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Full text of "Herders sämmtliche Werke"

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Herders 


ı Sämmtlide Werte, 


Herausgegeben 


von 


Bernhard Suphan. 


| Zehnter Band. 
THE 
HILDT3RAND 
LIBRARY. 


Berlin, 
Weidmannſche Buhhandlung. 
1879. 














inhalt‘ 


Seite 
Erſter Theil 170. 1788. ....... ennrnennnnnnnnn 1 
Zweiter Theil 1780. 1785. aueeesceessesnenn sensennnnnnnnonsnnennenennn snrsnneannannns 153 
Dritter Theil 1781. 1786. u... nen —D 269 


*) Die „Briefe“ bedürfen zu ihrem Berftändnis keiner hiftoriſchen Borausſetzung 

und Grläuterung Der Herausgeber beſcheidet ſich daher, feine Erörterungen und Notizen in 

un! u NT. einens Nachwort zu Band XI aufanımenzuftellen. Über die Bezeichnung der Varianten giebt 

w.KeFÄ vie Einleitung zu Band I, ©. XXXIX die erforberlige Auskunft. Die ohne vorgeſetztes 
N eh Zeidhen gegebene Yebart ift die der erften Ausgabe. 


Briefe, 


das Studium der Theologie 


betreffen. 


von 


J. G. Herder. ' 


Erſter Theil. 


— — — 


Zweyte verbeſſerte Auflage. 


—— — — —— — — — —— — — —— — 





Weimar, 


bey Carl Ludolph Hoffmanns 
ſel. Wittwe, und Erben. 


1780. 1785. 


1) „von J. G. Herder.“ fehlt. 


ee a a a pr, 
Ta 2 nn ee Eu 














Vorbericht 
zur zweyten Auflage 


Ich darf die Herausgabe dieſer Briefe 

haben mir das Zutrauen vieler edeln und 

N, 221/. tannten Jünglinge erworben und dies iſt ber 

12,762 ich mir wünſchen konnte. 

GH) Da manche Materien, die hier nur vorb 

fonnten, in meiner Schrift: über den Gei 

(U) Boefie genauer entwidelt find: fo habe ich 

Auflage vieles weglafjen fünnen, das, na 

erſchienen ift, hier in einer unvollkommenen 

wäre. Ja ich hätte noch manches weglafjer 

nicht gefürchtet hätte, den Faden der Bricht 

So fühle ih 3.8. die Materie von Anfü 

im neuen Teftament, ohngeadtet der Sı 

behandelt ift, dennoch nicht hinreichend für 

22,3. wird aber im dritten Theil des vorgenannter 

finden. Auch habe ih Manches ausgelaffen, 
Studium der Theologie weniger gehörte. 

Was ich dagegen eingerüdt habe, find ı 

am) dichten Züge vom Charakter Chrifti m 

tungen über die Commentare und Barı 

jene? wird man aus Veranlafungen unf 

beantworten. Warum diefe? wird ihr Inha 

Ueberhaupt aber wünſchte id), daß m 

feine vollftändige Methodologie zum Stubium 





4. 12,79. 





— 4 — 


heit anſehen möge; eine ſolche zu ſchreiben, iſt mir bey dieſen 
Briefen nicht in den Sinn gekommen, da wir [in] derſelben auch 
ſchon jo viel und zum Theil fehr gelehrte und ſchätzbare Werke 
baben. Meine Briefe find einzelne @elegenheitsbricfe, deren 
Materien ich einmal bis zur praftifhen Anwendung im Predigt: (1Y) 
amt verfolgen zu können wünſchte. 

Faſt hatte ich Luft, einen Kleinen Auflat: Entwurf der 
Anwendung dreyer alademifcher Jahre für einen jungen 
Theologen, den ich vor einigen Jahren aufgelegt hatte, dieſen 
Briefen vorzurüden; da er aber ein eignes Ganze ift, jo mag er 
auch einmal als ein foldhes erfcheinen. 


Meimar den 17. October 1784. 
Herder. 


ft mir bey diefen 
[in] derfelben auch 
ſchätzbare Werfe 
eitsbriefe, Deren 
dung im Predigt: (IV) 


Entwurf der 
- einen jungen 
tzt hatte, dieſen 
iſt, ſo mag er 


Herder. 





(V) 


Ar. 
Br. 


Inhalt.“ 


1. Daß man die Bibel menſchlich leſen müſſe, als ein Buch von 
menſchlicher Schrift und Sprade. ........nenerseanennensenessenensensnuneen aneneen 
2. Das Hebräifche ift als eine Nationalfpracdhe ihrer Zeit und 
Gegend zu betrachten und zu gebrauden, Schultens Berbienft. 
Auch Poeſien nach unferm Geſchmack müſſe man nicht in der Bibel 
an unredtem Orte ſuchen. Eine Probe an der Geſchichte bes 
Paradieſes, der erfien Sünde, imgleihen an Bileams Gefchichte. 


. d. Bon Lowth's Buch de sacra poësi Hebraeorum. Weberfidht 


ber Ebräiſchen Bücher nach ihrer Jüdiſchen Eintbeilung. Bon 
den älteften Fragmenten bes Urfprungs der Menfchbeit. Bon 
der Batergefchichte der Patriarchen und ihrer Schreibart. ........... 


. 4 Bon Mofes Gefegen und feiner Geſchichte. Wie beyde zu 


lefen, anzufeben, zu trennen und zu verbinden? Michaelis 
Moſaiſches Recht, Jeruſalem, Döderlein, Lilienthal. 
Winke auf Liederfammlungen in der Geſchichte Moſes. Ein 
Brunnenlied, und ein hönendes Siegslied. . 


. 5. Vom Segen Jacobs über feine Söhne. Die Characterſchilde⸗ 


rung in ihm dur Bilder der Thiere. Judahs Segen. Die 
Ausficht des Sterbenden aufs Land der Berbeiffung. „een. 


. 6. MUeberfegung des Segen® Iacob8 und Mofes, mit Erläuterungen 


einzelner bunfler Stellen und ber Bergleihung beyder. zen. 


. 8. Bon ben Poetifhen Zeiten Iſraels in den Büchern ber Helden 


und erften Könige. Lebensbefchreibungen Davids. Davids Ehren- 
gefang auf Abner. Ueberfeßhn und Aufffärung feiner fo ver- 
rätbfelten letzten Worte. infe auf das Leſen ber Propheten, 
nad ihren einzelnen Zügen und dem, was Weiflagung bey ihnen 
überhaupt war. . 


. 9. Vom Bude Jonas, obs Dichtung ſey oder Geſchichte? Sein 


Danklied, ein Gelübde nach erhaltener Rettung. Von Ezechiels 
Tempel. Gefichtöpunlt der Ebräer zu ihren heiligen Schriften. 
Vom Buch der Pſalmen, feinen Verfaſſern, ſeiner Ordnung, Ton⸗ 
kunſt und dem verſchiednen Charakter verſchiedener Pſalmen. Vom 
Rhythmus und Parallelismus der Ebräer überhaupt. zes 


Rr. 
Br. 


10. Ueberſetzung einiger der fpätern Pfalmen. ...........een an 
11. Bon der Sanımlung Siunſprüche der Ebräer: beſonders von 
Agurs Hamafa am Ende berfeiben. Erklärungen feines erften 
Räthſels und ciniger andern feiner Sprüche Bom älteften Lehr 
gedicht der Erde, dem Bud, Hiobs. Bom fo genannten Prediger 
Salomo, von feiner Ueberſchrift und den zwo Stinmen, die in 
ihm wecfeln. Bom Bud Eſther und den übrigen Ebräiſchen 
Schriften. . 


. 12. Bon der Göttlichteit dieſer Bücher. Worauf fie ſich gründe? 


worinn fie beftehbe? wie fie wire? Wie fih dieſe Schriften er 
halten haben? in welchem Zuftande fie jegt find? Wunſch und 
Plan einer Ausgabe verjelben. Wink auf den Urfprung der Bud- 
ftabenjchrift im Verhältniß zu diefen Schriften. 


Seite 
158 


167 


185 








167 


189 





Erfter Brief. 


Es bleibt dabey, mein Lieber, das befte Studium der Gotte: 
gelehrfamkeit ift Studium der Bibel, und das befte Leſen diefi 
göttlichen Buchs ift menfhlidh. Ach nehme dies Wort im we 
teften Umfange und in der andringendften Bedeutung. 

Menihlid muß man die Bibel lejen: denn fie ift ein Bu 
duch Menſchen für Menfchen gefchrieben: menſchlich ift die Sprach 
menſchlich die äuſſern Hülfsmittel, mit denen fie gefchrieben un 
aufbehalten ift; menjchlich endlich ift ja der Sinn, mit dem fic gefaf 
werden Tann, jedes Hülfsmittel, das fie erläutert, fo wie der ganze 
Zweck und Nuten, zu dem fie angewandt werben fol. Sie für 
nen aljo fiher glauben, je humaner (im beften Sinne des Wort: 
Sie das Wort Gottes lefen, defto näher Tommen Sie dem Zwe 
feines Urhebers, der Menſchen zu feinem Bilde ſchuf, und in alle 
Werfen und Wohlthaten, wo er fi uns als Gott zeigt, für ur 
menſchlich handelt. ? 

Glauben Sie nicht, daß ich Ihnen hiemit einen Tahlen Gcmeir 
ort gejagt haben will; die Folgen dieſes Grundjages, recht gefa| 
und im ganzen Umfange erwogen, find ? wichtig. 

Zuerft fchließt fi nach ihm fo mander Aberglaube aus, al 
jey die Bibel bis auf jede Kleinigfeit ihrer Schreibmaterie, Perge 
ment, oder Papier, Griffel oder Feder, bis auf den, der Ein 
oder das Andre führt, bis auf jeden Strich oder Charalter ihrer 
Schrift und Sprade übermenſchlich, überirrdiſch; mithin ga 


1) fann, die Hülfsmittel, die fie erläutern, ber ganze 
2) zeigt, gewiß menſchlich. 
3) im Umfange erwogen, find vielleicht 4) ber 





— — 


ungemein und ohne! Bergleihung, weder einem Truge noch Jrr- 
thum unterworfen, anzubeten und nicht zu unterfuden, nicht zu 
ftubiren, no zu prüfen. Wirklich ein böfer Grundfag, der einen 
Menſchen, der ihn wegen feiner lichen Göttlichfeit annimmt, nur 
gar zu menſchlich, d. i. müßig und dumm macht, weil er ihm? 
die Binde fürs Geficht zieht, und nun fragt, ob er fein Licht ehe? 
Ob ein Menſch, der die Bibel abjchreibt, jet auf einmal ein 
fehlerfreger Gott werde? können Sie gleih erfahren, wenn Sie 
mit Ihrem Abjchreibes einen Verſuch machen wollen. Er wird 
jegt Ichreiben, wie er fonft jchrieb, nachdem er nemlich Benauigfeit, 
Fleiß, Kenntnig der Sprache und Saden, Zeit, Geduld und eine 
leferlihe Hand Bat; die Gottheit wird ihm, weil er etwa jeht 3 
Bibel fchreibt, keins von allen diefen Stüden durch ein Wunder 
ändern. Das ift nicht etwa feit der Buchdruckerey fo gemorben, 
fondern immer und vorher vielmehr alſo gewejen. Kein Per—⸗ 
gament belommt eine veitere Natur, weil es die Bibel trägt und 
feine Dinte wird deshalb unverlöfhbar. Ebräiſche Punkte und 
Buchſtaben legen ihre Natur nicht ab, weil fie jegt zum Bud ber 
Bücher gehören ; und Alles, was die Zeit an einer Sprade thut 
und ändert, bleibt völlig in feinem Gange. Dies find nit Muib- 
maſſungen, fondern Facta; von der Art ift auch Alles, was hie: 
von abhängt. Verbannen Sie jeden legten Sauerteig der Mey: 
nung, al3 ſey die8 Buch in feiner äuffern Geftalt und in feinen 
Materialien fein Buch, wie andre Bücher, in ihm fünne es z. E. 
feine verſchiedne Lesarten geben, weil es ein göttliche Bud jey. 
Es giebt in ihm verſchiedne Lesarten, (und Eine Lesart kann doch 
nur die rechte feyn) dies ift Thatfache, Feine Meynung. Mithin 
muß man fi) um diefe bemühen, mithin zwiſchen ihnen unterjcheiben 
und wählen, mithin giebts eine Wiſſenſchaft über diefe Wahl und 
Unterſcheidung, wie bey jedem andern menſchlichen Buche Die 
Bibel ift hierinn gewiſſermaßen das menjhlichfte von allen Büchern, 4 
denn fie ift ihrem größten Theil und Grunde nad, beynahe das 


1) ungemein, obne 2) madt, ihm 


I 4 


no 


—9 — 


Irr älteſte. Es gieng durch ſo viele Hände, Völker und Zeiten, 


zu und obgleih, wie wir bald hören werden, die Borfehung durd) 
nen natürlihe Mittel ganz einzig für die Erhaltung und Aufbewahrung 
nur ’ defjelben forgte, wir auch im Ganzen feines Zwecks und Inhalts, 
m ? jo fern er für uns dienet, von feiner Unverfälfchtheit ſicher ſeyn 
‘he? fönnen; fo müfjen wir doch diefe nie a priori bemeifen, als jei 
ein dies Bud! etwa im Himmel gefchrieben worden und nit auf 
Sie Erden, von Engeln und nicht von Menſchen. Durch ſolche Vor⸗ 
vird ausſetzungen thun wir der Bibel nicht Ehre an, ſondern Schande 
keit, und Schaden: ein groſſer Theil der frechſten Einwürfe gegen 
eine fie ift aus diefem Iuftigen Rüfthaufe genommen, und mande Geg- 
jegt 3 ner ftreiten no immer auf foldem Felde, als ob fie für Maho— 
der meds Koran und einen Gabriel, der ihn vom Himmel gebracht 
den, babe,? ſtritten. Ich mag nicht von diefer 3 Parthey jeyn; nicht, 
Ner- weil der Feind fürdhterlih, fondern weil der ganze Streitplan 
und Feengrund tft. Für einen jungen Theologen wenigſtens tft der⸗ 


gleichen unbemwiefene, zum Theil offenbar unwahre und fabelhafte 
Hypotheſe gewiß ſchädlich. Sie umhüllet und verjtopft ihm Blid 
‚hut 5 und Kopf; fie feflelt feinen Fleiß zu unterjuden, zu jammeln, zu 
prüfen, gejund zu erklären, und lähmt, wenn er fie* bat, die 
gewiß gute Gabe Gottes, natürlichen Verſtand und Scarffinn. 
Viele haben es gerade herausgefagt: ich mag fein Buch lefen, was 


IM fein Buch, wie andre Bücher feyn fol, und andre find nad Mühe 

& und Duaal zulegt auf eben die überbrüßige Ruhe gelommen. Luther, 
en. der ein heller, trefliher Kopf war, bat fi) mit bleiernen Stupibi- 
od täten folder Art gar nicht befaßt; und ich bin gewiß, daß es fein 
hin guter Kopf thun könne und werde. Wenigſtens bin ih bey mehr 
ben ala Einem Subjeft Zeuge darüber, wie ſchwer es hält, einen Men- 
ab ſchen zu richtigem Sinn und Blid im Gebrauch der Bibel zu brin- 
* gen, wenn Einmal dergleichen faule Sümpfe von Non-fenfe in 
rn, 4 


2) auf dem Felde, al8 ..... und Gabriel, der... . . gebracht 


a3 | 1) beweifen, weil das Buch 
! 3) ver 4) ibn 





ihm find. Er glaubt immer, wenn er die Bibel angreife, greife 
er fein Bud an, und erlaubt fi aljo nicht, zu jehen, was er 
fiegt, zu hören, was er höret. Himmliſche Schatten ſchweben ihm 
vor, Geftalten aus dem Neih der Peris und Neris; oft auch an 
Wahrheit, Nuten und Verhältniß, Geftalten aus diefer Gegend. 
Mas das ſchlimmſte ift, fo lernt er durch diefe Verbämmerung in 
feinen jungen Jahren Hülfsmittel verachten oder vernachläßigen, 
deren Mangel ihm naher immer anklebt, gewiſſermaßen unerfeh- 
ih bleibt, und ihn vielleicht gar, meil Feine Blöße fi) gern zeigen 
will, wie fie ift, gegen das beſſere Licht recht gebrauchter Hülfs- 
mittel zuletzt wapnet. Den Grund vom lebten weiß er vielleicht 
jelbft nicht, und jodenn um fo ſchlimmer: nun ftreitet er für Die 
Sade Gottes und der Bibel, weil er eigentlich für feine Dürftig- 
feit an wahren Einfihten und Hülfsmitteln, d. i. für den Staar 
feiner Augen ftreitet. 

Verachten Sie aljo nicht, mein Lieber, die Kenntniffe, die 
Ihnen zu ſolchem Gebrauch der Bibel angeboten werben; es bleibt 
Ihren reifen Jahren ja nachher aufbehalten, welchen Gebraud 
Sie davon machen wollen. Laſſen Sie fi felbjt den Mißbrauch, 
die oftermals recht ſchnöde Anwendung der fo genannten bibliſchen 
Kritik, der Ihnen vor Augen ift, nicht abichreden; fondern lernen 
Sie Spraden, verwandte Sprachen, machen fi die Grundſätze die- 
fer feinen, gelehrten und philoſophiſchen Wiflenfchaft befannt, fam- 
meln, mas Sie! fammeln fönnen, wenn es aud nur von fern 
dazu dienet. Halten Sie fi früh ein Exemplar der Bibel in 
ihren Grundipraden, wo Sie auf durchſchoſſene Blätter Varianten, 
Einwürfe, Muthmaßungen, Bemerkungen, Regeln zu tünftigem 
Gebrauch und Urtheil anmerken. Nur jest urtheilen Sie nod 
nicht. Sie find noch zu jung; vielleicht iſt auch noch dies ganze 
Stubium, infonderheit über das alte Teftament, zu jung, als daf 
es reife Endurtbeile gebe. Zehn oder zwanzig Jahre weiter, wer⸗ 
den Sie und überhaupt wir alle auf? andrer Stelle feyn, als wir 


1) Sie dazu 2) wir auf 





{or} 


—— ⸗⸗ 


jetzt ſind. Wir werden manches kritiſche Gerüſt weggeworfen haben, 
weil die Wand des Gebäudes da iſt, die erbauet werden ſollte; 
wir werden manches ſicher annehmen, was uns jetzt noch mißlich 
dünkt, und werden uns dabey nicht übler finden. Bis dahin ſeyn 
Sie der Biene gleich, die ihren Honig von allerley Blumen famneelt; 
nur Honig ſeys, mad Ste fammeln,! nidt Gift, nicht Unrath. 
Behalten Ste immer Ihre findlide Einfalt und Hochachtung gegen 
die Bibel, wenn Sie fie auch in den Händen Ihrer? Kritifer zumeilen 
jehr entmweiht fehen; die Kritif Hatte daran nur zufälliger Weife 
Schuld. Ein Spracdmeifter und Ausleger find zwey jehr verſchie⸗ 
dene Geichöpfe, wie wirs ja bey fo viel läufigen Sprachmeiftern 
neuerer Idiome fehen; diefe? können die Sprade verftehn und den 


8 Autor ganz und gar nicht; vor feinem fehlichteften Sinn, gefchweige 


vor den * Feinheiten deſſelben hängt ihnen die Dede. So kanns 
und wirds mwahrjcheinlicher Weiſe mit den Sprachmeiftern der Bibel 
auch ſeyn, eben weil fie das ältefte, Tchlichtefte, umfaſſendſte Buch 
ift; deswegen aber bleibt Sprachmeifter an ſich (feine Starrheit aus- 
genommen) eine gute, nüßliche, unentbehrliche Sade, ja im Gram⸗ 
matiſchen und in Kleinigkeiten der Kritik leitet oft feine Starrheit 
Dienfte. Kurz, mein Freund, verfäumen Sie nichts vom Zubehör 
der Theologie und ihrem Gerüfte; vergeflen Sie aber nicht, daß 
das Zubehör nit Sache und das Gerüft nicht Gebäude ſey: dies 
wird Sie ſowohl vor dem kritiſchen Stolz, der wahren falten Kröte 
des guten Verſtandes, ala der unfritiihen Schlaffheit und Schmwär- 
merey bewahren. Nächten? ein mehreres hierüber. 


N. S. Somohl zur Sprade, als zu den erften Anfangs- 
gründen der Kritil gehört mündliche Lehre; ich überhäufe Sie daher 
noch mit feinem Berzeihniß von Büchern. Richard Simon it 
der Vater der Kritif A. und N. T. in den neuern Zeiten; allein 
jest ift für Sie noch nit die Zeit ihn zu leſen. Eine kritiſche 


1) von allen und allerley Blumen fammelt; nur... .. was fie ſammelt, 
2) ibrer (?) 3) fie 4) gefchweige den 





Einleitung in? A. T., wie fie ſeyn follte, haben wir überdem noch 9 


gar nicht.*) — Brauden Sie Waltons Prolegomenen, **) Wäh- 
ners antiquitates Hebracorum , ***) beydes für Anfänger reiche 
und nügliche Bücher; am beiten aber brauchen Sie zuförderit, was 
Ihnen Ihre Lehrer über beyde Sammlungen biblifcher Bücher dar- 
bieten. Diefe werden genußt haben, was zu nuben war, und fi 
jest in allen Bücdherverzeichniffen findet; Die Anfangsgründe jeder 
Kunft lernt man am beften aus lebendiger Lehre und Uebung. 


Zweyhter Brief. 


Daß die Ebräiſche Sprahe von Menſchen, das tft von einer 
Nation geſprochen fey, ift bewiefen; daß fic aber auch von Göttern, 
von Engeln! und Elohim gefprochen werde, ift noch zu erweiſen: 
mithin bleibe ich bey dem Erften. 

Und da liegt mir abermals noch nicht dran, ob Adam, Seth, 
Noah, Abraham zu Ur in Chaldäa Ebräiſch geſprochen; gnug ihre 
Nachkommen ſprachens, Moſes fchricb es, und in diefer einmal 
lebendigen menſchlichen Mundart find die älteften und meiften 
Schriften des A. T. verfaſſet. Was aljo natürlider, als daß man 
fie als lebendige, ala Nationalfprade treibe? und da fie beydes 
niht mehr ift, daß man zu der oder zu den Sprachen Zuflucht 
nehme , die fie noch am lebendften darjtellen. Unterlafien Sie alſo 
nicht, das Arabifche und die verwandten Dialekte mit Fleiß zu erler- 
nen; nicht etwa um Wurzeln zu lefen und ins Ebrätfche herüber 


*) Wir haben fie jegt in Eichhorn's fchägbarer Einleitung ine 
alte Zeftament. Leipzig 1780 -— 83.2 

**) Briani Waltoni apparat. biblic. Tigur. 1673. fol. Dathens Aus- 
gabe, Leipzig 1777. 8. 

***) Gotting. 1743. 2 Vol. 8. 


1) Menſchen, von einer .... von Göttern, Engeln 
2) „*) ®ir — 1780— 83.” feblt. 


2,2 


— — — — 


zu zwingen, nicht etwa gar, um leichte! Dinge fchwer, und natür- 

liche Dinge unnatürlih zu machen, vermöge einer Arabifchen Con- 

' 11 jugation; noch meniger fteinerne Schönheiten aus Arabien zu erbet- 

' teln, und lebendige damit zu töbten. Ihre Hauptabficht fey, den 

Genius der Sprache zu faflen,? Ausdrud und Vorftellungs- 

art Drient3 zu empfinden, und das Ebräiſche, eine ältere und ein- 

fachere Sprade, nad ihren jüngern und künſtlichern Mundarten 3 
wenigftend von fern, in feinen lebendigen Lauten zu hören. 

Es ift vielleicht nicht auszuſprechen, was mit dieſer Ueber⸗ 

zugung: man lerne eine lebendige, menſchliche Nationalſprache, 

Gutes gewirkt wird. Seitdem Schultens das Vorurtheil wegbrach, 

daß hie Ebräiſche Sprade im Himmel gefprochen werde, und dafür 

ihre jüngere Schweiter oder Tochter auf Erden empfahl; ſeitdem 

Hat das Studium derfelben in Erklärung der Bibel einen ganz 

neuen Schwung befommen. Verſuchen Sie immer feine Schriften, 

\ 12 infonderheit feine Drigines,*) bey Ihren Arbeiten, neben hin * zu 

leſen. Die lateinische Schreibart darinn ift wie eines gelehrten 

Arabers, zu Schön, zu fünftlich: einzelne Sachen, die Etymologien 

und Energien find oft zu voll, zu gepfropft; der Geiſt jeiner 

° Schriften inbefien 5 ift voll von Lehre und Philofophie Morgen- 

ländifcher Sprachen. Diefer Autor bat den Kern gefoftet und nicht 

an der Schale gefauet; was wir in Deutichland durch mande feiner 

Verächter und Jünger haben, find oft nur geglättete Schalen. 

Nehmen Sie's fih überhaupt zur Regel, fi in jeder Scienz 


*) Origines Hebr. aB Albert. Schultens Lugd. 1761. groß 4. wo die 
‚ Schrift de defectibus hodiernis 1. Hebre® und vindiciae originum dabey 
find. Sein Tractat vetus et regia via hebraizandi Lugd. 1738. 4. und 2 
excursus de lingua primsva 1739. find felten. Seine lange Borrebe vor 
Erpenius Grammatik betrift infonberbeit bie vorgegebne Uebermenfchlichkeit 
ber Ebräifchen Sprache. 


