tuben dringen 
Schmetternd vom Steven ins Land. 
Die Kirchenglocken klingen, — 
Doch ſäumet der Fiſcher am Strand. 


Er hört nicht der Glocken Geläute, 
Vergißt fein Pſalmenbuch, | 
Auf dem Kirchenpfad ſäumet er heute, 
Zu lauſchen dem Sängerzug. 


Glaubet mir, wie er dort ſitzet 
Und ſtaunet und ſtarret hinaus 
Übers Meer, das tönet und blitzet, 
Er weilet in Gottes Haus. 


Er weiß nicht, was uns beweget, 
Was ſolche Fahrt uns gilt, 
Doch ſein ruhiges Blut auch erreget 
Der Mut, der im Herzen uns ſchwillt. 


Auf der äußerſten Felſenſpitze 
Nun ſteht er, umſchäumt von der Flut; 
Und der Sänger ſchwinget die Mütze, 
Und der Fiſcher lüftet den Hut. 

Wir gleiten im Morgenhauche 

Vorüber den kahlen Höhn; 


362 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Still blickt er dem ſchweifenden Rauche 
Nach, ſoweit er kann ſehn. 


Wir fliegen mit flatternden Fahnen, 
Wir ſingen uns vogelfrei; 
Dem Mann in der Bucht muß es ahnen: 
Nun ſtrich etwas Großes vorbei. 


Wir eilen zum ſtrahlenden Feſte 
Im Saale voll Blumen und Licht; 
Er kennt keine anderen Gäſte 
Als den Ernſt und die harte Pflicht. 


Doch laſſet euch nimmer betrüben, 
Daß wir ſtörten den Kirchengang; 
Gewiß iſt dem Armen geblieben 
Ein Abglanz von Schimmer und Sang. 


So ſollen wir Brüder, wir Jungen, 
Auf der feſtlichen Lebensfahrt 
Laut künden mit weckenden Zungen, 
Was zu künden gegeben uns ward. 


Kein Winkel ſo ſtumm — es muß klingen, 


Nachklingen in Buchten und Au'n! 
Wir ſind wie die Vögel, die ſingen, 
Saatkörner in Schnabel und Klau'n. 


Wohin wir die Schwingen auch wenden, 


Über Höhen, wie längs dem Fjord, 
Der ſehnenden Erde wir ſpenden 


Ein Körnlein, das treibet ſo fort. 


In jenen Jahren hatten Sängerfeſte, auf denen die nordiſchen 
Völker ſich ſtets von neuem verbrüderten, auch große nationale 
Bedeutung. Ibſen weiht noch 1875 im ‚Sängergruß an 
Schweden‘ den Brudergefühlen überzeugte und, wie er hoffte, 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 363 


überzeugende Gelöbniſſe. Keine Grenzmauer dürfe die beiden Na⸗ 
tionen trennen, und wenn von alters her jede für ſich nur als 
Halbchor geſungen — unter den Palmen von Jeruſalem und im 
Sunde Bretlands, vor Narva und auf dem Schlachtfeld von 
Lützen —, ſo wollten ſie künftig bei⸗ und füreinander ſtehen, den 
neuen Forderungen einer neuen Zeit zu genügen. Indes ganz 
andere Forderungen, als der Mahner zur Einigung gedacht, wur⸗ 
den mittlerweile in ſeinem Vaterlande laut, und die Grenz⸗ 
mauer gegen Schweden, höher als je, war vielen noch nicht 
hoch genug. 

Eine beſondere Vorliebe hat Ibſen für die jedem Spiel der 
Laune und des Witzes ſo viel Freiheit verſtattende Form des Reim⸗ 
briefes. Seine sermones repentes per humum ſind nicht, wie 
die weltmänniſch abgeſchliffenen Epiſteln des Horaz oder die ſchalk⸗ 
haft⸗gemütvoll plaudernden Goethes, alle in demſelben Tone ge⸗ 
halten — er wechſelt je nach dem Gegenſtand die Sprechweiſe und 
vermannigfaltigt die Versmaße. Aber ſämtliche bis auf einen ſind 
ſie polemiſchen und ſatiriſchen Charakters und zwar, was ſie nicht 
veralten läßt, von jener Polemik und Satire, die den Briefſchreiber 
kennzeichnet und Schlüſſe gewährt auf die innere Verfaſſung eines 
Reiches, an deſſen Grenze ſonſt über die Botſchaften an die Außen⸗ 
welt ſtrengſte, jedes zu deutliche Bekenntnis unterdrückende Zenſur 
geübt wird. 

Kecken, ſchlagfertigen Mut im Kampfe für die aufſtrebende 
norwegiſche Nationalbühne bezeugt der erſte, ein „Offener 
Brief an den Dichter Hans Orn Blom“ November 
1859. Ein däniſcher Schauſpieler des Chriſtiania-Theaters mußte 
den beſtändigen Angriffen der Jungen endlich weichen — zum 
Arger und Entſetzen der „ausländiſch“ Geſinnten, der Blom und 
Munch und wie die heute vergeſſenen Dichtergrößen alle hießen. 
Blom orakelte metriſch im Abendblatt, für das Theater ſei der Tag 
des Untergangs, die Götterdämmerung hereingebrochen. Ibſen er: 
widerte mit übermütigem Spotte: Wo iſt euer Thor, der ſtarke, 
der Freja heimholt zur Freude des Nordens, wo iſt Freyer, wo iſt 


364 X, Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Balder? Der verjüngende Iduns-Apfel fehlt euren Göttern, — 
erſchöpft ſinken ſie hin. Das aber wiſſet: 


Um einen Gott, der ſchlummert, iſt's geſchehen; 
Nichts kann ihn retten, er muß untergehen! 


In gewiſſem Sinne als ein Gegenſtück zu dieſen Stanzen er⸗ 
ſcheint der umfängliche Reimbrief an Frau Heiberg‘ 
(1871), der Hymnus des größten ſkandinaviſchen Dramatikers auf 
die größte ſkandinaviſche Schauſpielerin, die „Schöpferin“ auch 
ſeines „Szenenglückes“. „Seltſam mit Dänemark verbunden“ 
ſteht ſie allzeit vor ſeinem Auge, verbunden mit einem jener luſt⸗ 
reichen Feiertage am Sunde, wenn die ganze Hauptſtadt hinaus⸗ 
ſtrömt „unter die hohen Buchenwipfel“, wenn weithin, von Kron⸗ 
borg bis hinab zu den „Drei Kronen“ im Süden, leuchtende, 
ſchwellende Segel die leicht gekräuſelte Flut bedecken. Jede der 
ſchlanken Jachten — die ja meiſt Frauennamen führen — hat in 
Bau und Bewegung ihr eigenes Weſen, und wie ſie dem Dichter 
vorſchweben, ruhig und träumeriſch oder anmutig keck und lau⸗ 
niſch wild, und ihn an Frau Heibergs fein charakteriſierte Geſtalten 
erinnern, tauft er ſie um nach ihren berühmteſten Rollen: „Ag⸗ 
nete“ und „Dina“ und „Jolanthe“ und „Ragnhild“ und „Ophe⸗ 
lia“. Ein artiger Vergleich, um mit Goethe zu ſprechen, — und 
er wird von dem ſelbſt verwegen dahinſegelnden Dichter fo zier- 
lich und geſchickt zwiſchen allen Fährniſſen des kühnen Gedankens 
und des ſchwierigen Versmaßes hindurch geſteuert, daß er nirgend 
an eine Klippe ſtößt und auch nirgend auf den Sand läuft! 

Über den Ballonbrief an eine ſchwediſche Dame‘, 
ſoweit er politiſchen und tendenziöſen Inhalts, ſei es an den Er⸗ 
läuterungen des neunten Kapitels genug. Anziehender auch als ver⸗ 
ſtaubter Groll und das Schießen mit hölzernen Pfeilen nach einem 
Gewappneten iſt des Dichters Fahrt ins Land der Pharaonen und 
ſein Eindruck vom alten Agypten. Er hatte ſich 1869 ſchon mehrere 
Monate in Stockholm verweilt, um die Muſeen und Kunſtſamm⸗ 
lungen und vorzüglich um das ſchwediſche Unterrichtsweſen kennen 


N re ch 


ee SER, 


Me Eu 0 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 365 


zu lernen, „deſſen Standpunkt und Grundſätze und deſſen ganzen 
inneren und äußeren Zuſammenhang mit des Volkes eigentüm⸗ 
lichem Charakter und ſeiner Geſchichte“, da erging an ihn, wie an 
fo vieke europäiſche Schriftſteller von Ruf, die amtliche Einladung 
zur Eröffnung des Suez⸗Kanales. Obwohl er das Studium der 
ſchwediſchen Verhältniſſe noch nicht beendet hatte, betrachtete er es 
doch „als unverantwortlich und unvereinbar mit dem Grundplan 
für feinen langen Aufenthalt im Auslande, eine ſolche nie wieder— 
kommende Gelegenheit zur Belehrung unbenützt verſtreichen zu 
laſſen“. Über Dresden begab er ſich nach Paris, wo die geehrteſten 
Gäſte des Vizekönigs zuſammentrafen. Am 9. Oktober ſchiffte ſich 
dieſe internationale Reiſegeſellſchaft auf dem Paketboote „Möris“ 
in Marſeille nach Agypten ein. Noch vor der Feier wurde dort 
unter Führung des Agyptologen Mariette-Bey, des Direktors der 
nationalen Kunſtſchätze, ein dreiundzwanzigtägiger Ausflug nilauf⸗ 
wärts und noch eine Strecke weit in die nubiſchen Bezirke unter⸗ 
nommen. Von dieſem Ausflug erzählt der Ballonbrief. 


Luxor, Dendera, Sakkara 
Edfu, Aſſuan und Phile 
Und noch manchem Reiſeziele 
Wollen wir vorübereilen, 
Und zunächſt uns nur verweilen 
Bei Betrachtung der Sahara. 


Sicher haben ſie vernommen, 
Was die Karawanen ſchauen, 
Wenn des Samums mächt'ger Flügel 
Meilenweit des Sandes Hügel 
Fortträgt, daß zutage kommen 
Grab⸗Stilleben voller Grauen. 


Vorwärts waten ſie gelaſſen 
Durch die endlos öden Gaſſen, 
Wo die lebende Natur 
Mit dem Tode ſich vereinte, 


366 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Sich im Lauf der Zeit verſteinte 
Unterm Sonnenbrande zur 
Schaurigſten Architektur. 


Rippen, Rückenwirbel, Knochen 
Stehn wie Säulen abgebrochen; 
Braune Schädel von Kamelen 
Liegen da gleich Kapitälen; 
Grinſend gelber Zähne Reihen — 
Zackenkränze von Baſteien; 

Finger, die ſich aufwärts recken, — 
Zierat vom Geſims der Decken; 
Wie zerfreſſne Reiterfahnen 
Wehen Fetzen von Kaftanen. 


Denken Sie ſich nun das Ganze, 
Zitternd ſo im Sonnenglanze, 
In der Wüſte tiefem Schweigen, 
Sich erhöhen, wachſen, ſteigen —; 
Denken Sie ſich zu Ruinen 
Jäh verſteint auf ſandigem Plane 
Einer Urzeit Karawane — 
Und Agypten liegt vor Ihnen. 


Ja, ſo iſt's. Aufbrach ein Zug 
In der Zeiten Morgenſtunde; 
Voran Prieſter mit dem Buch 
Hieroglyphiſch dunkler Kunde; 
Götter, Könige durch die Weiten 
Der Jahrtauſende hinreiten; — 
Hoch von ihrer Tiere Rücken 
Iſis und Oſiris nicken, 
Schwankend auf den Sattelthronen; 
Mitten in den Scharen ſchreiten 
Horus, Hathor, Thme und Ptah, 


r 


r 


. nn RE SR a DARK 
„55 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


367 


Amon Re und Amon Ra, 

Werfen Glanz nach allen Seiten; 
Apis, reich mit Gold verziert, 
Wird den Strom entlang geführt, 
Sklaven folgen, Millionen, 

Und, wo ſie ihr Lager ſchlagen, 
Reihn ſich Sphinxen und Pylonen. 
Über Grab und Walſtatt ragen 
Obelisken auf und ſchildern, 

Was geſchehen, ſtumm in Bildern; 
Tauſend Säulentempel faſſen 

Ein der Karawane Gaſſen; 
Tauſend rings im Kreis geſtellte 
Pyramiden ſind die Zelte, 

Die ſie hinter ſich gelaſſen. 


Sieh, da kam ein Hauch von Norden, 
Der, auf ſandigem Ozeane 
Unverſehns zum Sturm geworden, 
Fegte weg die Karawane. 

Prieſter ſtürzten, Könige bebten, 
Götter ſanken in die Nacht; — 
Des Vergeſſens Sand begräbt den 
Pharao und ſeine Macht. 

Wo im Zug ſie vorwärts ſtrebten, 
Stumm und ſtarr dahingeſtreckt! 
Tauſend Jahre dann verdeckt, 
Mumien gleich in Sarkophagen, 
Nach und nach zerbröckelnd nur, 
Lag, verurteilt und geſchlagen, 
So die älteſte Kultur. 


Dieſes Zugs gewalt'ge Reſte 
Sahn wir, des Khediven Gäſte, 
Als wir hin nach Nubien zogen 


368 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Sahn die Fellahs unermüdlich 
Bei Abydos mit dem Sand 
Ringen, mit der Wüſte Wogen, 
Um ein Stückchen Ackerland. 
Sahn ein wenig weiter ſüdlich 
Karnaks Säulen abgebrochen, 
Einer Urzeit Rieſenknochen; 
Umgeſtürzte Kapitäle 
Gleich den Schädeln der Kamele; 
Hundert Arme noch im Falle 
Reckt gen Himmel Luxors Halle. 
Alſo von des Sturmes Wettern 
Zeuget in gigant'ſchen Lettern, 
Hingeſtreut zur Mahnung, nun die 
Schrift: Sic transit gloria mundi! 


Dieſes Bild — und nie mit blaſſern 
Farben — folgt mir, wo ich bin; 
Wie der Geiſt ſchwebt ob den Waſſern, 
Ahnt' ich den verborgnen Sinn. 

Thor als wilder Jäger doch 
Brauſt einher mit Horngeſchmetter; 
Griechenlands gefallne Götter 
Leben heutigen Tages noch. 
Zeus wohnt auf dem Kapitole, 
Hier als tonans, dort als stator, 
Doch Ägyptens Tier-Idole? 
Wo iſt Horus, wo iſt Hathor? 
Ihrer Herrſchaft Ruhmestage 
Kündet nicht die kleinſte Sage. 


Und die Antwort liegt nicht weit. 
Mangelt die Perſönlichkeit, 
Birgt die Form nicht Lebensglut, 


e 


2 r 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 369 


Haß und Harm und Luſt und Lieben, 
Schwillt in Adern nicht das Blut, 
Muß die ganze Herrlichkeit 

Bald vermodern und zerſtieben. 
Wahr iſt Juno und lebendig, 

Eilt ſie hin in Zornes Wut, 

Den Gemahl zu überraſchen; 

Mars ein Mann, wenn er unbändig 
Zerret an des Netzes Maſchen. 

Doch Agyptens Götter? — Gleichen 
Sie nicht Zahlen bloß und Zeichen? 
Was war ihr Beruf im Leben? 
Weiter nichts als dazuſein, 

Starr und ſteif zu ſitzen neben 
Dem Altar in ihrem Schrein. 
Sperberkopf und Straußenfeder 
Waren Sinnbild ihrer Macht; 
Götter gab's für Tag und Nacht, 
Amt und Ehren hatte jeder, — 
Keiner den Beruf zu leben 

Und zu ſündigen gleich uns allen 
Und aus Schuld ſich zu erheben. 
Darum mußt ihr Reich zerfallen, 
Darum nun in ſeinen Krypten 
Namenlos verweſt Agypten. 


‚Ein Reimbrief' ohne weitere Überſchrift (1875) beant⸗ 
wortet die Frage eines „lieben Freundes“ (Georg Brandes), die „be⸗ 
kümmerte“ Frage, warum alle Welt ſo ſeltſam beklommen wie über 
einer unklaren Furcht brütend einherſchleiche und, weder von Freude 
noch von Sorge mehr befeuert, des Schickſals Gunſt oder Tücke mit 
derſelben ſchlaffen Ruhe dahinnehme? Erſt weigert ſich der Dichter: 


Ich löſe keine Rätſel, Freund, denn eben 
Fragen iſt mein Beruf, nicht Antwort geben! 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 24 


370 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Doch aus Höflichkeit will er, wenn nur nichts Beſtimmtes ver⸗ 

langt werde, „ſo geradehin“ antworten — mit einem Gleichnis. 
An Bord eines Schiffes ſenkt ſich oft, die heiterſte Stimmung 

ſtörend, eine ſeltſame Schwere und Schwüle auf die Gemüter, erſt 


einen und den andern, zuletzt alle Mannſchaften und Mitreiſenden 


erfaſſend. Jede Hantierung wird träge verrichtet, jedes kleine Er⸗ 
eignis, der Schrei eines Sturmvogels, das Umſchlagen des Windes, 
mißmutig gedeutet. Was iſt geſchehen, was lähmt ihnen Sinn und 
Willen, Arm und Wort? Ein Gerücht, ein heimlich-unaufhalt⸗ 
ſames: ſie glauben, eine Leiche ſei an Bord. 

Und ſehen Sie, lieber Freund, nicht anders ſteht es um 
Europas Dampf⸗Paketboot, wo wir beide, Sie und ich, uns einen 
Platz auf dem Hinterdeck geſichert haben. Man iſt in See geſtochen 
mit neuem Kurs nach einem neuen Strande, und nun mittewegs 
zwiſchen der alten Heimat und dem erſehnten Ziele, dieſelbe un⸗ 
erklärliche Verdüſterung bei allen! 

Eines Nachts ſaß ich auf dem kühlen Verdeck, die andern 
waren ſchon unten. Durch eine offene Luke blickte ich hinab in 
die Kajüte. Da lagen die Schiffsgäſte in der qualvollen Hitze, 
von den trüb brennenden Lampen beleuchtet, in friedloſem Schlum⸗ 
mer: hier ein Staatsmann, deſſen Mund zu lächeln verſuchte, aber 
es wurde eine Grimaſſe; dort ein Gelehrter, der ſich herumwälzte, 
uneins mit ſeinem eigenen Wiſſen; hier zog ein Theologe die Decke 
übers Geſicht, dort vergrub ſich ein anderer in die Kiſſen; und 
überall lagen Künſtler und Schriftſteller in demſelben unruhigen 
Halbſchlummer⸗Leben, wie von bangen Träumen geängſtigt. 


Ich wandte meinen Blick hinweg — empor! 
Ich ſtarrte vorwärts in die friſche Nacht, 
Gen Oſten, wo das erſte Dämmern ſacht 
Der Sterne Glanz umwob mit lichtem Flor. 


Da traf von der Kajüte her ein Wort, 
Wo ich am Maſt gelehnt ſaß, an mein Ohr. 
Es ſagte einer laut, mir ſchien es, mitten 


1 
= NE: 


X, Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 371 


Im ungeſunden Schlaf, vom Alp geritten: 
Wir haben eine Leiche hier an Bord. 


Den Reimbriefen ſeien, als der Form nach mit ihnen verwandt, 
die zwei radikalſten Gedichte angereiht, die Ibſen je geſchrieben 
hat: nämlich Abraham Lincolns Mord (1865), eine ſehr 
aufrichtige Zirkularnote an die Großmächte, und das nicht minder 
kräftige Handbillett: An meinen Freund den Revo⸗ 
lutionsredner‘ (1869). Die beiden ergänzen ſich auch, indem 
dieſes mittelbar durch den beißendſten Spott auf revolutionäre 
Worthelden die Geſinnung erhärtet, die jenes in flammender Ent⸗ 
rüſtung unmittelbar bekundet. 

Ibſens nie erſchütterte Ruhe im perſönlichen Umgang, ſeine 
gedämpfte, nur hier und da leicht ſarkaſtiſche Sprechweiſe verbargen 
das Feuer und die Streitluſt, die er, nur durch ſeine Werke, nicht 
in Perſon zu kämpfen gewohnt, für die Stunde der Tat unver: 
ſpendet bewahren wollte. Und ſo war er von je. „Man ſieht es 
ihm nicht an, was er für eine Brandrakete iſt,“ beſtätigte auch 
Julius Lange, der gerade um die Zeit, als der „Revolutionsredner“ 
entſtand, in Dresden mit ihm verkehrte. 

Es iſt der über Dänemarks Niederlage erbitterte Skandinave, 
der nach Lincolns Ermordung dem „alten Europa“ höhniſch zu⸗ 
ruft: Warum wirſt du ſo wunderlich bleich bei des einen Schuſſes 
Widerhall da drüben im Weſten? 


Die rote Roſe, erblüht überm Meer, 
Die mit Purpurſchein ſchrecket die Welt, 
Dazu gab Europa den Schößling her 
Und der Weſten das üppige Feld. 
Ihr pflanztet den wuchernden Trieb in das Land, 
Der jählings nun ſtört eure Luſt, 
Ihr ſchlanget mit höchſteigener Hand 
Des Martyriums blutrotes Ritterband 
Um Abraham Lincolns Bruſt. 


Und in immer neuen Bildern ſchleudert der Strafredner ſeinen 
24% 


372 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Haß und ſeine Verachtung den ruchloſen, zur Unterdrückung der 
ſchwächeren Länder verbündeten Staaten entgegen. Mit gebro⸗ 
chenen Eiden und vergeſſenen Gelöbniſſen, mit den Fetzen zer⸗ 
riſſener Verträge habt ihr den Acker der Zeit gedüngt. Nun keimt 
eure Saat: — blitzende Stilette ſtatt der Friedensähren! Aber 
wo das Geſetz auf der Degenſpitze ſchwebt und das Recht ſeinen 
Sitz auf dem Galgen hat, iſt der Sieg eines neuen Tages nahe. 
Erſt muß der Wurm die Schale vollends höhlen, ehe ſie bricht, erſt 
muß die Zeit ihr Geſicht zur eigenen Karikatur verzerren: dann 
kommt der Rache ewig waltende Macht und hält Gericht an der 
Zeitlüge jüngſtem Tag! 

Der rhetoriſche Schwung der Verſe gemahnt an die „Gedichte 
eines Lebendigen! Doch Herweghs Leidenſchaft iſt deklamatori⸗ 
ſcher, ſeine Form nicht ſo bis zum Rande, bis zum Überquellen 
mit Entrüſtung gefüllt wie dieſe. Da zählten denn die Umſturz⸗ 
luſtigen den nordiſchen Kämpen, der ſo in ihrer Zunge redete und 


des Schwächeren Partei ergriff, nur weil er der Schwächere war, 


zu den ihrigen und ſchalten ihn, als er ſpäter in gemäßigterem 
Tone fortfuhr, einen Abtrünnigen, einen Konſervativen. Auf 
ſolche Beſchuldigung erfolgte die ſcharfe Abwehr: 


An meinen Freund den Revolutionsredner 
Nun nennt ihr mich konſervativ, ihr Leute! 
Was ich all meiner Lebtag war, bin ich noch heute. 
Schach ſpiel' ich nicht mit ſo Zug um Zug; 
Stoßt das Spiel um, da habt ihr mich bald genug. 
Eine einzige Revolution hat's gegeben, 
Die rief kein Halber, kein Pfuſcher ins Leben. 
Sie hat auch vor allen den ſpätern die Glorie. 
Ich meine natürlich die Sündfluthiſtorie. 


Doch ſelbſt Luzifern blieb das Nachſehn nur, 
Denn bekanntlich nahm Noah die Diktatur. 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 373 


Machen wir es denn noch einmal, radikaler; 
Aber dazu braucht's Männer und Redner, nicht Prahler. 


Ihr ſorgt für den Waſſerſchwall, ich will verwegen 
Den Torpedo unter die Arche legen. 


Aus der ſatiriſchen Einkleidung ſchimmert aber doch ſchon ein 
Gedanke hervor, den er ſpäter in helleres Licht rückte. „All' das, 
wovon wir bis dato leben, ſind ja doch nur die Broſamen von 
dem großen Revolutionstiſch des vorigen Jahrhunderts, und dieſe 
Koſt iſt nun lange genug wiedergekäut worden. Die Begriffe 
verlangen nach einem neuen Inhalt und einer neuen Erklärung. 
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ſind nicht mehr dieſelben 
Dinge, wie zur Zeit der ſeligen Guillotine. Dies iſt's, was die 
Politiker nicht verſtehen wollen, und darum haſſe ich ſie. Die 
Menſchen wollen nur Spezialrevolutionen, Revolutionen im Außer⸗ 
lichen, in dem Politiſchen. Aber das ſind lauter Lappalien. Um 
was es ſich handelt, das iſt das Revoltieren des Menſchengeiſtes ...“ 

Den beiden Gedichten nach der äußern und innern Geſtaltung 
ähnelt das abſichtlich nebeneinander geſtellte Paar: Ein Bruder 
in Not‘ (1863) und ‚Des Glaubens Grund‘ (1864), das 
eine, wie Abraham Lincolns Mord, eine ſchwungvolle Apoſtrophe, 
das andere ein vernichtendes Spottgedicht wie der Revolutions⸗ 
redner. So wenig wir Ibſens Anſicht von jener däniſch⸗deutſchen 
Streitfrage billigen mögen, mit aufrichtiger Bewunderung und 
Teilnahme entläßt uns doch ſein von echt vaterländiſchen Empfin⸗ 
dungen beſeelter Werbegeſang: ‚Ein Bruder in Not!‘ — der Mahnruf 
an die ſäumigen Norweger, dem Dänenvolke jetzt nicht die Treue zu 
brechen, die ſie ihm ſo häufig in der Feſtbegeiſterung zugeſchworen. 


Im Sturmhauch, der vom däniſchen Meer 
Weht unſeren Küſten zu, . 
Aufſchreckend brauſet die Frage her: 

Mein Bruder, wo bliebeſt du? 
Ich ſtritt einen Lebenskampf für den Nord, 

Nun decket mich Grabesruh; — 


374 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Ich ſpähte über Belt und Fjord 
Nach deinen Schiffen — ſo hältſt du Wort? 
Mein Bruder, wo bliebeſt du? 


Daß der Dichter hier „Gefühlspolitik“ treibt, kann ihm als 
Dichter nicht zum Vorwurf gereichen, und nicht minder natürlich 
iſt es, wenn ihm, dem Wahrheitliebenden, dem Feind aller Lüge 
und Phraſe, der Treubruch eine Miſſetat dünkt, die dem ganzen 
Volke das Brandmal auf die Stirne drücken und es heimatlos 
über die Erde jagen müßte. Lange Jahre hindurch unbeſieglich 
war darum auch ſein Zorn und Groll gegen das eigene Land, 
weil die Mahnung an tauben Ohren verhallte. Er entfloh der 
verpeſteten Luft, und kaum nach Rom gelangt, überſchüttete er 
das „liebe“ Norwegen mit Hohn. ‚Des Glaubens Grund“ beginnt 
wie die harmloſe Erzählung eines Reiſeerlebniſſes, um nach einem 
Anſatz zum Pathetiſchen deſto überraſchender in die boshafteſte 
Spitze auszulaufen. „Als ich mich von daheim einſchiffte, wurde 
in der Kajüte eifrig Kriegsrat gepflogen; alle beſchäftigte Düppels 
Fall, und der eine hatte einen Neffen, der andere einen Hand⸗ 
lungsgehilfen unter den Freiwilligen im Felde. Nur eine ältere 
Dame ſaß ruhig auf dem Sopha und lächelte und verſicherte, 


wenn ſich Teilnehmende um ihren Sohn ſorgten: Seinetwegen binn 


ich ruhig. Es durchrieſelte mich warm, ich fühlte meinen Mut 
wieder erſtarken an dem Vertrauen der ſilberhaarigen Mutter. 
Woher kam ihr nur die Gnade ſolcher Zuverſicht für den einzigen 
Sohn? Da plötzlich verſtand ich! 


Die Erklärung war ja wahrhaftig nicht ſchwer: 
Er diente — in unſerm norwegiſchen Heer. 


Die früheren politiſchen Gedichte aus den erſten Sechziger 
Jahren zeigen dieſe Schärfe noch nicht, die ſpäteren von den erſten 
Siebziger Jahren an nicht mehr. 

Die früheren, Feſtgedichte, — ‚An die Volksboten', 
„Gruß an Schweden“, „Des Volkes Haus“, — begegnen 
ſich mehrfach, wo es die feierliche Gelegenheit erheiſchte, mit den 


Fre 


Ha ende 
. U 


— 


„ 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 375 


Weiheliedern der Sängerfeſte, auch mit den Gedichten auf Oskar I., 
in dem Gelöbnis der Treue von Volk zu Volk, in dem Ausdruck 
der Ergebenheit für ihren gemeinſamen König. Die ſpäteren ſam⸗ 
meln nach der Kampfeszeit wieder beruhigte, während der freiwil— 
ligen Verbannung geläuterte vaterländiſche Gefühle in würdigen 
und vollkommenen Gefäßen. Einem Volke angehörend, das zwar 
unter den rührigſten, faſt leidenſchaftlich, dem Neuen entgegen- 
drängt, aber doch, innerhalb ſeiner engen Grenzen, dem freien 
Spiele des Geiſtes nicht Raum noch Ermunterung genug zu bieten 
hätte, ſtreben alle norwegiſchen Künſtler und Denker ins Ausland, 
ihren Geſichtskreis zu erweitern, ihre Anſicht der Welt zu berei— 
chern. Keine Gefahr, daß ſie der Heimat abtrünnig würden! — 
die Fremde vielmehr entdeckt ihnen erſt die eigene Art. „Mutter 
Norwegen weiß, was ſie tut,“ ſagt Camilla Collett, „wenn ſie 
ihre Kinder ſo weit von ſich fortſendet und auf ſo gefährliche 
Tummelplätze; ſie kennt ihre Macht!“ 

Henrik Ibſen iſt von allen ihren Kindern am längſten fort— 
geblieben, doch ihn nicht minder hat ſie an einem unlösbaren Bande 
gehalten. Er hört am feſtlichen Tage, während die Flaggen des 
Erdballs über ihm wehen und die Kanonen den Suezkanal taufen, 
daß fie daheim fein ehrliches Luſtſpiel ‚Bund der Jugend“ aus⸗ 
gepfiffen haben, daß alle Parteien ihn einmütig mit Schmutz be⸗ 
werfen. Nichts ändert es an ſeiner Treue. Er dankt — in dem 
kleinen Gedichte Bei Port Said‘ (1869) — den Sternen, daß 
ſein Land, ob es gleich giftiges Gewürm beherberge, das ſeine 
bleibe, und ſchwingt den Hut und grüßt die norwegiſche Flagge. 
Das Büchlein der Gedichte ſchließt er 1871 mit einem in ſeiner 
Knappheit leider nur annähernd überſetzbaren Liebeszeugnis: 


Verbrannte Schiffe 
Er wandte ſeiner Schiffe 
Steven vom Nord, 
Vom ungaſtlichen Riffe 
Zu ſüdlichem Port. 


376 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Des Schneelandes Feuer 
Erloſchen im Meer; — 
Dort ſtillet ein neuer 
Strand ſein Begehr. 


Schiff um Schiff er verbrannte; 
Eine Brücke der Rauch 
Gen Norden hin ſpannte, 
Getragen vom Hauch. 


Zu des Schneelandes Hütten 
Aus ſonniger Pracht 
Kommt ein Reiter geritten 
Nun jedwede Nacht. 


Es iſt bekannt, daß Ibſen ſtets auf ſeinen Wanderungen die 
norwegiſchen Tagesblätter von der erſten bis zur letzten Zeile und 
ſogar die Anzeigen las. 1872 hätte er die Heimat, der er nun 
ſchon acht Jahre fern geweſen, gerne wieder beſucht, hätte die 
Arbeit an „Kaiſer und Galiläer“ eine Unterbrechung geduldet. 
Aber ſelbſt in dieſem Werke fremden Stoffes finden wir die Spur 
ſeiner Liebe. Er wies darauf hin, als er, zwei Jahre ſpäter, den 
Studenten in Chriſtiania für ihre Begrüßung dankte: „Nichts 
ſchlägt Kaiſer Julians Sinn am Ende ſeiner Laufbahn, wenn alles 
rings um ihn zuſammenbricht, ſo tief darnieder wie der Gedanke, 
nichts Höheres errungen zu haben als die künftige Anerkennung 
klarer und kalter Häupter, während ſein Widerſacher, reich an 
Liebe, thronen wird in fühlenden Menſchenherzen. Etwas Durch⸗ 
lebtes hat dieſen Zug veranlaßt; er hat ſeinen Urſprung in einer 
Frage, die ich mir ſelbſt zuweilen geſtellt habe da drunten in der 
Ein ſamkeit.“ 

Einer großen nationalen Feier hatte er damals, 1872, an⸗ 
wohnen wollen. An ſeiner Statt überſchickte er das umfangreiche 
Gedicht: Zur Feier der tauſendjährigen Einheit 
Norwegens, deſſen beide Eingangsſtrophen enthüllen, was er 
bis dahin unter Gleichniſſen verſchleierte: 


* 


X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 377 


Mein Volk, du miſchteſt mir in tiefen Schalen 
Den bittern Stärkungstrank, der nah dem Grab 
Kraft und Geſundheit deinem Dichter gab 

Zum Kampf mit Mächten, die das Licht uns ſtahlen; — 
Mein Volk, du reichteſt der Verbannung Stab, 

Der Sorge Bündel mir, der Angſt Sandalen, 

Zur Fahrt mich rüſtend mit dem Ernſt des Lebens, — 
Treu grüß' ich dich: du ſchenkteſt nicht vergebens! 


Ich ſende dir den Dank für allen Segen, 
Den Dank für jedes Schmerzes Läutrungsſtunde. 
Was mir zu pflanzen glückte und zu hegen, 
Schlug erſte Wurzeln doch im Heimatgrunde. 
Daß hier es üppig ſprießt und reich und gerne, 
Dem rauhen Nordwind ſchuld' ich's aus der Ferne: 
Der gab dem ſonnigen Wuchs erſt Mark und Feſte. — 
Hab' Dank, mein Volk, du ſchenkteſt mir das Beſte! 


Das Beſte, wovon er zu ſingen weiß, wovon er „in der Welt 
draußen“ als Zeuge großer Ereigniſſe glänzende Beiſpiele er⸗ 
ſchaute, möchte auch er ſeinem Volke ſchenken: die Einigung. Den 
gewaltigen Harald Schönhaar beſchwört er aus dem Grabe der 
Vergangenheit und ſchildert, von der getragenen jambiſchen Lang⸗ 
zeile zu den lebhafteſten daktyliſchen Kriegsrhythmen übergehend, 
wie vor tauſend Jahren die Kämpen einer neuen Zeit über die 
zähen Verteidiger der alten, die Streiter des Morgens über die 
Streiter des Abends, mit hochragenden Schiffsſchnäbeln gegen ſie 
heranrauſchend, im Hafsfjord den für immer entſcheidenden Sieg 
gewannen. Indes die damals Geſchlagenen, — ſo bewegt ſich das 
Lied wieder in der anfänglichen Weiſe fort, — ihre Schatten tau⸗ 
chen aus der Tiefe des Fjordes empor und gleiten nächtlich von 
Hof zu Hof, den Schläfern die Loſung ins Ohr flüſternd zu einem 
neuen Kampfe gegen den lebendigen Haraldsgedanken. Auf, ihr 
Streiter des Tages! die Sonne, die auf Solferinos Ebenen herab— 
glühte, die ſich ſpiegelte in Liſſas weinblauer Flut und brütend 


378 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


lag über Sadowas Gefilden: es iſt die Sonne von Hafsfjord! 
Und den zwieſpältigen Bruderſtämmen die Zeichen einer drangvollen 
Gegenwart deutend, ſpricht er jene denkwürdigen Worte: „Leſt das 
Geſetz der Zeit! Cavour und Bismarck ſchrieben es auch für uns!“ 

Drei Jahre ſpäter, zu einer Zuſammenkunft der ſkandinaviſchen 
Studenten in Upſala geladen, erneuert er mit ſcharfem Tadel ſein 
ceterum censeo in dem Gedichte Aus weiter Ferne 
(Langt borte). Schon habe er ſich zur Reife anſchicken wollen, 
ſchreibt er der jungen Schar, einen Augenblick des Glaubens nützend 
zwiſchen den Zweifeln, aber nun ſei die Pforte des Entſchluſſes 
wieder zugeworfen. Denn die luſtige Fahrt, wie er ſie im Geiſte 
an ſich vorüberbrauſen ſehe, wie er ſie einſt ſelbſt mitgemacht und 
geprieſen, mit wehenden Fahnen und weithin ſchallenden Geſängen 
— im Norden bleibe ſie ja doch ewig nur ein Spiel! 


Ein Zug, wie er droben den Norden durchſauſt 
Iſt über Italiens Erde gebrauſt. 


Und rüttelte längs den Apenninen 
Aus dem Schlummer ein Volk, das tot geſchienen. 


Des Jahrhunderts Morgen war wolkenumdräut; 
Auf der Engelsburg rauſchet die Fahne heut! 


Iſt über die deutſche Erde gebrauſt. 


Sie träumten auf weit getrennten Bahnen 
Von Einheit, von ſchwarz-rot⸗goldenen Fahnen. 


So kam denn der ernſte Teil jener Feſte: 
Ergraute Greiſe längſt waren die Gäſte, 


Unbeugſam doch und nimmer erkaltet. 
Wie zum Spiel ſo zum Ernſt ward die Flagge entfaltet 


Und wehte durch Drangſal und Stürme voraus, 
Bis ihr Heim ſie umhegt und gemauert ihr Haus. 


7 Hentik Ibſens Sprache und Gedichte 379 


Da ſie wollten den Traum, kam der Sieg über Nacht. 
Europa iſt mannbar, die Zeit iſt erwacht. - 


Im Norden aber gehen abgeſtorbene Zeiten und Jahre um — als 
Geſpenſter; aus dem Phraſennebel und Weihrauch der Feſte formt 
ſich nur ein welthiſtoriſcher Spuk. Und warum? Ein unfertiges 
Volk empfing die Gabe der Freiheit, und nichts iſt gefähr-⸗ 
licher, als ſich ſelbſt zum Geſchenke zu bekommen. 

Dennoch und jeder Enttäuſchung zum Trotz wiederholte ſich 
der Augenblick des Glaubens. In einem elf Jahre jüngeren Ge⸗ 
dichte ‚Sterne im Lichtnebel', das erſt in der Volksausgabe 
veröffentlicht wurde, getröſtet er ſich einer ſegensreicheren Zukunft. 
Von einer ſeiner „Kometenfahrten“ in die Heimat (1885) unbe⸗ 
friedigt nach München zurückgekehrt, vernahm er von einem neuen 
Sterne, zu dem ſich draußen im Weltall das Chaos geformt hatte, 
dem Geſetze der Sammlung gehorchend. Daran knüpft er ſeine 
Betrachtung der heimiſchen Verhältniſſe: 


Ich fand ein andres Chaos um mich gären, 
Getrennt die Willen, ſchweifend jede Kraft; 
Kein Drang nach gleicher Bahn in Bruderſphären 
Um eines Mittelpunktes feſten Haft. 


Dem Treiben der Parteien wieder entrückt, „in der Stille der 
Ferne“, beurteilt er das Gewoge, das ihn von da oben verſcheucht 
hatte, mit patriotiſcher Zuverſicht: 


Und wälzen ſich, chaotiſch ungeſtaltet, 
Lichtnebel noch im Norden, — feſt vertraut! 
Ein ewiges Geſetz der Sammlung waltet, 

Ein Stern im Werden iſt's, was ich erſchaut. 


„Gedichte eines Einſamen könnten die Blätter benannt werden, 
auf denen Henrik Ibſen ſich ſelbſt und uns beurkundet, was im 
Laufe ſeiner Entwicklung als Erlebnis ſein Innerſtes ergriff oder 
nur als vorüberſtreifender Gedanke, als flüchtige Empfindung 


380 X. Henrik Ibſens Sprache und Gedichte 


Geiſt und Gemüt berührte. Die Liebe feſſelt ihn nicht; mit Sar⸗ 
kasmen wird ihr der Abſchied gegeben. Die Freundſchaft ſucht er 
nicht, denn „Freunde ſind ein koſtſpieliger Luxus, wenn man ſein 
ganzes Kapital an einen Beruf, eine Miſſion im Leben wagt, 
koſtſpielig nicht durch das, was man für ſie tut, ſondern durch 
das, was man aus Rückſicht auf ſie unterläßt“. Sorgenfreien 
Lebensgenuß und heitere Sinnlichkeit kennt er nicht, dem es 
einzige Pflicht iſt, raſtlos nach den Schätzen der Tiefe zu ſchürfen 
in der Grube Tempelgange. Einſam zu Hauſe unter einem Volke, 
das ihn nicht verſtand, und darum in die Fremde geflohen; 
einſam auch dort und ſehnſuchtsvoll ſtets nach der Heimat zurück⸗ 
blickend. Der Grundcharakter ſeiner Muſe iſt Ernſt und Strenge; 
der natürliche Ernſt, der einem moraliſchen Weſen eignet; die 
unerbittliche Strenge, die ſich ſelbſt in beharrlicher Arbeit ab: 
gerungen, was ſie von andern gebieteriſch fordert. Auch wenn 
dieſe Muſe lächelt, lächelt ſie nur mit dem Munde; wenn ſie die 
Geißel des Spottes ſchwingt, geſchieht es nie mit dem graziöſen 
Übermut der Byroniſchen. Kein Tropfen Renaiſſanceblut rinnt in 
des nordiſchen Dichters Adern. Dichten iſt Religion, aber nicht 
im Sinne eines weltfrohen heidniſchen Götterdienſtes, ſondern eine 
ſittliche Aufgabe, ernſt wie das Leben ſelbſt. Sein poetiſches 
Schlußwort kennzeichnet die Aufgabe alſo: 


Krieg mit geheimen Gewalten 

In Herz und Hirn, das heißt leben; 
Dichten heißt, über ſein Streben 
Selber Gerichtstag halten. 


n 


4 * > 
5 185 


HAD 


Abkürzungen . 


W = Henrik Ibſens Sämtliche Werke in deutſcher Sprache. Durchgeſehen und eingeleitet 
von Georg Brandes, Julius Elias und Paul Schlenther. Berlin. S. Fiſcher. 

N Henrik Ibſens Nachgelaſſene Schriften in vier Bänden. Herausgegeben von Julius Elias 
und Halodan Koth. Berlin. ©. Fiſcher. 

B — Briefe von Henrik Ibſen, herausgegeben und eingeleitet von Julius Elias und Halodan 
Koth (W X), und Breve fra Henrik Ibsen, udgivne med indledning og oplys- 
ninger af Halvdan Koth og Julius Elias, Koebenhavn og Kristiania. Gylden- 
dalske Boghandel. 


„ 


Kap. 1 


S. 1. Jenſeit des Atlantiſchen Meeres... Dagegen erhebt 
Camillo von Klenze Einſpruch (Modern Language Notes, XV, 5), indem er 
an Namen erinnert, wie Longfellow, Emerſon, Hawthorne, Poe, Lowell und, 
in neuerer Zeit, Howells, James, Field, Henry B. Fuller uſw. Sodann verweiſt 
er auf Amerikas Fortſchritte in der Pädagogik, auf den Ruhm Whiſtlers und 
andrer amerikaniſcher Künſtler, auf die Verbreitung guter Muſik in Amerika uſw. 
Klenze meint, wenn mir all das bekannt wäre, müßte ich anders urteilen. 
All dies iſt mir bekannt und ich weiß das geiſtige Leben und Streben Amerikas 
ſehr wohl zu ſchätzen. Klenze hat überſehen, daß ich von dem „Leben der 
Maſſen“ ſpreche und nur in bezug auf dieſes den während eines vierjährigen 
Aufenthaltes empfangenen Eindruck wiedergebe. 

S. 1. „Der reichhaltigſten und mannigfaltigſten ...“ E. Mogk, 
„Norwegiſch-isländiſche Litteratur“, H. Pauls Grundriß 2, I, 72. 

S. 2. Bemerkt Björnſon in einem für das ‚Forum‘ (New Mork) ge⸗ 
ſchriebenen und gleichzeitig auch in der Zukunft“ und in ‚Kringsjaa‘ (30. April 
1896) veröffentlichten Aufſatze: „Die moderne norwegiſche Literatur‘. 

S. 2. „Vierhundertjährige Nacht.“ Vgl. L. Dietrichson, Omrids 
af den norske Poesis Historie, I: Norges Bidrag til Faellesliteraturen (Kjöben- 
havn 1866), Indledning. 

S. 3. Petter Daß: Vgl. Welhavens feine Studie ‚Digteren fra Alsta- 
houg‘ (1854), S. S. VI, 109. 

S. 3. Holberg. Vgl. Georg Brandes, Ludwig Holberg. Et Festskrift. 
Kbh. 1884. (Deutſch: Holberg und feine Zeitgenoſſen, Berlin 1885) Henrik 
Jeger, IIlustreret norsk literaturhistorie, I, 263 ff.; P. Hansen, Illustreret 
dansk litteraturhistorie, I, 491 ff. 

S. 4. Klopſtock. Vgl. Franz Muncker, Friedrich Gottlieb Klopſtock, 
Geſchichte ſeines Lebens und ſeiner Schriften, Stg. 1888, S. 259 f. 

S. 5. Univerſität zu Chriſtiania. Vgl. Dietrichſon a. a. O. S. 1. 

S. 5. L. Dietrichſon und H. Jaeger: Vgl. die oben angeführten 
Werke. Der zweite Teil von Dietrichſons Umriß, erſchienen 1869, behandelt 
„Den norske Literatur efter 1814“. 

S. 6. Ein feuriger Skalde: Simon Olaus Wolff (1796 - 1859). Vgl. 
Welhavens Beſprechung: Samlede poetiske Forsög af S. C. Wolff (1833), 
8. S. II, 21. 

S. 8. „Das ziemlich allgemein und leicht zu erwerbende juste— 
milieu. ..“ Vgl. die eben erwähnte Rezenſion Welhavens 8. S. II, 14ff. 

S. 10. Alle philoſophiſchen und ſtaatlichen Theorien der Zeit. 
Vgl. Olav Skavlan, Henrik Wergeland, afhandlinger og brudstykker 
(Kra. 1892) — den Aufſatz über ‚Skabelsen, Mennesket og Messias“. 


384 | Anmerkungen 


S. 15. „Er ift das junge Norwegen“ uſw. Vgl. Jger, Lit. 
hist. II, 264, und Hartvig Lassen, Henrik Wergeland og hans samtid, 
Chra. 1866, ©. 221. 


Kap. II 


S. 21. Catilina. Vgl. Hermann Speck, Catilina im Drama der Welt⸗ 
literatur, 1906. Breslauer Beiträge zur Lit.⸗Geſchichte, IV. 

S. 21. Das erſte Werk Henrik Ibſens. Die Urſchrift des „Catilina“ 
von des Dichters eigner Hand mit der Jahrzahl 1849 befindet ſich auf der 
Univerſitätsbibliothek zu Chriſtiania, 2 Quarthefte von 16 und 30 Blatt, vielfach 
verbeſſert und da und dort bekritzelt. H. J ger, Illustreret norsk literatur- 
historie, gibt das Titelblatt in Faeſimile. 

S. 21. Ole Carelius Schulerud. Vgl. B 1 und 2. 

S. 21. Eines ehemaligen Schülers: des Profeſſors L. Dane. J. B. Hal 
vorsen, Norsk forfatterlexikon, III, 30. 

S. 21. War das Drama fertig. Vgl. die Vorrede zur 2. Ausgabe. 

S. 22. Eines Catilina. Vgl. die Vorrede zu den Räubern. 

S. 22. Nach der amtlichen Statiſtik. Valfrid Vasenius, Henrik 
Ibsens dramatiska diktning i dess första skede, Hels. 1879, S. 18, Anm. 

S. 22. Angeſehenen Familien. Vgl. Ibſens autobiographiſche Mit: 
teilung in H. Jæger, Henrik Ibsen 18281888. Et literst livsbillede, 


Kbh. 1888, S. 14. Die deutſche Ausgabe von H. Zſchalig 1890, 2. A. 1897, 


bietet manche wertvolle Ergänzungen. 

S. 22. In einem ſeiner früheſten Gedichte: Ballerinnerungen von 
1850, W I, 208. | 

S. 22. Ein merkwürdiger Schulaufſatz, aufgezeichnet von einem 
Mitſchüler, B. Ording, und aus der Zeitſchrift Fedrelandet (1878) mitgeteilt 
bei Halvorsen III, 3. WI, 283 f. „Dieſer Aufſatz“, bemerkte Ib ſen dazu, 
„brachte mich einige Zeit auf geſpannten Fuß mit meinem vortrefflichen Lehrer. 
Er hatte ſich nämlich in den Kopf geſetzt, daß ich aus einem und dem andern 
Buche abgeſchrieben hätte und ſprach das in der Klaſſe aus. Seine irrtümliche 
Vermutung wies ich da energiſcher zurück, als ihm lieb war.“ 

S. 23. Ich muß. Vgl. WI, 210: „Ich muß! — Denk' an dieſe Worte, 
du Gefühlloſer, der die Stürme der Leidenſchaft in der Menſchenſeele kalt ver⸗ 
urteilt —, denk' daran und vergiß nicht, daß du in ihnen die Rechtfertigung 
lieſt für ſo manches Daſein, verwirrend und — vernichtend!“ 

S. 24. Innere Hiſtorie. Vgl. B 74. 

S. 24. Ankündiger des Dramas in Norsk Tidsskrift for videnskab og 
litteratur udg. af Christian C. A. Lange, IV, 1850, 305 (Vasenius a. a. O. S. 33). 