1) etwa blos um .... etwa gar, leichte 

2) fey, Genius der Sprache zu lernen, 3) ihrer .... Mundart 
4) Arbeiten, fon jett 

5) Schreibart darinn ift eineß ..... indeß ber Geift feiner Schriften 





— 14 — 


und Kunſt, vorzüglich an den Erſten, den Vorgänger, die 
Quelle zu halten; meiſtens bleibt er immer auch Quelle, und die J 
andern rauſchen als Bächlein. Ungeachtet ſeines bie und da unfe- 
ligen Fleiſſes, der bisweilen ſchwer zu leſen wird, findet man Gold⸗ 
gruben in ihm; da muß man nicht leſen, ſondern graben — auch 


zur allgemeinen Sprachengeſchichte der älteften! Zeit — — | | 
Gnug, in der alten, planen, ländlichpoetiſchen,“ unphiloſo⸗ 

phiſchen, Abſtraktionsloſen Sprache der Ebräer leſen wir das alte ' 

Teftament; aus diefem Gefichtspunft, auch mas den Geift des Inhalts | | 


betrift, laſſen Sie fih nit treiben. Werden Sie mit Hirten ein 13 
Hirt, mit einem Boll des Aderbaues ein Landmann, mit uralten 
Morgenländern ein Morgenländer, wenn Sie diefe Schriften in 
der Luft ihres Urfprungs geniefjen wollen, und hüten ſich infon- 
derheit, jo wie vor Abftractionen dumpfer neuerer Schulferker, fo 
noch mehr für fo genannten Schönheiten, die aus unfern Streifen 
der Gejellihaft jenen Heiligen Urbildern des höchſten Alterthums 
aufgezwungen und aufgedrungen werden. Bon Abitraftionen werde 
ih fpäter reden; jeßt leben wir infonderheit im Zeitalter der Ele- 
ganz, der Allmanahblüthen, mit denen denn aud) Mofes, David 
und Salomo überftreuet werden, mie fehr fie es auch verbitten 
möchten. Dieſer Pfalm wird Ode, jener eine Elegie nach neuerem - 
Schritt; Moſes und die Propheten werden heroiſche Lehrdichter, | 
und oft wird die Sade jo behandelt, ala ob diefe heiligen Männer 

ihre Stüde ? zu Batteur Einleitung oder in eine Blumenlefe gemacht 

hätten. Ein vermobertes florilegium aus Griehen und Römern 

wird dazu geihüttet; und nun ift der Aufor, wenn er noch über- 

dem viel von Varianten und Ueberjegungen geſchwatzt bat, über 

die papierne Krone des Zeitungslobes ſicher. Ich bin fein Feind 

Ihöner Stellen und Wehnlichkeiten, wie und moher fie fih finden 

mögen; jo mie aber ein jchönes Urbild, zumal wenn Einfalt und 

nothgedrungene Wahrheit feine fchönfte Zierde ift, mehr verliert 14 


u 





1) Spradengefhichte ältefter 2) botanifch = poetifchen 
3) jener Elegie; Moſes .... als ob fie wirklich ihre Stüde 





— — 
En. DIE 


‚2445 11cq 
» I MUTD Mich 





— 16 — 


Laſſen Sie mich Proben anführen, denn dieſe enthalten doch 
immer die beſtimmteſte Lehre. Die Geſchichte des Paradieſes 
und der erſten Sünde fol z. E. nichts als cin allegoriſches 
Lied, eine moralifhe Fabel ſeym. Paradies, Baum der Ber- 
fuhung, Schlange habe es nie gegeben; das jey nur jo gebichtet, 
um dert Menfchen eine jhöne Lehre: mie Sünde entjtehe? und wie 16 
Gott Eünden ftrafe? unter der Hülle des Mährchens zu zeigen, 
und natürlih macht man es fodenn zur Schönen Hülle. Man giebt 
dem Tert Aeſthetiſch und Poetiſch, was man ihm und dem Zu- 
fammenhange hiſtoriſch, natürlich nahm — Ich frage Sie, mein 
Lieber, ob ihrem unverrüdten Jugendſinn, dem erſten Eindrud 
nad, je ein ſolches Lied, eine ſchön erdachte, dazu ſchön vollendete 
Fabel, in dieſer einfältigen Erzählung erfchienen tft? Ich Iefe und 
leje wieder: fein Ton des Liebes kommt in mein Ohr, fo wenig ala 
in der ganzen Geſchichte der Siraeliten oder ihrer Väter, da doch bey 
dem Liede Lamechs, den Liedern Mofes, Davids, der Propheten auf 
Einmal die Rebe fo unterfchieden fteiget, daß niemand, der nur 
einiges Gefühl für Gefang oder Poefie Hat, den höhern Anklang 
verfennen Tann. Wo tft das bier im Anfange der Bibel? wo! 
fängt das Lied an, wo endigts? wo fängt die Fabel an, wo enbigt 
fie? Iſt fein Paradies, fein Baum, Feine Schlange da gemwefen, 
find fie nur Geſchöpfe der Zabel, warum nit au Sünde, Adam 
und Eva? da doch auf diefe lehtere, als auf Perfonen der 
Geihichte, im Berfolg weiter gebauet, und aud auf Sünde 
und Verbannung aus diefer Urgegend im Berfolg weiter gerechnet 17 
wird. So ifts aljo auch Fabel, dag Adam erichaffen warb? daß 
er fo und da und dazu erfchaffen wurde? daß unter folden Um- 
ftänden von ihm das Menſchengeſchlecht anfieng? Wir wiſſen alſo 
von allen diefen Sachen nichts, und haben am ganzen Mührchen 
nicht3 mehr, als die Geihichte vom Prometheus und der Pandora. 
Mithin ift auch der Erfolg diefes Mährchens Mährchen: denn bie 
Geſchichte von Kain und Abel, von ber Sündfluth, den Reifen 


1) bier? wo 








Er 


der Iſraeliten aus Egypten und in der Wüfi 
jo ſtarke poetiihe Stellen und Schilderungen, 
und fimpel erzählte Gejchichte nicht haben mö 
das ein Gedicht, eine Fabel, ein Figment, 
erften lindlichen Zeit der Welt, gerade in ih 
fältig, Endlich, poetiſch erzählt wird und jo e 
wenn (wie doch alle Geſchichtſchreiber wollen 
der Sache fodert) jede Befhreibung die nati 
Begebenheit annehmen muß; was bleibt ı 
ganzen ältejten Geſchichte? 
Laſſen Sie Gegentheild, mein Freund, 
wie fie ift, ohne eine neuere, feine Deutung 
18 zu legen: wie natürlid und philofophiid 
der Sade,? der Sprade, der Zeit, de 
Alles! Ein Menjhenpaar ift erſchaffen; de 
durch die Hleinfte Kraft. Ein dritter Menjd 
Menſchenpaar wäre Verwendung geweſen, ı 
Erde jollten ala Brüder einer Familie leben. 
alfo Hiftorifche Weſen und ihre Schöpfung, 
führung, ° die Lenkung ihrer erften Ke 
pfindungen fonnte für kindliche Zuhörer d 
fimpler, wahrer, begreiflicher, hiſtoriſch- treue 
fie hier erzählt wird. Das Paradies gehört 
dies erfte Menfchenpaar, das unter der Erzieh 
betrat, nicht einen ausgeſuchten, fichern, zu 
Kenntnifje und Pflichten bequemen und ver 
Hierauf kommt ſchon die Philofophie: dies 
Plan eines &löve de la nature. Vom Aderbı 


1) alle das Gedicht, Fabel, Figment, was - . 
wenn die Befhreibung (mie... umd die Natır 
natürlide Farbe der Begebenheit annchmer 
denn aus biefer 

2) natürlich, philoſophiſch, augemeſſen 

3) Schöpfung, Zufammenfübrung 

‚Herbere fämmtl. Werte. X 


— 18 — 


liche Haushaltung nicht anfangen; ſondern vom Garten, oder ſie 
fieng nie an. In ein rauhes Clima oder unter die Zähne der 
Thiere konnte die unbewehrte Menſchheit nicht hingeworfen, allen 
Elementen nicht Preis gegeben werden; oder ſie gieng zu Grunde. 19 
Nahm ſich nun Einmal der Schöpfer der Erde des Menſchen als 
ſeinés Kindes und Lieblinges an: wollte Ers, daß dieſer fein Bild 
tragen und feine Stelle durh Vernunft, Sprade und Herrichaft 
über die Thiere vertreten ſollte; nothwendig mußte er vom erften 
Augenblid des Werdens an, dieje in ihn gelegten fo foftbaren und 
weitausfehenden Anlagen ausbilden, auf die leichtefte und zu— 
glei dringendſte! Weife ausbilden, und fiehe, fo wird Dicfe 
ganze Geſchichte pünftlih und natürlid. So fondert Gott 
Thiere für ihn aus, die ihn nicht beichäbigen, die fih an ihn 
gewöhnen, von denen er lernt, die ihm mit ihrem Kunfttriebe, mit 
ihrem ihnen aufgeprägten ? Charakter, ihrer Stimme und Geberde 
allmählich Vernunft, Kunft und Sprade bilden. So fondert er 
Bäume für ihn aus, die ihm nicht töbten, jondern nähren und 
laben, bey denen er die einfachfte kindliche Arbeit und den füßeften 
Lohn finde. So giebt er ihm eine Gattin, die fein Herz auf- 
ichließt, und ihm eine neue Welt gejelliger Freuden, ein Band der? 
Liebe zeigt, die (mie er an Thieren bemerft hatte, und jest felbft 
empfand,) über jede andre Xiche gehet. So giebt Gott ihm end- 
ich au das kindlichſte Verbot, das feyn fonnte, einen ſchönen 
Baun nicht zu berühren, und ftellt ihm einen beſſern, gefundern, 20 
vielleicht nicht jo anfchnlichen entgegen; Ipricht ihm Drohungen vor, 
die der zu prüfende vielleicht fo wenig begriff, al3 die Kinder un- 
gefühlte Drohungen begreifen; fein Gehorſam, feine Enthaltfantkeit, 
die Stärke des Unfichtbaren in feiner Seele über die verführendfte 
Sichtbarkeit eines verbotenen * Gewächſes, follte und mußte geprüft, 
- di. geübt werden, wenn das menjchliche Geſchlecht phyfiih und 


1) Veichtefte, dringendfte 
2) Kunfttriebe, ihrem auf fie geprägten 3) von 
4) eines als ſchädlich verbotnen 


— 19 — 


moraliſch je beſtehen und fortvauren follte.e Einem ſchwachen und 
doch moralifhen Geſchöpf kann nicht alles erlaubt ſeyn; einem 
Kinde! nicht alles erlaubt werden. Bon der Stärke über fi 
ſelbſt, fi etwas, auch ein reizendes Schäbliche zu verjagen, fängt 
alle Tugend des Menſchen, (die er in verflochtnern Umftänden 
gewiß nöthig hatte,) jo mie von der Bezähmung feiner Sinne 
unter das Gebot des Vaters, alle Neligion der Liebe, Dankbar- 
feit und Ehrfurdt an. Unter allen Dingen in der Welt kann id) 
mir feine Probe denken, die alfo nöthiger und dem Kindheitſtande 
des Menſchen angemefjener geweien wäre, als diefe: fie war Natur 
der Sade felbft, denn konnte der Menih giftige Früchte des 
Leibes ? und der Seele nah Belieben efien, und doch leben? und 
21 wer mußte ihm dieſes jagen? wer fonnte es ihm fo ernftlih und 
fräftig fagen,? als fein erziehender Vater? Nun wird ein Kind 
immer durch Schaden am beften flug, und eine Mutter läßt den 
zarten Liebling auf einer fanften Stelle fallen, um ihn, was? 
Fallen fey? auf die befte Art zu lehren; jo machte es die liebreiche 
Mutter der Menſchen, und erfahe dazu auch jeden Umſtand. 
Eine Schlange mußte die Verführerin feyn, die wahrfcheinlich 
von der Frucht naſchte, und dem Weibe zuerft die groſſe Möglich— 
feit zeigte, daß man davon eſſen könne, ohne fogleich des Todes 
zu fterben. Da die Menfchen alles von Thieren lernten und 
abjahen; warum follten fie auch dies nicht lernen und nachahmen? 
Die Schlange, dachten fie, ift jo Flug vor allen Thieren; vielleicht 
wird fies eben daher? vielleicht Eoftet fie von diefem Gewächs ihre 
Meisheit, wie wir von allen® andern Bäumen, Leben, Kräfte, 
Gefundheit eſſen. Dazu nannte ihn der Schöpfer fo fonderbar: 


1) ſchwachen Geſchöpf Tann mwarlich nicht .... einem Kinde gewiß 
2) Früchte Leibes 
3) unb wer mußte ihm gerabe diefes fagen, ernſtlich, thätig fagen, 
4) Liebling, nur auf fanfter Stelle, fallen, um ihm, was 
5) vielleicht nafcht fie von dem Gewächs ..... wie wir von biefem 
und allen 
2* 





—— —— 


— DD — 


Baum der Erkenntniß. Der Erkenntniß? und verbot ihn ung 7 
follte er ihm nicht etwa für ſich behalten? follte er nicht unfihtbn, 
davon geniefien und deshalb die Weisheit der Elohim haben ,, 
Berbot er ihn etwa aus Mißgunſt? Die kluge Schlange ißt un, 
bleibt gefunb: er reizt: ex lot; herab ſank bie ſchöne Jeubeftug, 
dem Lüfternben Munde entgegen: das Weib af, ber Mann ab un, 
es folgte, mas natürlich folgen mußte. Wir wiſſen nicht, mag & AN 
für eine Frucht geweien; die Wirkung derſelben wird und Ober, 
aber fo hiftorifch befchriehen, ala der Genuß je einer undelan, 
Frucht eines fremden Landes. Sie regt Lüfte auf, fie ſehn A 
nadt; bie fonderbare, unangenehme Regung erinnert fie a 
Verbot, fie ftehn befhämt Da, fie willen nicht, mas zu thu 

fie machen ſich kindiſche Decken. Der Vater fommt, ſeine 

tönt (vielleicht wie gewöhnlich, zum Schluß des Tages ſich \\ 
ſchaft von ihrer Arbeit geben zu laſſen, und fie dadurch 
mweifen); aber diesmal eilen fie ihm nicht entgegen, fie 


verftedden fi, antworten, entſchuldigen ſich, als —X M 
noch nicht lügen gelernet. Der Bater, (über "\ \ 
ie 





an ſchöner Wahrheit der Erzählung nidtz ! gehet, ) 
zu thun hat, wozu er auch dieſen frühen 

ihnen ihr Verjehen zur Pforte eines Ar 

doch auch nöthigen Zuftanbes, ihre 24% 
fie zu ſchrecken gebrohet hatte, fonden a „\ R 
berbere Wohlthat. Nachſehend gen" pP 1? j R 
nimmt, ihren Worten nah, die N N —S— os 
beftraft fie auch, damit ja nichtz u , 

flucht und geſcheuet von allem Ku‘ N N N Run Ri, 
dem Bauch, ißt Erde, eine geſchwo fr hl. k En 
Ferſen fie nachftellt, wenn fie — X 8 "op Urg 8 


den Menſchen alſo ein ewiges Denk, * Sn . An; 
der Berabfheuung, des Elends, a N X x iſt * 24 
top U er 





ihrer Geftalt nad) ein \geußlig,, IN IN N zur 
un U" Ve 
1) Wahrheit nichts 9) | bu, Ten 
(onen, 8 Sn, * 


ta R Oy AR 
n 7 ’ 


en 





wurm.! Als folder kroch fie nun den Menfchen vor Augen; wie 
vor der Schlange hüteten fie fih vor der Sünde, und auch leiblic 
ward das ſchädlichſte Thier der jugendlichen Hütte der Menfchheit, 
ihnen als eine liftige ihnen zu fliehende Yeindin gewieſen. Das 
Weib weiß jet, wen fie die Schmerzen ihrer Geburt, und die 
ſchwerſte Bürde der MWerblichkeit,? den Gehorfam unter den Mann 
zuzufchreiben; der Mann meiß, wen er den bejchwerlichen Aderbau 
und jeine größere Mühe des Xebens zu verdanken habe. Selbſt der 
Tod wird fo ſchön eingeleitet; nicht al8 Tod, von dem Adam 
noch nichts denfen konnte, fondern ala ein zur Erde werden, 
von der er (abemtals Hiftoriih) genommen ift, alſo ein Rüd- 
24 gang in feinen Urfprung, dag zur Ruhe gehen, nad, einem heiſſen 
Tage. Der Menſch kennt aljo‘ den ganzen Girfel feines neuen 
Lebens, und ift auf ihn als auf eine gemilberte Strafe, durch 
eigne Schuld, durchs liebe Muß gewapnet. Der liebreiche Bater 
bereitet ihn dazu noch mehr, und ftattet ihn gleichſam aus Durch 
die Mitgabe der ihm fo nothwendigen Erfindung eines tüd- 
tigern Gemwandes, als feine Feigenblätter waren.“ Hiedurch, da 
die Schlange feine Feindin und einmal Tod in der Natur ift, 
befommt er zugleich eine® Macht und Geſchicklichkeit über das Leben 
der Thiere, die ihm zu feinem neuen Aufenthalt und Werk fo 
nöthig war, als zu feiner Kleidung; er verläßt wirklich und hiſto⸗ 
riſch feinen geliebten Garten, die erfte Pflanzichule feiner jugend- 


1) Schadens. Sie Bat ihnen auch jetzt jo empfindlich geſchadet; und 
darum ließ Gott eben zur Gelegenheit der Siinde ein fo niebriges, dem 
Menfchen bisher nur durch feine Klugheit, künftig durch feine Arglift, feine 
Stiche und Beratung bekanntes Gefchöpf, einen fheußlichen zum Zertreten 
gemachten Erdwurm zu. | 

2) Sünde, und aud fie felbft, (das ſchädlichſte Thier dev jugendlichen 
Hütte der Menſchheit,) warb nun körperlich ihre zu fliehende Feindin. 

3) Weibheit 4) nun 

5) Der Bater wapnet ibn noch mehr, .... Ditgabe einer Erfindung 
tüchtigern Gewandes. („ald — waren.” fehlt.) 

b) er eine 











— 2 — 


lichen Kenntnifſe, Pflichten und Reigungen. Dieſer wird ihm j,, 
ein! ſchöner Jugendtraum: denn ſiehe! vor feiner Thür wacht —8 
Cherub mit der Zlamme des Schwerdis, zu bewahren den Weg |, ‘r 
Baum der Gejunbheit, der ihnen gewiß der ſchmerzhafteſte, GröRe;, 
Verluft war, ein Verluft, an den? fie jede Krankheit ihrer Ringe ® 
jede Mattigleit ihrer ‚felbft, oft gnug erinnerte. Sic fahen jept Kr 
Paradies in feiner jerne, vermuthli hinter einem Gebürge * 
Donnerwollen bededt: dahin iſt lein Nüdweg, da blift in je, U 
Blig die Flamme des Wachters — — Wie natürlich alles, 
wahr, wie anfhaulih!® und jagen Sie, mein Freund, wirds u " 
Alles nur dadurch, daß man Zug für Zug am Bilde einer Eile, 
ten Kindesgeſchichte“‘ des menſchlichen Geſchlechts bier * 
Alles ruft ſodann Wahrheit! Wahrheit! fo hat das menig, \ 
Geſchlecht werden, fo erzogen, fo geprüft, fo fortgeleitet \ 
müffen, nur alfo fams aud auf feine rauheren Pfade N 
natürlichfte, Iehrendfte Diethode.° Meiſterſtüc der Erziehung J 
ben im erſten, verflochtenſten Schritte iſt dieſe Geſchi ꝛ 
Meiſterſtück einer Erzählung, nach den Farben ber \ 

heit und Zeit iſt dieſe Erzählung. Zug für Zug I 


\ 
die 
der Geſchichte der Voller, der Menſchen in ihrer Ku 4 
und 


werben, und wie einzelne Völter und Menſchen in iÄ\\\ 
anfangen, fieng gewiß aud) das menſchliche Geſchlecht «| \ \ \\ N. 
und Aufenthalt, erſie Sprahe und Nahrung, \ \ 

\ 


Lernen von den Thieren, das eingebildete SP! 4 
Sünde und Schaam, das Verbot und die S; \ \N A 
a 
% 












vorgetragen, gebunden und eingeleitet, find die 
erzählung über die erfte und ſchwerſte — iR 
Geſchlechts, die völig im Ton der Bar \ 
in® ber eignen Farbe ihres Vorgangs, mit N 





M ihm ein 2) groͤheſte Bert S 
Dt — —— Yin, 
5) feine rauheſten Plate .... AN J te 
6) vorgetragen, und gebunden . BIS erg 
— 
an, 


über die ſchwerſte .... era lot ee 





— 3 — 


die dabey erſcheinen, jener voranſteht. Als künſtlich erfundner 
moraliſcher Apologus hat das Ding weder Rahmen, noch Geſichts⸗ 
punkt, noch Zweck und Maas mehr, auf feiner Stelle: denn 
für uns im adtzehenden Jahrhundert wards zunächſt wohl nicht 
geſchrieben. Wir müſſen alfo in feinen Zufammenhang, in die 
Kindheit unfers Geſchlechts gehen, und nit! warten, daß es zu 
um kommt. — — 

Meine erſte Probe ift übermäßig lang geworben; ih Tann 
aber nicht umhin, noch eine zweyte zu geben, die feine andre jey 
ala — die Geſchichte Bileams und feines Eſels.“) Zwi— 
ſchen lauter Geſchichte fteht fie: das ift unläugbar; man hat ſich 
ihrer aber, als einer Gedichte, fo geſchämet, daß man fic bald 
zum Traum, bald zur Fabel im Geſchmack der homeriſchen reden⸗ 
den Pferde, letztlich (ich nenne den Verfafjer diefer Meynung übri- 
gend mit größefter Hodadtung) zu einer Betrugsgeſchichte Bileams, 
die Mofes bey den Moabitern gefunden und als folde einrüdte, 
zu maden geneigt war. Leſen Sie, mein Freund, die Gedichte 

27 im Zufammenhange und urtheilen Sie, ob Jhnen Eine dieſer 
Hypothefen, (offenbar aus neuern Zeiten, nad einem neuern 
Geſchmack erfonnen,) gnug thut? Vom Traume fteht fein Wort 
bier; die homeriſche Fabel paßt auch nicht: denn hier ift fein Hel- 
dengefang, wie bey Homer und auf fo etwas find wir hier nicht 
bereitet. Als Betrügerey rüdt Mofes das Stück nod weniger 
ein:? im Ton der Erzählung klingts fo treu, als feine Geſchichte 


*) 4 Mof. 2—24. 


1) müffen in .... geben, nicht 

2) Bom Traume fteht kein Wort; man muß ihn erft Bineinträumen. 
Die homerifche Fabel ift weder lang noch breit gnug, den Mann und ben 
Eſel zu bebeden: denn hier iſt kein Gedicht, fein Heldengefang, wie bey 
Homer, wo ber Zorn des Helben ven Roffen gleichfam den Mund aufreift 
und fie zu feiner Tobesweiffagung zwinget. Auf fo etwas find wir hier 
nicht bereitet; da bey Homer das Schnauben und die Stimme des Todes 
boten niemand irren kann. Als Betrügerey rüdt Moſes das Std (lefen 
Sie den Zufammenhang) nod weniger ein: 


— 24 — 


des Ausgangs oder als die Erzählung von Berg und Wundern; ja 
offenbar giebt Moſes es, Iſrael zum Lobe, zur Beſtätigung 
ſeines Muths und Glaubens an Jehovah. Selbſt ein 
vom Feinde gedungener Prophet muß auf Gottes unwiderſtehlichen 
Antrieb wider Lohn und Willen ſegnen; mehr als Einmal, im 
Angeſicht des Königs, mit eigner Gefahr des Lebens, geſchweige 
mit Verluſt aller Ehren und Gaben ſegnen und den Gott Jehovah 
preiſen — offenbar iſt dieſes der Geiſt der Geſchichte, und 
die Abſicht, zu der fie auf dieſer Stelle ſtehet. Sie wiſſen, m. Fr, 
wie viel die ältefte Welt von Fluch und Segen, von Bezauberung 
mit Ahndungen, Bliden und Worten hielt, und alle Böller in 
diefen alten Zuftande noch Halten. Keiner von unfern Königen 
würde einen Bileam rufen; daß jener aber ihn rief, daß er ihn fo 
cehrend und immer dringender um Fluch bat, daß er feinem! 
Segen erfchredend fo viel zutraute und doch nicht die Hand an ihn 28 
zu legen wagte, zeigt gnugfam, in weldem Anfehn der Prophet 
und fein Handwerk bey den Moabitern geweſen. Moſes verbot ſei⸗ 
nem Volk da8 Zaubern, das Beihmören; er verbots aber nicht, als 
talte, kahle Betrügerey, fondern als einen Dienft frember Götter, 
als eine Anwendung verbotner böfer Kräfte, über die Gott Jeho— 
vah Macht habe, und die ihn entweihten. Genau in dem Gefidhts- 
punkte giebt er auch diefe Gefchichte. Bileam ift zum Verfluchen gela- 
den; aber der Gott Iſraels kommt feinem Fluche durch ein hartes nächt⸗ 
liches Gebot zuvor. Der Wahrfager, vom Schreden Gottes cergrif- 
fen, ſchlägt die Reife ab; berrlichere Boten und Geſchenke Tommen, 
ihn mitzunehmen; fein Herz gelüftet, — aber das Interdikt liegt 
no auf ihm, er bezeugt, daß er Died Band im mindeften nicht 
breden könne. Der Gott Jehovah fiehet fein lohnlüfternes Her;, 
und will ihn beym Wort halten; es foll vor Balaf und allen 
Moabitern gezeigt werden: „fein Wort des Fluchs käme auch von 
„der Zunge des gierigften Lohnpropheten hervor, wo Gott ihm 


1) rief, fo ebrenvoll und drey mal immer dringender ihn um Fluch 
bat, feinem 





29 


— 25 — 


Bann auflege:“ er erlaubt ihm alſo die Reiſe, ſie ziehen. Nun 
wendet ſich das Herz des Propheten (denn Balak Fluch zu bringen, 
zog Er doch eigentlich nicht hin: die Reiſe war ungereimt und 
gefährlich, wenn er ſich dies! treu und deutlich gedacht hätte) er 
denkt alfo Gott zu entwifchen, Gott zu betrügen, etwa eine Gelegen- 
beit zu finden, wie er mit einem berausgeftoßenen böfen Wort 
(dem man immer noch Wirkung zutraute) Balaks Willen doc 
erfüllte. Und da ergrimmt Gott fiber den Biehenden, fein Engel 
tritt ihn in den Weg, ihn, der die? Stimme Gottes im Träumen 
verachtete, jebt härter zu warnen. Das ſtumme dienſtbare Thier 
muß das Geſicht ſehen, und will nicht fort; ſchon diefes war (nad) 
der angenommenen Denkart der Zeit, zumal nad dem, was vor» 
ausgegangen war, und in der Geele eines Schamanen) eine 
unglüdlide VBorbedeutung, „ihm fey das Neich der Geifter, 
„ver Gott Jehovah, der ihm? in zween Träumen erfchienen mar, 
„zuwider. Cr veradtet die VBorbedeutung, ſchlägt fein Thier 
und zieht weiter. Das Geficht jperret ihm einen engern Pfad: er 
wird gepreßt — achtets noch nicht, ſchlägt und zieht weiter. Seht 
fommt er in die* Enge, da kein Ausweg ift: der Bote Jehovahs 
erfcheint am furchtbarften; die Eſelin fällt aufs Knie: er ergrimmt, 
er wütet und nun ſpricht fie. Site fpricht im Ohr des Schamanen 
wirflih:5 denn in eben dem Ton, in dem Alles erzählt wirb, wird 


30 auch dies erzählt: in eben der Maafje, wie es heißt, daß Gott 


Bileam die Augen öffnete, heißts bier, daß er der Efelin den 
Mund geöffnet habe. Dem verwilderten, zornigen Propheten 
gehn noch nicht die Augen auf: was das Geficht jagen wolle; und 
da öffnet ihm Jehovah die Augen. Er fieht den Boten Gottes mit 


1) dies win, 2) die janfte 3) ihm, gewiß zum erftenmal, 

4) die größefte 5) fpricht wirklich: 

6) gedfnet. Bon einer Dichtung in erhabnen Worten ift bier im 
engen Paß ber Erzählung gar nicht die Rebe, und es wird fich gleich ent- 
wideln, warım Gott ven Schaman (erlauben Sie mir die ausdrückende 
Achnlichkeit) auf eine fo unerhörte Weife, dur den Mund feines Thiers 
anſprach. 