S. 25. Vaſenius. Vgl. B 145. 

S. 25. Gefröhnt haben ſoll. Sall. c. 14; 15. Cie. I, 6, 10; II, 2, 4,5, 10, 11. 


Anmerkungen 385 


S. 25. Eine unglaubliche Ausdauer. Sall. c. 5; 27. Cie. 1,10; I, 5; III, 7. 

S. 26. Die ältere Tragödie bedurfte eines Helden uſw. Vgl. auch 
Fritz Mauthner, Wörterbuch der Philoſophie, Artikel Poeſie (S. 263, 2). 

S. 26. Die blind gegriffene Natur. Nicht „blind geprieſene“, wie 
Brandes im Goethe⸗Jahrb. II, 26 (und in „Menſchen und Werke‘ S. 30) an⸗ 
führt. — So äußerte ſich Klopſtock gegen den deutſch geborenen däniſchen Lyriker 
Schack Staffeldt, der ihn im Januar 1796 in Hamburg beſuchte. Noch un⸗ 
günſtiger urteilte der Patriarch über Schiller. „Schiller iſt ihm nur ein Kraft⸗ 
mann, ein Nachahmer Shakeſpeares, der in ſeine eigenen Ungeheuerlichkeiten 
vergafft iſt.“ Vgl. Staffeldts Beſchreibung ſeiner Reiſe in Deutſchland und 
Norditalien in Samlinger til Schack Staffeldts Levnet udg. af F. L. Liebenberg, 
Kj. 1851, Förste Deels andet Hefte. 

S. 28. Vermögen und Verlangen. WI, 543 wird evne mit „Kraft“, 
higen mit „Streben“ verdeutſcht. — Vgl. eine ähnliche Stelle in der Rede vom 
September 1874, W. I, 523 o. 

S. 28. In der erſten Faſſung; A. I, Se. 4 — S. 28 d. 1. A.: 

„er det ei nok, at paa min Isse har N 
en mörk, en fiendligsindet Skjebne dynget!) 
al den Forbandelse der ligger i 

Foreningen af dle?) Sjælekraefter 

af varm Begeistring for?) et daadrigt Liv 
med usle Baand,*) der kuer Aandens Stræben.“ 


S. 29. Die Pſalmenklänge von Skien. H. Joger, Henrik Ibsen 

og hans verker. En fremstilling i grundrids. Kbh. 1892, S. 8 und 9. 
S. 29. Der durch die Überarbeitung klarer machen wollte. Vgl. 
die Vorrede zur 2. Ausgabe. 

S. 29. Die ſozialiſtiſche Seite der Verſchwörung. Vgl. Sall. c. 20, 
21, 37, 38, 39. — Ibſens Catilina nennt ſich einmal einen „Freund jedes 
Unterdrückten und Schwachen“ (I, 1, S. 19), was Jaeger als freie Überſetzung 
einer — ohne Quellenangabe und nicht ganz richtig angeführten — eiceronia⸗ 
niſchen Stelle bezeichnet (Livsb. 38). Die Stelle lautet wortgetreu: „.. cum 
miserorum fidelem defensorem negasset inveniri posse, nisi eum qui ipse 
miser esset . . ., und findet ſich in der Rede pro Murena, $ 50, nicht in den 
Reden gegen Catilina. 


In der 2. A. (S. 37) heißt es: 
1) Herefterdags jeg pa min egen isse 
vil baere, hvad mig skbnen fiendsk beskar, — 
2) Strke. 
) varme lengsler mod. 
4) kär. 
Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 25 


386 Anmerkungen 


S. 30. Cethegus: Sall. c. 43 und Cic. III, 4. Vgl. außerdem: Sall. c. 44 
46, 47, 50, 52. Cic. III, 3, 7; IV, 6. 

S. 30. Lentulus: Sall. c. 39, 40, 43. 

S. 30. Wie Spiegelberg. Beinahe wortgetreu, wie Auguste Ehr- 
hard, Henrik Ibsen et le theätre contemporain, Paris 1892, S. 23 ſagt, 
find die Reden des Lentulus denen Spiegelbergs doch nicht nachgebildet. Es 
finden ſich nur einige zufällige Anklänge. Spiegelberg (III, 3): „Er (Karl 
Moor) verläßt uns in dieſer Not.“ Lentulus (II, 2): „Treulos verläßt er uns 
in der Stunde der Gefahr.“ — Spiegelb. (I, 2): „Pfui, du wirſt doch nicht gar 
den verlorenen Sohn ſpielen wollen“ und „unmöglich Bruder, das kann dein 
Ernſt nicht ſein“. Lentulus (II, 1): „Wie Catilina, du willſt deine Lebensweiſe 
ändern? Ha, ha, du ſcherzeſt wohl?“ — Daß Ibſen ſchon damals Werke 
deutſcher Klaſſiker las, iſt um ſo weniger zu bezweifeln, als die deutſche Sprache 
im examen artium Prüfungsfach war und Ibſen in dieſem einzigen Fache 
die Note „ſehr gut“ erhielt. 

S. 30. Curius: vgl. Sall. c. 23, 26, 28. 

S. 30. Fulvia: vgl. Sall. c. 23, 26, 28. 

S. 31. Die Allobroger: vgl. Sall. c. 40, 41, 44, 45. Cie. III, 2. 

S. 31. Ambiorix, Ollovieo. Die Namen nach Caes. de bello Gall. 
V. 41, 4 und VII, 31, 5. 

S. 32. „libertins de fantaisie .. Ehrhard a. a. O. S. 23. 

S. 33. Briefliche Mitteilung der Schweſter Ibſens. Jager, 
Livsb. S. 39. 

S. 37. In der zweiten Ausgabe hat der Dichter ... jeinem 
Werke eine glatte Form verliehen. Vgl. B 114. — Der S. 33 mitgeteilte 
Monolog lautet in der neuen Faſſung: 


Könnt' ich nur leuchten einen Augenblick, 
Aufflammend wie ein Stern in ſeinem Fall, 
Könnt' ich mit einer einzigen hehren Tat 
Den Namen Catilina nur verknüpfen 
Zum Nachruhm mir, zu ewigem Gedächtnis: 

Da wollt' ich gern im Augenblick des Sieges 

Alles verlaſſen — in die Fremde ziehn; 

Ich ſtieße ſelbſt den Dolch mir in die Bruſt 

Und ſtürbe froh — ja, dann hätt' ich gelebt! 
Der das Drama einleitende (S. 33) lautet endgültig: 

Ich muß, ich muß; es mahnt mich eine Stimme 
In tiefſter Seele: folgen will ich ihr. 

Kraft wohnt in mir und Mut zu etwas Beſſ'rem, 
Zu etwas Höh'rem, als zu dieſem Leben. 


S en 


Nee 
Br“ 2 
SER; — 


—— — 7 


EB 


* 
a 
—— 


Anmerkungen 387 


Nein, eine Reihe zügellofer Freuden 
Befriedigt nimmer meines Herzens Drang. 

Ich ſchwärme wild! Vergeſſen möcht' ich nur. 
Es iſt vorbei! Mein Leben hat kein Ziel. 


(Nach einer Weile) 

Was wurde wohl aus meinen Jugendträumen? 
Sie ſchwanden hin, wie leichte Sommerwolken. 
Nagende Qual nur blieb mir und Enttäuſchung; 
Des Schickſals Raub ward all mein kühnes Hoffen. 


(Schlägt ſich vor die Stirne) 

Veracht' dich ſelbſt, veracht' dich, Catilina! 
In deinem Buſen fühlſt du edle Kräfte; — 

Und was iſt deines ganzen Strebens Ziel? 
Nur Sättigung für ſinnliche Begier. 
(Ruhiger) 

Zuweilen doch, wie nun in dieſer Stunde, 
Ein heimlich Sehnen glüht in meiner Bruſt. 
Ah, blick' ich hin auf dieſe Stadt — das ftolze. 
Das reiche Rom — und all die Niedertracht, 

All das Verderbnis, drein ſie längſt verſunken, 

Tritt wie die Sonne klar vor meinen Geiſt, 

Laut ruft dann eine Stimm' in meinem Innern: 

Erwache, Catilina — werd' ein Mann! 
(Abbrechend) 

Ach, 's iſt nur Gaukelwerk und nichtige Träume, 
Einſamer Stunden Hirngeſpinſt. Ein Laut, 

Ein bloßer Laut der Wirklichkeit: ſie flüchten 
Hinab in meiner Seele ſtumme Tiefen. 


An Furias Monolog (S. 18) wurde wenig verändert. In der erſten Zeile 
heißt es nun „meiner Schmerzen“, in der zweiten „Heim all der Qual“ 
und in der drittletzten „im warmen Lenz des Lebens“. 

S. 39. Es dröhnet hohl uſw. Dieſem Finale des 1. Aktes iſt die ge⸗ 
ſchickt nachbeſſernde Feile ſehr zuſtatten gekommen: 

Es dröhnet hohl. Es donnert wohl da oben. 
Das dringet bis ins Grab zu mir herab. 
Doch hier im Grabe ſelbſt iſt's ſtill — ſo ſtill! 
Bin ich zu ewig matter Ruh verdammt? 
Soll ich auch hier nicht auf verſchlungnen Wegen 
Fortwandeln, fort, wie ſtets mein Sinn geweſen? 


IND 
ei! 
* 


388 


Anmerkungen 


(Sie lauft; ein dumpfes Klopfen wird vernehmbar) 


(Nach einer Pauſe) 

Das war ein ſeltſam Leben — ſeltſam Schickſal. 
Sternſchnuppen gleich kam alles — und verſchwand. 
Er fand mich. Wie geheime Zaubermacht, 

Ein innrer Einklang zog uns zueinander. 
Ich war die Rachegöttin — er mein Opfer; — 
Doch folgt die Strafe bald der Rächerin. 


(Wieder eine Pauſe) 

Nun iſt es droben hell. Entfern' ich mich 
Abwärts — unmerklich — von des Lichtes Wohnung? 
Ah, wohl mir, wenn's ſo iſt, — wenn dies Verweilen \ 
Im Schooß des Grabes eine Flucht nur ift 
Ins dunkle Reich hinab auf Blitzes Schwingen, 
Wenn ich mich nähere ſchon dem breiten Styx! 

Da wälzt die Flut ſich bleiſchwer gen das Ufer, 
Da lenket Charon lautlos ſeinen Kahn. 
Bald bin ich dort! da will ich ſtill mich ſetzen 
Am Landungsplatze — fragen jeden Geiſt, 
Die flüchtigen Schatten, die vom Reich des Lebens 
Leichtſchreitend nah'n des Todes ſtiller Flut, — 
Will jeden fragen, wie ſich Catilina 
Gebare bei den Lebenden da droben, 
Will fragen, wie er ſeinen Eid gehalten. 
Den Toten leucht' ich mit der Schwefelfackel 
Bläulichem Licht in die gebrochnen Augen 
Zu ſehn, ob es nicht Catilina ſei. 
Und kommt er endlich doch, will ich ihm folgen. 
Da machen beide wir die Überfahrt, 
Betreten beide Plutos ſtillen Saal. 
Und auch als Schatten folg' ich ſeinem Schatten, 
Wo Catilina iſt, muß Furia ſein. 

(Nach einer Weile matter) 

Wie wird die Luft ſo dumpfig und ſo ſchwül, 
Und ſchwer und ſchwerer jeder Atemzug. 

So nah' ich mich den ſchwarzen Sümpfen ſchon, 
Wo träg der Unterwelten Ströme fließen. 


Ein dumpfer Schall? Das tönt wie Ruderſchlag. 


- Der Toten Fährmann iſt es, horch, er kommt, h 


Mich heimzuholen. Nein — hier will ich warten! 


Anmerkungen 389 


(Die Steine in der friſch zugemauerten Offnung werden auf: 
gebrochen. Curius erſcheint außen; er winkt ihr) 
Charon, ſei mir gegrüßt! Du biſt bereit, 
Mich hinzuführen zu des Todes Hallen? 
Hier will ich warten! 
Curius (flüſternd) 
Still! — ich rette dich! 
S. 41. Die Sage vom wilden Jäger. Vgl. L. Paſſarge, Henrik 
Ibſen, 1883, S. 40. 
S. 43. Dankbar erwähnt. Vgl. Vorwort zur 2. Ausgabe. 
S. 43. Genie iſt eine lange Geduld. Vgl. auch Georg Brandes, 
H. Ibſen (Die Litteratur, Bd. 32) S. 12: „. .. wie feine Anlagen überhaupt 
durch Einſamkeit ſich zum Genie vertieft haben.“ 


Kap. III 


S. 44. Studentenfabrik. Der Ausdruck ſtammt aus Björnſons Ge 
dicht auf den „alten Heltberg“, Digte og Sange, 3. A. S. 154 ff. Gedichte, 
in deutſcher Übertragung von Max Bamberger, Ludwig Fulda, Cläre Mjben, 
Chriſtian Morgenſtern und Roman Woerner, hg. von Julius Elias, München, 
A. Langen, 1908, S. 126 ff. Eine köſtliche Schilderung Heltbergs und ſeiner 
Lehrweiſe gibt Arne Garborg in Bondestudentar (Bauernſtudenten, überſ. 
von E. Brauſewetter 1888). | 

S. 44. Frithjof Foß, geb. 1830, Nationalökonom und Publiziſt, hat 
unter dem Namen Israel Dehn Romane und Novellen veröffentlicht, die zum 
Teil auch ins Deutſche überſetzt worden ſind. Seit 1885 lebt er als Redakteur 
in Arendal. 

S. 45. In zwei Fächern Nachprüfungen. Das Prüfungszeugnis wird 
in Faeſimiledruck mitgeteilt in: Henrik Ibsens norske stilebog fra 1848 ved 
Siegwart Petersen, Christiania 1898 (Sertryk af, Ringeren“, 1898, Nr. 12). 
Es lautet: „Henrik Johan Ibſen hat ſich im Auguſt 1850 zum examen artium 
vorgeſtellt und auf Grund der Einzelnoten, nämlich: 

für den Aufſatz in der Mutterſprache . gut. 


— Lateiniſche Überſetzung . gut. 

— Lateiniſchen Aufſaa z ziemlich gut. 

— Lateiniſch (mündlich) mittelmäßig. 

— Griechiſ h cchlecht. 

— Hebräiſch ene 

M ſche gut. 
, gu. 


he ee. gun. 


390 Anmerkungen 


für Geſchich tete gut 
— Geographie ee ů . 
— Arithmetik. ſchlecht. 


— Geometrie e 
die Geſamtnote [Hovedcharakteren]: non contemnendus erhalten.“ Chriſtiania, 
in der philoſophiſchen Fakultät, 3. September 1850. Gezeichnet vom derzeitigen 
Dekan, dem Dichter J. S. Welhaven. 

S. 45. Nach der erſten Faſſung. In ſeiner erſten Form iſt das Stück 
nie gedruckt worden; in umgearbeiteter Geſtalt erſchien es 1854 in, Bergenske 
Blade‘ Nr. 9 bis 13 als Feuilleton. Dieſer Jahrgang findet ſich auf keiner 
öffentlichen Bibliothek mehr. Jaeger, Livsb. 68 ff. erzählt den Inhalt nach der 
urſprünglichen Form aus dem Souffleurbuch im Chriſtiania⸗Theater⸗Archiv. 
Vasenius, Henrik Ibsen. Et Skaldeportrætt. Stockh. 1882, S. 37 ff. gibt 
eine Analyſe der umgearbeiteten Faſſung nach einer Abſchrift in der Bergener 
Theatherbibliothek. Dasſelbe Mf. benutzt T. Blanc, Norges förste nationale 
scene (Bergen 1850 1863), Christiania 1884, S. 165 ff. Nunmehr liegt eine 
vollſtändige metriſche Überſetzung von E. Klingenfeld vor W II. 

S. 46. Zwei Dramen Oehlenſchlaegers: ‚Veeringerne i Miklagaard‘ 
und ‚Landet fundet og forsvundet‘. Vgl. Je ger, Livsb. ©. 69 und Brandes, 
Einleitung im 2. Bande der S. W. in deutſcher Sprache. 

S. 46. Allzu roh und wild. Jaeger, Norske Forfattere. Litteratur- 
billeder. Kbk. 1883, S. 170 führt eine ergötzliche Stelle aus Chriſtiania⸗Poſten, 
28. IX. 1850, an. Es heißt da, Ibſen habe den alten Wikingern Züge bei⸗ 
gelegt, „mit denen weder uns noch unſern Vätern gedient ſein kann“. 

S. 47. Schlußworte Blankas, überſetzt nach dem von Vaſenius 
(Skaldep. S. 44) mitgeteilten Wortlaute. 

S. 47. Aufs neu' zu ſtreiten. Im Text heißt es „auf Idafeld“ zu 
ſtreiten. Aber Idafeld iſt „der Aufenthaltsort der Aſen während des goldnen 
Zeitalters, wo die den Weltbrand überlebenden Götter wieder wohnen werden“ 
(Hugo Gering, Die Edda, S. 4, A.), die Stätte des Kampfes heißt Wigrid 
(vgl. das Lied von Wafthrudnir, ebenda S. 62). 

S. 47. „Zum Geiſterſtreit auf des Gedankens Meer“ — die Weis⸗ 
ſagung iſt im Soufflierbuch des Bergener Theaters von Ibſen eigenhändig 
hinzugefügt. Vgl. W II. XI. 

S. 47. Oppoſitionsorgan. Vgl. Jeger, Lit. hist. S. 529 — 534. 

S. 47. Norma. Verdeutſcht vom Verf. N I, 21 ff. 

S. 47. Verkündet Vinje .. Vgl. W X, XXIII f. 

S. 48. Botten⸗Hanſen. Vgl. W X, XXIVf. 

S. 48. Ole Bull. Vgl. Ole Bulls Breve, i uddrag udg. af Alex. Bull. 
Med en karakteristisk og biogr. skitse af Jonas Lie, Kbh. 1881, S. 372 - 381. 
In der Skizze von Lie S. 120 22. — L. Ottmann, Ole Bull, S. 141 146. 


0 VA u K 


— 


u EEE u 9999 
PP 


Anmerkungen 391 


S. 49. Fru Inger til Österaad. Zuerſt erſchienen in ‚Illustreret 
Nyhedsblad‘ und als Sonderabdruck daraus 1857. Zweite Ausgabe (mit der 
Schreibung Östrät) 1874. Dritte Ausgabe 1881. Deutſch: Die Herrin von 
Oſtrot, unter Mitwirkung von E. Klingenfeld, München 1877. „Frau Inger 
auf Oſtrot beruht auf einem ſchnell angeknüpften und gewaltſam abgebrochenen 
Liebesverhältnis, auf das ſich auch einige kleinere Gedichte beziehen, wie 
‚Feldblumen und Topfpflanzen“, ‚Eine Wogelweife‘ uſw., veröffentlicht im 
⸗Nyhedsblad“.“ 874. — Vgl. Julius Elias, ‚Shriftianiafahrt‘, Neue Rundſchau 
1906, 1461 f. | 

S. 50. Knut Alfſon: „den fremfusende, noget ubetydelige Knut 
Alfssön“ nennt ihn L. Daae in einem durch Ibſens Werk angeregten Aufſatz 
über „Fru Inger Ottesdatter og hendes döttre‘ (Historisk Tidsskr. udg. af 
d. norske hist. Forening. III, 224 - 366). Der Aufſatz enthält alles zur 
Beurteilung des Dramas Erforderliche. Über die Zeitverhältniſſe kann noch 
J. E. Sars, Udsigt over den norske historie, tredie deel, cap. IV, bef. von 
S. 197 an, verglichen werden. 

S. 51. „Die Fabel iſt es.“ Hamburgiſche Dramaturgie, 38. Stück. 

S. 52. Eline oder Elyne d. i. Elen, Helena. Frau Inger nennt in einem 
erhaltenen Briefe an den Erzbiſchof Olaf in Throndhjem (vom 20. September 


1526) ihre Tochter „Helena“. In zwei anderen Briefen (vom 17. April und 


30. Auguſt 1528) wird der Dalejunker, „Niels Löcke“ und „Osterot“ erwähnt 
(f. Samml. til d. Norske Folks Sprog og Historie, I, 506, 530 und 535). — 
Über Nils Lykke vgl. noch: Grevens Feide, skildret efter trykte & utr. Kilder 
af C. Paludan-Müller. Ki. 1854, II, 56 60, 73— 74, 78, 259 — 268. 

S. 54. Der ſtrafenden Gerechtigkeit. Übrigens redet auch Ariſtoteles 
dieſer Auffaſſung und Verwendung des Zufalls das Wort — am Ende des 
9. Kapitels der Dichtkunſt. 

S. 54. Der Malerei abgeſagt. Vgl. Ibſens eigne Mitteilung, Hal- 
vorsen III, 85 f. 

S. 54. Das nordiſche Publikum verhielt ſich kühl. Vgl. Blanc 
a. a. O. S. 196. 

S. 54. „Ein großes nationales Intereffe..." Vgl. Kürſchner, Jahrb. 
für das deutſche Theater, II, 181. 

S. 55. Der erſten Aufführung in Bergen, am 2. Januar 1856. In 
der ganzen Spielzeit ſechsmal aufgeführt, zuletzt als Feſtvorſtellung vor dem 
Prinzen Napoleon am 25. Auguſt (Halvorsen III, 32 ſagt: 24. Juli ?), vgl. 
Charles Edmond, Voyage dans les mers du nord à bord de la corvette 
La Reine Hortense, 1857, S. 436 ff. Der Aufführung wie der mise en scöne 
wird von Edmond das außerordentliche Lob gezollt, ſie wären einer Pariſer 
Bühne würdig geweſen. Vgl. auch Blanc a. a. O. S. 208. Im Druck erſchien 
‚Gildet pa Solhaug‘, Chra. 1856, die 2. Ausgabe, mit einem Vorwort des 


392 Anmerkungen 


Verfaſſers, Kbh. 1883. Eine vorzügliche Überſetzung ins Deutſche wurde dem 
Dichter zum 60. Geburtstag von E. Klingenfeld dargebracht, mit einer 
Vorrede von [Julius] Ellias] (Reclams Univ.⸗Bibl.). 

S. 55. „Stimmungsvolle freie Phantaſie ...“ Vgl. das Vorwort 
zur 2. Ausg. WII. Die Ausdrücke „ſtimmungsvolle Phantaſie“ — „dichteriſche 
Improviſation“ ꝛc. ſind ſehr euphemiſtiſch. Björnſon ſagt in Morgenbladet, 
16. III. 1856, u. a., Ibſen kümmere ſich wenig darum, ein guter Dramatiker 
genannt zu werden, — kein pſychologiſcher Vorwurf werde behandelt — alles (!) 
ſei Epos und Lyrik, die Bühnenform nur der Rahmen für Sagen und Ge⸗ 
ſänge u. dgl. m. 

S. 55. Nur die Kritik. Freilich, 13 Jahre früher nennt der Dichter das 
„Feſt auf Solhaug' eine Studie, zu der er ſich nicht mehr bekenne. B 74. 

S. 55. Nordiſche Literarhiſtoriker. Vasenius, Ibsens dram. diktn. 
S. 78 5 Jaeger, Livsb. S. 106 ff. 

S. 57. „Den werdenden Meiſter“ ꝛc. E. Reich, Ibſens N 8. A., 
S. 5 0 Berlin, 1910, S. 33. Vgl. überhaupt Reichs eingehende Würdigung 
des Schauſpiels. 

S. 58. Ein damals entſtandenes Gedicht: En fuglevise Digte 
af Henrik Ibsen, Kbh. S. 7. WI, 6. 

S. 58. Landſtads Sammlung. M. B. Landstad, Norske folkeviser, 
Chra. 1853. 

S. 58. Rechtgläubige Aſthetiker. Vgl. das Vorwort zur 2. A. WII. 

S. 59. Cette fin etc. Vgl. Voyage dans les mers du nord a. a. O. 

S. 60. Sankthansnatten. Vgl. Blanc a. a. O. S. 138 ff. und H. 
Jaeger, Et utrykt ungdomsarbeite af H. Ibsen“ in Aftenposten, 1889, Nr. 749 
(15. XII.). 

S. 62. In ſeiner urſprünglichen Geſtalt. Die Univerſitätsbibliothek 
zu Chriſtiania beſitzt die Handſchrift: Rypen i Justedal, nationalt 
Skuespili fire Akter af Brynjolf Bjar me. 1850.“ Zwei Hefte in 
4, 24 ½ beſchriebene Blatt. Eigenhändig. Auf das Titelblatt des erſten 
Heftes ift das Dach eines Kirchturms gezeichnet. N I, 319 ff. — Ferner beſitzt 
die Bibliothek eine Abſchrift — nicht von des Dichters Hand — des „Olaf 
Liljekrans. Skuespil i 3 Akter af Henrik Ibsen“, 287 Seiten in 4°. 

S. 64. Ingeborg x. Dieſe und die folgenden Stellen aus dem Stücke, 
urſprünglich nach Vasenius, Skaldeportrett, S. 97, 90 u. 92 überſetzt, wurden 
nachträglich mit der Handſchrift der Univerſitäts-Bibliothek verglichen. 

S. 65. „Der Kampf zwiſchen Wirklichkeit und Romantik x.“ 
angeführt aus H. Jaegers Aufſatz: ‚Henrik Ibsens Olaf Liljekrans‘, Nyt 
Tidsskrift VI (1857) 76 ff. 

S. 67. Fjeldfuglen. Die Univ.⸗Bibl. zu Chriſtiania beſitzt die Hand⸗ 
ſchrift: Fjeldfuglen, romantisk Opera i tre (ausgeſtrichen: een) 


E nr He 


7 ˙ ˙¹ A ¼—ͤ den m U 7 De 


m 


Anmerkungen 393 


Akter af Henrik Ibsen. Christiania 1859.“ Eigenhändig, 2 Hefte in 
4, das erſte hat 8 beſchriebene Blatt, das zweite 3 /. N II, 3 ff. und IV, 407 f. 

S. 67. ‚Über die Kaempevife‘ ꝛc. enthalten in Illusteret Nyhedsblad 
(Chriſtiania) VI, Nr. 19 u. 20. Deutſch (mit Einleitung) von O. L. Jiriezek, 
Beil. zur Allg. Zeitung 1893, Beil.⸗Nr. 111 u. 112. W 1,337 ff. 


| Kap. IV 

©. 68. Asbjörnſen an Jak. Grimm, Briefwechſel der Gebrüder Grimm 
mit nordiſchen Gelehrten, herausg. von Ernſt Schmidt, Berlin 1885, S. 263. 

S. 68. Wettkampf zwiſchen den beiden Dichtern. Vgl. Ibſens 
Biographie von L. D. Dietrichſon in Ny Illustrerad Tidning‘, 1869, Nr. 34. 
(Auch angef. bei Vasenius.) 

S. 68. Björnſon „verſtand es jedenfalls“. G. Brandes, Moderne 
Geiſter, 1882, S. 392. 

S. 68. Die Heermannen auf Helgeland. Die Univ.⸗Bibl. zu Chri⸗ 
ſtiania beſitzt die ſchöne Reinſchrift von des Dichters eigner Hand: ‚Har- 
mendene paa Helgeland, Skuespil i 4 Akter af Henr. Ibsen, 
1857.“ 110 Blatt in 4%. — Helgeland, Hälogaland, der nördlichſte Teil Nor⸗ 
wegens in der Sagazeit; bei Saxo Halogia, das nach ſeiner Beſchreibung auf 
dem Wege nach Bjarmia liegt. Vgl. N. M. Petersen, Handbog i den gammel- 
nordiske geografi, Kjöb. 1834. — Über den deutſchen Titel vgl. W X, 472. 

S. 69. Asbjörnſens und Moes Sammlung: Norske Folkeeventyr, 
saml. ved. P. Chr. Asbjörnsen og Jörgen Moe, 1842—44; 2 den 
forögode Udgave 1852. „alle sammlungen (von Volksmärchen) hat aber 
neulich die noch unvollendete norwegische von Moe und Asbiörnsen mit 
ihrem frischen, vollen vorrath fast überboten,“ ſchreibt Jak. Grimm in 
der Vorrede zur Deutſchen Mythologie (2. A. Göttingen 1844, I, XV). 

S. 69. Björnſon konnte Mitte Juni beginnen: vom 13. Juni an 
in dem von ihm geleiteten Wochenblatt: Illustreret Folkeblad“. Im Sep⸗ 
tember erſchien dann das Ganze als Sonderdruck. a 

S. 69. Erſt im April 1858 gedruckt: als Beilage zum IIlustrere 
Nyhedsblad. N 

S. 69. In Trimetern. Vgl. die Begründung dieſer Wahl WI, 345. 

S. 69. Der kräftige Tonfall des Sagaſtiles: vgl. Dietrichson 
a. a. O. Gleicherweiſe ſpricht Ibſen für ſich ſelbſt in der Ankündigung einer 
Novelle von Israel Dehn (1862): WI, 491 f. 

S. 70. Zur deuſchen Ausgabe von Joppert: Kopenhagen und Leipzig 
1772. Es gibt noch eine Überſetzung von C. F. Cramer, Hamburg 1772. 

S. 70. Folgte 1775 Balders Tod. Nicht 1774, wie das noch 1774 
gedruckte Titelblatt der 1. Ausgabe beſagt. Vgl. Ewalds Samtl Skrifter V, 231. 

S. 71. Gerade die Helden der Erzählung. Vgl. R. Heinzel, Bes 


394 1 Anmerkungen 


ſchreibung der isländiſchen Saga, S. 162 (SB. der Akad. der Wiſſenſch. 
Phil.⸗hiſt. Cl. 97, Wien 1880). 

S. 72. C'est la blonde. Ernest Tissot, Le Drame Norvegien, 
1893, S. 65. 

S. 72. Wilhelm Scherer, Geſchichte der deutſchen Literatur, 1883, S. 10. 

S. 73. Um Hjördis willen. Nach B 74 hat Ibſen das Werk als 
Bräutigam geſchrieben und für Hjördis dasſelbe Modell benutzt wie ſpäter 
für Schwanhild in der Komödie der Liebe — nämlich Suſanna Dane Thoreſen. 

S. 73. Das heißt den Dichter nicht zu Worte kommen laſſen. 
Der Verfaſſer iſt ſich wohl bewußt, daß er hier u. a. a. Stellen ſeine eignen 
früheren Aufſätze über Ibſen mitverurteilt. 

S. 73. N. M. Petersen, Historike Fortellinger om ka Feerd, 
udg. af d. K. Nord. Oldskrift-Selskab. Kj. 1839 —41, 3 Bde. 

S. 73. Den isländiſchen Proſaerzählungen. Vgl. F. Mogk, H. Pauls 
Grundriß II, 1 S. 117 520. — Arthur Bonus, ‚Henrik Ibſen und die Isländer⸗ 
geſchichte“ (in den Preuß. Ibb. 126, 424 ff. u. im Isländerbuch', hg. vom 
Kunſtwart, München 1907, G. D. W. Callwey), weiſt auf mehrere, von mir 
nicht angeführte „Entlehnungen“ aus der Saga hin, von denen ich nun, unter 
Hinzufügung ſeines Namens, einige nachtrage, andere, mit Begründung, ab⸗ 
lehne. Er hätte übrigens meine Hinweiſe vielfach zur Vervollſtändigung der 
ſeinen benutzen können. 

S. 74. In den Eddaliedern. Vgl. Gudbrand Vigfusson and F. Vork 
Powell, Corpus poeticum boreale, Ox, 1883, II, 507. 

S. 74. Halgerde und Bergthora. Auch R. Heinzel bemerkt dazu a. a. O. 
S. 143: „Vgl. Gudhrun und Brynhilde.“ 

S. 75. „Epicised“. Vigfuſſon a. a. O. II, 501 u. 506 ff. 

S. 75. N. M. Petersen, Bidrag til den oldnordiske literaturs historie, 
Kj 1861, S. 221. 

S. 76. Könnte aus dem Leben genommen ſein. Vgl. R. Heinzel 
a. a. O. S. 141 zu 3 b. Heinzel bemerkt ſelbſt: „Allerdings iſt auch das Schickſal 
des Menſchen eines Landes, eines Standes, einer Zeit typiſch.“ 

S. 77. Den „idealiſierten und gewiſſermaßen unperſönlichen“ 
Geſtalten. Vgl. die öfters erwähnte Vorrede zur deutſchen Ausgabe. | 

S. 77. „Die Sentimentalität der Ritterzeit.“ Vgl. P. E. Müller, 
Sagabibliothek, Kj 1817 20, Bd. II S. 49 (und dazu B. Symons, Unter: 
ſuchungen über die ſog. Völſungaſaga, PBB. III, 224), S. 58 u. 67. 

S. 78. In Roſenbergs Worten, angeführt nach Vasenius, H. Ibsens 
dram. diktn., S. 148. Dansk Maanedsskrift, worin die Kritik des bedeutenden 
Forſchers und Kenners altnordiſchen Geiſteslebens erſchien (VIII, 488 ff.), iſt 
mir nicht zur Hand. 

S. 78. „Fallhöhe“. Schopenhauer, Werke (Griſebach) II, 514. 


r EEE 20 WO EEE, Bu 


Anmerkungen | 395 


S. 79. Behauptet B. Symons in PBB. III, 260. 

S. 79. Die „ſpätere Motivierung“. In der maßgebenden Abhandlung 
von Symons über die Heldenfage (H. Pauls Grundriß II, 1) iſt die ſpätere 
Motivierung wieder als die frühere angegeben mit den Worten (S. 30): „Als 
die Walkürennatur Brunhilds immer mehr verblaßte und an Stelle der 
Verletzung ihres ſchickſalbeſtimmenden Eides und getäuſchter Liebe ges 
kränktes Ehrgefühl und Eiferſucht die Triebfedern zu Sigfrids Ermordung 
wurden .... — Was die „Intrigue“ anlangt, fo verdient doch Siegfrieds und 
Gunthers Überliſtung der Valkyrie dieſe Bezeichnung eher und berührt den 
Grundgedanken mehr, als die Liſt einer Nebenperſon. 

S. 81. Erklärt Ariſtoteles im 74. Kap. der Dichtkunſt. 

S. 81. „Ich weiß doch nicht..“. Petersen III, 110, angef. von Jager, 
Livsb. S. 130 f. — wo indes die ſchematiſche Ahnlichkeit der Charaktere des 
Dramas mit den epiſchen unnötigerweiſe und nicht mit Erfolg geleugnet wird. 

S. 82. Kriemhild vor Siegfrieds Tode. In der Völſungaſaga wird 
Gudrun erſt grimmigen Sinnes, nachdem ihr Sigurd von Fafnirs Herzen 
zu eſſen gegeben hat (c. 26). 

S. 82. „Ein Leben in dauerndem Frieden ꝛc.“ B. Döring, Be 


merkungen über Typus und Stil der isländiſchen Saga, 1877, S. 3. 


S. 83. Ornulf — Hjördis. Der Name Ornulf kommt vor in der Viga⸗ 
Glumſ., Hjördis, d. i. die Schwertjung frau, ſtammt aus der Völſſ. Kap. 11. Hjördis 
iſt bei Ornulf aufgezogen worden, wie Asgerde bei Skallegrim (Petersen I, 132). 

S. 83. Eine Königsgabe. Egil erhält einen ſolchen Mantel von Aedhelſtan 
(Petersen I, 182). 

S. 83. Einen Streit. Vgl. das 73. Kap. der Egilsſ. (Petersen 1,278 ff.). 

S. 85. Auch die Saga meldet. Vgl. Petersen I, 235 u. 210. 

S. 85. Ihr Vater — Jökul. Der Name iſt aus der Vatnsdälaſ. (Bonus.) 

S. 85. Ein Wolfsherz zu eſſen. Das fand Ibſen in ſeiner Haupt⸗ 
quelle, der Völſſ. Kap. 30, er brauchte es alſo nicht der Ynglingaſ. (38) zu 
entlehnen, auf die Bonus allein verweiſt. 

S. 86. Von einer Königin wird erzählt: im 7. Kap. der Völſſ. 

S. 88. Weißmähnigen Wogen. Auch die Brynhild der Eddalieder 
liebt und ſucht die ihr verwandte Natur: 

„Einſam ſaß ſie am Abend draußen ..“ 

„Oftmals ſchritt ſie Unheil brütend 

auf die eiſigen Gletſcher am Abend hinaus ...“ 
(im kurzen Sigurdsliede Str. 6 u. 8, Gering S. 228). 

S. 88. Draug. Über das draug (altn. draugr) genannte Geſpenſt vgl. 
A. Faye, Norske Sagn S. 81 f. und K. Maurer, Isländiſche Volksſagen 
der Gegenwart S. 55 ff. „draugr scheint gleicher Wurzel mit dem ahd. 
gitroc, mhd. getroc d. i. trugerscheinung, trugbild, fantom* (Grimm, 


396 Anmerkungen 


Deutſche Mythologie, II, Kap. 31). Daß ſich der Draug, der Sage nach, gern 
in Boothäuſern aufhält, berichtet Faye. 

S. 88. Vorwurf der Zauberei. Sie bezichtigt ihn, drei Nächte lang 
in Weiberkleidern seid gekocht zu haben, eh er ſich zum Holmgang mit ihrem 
Vater wagte. In der Eglisf. (Petersen I, 203) wird von Gunhilde erzählt, 
daß fie seid üben oder seide ließ. Vgl. auch Grimm a. a. O. Kap. 34 über seidr. 

S. 89. Den höfiſchen Lehren. Vielleicht durch die Sprüche Hars ver⸗ 
anlaßt. Wenigſtens iſt Örnulfs erſter Rat, unnötige Rede zu meiden, und 
der letzte, das Trinkhorn nicht zurückzuweiſen, aber mäßig zu ſein, dort zu finden: 

„Nicht meide den Met doch maßvoll trinke 
Erſprießliches ſprich oder ſchweig!“ 
| (J, 19, Gering ©. 89.) 

S. 89. Gunnarerfchlägt Örnulfs Lieblingsſohn. Was ihm Hjördis 
zur Beſchwichtigung ſagt: „Die Blutnacht iſt ſtets die ärgſte; iſt ſie vorüber, 
wird's beſſer“, hält Bonus (III, 62) für ein Wort der Viga⸗Glumgeſchichte, 
„nur ein wenig ins Moraliſche umgedeutet“. Dort handelt ſich's aber um ganz 
Verſchiedenes. „Blutnächte ſind einem jeden die ſchnellſten. Wenn es vorüber 
iſt, wird es fie (d. h. die Geſippen des Erſchlagenen) weniger ſchlimm dünken“ — 
bedeutet im Zuſammenhang doch nur, daß die Rache von den Verwandten 
des Ermordeten nicht ſo ſchnell und eifrig vollzogen, wie in der erſten Em⸗ 
pörung geplant wird. In der alten Ausgabe von G. Petersen, Viga-Glums 
Saga, sive Vita Viga-Glum, Hafniae 1786, lautet die Erklärung: quod noctes 
cruentae cuique sunt maxime inquietae (morae impatientes: i. e. dum caedes 
recens est, is, qui caede damnum accepit, vindictae studio maxime flagrat); 
parvi facient damnum labente tempore. 

S. 90. Das kündet nur halbe Rache: Eglisſ. Kap. 19: Petersen I, 114. 

S. 90. Er iſt vornehmer. „Zufrieden wär' ich (ſagte Brynhild), wenn 
du nicht einen vornehmeren Mann hätteſt denn ich.“ Völſſ. Kap. 28. Ed⸗ 
zardi S. 138. 

S. 90. „Nun hab' ich nur ꝛc.“ In der Völſſ. Gunnars Worte; Kap. 30. 
Edzardi S. 155. 

S. 90. „Mit jeder Stunde..." Vgl. Laxd. Kap. 49: Petersen II, 176. 
(Bonus.) 

S. 91. „Fröhlicher wollt' ich ſein ꝛc.“ Laxd. Kap. 49: Petersen II, 
177; Völſſ. Kap. 30 a. E. In der Laxd. und Völſſ. erbleicht die Heldin und 
verrät ſo erheuchelte Fröhlichkeit. Auffallend anders, und weniger natürlich, 
im kurzen Sigurdsliede, Str. 31: „Hvi hafnar pv inom hvita lit. . 

S. 92. In der Njalsſaga: Kap. 79, Petersen III, 148. 

S. 93. Hildens Schweſtern. Guſtav Neckel weiſt in einem gedanken⸗ 
reichen Vortrag über ‚Ibſens Nordiſche Heerfahrt‘ (Jahresber. der Schleſiſchen 
Geſellſch. für vaterl. Kultur. 1910. IV. Abt.) auf verſchiedene Entlehnungen 


€ 3 ie . c — 2 

1 1 + a u —— nn 3 — u Zr nr — _ 2 2 - 
me een Sa u — en ee Sn ee ie Fran: . ͤ— an N x SER x 
ng 8 — ä — — u = Pe ee EEE un ——— a De N 


AT Pr 


Anmerkungen 397 


aus dem ſog. Zweiten Helgiliede hin, das Ibſen einige Jahre vorher als 
Balladenzyklus „Helge Hundingsbane' umgedichtet hatte (NI, 36 ff.). 

S. 94. Sigurd und ich bleiben beiſammen. Vgl. die oben (S. 80) 
angeführte Stelle der Edda, die letzte Strophe von „Brynhilds Todesfahrt“. 

S. 95. „Dagny iſt mir lieber ꝛc.“ Genauer geprüft und erwogen — 
darin hat E. Reich gewiß recht — bedeutet dieſe Außerung im Munde des 
edlen Mannes nicht notwendig Liebe. Denkt aber der Zuſchauer daran, an: 
ſcheinend völlig deutliche Worte auf die Goldwage zu legen? 

S. 96. „Dem Gemüt des Hörers ꝛc.“ Vgl. die übrigen Beiſpiele in 
G. Freytags „Technik des Dramas‘ S. 117. Der geringſchätzenden Beurteilung 
dieſes Buche vermag ich nicht beizupflichten. Es hält reichlich, was es verſpricht. 

S. 97. Das Gedicht — eigne Schöpfung. Bonus meint, vor allem 
ſei Egils „dichteriſch⸗kräftigſter Gedanke von Ibſen aufgenommen worden, 
jener wütend⸗ohnmächtige: Könnt ich mit dem Meergott kämpfen! könnt ich 
den Sturmgott bezwingen!“ Man leſe aber nach, was in Ibſens Vorlage 
(Petersen I, 256, Strophe 9) aus dieſem kräftigſten Gedanken geworden iſt. 

S. 97. Suttungs Met.“ Vgl. über dieſe Bezeichnung der Dichtkunſt 
die ‚Erzählungen Bragis‘ der Snorra Edda, e. 3, 4 (Gering S. 354 ff.). 

S. 98. Fylgje. A. Faye (Norske Sagn ©. 76) bemerkt: „Wenn die 
Fylgje [fylgja, ein Folge⸗ oder Schutzgeiſt, Faye ſchreibt übrigens Fölgiet] 
ſich zeigt, fo geſchieht es gemeiniglich in Geſtalt eines Tieres, deſſen Eigen⸗ 
ſchaften zum Charakter des betreffenden Menſchen in einem gewiſſen Verhältnis 
ſtehen.“ Vgl. auch das ‚Lied von Helgi, dem Sohn Hjorwards' (die Proſa 
nach Str. 34) und, das grönländiſche Lied von Atli‘ Str. 18 (Gering S. 158 u. A., 
u. S. 278); ferner: Grimm, Deutſche Mythologie II, 829, und K. Maurer, 
Isl. Volksſagen d. Gegenw. S. 79 ff. 

S. 98. Hjördis reißt ihren Bogen an die Wange. Vgl. WIII, XI. 

S. 98. Scheiden ſich ihre Wege. Das Motiv iſt ſchon im „Hünengrab' 
verwendet, W II, 29. 

S. 99. „Ich weiß es nicht...“ Vgl. Njalsſ. Kap. 77: Petersen III, 
147. (Bonus.) 

S. 99. „Was braucht der Dichter ꝛc.“ Hamb. Dramaturgie im An⸗ 
fange des 48. Stückes. 

S. 99. Heidniſche Blutsbrüderſchaft. Vgl. Gering, Edda S. 221, Anm. 

S. 99. Arinbjörn. Egilsſ. Kap. 53: Petersen I, 210. 

S. 99. Svenke. Laxd. Kap. 69: Petersen II, 224. 

S. 100. Kjartan: Lard. Kap. 49: Petersen II, 176. 

S. 100. Dankbrand. Njalsſ. Kap. 101: Petersen III, 201. Vgl. auch 
K. Maurer, Die Bekehrung des norwegiſchen Stammes zum Chriſtentum, 
I (München 1855) $ 31, beſ. S. 409. 

S. 100. Hildigunne. Njalsſ. Kap. 116: Petersen III, 222. 


398 Anmerkungen 


S. 100. Floſe läßt Gottesdienſt halten. Njalsſ. Kap. 126: 
Petersen III, 247. 

S. 100. Verantwortung vor Gott. Njalsſ. Kap. 128: ec l 251. 

S. 101. Ammunde. Njalsſ. Kap. 106: Petersen III, 209. 

S. 101. Hinke⸗Hulda: Halte-Hulda, Drama i 3 Akter, Bergen 1858. 
Deutſch von E. Lobedanz, Björnſons ausgew. Werke, Bd. I, 1870. 

S. 101. Von ihrem Berufe. Hier ift, dem Sprachton des Stückes ge⸗ 
mäß, das Wort hverv ſtatt kald gebraucht. 

S. 102. Heiberg über Nordiſche Heerfahrt: Prosaiske Skrifter, 


VII, 401. 
Kap. V 

S. 105. Ein fremder Schütze. Chr. Collin (H. Ibſen und e 
Neue Rundſchau, 1907, 1296) vermutet in dem Schützen „eine Verkörperung 
der Heineſchen Ironie“. 

S. 105. „Erſt nachdem ich mich verheiratet...“ B 74. 

S. 108. Ein Teil des Entwurfes liegt im Manuffripte vor. 
Das Mf., eigenhändig, im Beſitze der Univ.⸗Bibl. zu Chriſtiania, vier Hefte 
in 4°, 16 beſchriebene Blatt, führt den Titel: ‚Svanhild, Komedie i tre 
Akter af Henr. Ibsen. 1860.“ Unter dem Perſonenverzeichnis, das vier 
nun nicht mehr vorhandene Namen aufweiſt, nach der Ortsangabe die Be⸗ 
merkung: „Tiden er en Sommerdag jaar“. N II, 25 ff. u. IV, 408 f. 

S. 110. Die Unzertrennlichen. ‚De Uadskillelige‘ von J. L. Heiberg, 
Poetiske Skrifter paany samlede af Forfatteren, VII (1849). 

S. 114. Steffens, Henrich, „Was ich erlebte‘ VI, 278 ff. 

S. 116. Nur eine zureichende Motivierung. Vgl. Wilhelm Wetz, 
Shakeſpeare vom Standpunkt der vergleichenden Kteratungeſchichte, 2. A. 1879, 
S. 101 ff. 

S. 117. Schwanhild. Vgl. Anm. zu S. 73: Modell für Schwanhild 
wie für Hjördis Suſanna Dane Thoreſen. 

S. 120. In Ca milla Colletts Romane Amtmandens Döttre, I, S. 160. 

S. 128. Bemerkt Schopenhauer: Werke (Griſebach) V, 514. 

S. 130. Eine Art Geſamtphyſiognomie. Die hier verwertete Be⸗ 
obachtung von U. Carolina Woerner wird durch Ibſen ſelbſt beglaubigt 
in einem Briefe an G. Brandes (B 81), der 1900 noch nicht vorlag. 

S. 135. Camilla Collett in ihrem Romane I, 155: Auszug aus 
Margaretens Papieren. 

S. 136. Einem Onkel oder einer Tante x. Aus Beſprechungen des 
Morgenblattes und des Abendblattes. Vgl. Jaeger, Livsb. S. 165. 

S. 136. Sturm des Unwillens. B 93 und WI, 505. 

S. 136. „La perfection etc.“ Léo Quesnel, Henrik Ibsen, in der 
Revue politique et littéraire, 25. VII. 1874. 


Anmerkungen 399 


Kap. VI 

S. 137. „Ichkonnte damals ꝛe. „ Vonebe zum, Feſt auf Solhaug „WII, 152ff. 

S. 137. Programmrede des Dichters vom Jahre 1874; Halvorsen 
II, 22. W I, 520. 

S. 137. Kein Theaterſtreit von rein literariſchem Charakter. 
Vgl. WI, 396 ff. | 

S. 138. Hieß die Lofung. Vgl. den Aufſatz ‚Norsk Nationaltheater‘ 
von Irgens Hansen in Nyt Tidsskrift VI, 785 ff. 

S. 138. Norwegiſche Schauſpieler heranzubilden. Jaeger, Lit.“ 
hist. S. 496 ff. 

S. 139. „Hier handelt es ſich nicht ꝛc.“ Halvorsen III, 36 ff. W , 
396 ff. Eb. weitere Aufſätze über den Theaterſtreit. 

S. 139. Ausdrücke fielen. Aus der Zeitung ‚Kriftianiapoften‘ 1858 
Nr. 80, angeführt von Jaeger, Livsb. S. 164 ff. 

S. 139. Die ſtrengſte Kritik. Botten-Hansen bei Halvorsen III, 13. 

S. 140. In der Bildergalerie. Der Zyklus wurde nicht in die end- 
gültige Sammlung ‚Digte af Henrik Ibsen 1871, 2. verm. Aufl. 1875, auf⸗ 
genommen. Nun WI, 257. 

S. 140. Sein Familienleben. Georg Brandes, Henrik Ibſen, Nord 
und Süd“, XXVII, 1883, S. 249. 

S. 141. Sagen zu ſammeln. Vgl. WI, 479 ff. 

S. 141. In der öffentlichen Meinung verloren uſw. B 74. 

S. 141. Erzählt er ſelbſt: B 74. 

S. 142. Fragt Kierkegaard. ‚Enten-Eller‘ S. 3. 

S. 142. Jatgejr entſpricht dem engliſchen Namen Eadgar, Edgar. 

S. 142. Stoff zu allen feinen Werken. Vgl. G. Brandes, Sören 
Kierkegaard, ein literariſches Charakterbild, Leipzig 1879. 