— KH — 


dem furdtbaren, bloßen Schwerbt, der mit ihm zankt, der ihm 
vom Erwürgen ſpricht, der feinen Weg verfehrt, d. i. hinter- 
liſtig, faljch, verwegen nennet, und ihm! nochmals auf eine fürd- 
terlihe Art gebietet, nichts zu reden, als mas ihm der unmittel- 
bare Trieb (og, exsaoıs, impetus Jehove) jagen würde. Go 
gewarnt zieht er fort und kann nun, Troß feiner Lohngier, nicht 
anders. Ale Altäre, alle Opfer auf den Höhen helfen nicht: bier 
hilft fein Gott der Höhen; Jehovah begegnet ihm, er kann nit 
fluden, er muß fegnen. Zweymal thut ers unwillig, zum britten- 
mal, da er göttliche Uebermacht fühlt, thut ers willig, ja legt nod 
einen vierten höhern Segen über alle vorigen, er fegnet bis in 
die Späteften Zeiten. Niemand, der feine Ausiprüche lieſet, 
wird den Enthufiasmus, die höchſte, gleichſam unmittelbare Begei- 
fterung verkennen, die in einer menjchlihen Rebe ftatt bat; und‘ 
fie erjchallet und fliegt auf aus eines Unmilligen Munde, N 
gedungen ift, und immer neu gedungen wird, zu fluden, \, 
er fegnet. Sie erfchallet aus dem Munde Eines, der Gott AN, 
wollte, der mit verfehrtem Wege dahin kam, die Gefichte den 


R: 
vergaß, und auf alle Ahndungen des Weges nicht merkt \ en ir 
zwiefaches Wundergeſicht mußte ihn ſchauderhaft fchreden, \ R 
Geſicht war gleichſam ſeine eigne Geſchichte. 6 
dem ſtummen Thier den Mund öfnet, ſo —8 nd N 
jest wider Willen und Wohlgefallen reden- eg >» 
mit dem bloßen Schwerdt auf der Enge beä I \ au Gott 
gleichſam noch immer vor ihm. Wer ſich in \, er w Er 
damaligen Zeit, zumal in? die Seele eines morg J egeg ger 
manen, die immer voll Gefichte, voll Träume, — 


in andere Derter und Zeiten waren, und 6 207 "big, der 
fie finb, noch jet ſind wer fih in bife hu 8 de Dart, I 
— ö 


1) verwegen, und dies als Urſache ſeiner 
2) den göttlichen Enthuſiasmus Um: Min 
ftatt bat; wenigſtens ich kenne nichts über —8 nenn 
t r 


3) Zeit, i ne. 
) Zeit, in Unp —RXR ihm 
9.... 


— Te O KR RR — —— O — ———— ERREGER 


— 17 — 


EN ſehr an jeinem Ort, die ganze Gefchichte in der natürlichiten 

Sradation, die Behandlung Gottes der Denfart Bileams fo 
angemejfen, und aud die Sprade des Thiers im Ohr des 
Weiſſagers dem Zwed feiner Götterfprucdreife fo zutref- 
fend! finden, daß ich in dieſer ganzen Geſchichte, auch von 

32 Seite des natürlihen Ausdruds, kein Wort zu ändern wüßte, fo 
wenig als an ben hohen Sprüden aus Bileams Munde. Und 
deshalb rüdt fie auch Moſes als den höchiten Kranz ifraelitiicher 
Siegsgewißheit ein; ein Kranz, den ihm ein abgöttifcher Schaden- 
bereiter, ein argliftiger Lohnprophet, unter dem unmittelbaren 
Zwange? Jehovahs, als ein rvedendes Thier felbft zollen 
mußte. Denten Sie fi eine Situation, wie Iſrael ſchöner und 
gewaltiger gefegnet werden Tonnte? Machen Sie aber die Sade 
zur Sabel, oder gar zur Betrugsgeichichte; fo gebe ich zu, daß dieſe 
Farbe dem Geift unfrer® Zeiten angemeßner jeyn, und ihn eher 
jo, fo, befriedigen möge; die Geſchichte ift aber zerrifien, Moſes 
Ziel und Bogen ift zerbrochen, die unwiderſtehlichſte Begeifterung 
it einc* Talte Betrügerey worden, dem Geift der Zeit, dem Glauben 
bes Volks und der Erzählung Moſes jelbft zuwider.“ Ich würde 
nicht fertig, wenn ich die unächten Farben durchgehn wollte, die 
man aus neuern Zeiten, injonderheit aus Dichtern den guten, 
alten Ebräern bie und da aufträgt; doch mein Brief ift ja fchon 
eine Abhandlung worden. — — 





1) Ort, in ber .... Gottes zu Bileams Seele diefer fo ange- 
mejfen, auh die Sprache bes Thiers dem Zwed .... fo treffend 

2) Schabenbereiter, argliftiger Lohnprophet, unter gröffeftem, unmit- 
telbarften Zwange 

3) zur kahlen Betrugsgefchichte; fo gebe ich zu, daß diefe neue Farbe 
dem Bon ⸗ſens unfrer 

4) Begeifterung ein Lobnerercitium ober eine 

5) Moſes zuwider. 


— 28 — 


Dritter Brief. 


Sie haben mich über Lowth mißverſtanden. Ich liebe und 
ſchütze ſein Buch *) als angenehm und nützlich, bin auch gar nicht 
auf der Seite derer, die in ihren Glaſſius alles zu finden 
glauben, was in ihm fteht. So allgemein und zierlich bat Glaſſius 
die Sache nicht angefehen: die Vorlefungen über den parabolijchen 
Styl der Hebräer, über die ihnen eignen Metaphern, Bilder und 
Allegorien, noch mehr die Daritellungen einzelner Stüde und was 
barüber gefagt wird, find Ihön; in dem ſchönen Latein werben fie 
noch armehmlicher, und mit den Anmerkungen Michaelis, die oft 
den Tert übertreffen, und Eine feiner beften Arbeiten find, mirb 
das Buch eine gute Einleitung von fern in die poetifchen Schriften 
des alten Bundes. Ach wünſche, daß Sie es bald leſen, lieb- 
gewinnen, und mit ihm noch ein paar andre Bücher**) verbinden 
mögen, die ich für eben fo nüßlih zu dieſem Studium halte. 
Ueberhaupt wünschte ih nicht, daß Sie mid in meinen Meynungen 
über Bücher oder ihre Verfaffer! für einen Zeitungsrichter halten. 
Ich ſchreibe Briefe an Sie und fein Journal; ih bin fein wohl- 
beftallter Afterredner hinter Werfen um die Gebühr, nach gegebneit 
Geſichtspunkten und Affeftionen, fondern ein älterer Freund, ber 
aus der lieben Wallfahrt feiner Lektüre, feines Studiums, Amts 
und Lebens Ihnen feine Erfahrungen und Meynungen fagt,? wie 


*) de sacra pvesi Hebr®or. Göttingen 1768. 2 Vol. 8. 

**) Wilhelm SIones Commentar. poeseos Asiat. edit. Eichhorn, 
Lips. 1777. groß 8. Und John Richardſons Abhandl. ilber Sprache, 
Literatur und Gebräuche morgenländifcher Völter. Leipzig, 1779. 8 Will 
jemand meine Schrift vom Geift der Ebräifhen Poeſie Deflau, 
1783. 84. binzufügen; fo babe ich nicht® bagegen.! 


1) oder Berfafier 2) Ihnen Erfahrungen, Meynungen, Urtheile jagt, 


1) 1779. 8. Man erwartet vom Heransgeber und Borredner biefer beyden Schriften 
eine Einleitung ins 9. T., die gewiß nützlich und ihres Verfafſers werth ſeyn wird. 
(„Bil — dagegen.” fehlt, wie felbftverftänblih alle Berweijungen auf den Geiſt ber 
Ebr. Boefie.) 


33 








— 29 — 


er ſie ſich ſelbſt ſagt, und übrigens ſie Ihrer Prüfung und 
Annahme überläſſet. Was hilfts, Bücher zu nennen, oder gar 
große Verzeichniſſe davon zu geben, ohne einen treuen! Wink und 
Wegweiſer, wie ſolche zu leſen, zu brauchen, zu nutzen ſeyn mögen? 
Selten iſt in einem Buch Alles gut, wenigſtens ſelten gut für alle 
und jede. Die Zeiten ändern ſich, und ändern mancherley in den 
Büchern; zur ſchönſten Bibliothek gehört alſo ein? Ausleger, und 

5 das beſte Geſchenk, das einem jungen Menſchen werben kann, find 
nicht Bücher, fondern Rath, wie er.die Bücher hraude. - - .. 

Was ih an Lowth eigentlih nur als einen Rand. wies, 

den Ste nicht überftürzen müßten, war die etwas zu Tünftliche,® 
neue Art, mit der er alte ebräifche Poefte, theils allgemein, theils 
in einzelnen Slaflen und Stüden behandelt, oder vielmehr, in der 
einige feiner Nachfolger feine Meynung weit übertrieben haben. 
Nah der Behandlung dieſer letztern hat? David diefen Pſalm als 
Idylle beynah zum Zeitvertreib, jene Elegie zur füßen Jugend⸗ 
übung, der Eine Prophet feine ftärkften Anmahnungen, Flüche und 
Troftreden ale Proben ebräifcher Lebrftüde verfaflet, und mit 
Behaglichkeit Hingegeben; ich Tann nicht jagen, wie jehr dieſer Geift, 
die Bibel anzufehen, dem Gebrauch derjelben ſchadet. Es ift üble 
Verdauung in den erften Wegen, aus der in allen übrigen Gefäßen 
nichts Gutes kommen kann: es ift erfter, faljcher Geſichtspunkt, 
der alle folgende verbirbt und verwirret. Poeſie, wie fie in ber 
Bibel ift, ift nicht zum Spaß, nicht zur’ entbehrlichen, müßigen 
Gemüthsergögung, noch weniger zu dem fchändlichen Schlendrian 
erfunden, dazu wir fie jeht zum Theil anwenden; faſt follte nicht 

36 Einerley Name fo verſchiedne Gattungen und Werke bezeichnen. 
Der poetifche Ausdrud, die Art der Vorftellung und Wirkung war 
damals überall Natur; Erforderniß der Sprade und des 
Gemüths deſſen, der Sprach, fo wic des Ohrss und Gemüthre 

1) obne treuen 2) gehört ein 3) fünftliche, abgetheilte, 

4) dieſer bat 5) Spaß, zur 

6) der Sprade, de Gemüths deſſen, der ſprach, des Ohrs 


8 
So 





— 2 — 


derer, die hörten, Bebürfniß der Sache, ber Zeit, des 
Zweds, der Umftände. Dies fage id nicht, weil ih von ber 
Bibel, fondern weil id von Kindheit und Jugend der Belt, 
von Drient, von diefer Sprade, von biefem! Bolt und feinen 
Büchern rede. Hier wäre uns ein neuer Lowth zu münchen, der 
das Fachwerk der Poefie fpäterer Zeiten gleichſam nicht lennte, die 
Sammlung diefer Schriften von Anfang an "durchginge und in 
jever, in jedem Inhalt berjelben ihren fimpelften Zwed un 
Kreis des Werdens zeigte. - Vieleicht wirbs Ihnen nicht unnig, 
tommen fegn, wenn id) einige been hierüber, ſofern fir „ 
Brief faſſen fan, hinwerfe. Sie befräftigen meinen —* 
ſatz: „man müſſe die Bibel menſchlich leſen;“ und mich N 
die große Verſchiedenheit der bibliſchen Bücher ftökt —8 

auf den Weg, fie zu finden. Zwey und zwanzig ober 24 AN 

die theils bie Geſchichte von 3500 Jahren begreifen, theil 

Verfaſſern nad) ein ganz Jahrtaufend von einander einhen 


Urheber? wir theils gar nicht Tennen, theils —— an 
men, ala Bücher da find — eine folge Ermbte 1 
Schriften, Inhalt und Verfaſſern läßt fih doch 
Strohhalm binden, daß man fie, etwa weil eg 


in der Dämmerung, im Traum, in Einem 
fortlefe — — Axn af = % 

Ich fange von feinem begeiſternden Ay, ei 
zu Ihnen fol mich begeiftern, und m m AN —* 
dieſe Blätter zu einer Muſe, bie Sm, —8 m a 
älteften und ehrwürdigſten Sf 
fteht, und einige vertrauliche ® Lehre * u N Yon & 

Aus den Händen der Ebräcr Ri Im Ri "6 ( 
kung von Büchern befommen, und mig aaaten Ba | 
aud in Eintheilung derfelben — mn in 
— — 

1 von Bibel, fordern... . Sp, % %,, San, 

3) Sen ihrem fillen Xejen ber ätn, J “der, N 
und vertraufiche Rn, iy, j ig 

v; / 





— 31 — 


Graden und Unterſchieden der Inſpiration rede, um die wir uns 
jetzt noch nicht bekümmern; ſondern weil ihre Eintheilung in 
Geſetz, Propheten und heilige Schriften Winke giebt, theils 
wie und wenn dieſe Bücher verfaßt ſind? theils wofür ſie bey dem 
Volk, dem ſie anvertrauet waren, zuerſt gegolten? Das Geſetz 
338 Moſis war der Stamm ihrer Geſetzgebung und Religion; 
dies und die ältefte Gefchichte ihres Volks war in feinen Büchern 
enthalten. Die frühern! Propheten, (die Bücher von Joſua 
bi8 zu den Königen) find eine Fortſetzung dieſer Gefchichte und 
beißen alfo, meil (und ohne Zweifel mit Grund und Recht) 
geglaubt ward, daß Propheten diefe Geſchichte gefammlet und der 
Geſchichte Mofes tachgeoronet haben. Die jpätern Propheten 
find die, die wir Propheten nennen, Daniel ausgenommen. Sie 
galten ala Erklärer des Willens Gottes, als Anwender des 
Geſetzes Moſes auf einzelne Fälle des Staats, auf Zei- 
ten und Situationen. Abermals mit Net, denn in dieſem 
Sinn, der die eigentliche Prophezeyung nicht immer nöthig machte, 
gehört Daniel nicht unter fie, ob er glei in dem Perftande, wie 
wir das Wort Prophet nehmen, es im vorzüglichen Grad’ ift, bey- 
nah ganz und gar ein Seher der Zufunft.? Jene Propheten ftan- 
den unter dem Gefet Mofes, fie waren ? gleichjam der Mund 
deffelben für diefe Stelle und Zeitverbindung, fie fonnten 
und mußten nad demfelben geprüft werben, und waren mehr 
oder minder Demagogen im Staat, mit beflen Umftänden fie auch 
genau zufammen gehören. Kurz, fie find gleichjam der ſprechende, 
39 athmende Geift der vorhergehenden Geſchichte. — Alle 
Bücher endlich, die in diefe zwo Claſſen nicht gehörten, oder die 
flein, fpäter befannt oder jpäter gefchrieben maren, wurden als 
Beylagen und zum Theil ald Beurfundung und Fortjegung 
der vorigen Geſchichte unter dem Namen heiliger Scrif- 
ten, binzugethan, und man fiehet in ihnen zum Theil die Sorg- 


— — — — 


1) erſtern 2) Grad, beynah ganz und gar Seher der Zukunft if. 
3) Mofes, waren 


nn m — e — — — —ñ 








— 82 — 


falt,‘ nichts untergehn zu laſſen. In dieſen Geſichtspunct müſſen 
wir treten, wenn wir den Unterſchied, oder die Ordnung der 
Bücher an Stelle und Ort betrachten wollen — — 

Die Bücher Moſes fangen von alten Erzählungen an, bey 
denen es der Inhalt und Ton, die Farbe ihrer Erzählung, ihr 
Abgebrochenes, ihr Wechſelndes, ſelbſt mit dem göttlichen Namen, ? 
kurz, ihre ganze fragmentariihe Zulammenordnung zeigt, 
daß Mojes fie nicht erfonnen, ober dur Gabriel aus den Wol⸗ 
fen empfangen, fondern dab er aus? ältern Traditionen ober 
Urkunden geihöpft, und mit einer Genauigfeit zuſammengeordnet 
babe, die dem älteften Gefchichtichreiber menſchlicher Dinge fo wohl 
anſteht. Die erften 11. Kapitel find offenbar einzelne Stüde, 
zum Theil Fragmente; auch im Ton, wie im Inhalt (jelbft 4 
dem Namen der Gottheit) unterichieden, und in jedem genau 


der Farbe jeder Begebenheit und Zeit folgend. Bon 40 


nun an, (Kap. 12.) ſcheint zwar die Geſchichte der Väter zuſam⸗ 
menbängender zu werben; die Zufammenfügung und Einſchal⸗ 
tung bleibt aber noch fichtbar, wie infonderheit K. 14. 25. 
36. 38. und am beutlichften zulest der Segen „Jacobs 
zeigt. Warum ift diefer vom Segen Mofes an die zwölf 
Geſchlechte (5. Mof. 33.) fo verfchieden, da der erfte dem legten ® 
doch offenbar vorſchwebet? Eben weil jener ein durch die Tra⸗ 
dition berabgefommenes Heiliges Nationalftüd war, das jept die Zeit 
und der Zuftand Sfraels im Munde Mojes natürlich ändern mußte, 
aber durchaus nicht weglafien, ſondern vielmehr beftätigen wollte. 

Fragen Sie mid nicht, von wem jedes dieſer älteften Stüde 
jey? feit wenn und wie es fidh herabgeerbet Habe?? Die Unter- 


1) belannt und gefchrieben waren, wurden als Beylagen und zum 
Theil Beurkundung und Fortfegung voriger Geſchichte .... 
fiebet in ihnen die Sorgfalt, 

2) Sarbe der Erzählung, .... ihr felbft mit ...... Namen Wechielndes 

3) fondern aus 4) (und felöft . .) 5) da jener dieſem 

6) natürlich ändern, aber eben nicht weglaflen mußte. 

7) wie fie fih berabgeerbet ? 


— 3 — 


judung hierüber, wenn fie fi au über Muthmaßungen erhübe, 
dürfte Taum ein Brief faflen, und zum Berftande und rechten 
Gefühl diefer Stüde ift Ihnen gnug, daß Sie fie als das betradh- 
ten, was ſie offenbar find, als Stimme der Väter aus den 
älteften Zeiten, wie (in ſchlechten Aehnlichkeiten) zwar alle alte 
Nationen baben, feine der bisher entdedten aber etwas hat, das 
auch nur von Seite der Simplicität, Genauigkeit und philofo- 
41 phiſchen Wahrheit mit diefen, wie ſchmal und Echomäßig fie find, 
im, mindeften zu vergleihen wäre. Das Bild der Schöpfung 
fängt an, (Kap. ı. bis K. 2, 3.) ein der Kindheit des Menſchen— 
geſchlechts und gleihlam feinem erſten Erwaden in die Welt 
Gottes, dazu feinen früheſten Bedürfniffen über Ordnung, 
Eintheilung der Zeit, Arbeit und Ruhe, über die ebelften ! 
und zugleich fimpelften Begriffe und Pflichten feiner Erd- 
beitimmung jo angemeßnes, mohlgeordnetes, unzertrennliches 
Ganze, daß ich mir über diefen „Schild des Achilles voll leben⸗ 
diger Schöpfung” beynah nichts zu denfen vermag an Urfprüng- 
lichfeit und Einfalt. Daß es ein Lied fey, höre ich nicht; daß 
e8 aber feine feientififhe Kosmogonie, fondern ein natürlicher ? 
erfter Anblid des Weltalls ſey — vielleiht wird man dies jet | 
dem beredten und angefehenen Verfafler ver Betrachtungen über | 
die vornehmften Wahrheiten der Neligion*) glauben, da 
mans einem ältern Schriftfteller nicht hat glauben wollen. Daß 
Moſes dies Stück aus ägyptifchen been gezogen, wie der erft 
erwähnte Verf. der Betrachtungen meynet,**) will mir nicht zu 
42 Sinne: die Ideen und Worte, die ägyptiſch jcheinen, find mehrern 
Nationen gemein, und fcheinen vielleicht gar Urideen, Ur— 
worte zu feyn, die bey mehreren Völkern aus einer Quelle 
floffen. Was follte ein ägyptiſches Stück vor Erzählungen, die 
nicht weniger als ägyptiih find, und fehr anti-Äägyptiich Teyn 


*) Th.2. St. 4. Braunfchmeig 79. Abſchn. 3. **) Abſchn. 3. St. 4. 


1) Bedürfniſſen von Ordnung... . Ruhe, den edelſten 
2) ſondern natürlicher 
Herders ſämmtl. Werke. X. 3 











— 34 — 


wollen? und iſt es nicht ganz in ihrem, dieſer letzten, Geiſt, ja 
gleichſam! die Urquelle ihrer aller? — — — Ueber die Geſchichte 
vom Paradieſe und Fall habe ich im vorigen Briefe geſchrieben; 
ich wiederhole, daß ich nichts kindlicheres, ſowohl dem Ton der 
Erzählung, als dem Inhalt ſelbſt nach, kenne. Das Verkleidete, 
Fabel- und Mährchenhafte, das darinn liegt, iſt Natur der 
Sache und Zeit: der Urſprung des Böſen im menſchlichen 
Zuſtande kann nie anders, wenigſtens nie nutzbarer als alſo 
betrachtet und behandelt werden. Es iſt wie eine Zaubererzählumg 
des glücklichen, leider verlohrnen Traumes der Kindheit, und wun⸗ 
dern Sie ſich immer, wenn ich glaube, daß, ſo wie im erſten 
Schöpfungsſtück die einfachſte Naturphiloſophie, Welteinrichtung 
und Menſchenordnung, ſo in dieſem die ſimpelſte Philoſophie 
über den verflochtnen Knoten der Menſchheit, über ſeine 
diſparatſten Ende und Winkel liege. — So iſts mit der 
Geſchichte der erſten Menſchengeſchlechter, ihrer Lebensarten, Erfin⸗ 
dungen, Ausſchweifungen, Schickſale — das ſchöne Lied Lamechs 
über die Erfindung des Schwerdts mit eingerechnet. Wollen Sie 
über dies und manches Vorhergehende den zweyten Theil der ſo 
genannten älteſten Urfunde*) nachleſen, fo werden Sie finden, 
daß viele Ideen, die darinn vorgetragen wurden, jet von Ver⸗ 
faſſern, die fonft fehr verfchievden denken, auf ihre Weiſe? mieder- 
holt und von mancherley Seiten befräftigt werden. Mit der 
Gefhichte der Sündfluth, die wahrjcheinlih aus mehrern Urkunden 
von Tradition genommen ift: mit dem fchönen Symbol des 
Regenbogens, der Erfindung des Weins, der älteften Lanbfarte, 
(Kap. 10.) der Tradition vom Thurmbau, die auh im Ton gleich: 
ſam die Höhe defjelben annimmt, iſts eben alſo. — Ueber einigen 
diefer Stüde liegt noch ein tiefer Nebel der Urwelt; indeflen ifts 


*) Aeltefte Urkunde des Menſchengeſchlechts. Riga und Yeipzig. 1774.1 


1) find, und feyn wollen? und... . Geift, gleichfam 
2) Weife vorgetragen, 


— — — 


1) „*) Aelteſte — 1774.“ fehlt. 


— — 





unläugbar , daß in den legten Jahren und von den verſchiedenſten 
Köpfen auf Einmal, viel Aufflärendes und Gutes über fie gefagt 
ey: Jeruſalems Betrahtungen find injonderbeit ala Haupt- 
Schrift lesbar. Michaelis Bat in feinen Anmerkungen zum 
44 erften Buch Mofes viel Gutes, aber auch, wie mich dünkt, 
manches, das für diefe Stüde und ihre Zeiten fremd it. — — 
Mit Abrahams Gefchichte,*) fühlen Sie felbft, wie der Ton 
näher und vertraulider werde. Er wird aus der Ferne gerufen, 
um in einem fremden Lande, das feinen Nachkommen gehören foll, 
als Freund des Gottes Jehovah umher zu ziehen, den Namen 
deſſelben durch Denkmale, Gebräude, Altäre, noch mehr aber 
dur Reinigkeit der Sitten, Gerechtigkeit und veften Glauben fei- 
nem Gejchleht aufzuprägen. Ueber die Art, wie Gott mit ihm, 
wie er! mit Gott umgehet, wie er 3. E. vor Gott um Sodom 
bittet, und Gott ihm die Sterne zeigt, bie Scidjale feines 
Geſchlechts entfiegelt, ihm feinen Sohn abforbert u. f. geht nichts - 
an Einfalt und Hoheit ſowohl der Sache felbit, ala? der Erzäh— 
lung. Ein gleiches iſts mit feinem Betragen gegen Loth, Mel- 
chiſedek, Iſaak und Iſmael, Eliefer, die Hethiten; wie fanfter 
Regen auf junges Gras, wie Thau auf Rofen, träuft die jugend⸗ 
liche unſchuldige Erzählung. So gehets fort mit ber Geſchichte 
feiner Söhne, Saat, Jacobs, Eſaus, Joſephs und feiner Brüder; 
45 die vertraulichite, häuslichſte, unſchuldigwahrſte Altväter- und 
Hirtengefhihte. Man ſchwätzet gemeiniglih, daß die Ebräer 
feinen hiſtoriſchen Styl haben, und daß infonberheit das erfte 
Bud Mofe davon zeuge. Beynah ift mir nie etwas unverftän- 
licher geweſen, als diefe Behauptung. Ich Halte ven Ton diefer 
und ber fimpeliten Stellen in den übrigen Biftorifchen Büchern ver 
Ebräer für deal der Geſchichte folder Zeiten, Sitten und 
Völker, ja vielleicht für dem beiten, wahreſten Ton aller Geſchichte. 
Verſuchen Sies einmal, und erzählen einem Kinde etwas außer 


*) 1 Mof. 12. 