S. 143. Halblicht⸗ Halbleben, das Gleichnis wird ſchon im Catilina“ 
(S. 57) und im ‚Feft auf Solhaug‘ (S. 50) angewendet. 

S. 144. Seines Apoſtelamtes waltend: wie Ehrhard meint, S. 68. 

S. 144. Gehört zu den Individualitäten: Botten-Hansen bei Hal- 
vorsen III, 14. | 

S. 144. In faft klaſſiſcher Reinheit: Mogk in H. Pauls Grundriß, 2,1 

S. 145. Dramatiſch⸗urſächlich geordnet. Die Probe des glühenden 
Eiſens, die Hakons Mutter in der Eröffnungsſzene zur Erhärtung ſeiner könig⸗ 
lichen Geburt beſteht, iſt aus dem Jahre 1217, die Verlobung Hakons mit 
Skules Tochter Margareta aus dem Jahre 1219 zum Zwecke dramatiſcher 
Zuſammenfaſſung auf den Tag der Reichsverſammlung verlegt. Die in der 
erſten Szene des zweiten Aufzugs geſchilderte Vermählungsfeier des Königs 
hat das geſchichtliche Datum: 25. Mai 1225. In dieſen Auftritt iſt wieder 
der Vorgang mit dem Briefe an den Orkney-Jarl (1217), das erzwungene 


400 Anmerkungen 


Ausſcheiden des treuen Ratgebers Iwar Bodde aus Hakons Dienſte (1217), 
die Ermordung Wegard Wäradals (1221) und die Abreiſe ſeines Mörders, 
des Andreas Skjaldarband, ins Heilige Land (1229) zuſammengerückt. Zwiſchen 
dem zweiten und dritten Akte, d. h. zwiſchen der Vermählung des Königs und 
dem Tode des Biſchofs Nikolaus, läßt der Dichter nach ausdrücklicher Angabe 
drei Jahre verfloſſen ſein. Der hiſtoriſche Nikolaus ſtarb jedoch am 27. No⸗ 
vember 1225, im fünfundſiebzigſten (nicht im achtzigſten) Lebensjahre. Bei 
Ibſen legt ſich noch in der Nacht ſeines Todes Herzog Skule an Bord eines 
Schiffes den Königsnamen bei. Das geſchah eigentlich am 6. November 1239, 
und damals ging auch ein getreuer Anhänger des Herzogs zu Hakon über, 
wie hier im Stücke Gregorius Jonsſohn. Die für Hakon ſo unglückliche Schlacht 
bei Läͤka, deren ſich Skules Mannen in der großen Gaſtmahlsſzene des vierten 
Aktes rühmen, wurde im März 1240 geſchlagen, und nicht erſt nach dieſer 
Schlacht, ſondern ſchon im Jahre 1230 erklärte die Witwe des Andreas Skjaldar⸗ 
band, daß ihr Sohn Peter ein Sohn Skules ſei. Der Kampf in den Straßen 
von Oslo (Chriſtiania), der ſich im Drama unmittelbar an die freudige Auf⸗ 
nahme Peters bei ſeinem Vater anſchließt, fand wieder 1240 ſtatt. Zwiſchen 
dieſen Kampf und Skules Ende im Kloſter auf Elgeſäter hat der Dichter 
in der erſten Szene des fünften Aufzugs den Kirchenraub Peters zu Nidaros 
(Mündungsſtadt der Nid, Drontheim) eingeſchoben, der ſchon im November 
des Jahres 1239 begangen wurde, wie auch der Komet bereits am 16. Jänner 
1240, alfo vor der Schlacht bei Lͤͤka, erſchienen war. 

S. 145. „Man hat in der Tat ꝛc.“ Vgl. Ludwig Bellermann, Schillers 
Dramen, Beiträge zu ihrem Verſtändnis, 1891, II, S. 21. Dort findet ſich 
auch die richtige Zeitberechnung. 

S. 147. Gewitterartig befreit werden. In der Abhandlung „Über 
naive und ſentimentaliſche Dichtung‘ wird, wenn auch in anderem Zuſammen⸗ 
hang und anderer Bezeichnungsweiſe, dasſelbe ausgeſprochen. Schiller betrachtet 
Tragödie und Komödie zuſammen, da für beide Einheit des Tons erforderlich 
iſt. Der Tragiker muß immer das Herz intereſſieren, ſagt er, der Komiker 
immer den Verſtand unterhalten. Jener zeigt alſo durch beſtändige Erregung, 
dieſer durch beſtändige Abwehrung der Leidenſchaft ſeine Kunſt. Es verſteht 
ſich, daß Leidenſchaft hier für Gemütsbewegung, Affekt genommen iſt. 

S. 150. Birkenbeiner. Dieſen Namen erhielten die nicht ſehr zahl⸗ 
reichen Anhänger Eyſteins (in den Jahren 1174 1176), der ſich als Kron⸗ 
prätendent gegen Erling Skakke erhob. Gezwungen, von Plünderung zu leben 
und beſtändig den Schlupfwinkel zu wechſeln, konnten ſie ihre verſchliſſenen 
Kleider und Schuhe nicht mehr erſetzen und mußten ſchließlich Birkenrinde um 
ihre Beine und Füße binden. Der Spottname wurde dann zum allgemein 
gebrauchten Parteinamen. Vgl. P. A. Mun ch, Det norske Folks Historie, III, 45. 

S. 152. Da plötzlich kommt es über ihn. Vaſenius (Skaldeportrett 


. ˙ ne 
TR a 


l 


88 


I 


Anmerkungen 401 


S. 158) meint, die Liebe, deren ſich Skule hier unerwartet fähig erweiſt, ſei 
Vaterlandsliebe. Dem widerſpricht der Wortlaut: „Ihm (sc. dem Kirchen⸗ 
räuber) alle Macht? Ha, jetzt durchſchaue ich dich; — du willſt das Ber: 
derben feiner Seele!“ 

S. 154. Seine Mutter. Zur Geſtalt der Inga von Vartejg hat Ibſens 
eigene Mutter „das Modell abgegeben“. B 74. 

S. 155. In der Saga: Kap. 242. 

S. 156. Bagler. Der Parteiname kommt von bagall (baculus) = Biſchofs⸗ 
ſtab, alſo etwa: „Krummſtäbler“ (Jaeger⸗Zſchalig S. 126, Anm.). Die Partei 
wurde auf Betreiben und mit Hilfe des Biſchofs Nikolaus im Sommer 1196 
gebildet. Vgl. P. A. Munch, Det Norske Folks, Historie III, 293. — In der 
Gaſtmahlsſzene des 4. Aktes nennen ſich Skules Mannen „Wolfsbälge“ — 
eine Bezeichnung, die 1190 für die Schar eines Kronprätendenten aufgekommen, 
ob im Hinblick auf ihre Bekleidung oder mit Anſpielung auf ihre Falſchheit 
und Tücke, iſt zweifelhaft. Vgl. ebenda S. 219 und Anm. 

S. 157. „Selbſt die Bäume tragen ... Aus der Saga, Kap. 25. 

S. 157. Bemerkung Shelley's. In der Vorrede zur Tragödie „The 
Cenei‘ fagt der Dichter: „It is in the restless and anatomizing casuistry 
with which men seek the justification of Beatrice, yet feel that she has 
done what needs justification; it is in the superstitious horror with which 
they contemplate alike her wrongs and their revenge, that the dramatic 
character of what she did and suffered consists.“ 

S. 157. Der König fällt aus der Rolle. Vaſenius, der dies zuerſt 
bemerkte, will den Satz erklären: Skule fühlte ſich als Gottes Stiefkind 
auf Erden. (Vgl. Skaldeportrett S. 166.) Die rein willkürliche Auslegung 
verträgt ſich weder mit dem Wortlaut, noch gibt ſie einen vernünftigen Sinn 
im Zuſammenhang mit dem Folgenden. Was wäre denn Rätſelhaftes daran, 
daß Skule ſich als Gottes Stiefkind fühlte? Er hat allen Grund dazu. 

S. 158. Wozu der Menſch geſchaffen ꝛc. Hakon Jarl, I. Akt, 2. Szene: 

„Hvad Mennesket er skabt til, föler han, 
Og medfödt Drift udvikler medfödt Kraft; 
Han sstter det igennem, som han kan, 
Og anden Grund behöver ei hans Daad.“ 

S. 159. Meint er [der Chroniſt]: Kap. 3. 

S. 159. „Aber den letzten Teil ꝛc.“ Prolog zu König Sverres Saga. 

S. 159. In der Geſchichte von Harald Schönhaart im 3. Abſchnitt 
(P. A. Munch, Norges Konge-Sagaer, I, Chra., 1859, S. 37). Arthur Bonus 
führt in feinem „Isländerbuch' dieſe Stelle an, nur um zu beweiſen, daß in 
der Saga die Anregung zu großen Taten ſehr häufig Frauen zufalle. Die 
Verwertung in den Kronprätendenten iſt ihm offenbar entgangen. 

S. 163. Meiſter Sigard. „Sigar, Siger, Zegher, ein ziemlich häufig 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 26 


402 Anmerkungen 


vorkommender niederländiſcher Name.“ (Munch, Det norske Folks Historie, 
III, 608, Anm.) Offenbar iſt Sigwart von Brabant gemeint, der große Philo⸗ 
ſoph der zweiten Hälfte des 13. Jahrh., den Dante in den Himmel verſetzt, 
an eine der höchſten Stellen. In der Saga (e. 44) iſt Sigar von Brabant 
in Skules Dienſten und erbietet ſich, vor der Eiſenprobe die Hände der Königs⸗ 
mutter mit einem gewiſſen Kraute einzureiben, daß ſie dann getroſt das glühende 
Eiſen anfaſſen könne. Der Vorſchlag wird von Dagfinn entrüſtet zurück⸗ 
gewieſen, nachdem er ſich erſt wohlweislich erkundigt hat, wo das Kraut wachſe. 
Die Stelle wirft ein Streiflicht auf die „Technik“ der Gottesurteile. Ingas 
Hände werden nach beſtandener Probe unbeſchädigt befunden, ja ſchöner als 
zuvor (c. 45, wörtlich benutzt von Ibſen). Wenn nicht Sigars Mittel, muß 
ſie alſo ein anderes benutzt haben. 

S. 163. In der Saga: Kap. 46. 

S. 164. Margarete, fo klug ... Um ihrer Klugheit willen, daß fie 
ihn mit gutem Rat unterſtütze, erſcheint ſie zuerſt Hakon begehrenswert, — wie 
auch in der Saga die Frau oft als Beraterin eine Rolle ſpielt. Freilich, den großen 
Königsgedanken läßt Ibſen nicht, wie die ‚Heimskringla“, vom Weibe ausgehen! 

S. 165. Vermochten ſie nicht einzubürgern. Die ‚Kronprätendenten‘ 
wurden von den Meiningern zum erſten Male aufgeführt in Berlin am 3. Juni 
1876 und während jener Spielzeit ſiebenmal wiederholt. Vgl. Robert Prölß, 
Das herzoglich Meiningenſche Hoftheater, S. 34 und 52 ff. Dann und wann 
wird das Drama übrigens heute noch im kgl. Schauſpielhauſe gegeben. 

S. 168. Ein Berliner Dramaturg: Karl Frenzel, Berliner Drama⸗ 
turgie, Hannover 1877, S. 144 ff. 

S. 168. Beide gleichzeitig denſelben Stoff. Vgl. B 99. 


Kap. VII 

S. 170. Aufſchlußreichen Briefen: vgl. beſ. B 74; dann 18, 20, 22, 
23, 28, die im Folgenden vielfach benutzt ſind. 

S. 170. ‚Ein Bruder in Not.‘ Vgl. ‚En broder inöd!‘ (Dezember 
1863) Digte, S. 74, und S. 374 oben. In den ſtärkſten Ausdrücken wirft 
Ibſen ſeinen Landsleuten ihr treuloſes und wortbrüchiges Verhalten gegen 
Dänemark vor. Die unlängſt gefeierte Verbrüderung ſei „Lüge im Feſtgewand“ 
geweſen, „Phraſenſchwall“ und „Judaskuß“. Der Norweger möge nur ſeinen 
Namen wechſeln und ſich vor ſich ſelbſt verbergen uſw. Vollſtändig überſetzt 
von Adolf Strodtmann, Das geiſtige Leben in Dänemark, Berlin 1873, 
S. 244 ff. - WII, 61. f 

S. 170. PNankeetum (amerikanskhed) — vgl. B 22 die in gleichem Sinne 
gegen England gerichtete Stelle: ebenſo W IV, 191 (N II, 129 o.). 

S. 171. „Die Ketten zerbrochen.“ Aus dem Norsk Folkeblad, 1869, 
S. 18, mitgeteilt bei Halvorsen III, 14 f. 


N De — > 2 8 — & 
_ a Ze EEE TREE . ˙ A SE a 


a ER 


Anmerkungen 403 


S. 171. Hejnesſön. Vgl. K. Larsen, H. Ibsens Episke Brand 2, 
S. 20; beſ. aber NIV, 217 f. 

S. 172. Eine befreundete Schriftſtellerin: Laura Kieler. Vgl. ihr 
Buch ‚Silhouetter‘, Odense 1887, S. 9. B 71. 

S. 173. Um Sagen und Volkslieder zu ſammeln. Unter dem 
24. Mai 1862 wurde vom Storthing zugeteilt: „. ... dem Studenten Henrik 
Ibſen 110 Spd., um während einer zweimonatigen Reiſe in Hardanger und 
den Diſtrikten um den Sognefjord und Romsdal Volkslieder und Sagen zu 
ſammeln und aufzuzeichnen, und wiederum unter dem 23. Mai 1863 erhielt 
„Cand. philos. Henrik Ibſen 100 Spd., um in einer Zeit von ungefähr zwei 
Monaten eine Reiſe in die Drontheimiſchen Fjord- und Seediſtrikte, ſowie, 
wenn möglich, nach Nordland zu unternehmen zu dem Zwecke, ſeine Sammlung 
von Sagen und Volksliedern fortzuſetzen“. Halvorsen III, 12. — Bonus (II, 
132) ſpottet, man habe es, vermeintlich zum größeren Ruhme des Dichters, 
„ausgeſprengt“, daß er ſich nur aus Not zum Sammeln von Sagen „hergab“, 
und vergleicht, mehr witzig als treffend, den ſchwer bedrängten Ibſen, der die 
vom Storthing geſtellte Bedingung (vgl. o. S. 141) zu erfüllen hatte, mit dem 
jungen Goethe, der im Elſaß Volkslieder ſammelte. 

S. 174. Das gilt von Ibſens Dichtung überhaupt. Vgl. B 693 
74 (W 10, 149 b.); 99; 102 (W 10, 206 o.); 103. 

S. 174 f. Öffentlih und programmäßig: W I, 522. 

S. 175. Den zuerſt Georg Brandes mitteilte: Brandes, Det 
moderne Gjennembruds Mend, S. 115 f. (Halvorsen III, 46). B 59. Der 
Paſtor A. Schack widerlegt das in ſeinem Buche Om Udviklingsgangen i 
Henrik Ibsens Digtning, Kbh. 1896, S. 52 f. folgendermaßen: „Hierzu muß 
nun geſagt werden, daß es wohl möglich iſt, daß Ibſen, wenn er gewollt hätte 
ein Drama über Galilei hätte ſchreiben können, aber es iſt nicht wahrſcheinlich, 
daß es ‚derfelbe Syllogismus‘ wie ‚Brand‘ geworden wäre; im Gegenteil hat 
man allen Grund, zu glauben, daß es etwas ganz anderes geworden wäre, 
da ja ein weſentlicher Unterſchied iſt zwiſchen dem Verhältnis der religiöſen 
Wahrheit und dem der wiſſenſchaftlichen Wahrheit zum Menſchenleben. Um 
nur auf einen Punkt hinzuweiſen, ſo iſt es leicht erklärlich, daß die religiöſe 
Forderung ‚Alles oder nichts“ von epochemachender Bedeutung für Agneſens 
perſönliches inneres Leben werden konnte; hingegen iſt es nicht leicht denkbar, 
daß die naturwiſſenſchaftliche Wahrheit von der Bewegung der Erde von gleich 
epochemachender Bedeutung für Frau Galileis perſönliches inneres Leben 
hätte werden können, vorausgeſetzt daß Galilei eine Frau gehabt hätte ())“ 
uſw. Der Stil und die Logik des Buches ſind durchaus — gleich gut. 

S. 175. Und noch ein andermal: B 74. 

S. 175. Der letzte Zweck der Schilderung. Vgl. Schillers Rezenſion 
des Egmont im Anfang. 

26* 


404 Anmerkungen 


S. 176. Nietzſche, Götzendämmerung, ©. 76. 

S. 178. Wird mit Recht gefragt: von Ehrhard, ©. 66. 

S. 178. Betont Ibſen wiederholt: B 34 und 93. 

S. 179. Goethe. In ſeiner Beſprechung des Buches: Histoire de la vie 
et des ouvrages de Moliöre par J. Taschereau, Paris 1828. 

S. 179. Künſtleriſches und menſchliches Bedürfnis. Vgl. Paul 
Lindau, Moliere, Ergänzung der Biographie aus feinen Werken, Leipzig 1872. 

S. 179. Bei einer Bevölkerung. Vgl. die Vorrede zur, Komödie der Liebe‘. 

S. 180. In Ibſens Vaterſtadt. Vgl. W X, 399: Das „Sturmwetter“ 
deutet auf die von Lammers hervorgerufene Bewegung. 

S. 181. Aus Schriften von und über Lammers. Mitgeteilt von Jaeger, 
Livsb. S. 196 ff. — Larsen (S. 235 ff.) zeigt, inwiefern auch der wackere Chri⸗ 
ſtopher Bruun für Brand Modell geſtanden hat. N II, 72 — 79. 

S. 181. „. .. durch die vollkommenſte Freiwilligkeit.“ Dieſe wich⸗ 
tige Stelle (bei Jaeger S. 197) hat Zſchalig ausgelaſſen. 

S. 182. Sabbatreligiöſität. Max Stirner gibt für die Sonntags⸗ 
frömmigkeit der kleinen, unbedeutenden Egoiſten eine pſychologiſche Erklärung, 
der Ibſen wohl beigepflichtet hätte. (Der Einzige und ſein Eigentum, Reelams 
U.⸗B., S. 97.) 


S. 182. Ihm wurde, wie Brand, die Kirche zu klein: aber zuletzt 


kehrte Lammers weh: und demütig in den verlaſſenen Pferch zurück. N IL, 77. 

S. 182. G. Brandes, Aesthetiske Studier. Kjöbenhavn 1868, S. 263. 
(Urſprünglich in Dansk Maanedsskrift, 1867, II, 228 ff.) 

S. 183. Ibſens eigne Worte: B 32 und 40. 

S. 183. Außerte er einmal im Geſpräche mit dem Verf. dieſes Buches 
(Sommer 1896). 

S. 183. Die ſchon H. Jäger mitteilt: in Livsb. S. 199. 

S. 183. Kierkegaard ſagt: Öjeblikket, Nr. 5, S. 11 und 12. 

S. 184. Wenn Kierkegaard fragt, Öjeblikket, Nr. 2, ©. 25. 

S. 184. Man mag Anklänge heraushören. Auch Kierkegaard z. B., 
wie Lammers, weiſt darauf hin, daß nur einmal wöchentlich drei Viertel⸗ 
ſtunden lang in den Kirchen von etwas Hohem geſchwatzt werde, für die übrige 
Zeit gebe man allem Höheren den Laufpaß. Ojeblikket, Nr. 9, S. 14. 

S. 185. Wo es Ernſt fein ſoll, ſagt Kierkegaard: Öjehlikket, 
Nr. 6, S. 24. 

S. 185. Heißt es in einem Briefe Ibſens: dem oben erwähnten an 
Georg Brandes, Det moderne Gjennembruds Mend, S. 115. (Halvorsen 
III, 46.) B 59. 

S. 185. Als epiſche Dichtung geplant. Wir kennen nun, außer, Terje 
Vigen‘, noch vier epiſche Verſuche aus den Jahren 1851 61. — Der epiſche 
Brand, dichteriſch ſo viel reifer und reicher, läßt doch gerade am deutlichſten 


a 


N 


er 
RS Er 5 


ze 


Anmerkungen | 405 


erkennen, wie unbequem dem Dramatiker das Erzählen wurde. Schon in der 
Expoſition — dem Geſpräch der beiden Knaben — ift die epiſche Form müh⸗ 
ſelig feſtgehalten. Und ſo weiterhin. 

S. 186. Für eine ideale Bühne gedacht. Ibſen beſtätigt ſelbſt, daß 
Brand „nicht für die Bühne berechnet“ geweſen (B 154) und nennt die Stock⸗ 
holmer Aufführung (B 185) „ein mutiges — ja verwegenes Unternehmen“. 

S. 186. In ſich ſelbſt zu blicken: vgl. den Brief an Cl. Peterſen, Neue 
Rundſchau, 1906, S. 1507 f. N 

S. 187. Das ſich nach Jahrzehnten wiederholte. Vgl. B 182 
WX, 344). 

S. 187. Brand: zu dem Namen vgl. Larsen S. 207. Urſprünglich hieß der 
Held Koll (= rauher, knolliger Felsgipfel), welchen Namen ſchon Welhaven 
in dem Gedichte Koll med Bilen (1848) A. Fayes Norske Sagn entlehnt 
hatte. Hiergegen iſt denn ‚Brand‘ freilich „reicher an Ideenverbindungen“. 

S. 188. Brands Mutter. Über das Modell vgl. Larsen S. 219 f. 

S. 189. Ein fröhlich ſich neckendes Liebespaar. Vgl. Larsen S. 252 
und 254: Thea Bruun als Modell für Agnes; des Freundes Dietrichſon 
romantiſche Brautfahrt — „wie junge Schwäne auf dem erſten Flug“ — als 
Vorbild für Ejnar und Agnes. 

S. 192. Erſchauert fie... Im epiſchen Brand, N II, 133, heißt es 
(nach L. Fuldas vortrefflicher Überſetzung): 

Sie ging und trug der Menſchenmutter gleich 
Gewonnen Wiſſen und verlornes Eden. 

S. 193. Palmen ſtehen uſw. Nach perſönlicher Beobachtung ebenſo 
geſchildert NI, 188. 

S. 200. Wort der Schrift: vgl. 2 Moſ. 33, 20. 

S. 200. Der Aurelia⸗Typus erreicht erſt in Agnes feine Boll: 
endung. Ich kann G. Neckels Auffaſſung (a. a. O. S. 12) nicht gelten laſſen, 
daß ſich in Agnes der Aurelia⸗ und Furia⸗Typus verſchmelzen. Selbſtverſtändlich 
ſtellt man nur zum Zweck der Erläuterung die beiden Typen einander ſchema⸗ 
tiſch gegenüber; im Leben und in Ibſens Dichtung (den ‚Satilina’ ausgenommen) 
hat jede Frauengeſtalt des einen Typus auch eine größere oder kleinere Bei: 
miſchung von den Eigenſchaften des andern. So fehlt es Agnes nicht an Wille, 
Wagemut, Strebenskraft — aber fie iſt ſtets nur mit wollend, mit wagend, 
mitſtrebend: alles in, durch und mit Brand (vgl. oben S. 202). Daß fie, im 
Weſentlichen, nicht dem Furia⸗Typus angehört, beweiſt eben ihr Erliegen. Sie 
erliegt an dieſem durch Liebe über ihr natürliches Maß hinausgeſteigerten 
Wollen und Streben. | 

S. 206. Steiniget ihn. J. Collin, „Henrik Ibſen. Sein Werk. Seine 
Weltanſchauung. Sein Leben“. Heidelb. 1910. S. 188, erinnert an das Wort 
des Moſes: „Es fehlet nicht weit, ſie werden mich noch ſteinigen.“ 


406 | Anmerkungen 


S. 207. Mann fein, Held des Willens. Brand iſt ein Urbild un⸗ 
bedingter Männlichkeit auf geiſtigem Gebiete, ein Coriolanus des Willens. 
Auch hier der Vorwurf des Dramas „geradezu die männliche Kraft, die 
in ihrer einſeitigen Größe dichteriſch verherrlicht und tragiſch gebrochen wird“; 
auch hier die Bemerkung zutreffend: „einer ſolchen Natur wäre es überhaupt 
unmöglich, ſich unſerer tragiſchen Sympathie zu verſichern, wenn nicht die er⸗ 
habene elementare Gewalt der Seele dieſe Härte edelte, dieſe Einſeitig⸗ 
keit füllte.“ Adolf Wildbrandts Worte in der Einleitung zu feiner Über⸗ 
ſetzung des Coriolanus (Shakeſpeares Werke, hg. von Bodenſtedt 1890). 