1) im, ee 2) als in. 
g* 


— 36 — 


dieſem Tone; machen Sie 3. E. Schnörfel, verändern Umftände 
und Redarten, und ftrafen fih, nah dem, mas Sie den Augen 
blick anders erzählten, etwa der ſchönen Abmechlelung wegen, 
unaufbörlich felbft Lügen; oder machen Sie, ftatt fimpel zu erzäh- 
len, Betrachtungen, pragmatiiche Neflerionen; das Kind wird Sie 
nicht ausftehen, Sie immer daran erinnern, daß Sie es voraus 
jo gelagt, fo erzählt haben, und wenn es endlich nacherzählen joll, 
wirds gerade erzählen, wie die Bücher Moſes, das Buch Ruth, 
die fchönften Stellen aus Samuel und der Königsgeſchichte. Alle 
ältefte Schriftfteller treuer Wahrheit erzählen eben fo, Homer und 
Herodot, Kenophon, (mo er nicht philofophirt) und Livius (mo er 
nicht Reden einflicht); die legten indeſſen erzählen nad Beichaffen- 46 
beit ihrer Nationen und Zeiten. Es ift genau zu bemweifen, daß 
wo die Geſchichte durch Philoſophie, erdichtete Charaktere, prag- 
matiſche Betrachtungen und gehaltene Reden von dieſem einfältigen 
Ton abgeht, fie an Perioden-Schmuck und runder Zier zwar 
gewinne, aber an einzelnen, aus einander fallenden veiten Perlen 
der Wahrheit verliere,! und zulegt Geſchichte zu ſeyn, völlig 
aufhöre. Nichts in der Welt ift auch fchwerer, als dieſer ein- 
fältige Ton,? da wir gerade nur fagen, was geſchah; nicht, was 
wir denfen, glauben ? oder wähnen, daß geſchehn, geſprochen ſeyn 
ſollte — wie Sies leicht durch eignen Verſuch erfahren mögen. 
Ich meyne nicht, daß Sie den Narrenton verfuchen follen, in den 
einige ſtumpfe“ Wiglinge den Chronikenftyl der Bibel haben lächer 
ih machen mollen; jede Sprade, Zeit und Geſchichte Hat ihren 
eignen Ton der Erzählung, wie Sies ja felbft in diefen Büchern, 
den verſchiednen Zeiten und Sachen nah, finden. Der ver- 
trauliche, Häusliche Styl der Patriarchen wird in der Gefchichte 
des Zuges der Sfraeliten, ihrer Helden und beroifchen Propheten 


1) abgebe, fie au ..... Zier gewinne, an .... der Wahrheit aber verliere, 
2) diefer Ton, 

3) ABB: faben (im Drudfeblerverzeihniß von A verbeflert.) 

4) dem ftumpfe , 


— 57 — 


Ihon feierlicher, ftärfer, und oft buch die Natur der Sadıe 
faft Epiſch; die BHiftoriihe Schreibart muß fih eben aud im 
47 Ton ohn' allen Dünkel und Neflerionsgeift der Geſchichte an- 
Ihließen,! fo daß Diefe in der Beichreibung, wie in der Natur 
da ftehe und lebe, Und eben bierinn glaube ich, find dieſe 
ältefte Familienſtücke Muſter. So viel Erhabenes und wirklid 2 
Poetiſches in den Reden Gottes, in den Handlungen und Seg- 
nungen der Väter, oft im bloßen Stillfhweigen und in der? 
leihten Art ausgerrudt ift, wie die ſchwerſte Sache geübt und 
erzählt wird; jo wenig tft alle dies gejucht oder erborgt und Tünft- 
lich.“ Ich kenne nichts Edleres, ala die Art, wie Gott zu Abra- 
ham fpricht, und diefer ihm folget, als die Gefichte, die er fiehet, 
als fein Geipräd mit Melchiſedek und dem Richter Sodoms. Wie 
prächtig-⸗wilde dagegen ift Ismaels erftes Abenteuer der Kind- 
heit, jene Weifjagung des Engels über ihn in ber Wüfte, die aud 
der Erzählung, dem Ort in der Scene, wie feinem Charakter 
und Schickſal jo gemäß find! Fürchterlich-eilend ift der Unter- 
gang Soboms, ſchweigend-erhaben die Hingabe Iſaaks, füß- 
geſchwätzig die Freyerey der Rebecca, furdtfam die Züge 
Iſaakls, und füßduftend fein ländlicher väterliher Segen. Wie 
geheim und heilig wiederum ift Jacobs Geficht des eröfneten 
Himmels, des ihm fo nahen Gottes feiner Väter, mie bitterfüß 
und angenehbm-mühfelig die Befchreibung feines Dienftes bey 
48 Laban, gleihjam beroifh-nähtlih fein Kampf mit dem Unbe- 
fannten, und endlich ® über alle Maaße gewandt und biegfam 
die verjchlungene Geſchichte Joſehhs. — Verſuchen Sites, verändern 
Sie auch in den fanften Zügen, in den erfcheinenden Nachläßig⸗ 


l)im Tone der Geſchichte ſelbſt, ohn' allen Dünkel und 
Reflerionsgeift anfchließen, 

2) Erhabenes, wirklich 3) und ber 

4) gefucht, geborgt, fünftlich. 

5) auch immer der Erzählung, dem Ort, der Scene, feinem 

6) bitterfüß, angenehm mühſelig . . . . Laban, und heroiſch 
nächtlich .... Unbelannten, endlich 





— 38 — 


keiten und Wiederholungen nur Etwas: kleiden Sie die poetiſchen 
Züge etwa in hölzerne Verſe nach unſrer Art, oder überladen gar 
die ſimpelſte Geſchichte der Welt, deren ganze Natur in dieſer 
Einfalt wohnet, mit erdichteten Schönheiten, fo daß! das Still— 
Schweigen Rede, der Hirt ein Held in Worten, und die arıne 
Familienſcene der reichſte, frembdefte, epifche Kram fey; ſogleich wird 
Alles? beynah abſcheulich, Natur und Wahrheit find verlohren. 
Schon zum Leſen dieſer Bücher gehört Ruhe, eine Art fanfter 
Morgenftille, und am beiten kindliche, jugendliche Einfalt. 
E3 ift ſonderbar, wie gern Kinder etwas in foldem Ton lejen 
oder hören, daher fie auch diefe Gefhichte fo gern lefen und behal- 
ten. Luther jagt von fih, er habe ala Mönd nicht begreifen 
können, was Gott mit diefem häuslichen Geſchwätz in feiner Bibel 
wolle und habe? als er Ehemann und Vater wurde, lernte ers 
begreifen, und commentirte das erfte Buch Mofes faft bis an den 
Tag feines Todes. Staatsleute, bloße Gelehrte und Bücherfrämer 
oder gar üppige, verborbene Gemüther irren fi noch immer an 49 
diefem Buch und haben zum Theil vielen Unfinn 3 darauf gehäufct; 
ih freue mich, daß Sie in dieſer Zahl nicht find. Leſen Sie aljo 
auch dieſes, mie alle biblifhe Bücher, am liebften ohne gelehrte 
Commentare, und fuchen nur bey Schwierigkeiten und unverjtandnen 
Stellen Verſtändniß. Der befte Commentar ift, wenn Sie in 
Reifebefhreibungen Drients das Leben der Sceniten, ihre 
Sitten und Gebräude leſen, und von ihnen in dieje jo ältern 
Zeiten der Unfhuld und Stärke hinauffhlieffen. Jeruſalems 
Betrahtungen und Mofaifhen Briefe, auch Delany's 
Abhandlungen*, über einzelne Punkte diefer Gejchichte find 
jodann Wegweiſer zu näherer Beherzigung einzelner Stellen und 
Situationen. 

*) Revelation examin’d with Candour Vol. . Das Bud ift aud 
Deutſch überfekt. 

1) Schönheiten, daß 2) fen; Alles wird 

3) immer am Buch und .... viel Unfinn 


— 9 — 


50 Bierter Brief. 


Die poetiichen Stellen des erften Buchs Mofes, über die Sie 
mich fragen, Tollen unvergefjen bleiben; lafjen Sie mich jet zuerft . 
im SHauptanblid feiner Gejchichte fortfahren. Mit dem Anfange 
des zweyten Buchs folgt die eigene Geſchichte Mofes, feines Volks 
und feiner Geſetzgebung; fie richtig und menſchlich zu leſen, müſſen 
Sie den vorigen Geſichtspunkt beybehalten, zuförberft aljo feine 
Geſetze und feine Geſchichte unterfcheiben. 

Seine Geſetze zeichnen ſich immer felbjt aus, und find wahr- 
ſcheinlich ſo Stüdweife und Ordnungsmäßig eingerüdt, als er fie 
befannt machte. Nach dem Hauptentwurf, 2. Mof. 19, 3-6. fols 
gen die Worte, die Gott felbjt vom Berge ſprach, Kap. 20. und 
die Rechte, die er ihnen vorlegte. Kap. 21-23. Das Uebrige ift 
Entwurf der Stiftshütte, und deilen, was dazu gehöret. Kap. 
25-31. Eine Nachleſe von einigen Hauptgeboten, die jedem Iſrae⸗ 
liten zu wiſſen noth waren, kommt bey dem zweyten Aufenthalt 
Mofes auf Sinai nad, (Kap. 34, 10-26.) und nun wird aus- 
gerichtet der Entwurf des Tempeld. Das ganze dritte Buch Mofes 

51 Scheint das Negulativ geweſen zu ſeyn, das in der Priefter Händen 
war, nad dem fie den Gottesdienſt! verrichteten, über Nein und 
Unrein, Ausfag, Grade der Verwandſchaft urtheilten, durch Fefte 
die Zeit orbneten, Strafen beftimmten u. dgl. Sie find auch Stüd- 
weife gegeben und an einander gefüget, wie oftermals das Ende 
und der Anfang? zeigen. Die Weihung Aarons und das Schidjal 
feiner Söhne gehört natürlih, theils als Vorbild der Obſervanz, 
theil3 ala heilſame Warnung,? in diejen Prieftercoder. Im vierten 
Buch kommen manderley Nachholungen und nähere Beitimmungen 
vor, ohne Zweifel, wie fie Zeit und Bebürfniß gab; fie find daber, 
wie im zweyten Buch, mit hiſtoriſchen Stüden, Rollen der Muſte⸗ 


1) fie Gottesdienſt 2) oftermal® Ende und Anfang 
3) heilſames Nota⸗ bene 


m mgpeuuigun Sa men EB ar STE 


— 40 — 


rung u. f. untermiſcht, die eben ihr Datum nah und nach ir. 
\pätern Jahren des Zuges zeigen. Das fünfte Buch endlich it. 
wie auch fein Name fagt, eine rührende Wiederholung und Ier:. 
Ueberficht der Gefege durch den Geſetzgeber felbft nahe! vor Feincı 
Ende; er erflärt, was zu erllären, ergänzt, was zu ergänzen tit, 
und nimmt auf die ebelfte Meife Abſchied Lied und Zeuen 
(8. 32. 33.) werden noch die lebendigen Dentfäulen feines Amts 
und Lebens; nun ftirbt der Stärffte der Meniden, der Gröpc':: 
der Gejeßgeber an der Grenze feines unerreihten, von fern über- 
jchenen Landes. 

Es ift nit ohne Urſache, daß ih Sie auf diefe Lage und. 
Geſtalt feiner Geſetze aufmerkſam made. Ecken Sie einen Auagın- 
blid, daß gegen gewiſſe Umftände feiner Gefchichte, der Ausführung 
feines Bolls, feiner Züge und Reifen auch unauflöslide Zweifel 
gefnüpft werden könnten; fie beträfen immer nur Umftände der 
Reiſegeſchichte, und nit das Hauptftüd dieſer Bücher, die Ur kun 
den der mofaifhen Gefeggebung. Für Diele bürgt eben ihr: 
treue Einzelnheit, ihre fimple fragmentarifche Geftalt, wie ſie nach 
und nad entftanden, fo beygelegt, und gerichtlich gleichſam beur 
fundet find. Keine Hand wagte es? an dieſe Weberbleibfel Des 
Mannes Gottes zu taften, fie auch nur in andre Ordnung u 
bringen, oder in eine andere Geftalt zu reihen, als ihnen dic 
Umftände ihrer Entftehung gegeben hatten. Mich dünkt, dieſe 
originelle Armuth und Unordnung ift das größefte Siegel der 
Aechtheit jedes Stüds auf feiner Stelle. Lernen Sie Mofen zuerit 
in diefem Gefichtspunft, als Geſetzgeber, ſehen und leſen ſeine 
Geſchichte zuförderft nur als Erläuterung dazu: fo wird Ihnen 
ihon der Umfang und Abel feines Geiftes, feine faft übermenic- 
liche Geduld, Stärke und Würde erfcheinen. Wäre nichts wahr 
von feinen Wunden oder feiner göttlihen Sendung: wäre alles 
nur poetifhe Ausihmüdung fpäterer Zeiten zu einer längjt ver- 5 
lebten, an fi ſchon wunderbaren Geſchichte der Väter; fo mird 


— — 


1) Geſetzgeber nabe 2) es gleihfam 


das Studium feiner Gefege und Gefinnungen, feiner Zwede! 
und Führung Ihnen einen Mann vorftellen, der Lykurg und 
Solon übertrift, und gewiſſermaaße die Grundfteine zum Bau der 
reinen Vernunft und menjchenfreundlichen Gejebgebung gelegt hat, 
an dem nachher die aufgeflärteften Völfer weiter fortgebauet haben. 
Nur freyli baute er noch feinen Pallaſt⸗Tempel von Gefehgebung, 
jondern eine Stiftshütte, die ein und altväterifch verborgen, aber 
reih und jo voll von Abfichten war, als vielleicht nie ein Tempel 
von Staatsverfafiung es geweſen. 

Unſre Beit bietet Ihnen zu diefem Studium vorzügliche Hülfs⸗ 
mittel dar. Michaelis mofaifhes Recht ift ein jehr gebachtes 
und gelehrtes Raifonnement über Mofes Gefebgebung; das letzte 
Stüd von Jeruſalems Betrahtungen*)? (leider das Icktel) 
enthält tiefe Blicke in den Geiſt feiner Geſetze: meines Wiſſens tft 
Er der erfte Theolog in Deutfchland, von foldem? Reichthum 
ſchöner philofophifchen Kenntniffe und von dem wirklich politifchen 
Bid. Wollen fie künftig weiter gehen, und Mofes Angeficht durch 
die Dede des Talmud betrachten: fo werde ih Ihnen eine Reihe 

54 andrer, aber meiftens fchlechterer Hilfsmittel zu nennen haben, bie 
Ughelli grofjentheild gefammlet hat.“ Laſſen Sie fich bey diefer 
Gelegenheit für die Spencerſche Hypothefe, daß Mofes auf ägyp- 
tifche Geſetze Rüdfiht genommen, kein Grauen einjagen. Spencer 
bat fie zum “Theil übertrieben;? an fi) aber tft nichts natürlicher 
als diefe Meynung. Moſes war ein Aegypter; Iſrael fam aus 
Aegypten; die Denkart beyder war dort gebildet, und wenn Sie 
auch die unmittelbarfte Eingebung annehmen, fo bat ſich Gott ja 
immer den menſchlichen Seelen nad ihrer Faſſungskraft bequemt, 





*) Braunfchweig 1779.1 


1) Sefege, Gefinnungen, Zwecke 

2) Stüd der Betradhtungen Ierufalems 3) dem 
4) andrer Hilfsmittel nennen, bie .... gefamnilet. 

5) gemißbraudt; 


1) „*) Braunſchweig 1779.” fehlt. 





. 
B 





— 93 — 


und, ftatt fie fortzubilden, fie nie zerſtört und neu geichurr 

Moſes Gefeßgebung hatte es ja eben zum Zwed, fie von Aeq 
mwegzugeftalten; und fo bat diefe Meynung nit nur nichts 11130 
liches, fondern fie leitet uns in einen Kreis ber nächſten roca! 
Umftände, die Gott zu feinem Zwei gebraudte. — Irıdeii. 
rathe ih Ihnen noch nicht, Spencers Buch“) ſelbſt zu len: ı: 
bin gewiß, es werden noch mande neue Erläuterungen ins Ya: 
fallen, je mehr ſich das ägyptiſche Altertum in der loptiiden und 
etwa einmal in feiner Pharaoniſchen Urſprache aufllätt. Bisher ı': 
noch nicht Alles von dem bereits entdedten zu dieſem Zwed geſamm 

let; ſelbſt Jablonski ſchäzbare Arbeiten find noch nicht rein gemorz- 

nene Früchte — —? 

„Run aber Mofes und die wunderbare Geſchichte feines 
„Zuges?! Wer ift uns Bürge, daß Er fic ſelbſt geihrieben ? 
„daß fie nicht vielmehr in fpätern Zeiten, da Alles fon‘ aben 
„teuervolle Sage war, zufammengejegt, den Gejegen ſelbſt nur 
„zwiichengewebt,® und da niemand mehr richten Tonnte, der Folge 
„zeit als ein göttliher Roman aufgehängt ſey? Iſt nicht ihr ganzer 
„Zuſchnitt, ihre Form, ihr Ton® darüber beynah Gewährlei 
„fung? Nicht mehr, als es die Geſchichte der Stammväter, Die 
vorbergehet, in ihrem inhalt und in? ihrem Ton if. Wer Die 
Begebenheiten und Umftände dieſes Zeitraums, dieſer Vollsperiode 
nad unfern Ereignifien, nad der Wahrſcheinlichleit unſers poli- 
tiſchen Zeitlalenders beurtheilen will, muß freylih manches unge- 
reimt und alles übertrieben finden; dieſes Mans der Beurteilung 


*) Io. Spencer. de legibus Hebreorum ritualibus edit. Pfaff. 
Tubing. 1732.: 


1) fondern die böchfte Natur, ein Zweck Gottes zu werden — — 
2) Arbeiten find für bie meiften, wie verlobren — — 

3) und feines Zuges wunderbare Gefchichte ? 

4) ſchon wunderbare, 5) untergewebt, 

6) ſey? Iſt nicht ihre ganze Abficht, ihr Ton 7) Inhalt, in 


1) „*) Io. Spencer. — 1783.“ fehlt. 


— 3 — 


aber it der Zeit und Sache jelbft entgegen. Der Gott Jehovah, 
der mit den Vätern diefes Volls fo umgieng, der den! Stamm- 
vater defjelben eben zu Zwecken, die jetzt erfüllt und bejchrieben 
56 werden, aus den fernen, höhern Aften holte, Er, der das Volk fo 
wunderbar nad Aegypten bradte, und zu einer neuen Republik 
bilden wollte; Er Tonnte, und mußte vielleiht, es auf dieſe 
wunderbare Weife allein dazu bilden. Wunderbar und doc 
höchft natürlich befam es feinen Befreyer: wunderbar war die Aus⸗ 
führung, denn fie follte dem harten, unbändigen Bolt der erite, 
mächtige Eindrud, „daß Gott für Iſrael ftreite!” Bleiben: wun⸗ 
derbar und aufs höchſte majeftätiich war die Gefehgebung, und fo 
viele Wohlthaten der Reife; alle und jede aber find ihrem Drt, 
ihrer Zeit, dem großen Zwed, daß ein rohes, ungehorjames Volt, 
in dieſer Wüfte, und Abgefchloffenheit zwiſchen lauter feinplichen 
Nationen, wie im Treibhaufe, wie in? einer Zuchtſchule des Gottes 
Sehovah feine Sitten und Satzungen annehmen, fih zu einem 
neuen Volk Paläftina’3 bereiten follte — Alle find dieſem Zwecke 
6 angemefjen und dienend, daß fie auf ihrer Stelle zur höchſten 
Natur werden. Die Scidjale eines Volks in verſchiednen Beit- 
altern feiner Bildung find immer auch verjchieven, und wenn Gott, 
von Anfange ber und nicht jett erft fi einmal mit diefem Volt 
beichäftigte, jo mußte er feinen Augen, feiner Faſſungskraft gemäß 
handeln; ſonach jehe ich nicht? ungereimtes im Kleinen und Größten, 
damals und auf der Stelle — — Zudem find Geſetze und 
57 Gefchichte unter einander und mit einander vermwebt, infon- 
derheit das Wunder der Wunder, die ſinaitiſche Geſetzgebung. 
Sie geſchah vor den Augen und Ohren der Nation, fie war? Zweck 
des Zuges aus Uegypten, und Grund zu den Wundern aller fol- 
genden Züge; ift fie alſo veftgeftellt, jo iſts das Vorhergehende, 
das Nachfolgende auch. Und gerade fie iſts am meiften, die Geſetze 
find auf fie gegründet, fie mit ihnen verwebt, auf fie wird fich 
immer bezogen, und am feyerlichiten bezieht fih Moſes auf fie am 


1) umgieng, ben 2) Treibhaufe, in 3) Nation, war 


— MM — 


Ende feines Lebens. Er läßt fie, und das Wunder der Aus 
führung, nebft den andern Wohlthaten Gottes, feinen Belegen um 
ewigen Siegel. Ich weiß, mein Freund, wie oft in Saden der 
Art der Schluß vom Moralifhguten aufs hiſtoriſch mwahtt, 
und was noch viel mehr ift, aufs hiſtoriſch gewiſſe und ſichte 
übereilt und verſchwendet wird; mid dünkt aber, bier wird er 
nit. Ich Schließe nemlich nicht von der Erzählung der Wunde 
auf die Gejesgebung, fondern von der Gejeggebung und dem 
durchaus, bis an feinen legten Othem fo treflichen Charakter Moſes 
auf die mit der Geſetzgebung engverwebte Geſchichte. ch ſehe 
nit, wie beyde zu trennen find, ohne den Text zu zerreifien, 
feinen fo auflerorbentlih innigen Zufammenhang zu zerftören, und 
den Geift, wie diefer, fo der vorigen und folgenden Geſchichte des 
Bolls allgemein Lüge zu firafen. Und mich dünkt, dazu haben 
wir nidt Grund, wenn auch Moſes felbft die Geſchichte nicht 
. geichrieben hätte, und fie auch nicht zu feiner Zeit verfaßt wäre. 
Aus Auffähen feiner Zeit ift fie gewiß verfaflet; das zeigt ihr 
Anblid, ihre nad Zeitläuften zerfallende, mit einzelnen Gejegen 
abwechſelnde fragmentarifche Geftalt. Jetzo feine Geichichte, (2. Mof. 2.) 
nah einem bürftigen Gefcdlechtregifter älterer Zeiten, (Kap. 1.) 
jeßt die Begebenheiten der Ausführung (bis Kap. 14.); nun ein 
Lied (Kap. 15.); jet Züge, jetzt Geſetze (Kap. 16. und f.); aber: 
mals Züge; und fo immer weiter. Niemand kann diefe Geftalt 
anders, als aus alten Driginalauffäten erflären, die der Sammler 
fo hoch hielt, daß er fie nur zufammenfügen, nicht verändern, jelbft 
nit in ein Ganzes binden wollte; mithin bürgt ihre fimple 
Armuth für ihr Alter und ihre Gewißheit, wie fih in Saden 
jolches Alterthums Bürgſchaft ftellen ober verlangen läßt. 

Ich habe nichts dagegen, daß man natürlich zu machen ſuche, 
was fich natürlich machen läßt. Wie das Manna nicht die fabel- 
bafte Geftalt bat, die man ihm in Zeiten der Unwiſſenheit gab, 
jo Hat Jerufalem die Hardtifche Hypotheje*) von den nic ver- 50 





*) Hardts Ephemerid. philolog. Helmst. 1703. 4. Disc. XU. 





— 45 — 


alteten Kleidern, nicht uneben, erneuert, und mir iſts nicht zuwi⸗ 
der, daß der Ton, wie von dieſen beyden Stücken, Manna und 
Kleidern, geredet wird, der Analogie nach noch auf mehreres ange⸗ 
wandt werde. Sollte es bewieſen werden können, wie ichs doch 
noch nicht ſehe, daß die Ebbe und Fluth den Durchgang durchs 
Meer bey Suez erleichtert, daß die! Wolfen» und Feuerſäule, das 
in Orient gewöhnliche Rauch⸗ und Feuerzeichen geweſen, das dem 
Heere voranzieht, und weldes Gott hier unmittelbar lenkte; fo 
bleibt Gejeßgebung immer Gefebgebung, wunderbare Vorſehung, 
Lenkung, Wohlthat, Strafe Gottes bleiben immer ſolche, fie mögen 
durch ſolche oder andere Mittel geſchehen ſeyn. Die Wunder in 
Aegypten und in der Wüfte, die fchredlichen Hauptwunder dort 
und bier, die feyerliche Geſetzgebung auf Sinai endlich werden nic 
natürlih gemacht werden fönnen, und warum jollten fie es wer- 
den Dürfen? Der Zmed Gottes bey der ganzen Reife bleibt ficher 
und gewiß; dem alle jene Wunder ja nur dienen. 
Kümmern Sie fi daher nicht, wenn mande Umftände oder 
60 fo genannte Knoten nicht völlig aufgelöjet werden fünnten. Bey 
einer jo alten Geſchichte, dazu diefes Volks, iſts unvermeidlich; 
und es ift höchſt zu bewundern, wie wir noch fo vieles gewiß 
willen und haben. Bey andern, viel berühmtern Völkern haben 
wird nit, bey Chaldäern und Aegyptern, Phöniciern, felbit . 
Griehen in fo alten Zeiten; es ift alfo auch hier eine wirkliche 
Auszeihnung diejes Volkes fihtbar.? Leſen Sie 5. E. Döder— 
leing Antifragmente gegen die Einwürfe des Tragnıentiften 
über den Durdgang durchs rote Meer, Jeruſalems Betrad- 
tungen über die Geſchichte Mofes, und andre Schriften diefer ? 
Art, und fagen Sie, was man über Begebenheiten und Bücher 
eines jo grauen Alterthums zur Aufllärung beynahe mehr fodern, 
mehr verlangen fünne? Wir haben im Deutichen einen Retter 
der heiligen Schrift, wie in allen, fo aud in diefen Punkten und 





1) fehe, daß das Scilfmeer die Sirbonitifche See, bie 
2) es ift alſo wirffihe Auszeichnung Jichtbar. 3) der 


— 46 — 


und Knoten, den uns Ausländer beneiden dürften, ſo ſtille und 
geräuſchlos er lehre: Lilienthal. Seine gute Sache der 
Dffenbarung*) iſt eine Bibliothek von Meynungen für und 
wider, ein Meer von Gelehrſamkeit und Weberfiht der Einwürfe 
und ihrer Antworten, ein wahrer os12: mn diefer Bücher. Sit 
er bie und da zu genau, zu pünktlich; jo ift der Fehler für einen 61 
Sachwalter der Bibel Tugend. Nun fann jeder prüfen, urtheilen, 
wählen — — 

Mein Brief wird abermals zur Abhandlung. Was ich über 
die Geſchichte der Bücher Mofes gefagt habe, gilt aud von den 
Büchern Joſua, der Richter, der Könige, der Propheten. Es ift 
gar nicht zu glauben, daß jeder Held, Prophet und König feinen 
Strid von Gedichte ſelbſt entworfen ! babe, es wäre dies aud) 
eben fein Vortheil: denn menfchlicher Weife gilt ein Zeuge nit 
immer vorzüglid in eigner Sade. Es findet ſich nicht die min- 
defte Spur in den Büchern felbft, die darauf brächte; und gerade 
umgekehrt werden hie und da gewife Sammlungen genannt, die 
uns auch die Gejtalt der gegenwärtigen Sammlung erflären.? Im 
vierten Buch Mofes, und gerade vor fehr poetifchen Stellen, die 
bald folgen, wird an ein Buch der Kriege Jehovahs: (4. Moſ. 
21, 14.) im Buch Joſua (Kap. 10, 13.) abermals Hinter dem 
fühnen poetiiden Ausbrud, vom Stillftande der Sonne, der zu 
viel unnügen Nettungen und Spöttereyen Anlaß gegeben hat, wird 
‚an ein Buh der wadern Männer oder der Heldenlieder 
(o)3 gedacht, das noch in die Zeiten Davids reichte, und in 
welches er feinen Heldengefang auf Jonathan mit hineintragen lich. 62 
Der lebte Titel jagt gerade dad, was die Heldenlieder* anderer 








*) Königsberg 1760. u. f.1 

1) Geſchichte entworfen 2) gegenwärtigen erflären. 

3) zu viel unfeligen Nettungen . . . . gegeben, wird... . Män- 
ner (NV) 

4) Heldenlieder, (die Norbifhen Kiämpe- Biifer) 


1) „”) Königsberg — u. f.“ fehlt. 


Nationen namentlih jagen. Alle alte Völker hatten dergleichen, 
und befäßen wir dieſe aus den Händen der Hebräer; mie trefliche 
Stüde würden wir gewiß an oder unter ihnen finden, eben nur 
nach der Elegie Davids, dem Geſange der Deborah, (der vermuth- 
ih darinn ftand) und dem angeführten Fragment des Joſua zu 
urtheilen. Bor der Poefiereihen Geſchichte Bilcams fommt ein 
kleines Brunnenlied vor, bei Gelegenheit einer neugefundenen 
Quelle, wie abermals mehrere alte Völker Hatten, und einige 
unter ihnen gar Töne zu Haben glaubten, das! Wafler hinauf 
zu loden. 


Steig’ herauf, Brunn! Singet ihm entgegen! 
Quelle, die die Fürften und gegraben, 

Die des? Volles Edlen und gegeben, 

Mit ihren Sceptern, 

Mit ihren Stäben. 


Ohne Zweifel iſts nur der Anfang des Liebes. Ein gleiches 
ifts mit dem höhnenden Siegesliede über die Eroberung der fiege- 
riſchen Amoriterſtädte. Alſo fingen die Dichter: 

Hinein! hinein nach Chesbon! 

Baut und beveitet Sichon! 

Ein Feuer geht aus Chesbon, 

Eine Flamme brennt aus Sichon, 

Sie frißt bis Ar in Moab; 

Sie verihlingt die Bewohner von Arnon's Höhn.? 


Weh dir, Moab! 
Du biſt hin! du Volk des Chemos! 
Die Söhne deſſelben hieß er Flüchtige werden, 
Hieß ſeine Töchter Gefangene werden, 
. Dem Amoriter Könige Sichon. 


— — 





1) Bölter und einige... . . Tone hatten, denen fie zutrauten, das 
2) gegraben, Des 3) die Herm der Hößen des Arnon. 
4) werben, Deſſelben Töchter 





— 48 — 


Ihr Joch iſt dahin! 
Von Chesbon bis gen Dibon! 
Wir verödeten bis gen Nophach, 
Wir verödeten bis gen Medba. 
Moab hatten ſie überwunden; jetzt wurden ſie ſelbſt beſieget: da 
herum dreht ſich das Lied. Hätten wir die Ebräiſchen Heldenlieder, 
ohne Zweifel würden wir manches in Moſe, Joſua, den Richtern, 
vielleicht auch Sauls und Davids Geſchichte heller ſehen, als jetzo; 
wo wir und wundern müſſen, daß wir nur noch jo wenig Dunkel⸗ 
heiten und abgeriſſene Stellen finden. 


Fünfter Brief. 


Sie erinnern mid abermald an einige nähere Crläute- 64 
rung der treflichen poetiſchen Stüde diefer älteften Bücher; fo mag 
denn, ehe wir weiter gehen, diefer Brief dazu angewandt werden. 

Die Weiffagung Jacobs über feine Söhne ift eigentlich fein 
Lied, wie 3. E. das Lied Lamechs, Moſes, der Deborah, Davids; 
bey dem Liede Mofes, das er das Volk lehrte, in Vergleich feines 
Segens über daflelbe, jehn wir diefen Unterfchied deutlid. Es ift 
eine hohe Ausficht, eine! beroifche Verkündigung im parabolifchen 
Bilderftyl; aber fein Lied, jo wenig als die Weißagung des Engels 
über Iſmael, oder Iſaaks über Jakob. Wo kriegeriſche Völker 
Helden- und Siegeslieder geſungen hätten, erzählte ſich dies Hir— 
tenvolk etwa im ſingenden Ton erhabene Sprüche und Weif- 
fagungen feiner? fterbenden Väter. 

Der Keim vom Segen Jakobs, fein erfter lebendiger Funke 
und gleihfam der Prototyp in des Weißagenden Geele, ift die 
Ausficht in das feinen Vätern verheißene Land, das er den Seinen 65 
nah Zügen ihres Charakters oder nah Handlungen ihres Lebens 


1) eine große 2) Sprüde feiner 


— 49 — 


vertheilet. Bey Ruben, Simeon, Levi und Joſeph ſehn wir dies 
offenbar, weil wir Mehreres von ihrer Geſchichte wiſſen; bey 
den andern, bey Juda? vorzüglich, iſts eben ſo wahrſcheinlich. 
Er war ein edler Löwe, und ſein Geſchlecht ſollte es bleiben. Ohne 
Zweifel liebte Iſaſchar die Ruhe und die Natur: Dan war ein 
Kopf voll Anſchläge: Gad ließ fih anfallen, und war denn beherzt; 
Aſſer liebte vieleicht Köftlichleit in Speifen,? und Napbthali war 
die ſchöne Terebinthe mit prädtigem Wipfel. _ Ein Anfchauliches 
jolder Art* gehört ganz in dieſe Zeiten des Hirtenlebens, noch 
mehr aber in die ruhig bemerkenden Blicke des Vaters, der das 
Leben feiner Söhne beynah ein Jahrhundert vor Augen gehabt, 
und was darinn’ lag, mit tiefen Zügen des Leides und der 
Freude in fi gegraben hatte. Jehovahs prophetiicher Geift 
flammte jet diefe Züge an: lebend ftanden feine Söhne vor 
ihm, und lebend warb ihm jet die fünftige Gefchichte ihres 
Geſchlechts, in dem ihm verheißenen Lande.® Beihämt fehe ich 
Ruben daftehn, einen Mann von Kraft und Würde; er hat aber 
die Krone feines Vorzugs dahingeworfen: enttrönet fteht er da 


1) Die Keime vom Segen Jacobs, feine erfte lebendige Funken, gleichſam 
ber Prototypus in des Weißagenden Seele, ift und jetzo ein beiliged Räthſel. 
Wir kennen die Söhne nicht, die vor feinem Lager fanden, auf deren Ange- 
fit, Gemüthsart und Charakter ſich doch das Meifte zu beziehen feheint; 
mithin ift gleihfam die Uridee des Hinausblicks auf künftige Zeiten fiir un 
verbämmert. Die Provibenz in ihren geheimften Schidfalen, fie feyn Wohl- 
taten oder Strafen, entwidelt nur Charaktere: fie bequemt fich der Men- 
ſchenart ſowohl in Zügen bes einzelnen Menfchen, als ganzer Gefchlechte. 
Der ftille Sinn des prophetifhen Hirtenvaters warb vom Himmel geftärkt, 
noch in feinen Testen Augenbliden dies ſchlafende Schidfal in ver Seele 
feiner Söhne zu bemerken, und das Buch deſſelben in ihren einzelnen Cha— 
ralterzügen und Handlungen aufzublättern. 

2) bey allen andern, Juda 

3) war ein anſchlagvoller Kopf: .... Afler Tiebte Pracht in Speifen, 

4) Eine Anfchaulichkeit der Art 

5) darinn Göttliches und Geheimes 

6) ward Yett die in ihnen Tiegende künftige Geſchichte. (ihres — 
Lande.“ feblt.) 

Herders ſammtl. Werke. X. 4 


— 50 — 


und bekommt fein Erbtheil des Eritgebohmen.! Funkelnd im 
Auge, mit gehaltner, verborgner Rache ſehe ih Stimeon und Levi; 66 
ihre Blutthat kommt vors Angeficht des Waters; der Sicherheit 
wegen werben fie zertheilet. So ftehet der Tönigliche Löwe Juda, 
ber fih ruhig umberfchauende Iſaſchar, der gewandte Dan, der 
rüftige Gad, Naphthali, die ſchöne Terebinthe und der liebesvolle, 
mit aller Stärke feines Vaters, mit allen Reizen feiner Mutter 
befleivete Joſehh. Die gute Folge feiner Prüfungen ift auf ihm; 
das ägyptifche Diadem Frönt fein Haupt, er fteht als Kronenträger 
unter feinen Brüdern, aud in feinem fünftigen Erbtheil.? Es 
ift unbefchreiblih, wie mit diefer jo naturvollen Deutung*) jedes 
Wort, jede Wendung Jakobs eine treffende Wahrheit wird, da 
fonft in der Ferne alles fih im prophetifchen Nebel verlieret.? Die 
Fruchtbarkeit Joſephs, fein Reichthum, fein Anjehen vor und unter 
Fremden; in weldem Bilde konnten fie jchöner erſcheinen, als in 
dem Bilde des Zweiges vom* Weinftod feiner fchönen Mutter. 
Sie gebar jpät und wenig; mit dem Einen Joſeph aber hat fie 67 
viel gebohren; noch in den Söhnen Joſephs windet fih ihr Stamm 
prädtig hinauf. Alle Anfeindungen jeiner Brüder (die der alte 
Bater, da ihnen Joſeph verzieh, verzeihungsvoll einem Kampfe ver- 
gleicht) haben ihn nur ſtark gemadt; alle feindliche Schickſale haben 
ihn gewandt gemacht mit Armen und Händen. Konnte Jakob den 


— — — — 


*) Die Lokalumſtände des Landes, das Jakob ſeinen Söhnen anweiſet, 
babe ich im zweiten Theil vom Geiſt der Ebräiſchen Poeſie S. 187 - 209. 
aus einander gefett, und den Segen des Patriarchen als eine vVandcharte 
Kanaans entwidelt; hier zeige ich auf das Charaktergemälde feiner Söhne.! 


1) Borzugs, geil wie Wafler, dahingeſchwemmt: er beftieg das 
Bette des Vaters, und fteht entkrönet da. („und betommt — Erftgebohr- 
nen.“ fehlt.) 

2) Brüdern. („auh — Erbtbeil.” fehlt). 

3) Deutung faft jedes .... eine feine, treffende Schönheit wird, die 
in der Ferne fonft nichts faget. 

4) vom Stamm oder 


— — — —— 


1) „*) Die — Söhne.” fehlt; vgl. 28.1 


— 51 — 


erften Regenten Aegyptens in der politifchen Klugheit, die ihm 
zugewachſen mar, Ichöner, als im Bilde dieſes gelenfen Schüßen 
ſchildern? Konnte er ihn mwürdiger loben, als wenn er ihn mit 
dem Manne vergleicht, der mit Gott felbft rang, und errang feinen 
Segen? Segen vom Gott diefes Mannes wars,! der ihm half, 
Segen vom Gott aller feiner früheften Väter wirds feyn, der ihm 
auch die feinem Volke geſchenkte Wohlthaten belohne. Weberfließend 
im Dank ſchwingt fi der Geift des fterbenden Vaters in Höhen 
und Tiefen, von der unbeiligen Ebne Aegyptens uuf höhere und 
höhere Berge, zulegt bis auf die Hügel der Urmwelt,? und bringt 
ihm von allen Blumen den Kranz unter feinen Brüdern — — 
Sp iſts mit dem Spruche über jeden Bruder: die Verkleidung 
defielben in das Bild eines Thiers, eines Baumes, ift? natürlich, 
fräftig, und überall, auch bey Iſaſchar, edel. Was Leßing bey 
68 der äfopischen Fabel gezeigt bat, gilt bey aller Gattung ſymbo— 
licher Sprade: Bilder der Thiere ſchildern am meiften den Cha- 
rafter, die Naturart, die ausgezeichnete Bejtandheit eines einzelnen 
Weſens; wohin gehörten folche Bilder aljo eigentlicher, als in biefe 
große und ewige Stammtafel des Schickſals der Geſchlechte?“ 
Juda, ala Löwe, Dan als Schlange, Benjamin ala Wolf, Iſa⸗ 
Ihar ala ein ruhiges, umherblickendes Laftthier, find mehr gemahlt, 
als durch viel Geſchwätz in abitraften Worten, die meiftens nur 
flüchtige Blüthen der Zeit find, mit der fie fih, dem Dafeyn und 
der Bedeutung nah, ändern. Der Charakter der Thiere bleibt 
berfelbe, und die Schilderung durd fie ift überdem ganz in der 





1) ift8 geweſen, 2) Hügel der erften feligen Zeit, 

3) iſt nicht unwürdig, fondern 

4) ſymboliſcher Sprache, in Thieren zeigt ſich am meiften Charakter, 
Naturart, autgezeichnete Beſtandheit eines einzelnen Wefens; wohin gebör- 
ten ibre Bilder alfo eigentlicher, als in dieſe erſte Stammtafel ber 
Geſchlechte? 


5) ruhiges, ſtill ſich umherblickendes.... als durch alles Geſchwätz 
von Porträten in abſtracten Worten, die .... Zeit, Perfiflage eines Tages 
und feiner Gefellfchaft find, mit . ... . nach, meiftens enden. Der.... 


bleibt derſelbe: die Schilderung 
4* 


— 52 — 


Sprache, dem Blick, dem Leben des Hirten und Patriarchen. Er 
hatte keine andre Bilder der Vergleichung in ſeiner Seele, keine 
andre Worte auf ſeiner Zunge; ſein Segen wird ein Teſtament 
in ſinnlichen! Charakteren. 

Der Löwe Judah ſey ein Beyſpiel; ich bleibe aber allein 
bey'm Bilde dieſes Segens. Jakob will, daß Judah der geehrteſte 
ſeiner Brüder ſey, ihr Anführer, König unter ihnen, und Ueber— 
winder der Feinde. Im Bilde des königlichen Löwen führt er 
die8 aus, der vom Naube prächtig hervorfteigt, und nachdem er 
fih in ſtolzer Ruhe gelagert, ficher ift, daß niemand ihn aufzureizen 69 
ih erfühne. Oder ohne Gleichniß: Judah fol des Erftgebohrnen 
Stelle vertreten, der den Patriarchen» und Führerſtab in feiner 
Hand, nicht ablaße, bis er fie alle zur Ruhe bringe, und ihm die 
Völker oder Stämme fodann freiwillig anhangen, und fih zu ihm 
balten.*)? Er nimmt 2. 11. Beſitz vom Lande, fteigt von feinem 70 


*) Wien man das Wort 77% auch? ableite; fo muß es dem Baral- 
lelismus nach etwas bebeuten, das dem Gehorſam, der freywilligen 
Unterwerfung der Völker, oder dem friedlichen Zuſammenhalten ver 
Stämme unter Judah gegenüber ftebet;? und nun mögen Sie ſelbſt wählen: 


1) finnlihen Bildern und 

2) Der Löwe Judah fey ein Beyſpiel; ohne doch, daß ich mid über 
das vielberäthfelte "TOD einlafle. (Der Samaritaner liefet "DD ohne "; 
fo fcheinet8 mir, haben alle alte Ueberſetzungen gelefen, und ſich baber nur 
fo manderley harte Wörter ie) und ferner umbergetummelt. Mir fchei- 
net alfo das ” jung, und ſchon der feftzuftellenben Lesart wegen, in den 
Tert gerüdt; überdem bleibt die Sache felbft, daß Meßias, der große König, 
aus Judah, befonders aus dem Gefchleht Davids kommen follte, aus fo 
vielen deutlichen und prächtigen Stellen der Propheten fo bewährt, daß bier 
immer fieben fann, was da ftünde, wenn mans nur — müßte) Kurz ich 
bleibe allein bey dem Bilde in Judahs Segen. Jacob weißagt, er werde 
der geebrtefte feiner Brüder feyn, König unter ihmen und Ueberwinder ber 
Feinde. Im Bilde des königlichen Löwen führt er dies aus, und nachdem 
diefer fih in ſtolzer Ruhe gelagert und niemand ihn aufzureizen fich erfüb- 

1) „Wie — wird fortgeführet.” folgt in A mit ben angegebenen Änderungen nad 
„unterwerfen fi die Bölter.” im Zert. 

2) das Wort au 3) Bölter gegenüber ftebet; 





— 58 — 


Thier, findet ſich in einer ſo traubenreichen Gegend, daß er ſeine 
Eſelin an eine koſtbare! Rebenſproſſe binden, ſeine Kleider in 


rl) ein Herrſcher, wie Schöttgen vermuthen wollen; ober 

O5 ein Friedeſtifter, wie die gewöhnlichſte Exrflärung ift, ober 

To, mo, bis fein Raub, feine Beute komme, vom Arab. 
vo, davon Ebräiſch theils DD, theils das alte DW noch da ift, welches 
aber im Parallelismus hart ift;? oder man leſe gar mit ber Bulgate 

maVB, Sendung, Geſandſchaft, die etwa fommt, um Frieden? 

70 zu bitten, unb Ehrengeſchenke (DYrTos Mid. 1, 14. 1 Kön. 9, 16.) zu 

bringen: ober man tbeile gar nach einer neulich oft beliebten alten Thei- 
lung, die ſchon Coccejus, Polus u. a. haben 

TInd, His man ihm Geſchenk bringt, (Ef. 18, 7.) wo mir 
aber, theils da® ” verbächtig, theild das auf einander floßende 'T® und 
791, fowohl den Buchſtaben, als dem Sinn nach Bart und unebräiſch vor- 
fommt; oder man mache 

DU zu einem Substantivo von 79%, deſſen Form wir nicht haben, 
(daß eine ſolche Form, als Substantivum gebräuchlich geweien, ſehen wir 
aus dem Namen 75%, ben ber britte Sohn Judah führte, (1 Mof. 38, 5. 
Kap. 46, 12.) und in dem Yubah die Kortfekung feines Geſchlechts, nach- 
dem bie beyben erften fo traurig umgelommen waren, bofte,) und das 
Ruhe,e Sicherheit, Glückſeligkeit bedeute, wie fie der folgende Vers 


net, fagt ers ohne Gleichniß: Judah foll immer ein anſehnlicher Stamm 
bleiben, den PBatriarhen- und Kührerftab in feinen Händen, den ihm nie- 
mand entreifien könne, entreiflen werde. Auch in Kriegszügen (denn das 
bedeutet daB 2te Comma bes 10Oten Berfes, Sie mögen num 153% ober 
mit dem Samaritaner 1937 Iefen: dies heißt Fahnen, jenes Zug, 
Schritt, Gefolge au in mehrern Stellen der Bibel; ich laſſe alſo das 
letzte, das ben natärlichften Sinn giebt, und fi mit dem jejet12 fo wohl 
verträgt, ftehen:) auch in Kriegszügen alfo, in Zügen nach dem Lande, wo 
Judah Ueberwinder feyn follte, werde e8 ihm nie an Führern, an Helden 
fehlen, bie vorziehn. Nun kommt © und ihm unterwerfen fi) die Völker. 
1) an die koftbarfte 


1) da iſt; („welches — Bart iſt;“ fehlt.) 2) kommt, Frieden 
3) wir nicht haben*) und das Ruhe, 


*) Daß eine ſolche Form als Name, folglich auch als Substantivum .... waren, 
hofte. Ob ber Vater, wie mehrmals in dieſem Gegen, auf dieſen Namen angeſpielt habe? 
und ob überhaupt eine nähere Erinnerung dabei obwalte? können wir jetzt wohl nicht 
mehr entfheiden. Gnug es if auch ohne 1 wirflih bie Form eines Namens von ToW 


— SI — 


Mein waſchen, feine Zähne in Milh baden Tann. In allen, 71 


jcheinet e8, fteht dem alten Vater der Sieger, der König, der 
ftolzge und doch liebensmwürdig -fanfte Bezwinger ! in der Geftalt 
feines Sohns vor Augen. Er fieht feinen prächtigen Wuchs, die 
funfelnden Augen, die mildhweißen Zähne; er fieht ihn auch als 
den fünftigen Vorgänger feiner Brüder nicht? unedel: Güte auf 
feinen Lippen, Helvenfeuer in feinem Bid. Er feyert ihn mit 
allen diefen Zügen; furz, es ift der prächtige Töniglihe Segen: 


Jehudah du! 

Dich werden preifen deine Brüder! 

Deine Fauft wird feyn am Naden deiner Feinde: 

Sie büden fih dir deines Vaterd Söhne. 

Ein junger Löw’ ift Judah, 

Bom Raube, Sohn, bift du empor geftiegen.? 

Er wirft fi, ftredt fich nieder, wie ein Löwe, 

Wie ein mächtger Löwe, wer reizt ihn auf? 

Nie wird der Führerftab vom Judah weichen, 

Nie weicht der Königsftab von feinen Zügen,‘ 

Bis daß da komme — bw 

Und Bölfer fih ihm willig unterwerfen. 
ausmahlet; oder Sie mögen noch ein triftigers Wort zum Parallelismus, 
des Völkergehorſams finden; — zu meinem Zweck gehörts nicht, zu 
entſcheiden. Komme dem Kriegesführer Judah Sicherheit, Friede, 
Raub, Reid, Gefhent, oder was ihm gebühret; ihm kommt im zwey— 
ten liebe die Unterwerfung der Völker, und das Bild wird fort- 
geführet. 


1) fan. Und fiehe, da ftebt . ... . der folge Bezwinger 

2) ihn auch als Erobrer, nicht 3) biſt du fo hoch erwachſen. 

4) von Judah weichen, Nie fehlet ein Gebieter feinen Zügen, 
da; ob es mir glei den jonft fo beftimmten Bildern dieſes Segens fremde vorlonmt, daß 
bier ein Abstractum, Friede, Sicherheit, Rube kommen foll; gefegt au, daß es 
der Sieger (82V) tommen machte. Ich glaube ſchwerlich, daß die Stelle je eine allge- 


mein angenemmene Erklärung finden werde; gnug, daß fo viel man Deutungen machen 
inne, der Sinn und Fortgang des Bildes unzweifelhaft bleibet. 


12 


— 55 — 


Denn bindet er ſein Füllen an den Weinſtock, 
An edle Reben ſeiner Eſlin Sohn. 

Und wäſcht fein Kleid in Wein,!' 

In Blut der Trauben fein Gewand. 

Seine Augen glühn von Wein, 

Seine Zähne glänzen Milch. 


Wollen Sie den fchönjten Kommentar diefer Worte Iefen, fo ifts 
Jeſaias. Er mar felbft aus Judah, ein Föniglicher Prophet. Er 
Heidet feinen Meßias, den Sohn Davids, in alle Pracht feines 
Ahnherrn und Stammmoaters, ala König, ala Löwen, als Sieger, - 
als Friedefürften, als Triumphirer im röthlichen Weingewafchenen 
Kleide, mit der fanften Sprade reiner Unfhuld und Milde Die 
ganze Manier Jeſaias ift gleichfam in diefen Bildern. Ein Tönig- 
licher Löwe in Weißagung und Schreibart. David, der erfte und 
mächtigſte König aus Judah wars in Thaten; der Meßias als 
der größeite Sohn Judah ifts bier als Ideal.“ 

73 Doch ich vermeile faft? zu lange bey diefem, dem erften 
Stück des Auffhluffes im Segen Jacobs, aus dem Charafter 
feiner Söhne; ich Tomme auf die zweyte Bemerkung, die ich Hinzu 
zu fügen habe, wie jo ganz der Geift des fterbenden Vaters in 
dem Lande der Verheißung fchmebt, nach welchem felbit feine 
Gebeine lechzen. In der Ferne dort baut er feinen Söhnen Hütten 
und giebt ihnen,* was jedes Herz wünſchet. Dem Jehudah ein 
Land, vol Wein und Milh, und den SKönigsfcepter unter feinen 
Brüdern: dem Sebulon das Ufer des Meers, eine geftübte Aus- 
fiht auf Schiffe und Handel: Iſaſchar eine ſchöne ruhige Land⸗ 
ausfiht:5 Dan feinem Namen nah, das Kichteramt, wie Gab das 
Nachſetzen hinter den Feinden. So ferner. Wir finden bey jedem 


1) Sein Kleid wuſch er in Wein, 

2) der Meßias als Ideal Judah iſts bier als Urbild. 

3) mid 4) ihnen gleihfam, 

5) Lanbausficht, die meiften® (fo auch bey ihm und nach feinem Cha⸗ 
ratter) mit Dienftbarkeit verknüpft ift: 


— 56 — 


Stanme nit die genauefte Erfüllung, weil das Land nicht gam 
nah dem Sinn Jakobs und Mofes eingenommen und vertheilt 
wurde; allgemein aber iſts unläugbar, daß Iſrael fein Erbtheil im 
Lande der Gelobung beſeſſen habe, nach der Vorfchrift diefer veißa⸗ 
genden! Landcharte. Wo uns Umſtände der Erfüllung fehlen, 
müffen wir feine Geheimnifie fuchen, ſondern uns beſcheiden, daß 
wir in der jüdischen Gefchichte ja nicht Alles, bis auf den klein⸗ 
ſten Fled, fennen. Es ift biemit, wie mit jenem Ländchen im 74 
Lande der Amoriter, das Jakob dem Joſeph beſonders zutbeilet, 
1 Mof. 48, 22. oder wie mit dem Vater Melchiſedels. Sie find 
nur dadurch Geheimniffe, daß wir fie nicht wiſſen, daß uns unter 
den Fragmenten dieſer älteften Zeit Biftorifche Nachrichten zu ihnen 
mangeln. Wir mögen Gott nur für das danken, das wir haben, 
und der befte Dank tft ein gutes Verſtändniß. Nächten ein 
weiteres von Segen Mojes, dem Gejange der Deborah und andern 
Liedern. Leben Sie mwohl.? 