S. 207. Nicht um Lohn hab' ich gelitten ꝛc. Charles Sarolea, 
Henrik Ibsen, Paris 1891, nennt ‚Brand‘ im Gegenſatz zur divina commedia 
„eine göttliche Tragödie, das Erſteigen eines myſtiſchen Berges“. 

S. 210. Quantum satis: es iſt Medizinerlatein, eine ſtehende Formel 
in Rezepten — dem „Apotheker“ Ibſen wohl bekannt. Vgl. B 28. 

S. 211. Pſychologiſch verſtehen. Vgl. Larsen S. 249 ff., wo auch auf 
Chr. Collins Aufſatz „Henrik Ibſen und Norwegen (Neue Rundſchau, 1907) 
entſprechend hingewieſen wird. N II, 80 ff. 

S. 211. Zog Brand an fein Herz — als deus caritatis. J. Collins 
Auslegung des Schluſſes (a. a. O. S. 258 ff.) empfinde ich als Umdeutung: 
einer vorgefaßten ſtark theologiſch gefärbten Meinung zuliebe. Da muß dann 
Ibſen nur „in ſeinem Arger“ erklärt haben, er hätte ebenſogut einen Politiker 
oder Bildhauer nehmen können 

Am weiteſten von allen, die den Schluß rechtfertigen, geht Bernhard Luther 
(Die Tragik bei Ibſen“, Zeitſchrift für Aſthetik und allgemeine Kunſtwiſſen⸗ 
ſchaft, hg. von Max Deſſoir, V, 571 ff.) mit der Behauptung: „Brand iſt 
gerade ohne dieſen Schluß gar nicht zu denken.“ Da Luther dem Dichter zu⸗ 
zugeben ſcheint, daß der Syllogismus nicht unbedingt notwendig auf religiöfen 
Gebiet durchgeführt werde, wäre es vor allem lehrreich, zu erfahren, was dieſem 
unumgänglichen Schluß entſpräche, wenn Ibſen einen Politiker oder einen 
Bildhauer genommen hätte. 

S. 211. Den ungewollten Beifall. Vgl. B 60. Auch B 71: „Brand 
iſt ein äſthetiſches Werk, ganz und gar, und nicht im geringſten etwas anderes. 
Was es mag niedergeriſſen oder aufgebaut haben, geht mich durchaus nichts an.“ 

S. 212. A. O. Vin je: Skrifter i Utval. Bd. IV (Kristiania 1887) S. 94. 

S. 212. Nennt G. Brandes: Aesthetiske Studier, S. 271. 

S. 213. Der Habicht wurde gedeutet. Vgl. C. H. Herford, Brand: 
translated in the original metres with an introduction (London 1894) 
S. 179 Anm. und Einleitung S. 33 und 65. Ibſen ſagte zu Herford: „Dieſe 
Auslegung kann ich ſehr wohl annehmen.“ Er ſchützte ſich nur gar zu gerne 
vor dergleichen Fragen und Erörterungen durch ein bereitwilliges: „Das kann 
wohl ſein.“ Unmöglich iſt die weitere Erklärung Herfords: „Der Habicht wird 


EEE a 5 
— VII ELLE ug ee a en 


nun nun ³ An nn nn Lane 


Anmerkungen 407 


von Gerd geſchoſſen und rollt zu ihren Füßen nieder — weiß wie eine Taube. 
Der Dämon Kompromiß war alſo ſchließlich doch verwandt mit der Liebe (akin 
to love).“ Hier führt die Deutungsſucht zum Widerſinnigen. Die Überſetzung 
Herfords aber iſt ganz vortrefflich und Kennern des Engliſchen ſehr zu empfehlen. 
S. 213. Die nordſiſche Kritik. Vgl. beſ. Brandes, Aesthetiske Studier, 
S. 226. Als Beiſpiel werden die beiden ſchlimmſten Zeilen der Dichtung angeführt: 
Den lögntrösts gröd i skrekkens stund 
Blier kaldt for mad af nädens mund. 
©. 213. Hat Vinje beachtet. Skrifter i Utval IV, S. 100. Er führt 
als beſ. bezeichnend die Stelle an: „Hvem er hun som jordvendt kommer“ 
bis „spigret pa en stabbursvg“; dann Bildungen und Wörter wie viljett- 
veett, löftningsjubeln lyser, lov og pris gar troldomsbäret som en isstrom 
gennem häret, knirke, skrige, skjerende mislyd. Man könne auch Werge⸗ 
land wieder erkennen in der Stelle: „Se, Agnes, se den stribe bla“ bis „hvor 
smukt sig hav og himmel malte“ (2). N 
S. 214. Durch Siebolds Bearbeitung. Brand, deutſch von P. F. Sie⸗ 
bold, Kaſſel 1872, 2. A. 1880. Drei weitere Verſuche: von Julie Ruhkopf, 
Bremen 1874; A. Freiherrn von Wolzogen, Wismar 1876; L. Paſſarge, Reclams 
Univ.⸗Bibl., können ſich mit der Verdeutſchung Chriſtian e, in W 


ebenfalls nicht meſſen. 
Kap. VIII 


S. 216. Sei du ſelbſt. Ver dig selv! und Ver dig selv nok! heißen 
die beiden einander entgegengeſetzten Loſungen in der Urſchrift. Die zweite 
läßt kaum eine wörtliche Verdeutſchung zu, denn: Sei dir ſelbſt genug! klingt 
eher wie der Spruch eines Weltweiſen, nicht wie Ibſen es meint: Liebe nur 
dich ſelbſt — lebe dir ſelbſt! 

S. 217. Frederik Paludan⸗Müllers (18091876) Adam Homo‘ 
erſchien in den Jahren 1841 — 1849. 8. A. 1893. Deutſch von E. Klingenfeld, 
Breslau 1883. 

S. 217. H. Kräger, ‚Der Byronſche Heldentnpus‘ (Heft VI der ‚For: 
ſchungen zur neueren Literaturgefchichte‘, hg. von F. Muncker), Kap. IV. 

S. 219. „L'auteur de Synnœve“ x. Ehrhard hat wohl zuerſt den 
palinodiſchen Charakter des Peer Gynt betont und belegt (S. 160 ff.). 

S. 220. Die Namen andeuten. Solbakken bedeutet Sonnenhügel, Sol⸗ 
vejg Sonnenmauer. 

S. 220. Haugianer. Der Norweger Hans Nilſen Hauge (17711884) 
durchwanderte vom Jahre 1797 an als Laienprediger ganz Norwegen von 
Stadt zu Stadt, von Weiler zu Weiler bis hinauf nach Tromſö und gewann 
viele Anhänger, die nicht aus der Staatskirche austraten, ſich aber von öffent⸗ 
lichen Luſtbarkeiten fernhielten und ſich beſtrebten, ſeinen Mahnungen gemäß, 
den Namen „Tugendfreunde“ zu verdienen. Vgl. Halvorsen II, 157 ff. 


408 Anmerkungen 


S. 221. Arne. Gg. Brandes erzählt (H. Ibſen“, Die Literatur, Bd. 32, 
26 f.), wie nach Ibſens Meinung Arnes wahre Geſchichte lauten müßte. 

S. 222. Auf Ischia — B 74. 

S. 222. Als Vertreter des norwegiſchen Volkes. Brandes (a. eben 
a. O.) meint, Peer ſei dem Dichter erſt nach und nach zur ſatiriſchen Per⸗ 
ſonifikation norwegiſcher Volkseigentümlichkeiten und Volkslaſter geworden, 
„als entfernter Verwandter mit Cervantes Don Quijote und Daudets Tar⸗ 
tarin zu vergleichen“. — Wir ſehen wohl Peer im Gedichte mehr und mehr 
zum Vertreter des norwegiſchen Volkes ſich arten; ob und wie weit dies ſchon 
in der urſprünglichen dichteriſchen Abſicht gelegen — darüber hätte ſogar der 
Dichter ſelbſt ſich irren können. — Die Außerung B 46 iſt natürlich ſatiriſch 
zu nehmen. 

S. 222. Camilla Collett. „Peer Gynt er simpelt vek Manden 
saaledes som Samfundet opdr&tter og former ham“ ſchreibt fie in einem 
Briefe über Peer Gynt in der Zeitſchrift Tilskueren III (1886) S. 233. 

S. 223. Aus des Dichters Jugendgeſchichte. Vgl. B 166 (WX, 319). 

S. 224. Mit Märchen darüber weggeholfen. B. Kahle (Henrik 
Ibſen, Bj. Björnſon und ihre Zeitgenoſſen“, 1908, Aus Natur⸗- und Geiſtes⸗ 
welt, Bd. 193, 20 f.) bemerkt, daß dies Motiv vielleicht Camilla Colletts ‚In 
den langen Nächten‘ entlehnt ſei. Sie berichtet von einer armen Frau, die 
des Abends, wenn nichts zu eſſen da war, ihre hungernden Kinder mit 
Märchenerzählen beſchwichtigte. 

S. 225. „Mit den nötigen Übertreibungen“ — B 74 (WX, 151). 

S. 236. Der leitende Kritiker: Clemens Peterſen. WX, 432 und 
444. B 44 (WX, 98). 

S. 237. Lamb: In dem Aufſatze ‚Sanity of true Genius‘. 

S. 237. Einem Gelehrten der Naturwiſſenſchaften. Du Bois⸗ 
Reymond in feiner Rede über, Naturwiſſenſchaft und bildende Kunft‘. Lpz. 1891 
S. 237. Das Befremdliche des Stoffes — B 146. (W X, 287). 

S. 237. Asbjörnſens Feenmärchen. Es wird ſtets nach der 2. von 
Ibſen benutzten Ausgabe angeführt. 

S. 237. In alten Tagen — B 91, WX, 90 und 442. 

S. 238. Den Grundzug im Charakter des Helden. Gg. Brandes 
(a. eben a. O. 25) berichtet auch von einem zeitgenöſſiſchen Modell, einem 
jungen Dänen, den Ibſen in Italien kennen lernte. 

S. 239. Wie das Knirſchen eines Sägeblatts. Einige der Haupt⸗ 
punkte und auch dieſen Vergleich hat ſchon Paſſarge belegt (a. a. O. S. 142). 

S. 230. Asbjörnſens und Moes Volksmärchen, Von dieſen oben 
ſchon erwähnten Norske Folke-Eventyr (tredie udg. Christiania 1866) gibt 
es eine vorzügliche deutſche Ausgabe von Fr. Breſemann mit einem Vor⸗ 
wort von L. Tieck, 2 Bde, Berlin 1847. Nach dieſer wird hier angeführt. 


u FE Knie EN — 


Anmerkungen 409 


S. 240. Zwei Lesarten. In den Huldre-Eventyr II, S. 113 findet ſich 
noch eine dritte Variante: Der Teufel in der Branntweinflaſche. 

S. 240. Phaedrus. Fabulae V, 5: Scurra et Rusticus. | 

S. 241. H. v. Kleiſt. Bülow, Kleiſts Leben und Briefe, S. 50. 

S. 242. Die Heimatsfanatiker. In ihrer Verſpottung iſt Ibſen der 
Nachfolger Welhavens. Schon anfangs der Dreißiger Jahre kam nämlich 
dies übernorwegiſche Norwegertum auf und ſein Organ war Folkebladet. 
Selbſtändigkeit und Frugalität hieß die Loſung. Den „Landsleuten aus dem 
ehrlichen Bauernſtande“ wurde geſagt, wie ſie ſich nähren und kleiden ſollten. 
Beinkleider aus blauem Fries und einen blauen Friesrock ſollten ſie tragen, 
und Mützen aus norwegiſchem Fell. Ihre Möbel und ihre Töchter ſollten mit 
halbwollenem Stoffe bezogen ſein. Statt ausländiſcher Gemüſe ſollten ſie 
einheimiſches Grünzeug eſſen, ſtatt Roſinen gedörrte Stachelbeeren. Ihren 
Wein ſollten ſie aus Heidelbeeren und Johannisbeeren machen, der ſei dann 
ſo kräftig und ſchmackhaft wie Muskateller und Rheinwein. Ihren Punſch 
ſollten ſie „aus vollkommen reinem, norwegiſchem Kornſpiritus“ herſtellen, und 
ſelbſt ihr Kaffee müſſe ſo norwegiſch ſein wie möglich, nämlich mit einem 
gehörigen Quantum Cichorie. Es bildeten ſich Geſellſchaften und Vereine, 
die Enthaltung von allen ausländiſchen Erzeugniſſen zu ihrem oberſten 
Geſetz machten. Doch wurden in den Satzungen einige Ausnahmen zu⸗ 
geſtanden. Fremde Spirituoſen waren verboten — ausgenommen am 17. Mai. 
Oder §6: Es iſt den Männern erlaubt, ſich Kaliko zu Halskragen zu kaufen. 
99: Wer noch in den Satzungen verbotene Kleidungsſtücke beſitzt, darf fie 
vollends abtragen. (Jæger, Lit.-hist. II, 99; Lassen a. a. O. 64ff.) 

S. 242. Sonntagsſchweif. Das dürfte eine Erinnerung fein aus Hol 
bergs Nicolai Klimii Iter Subterraneum, cap. X: „Alius fascias versicolores 
caudae illius annexuit; nam nihil est, quod hisce simiis cordi adeo sit 
quam ornatus caudarum“ (S. 153 der Ausgabe von C. G. Elberling). Ferner: 
„ +. ;intrat .. cercopithecus quidam . .. cum restibus ac cauda fictitia, 
quam natibus meis applicuit, ut ad figuram aliorum semiorum effingerer ..“ 
(S. 157). 

S. 244. Luerez. De rerum natura I, 151 u. ff. 

S. 246. „Sein Gegenſatz, Peer Gynt“ — B93. 

S. 246. Bemerkt der Dichter — B 93 und 154. — Eine Reihe ſehr 
bezeichnender Außerungen über ‚Brand‘ und ‚Peer Gynt' in den B (20), 44, 
60, 74. . finden fi in der zuſammenfaſſenden Einleitung zum 2. Bande 
dieſes Werkes verwertet. 

S. 247. Den auch Asbjörnſen dem Nordländer zuſchreibt: Huldre- 
Eventyr I, 268. 

S. 247. Wer wollt' es ihm vorwerfen. Vgl. im 2. Bande dieſes 
Werkes S. 145 und 365. 


410 Anmerfungen 


S. 247. In der griechiſchen Kunſtlehre. Kap. 8 und 9 der Poetik 
des Ariſtoteles. 

S. 247. Maupaſſant. Le Roman“, Einleitung zu Pierre et Jean, p. VIII. 

S. 248. Das von Taine an Swift geſpendete Lob: Histoire de 
la Littérature Anglaise, livre V, chapitre II, Iv. 

„S. 249. Stendhal ruft warnend aus. Racine et Shakespeare, 
(1854) p. 26. 

S. 252. Gyntiana. Der große Geiger und große Projektenmacher Ole 
Bull wollte 1852 in Pennſylvanien eine norwegiſche Siedelung gründen 
unter dem Namen Oleana. Vgl. NIV, 273 f. 

S. 254. Dr. Begriffenfeldt. Über die Art, wie Ibſen ſeine Verſpottung 
der Philoſophie der Selbſtſucht an Hegel anknüpft vgl. J. Collins feine Dar⸗ 
ſtellung a. a. O. 326 ff. 

S. 256. Auch an Adam Homos Charakter. II, S. 464: i Sömmene 
efterpille; Peer Gynt S. 201: ga Dem kritisk efter i sömmene. 

S. 257. Man ſtirbt nicht uſw. Dasſelbe Wikwort in einem Briefe 
an Gg. Brandes, B 81 (W X, 164). 

S. 257. In zwei Briefen an Björnſon — B 44 und 45. 

S. 258. Am Grabe Adam Homos. Vgl. Adam Homo II, ©. 352; 
Peer Gynt S. 210. Auch das Sic transit gloria mundi ſpricht Peer (S. 244) 
dem Adam Homo nach (II, S. 244) — ſogar mit demſelben Reime: grundig. 

S. 258. Der Mann, der da beſtattet wird —: aus dem epiſchen 
Brand herübergenommen. N II, 135 ff. 

S. 259. Und berechnete nicht fein Publikum: Dieſer Vers ſcheint 
mir die Deutung J. Collins (a. a. O. 335) abzulehnen. 

S. 262. Der Abgeſandte des Meiſters. J. Collin (a. a. O. 338) ver⸗ 
weiſt auf eine Stelle in Oehlenſchlägers ‚Alladin‘, die den „Keim der mytho⸗ 
logiſchen Neuſchöpfung“ enthalten mag. Collin führt auch an Heibergs Ko⸗ 
mödie „Eine Seele nach dem Tode‘, Klingers Fauſt, Dantes göttliche Ko⸗ 
mödie und die Offenbarung Johannis: wo überall denen, die weder Seligkeit 
noch Verdammnis wert ſind, ein ſchmähliches Los zugeteilt wird. Das ge⸗ 
ſchieht — möchte ich hierzu bemerken — nach chriſtlicher Auffaſſung. Hin⸗ 
gegen vertritt Goethe eine heidniſche, oder doch amoraliſche, wenn im 2. Teil 
des Fauſt die Frauen des Chors, Weſen, die nicht „Perſon“ geworden, den 
Elementen zurückgegeben werden. Das heißt auch, „nichts umkommen laſſen“ 
— „den Rohftoff zu der großen, ununterſcheidbaren Maſſe zurückkehren laſſen“. 

S. 264. Den jähen Umſchlag des väterlichen Empfindens. 
Chr. Collin (Die neue Rundſchau, 1907, 1283) erklärt den Schluß des „Peer 
Gynt' pſychologiſch in derſelben Weiſe, wie den „unlogiſchen“ Schluß des 
‚Brand‘: „aus des Dichters eigen zuſammengeſetzter Natur“, in der Milde 
neben Strenge wohnte. Ihm ſchmolz wiederum das Herz, als es galt, das 


nnn / . ENGE TERN 


Ey 


Anmerkungen 411 


gerechte Urteil an dem erbärmlichen Helden — dem Vertreter ſeines Volkes — 
zu vollſtrecken. „Henrik Ibſen hat nie dem Gedanken entſagt, das norwegiſche 
Volk zu erlöſen. Immer und immer wieder begegnete er ihm am Kreuzweg, 
und jedesmal drohte er, es mitzunehmen zum Knopfgießer. Doch immer gab 
er ihm eine neue Friſt — bis zum nächſten Kreuzweg.“ 

S. 264. Und wir mit ihm. Die „unermüdlich wartende, mit Seife 
und Handtuch bereitſtehende Solveig“, meint C. Collett in dem oben er⸗ 
wähnten Aufſatze (Tilskneren, 1886, S. 233), ſei nur Peer Gynts, nicht 
Ibſens Frauenideal. „Und dieſes Frauenideal der Geſellſchaft iſt es 
nun, was uns unſer Dichter vorführt, während er ſtill lächelnd zuſieht, ob es 
noch die Macht habe, uns zu rühren.“ Das iſt ein entſchuldigendes Weg⸗ 
erklären offenbarer Tatſachen. Ibſen ſah damals wohl das Romantiſche an 
Thorbjörn und ſuchte es durch ein der Wirklichkeit getreues Bild zu widerlegen, 
aber nicht an Synnöve, der er in Solvejg ein womöglich noch romantiſcheres 
Frauenbild zum Gegenſtück gibt. Er fing mit der Unterſuchung und Prüfung 
der Männer an; die Frauen ſollten erſt viel ſpäter an die Reihe kommen. — 
Björnſon meint in feiner Beſprechung des „Peer Gynt (Norske Folke- 
blad, 1867, No. 47 und 50), der Schluß ſei „keineswegs forgfältig ausge⸗ 
arbeitet“ und darum „leider unklar“. — J. Collin (a. a. O. S. 344 — 353) 
gibt einen theologiſch-myſtiſchen Kommentar, demzufolge Ibſen mit dieſem 
Schluſſe die Frage des Johannisevangeliums (3, 3) beantwortet: auf welche 
Weiſe der Menſch zurück in ſeiner Mutter Schoß gehen und wieder geboren 
werden kann. Collin beruft ſich auf die chriſtliche Kirche und Schopenhauer, 
die eine ſolche Wiedergeburt lehren und die Erkenntnis, aus der ſie hervorgeht, 
als Gnadenwirkung bezeichnen. Aber weder die Kirche, noch Schopenhauer 
kennen die Wiedergeburt in oder aus einer zweiten Perſon. So muß ſich 
Collin dann doch, ſtreng genommen, ſeiner Erklärung wieder entziehen durch 
die Ausflucht: der Dichter ſtelle zwar die erlöſende und heiligende Kraft der 
Liebe (caritas) in einem Weibe dar, „womit aber nicht geſagt ſein ſoll, das 
Weib ſei der Erlöſer des Mannes“. 

S. 267. Meint G. Brandes. Moderne Geiſter, 2. A. S. 446. 

S. 268. Lüge aus Uberſchwang der Phantaſie. J. Collin (a. a. O. 268) 
verweiſt auf den 2. Teil von Björnſons ‚Über die Kraft“, wo von den Nor: 
wegern geſagt wird: Eine überſpannte Phantaſie oder ein überſpannter Wille; 
darum iſt in uns ſtets etwas über die Kraft. „Brand iſt der überſpannte 
Wille, Peer Gynt die überſpannte Phantaſie“, fügt Collin treffend hinzu. 

S. 268. „Glauben Sie nicht x.“ B71. Vgl. auch B44 (WX, 98): 
„Glaube nicht, daß ich ein blinder, eitler Narr bin! Du darfſt mir glauben, 
daß ich in meinen ſtillen Stunden ganz hübſch in meinen eignen Eingeweiden 
herumwühle und ſondiere und anatomiere, und zwar an den Stellen, wo es 
am wehſten tut.“ 


412 | Anmerkungen 


Kap. IX 

S. 269. Julian der Abtrünnige. Illustreret Nyhedsblad 1864, S. 208 
(Halvorsen III, 56). — Über Julian als dichteriſchen Vorwurf vgl. R. Förſter, 
Kaiſer Julian in der Dichtung alter und neuer Zeit (Studien zur vgl. Lit.⸗ 
Geſch. V, I ff.). Von demſelben eine Rede, Kaiſer und Galiläer‘, Breslau 1903. 

S. 269. Reichhaltige Zeugniſſe: Lorentz Dietrichsſons Erinnerungen, 
Larsen, Den episke Brand S. 11 f. N VI, 424) und (möglichſt im Wort⸗ 
laut, doch nicht chronologiſch verwertete) Stellen aus folgenden Briefen: 17; 
19; 30; 55; 69; 74; 75; 77; 82; 84; 94; 99; 100103; 107; 110; 148 
(ſchon mitgeteilt von O. Brahm in ſeiner Vorrede zu Paul Herrmanns Über⸗ 
ſetzung, Berlin, Fiſcher, 1888). Doch wurde nicht das ganze Werk in Dresden 
geſchrieben, ein Teil z. B. in Berchtesgaden, wie John Paulſen erzählt. Vgl. 
Henrik Ibsen. Festskrift i anledning af hans 70de födselsdag, udgivet af 
‚Samtiden‘, redigeret af Gerhard Gran, 1898, S. 38. 

S. 271. Jakob von Tyboet: ein Luſtſpiel Holbergs. „Ungefähr wie 
Chriſtoffer“, weil dieſer von einem Branntweinrauſch ſpricht. 

S. 273. Einfluß des deutſchen Geiſteslebens. — Ehr. Collin (Die 
neue Rundſchau, 1907, 1295) meint, Ibſen habe ſich getäuſcht, als er an 
Hoffory ſchrieb (B 198), Kaiſer und Galiläer ſei das erſte Werk, das er unter 
dem Einfluß der deutſchen Geiſtesſtrömungen [wörtlich: des deutſchen Geiſtes⸗ 
lebens] geſchaffen habe. Allein Ibſen verſteht hier wohl ‚Geiftesleben‘ nicht 
im literariſchen Sinne, wie das Folgende und B 206 (W X, 379) erkennen 
laſſen. 

S. 274. An eineſſchwediſche Dame. Nach Laura Kieler, Silhouetter, 
Odense 1887, S. 4, war der Ballonbrief an Frau Limnell gerichtet. Da⸗ 
mals hieß es: Husk pa Dybböls faldne helte!, wo jetzt ſteht: Kongedybets 
muntre heltre. 

S. 274. Seinen nordiſchen Groll zu verabſchieden. Vgl. dagegen 
Adolf Strodtmann, Das geiſtige Leben in Dänemark, S. IX ff. Das dort 
in Überſetzung mitgeteilte Gedicht „Die Signale des Nordens“ iſt weder in 
die Sammlung noch in die Ausgabe letzter Hand aufgenommen worden. Be⸗ 
deutete es einen Rückfall in den alten Haß, zu dem ſich der Dichter ſpäter 
nicht mehr bekennen wollte? 

S. 274. Conrad Ferdinand Meyer: Mein Erſtling, Huttens letzte 
Tage! — C. E. Franzos, Die Geſchichte des Erſtlingswerkes, Leipzig 1894. 
S. 23 ff. 

S. 275. „Der Gedanke und die Idee ..“ B 101. 

S. 276. Sagt Kierkegaard. Öjeblikket, Nr. 4, p. 5. 

S. 277. Entgegnete Ibſen: B 115 (WX, 235 und 469). 

S. 280. Unter dem Zorn der Notwendigkeit ſteht gewiſſermaßen 
auch Hebbels Golo: er ſoll an Genoveva als Schurke handeln — ſeine 


Anmerkungen 413 


Leidenſchaft iſt das „Mittel zur Vollführung göttlicher Zwecke, alſo wirklich 
ſein Schickſal“. Vgl. Wilhelm Alberts, Hebbels Stellung zu Shake⸗ 
ſpeare, 1908, S. 47 (Forſchungen zur neueren Literaturgeſchichte, herausge⸗ 
geben von F. Muncker, XXXIII). 

S. 280. Die erhaltenen Entwürfe. NII, 248 und 256. Vgl. das Ge. 


dicht Judas“, NI, 142. 


S. 281. Fatalismus. In der Einführung zu den N (IV, 283) wird be⸗ 
hauptet, Julians Dichter ſei „tiefer und tiefer“ dem Fatalismus verfallen, 
wie er in einem Briefe an Brandes (B 84) bekenne. Ibſen ſchreibt wörtlich: 
„Während der Beſchäftigung mit Julian bin ich in gewiſſer Weiſe (pa 
en viss made) Fataliſt geworden.“ Und zwar bezieht ſich das auf die voraus⸗ 
gehenden ſehr hoffnungsloſen Außerungen über „die gegenwärtige Situation“ 
(1871): „das ganze Geſchlecht auf falſcher Fährte — wir [Sfandinaven] 
haben Fiasko gemacht — daß es in andern Ländern beſſer iſt, glaube ich 
nicht — und da ſollte ich den Verſuch machen, eine Fahne herauszuſtecken?“ 
Als Antwort auf die Schlußfrage heißt es dann: „Aber dies Stück wird doch 
eine Art Fahne.“ Und hierher iſt wiederum eine Stelle zu beziehen im 
B 109, geſchrieben in Dresden 1873: „Die Ereigniſſe hier im Ausland haben 
es ſo gefügt, daß dieſe Dichtung zeitgemäßer geworden iſt, als ich's 
mir ſelbſt gedacht hatte.“ — Meine Ausführungen über Ibſens nen 
werden alſo durch die Briefſtellen nicht angefochten. 

S. 281. Herder: Shakeſpeare, erſter und zweiter Entwurf (Suphan 5, 238). 

S. 282. Erziehung des Menſchengeſchlechtes. Auf die nahe Be⸗ 
rührung der Ideen Ibſens mit denen Leſſings deutet, im Vorübergehen, hin 
Adalbert von Hanſtein, Ibſen als Idealiſt, Leipzig 1897, S. 76. — Zu der⸗ 
ſelben Zeit, als ich dies Kapitel ſchrieb, veröffentlichte Fritz Mauthner 
im Berliner Tageblatt, 16. Juni 1899, einen mir ſpäter erſt bekannt ge⸗ 
wordenen Aufſatz „Ibſens drittes Reich“, um darzutun, „daß Ibſens drittes 
Reich nichts anderes iſt als Leſſings drittes Zeitalter“. — Graf Prozor hat 
darauf aufmerkſam gemacht, daß Renans Jugendwerk ‚L’avenir de la 
science. Pensées de 1848“ ſich mehrfach mit ‚Brand‘ und ‚Kaiſer und Gali- 
läer‘ berühre, daß Renan auch das dritte Reich kenne, das Heidentum und 
Chriſtentum verſchmilzt. (Vgl. Brandes „Henrik Ibſen“ — Die Literatur 32, 
64 f.) — Nach Chr. Collin (Die neue Rundſchau, 1907, 1294 f.) lägen dem 
dritten Reich Hegelſche Gedanken zugrunde. Collin betont auch den Einfluß 
Heines (‚Deutfhland‘ und ‚Börne‘), da Botten-Hanſen und Vinje ja Heineaner 
geweſen ſind. 

S. 283. Bankettrede. Vgl. Halvorsen III, 25. WI, 527ff. 

S. 284. Wie er ſie gegen G. Brandes ausſprach: ‚Nord und Süd“, 
XXVI 1883 S. 253. 

S. 285. Die älteſte Hypotheſe. Auch Goethe verwendet ſie im Eingang 


414 Anmerkungen 

der Ballade ‚Der Gott und die Bajadere“, und ein andermal ruft er aus: 
„Wie gut iſt's, daß der Menſch ſterbe, um nur die Eindrücke auszulöfchen 
und gebadet wiederzukommen.“ Br. an Frau v. Stein, 2, VII, 1781. 

S. 286. Nur ein Anklang in der Benennung, im weſentlichen 
nicht die geringſte Ahnlichkeit [mit Schopenhauer] — das muß ich auch 
gegenüber der Darlegung NIV, 282 ff. unbedingt feſthalten. 

S. 287. Aus dem Munde eines Wahrſagers. Fritz Mauthner ſchließt 
den erwähnten Aufſatz über das dritte Reich (Berliner Tageblatt 16. Juni 
1899): „So iſt aus unſerm ſonnenklaren Leſſing der Myſtiker Maximos ge⸗ 
worden, ein betrogener Betrüger, weil Ibſen die letzten Ideen Leſſings, für 
welche die Welt am Ende des 18. Jahrhunderts nicht reif war, in die erſten 
Jahre des ſiegreichen Chriſtentums verlegte. Aus dieſer hiſtoriſchen Unmög⸗ 
lichkeit entſtanden alle Wirren in dem Drama Ibſens.“ — Ich könnte mich 
dieſem Urteile nicht anſchließen; ſolche hiſtoriſche Unmöglichkeiten halte ich 
mit inbegriffen in der „notwendigen Unwahrheit der Form“ (Goethe). 

S. 288. Eine Stelle des urſprünglichen Wortlauts. 1. Ausg. 
S. 98: Catilina (blidt) Du var kuns Midlet, — kunde Du for det? 
2. Ausg. S. 110: Catilina (ser stille pa ham) Du var et redskab kun. 
Du handlet ret —. 

S. 288. Außerte ſich Ibſen gegen Otto Brahm. Vgl. Brahms Ein- 
leitung zu Paul Herrmanns Überſetzung von Kaiſer und Galiläer, S. XIV. 

S. 290. Einem orthodoxen nordiſchen Kritiker. Vgl. „Henrik 
Ibsens Keiser og Galilaeer. En kritisk studie af G. Christiania 1873.‘ 
Der orthodoxe G. iſt — oder vielmehr war — Arne Garborg. 

S. 289. Eine alte Idee. Vgl. O. Brahm, Schiller II, 1, 99: „Und aus 
derſelben Stimmung heraus [wie den Geiſterſeher 1786] hat Schiller den 
Plan zu einem andern, es ſcheint epiſchen, Werke damals gefaßt“ — nämlich 
zum Julian. Die Erwähnung der Schauſpiele, die vorher gehen ſollten, 
zeigt, daß es ſich bei Wiederaufnahme der alten Idee um dramatiſche Aus⸗ 
führung handelte. 

S. 290. Der Sänger des Meſſias. Vgl. den „‚Nordiſchen Auffeher‘ 
hg. von J. A. Cramer, Kopenh. u. Leipz., des 1. Bandes 17. Stück. 

S. 290. Nur das Kreuz, nicht den Gott am Kreuze verehrend. 
Wilibald Alexis legt in feinem Romane ‚Ruhe iſt des Bürgers erſte Pflicht‘, 
V, 83, dem Freiherrn vom Stein die Worte in den Mund: „ . . es können 
andere kommen, die fordern, daß wir das Kreuz ohne den Gott anbeten.“ 

S. 291. Der klaſſiſche Geſchichtſchreiber der Deutſchen: Ranke 
S. W. XXXIII, 244. 

S. 291. Paul Lange. Vgl. das Buch von G. Brandes über ihn, S. 118 
der deutſchen Ausgabe. 

S. 292. In den Töchtern .. ſein eigner Charakter. Das hat zu: 


. 


2 


„ 


FAR 
WERE 


ea — 


Anmerkungen 415 


erſt Hebbel hervorgehoben: Tagebücher, 2, 261 (Hiſt.⸗krit. Ausg. von R. M. 
Werner, II). — Die Stelle iſt in der 1. Auflage nicht angeführt, weil ich 
ſie — freilich unentſchuldbarerweiſe — damals noch nicht kannte. 

S. 293. Jakobi an Wieland den 27. Aug. 1874. 

S. 296. Konſtantios ſteht unter der Gewalt ſeines Leibſklaven: 
Es iſt, nach den Quellen, ſeine Schwäche, die ihn von Memnon abhängig 
macht, nicht, wie ein Erklärer vermutet, ein ſinnliches Verhältnis. 

S. 301. J. P. Jakobſen an E. Brandes, Thiſted am 7. Aug. 1874, 
aus der Zeitſchrift Tilskueren, 1886, S. 750 abgedruckt bei Halvorsen III, 56f. 

S. 303. So weit das im Drama möglich iſt: vgl. im 2. Bande dieſes 
Werkes S. 145 und 365. Die genaue Vergleichung von „‚Cäſars Abfall“ mit 
dem „Prinzen von Homburg‘ dürfte Otto Ludwigs Behauptung aufs an— 
ziehendſte beſtätigen. 

S. 311. Verhältnis zu den Quellen. Vgl. R. Sokolowskys Aufſatz: 
H. Ibſens Römerdramen, Euphorion, 1902, 593 ff. und dazu meine Berichti⸗ 
gung‘, ſowie Sokolowskys aufrichtige „Entgegnung“, Euphorion, 1903, 501f. 

S. 311. Ammianus Mareellinus: in der deutſchen Überſetzung von 
Troß und Büchele, die ich ſchon in der 1. Aufl. (Anm. zu S. 203) ge⸗ 
nannt hatte, die alſo nicht erſt „mit Hilfe der Seitenzahlen in den Aufzeich- 
nungen“ des Nachlaſſes feſtzuſtellen war. Wohl aber find erſt aus dem Nach⸗ 
laß als Gewährsleute des Dichters bekannt geworden: A. de Broglie, L’Eglise 
et Empire Romain au IVe Siecle, und Joh. Ev. Auer, Kaiſer Julian d. A. 
im Kampfe mit den Kirchenfürſten ſeiner Zeit. (Vgl. NII, 151 ff. und 
IV, 429.) Ob Ibſen Liſtovs wiederholt (B 55 und 82) verlangte Darſtellung 
von Julians Leben — in Faedrelandet — erhalten und benutzt hat, vermochte 
ich nicht zu erkunden. 

S. 311. Stellen zum Teil wörtlich benutzt aus Julians 
Schriften. Vor allen aus dem Miſopogont die Beſchreibung feines ver: 
wilderten Bartes und Haares (S. 74 und 75 der deutſchen Überſetzung von 


H. Reichardt, Stuttg. 1856); daß er das Theater meidet (S. 70); die Spott⸗ 


reden der Bürger Antiochias auf ihn (S. 80); die Zurechtweiſung derer, die 
ihn in den Tempeln mit Geſchrei empfangen und ihm ſchmeicheln, wie wenn 
er ein Gott wäre (S. 81); ſeine vegetariſche Lebensweiſe (S. 83); daß er 
auf dem Wege den Blick zu Boden ſenkt (S. 89); die Redensart: das X 
(Chriſtus) und K (Konſtantios) hätten der Stadt nicht geſchadet (S. 95); 
daß gegen die Frevler an den Göttern härter verfahren wird als fein Wille 
iſt (S. 100); wie er im Apollotempel ſtatt der erwarteten Opferbringer nur 
einen alten Prieſter mit einer Gans findet (S. 101). 

Die von Julian beim Opfern und in Geſprächen gebrauchten Ausrufe 
und Lobeserhebungen der Götter erinnern an ſeine Abhandlung über den 
Sonnenkönig, bei. an den Schluß, 21 und 22. 


416 Anmerkungen 


Aus den Cäſaren (deutfh von C. N. v. Oſiander, Stg. 1856) mag 
der Name Mithra (S. 72) genommen ſein. 

Aus dem Anfang des Briefes an Themiſtios die Stelle, wo er 
ſich zaghaft mit Alexander und Mare Aurel vergleicht. 

Aus dem Briefe an die Athener die im Text erwähnten und ein 
gleich zu erwähnender Paragraph. 

Julians Worte gegen Heraklios wörtlich aus dem Anfang ſeiner 
Schrift gegen dieſen. Auch was er gegen die übrigen Hofphiloſophen und 
im allgemeinen ſagt, aus ſpäteren Abſchnitten, beſonders 14. 

Endlich die unverdienten Worte des Lobes auf den toten Konſtantios — 
ein Nachklang der beiden erhaltenen Lobreden auf dieſen Kaiſer. 

S. 311. Nur ein geeicht Maß philologiſcher Unterweiſung. 
Vgl. B 100. 

S. 311. Schreibt er (Ibſen): in einem Briefe an den Verfaſſer dieſes 
Buches, Chriſtiania, den 7. Juli 1899. B 235. 

S. 311. Neander uſw. Vgl. B 82. 

S. 312. Deſſen Mäßigkeit die Berichte beſtätigen, beſ. Ammianus 
Marcellinus XXI, 16, 5. Im Briefe an die Athener 9 4 heißt es allerdings, 
daß ſein Oberkoch großen Einfluß auf ihn gehabt habe. 

S. 312. Bezichtigt die Kaiſerin Euſebia, XVI, 10, 18. 

S. 312. Ammian erzählt von Überwachern. Über das Mißtrauen 
und die Maßregeln des Konſtantios im XVI. Buche paſſim. 

S. 312. Der ja längſt in deutſcher Sprache zugänglich iſt. Über⸗ 
ſetzt von Seybold und Heyler 1802. Die angeführten Stellen ſind: B. III, 
2 und 9. 

S. 312. Nach den Urkunden: Amm. Marc. XXII, 7, 10. 

S. 313. Die des Gregor von Nazianz in der 2. Inveetive, XIV. Die 
des Theodoret: Kirchengeſchichte III, c. 18, dazu eine Variante bei Sozo⸗ 
menos, Kirchengeſch. VI, c. 2. Die des Zonaras: Annalen (Baſ. 1557) 
III, p. 24. Dieſe iſt in der deutſchen Ausgabe des Ammianus Mareellinus 
von Troß und Büchele (S. 591) als Anmerkung zu XXV, 3 mitgeteilt; 
durch welche Vermittlung Ibſen die beiden andern und die ſonſt im Text an⸗ 
gemerkten Stellen aus Gregor, Chryſoſtomos ꝛc. erhalten hat, läßt ſich nicht 
beſtimmen. Mit der „deutſchen Bibliothek auf dem Capitol“ dürfte, nach 
einer gütigen Mitteilung des Herrn Profeſſors Dr. Ch. Hülſen in Rom, nicht 
die Bibliothek des archäologiſchen Inſtitutes, ſondern die ſogenannte „Biblio⸗ 
thek der Deutſchen“ gemeint ſein, die jetzt verpackt und unzugänglich und 
von der kein Katalog vorhanden iſt. 

S. 314. Nähe der Kronprätendenten. Vgl. B 86 (W X, 174): 
„. + alles in Proſa und in der Form ſich am nächſten den Kronprätendenten 
anſchließend.“ 


ti fi > DE Zu 
Be u 


Anmerkungen 417 


S. 319. In Gegenwart Lorentz Dietrichſons. NIV, 427. 

S. 319. Ein Skizzenblättchen. NII, 244. Vgl. dazu ebenda 277 f. 
und 281 f. 

S. 319. Eine Trilogie. B 97. 

S. 320. Die Herausgeber der nachgelaſſenen Schriften. N 
IV, 226. | 

S. 322. Leopold Adler. Vgl. die Leipziger Illuſtrierte Zeitung vom 
26. XII. 1896. 

S. 322. Die Darſtellung dieſes Hauptwerkes. Als keine Hoff⸗ 
nung mehr beſtand, daß Ibſen ſelbſt noch einmal Hand anlegen werde, wie 
er 1896, in vertraulichem Geſpräche mit mir, in Ausſicht geſtellt hatte, 
unternahm ich die Bearbeitung auf Grund des oben mitgeteilten Schemas 
und zwar nach der Urſchrift, die ich zuſammenziehend ſo überſetzte, daß überall 
und bis ins kleinſte nur der Wortlaut des Textes verwendet wurde. Der 
Dichter nahm von der vollendeten Arbeit Kenntnis und gab „mit Freude“ 
(med glaede) die Einwilligung zur Aufführung. Seine Zufriedenheit erklärt 
ſich vielleicht aus den nunmehr vorliegenden Entwürfen, deren Winken ich 
gefolgt bin, als wenn ich fie gekannt hätte. Trotzdem — ob ſich die Bent: 
beitung auf der Bühne bewähren wird, ſteht dahin. Den wohlgemeinten Ver: 


ſuch eines Stadttheaters, den die Agentur gegen meinen Willen und ohne 


mein Vorwiſſen geſtattete, dürfte man, den Berichten zufolge, ſchwerlich als 
maßgebend betrachten. 
Kap. X 

S. 323. Die vorwitzige Frage. Vgl. Herfords Einleitung zu ſeiner 
Überſetzung des ‚Brand‘ S. XV. 

S. 323. Für die Feſtſchrift: herausgegeben von Gerhard Gran (vgl. 
oben die Ausführung zu S. 270) S. 147205. 

S. 324. Wie viel ſich in der kurzen Zeit geändert hatte. Dafür 
legt auch J. L. Heiberg in einem Gutachten über Björnſons ‚Halte-Hulda‘ 
— ähnlich dem S. 102 f. erwähnten — Zeugnis ab. Er ſchreibt: „... Hier⸗ 
über werde ich mir fürs erſte zu bemerken erlauben: falls ſich die norwegiſche 
Sprache wirklich zu einer fo bedeutenden Abweichung von der däniſchen ent: 
wickelt hat, wie man dieſer Arbeit zufolge glauben muß, ſofern der Stil nicht 
eine einzeln ſtehende Eigentümlichkeit bei dieſem Verfaſſer iſt, dann müſſen 
norwegiſche dramatiſche Werke künftig erſt ins Däniſche überſetzt werden, ehe 
ſie auf die däniſche Nationalbühne gebracht werden können. Denn nicht bloß 
in einzelnen Wörtern, die lokale Gegenſtände bezeichnen, finden Abweichungen 
ſtatt, ſondern der ganze Geiſt dieſer Sprache iſt durchaus undäniſch. Das 
ſind Konſtruktionen, zu denen ſich die däniſche Sprache ſchlechterdings nicht 
bekennt.“ 

S. 325. Moes ‚Volkslieder‘; Norske Folkeviser og Stev, 1840. 

Woerner, Ibſen. I. 3. Aufl. 27 


418 Anmerkungen 


S. 327. Alfred Erikſen, Sammensatte ord hos Ibsen, Nyt Tidsskrift, 
1885, V, p. 371-376. 

S. 328. Ein Lebensfrühling. Vgl., außer den Einleitungen und Er⸗ 
läuterungen der Wu. N, Halvorſens reichhaltige und gründliche Anmerkungen 
zu den Gedichten (in Henrik Ibsen. Samlede Verker. Folkeudgave. Köben- 
havn 1898), die überall von mir, neben meinen eignen Aufzeichnungen, ver: 
gleichend ſind zu Rate gezogen worden. 

S. 328. Auswahl für die Sammlung. „Altes und Neues iſt darin, 
und vieles, worauf ich weiter kein Gewicht lege; aber es gehört doch alles 
zuſammen zu der Geſchichte meiner Entwicklung.“ (B 81. 

S. 329. Vermiſchte Dichtungen. WI, 173—221; NI, 8—11. 

S. 330. Im Einklang mit Proſaſchriften. WI, 293, 336, 456. 

S. 330. Echt lyriſche Tönung — wie es Fritz Mauthner einmal ſo 
treffend ausſpricht: „Es iſt ganz falſch, wenn man ſagt, ein gutes Gedicht 
muß geſungen werden können. Ein gutes Gedicht muß wie geſungen klingen.“ 
Beiträge zu einer Kritik der Sprache I? (Cotta 1906) S. 106, 

S. 330. Auf Ladegaardsben und auf Klingsberg. NI, 34 u. 126. 

S. 332. Noeck. Ich ziehe, mit Auguſt Kopiſch, die klangvollere norwegiſche 
Form „Noeck“ der vielleicht gebräuchlicheren, dem Schwediſchen entlehnten 
„Neck“ vor. 5 
S. 332. Orekrat. 

Welhaven: Du hörer Sus af den viltre Elv, 
som Orekrattet dölger. (S. S. IV, 14.) 
Ibſen: Men vejen den bar til elven 
i den duggede orekrat. 


S. 332. Hat Welhaven zuerſt gefungen. In dem Gedichte ‚Paa 
Fjeldet‘ heißt es von der Huldre: 
og lerer ham södt at spille 
paa guldvunden Lur og paa Silkestreng. (S. S. IV, 26.) 


In einem andern Nökken i Kvernen': 


at Nökken sidder fra gammel Tid 
og stemmer sin Streng derinde....... 
Han lerer i Kvernen Enhver, som vil, 
den lifligt susende Stemme 
for Langeleg og for Gigespil. (S. S. IV, 193 f.) 
In einem dritten: ‚Veiviseren synger‘: 
selv Nökken derinde lader kun 
sagte sin Harpe bruse. (S. S. IV, 32.) 
Wie ſehr dies letzte dem Dichter ſich eingeprägt hatte, beweiſt die Nach⸗ 
bildung der kräftigen fünfzeiligen Strophe in ‚Pa vidderne‘ VIII u. IX. 


rr 


Anmerkungen 419 


Unmittelbare Nachahmung liegt vor, wenn der junge Ibſen, als er 
‚Möllergutten‘ ſchrieb, das gleichbenannte Gedicht Welhavens (deſſen Ent: 
ſtehungszeit ich mit meinen Hilfsmitteln nicht feſtſtellen kann) ſchon gekannt 
hat. Denn da ſitzt ebenfalls der fossegrim im Strome und ſchlägt die Harfe uſw. 

S. 333. Sein Teuerſtes muß opfern. 

Men altid har Nökken först begjeert 

en Skjenk for den Kunst, han vidste; 

han fordrer Noget, som Du har kjert, 

og som Du vil nödig miste. (S. S. IV, 194.) 

S. 333. Neun Strophen. Sie waren im ‚Andhrimner‘ dem größeren 
Gedichte En Lördagsaften i Hardanger‘ als Intermezzo eingefügt 
(II. Quartal, Spalte 46 und 47). — Vgl. NI, 227233. 

S. 333. Doch als er mein Meiſter geworden. In der Urſchrift 
heißt es: men da jeg var bleven hans mester. Aber dies, wörtlich wieder⸗ 
gegeben, würde leicht auf die vorausgehenden Zeilen bezogen und mißver⸗ 
ſtanden werden. In der Umkehrung ſchien mir der Sinn: doch als ich hatte 
ſpielen lernen, deutlicher hervorzutreten. 

S. 333. Bergsliens Gemälde. Vgl. WI, 652. 

S. 334. Am Rande des Almenhanges: Welhavens ‚Paa Fjeldet‘ 
(S. S. IV, 25 f.). 

S. 337. Einen kleinen Fehler. Dieſer Fehler iſt nicht vorhanden, 
wenn man mit Philipp H. Wickſteed (Preußiſche Jahrbücher 82, 1895, S. 100) 
überſetzt: „Kind, dein Buſen iſt der Bergſtrom. Hüte dich vor deinen 
Träumen.“ Dem widerſpricht aber der Wortlaut: Farligt, farligt, der at 
drömme. Die Angeredete kann wohl nicht davor gewarnt werden, dort, d.i. 
an ihrem eigenen Buſen, zu träumen. 

S. 337. „Trolle des Tages.“ Der goetheſche Ausdruck ‚Die Fratzen 
des Tages“ hat wohl auch etwas Perſonifizierendes. 

S. 337. Ein norwegiſcher Fremdwörterfeind: der vorhin erwähnte 
Alfred Erikſen a. a. O. 

S. 338. ‚Auf Akershus': urſprünglich im ‚Andhrimner (I, Quartal, 
Spalte 42 und 43), dann umgearbeitet in Illustreret Nyhedsblad 1863 und 
abermals umgearbeitet für die Sammlung. NI, 12. 

S. 338. König Hakons Feſtſaal. WI, 240 ff. 

S. 339. Mondſcheinwanderung. WI, 221. 

S. 340. Grillparzer. Vgl. Werke, hg. von Auguſt Sauer, Bd. 18, S. 171 
(Zum eigenen Schaffen, 1817). 

S. 342. Zuerſt im Andhrimner erſchienen (II. Quartal, Spalte 143 
und 144), dann umgeformt im IIlustreret Nyhedsblad, 1863, Nr. 5. Als lehr⸗ 
reiches Beiſpiel ſolcher Umformung bis ins kleinſte, bis auf die Unterſcheidungk⸗ 
zeichen, ſeien die beiden Lesarten hier vollſtändig nebeneinander geſtellt. 