Sechster Brief. 75 


Sie wünjden, fo wie Juda, auch die übrigen Brüder vor 
ihres Vaters ? Bette ftehen zu ſehen; und jo mags denn feyn; ob 
e3 gleich bie und da nicht leicht ift. 

Berfammlet euch, ich will euch verfündigen, * 
Was euch begegnen wird in fpäten Tagen. 
Verſammlet euch und hört, ihr Söhne Jacob, 
Hört euren Vater Iſrael. 


1) Wir wiffen bey .... Erfüllung, weil uns zu viel an der Privatge- 
ſchichte der Stämme feblet; allgemein . . . . nach biefer erften weißagenden 

2) Segen und Liede Mofes .... Liedern. Ich babe das Stüd nicht 
ganz überjegt, weil e8 Michaelis, Schulz, Zeller u. a. neuerlich über- 
fest haben, und wir vielleicht bald die Ueberſetzung Mendelſohns, mit 
deſſen Pentatevch erhalten werben. 

3) vor Vaters 4) vertünben, 








Ruben, mein Erſtgebohrner, 

Du meine Kraft, der Erſtling meiner Stärke, 

Der Vorzug deiner Würde, der Vorzug deiner Macht, 
Geht, wie die ſtolze Welle dir vorüber; 

Du biſt der Erſte nicht mehr! 

Denn du beftiegft ! das Bette deines Vaters, 

Du entweyheteft mein Lager, da du es beftiegft. 

16 Denten Sie, mit welchem Spruche der Vater anfangen muß. Wie 
mit einem Seufzer verlohrner erften Kraft und Jugend ſetzt er 
Ruben, feine erfte Vaterfreude, noch einen Augenblid in jeine 
Geſchlechtskrone zurüd, um ihm folde auf Einmal und auf immer 
vom entweyheten Haupt zu nehmen. 

Simeon und Levi, Brüder (find fie) 
Mörderwaffen waren ihre Schwerter: 
Mein Herz war nicht in ihrem Rath, 
Meine Seele ſchaudert zurüd vor ihrer Mordverfammlung; 
Als fie vol Grimm den tapfern Mann erwürgten, 
Als fie von Blutgier voll den edlen Stier entneruten. 
Verflucht ſey ihr rachſücht'ger Zorn: 
Verflucht ihr hartverhaltner Grimm!“ 
Zertheilen will ich ſie in Jacob, 
Zerſtreun in Iſrael. 
Abermals ein bittres Andenken, deſſen erläuternde Geſchichte wir 
glüklicher Weiſe haben;*) ſonſt wäre alles unverſtändlich. Ihr 


*) 1Moſ. 34.! 


1) Stärke, Der Erſt' an Würde, der Erſt' an Macht. Er 
ſchoß, wie Waſſer dahin; nicht ſey er der Erſte! Du beſtiegſt 
2) Waffe der Mordthat iſt ihr Schwerdt. Mein Herz ſey nicht 
in ihrem Rath, Meine Seele ſchauert vor ihrer Zunft: Denn zor⸗ 
nig wärgten fie den Mann, Im Luft nach Blut entneroten fie den Stier. 
Verflucht ihr Zorn, der Wiltende! Berflucht ihr Grimm, der 
Sartverbarrende! 


1) „*) 1 Mof. 84. fehlt. 





— 58 — 


zufolge überſetze ich Mann und Stier wörtlich, ohne den Text 
zu ändern.! Sie entneroten den edlen Stier erft, fchnitten ihm 
gleihfam die Sehnen ab, und da wars leicht ihn zu tödten: bür- 77 
ftend nach feinem Blut lockten fie ihn die Schmerzen der Beichnei- 
dung, ? um ihn jegt, als Brüder, zu würgen — Die Seele Jacobs 
entjet fi” vor dem Greuel noch jetzo fo fehr, daß ers gleichſam 
für gefährlih hält, wenn fie auch im fpäteften Geſchlecht in Woh- 
nungen zufammen blieben: er zertheilet fie alfo. 
Den Segen Juda's babe ich neulich gegeben; er Hingt * berr- 

Ich auf die drey eriten, und der Vater felbft ſcheint fich in ihm 
zu erquiden und zu erheben; daher er die Bilder fo majeftätifch - 
langſam fortwälzet. Aber wie konnte ich in meiner Sprache auch 
dem Namen Judah die Deutung mitgeben, die er in der Urſprache 
bat? Lobpreiſer beißt er, und feine Brüder werden ihn 
preifen; das erfte Wort, der nur ausgefprochene Name belebt 
den Vater. Ich gehe zu Sebulon fort: 

Sebulon! am Ufer des Meeres wird er wohnen! 

Am Ufer der Schiffe, die Seite geftüst auf Sidon. 

Iſaſchar, ein knochiger Eifel, 

Der zwifchen zwo Tränfrinnen rußt. 

Er fieht, die Ruh ift aut, 78 

Das Land umber ift ſchön, 

Und neigt die Schulter zu tragen, 

Und dienet dem Wafferihlaud.*)5 


. — — — — — — 


e) ©. die Erklärung dieſer und anderer Stellen der Weißagung 
Jacobs im zweyten Theil der bebräifchen Poefie, S. 200. 227. u. f. 


1) ändern. Der Seele Jacobs fchauert vor zweyerley in ihrem gott- 
loſen Anjchlage; erftlih, daß er blutgierig war; zweytens, daß die Blut⸗ 
that auf fo unedle Art, mit dem verbaltuen Grimm, mit ber verftellten 
Verſchwiſterung und treulofen Sreundichaft ausgeführt wurbe. 

2) „ihn in die Schmerzen” (?) oder e8 fehlt „zu dulden“ 

3) fo ſehr, (flatt im minbeften daran Theil zu nehmen) daß ers .... 
Wohnungen (und Mordanfchlägen) zufammen 

4) Juda babe ich neulich gegeben, ver Segen Flingt 

5) Tribut. 








— 59 — 


Jit nicht der kurze Spruch auf Sebulon, wie eine freye lange See⸗ 
ausſicht; und der Charakter Iſaſchars dagegen (faſt auch im Ton, 
im Maas der Sylben,) die ruhige, vefte Stille des Laftthiers, 
befien Namen er befommt, dem die Lage feines Landes jo wohl 
gefällt, und das ruhig, feiner Bürde unbefümmert,! umber fieht. 
Ich darf, da Sie Homer gelefen, Ahnen vom unſträflichen? Cha- 
vater des Efels nichts jagen; wollen Sie aber feine neuere ſchönſte 
Lobrede lefen, jo Iefen Sie Buffon’3 Naturgefchichte.? 


(Der Richter) Dan wird Richter feines Volks, 
Mie Einer der andern Stämme fraels.? 

Eine Schlange wird Dan am Wege feyn, 
Eine Wurfſchlang' auf dem Fußſteg'.* 

Sie beißt dem Roß die Yerfe, 

Daß der Neiter rückwärts ftürzt. 

79 Sie haben nicht Urſach', aus der Gefchichte zu deuten: ® ob hier 
von der im Stamm Dan entiprungenen Abgötterey, oder gar vom 
Antichrift die Rede fey, der aus ihm kommen würde. Mich dünkt, 
bier ſey blos von der Klugheit zu urtheilen, und von ber ver- 
ſchlagenen Lift die Rede, die in Dans Namen und Charalter lag, 
und durch welche fein Geſchlecht Roß und Mann, d, i. den? über- 
legenften Feind bezwingen würde. Erfüllt ift die Weifjagung wor⸗ 
den, denn Dan befam ein Land voll Berge, und’ enger Thäler, 
voll Hölen und Fußpfade, wo er feine Kunft bemeifen fonnte, Die 
damals und ja auch noch jet im Kriege, zumal ala Bertheidigung 
feines Landes, rühmlich galt und gilt. Daß Dan fein Stammes 


1) dem die Lage fo wohl gefällt, das fo ruhig, feiner Bürde jo un- 
befiimmert, 

2) unfträflihen, Ehrwürdigen 

3) fo lefen fie Buffon. Das unſchuldige Thier bat die Feder bes 
edeln Schriftfteller8 auch mehr verdient, als viele feiner fprechenden Brüder, 
die gewöhnlich gelobt werden — — 

4) Der Richter, Dan wird .... Wie Einer der Stammesfcepter Ifrael®. 

5) Fußſteig'. 6) Ich mag aus der Gejchichte nicht deuten: 

7) durch fie fein Gefchleht Roß und Mann, den 


— O0 — 


fcepter, feine Würde und Anfehn mit andern Brüdern bekräftigt 
wird, bezieht ſich auf feine Geburt. Er war der Sohn einer 
Magd, und zwar der erfte berfelben; Jacob abelt und Iegitimirt 
ihn aljo gleihfam im Namen aller feiner übrigen Brüder dieſer 
Abkunft und fpielt zugleih auf feinen Namen und Charakter an, 
da er, wegen feiner guten Anjchläge, vielleicht mit Rath unter 
feinen Brüdern galt und in Anfehen ftund. — — Nun folgt ein 
dazwiſchen geichobener Seufzer, über deſſen nähere Veranlafiung 
auf diefer Stelle ich nichts beftimmen mag: ! 

Auf deine Hülfe hoffe? ich, Jehovah. 
Iſts eine bloße Erholung, ein gejchöpfter Ruheſeufzer des ermat⸗ 
teten Vaters ? oder iſts Hinüberbiid ind Land ber Väter, mit dem 
Wunſch eines fanften Ueberganges, und einer Erlöfung in zulünf- 
tiger Noth nach Lolalumftänden der Wohnung Dans? ? oder end- 
lich erinnert ſich Jacob, bey dem, was er eben über Dan aus 
ſprach, ähnlicher Umftände, Nachftellungen und Errettungen feines 
Lebens, und dankt Gott für geleiftete Hülfe? Sehen Sie, mas 
ih darüber andersiwo*) gejagt habe.* 

Gab, (der Kriegshaufe.) 

Haufen fallen ihn an; 

Er fällt in den Rüden fie an. — 
Ich vermag die dreyfache Wortähnlichkeit nicht zu überſetzen. 

Bon Aſſer kommt Delreihes Brod, 

Er iſts, der Kön’gen niedliche Speife reicht.® 
Auch Hier liegt vielleicht 6 die Veranlafiung des Bildes in Affers 
Geichidlichkeit und Leben. Wir willen aus der Geihichte Iſaaks 


*) Bom Geift der Ebräifchen Poefie Th.2. &. 203. 204. 


1) Seufzer, beffen . . . . ich nicht verſtehe. 

2) hoffte 3) Ueberganges? („und — Dane?“ fehlt.) 

4) Hülfe? Dem lebten gäbe ich nach der Geidhichte und dem Eha- 
ralter Jacobs beynahe ven Borzug. („Sehen — babe.” fehlt.) 

5) Bon Afler kommt fett Brod, Er bringet niebliche Königsſpeiſe. 

6) Auch Bier nehme ich 


— 61 — 


mit! Efau und Jacob, wie fehr in diefen alten einfachen Hirten- 

81 zeiten die Zubereitung einer nieblichen, wohlſchmeckenden Speiſe 
geehrt warb, und daß ſich die Hand der Söhne felbft defien nicht 
ſchämte. Vielleicht empfahl fich Aſſer biemit vorzüglich feinem 
Vater; und es wird die Gelegenheit zur Ausfiht auf fein Land.? 
Nichts ift mehr im Geift der Hirtenzeiten als dieſe? Simplicität 
veranlaffender Umstände — — 

Naphthali, eine wohlgeſchoſſene Terebinthe, 

Die ſchöne Wipfel wirft.* 
Diefe Lesart, die auch alte Ueberfegungen haben, und wie mid 
dünkt, Bochart zuerft in Gang bradte, bat im Bujammenhange 
vor der gewöhnlichen Vorzüge; wiewohl ih der Schönheit des 
andern Bildes’ wegen faft wünfchte, daß man nur das Tan damit 
reimen könnte. — Es folgt auf viele kleine Sterne ein fchöner 
glänzender Abendftern, Joſeph; nur er ift den Hüllen der Worte 
nad bie und da noch mit Wollen überzogen. 

Der Zeig einer frudtbam (Mutter) ift Joſeph, 

Der Zmweig einer Fruchtbarn über der Duelle, 

Seine jungen Sproffen jchieflen die Mauer hinauf. 

82 So bätte ich Luft, ftatt der gewöhnlichen Lesart, die weder gram- 
matiſchen noch geiftigen ® Zujfammenhang hat ober giebt, meiftens 
mit dem Samaritaner und Araber zu leſen, fo daß? ih in der 
erften Zeile gern das Andenten der Mutter Joſephs, der geliebten 
Rahel beybebieltee Sie wird einem Weinftod verglichen (ein 
gewöhnliches Bild der weiblichen Fruchtbarkeit Pi. 128., 3. u. a.) 
der neben der Duelle fteht; fie Bat ihrem Vater zwar nicht viele 
Söhne, aber mit dem Einen Joſeph, ihrem Fruchtzweige, viel 


1) Segensgeſchichte Iſaals über 2) Land und Schidfal. 

3) diefe Unſchuld und 4) giebt. 

5) Dies ift die Eine Lesart, die auch alte Ueberfetsungen haben, und 
wie mich dünkt, Bochart zuerft in Gang gebracht hat. Sie hat im Zufam- 
menbange vor der andern Vorzug: 

6) grammatifch noch geiftig 7) fo do, daß 





— 62 — 


gebohren, deſſen junge Zweige, Jacobs Enkel, die Mauer hinan⸗ 
ſchieſſen, wie fröhliche Reben.*) 

Nun verläßt Jacob das Bild, und muß der beſondern Lebens⸗ 
geſchichte Joſephs wegen ein andre wählen. “Der ſchöne Joſeph 83 
konnte nicht friedlich aufſchieſſen; herbe Schickſale warteten auf ihn: 

Sie quäleten und ſchoſſen auf ihn, 

Und feindeten ihn an, die Pfeileregierer; 

Dod blieb fein Bogen veft, 

Seine Händ’ und Arme ftärleten ſich. 

Von den Händen des mächtigen Gottes Jacobs, 
Bom Namen Des, der Iſrael auf feinem Stein bewadhte,? 
Bon deine Vaters Gott; der bir geholfen! 
Bom Gott Schabbai; der dich fürber fegnet; * 
Segen der Himmel von oben, 

Segen des Abgrunds brunten, 

Segen an Mutterbrülten, an Mutterleibern.* 


Die Segen deines Vaters fteigen mächtig 
Weber die Segen meiner Väter 
Zum Heiz der Berge der Vorwelt hinan: 5 


*) Wie ſchön das Bild ift, fehen Sie felbft; auch iſts ganz Morgen: 
ländiſch und Ebräifch. Pf. 128, 3. fteht der weibliche mütterliche Weinftod 
auch an einer Wand und fchießt fröliche Reben, und daß das “TO vor fi 
vorzlüglih auf die Weinrebenwand pafle, Bat Schultens bewiefen. Mit 
Einem Bilde werben alfo Mutter, Sohn und Entel gelobt, jene betrachtet 
fib in der Quelle, und freut fich ihrer Reben und Sproffen. Sie fehen, 
bag ih »2M2x 22, das ich fr beſſer und auch für hebräifcher halte, als 
Mex 22 punktive. Dünkt Ihnen das Andenten der Mutter zu fern: fo 
überfeten Sie gleih, Ein fruchtbarer Zweig ift Joſeph, und laffen 
e8 eine Anspielung auf feinen Namen feyn.!. 


1) Entel, fhon .... Nebenzinten. 2) der Iſraels Stein bewachte, 

3) der dich gefegnet; 4) Segen der Mutterbrüfte, ber’ DMutterleibe. 

5) Ueber die Segen der ewgen Berge, Den Reiz der ewgen Hügel 
binilber 

1) „Wie — ſeyn.“ folgt in A im Tert. 


— 68 — 


Sie werden kommen auf Joſephs Haupt, 

Auf die Scheitel des Kronenträgers unter feinen Brüdern — ! 

84 Ich kenne nichts, das über den Schwung dieſes Segens ginge,? 
den Mofes in dem Seinigen felbjt nachahmet, und nicht zu über- 
treffen vermag. Joſeph fteht ala ein Beneideter und Verfolgter 
da, unter dem Haufen feiner Brüder,’ fie haſſen ihn, fchieffen auf 
ihn bittre Pfeile; Er, der Eine gegen Viele, fteht veft, feines 
Bogens Senne bleibt ftark, feine Hand leicht, fein Arm mädtig 
und bemeglid. Kann ein treffenderes Bild von bittern Schickſalen 
in jungen Jahren des Lebens, noch mehr von Scidjalen, durch 
Neid, Haß und Verfolgung der Brüder gefunden werden? Gie 
verwandeln Spiel in Streit, viele rüften fi) gegen Einen, der 
alle befteht. — Und durch wen bejteht er alle? bier fommt Jacob 
auf die Geſchichte feine eignen Lebens. Er bat gerungen mit 
dem Mädtigen, der ihm den Namen Sfrael gab: Diefer, der 
ftarfe Gott Jacobs, bat Joſeph geftärket: der gütige Gott 
Jacobs, der dort über dem nadten Stein machte, ald aud Er * 
verfolgt, allein und in der Fremde ſeyn mußte, war der Schutz⸗ 
gott feines Sohns in ähnlichen Umftänden der PVerlaflung, Ein- 
ſamkeit und Fremde. Geht etwas über das Nahe und Väterliche 
der Bilder? Und ungezmweifelt ift dies der Sinn derſelben.“ Als 
Mofes in feinem Segen an dieje Worte fommt, verwandelt er 
85 „den Hirten, den Schuggott auf dem Stein Jfraels,” in 
den Gott, der ihm im Buſch erichienen; er verftand es alfo, 
wie wird verftehen. Jacob und Moſes geben dem mohlthätigften 
der Stämme allen Segen, mit denen ihnen Gott felbft erfchienen 
war, und fi ihnen offenbart hatte. Daß der Gott, der ſich dem 
Jacob im Traum zeigte, gleichſam ald Hirt, ala Auffeher feines 
Schickſals über ihm wachte und fegnend auf ihn blidte, daß Jacob 


1) Kronenträgers feiner Brüder — — 

2) nichts über den Schwung dieſes Segens, 

3) als Beneideter und Berfolgter unter einen Haufen Brüder 
4) als Er aud 5) Und es ift der Sinn ungezweifelt. 


— A — 


von dieſer Erideinung an die Gunft feines Gottes gleichfam 
zählte, daß ihm ber Stein beiliges Denkmal und Gottes Haus 
blieb, das alles wiflen wir, und wie fonnte nun Jacob feiner 
Lebensart angemefjener dran denken, von mem konnte er den 
Wohlthäter jeines Alters würdiger ſegnen, ald vom Schub» und 
Hülfgott feiner einft auch verlafienen Jugend ?*)! Und nun, nod 86 
nicht zufrieden, feinem liebften Sohn das Beite aus feinem. Leben, 
alles, was Er von Gott erhalten, gegeben zu haben, legt er auch 
ale Segen feiner Vorfahren auf fein Haupt.” Den Abraham 
hatte Gott unter dem Namen Schaddai gefegnet; auch Abrahams 
Segen fol auf Joſephh kommen. Iſaak hatte den Jacob mit 
Segen des Himmels von oben, dem befrucdtenden Thau, 
mit? Segen der Tiefe drunten aus dem Abyfjus, mit Fettig 
feit der Erde gefegnet; beydes giebt er dem Joſeph mit Wucher: 
denn ftatt Korns und Weins bie Fülle, giebt er ihm Ueberfluß 
an ber beiten, der menſchlichen, mütterliden Fruchtbarkeit, 
glücklich zu empfangen und gefund zu tränlen. Ja noch nicht 


*) Aufı Joſeph können die Worte „Hirte, Auffeher des Steind“ nicht 
gehen: ? denn das fortgehende 2 des Parallelismus bezeugtd, daß eben Gr 
von biefen Hirten gelegnet werben foll, wie Mofes ihn von ber Flamme 
im Buſch fegnet. Kurz, nichts wird eigentlicher und leichter, als wenn 
man DON als DON punltirt, wie auch alte Ueberfeungen gelefen. Jacob 
ſelbſt machts Mar,® da er den mädtigen Ringer und ben Wächter bes 
Stein in der folgenden Zeile ausprädlich feinen Gott nennet.! 


1) dran denken, al$ wenn er ihn den Hirten (Wächter, Bewahrer) 
des Stein nennet? Fels konnte ers nicht nennen, denn das ward 
nicht; und wenn Moſes dies Wort gebraucht, iſts ein ganz anderes Bild 
von Sinai unb den Felſen Arabien bergenommen, die ja diefe Gefchichte 
nicht fennet. 

2) Gott nennet, und nun, noch . . . gegeben zu haben, aud alle 
.... Haupt legt. 

3) oben, frudtbaren Thau, und mit 


1) „Auf Iofepp — nennet.“ folgt in A mit den angegebenen Änderungen nad 
„nicht kennet.“ im Text. 
2) die Worte noch weniger geben: 3) Sonnentlar, 





— 65 — 


genüget, holt Jacob neue Kräfte, nimmt alle Reize der alten Welt, 
Gewürze! und Früchte der paradieſiſchen Berge, jener ewigen Hügel 
der Vorzeit, die damals wahrſcheinlich im Andenken lebten, als 
eine Zt, als eine Welt von Köftlichkeiten, die nicht mehr ſey — 
alle nimmt er zufammen, und führet fie in ihrem buftreichen 
Kranze auf Joſephs Haupt, der hier in feinem ägyptifchen Schmude 
ala Kronenträger da fteht, und diefen? Kranz aus allen Koftbar- 
feiten der Vorwelt auch fo vorzüglich verbiente.? | Daß dies der 
Sinn der Weiffagung fey, bezeugt theils der Parallelismus, theils 
87 die Lesart der meiſten“ alten Weberjegungen; am meiften auch der 

Segen Moſes, der dieſe Worte gerade fo verftehet und anmen- 
det.*) — ch darf nicht Verzeihung fobern, daß ih fo ausführlich 
erlläre: denn der Enthufiagmus des Segens in feinem jchönen 
wachſenden Schwunge wird Sie fortreißen, wie er mich fortgerißen 
bat. ° Benjamins Spruch ift furz; fein Charakter iſt Wolfesart 
und braucht nicht viel Worte. 

Benjamin, ein Wolf, er raubet früh,® 

Und zehrt den Raub, und theilt noch Abends Beute. 
Ein unermüdeter, muntrer, glüdlicher, freygebiger Abentheurer — ? 


vermuthlich Benjamins Charafter. 
* 


* * 
*) Man vergleiche in Anfehung einiger Lokalumſtände den 2. Th. vom 
Geiſt der Ebräiſchen Poeſie S. 205 = 9. 


1) Kräfte, thut noch einen Schwung, nimmt alle Fruchtbarkeit ber 
alten Welt, alle Nieblichleiten und Delilatefien, und Gewürze 

2) diefen ewigen 3) fo einzig verbienet. 

4) tbeil8 ber offenbare Parallelismus, theils bie Lesart bed Sama- 
ritanerd und der meiften 

5) erfläre: denn faft Reibe für Neibe ift der Segen oft mißverftan- 
den, und in feinem ſchönen, immerwachſenden Schwunge felten ganz beber- 
ziget worben. 

6) Wird rauben früh, 

7) „Ein — Abentheurer —” dafiir in A: So viel hatte er nemlich, 
nachdem er Tag über davon gezehrt hat, fie Abends noch andern auszutbeilen, 
und Viorgend früh wieder mit neuer Munterkeit, mit neuem Glück zu jagen — 

Herders fünmtl, Werte. X. 5 





— 66 — 


Ob meine Zeit gleich kurz, und mein Weg! noch weit iſt, 
fonn ih doch nicht umhin, da ih Einmal an diefes Stüd 
gegangen bin, nid an ein andres, noch ſchwereres zu machen, 
das bievon Erläuterung nimmt, oder ihm auch melde giebt — es 
it der Segen Moſes. Er ift ganz verändert: benn Moſes 88 
jegnete nicht ala Vater, jondern ala Geſetzgeber, der feinen eignen 
Stamm hatte, und allen im Namen Jehovah's? nur vorftand. 
hm 3 ftanden feine Söhne um das Bette des Vaters; ſondern ein 
Sirael lag vor ihm mit feinem Heer. Ein grofies, von Wanbe- 
rungen faft ermattete® Voll, das ihm viel Kummer gemacht, das 
Gott * auf manderleyg Art verſucht hatte, und jest fehnlih nad 
Ruhe ſeufzte. Alle diefe Umftände alfo, womit fih auch einzelne 
Stämme in der Wüfle ausgezeichnet, feine und ihre Lage, beyder 
Bedrängniffe und Hoffnung, geben den Ton und Inhalt dieſes 
zweyten Segens: fie machen eine Einleitung nöthig, bie Jacob 
nicht nöthig Hatte, fie geben einen Schluß, der dort nicht war, 
meiftend auch andre Bedürfniffe, andre Wünfche, obgleich nicht 
zu läugnen ift, daß der Gefang des Altvaters dem Geift Mofes * 
vorſchwebe. Hören Sie den feyerlihen Anfang, mit dem er fi 
zuerft legitimiret: 

Sehovah kam vom Sinai, 
Gieng ihnen vom Seir auf, 
Brad auf im Glanz vom Berge Parar, 
Er kam von Kadeſch Bergen, 
Bon feiner Rechte ſchoß das wallende Feu'r. 
Wie liebet er die Stämme! 89 
AM Deine Herrlichkeit ift um Dich ber, 
Und diefe Dir zu Füßen 
Empfangen Deines Mundes Wort. ® 


1) Plan 2) Gottes 3) Hier 4) gemadt, Gott 5) Mofes wie _ 
6) Gott fam von Sinab, Gieng ihnen auf von Seir, Brad 
auf im Glanz vom Berge Paran, Erfhien mit Myriaden feiner Hei- 
ligen, In der Rechte fein Feuergeſetz. Ein Bater Tiebet er die 
Völker. All' ſeine Heiligen an deiner Hand, Umfchlieffen dei⸗ 











— 67 — 


Welch ein Prachtvoller Anfang! Moſes gebietet mit ihm die feier⸗ 
lichſte Ruhe, ein ehrerbietiges, kindliches Schweigen. In aller 
Schreckenvoller Herrlichkeit erſcheint Gott und wird feines Volkes, 
ſeiner Kinder väterlicher Lehrer. Sie haben ſich zu ſeinen Füßen 
gelagert, und nun wird Moſes Mittler: 


Durch Moſen ward uns das Gejeh, 

Das Erbtheil der Gemeine Jacob; 

Er war in Sirael ein König, 

In der Berfammlung aller Volkesfürſten 

Zujammt den Stämmen Sfraels.? 
Alſo legitimirt, als ihr Fürft unter Fürften, durch den Gott ihnen 
ihr herrliches Gejeh gegeben, der auch jest ala Mittler der?’ 
Stämme rebet, hebt er an: 


Ruben lebe! fterbe nicht völlig aus! 
Seine Mannſchaft werde zahlreich wieber! * 
Db der Segen? auf Ruben? oder nicht vielmehr auf den aus- 
90 gelafjenen Simeon fey, defien Zahl 4. Mof. 26,,14. fehr herunter- 


ne Füſſe, Zuhorchend deinen Sprüchen. 

1) „Welh ein — gelagert," dafür in A: Ich verftehe die Worte, 
wie fie jest find nicht anders, als daß Gott einen beilgen Kreis um fein 
geliebtes Iſrael fchlieflet. Die himmlifchen Heere, mit denen er von Sinai 
aufbrach, werben Diener des Geſetzes, Lagern fih um SIfrael, und horchen 
dem Gefeß, jeto von Iſraels Lippen zu. Sie ſehen, wie leicht die Aenbe- 
rung wäre, durch die fih das ganze Bild auf die Gefetgebung felbft, auf 
Gott bezöge: gnug indeſſen, Moſes gebietet mit diefem Anfange die feyer- 
Tichfte Ruhe, das edelſte Schweigen. In Aflaphs 5Otem Pfalm ift eben 
eine folhe Sotteserfheinung zu folden Endzweck, offenbar mit Zügen 
dieſes Bilde. Der Herr mit allen feinen Heiligen ift da, und ruft jeine 
Heiligen der Erde: der glänzende Kreis bat fich gelagert, 

2) Er warb” durch Recht ein König, Berfammlet waren bie 
Häupter des Volks Mit ven Stämmen Ifrael. 

3) als ihr ſelbſtgewählter Fürſt, duch .... au als Mittler bes 
Vaters der 

4) Ruben lebe! fterbe nicht! Sein Kleine® werde groß! 

5) Ich folge dem Samaritaner, der den beten Parallelismus giebt; 
ob aber der Segen 

5* 





— 8 — 


gekommen war? oder warum Simeon ausgelaſſen wäre? mag ich 
nicht entſcheiden. Der Alexandriner hat ihn in den zweyten Vers 
eingeſchaltet; ich wage aber nicht, ihm zu folgen. 

Und dies für Judah. Er ſprach: 

Höre, Jehovah, die Stimme Judah, 

Zu ſeinem Volke führ' ihn ein. 

Sein Arm wird für ihn ſtreiten, 

Und Hülfe von ſeinen Drängern wirſt du ihm ſeyn. 
Wie anders iſt dieſer, als der Segen Jacobs, über Judah! Vor 
Augen ſcheint ihn Moſes gehabt zu haben, ſonſt wüfte ich das, „zu 
feinem Boll” nit zu erflären. Wahrſcheinlich? iſts das ihm 
verjprodene Zoll, das fi nach einem Segen, ben jedermann 
im Gebädtniß hatte, ihm willig unterwerfen follte. Aber 
wie matt ift diefe Stimme gegen jene. Dort ein mutbiger, rau- 
beöftarfer Löwe; bier ein Stamm, der nad dem Ende der Wall- 
fahrt dürfte. Moſes giebt ihm nur einen Wint, daß auf die 
Kraft feines Arms bei Einnahme des Landes gerechnet ſey, und 
wünſcht ihm, was er fich felbit wünjchet, Beyftand Gottes, wenn 
fein Arm felbft nicht hinreichte. 

Zu Levi ſprach er: 

Dein Licht und Recht, Jehovah, 

Bleibe deinem ermählten Mann,? 

Den du verſuchteſt am Verſuchungsort, 

Und babertejt mit ihm am Haberquell.® 


Er ſprach zu feinem Vater, feiner Mutter: 
„Ich kenn' euch * nicht!“ 

Und kannte feine Brüder nicht, 

Und kannte feine Söhne nicht. 


1) erflären. Daß es die Bäter in der Erbe ſeyn follen, ift nicht zu 
denken; wahrjcheinlich 

2) Dein Licht und Recht, Es bleibe deinem erwählten Manne 

3) beym Haderwaſſer. 4) ihn 


— 69 — 


So werden Sie auch dein Gebot bewahren, 

Und balten über deinen Bund: 

Sie werden Jacob deine Rechte ehren, 

Iſrael dein Geſetz. 

Sie werden Weihrauch Dir zum Wohlgeruch anzünden, ! 
Brandopfer bringen deinem Altar. 


Sehovah, jegne feine Kraft, 
Nimm an gefällig jeiner Hände Werf. 
Zerſchlage fie, die wider ihn ſich Iehnen,? 
Und feine Häfler, daß fie nichts vermögen. 


Daß der Sprud ein Gebet an Jehovah fey, ift offenbar, und der 

92 Inhalt deffelben im Ganzen ift eben fo fihtbar. Wir mwiflen aus 
der Geſchichte, daß Levi, befonders das Geſchlecht Aarons über 
feinen erhaltenen Vorzug Neider und Feinde batte; wider dieſe 
flehet dies Gebet auch für die Zukunft göttlihen Beyftand. Zus 
gleih ift die Strenge ihrer Pflichten mit eingewebt, daß fie nah 
dem Beyſpiel ihres grofien Pater, des erften Hohepriefters,? in 
rechtlichen Ausſprüchen weder Vater noch Mutter kennen müßten, 
und Licht und Rechtſchaffenheit, d. i. erleuchtetes, gerechtes Urtheil 
allezeit verwalten * laſſen ſollten. 

So weit ift fein Zweifel. Ueber die eingemwebte Gejchichte 
Aarons ift dies meine Meynung Zu Kades in der MWüfte Bin 
(4 Mof. 20.) murrete dad Volk wider Mofen und Aaron, um Waf- 
fer; der Ort befam den Namen des Haderorts und Hader- 
waſſers, wie jener in Raphidim. (2 Mof. 17.) Aaron bielt fich, 
wie es fcheint, gegen das Boll, und vielleicht felbft gegen ſein 
Gefhleht, den Stamm Levi, tapfer; mwenigftens fagt die Gejchichte 


1) Sie haben bein Gebot bewahret, Und werben halten beinen 
Bund: Sie werden beine Rechte Jacob lehren, Iſrael dein Geſetz. 
Sie werden Weihrauch vor dich legen, 
2) wider ihn aufſtehn, 
3) „nah — Hohepriefters,” fehlt. 4) vorwalten (?) 


— 70 — 


nichts von ſeiner Schwachheit, und ſetzt ihn zuerſt, ſo fern er 
die Parthey ſeines Gottes nahm, ausdrücklich Moſes zur Seite. 
(4 Moſ. 20, 1:8.) So weit war feine Treue und Standhaftig- 
fett rühmlih: Moſes bringt fie hier noch (V. 9.) ala eine wohl: 
beftanpne Probe Gott ind Andenten und feinem Geſchlecht, als 
Borbild vor Augen. Er will, daß Gott die Familie des Mannes, 
den er ſelbſt erwählte, der jo mandes für ihn ausjtand, dem 
feine Tage fo bitter wurden, nicht unterfinfen laffe; fie werde, 
wie fie bisher fein Gebot bewahret, auch fünftig ihm treu feyn, 
und feine Gejege unter Iſrael befolgen. So meit ift das Anden 
fen gut; aber Schwachheit miſchte fich zuletzt auch mit der Stärke. 
Mofes und Aaron mißtraueten: fie ſchlugen den Fels, fie fprachen 
Zweifelworte vorm Volk; da haderte Gott mit ihnen, Aaron mußte 
entlleidet werden, und fterben, Mofes ſelbſt durfte das verheiſſene 
Land nicht fehen — die traurige Gefchichte fommt dem Segnenven 
eben bey feinem Stamm vor Augen. Er wünſcht, daß fie nicht 
‚ wieder komme, daß das Richteramt im Namen Gottes, (dad Licht 
und: Recht,) nie! müſſe vom Geſchlecht genommen mwerben, wie es 
damals Aaron genommen, und feinem Sohn gegeben ward. Er 
warnt Levi, bringt ihm die Treue und Standhaftigfeit Aarons, 
zugleich aber auch die traurige Gejchichte vor Augen, wie fie ihm 
natürlich jest in den legten Momenten feines Lebens, wo er bald 
jelbft die Schuld derfelben bezahlen, und mit feinem Stamme das 
Land nicht ſehen fjollte, vorlommen mußte? Der Segen iſt in 94 
biefer Verbindung ſehr beſcheiden, Familienmäßtg und ernftlich.? 


&D 


3 


Zu Benjamin fprad er: 
Des Herrn Geliebter, er wird ficher wohnen, 





1) nie mehr 

2) Standbhaftigfeit Aarons vor Augen, die diefer Anfangs bewiefen * 
batte, er braucht die traurige Gefchichte, wie fle ihm natürlich ift in ben 
legten .... ſehen follte. 

3) ernftlih. Einige Verſe vorher (Rap. 32, 50. 51.) fagt Gott zu 
Moſes felbft die Gejchichte. 





Es dedet ihn der Hocerhabene 

Den ganzen Tag, 

Und läßt ihn ruhen zwifchen feinen Flügeln.! 
Sie jehen, daß ich in der zweyten Zeile mit dem griechiſchen Ueber⸗ 
ſetzer pyhy ftatt des zweyten müßigen 77>9 lefe; denn ſonſt paft 
feine der drey Zeilen zu einander.” Wie der alte Jacob dort fei- 
nem jüngften Sohne, von dem er fih ungern ſchied, Sicherheit 
und Schuß Gottes auf feinen Weg nach Aegypten wünſchte, 
und Judah denjelben feinem Vater fo theuer verbürgte;3 fo hier 
der alte Moſes bey dem Zuge befjelben ing Land der Verheiffung. 
Das Bild des Hocerhabnen, der ihn bebedt, ift von der mitzie- 
benden Wolfe Gottes, oder vielmehr von dem Adler, der über 
jeinen ungen jchwebet, (5 Mof. 32, 11.) einem Lieblingsbilbe 

35 Mofes, hergenommen.* Zwiſchen feinen Schultern beißt alfo 

auf feinem Rüden, zwifchen feinen Flügeln, abermals nad dem 
Bilde Mofes an mehr als Einer Stelle. Ein ſchönes Gemälde, 
liebreih und zart empfunden, das aber fehr verfannt worden. ® 


1) Des Herrn Geliebter wird in Ruhe wohnen, Der Höchſte ihn 
bebeden ben ganzen Tag, Ihm zwifchen feinen Schultern wohnen — 

2) ftatt 759 leſe; wir haben ihm Dank, daß er uns biefe Lesart 
behalten: denn .... einander. Wollte man auch mit dem Scamaritaner in 
ber eriten Zeile ftatt 77 TI ID Tefen: fo könnte man von der Hanb Got- 
tes nicht fagen, daß fie in Sicherheit wohnte, welches offenbar auf Ben- 
jamin, den Geliebten Gottes, wie er einft ber Geliebte feines Vaters 
war, gebet. 

3) wänfchte; („und — verbürgte;" fehlt.) 

4) ift entweder von .... Gottes, ober von dem .... Moſes, oder 
von beyben m eil dieſes doch das Bild von Jenem wurde, bergenommen. 

5) Zwiſchen feinen Schultern beißt über feinem Haupt, fo, baß 
er feine beyden Schultern decket. In Benjamins Erbtbeil warb der Wunſch 
erfüllet,; denn er wohnte fiher, und die Gegenwart Gotte8 kam auf feine 
Berge, Moria und Zion, zu wohnen. So wird alles Ein Bild, und auch 
bie Worte: den ganzen Tag, find nicht unbedeutend. Die Wolle Gottes 
follte dort immer ruhen, Benjamin nie weiter in beichwerlicher Wallfahrt 
ziehen dörfen — — Die Berfchreibung des 7729 war deßwegen leicht, 
weil Ein Wort weiter fogleih 1799 folget — — 


— 172 — 


Zu Joſeph ſprach er: 

Gejegnet von Jehovah fey fein Land, 

Mit Ihönen Gaben der Himmel von oben *) ! 

Des Abgrunds drunten. 

Was nur die Sonne föftliches treibt,? 

Was Föftliches die Monde zeugen, 

Was auf den Morgenbergen Beftes ſproßt, 

Mas Schönes je der Vorwelt Hügel trugen, ? 

Der Erde Köftlichkeit und ihre Fülle, 

Komm’ von der Gnade deß, der in dem Buſche wohnt, 
Auf Joſephs Haupt, 

Komm’ auf den Scheitel* des Gefrönten feiner Brüder. 
Ein erftgebohrner Stier ift feine Kraft, 96 
Des Einhorns Hörner feine Hörner, 

Mit ihnen wird er die Völker ftoßen 

Ang Ende des Landes hin. 

Das find die zehntaufend Ephraims, 

Die? Taufende Manafles. 


Daß Jacobs, und im legten Abfchnitt Bileams Segen Die 
Grundlage diefes Spruchs ſey, tft unverfennbar: noch immer ruhen 
die Wohlthaten Joſephs vor des Segnenden Augen, und feine 
Söhne werden in die reihe Schönheit ihres Vaters gelleidet ; indeſ⸗ 
jen dünkt mich des Urvaters Segen Zug für Zug urfprünglicher 
und ſtärker. Die Reihe von Segensquellen, die diefer nannte, 
ftrebten die Zeiten hinan, vom Gott der Erjcheinungen feines 


*) Ich leſe >3% ftatt >00 nach dem Segen Jacobs, weil fonft ber 
Parallelismus zerftüdt wird, und XD als Randglofle zwifchen ftünde; ber 
Sinn ift doch berfelbe. 


1) Mit Köftlichleit der Himmel von oben *) 
2) Was Löftliches die Sonne treibt, 

3) Was Löftliche® der Borwelt Hügel trugen, 
4) Haupt, Den Scheitel 

5) zebentaufend Ephraims, Das find bie 


— 73 — 


Lebens, zum Segen ſeines Vaters, Großvaters, bis er auf die 
älteſten Urhügel kam; er nannte alle, und zog ſie auf die Scheitel 
ſeines Diademtragenden Sohnes, der in ſolcher Zier vor ſeinem 
Bette ſtand, ausgezeichnet vor ſeinen Brüdern. Bey Moſes hat 
ſich dies verändert. Hier ſteht kein Joſeph mehr, hier liegt ein 
zahlreiches, nach Erquickung lechzendes Volk; womit lieberm kann 
ers, als mit dieſer Erquickung ſegnen? Moſes hat keine Reihe 

97 von Vätern, aus deren Munde er Joſeph fo nahe und eigenthüm⸗ 
ih fegnen kann, ala Jacob; diefe Glieder des Spruchs verändern 
fih alfo. Jacob nannte die Fette des Himmeld und der Erbe, 
al3 Segen feines Baters, den Er jest feinem Sohne zutheilt; 
in Moſes Segen fonnte nur die phyſiſche Quelle hiezu, gleichſam 
das Füllhorn der Natur, von oben, von unten, monatlid, jähr- 
ih, fern und nahe, jegiger und vergangener Zeiten genannt wer: 
den. — — Daß fi die lebten MWorte,! in denen dem Stamm 
Ephraim zehntaufend, Manaſſe nur: taufend zugetheilt werben, 
auf die Segensworte Jacobs und den Vorzug, den er Ephraim 
gab, 1 Mof. 48, 14-20. gezielt werde, merken Sie, ohne daß 
ihs nenne. Die Vergleihung tapfrer Kriegäheere mit Hörnern 
und Kräften des Stiers tft dem Drient ? gewöhnlich. 


Zu Sebulon fprad er: 

Freue dich, Sebulon, deines Ausgangs: 
Und deiner Hütten, Iſaſchar. 

Die Stämme werden Euren Berg ausruffen, 
Gerechte? Opfer dafelbft zu opfern. 

Der Meere Zufluß werben fte da ſaugen,“ 
Die geheimen Schätze des Sandes. 


98 Daß bey Sebulon vom Handel die Rede ſey, ift unläugbar; es 
fteht aber nicht, daß er felbft handeln, ober aufs Meer ausziehen 


1) B: Daß mit den legten Worten ° 2) it Orient 

3) Iſaſchar deines Bleibens in Hütten — — Ste werben Völker zum 
Berge ruflen, Rechte 

4) fie ſaugen 





— 74 — 


ſollte. Die Ausgänge V. 18. ſind' Ausgänge aus der Hütte, wie 
der Gegenſatz mit Iſaſchar zeiget; und jagen,” Sebulon werde 
ſeine Nachbarſchaft mit Sidon und der Küſte des Handels nutzen; 
durch mancherley Betreibſamkeit auſſer ſeinem Hauſe, werde er an 
ihren Schätzen, auch den Koſtbarkeiten fremder Nationen Theil 
nehmen, mit dieſen ſelbſt, ala den Handelsfreunden Sidons, bekannt 
werden, und da die Stämme nach Moſes Abſicht den nachbarlichen 
Thabor zum Berge des Herrn ausruffen ſollten, rechtmäßige Opfer 
da, und da allein zu opfern: fo würden auch dieſe, ihre Brüder⸗ 
ftämme an den Koftbarfeiten des Landes Antheil nehmen.“ Sebu⸗ 
Ion ift, nah dem Wink Jacobs, an bie Seite Sidons gelehnt; 
nad dem Bilde Moſes, ein Kind an feiner Seite, das den Zufluß 
des Meers fauget, Schäbe, die es nicht felbft Holet, aber ' bie 
ihm durch Sidon, feiner Nachbarſchaft und Betreibjamkeit wegen 
mit zufliefien. Auch das bier befonders genannte Glas, damals 
ein Reichthum von Goldes Werthe, war nicht eingebradte, jon- 
dern auszuführende Phöniciiche Waare. Man fieht auch aus diefem 
Segen, wie wenig Mofes ein tyrannijcher Pedant war, die Juden 99 
von allem, was nicht Jude war, blind zu ſondern. Sebulon 
follte die Nachbarſchaft Sidons genießen, und dur ihn und durch 
die Nachbarſchaft des Thabors auch die gefammten Stämme des 
Landes*). —® Iſaſchar dagegen blieb in feiner Hütte und freute 
fich feiner ſchönen, oft bey jedem Schritt neuen Lanbausficht, wie 
diefer Stamm wirklich ein ſolches Land überkam. 


*) ©. vom Geiſt der Ebräifchen Poefie Th. 2. S. 224. 


1) find offenbar nur 2) Beifien, 

3) bekannt werden, und fie auf ben Berg des Herrn ruffen, recht 
mäßige Opfer bafelbft zu opfern, d. i. fie die jüdiſche Religion kennen leh 
ren. Daß von feinen Ausgängen aufs Meer, noch weniger von Krieges: 
zügen die Rebe fey, zeigt auch die Ausmalung bes Bildes. 

4) fondern 

5) genießen, ja fogar fremde Völker zum Berge Jehovahs ruffen und 
fie unterrichten, rechte Opfer zu opfern; Bilder und Ausfichten, bie infon- 
derheit Jeſaias nachher hoch ausmalet. — 





— 5 — 


Zu Gab fprad er: 

Gelobet jey, der Raum für Gab gemacht! 
Wie ein Löwe wohnet er, 

Und raubte Arm und Scheitel. 


Des Landes Erftlinge erjah er fich, 

Da liegt des Helden Erbtheil veitbededt, 

Doch kommt er mit den Häuptern feines Stammes, 
Mit zu vollführen den Rechtſpruch Jehovah'z, ! 
Und feine Gerichte mit Iſrael. 


Der Sinn des Ganzen tft Har. Gad befam, der Geſchichte nach, 
jein erftes Theil am eroberten Lande; doch gelobte er an, mit 
100 Iſrael weiter zu ziehn und feine Kriege, die Gerichte Jeho— 
vahs, vollführen zu helfen. Jenes ift ver Raum, den Gott für 
Gab gemacht, meil er mit feinen Heerden bedrängt war: dies find 
die Erftlinge des Raubes, den er von Bajans Bergen verjhlin- 
get. Er muß ein tapferer Stamm gemejen ſeyn, wie es fchon der 
Segen ſeines Urvaterd ſagte. Moſes ehrt ihn mit dem Bilde bes 
Löwen, mit dem Namen bes Kriegesführers, zählet ihn 
unter die Häupter des Volks, und ift nicht gleichgültig dar- 
über, daB er noch ferner mitziehe, die Eroberung zu vollenden. 
Noch in Davids Geſchichte hat der Stamm Gab tapfere Män- 
ner*). — — 
*) Sp weit! ift alles Har; und auch das Wort 90 in der Mitte 
des 21. B. kann fiehen, wie es fteht,? und, mich dünkt, der Sinn ift deut⸗ 
ih. 7708 heißt bedachet, bedeckt,e alfo eigentlih in Häufern, in 


1) Er erfah die Erftlinge fih, Da ift das Theil des Führers in 
fihrer Wohnung, Und mit den Häuptern des Volks, Vollführt er och 
das Recht Jehovahs, 

1) „So weit — natürlich.” folgt in A mit den angegebenen Auberungen im Text. 

2) Har: nun aber Bat bad Wort 1720 in der Mitte des 21. B. fo viel Räthfeleyen 
veranlaft, das man bei ihm fogar auf den Sarg und das Grab Mofes gerathen, over häu⸗ 
fig den Xert verändert bat; ich laſſe alles ſtehen, wie es fteht, 

3) bedeckt, wie Wohnungen bebedit werben, 


— 16 — 


Zu Dan ſprach er: 101 
Dan, ein junger Löwe, 
Wird ſpringen auf aus Baſan 





Sie erinnern ſich der Wurfſchlange am Wege in Jacobs Segen, 
und denken an Dans buſchiges Berg- und Hölenvolles Land. 


Zu Naphthali ſprach er: 

Satt von Wohlgefallen, 

Bol von Segen Jehovahs, 
Befige Meer und Mittagsland. 


Zu After jprad er: 
Gefegnet ſey vor Jacobs Söhnen Affer! 
Sey angenehm vor feinen Brüdern, 
Er tunkt den Fuß in Del.! 
Eiſen und Erz ſeyn deine Riegel, 
Wie lang dein Leben, ſey aud deine Kraft. 


, Hier iſt Moſes Wunſch fehr veredelt; und der Beſchluß ift ganz 102 
in des Gejeßgeberd Seele, ver das herrliche, ewige Bundeslied 
machte. 

Niemand, o Iſrael, iſt wie Gott, 
Der in den Himmel fähret dir zur Hülfe! 
Auf Aetherwollken in feiner Pracht. 


Hütten verborgen. So wohnte Sad, fo wollte er wohnen, und Ifrael 
lebte nody unter Zelten. Er bat um Obdach für Heerben und Kinder: ba 
feine Bitte erfüllt warb, beveftigte er fich, bauete Häufer und Stäbte, deren 
Eine, ohne Zweifel ihrer Sicherheit und Bebedtheit wegen, ben Namen 
Sopban (4 Mof. 32, 35.) befam; er war alfo wirklich TED PPrIR, ber 
Kriegsführer, der jegt unter Dach und Dede wohnte. Gott 
hatte ihm Raum gemacht, ihn gefichert, ihm die Erftlinge des Landes gege- 101 
ben; der fterbende Mofes erinnert ihn alſo an fein Verſprechen, als an ein 
gegebene® Wort der Ehre, noch ferner mit feinen Brüdern zu ziehen, und 
den Streit anzuführen. Mich dünkt, die Erflärung ift buchſtäblich, ſchlicht 
und natürlich. 


1) Er, ber den Fuß in Del tandt 





— 1 — 


Aus feiner Wohnung redt der Gott des Aufgangs 
Herab den ew’gen Arm, 

Und ftieß vor deinem Angeficht 

Den Feind hinweg, 

Und ſprach: vergeh! 

Und Iſrael wird fiher wohnen 

Allein: 

Das Auge Jacobs fiehet 

Ein Land vor fih vol ! Korn und Wein, 

Und feine Himmel träufeln Than. 


Beglüdtes Iſrael, 

Mer ift dir gleich? 

Du Boll, das Gott errettete, 

Er, deiner Hülfe Schild, 

Er, deiner Hoheit Schwerbt. 

108 Sie werden (Schmeicheley) dir lügen, deine Feinde, 

Und du auf ihren Höhen 

Einhergehn ! 
Welch ein Gefehgeber, der alfo ſchloß! Welch ein Volk, das einen 
ſolchen Gott, ſolche Hülfe, foldhe Gejeggebung und Verbeißungen 
batte! 


104 Siebenter Brief. 


Mir kommen zu einem poetiſchen Stüd andrer Art, dem 
Siegsliede der Deborah. Hier ift Poefie und Geſang. Was 
dort im Liede Moſes und der Mirjam am rothen Meere tönt, tönt 
bier in Wechſelchören und beynah, möchte ich jagen, in nadı- 
ahmendem Tanze. Es iſt das älteſte Pindarifche Lied, das die 
Welt hat, und wenn Bromn’s Hypotheje, daß urjprünglich Poeſie, 





1) blicket Aufs Land voll 


4 ww) xy2y 


Muſik, Tanz und Gefehgebung verbunden gemweien, in allen Bey- 
ſpielen, die er anführt, jo gegründet wäre, ala bier; fo wäre fie, 
was fie nicht ift, Die richtigfte Hypotheſe. Auch hat dies trefliche, 
aber ſchwere Lied eine Reihe guter Bearbeiter gehabt*), und ich 
werde Sie! infonderheit auf die poetiiche Natur, den Siegs- und 
Jubelton des Liedes aufmerlfam zu machen ſuchen. Daß Sie die 
Gefhichte zum voraus leſen, ſetze ich vorher: 


Da fang Deborah, 

Und Barak, Abinoams Sohn, 

An diefem Tage fangen fie fo:? 
Daß angeführet die Führer Iſraels! 
Und willig folgete das Bol, 

Zobet den Herrn! 


Wie treflih fängt der Gefang an! Iſrael ift eine Republil, der 
Deborah nichts zu befehlen Hatte Dank an die Heerführer und 
ihre Gefolge ift aljo das Erfte. 