27* 


420 Anmerkungen 


‚Bergmänden‘ 


I. 
1 


Klippe! brist med Larm og Brag | 


For mit tunge Hammerslag; 
Nedad maa jeg Veien bane 
Mod det Maal, jeg kun tör ane! 


2. 
Dybt i Fjeldets stille Nat 
Vinker mig den rige Skat, — 
Diamant og Aedelstene 
Mellem Guldets lyse Grene. 


3. 
Hist i Dybet er der Fred, 
Fred og Nat fra Evighed; 
Ban mig Veien, tunge Hammer! 
Til Naturens Hjertekammer. 


4. 
Engang sad som Barn jeg glad 
Under Himlens Stjernerad, 
Sad paa Vaarens Blomsterleie, 
Havde Himlens Fred i Eie. 


5. 
Men jeg glemte Vaarens Pragt 
I den midnats dunkle Schakt, 
Glemte Fuglens glade Sange 
Dybt i Fjeldets hvalte Gange. 


6. 
Den gang först jeg treen herind, 
Tenkte jeg med barnligt Sind: 
„Dybets Aander skulle raade 
For mig Livets store Gaade.“ 


x, 

„De skale lere mig hvordan 
Blomsterknoppen spire kan, 
Hvorfor Heiens fagre Blommer 


Sygne hen, naar Hösten kommer.“ 


II. 


Bergvagg, 


Vejen bane — 
ane. 


Ne | 
Fjellets Natt 
Skatt, 


3. 
Og i Dybet er den Fred, — 
Natt Evighed; — 
Bryd mig Vejen, tunge Hammer, 
Hjertekammer! 


4. 
Gut 


Traadte Vaarens Blomsterveje 
Eje. 


5. 
midnatsmörke 


Grubens Tempelgange. 
6. 
steg 


Dybets skal mig raade 
Livets endelöse Gaade. — 


Anmerkungen 421 


7 105 
End har ingen Aand mig lert, 
Hvad mig tykkedes saa sert, sert; 
End er ingen Straale runden, 
Som belyser det fra Grunden. Som kan lyse op fra Grunden. 
8. f 8. 
Har jeg feilet, förer ei fejlet? Förer ej 
Da til Klarhed denne Vei? Frem Ve? 
Lyset blender jo mit Oie, blinder Öje, 
Hvis jeg söger i det Höie. 
9. 9. 
Nei, i Dybet maa jed ned, Nej, ned; 
Der er Fred fra Evighed, — Evighed; — 
Ban mig Veien, tunge Hammer! Bryd mig Vejen, tunge Hammer, 
Til Naturens Hjertekammer. Hjertekammer! — — 
10. 10. 
Saadan gaar det Slag i Slag, Hammerslag paa Hammerslag - 
Til han segner træt og svag, Indtil Livets sidste Dag. 
Ingen Morgenstraale skinner, 
Ingen Klarhedssol oprinder. Ingen Haabets Sol 


S. 343. Der Eidervogel. NI, 19. 
S. 344. Wird er einmal nur uſw. Im „Andhrimner' (II. Quartal, 
Spalte 143 und 144): 


Röves kun engang dets lönlige Skat, 
Saa hylles dets Sjel i en evig Nat, 
Da sygner Kraft og dets freidige Lyst, 
Da eier det kun et blödende Bryst. 


S. 344. Das Ich, das leidend gelernt hatte. In der Rede Ibſens 
an die Studenten, 10. September 1874, heißt es: „Als des Eidervogels Neſt 
zum erſten und zweiten und dritten Male geplündert wurde, waren es 
Illuſionen und große Lebenshoffnungen, die ihm geraubt wurden.“ 
(Halvorsen, III, 21.) 

S. 344. Vogel und Bogelfänger im ‚Andhrimner‘, I. Quartal, 
Spalte 111 und 112. | 

©.345. Lichtſcheu', geſchrieben Mitte der Fünfziger Jahre, umgearbeitet 
in IIIustreret Nyhedsblad 1859, dann abermal umgearbeitet ebenda 1863 
und zum drittenmal umgearbeitet 1871 in der Sammlung. Von den Sonetten 
des Cyklus war es das XVIII. 

S. 346. Dann ſinket die tragende Schwinge. Das Bild der vor 


422 Anmerkungen 


ERS Strophe fo fortzuſetzen, hat ſich der Überſetzer erlaubt. Das 
dürfte verzeihlicher ſein als in der viertletzten Zeile der Urſchrift das Wort 
‚foerveerk‘ mit — „Fuhrwerk' zu überſetzen, wie tatſächlich geſchehen iſt. 

S. 346. In der Bildergalerie. W I, 264: XIV. 

S. 346. Aus Ibſens erſtem Dresdener Aufenthalt. Vgl. o. S. 140. 

S. 247. Ein und das andere Motiv: z. B. Die Schlucht“; „In der 
Bildergalerie‘ II; ‚Ein Schwan‘ ebd. III; ‚Die Sturmſchwalbe' ebd. XV. 

S. 347. ‚Mein junger Wein‘; vgl. Sonett XXI des Cyklus, geſchrieben 
zu Bergen ungefähr 1856, umgearbeitet für die Sammlung. W I, 270. 

S. 347. ‚Baupläne. NI, 97. 

S. 348. ‚Des Dichters Weiſe ſchon 1860 für ‚Svanhild‘ geſchrieben, 
1862 für die „Komödie der Liebe‘ leicht geändert. 

S. 350. ‚Die Sturmſchwalbe' umgearbeitet nach einem ungedruckten 
Tert aus den Fünfziger Jahren. 

S. 353. Die Kornftange In den fkandinaviſchen Ländern herrſcht 
die ſchöne Sitte, den Vögeln zu Weihnachten an einer Stange eine volle 
Garbe auf das Hausdach zu ſtecken. 

S. 353. Georg Brandes: In einem Aufſatz „Et personligt synspunkt‘ 
(Gran, Festskrift, p. 25). In ‚Nord und Süd' EN (1883) ©. 257 nennt 
er es „das witzigſte und tiefſinnigſte“. 

S. 354. Epiſche Dichtung. Andere epiſche Verſuche: W I, 227 u. 240 
NI, 36 u. 120. 

S. 358. J. L. Heiberg. Vgl. o. S. 102. Vgl. N I, 115. 

S. 363. Die aufſtrebende Nationalbühne. Vgl. o. ©. 138. 

S. 363. Ibſen erwiderte. Darauf erfolgte dann wieder eine Antwort 
von H. O. Blom, worin es hieß: 

„Doch ich bin H. O. Blom, das iſt die Sache! 

Und du biſt Henrik Ibſen — weiter nichts!“ 
Vgl. Jeger, Lit.-hist. II, 288 ff. — Eine zweite damals nicht gedruckte Er⸗ 
widerung Ibſens hat ſich in Björnſons Nachlaß gefunden. Vgl. Die neue 
Rundſchau, 1911, S. 988 ff. 

S. 365. „Deſſen Standpunkt uſw.“ angeführt aus einer Eingabe 
Ibſens an das Kirchendepartement (24. Februar 1872) um weitere Staats⸗ 
ſtipendien. Halvorsen III, 19. 

S. 371. Beſtätigt Julius Lange: vgl. Julius Lange‘ von ©. Brandes, 
deutſche Ausg. S. 200. 

S. 373. Des Glaubens Grund. Die Pointe ſchon im Entwurf zum 
‚Bund der Jugend“, N II, 222. 

S. 375. Sagt Camilla Collett: Sidste Blade. Erindringer og 
Bekjendelser, Kjöbh. 1868 p. 14. 

S. 375. Der ‚Bund der Jugend‘ ausgepfiffen. Zum erſten Male 


. ͤ ˙ 1 ˙ w rd aa ns 


Nr 


Anmerkungen 423 


aufgeführt im Chriſtiania⸗Theater den 18. Oktober 1869. Bei der zweiten 
und dritten Aufführung, den 20. und 22. Oktober, kam es zwiſchen Klatſchern 
und Pfeifern zu einem Kampfe, der ſich auf der Straße und in den Spalten 
der Zeitungen fortſetzte. (Halvorsen III, 51.) 8 

S. 376. Den Studenten dankte: in einer vorbereitenden Rede am 
10. September 1874, mitgeteilt bei Halvorsen III, 51.) 

S. 380. „Freunde ſind ein koſtſpieliger Luxus uſw.“ Zuerſt 
mitgeteilt von G. Brandes. ‚Word und Süd‘ XVII (1883) S. 264. 

S. 380. Krieg mit geheimen Gewalten. Der Vers, urſprünglich 
deutſch geſchrieben (als Widmung in ein Buch für eine ſchwediſche 
Dame), lautete in ſeiner Urform: 

Leben, das heißt bekriegen 
In Herz und Hirn die Gewalten; 
Und dichten: über ſich ſelber 
Den Gerichtstag halten. 
Vgl. Deutſche Rundſchau' XI, 1886, S. 219. 


Namenverzeichnis 


Aaſen, Ivar, 16, 18. 

Adler, Leopold, 322, 417. 

Alexis, Wilibald, 414. 

Ammianus Mareellinus 279, 306, 
311, 312, 415, 416. 

Ariſtophanes 107, 108, 203. 

Ariſtoteles 53, 81, 82, 147, 391, 395. 

Arnold, Gottfried, 311. 

Asbjörnſen, P. Chr., 15, 18, 61, 68, 
69, 237, 239, 241, 247, 325, 393. 

Auer, Joh. Ev., 314; 415. 

Auguſtinus 287. 


Bamberger, Max, 389. 
Bellermann, Ludwig, 400. 
Bergſbe 319. 

Bjerregaard, H. A., 8. 


Björnſon, Björnſtjerne, 2, 5, 8, 15, 
44, 55, 67, 68, 69, 70, 101, 
103, 106, 138, 139, 140, 141, 144, 
219, 220, 221, 252, 257, 273, 325, 
383, 389, 392, 393, 411, 417, 422. 


18, 20, 


Blanc, T., 390, 391, 392. 
Blom, H. Oe., 18, 363, 422. 


Bonus, Arthur, 394, 395, 396, 397, 


401. 403. 
Börne, L., 47. 
Botten⸗Hanſen, Paul, 19, 47, 48, 108, 
136, 332, 390, 399, 413 
Brahe, Tycho, 268. 
Brahm, Otto, 288, 412, 414. 
Brandes, E., 301, 415. 


Brandes, Georg, 142, 173, 175, 182, 
212, 267, 273, 277, 284, 353, 369, 
383, 385, 389, 390, 393, 398, 399, 
403, 404, 406, 408, 410, 413, 422, 


423. 
Bremer, Frederike, 15. 
Breſemann, Fr., 408. 
Broglie, A. de, 311, 415. 
Büchele 415, 416. 
Bülow, E. v., 409. 
Bull, Alex., 390. 
Bull, Ole, 48, 67, 332, 390, 410. 


Byron, 11, 14, 17, 180, 190, 217, 


229, 333, 380. 
Caeſar 25, 386. 


Calderon 292. 

Carlyle 218, 244, 284. 

Cervantes 108, 408. 

Chamiſſo 262. 

Chryſoſtomos 311, 313, 416. 

Cicero 21, 24, 25, 27,230, 31, 32, 385, 

Collett, Camilla, 19, 106, 107, 120, 
135, 222, 375, 398, 408, 411, 422. 

Collin, Chr., 398, 6306 410, 412, 413. 

Cramer, C. F., 3 

Cramer, J. A., 414 

Croker, Crofton, 18. 


Dane, L., 384, 391. 

Dante 132, 262, 402. 

Daß, Petter, 3, 383. 

Daudet 408. 

Dehn, Israel, (= Frithjof Foß) 44, 
389, 393. 


Dietrichſon, Lorentz, 5, 69, 269, 319, 
383, 393, 417 

Döring, B., 395. 

Droeſcher, Georg, 322. 

Droſte⸗Hülshoff, Ao., 354. 

Du Bois⸗Reymond, E., 408. 


Edmond, Charles, 59, 391. 

Edzardi, A., 396. 

e ur A., 245, 286, 307, 386, 399, 
404 

Elberling, & G., 409. 

Elias, Julius, 389, 391, 392. 

Emerſon 383. 

Erikſen, Alfred, 327, 418, 419. 

Eunapios 311. 

Euripides 86, 291. 

Ewald, Joh., 70, 393. 


Faye, A., 15, 62, 395, 397. 
Field 383. 

Foß, Frithjof, 44, 389, 393. 
Fouque 7. 

Freytag, Guſtav, 320, 397. 
Fulda, Ludwig, 389, 405. 
Fuller, H. B., 383. 


Garborg, Arne, 389, 414. 


Namenverzeichnis 425 


Geibel, E., 71, 80. 

Gering, Hug o, 390, 395, 396, 397. 

Goethe, 7, 26, 75, 101, 105, 178, 179, 
186, 201, 214, 235, 262, 264, 277, 


279, 289, 293, 363, 403, 404, 410, 


413, 419. 
Goſſe, Edmund, 272.“ 
Gran, Gerhard, 412, 417. 
Gregor von Nazianz 311, 313, 416. 


Gregor von Nyſſa 311, 313. 


Grillparzer 201, 340, 419. 
Grimm, Brüder, 15, 18, 240, 241. 


Grimm, Jakob, 68, 393, 395, 396, 


397. 
Grimm, Wilhelm, 63. 
Griſebach, E., 394. 5 


Halvorſen, 
404, 407, 412, 413, 415, 418, 421, 
422, 423. 

Hanſen, Irgens, 399. 

Hanſen, Mauritz, 8. 

Hanſen, Peter, 271, 383. 

Hanſtein, Adalbert v., 413. 

Hauch, Joh. Carſten, 270. 

Hauff, Wilhelm, 262. 

Hauptmann, Gerhart, 71, 236. 

Hawthorne 383. 

Hebbel 79, 345, 412, 415. 

Heiberg, 
417, 422. 

Heine, H., 17, 20, 47, 398, 413. 

Heinzel, R., 393, 394. 

Herder 63, 281, 413. 

Herford, C. H., 406, 417. 

Herre, Bernhard, 18. 

Herrmann, Paul, 412, 414. 

Hertz, Henrik, 55, 58. 

Herwegh, G., 372. 

Hettner, H., 51, 107. 

Heyler 416. 

Heyſe, Paul, 266, 267, 268. 

Holberg, L., 3, 4, 8, 324, 383. 

Holinshed 92. 

Horaz 363. 

Hoſtrup, 98 Chr., 61, 62, 236. 

Howells 383. 

Hugo, Victor, 96. 

Hülſen, Chr. 416. 

Hutten, Ulrich v., 274. 


J. B., 384, 399, 402, 403, 


J. L., 102, 135, 358, 398, 


Jaeger, Henrik, 5, 29, 183, 332, 383, 
384, 385, 390, 392, 395, 399, 400, 
404, 409, 422. 

Jakobi, Fritz, 293, 415. 

Satobfen, J. P., 301, 303, 314, 319, 


James, W., 383. 

Jenſen, Peter Andreas, 18. 
Jiriezek, O. L., 393. 
Joppert 70, 393. 


Keller, Gottfried, 115. 

Keyſer, Rudolf, 16. 

Kieler, Laura, 174, 268, 403. 

Kierkegaard, Sören, 142, 182, 183, 
184, 185, 254, 276, 302, 404, 412. 

Kleiſt, Heinrich v., 2, 55, 118, 201, 
231, 241, 409. 

Klenze, Camillo v., 383. | 

Klingenfeld, EN 391, 392,407. 

Klinger, F. M. v., 

Klopſtock 4, 26, 50 383, 385. 

Knudſen, R., 16. 

Kopiſch, Auguſt, 418. 

Kraeger, H., 217, 407. 

Kürſchner, Joſ., 391. 


Lamb, Charles, 237, 408. 
Lanes, G. A, 180, 181, 182, 185, 
4 


Landſtad, M. B., 15, 58, 63, 392. 

Lange, Chr. C. A., 42, 384. g 

Lange, Julius, 371, 422. 

Lange, Paul, 291, 414. 

Faſſen, 8 ie 409. 

Lenz, J. M. R 

Leſſing, G. E., 99 146, 282 ff., 289, 
343, 413, 414. 

Libanios 311.1 

Lie, Jonas, 390. 

Liebenberg, F. L., 385. 

Lindau, Paul, 404. 

Lindemann, L. M., 16. 

Liſtov 415. 

Lobedanz, E., 398. 

Long fellow 188, 383. 

Lowell 383 

Luerez 244. 

Ludwig, Otto, 129, 166, 415. 

Luther, Bernhard, 406. 

Luther, Martin, 209, 211 


426 


Namenverzeichnis 


Maupaſſant 247. 

Maurer, Konrad, 395, 397. 
Mauthner, Fritz, 385, 418, 414, 418. 
Meltzer, Harald, 18. 


Nee Conrad Ferd., 55, 274, 342, 


Milton 216. 
Mjben, Cläre, 389. 


Moe, Jörgen, 15, 18, 69, 325, 393, 
408, 417 


; | 
Mogk, E., 383, 394, 399. 
Moliere 135, 178, 179, 404. 
Monrad 43. 
Monſen, Chr., 18. 
Morgenſtern, Chr., 389, 407. 
Mörike 125. 
Müller, P. E., 39. 
Munch, Andreas, 7, 1 168. 
5 Joh. Storm, 7 

Munch, P. A., 7, 16, 163, 400, 401. 
Munder, Franz, 3 


Neander 311, 416. 
Neckel, Guſtav, 396, 405. 
Nietzſche 176, 467. 
Novalis 7. 


Oehlenſchlaeger, Adam, 5, 6, 7, 35, 
6, 67, 69, 70, 71, 158, 390. 

Oeſtgaard, Nieolai, 18. 

Ording, 1 384. 

Oſiander, C. N. v., 416. 

Oſſian 70. a 

Ottmann, L., 390. 


Paludan⸗Müller, Frederik, 217, 256, 
261, 264, 391, 407. 

Paſſarge, L, 389, 407. 

Paul, Hermann, 383, 394, 399. 

Paulſen, John, 412. 

Peſtalozzi 9. 

Peterſen, Clemens, 236, 408. 

Peterſen G., 396. 

Peterſen, N. M., 73, 75, 324, 393, 
394, 395, 396, 397, 398. 

peterſen, Siegwart, 389. 

Petrarea 132. 

Pfeil, J. G., 311. 

Phädrus 240, 259. 

Philoſtorgios 311. 

Platon 304. 


Schlegel, Fr., 288. 


Shakeſpeare 9, 61, 89, 92,129, 161,166, 


Poe, Edgar Allan, 383. 
Powell, F. Mork, 394. 
Prölß, R., 402. 

Prozor, M., V, 413. 


Quesnel, L., 398. 


Raeine 410. 

Raimund, F., 241. 

Ranke, L. v., 414. 

Reich, E., 392, 397. 

Reichardt, H., 415. 

Renan, E., 413. 

Riis, Claus Pavel, 18, 70. 
Roſenberg, C., 73, 78, 84, 394. 
Rufinus 311. 

Ruhkopf, J., 407. 


Sage Lyder, 7. 
Sali 21, 25, 26, 27, 30, 31, 385, 
Sarolea, Charles, 406. 
Sars, J. E., 391. 
Sauer, A., 419. 
Saxo 70, 393. 
Schack, A., 403. 
Schack, Hans Egede, 265, 266. 
Scherer, Wilhelm, 72, 394. 
Schiller 7, 17, 22, 26, 35, 50, 53, 145, 
154, 201, 289, 290, 291, 319, 321, 
385, 400, 403, 414. 
Schlegel, A. W., 9. 


Schmidt, E., 393. 
Schopenhauer, 78, 128, 281, 286, 394, 
414. 


Schwach, Conrad N., 8. 
Scribe 52. 
Seybold 416. 


167, 171, 190, 201, 222, 272, 281, 
293, 302, 306, 314, 316, 413. 
Shelley 157, 401. 
Siebold, P. F., 214, 407. 
Simrock, R., 80. 
Sivertſon, Sylveſter, 18. 
Skavlan, Olav, 383. 
Sokolowsky, R., 415. 
Sokrates (scholasticus) 311. 
Sozomenos 311, 416. 


— me A. 


Namenverzeichnis 


427 


Speck, H., 

Staffeldt, 4 385. 

Steffens, Henrich, 114, 130, 398. 
Stendhal 249. 

Storm, Edvard, 3, 7. 

Storm, Johann, 323, 327. 
Strodtmann, A., 402, 412. 
Suidas 311. 

Swift 248, 410. 

Symons, B., 79, 394. 


Taine 13, 248, 410. 
Taſchereau, J., 404. 
Theodoretos 311, 313, 416. 
Thordarsſohn, Sturla, 144. 
Thoreſen, Magdalene, 272. 
Tieck, 0 7, 9, 248, 
Tiſſot, E., 72, 394. 
Tolſtoi, Leo, 71, 190, 284. 
Treſchow 10. 

Troß 415, 416. 

Tullin, Chriſtian Braunmann, 3, 4. 
Turgenjew 266. 


Uhland, L., 69. 
Unger, C. R., 16. 
Ullmann, C., 311. 


257, 288, 408. 


Varnhagen v. E. 130. 

Vaſenius, Valfrid, 25, 65, 245, 384, 
390, 392, 393, 394, 400. 

Vigfuſſon, Gudbrand, 75, 394. 

Vinje, Aasmund Olafsſon, 19, 44, 47, 
1, 212, 218, 332, 390, 406, 407, 

Voltaire 249. 


Welhaven, Joh. Seb., 5, 7, 9, 12 ff., 
16, 17, 18, 324, 326, 332, 333, 337, 
383, 390, 409, 418, 419. 

Wergeland, Henrik Arnold, 5, Iff., 13, 
14, 15, 16, 19, 213, 324, 383, 407. 

Weſſel, Joh. Herm., 3, 45. 

Wetz, Wilhelm, 398. 

Wickſteed, H., 419. 

Wieland 289, 293, 415. 

Wilbrandt, Adolf, 406. 

Wolff, Simon O., 8, 383. 

Wolzogen, A. v., 407 


Zola, E., 71, 176, 208. 
Zonaras 311, 313, 416. 
Zoſimos 311, 312. 


Zſchalig, H., 401, 404. 


_ TE Hr 


Bu; 


8 


Kr 


University of Toronto 


REMOVE 
THE 
CARD 
FROM 
THIS 
POCKET 


Acme Library Card Pocket 
Under Pat. Ref. Index File” 
Made by LIBRARY BUREAU 


. ee 


v. 
.. 


2 
4 
4 
O 
nn; 
a 
u; 
O: 
. 
4 
© 
=} 
2 


Henrik. been. 


Author | 
Title 


N 


ERSEIRHERSEREHENEISEHRERIEE EN 
8 


Lü LEERE Fe PENEER NE AEe 
+ — 8 ven‘ 
8 


— 


2 2 

7585 W 

. 

712710 1 1 

} 115 

1 5 
a 

| | | Ae 

* 1 * 2 f £ ie n 1 

| 8 . x Een 5 

. 7 2 2 2 HER g 5 


1 


2 7 Y 1 5 7. 
8 | 8 1 


* rin] a * 1 1 . 4 
Deen 
9 N 7 7 1 4 I 
5 Hure m 


1645 
a 


# 
7 
I? 


RN 
955 15 Hann 17 
5 1 8 4 Ir 2. 77 2 Er 
N 5 Bi ; 
\ ; . . 
RR 728841 
. : g t ! 
1 ah a 
3 
ARE: 


dar 


3 
— 


8 
745 


5 


+ 


14255 
51 N 
I 


25 


1 
H 
0 ! Ä 2 715775 


Bun 
155 
1285 


Er 
5 
HER — 2 
78 
a 


5 
F, 
Ba 
1 225 
[5 85 
8255 
13 


EI 55 
et 1 5 i 
au Be 9 
11 . g ir 


723 
z 
Haie 
5 
x 
De 
— 
ze 
Zi 


215 1 
* 1410 
i hie 
9 
ak 
Mel 


17 
5 
. 
2: 
85 


5 
27 


. 
Er 


ve 


Int 


z 
— 


& 

25 
7255 
Erbe 


5 
5 
Ker 


7 
Mat 


2 8 
N 


2 
Mt 


85 


1 
2 
5 


5 
* 
7 


727 


— 
Kk. 
. 


Ai 


Burst! 
420 


8 
1 
ze 
— 
45 
= 
Eee 


751 
5 
Ei 
ET: 
ri 
2 
25 
7 


5 
— 72 hr 
vr > 5 
ant 
Hort » } 
a . 2 
Aae 
Aus 


2 0 


dm 
75 5 
225 
Er 


ian 
i en 
e n nta 
nne un 
nn 
7 


ner 
Tat 
8225 


1 : 
REN uhRE 
MI tet Ahle 15 Mi 
HILL. 15 IK 112 
14 RR 107 
i dee 220 
4 
n 
11 
. 
hr 1 
Ark 


242 Br 
412 


1 


aM 
0 


Kehle 


825 
2 25 


1 er 
Manu Ha 


1 


Were! 

had hr 
1 

Fust 


id 
hn 


0 0 


A7. 
Run, 


ih 
aM 


\ 
1 A 
Auen 
g ate 
gt