Ihr Könige, hört! 

Merkt auf, ihr Fürften! 

Ich dem Emigen, 

Dem Emwigen will ich fingen und fpielen, 
Dem Gotte Iſrael. 


Die vorige Ankündigung ift alfo nur Einleitung zum Dank an ein 
höheres Weſen, das Iſrael half. 


*) Rüdersfelder, Mihaclis, Teller, Fette, Schnurrer, 
Köhler u. a.! 


1) gehabt, von denen ich auffer Michaelis, Rüdersfelder, Teller, 
Lette, und den forgfältigften von allen, Schnurrer, befondbers nenne; 
welchen letzten ih aber leider! mır aus Auszügen fenne. Ich nute an 
meinen Borgängern, was ich nutzen kann, und mwerbe Sie 

2) Sohn Abinoams, An ... fie alfo: 


1) „*) Rüdersfcldev — u. a.” fehlt. 


— 79 — 


Ewiger, da du auszogſt 

Von Seir; 

Da du einherzogſt 

Durch Edom: 

Da bebete die Erde, 

Die Himmel troffen, 

Die Wolken goſſen. 

Berge zerfloſſen vorm Antlitz Jehovahs, 
Der Sinai vorm Antlitz Jehovahs, 
Des Gottes Iſrael. 


106 Das Lob fängt von Zeiten an, von denen auch päterhin bie 


107 


Ihönften Siegeslieder beginnen, vom Zuge Iſraels in der Wüſte, 
von feiner Gefehgebung und den eriten, herrlichften, mwunderbarften 
Siegen. Mofes felbit bat dazu 5 Moſ. 33, 2. den Anklang 
gegeben. Was der prächtige Anfang zu diefer Schlacht thue, wird 
uns das Lieb felbft jagen. 

In Tagen Samgar, des Sohnes Anath, 

Sm Tagen Jaels lagen db’ die Mege, 

Die Straffengänger giengen frumme Pfade. 

Es feyerten die Verfammlungen! Iſraels, 

Sie feyerten, bis ich aufftand, Deborah, 

Bis ich aufitand, die Mutter Iſraels. 
Das Land war unfider, die Strafien öde: wer fih aus feinem 
Haufe magte, ſuchte Schleichwege. Auch die Verfammlungen des 
öffentlihen Rath, der Staatöverwaltung blieben unbefucht; die 
Vormünder des Landes kamen nicht zufammen, noch weniger griffen 
fie ans Werk der öffentlihen Rettung oder nur Berathichlagung. 
Da magte fies, ein Weib, und ftand auf. Aus eignem Triebe 
ftand fie auf, mit Rath und That die Mutter Iſraels zu werben. 

Sie hatten fremde Götter ermwählet; 

Da war vor den Thoren Krieg. 


1) Richter 


— 80 — 


Kein Schild ward geſehen, noch Speer, 

Bey den Vierzigtauſenden Iſraels. 
Die erſte Zeile enthält die Urſache des Verfalls; die zweyte und 
folgende den ärgſten Verfall ſelbſt. Ueberall Krieg: niemand wagte 
ſich aus der Thür ſeines Hauſes: ringsum Anfall, und nirgend 
Vertheidigung. Kein Mann zuckte ſein Schwerdt, und ohne Zweifel 
war auch die Zahl der Spieſſe und Schwerdter äußerſt geringe 
in Iſrael, wie es Kap. 3, 31. unmittelbar vor dieſer Geſchichte 
anzeigt. Es koſtete der Deborah Mühe, auch nur den Barak zu 
überreden,! daß ers mit ihr wagte; um jo mehr bricht fie jetzt mit 
Dank und Lob aus für geleiftete Hülfe: 

Mein Herz, ed mwallt den Gebietern Iſraels zu, 

Und ihr Freywilligen unter dem Bolt, 

Lobet den Emigen. 

Ihr Neiter auf weißen Efelinnen, 

Ihr Siter auf köſtlichen Deden, 

Ihr Wandler auf Strafien, dichtet Gejang. 
In beyden Säten jehen wir die Stände der damaligen Republit, 
Gebieter, die aufforverten, Bolt, das folgte, beyden dankt 
Deborah. Reiter auf weißen Ejelinnen, und die noch dazu 
auf geftidten Deden über ſolchen faflen, wenn fie reifeten, d. i. 
Vornehme, Reiche, und folde, die zu Fuß wandern 
mußten; beyde follen an bie vorige Unſicherheit, V. 6. 7. 8. an 
die jetige Ruhe gedenken, und mit ihr anheben Gefang.? 

Ein Lieb zur Stimme der Hirten, die zwifchen den Schöpfe- 
brunnen 
Waſſer den Heerden theilen aus: 


1) bereben, 

2) Geſang. Daß das Sigen auf Deden zum vorhergehenden 
Reiten gehöre, ergiebt der natürliche Zufammenbang, vor- und rückwärts. 
Keine ſchöne Efelin, feine reiche Dede über fic gebreitet, war bisher auf 
Landftrafien ficher geweſen; jetzo iſts anders. — Alte follen alfo, die dadurch 
gewinnen, Reich und Arme follen Geſang dichten, wovon? 














Denn dafelbft werden fie fingen die Thaten Jehovah, 
Seine Thaten wird preifen das Landvolf Ifſraels, 
Dann zieht es fingend in die Thore das Volt Yehovahs.! 


Eine Einleitung zum Schlachtgeſange, der fogleih folgen wird.? 
Der Schauplat des Sieges foll auch der Ort des Gefanges werden 
und die Stimme des Volls, das den Sieg erfochten hat, ſoll aud 
das Andenken defjelben erhalten. Am Thabor, zwiſchen den Bächen 
109 des Kifon war geftritten: die Negenzeit und das Auffchwellen der⸗ 
felben Hatte ihnen zum Siege geholfen; bier fol alfo auch fünftig 
die Feyer dieſes Tages leben.? Sie wiſſen, wie ehr bey Hirten- 
völfern,, zumal im warmen Drient, Brunnen und Schöpfequellen 
die Verfammlungsörter de Volle find, mo ausruhend * Lieder 
gefungen, alte Thaten gepriefen werden; und wovon konnte in 
dieſer quellveihen Gegend würdiger und füglider gefungen 
werden, als von der That, die bier geihah, Pie dur das 
Landvolk gefchehen, durch die das ganze Land errettet mar, 


e 
1) Bon der Stimme der Schilßen zwifchen den Schöpfebrunnen; Da 
werben fie ſingen, die Thaten Jehovah, Die Thaten feiner Mächtigen 
Iſraels, Als einzog in die Thore das Volk Jehovahs. 


2) Eine kurze voransnehmende Beſchreibung der Schlacht, die bald 
eigentlicher folgen wird. 


3) „Der Schauplatz — leben.” Dafür in A: Alle vorher angeredete 
follen auf ein Lieb fiimen, und das Beldgefchrey, der tapfre Auf der 
Streitenden zwifhen ven Bädhen des Tabor fol ihnen dazu gleich- 
fam den Klang geben. Hier gefhah die Schlacht am Wafler Kifon (Kap. 4, 
7. 13.) Schützen warens, die bier infonderbeit in den engen Päſſen 
firitten, wo Siflera mit feiner Macht und feinen Streitwagen nicht wirfen 
tonnte. Diele Bälle find eben die Thore, in die, nach der vierten Zeile, 
das Bolf zog, in melde fie die Mächtigen führten. Abermals alfo werden 
beyde Stände genannt, und zwifchen biefen Ouellen und Engen und Wafler- 
bächen wird der Ort der Schlacht genau bezeichnet. Hier am Thabor 
erſchallte ihr Schlachtgefang, und da foll künftig, ale an einen vielbefuchten 
Orte, ewig das Andenken diefe® Tages leben. 


4) ausrubend daran 
Herders ſämmtl. Werke. X. 6 





— 23 — 


und ! von der die raufchenden Duellen gleihlam noch wieder: 
tönten?? 

Wohlauf! wohlauf! Deborah, 

Wohlauf! wohlauf! und dichte Geſang. 

Erhebe dich, Baral, 

Führ deine Gefangene vor, Abinoams - Sohn ! 


Die Anmunterung ift dem Iyrifhen Gejange ganz eigen. Wie 
Pindar fo oft? fich felbft, fein yeAov 1roe anmuntert, wie David 
jo oft Herz und Seele aufruft, wenn beyde ſich zum höchſten Fluge 
ihres Gefanges rüften: fo wedt fi Deborah ſelbſt, da fie jetzt die 
eigentlihe Befhreibung der Schlacht anhebt, und gleid- 
ſam ben tapfern Kampf noch Einmal zu kämpfen ftrebet. So 110 
muntert fie auch Baraf an, daß er aufftehen und feine Gefangene 
vorführen, d. i. Triumph halten fol in ihrem Lieve. Daß bey 
den Alten dieß geſchah, daß bey einem folden Freuden⸗ und 
Gefangfeft die Beute vorgeführt, die Gefangenen auch oft zum 
Spott dargeftellt werben, daß viele Völker ſelbſt die Thaten, Die 
vornehmiten Handlungen des Krieges, tanzend ober fingend in 
Geberden nachmachen, ift eine befannte* Sade. Laſſet uns jest 
jehn, was geſchehn ſey, und wie es bewirkt worden? ® 

Da zog ein ſchwacher Reſt aus, Helden entgegen, 

Jehovah's Volk zog mit mir, entgegen den Starken. 

Aus Ephraim kam ihr Anfang, die Bewohner Amalelg:® 
Mit ihn Tamft, Benjamin, du mit deinen Völkern! 





1) „die durch — war, und” fehlt. 

2) wiedertönen? Daß diefe Erklärung wahr fey, zeigt die Folge: 
denn nun muntert fih Deborah auf, ihnen gleihfam den Gefang vorzu- 
dichten, die Schladht vorzumalen: 

3) Die Anmunterung follte niemanden fremde dünken, der Pindar 
oder die Pſalmen gelefen. Wie jener fo oft 

4) ift befannte 5) und wie es geichehen? 

6) Es zog das lieberbliebene zu den Helden, Jehovah's Bolt zog 
mit mir unter Tapfern. Aus Ephraim kam ihre Wurzel auf Amalet: 





111 


— 83 — 


Aus Machir kamen die Kriegesführer, 

Aus Sebulon, die den Stab der Mufterung ! trugen. 

Die Fürften Iſaſchar waren mit Deborah, 

Iſaſchar, die Schugwehr Baraks, 

Sprang mit ihm hinab in das Thal. 

Nur an den Bächen Rubens war gar viel Berathung: 

Warum ſaſſeſt du da zwiſchen ven Hürden, Ruben ? 

Zu hören etwa das Blöden deiner Heerden ? 

D an den Bähen Rubens ift gar viel Berathung. 

Gilead auch — es wohnt ja über dem Jordan: 

Auch Dan, warum follt! es ſonſt an Schiffen wohnen? 

Auch Affer fitet am Meeres Ufer ftille, 

An feinen Buchten wohnt er ficher ja.? 

Aber Sebulons Volk verfhmäht dem Tode fein Leben; 

Auch Naphthali erfcheint? auf der Berge Höhn. 
Dies ift der Kriegszug, wie treffend, wie Republikaniſch. Mit 
Lob und Schande wird genannt, wer fam und davon blieb. Da 
die Feigen nicht geftraft werden konnten, werden fie mit der Zunge 


112 des Siegsgeſanges verſchmähet. — Der Eingang zum Zuge ift alle 


gemein: wenige, Ueberbleibjel eines unterbrüdten Volks 
ziehn den Mächtigen entgegen; durch fie, Deborah, ift der Zu- 
fammenruf gejchehen! die Stämme werben genannt, wie fie ihr 
folgten. Eine Ephraimitin war fie; Ephraim bat alfo bie 
Ehre des eriten Range. Auf dem Gebürge wohnte fie, da ift 
aljo die Wurzel des Heers und des ganzen Zuges; ohne 





1) Zäblenben 

2) Deborah, Iſaſchar und Barak fprangen ind Thal. Nur in den 
Triften Rubens War viel Gedankenrath. Warum faffef du da zwifchen 
den Hürden? Zu hören etwa das Blöcken der Herden? O in den 
Triften Rubens Iſt viel Gedanken-Rath. „Silead wohnt ja über 
dein Jordan: Auch Dan, was foll er Schiffe fürchten börfen? Aller 
figt au Meeres fer, An feinen Krümmen wohnet er.“ 

3) famı 

6* 


— HA — 


Zweifel! hieß Amalef, die Gegend des Gebürges, wo fie wohnte, 
oder wo ihr die erfte Hülfe kam. Auf Ephraim folgt Benjamin, 
Manaſſe, Zabulon, das zulegt mit Naphthali (B. 78.) nochmals 
genannt wird. Die Stämme feinen fih zu ihr geſammlet zu 
baben, wie fie fie nennet: fie lagen wenigitens jo in ihrem Wege. 
Aus Ephraim gieng der Zug, Benjamin, das Hinter ihm liegt, 
folgte. Es gieng durch Manaffe und Iſaſchar; Sebulon traf dazu, 
in deilen Gebiete Thabor lag; nun waren fie an Urt und Stelle. 
Ruben kam nicht mit: es ruhete, fagt der Spottgejang, zwifchen 
den Träntrinnen jeines Viches, und hörte das Blöden der Schaafe: 
für lauter Gedanken und Ueberlegung fann es nicht mitziehn. Daß 
e3 die allgemeine Gewohnheit alter Völker bey ihren Siegsfeften 
gewejen, die Feigen, die Zurüdgeblicbenen mit Schunpf zu ftrafen, 
bezeugen alte und auch noch jet von ungebildeten Nationen neue 113 
Schriftſteller. Schimpflider kann Ruben nicht gemahlt werben, als 
in dieſer politiichen Weisheit neben feinen Tränkrinnen, beyın Klange 
der blödenden Muſik, die es nicht aufgeben wollte. Sie halten fid) 
hinter ihrem Sordan fo fiber, al Dan, der See nahe, in feinem 
Uferlande, wo es fich allenfalls auf Schiffen retten Tann. So 
bleibt auch Afjer an feinen Ufern und Budten;? „die Kananiter 
werden niemals zu Schiffe kommen: wir dörfen nicht helfen.‘ 
Aber Sebulon und Naphthali find da und fie? erhalten die ſchönſte 
Krone. Jene, die vermuthlihd am meiften vom Feinde litten, da 
ihr Stamm das Kriegsfeld war; diefe, ihre Mitgehülfen,? wackre 
Bergbemohner. Das horazifche prodigus anime magnæ ift bier 
Ihon in dem älteften Siegeslieve der Welt; es ift auch, mie ein 
erhabner,5 fo der natürlichfte Gedanke. — Zwiſchen Iſaſchar und 


1) Heers. So nehme ih das Wort Wurzel (für Anfang, Anfang 
der Kraft und Bemühung); ohne Zweifel 

2) Klange der Mufit, die es nicht aufgeben will, in feinen weilen 
Herzensrathe. Sie halten fi hinter ihrem Jordan fo fiher, als Dan, 
obgleich der Ser nahe, in feinem Gebürg- und Hölenlande- vor feindlichen 
Schiffen. So bleibt auch Aſſer an feinen Ufern und Krümmen; 

3) Naphthali kommen, fie 4) Ditgehitlfen und 

5) wie der erhabenfte, 


— 85 — 


Ruben wird jetzo das Loos verwechſelt. Im Segen Jacobs lag 
jenes zwiſchen den Tränkrinnen; jetzt thuts dieſes, und jener, 
der Eſel, ſpringt mit Barak, gleichſam mit leichten Füſſen, hinab 
ins Thal. Wir eilen, da wir Die Völker kennen, die Schlacht 
ſelbſt zu jehen. Da die Feinde ihnen jo überlegen find, mas 
fann? mas wird helfen? 


114 Die Könige famen: und jtritten, 
Die Könige Kanaanz ftritten, 
Zu Taanach, bey den Waffern Megiddo. 
Ihre Luft nah Silber ftillten ! fie nicht. 


Dies ift das Eine Heer, und das andere: 


Vom Himmel ftritten die Sterne, 

Aus ihren Reihen ftritten fie mit Sißra, 
Die Bäche Kifon rollten fie weg, 

Die gewundnen Ströme, der Kifon —? 
Tritt, meine Seele, mit Kraft einher. 


Da klapperten ftrauchelnd die Hufe der Roffe, 
Sie ſchlugen, ſie ſchlugen zurüd die Nofje der Tapfern — — 


Zurüdgemandt nemlich, da fie jegt nicht Schnell gnug flichen konnten. 
Wie ftarf und natürlich ift die Beichreibung des Sieges! Ihre 
Macht that es nicht, fondern die Gegend, die Jahrszeit, Zu— 
fälle göttliher Hülfe. Dort waren Viele, Könige über Könige, 
mächtig, ſchon Siegs- und Naubes gewiß, fie dürfteten nach Beute, 
die fie aber diesmal nicht einpfiengen. Hier war der Himmel gegen 
fie im Anzuge: die Kriegsordnungen, dic Reihen der 
115 Sterne:? Gott felbit führte gleichfam fein himmliſches Schladht- 
beer auf. Und mie ftritt? wie wirkte dies? Wie die Folge jagt, 
dadurh, Daß die Bäche [hmwollen, die Ströme von den 
Bergen in die engen Thäler niederftürzten, und Roß 


1) exfillften 
2) Die Ströme Kedumim, die Bäche Kifon — 
3) Kriegsordnungen (nicht die Kreife) der Sterne: 


— 56 — 


und Mann zurüdftieffen, hinwegſchwemmten.! Schnelle Ueber» 
ſchwemmung war aljo die Urſache des Siege, und dieſe kam 
vom Himmel; fie ward bey allen alten Nationen Waſſerbrin— 
genden Sternen zugefchrieben, fie fam vom Gott des Himmels 
und der Sterne. Es mochte immer feyn, daß Deborah auf diefe 
Gegend, auf diefe Regenzeit und ihre Ueberſchwemmungen? 
gerechnet hatte, als fie Barak ausfoderte, und von Ephraim aus 
fo weit nördlich zog, ihren Feind da zu erwarten; der Gott Iſraels 
aber wars, der ihre? Unternehmung über alle Erwartung beglüdte. 
Ungewöhnliche Regengüffe fielen ein: da ftrauchelten die Roſſe und 
die Rüſtwagen, die Sfrael nicht hatte und bier nicht brauchte, 
thaten den Feinden jelbft* Schaden; mitten im Getümmel ber 
Niederlage ruft Deborah aus:° tritt, meine Seele, mit 
Macht! ala ob fie fich über den liegenden Leichnamen fühle. Jetzo 
jehen wir, warum jene Befchreibung der Erjcheinung Gottes mit 
triefenden Waffern und bredenden Himmelsmwolfen 
(B. 4.) den Gefang anfing? Die Ungemitter, mit denen Gott in 


der MWüfte von den Bergen aufbrah und mit dem Heer fortzog, 116 


verwandelten fih hier in ftrömende Regen. ® 


Fluchet Meros, ſpricht der Bote Zehovahs, ? 
Fluchet Flüche feinen Bewohnern! 
Sie famen nicht mit zur Hülfe Jehovahs, 

. Zur Hülfe Jehovahs in feinem tapfern Heer.® 


1) Mann zurüdrolten, zurückſtieſſen, wegſchwemmten. 

2) Gegend, biefe engen Thäler und Ueberföwemmungen 

3) wars, der in ihr rechnete, durch fie rief, und ihre 

4) ein: ihre Roffe ftrauchelten, ihre Rüflwagen, die .... brauchte, 
tbaten ihnen felbft 5) Deborab: 

6) „Die Ungewitter — Regen.” Daflir in A: Bon einem Ungewitter, 


wohin es gemeiniglich gedeutet wird, fehe ich bier nichts; es ſteht fein Wort 


davon in der bier jo genau befchriedenen Urſache des Sieges. Die Yeinde 
find dur Regengüſſe und Ueberſchwemmung in den engen Thälern zwiſchen 
ben Bächen Kifon und Kebumim in bie Flucht geehrt, und wie gebets 
weiter? 

7) ſprach der Engel Jehovahs 8) in ſeinen Tapfern. 


— 87 — 


Geſegnet unter den Weibern ſey Jael, 

Des Keniten Hebers Weib, ! 

Unter den Weibern der Hütte ſey fie gejegnet. 

Waſſer foderte er; fie gab ihm Mil, 

In prächtiger Schale brachte fie ihın beraufchende Milc;? 
Und die Hände griffen zum Nagel, 

Die Rechte zum fchweren Hammer Bin; 

Und ſchlug auf Sißra, zerihlug ihn jein Haupt, 
Zerquetſcht', durchdrang ihm die Schläfe.® 


Zu ihren Füffen lag er gefrünmt, 
Sank, und entichlief zu ihren Füflen, 
Er krümmete fih und ſank: 

Gefrümmet fiel er und war dahin — — 


117 Wie nachbildend und gegenwärtig die Beichreibung fey, jagt fid 
von felbft. Die Handlung der Jael wird hier nicht in einer mora⸗ 
chen Predigt, fondern in einem Siegsgeſange gepriejen, als eine 
patriotiihe That, .ald die Befreyung Iſraels vom Haupt ihrer 
Feinde. Ueber Meros, (einen und unbelannten Fleden) wird Fluch 
ausgerufen, weil es Iſrael nicht zu Hülfe kam, und Dagegen die 
Befreyerin Jael von der Deborah, ein Weib von einem MWeibe, 
gepriefen.* Statt Kühlung gab fie ihm beraufchenden Tranf; 


1) Weiber Sey Iael, das Weib des Keniten Hebers, 

2) brachte fie Buttermild. 

3) Die Rechte zum Hammer der Arbeit. Sie ſchlug auf Siſſera, 
und durchbohrte fein Haupt, Zerſchnitt, durchdrang ihm die Schläfe. 

4) Fluch ausgerufen, vermutblich weil e8, (dem Gegenfate nach zu 
urtheilen) Ifrael felöft bey ber Flucht feiner Feinde nicht zu Hülfe kam, 
und biefen vielleicht fihern Durchzug verftattete. Wer auf bie Jael fchilt, weil 
fie einen Freund [Feind ?] in ihrer Hütte umbrachte, muß die ganze Kriegsart 
der damaligen Zeit verlennen, und fi überhaupt von einen mächtigen 
Feinde unterbrüden laſſen, ohne die Hand zu regen. Im defien Seele that 
wohl auch Deborah und Ifrael Unrecht, daß fie fih wehrten? nur freylich 
nicht Siffern, daß er unterbrüdte. Was hatte er mit feinen Kriegsmagen 
in Ifrael, was hatte er in der Hütte feiner Feindin zu thun, und jet von 
ihr Wafler zu begehren? 





— BB — 


Nagel und Hammer ward ihr flatt Schwerdtes. Eine Weiberhand 
follte den Helden perfönlih fällen, wie ein Weibermuth mit Wenigen 
fein tapferes Kriegäheer ſchlug. Dies ift der Punkt, um ben Deborah 
ben Preisgefang windet. Das Heer tft auf der Flucht; wie kommts 
nah Haufe? wie wird der Triumphirer Siffera erwartet? 


Durchs Fenſter ſah und heulte die Mutter Sißra. 
Durchs Gitterfenſter weinete ſie: 

„Warum weilt ſein Wagen, zu kommen? 

„Warum zögert noch das Raſſeln ſeines Geſpanns?“ 


Ein tiefer! Zug im Herzen der Mutter! Sie iſt die Erſte, Die 
Unglüd ahndet, deren Bruft feinem? Anblid entgegen pocht. Die 118 
Weiberſcene geht immer noch fort im Munde des Weibes, 


Die Weiten ihrer Frauen antworteten ihr: 

Und fie auch kehrte das Wort um zu fich ſelbſt:* 
„Wie? jollen fie denn nicht Beute finden und theilen? 
„Eine Jungfrau, zwo Jungfrauen für Einen Mann: 
„Farbige Kleider für Sißra, 

„Farbige Kleider und Goldgeftid, 

‚‚ Bunter, doppeltgeftidter Halsfhmud, 

„Alles für Siffera Beute — — 


Der Spott ift bitter; im Munde der Deborah wollte* er aber auch 
nit ſüß ſeyn. Die Feinde famen zu rauben, und jo fonnte man 
fie doc Hönen, daß fie jo wenig erlangt haben? Deborah, als 
Weib, nimmt fi injonderheit der meiblihen Beute an. Die 
Mädchen jelbft und ihre Eoftbarften Kleider hätten in Feindes Hände 
geſollt: darauf freueten ſich jene, die Beute theilten fie ſchon unter 
ih und ihre Weiber. Diefe, des Sieges ihrer Männer gewiß, 
legen jelbft das Ausbleiben derjelben ® darauf aus; und fo webt 


1) Tiefer („Ein fehlt.) 2) abndet, die feinem 
3) Und fie erwiederte felbft fi ihre Worte: 

4) Deborah und der Zeit, der Verfaffung mwolfte 

5) derjelden ſchon 





— 89 — 


119 Deborah das Geſpräch der meifen Gefellfchafterinnen der Fürftin 
ein, wie fie fi fobald tröften läßt, und bald felbft ihre Hofnungen 
erwiedert; Hofnungen, die, da man den andern Ausgang weiß, fo 
betrogen, fo jchimpflih tönen — 


So fommen um al’ deine Feinde, Jehovah! 
Und die ihn lieben, feyn wie der Sonne Aufgang, 
In ihrer Jugendkraft! 


Finden Sie mir einen Geſang, der dieſem beykomme, unter ſolchem 
Volk, in ſolchem Zeitalter! der ſo heldenmäßig, und ſo genau, ſo 
ſchwungvoll, und von Zug zu Zug ſo weiblich ſey in Beſchrei⸗ 
bung der Gefahr, der Noth, des Sieges, des Danks, des Aus- 
gangs, des Hohnes. 


Achter Brief. 


120 Sie haben Recht, das ganze Bud der Richter (ober viel- 
mehr der Befreyer, der Helden) enthält poetiſche Beiten. 
Unficher zwar, oft! zerrüttet und graufam; zugleich aber lebte die 
erfte Machtiproffe des Volks damals, das fich noch nicht lang ins 
Ihöne Land gejeßt hatte, und dem jein freyes Ruheleben unter 
Hütte und Weinſtock ſüß jchmedte. Gefährliche Zeiten ermweden 
immer auch magende Seelen, die Noth des Polls wedt einen 
Helden,? der vor fie trete: und fo zog hier der Geift des National: 
gottes, Jehovah Einen? nad) dem andern mit Kraft an. hr 
unternehmender Geist theilt fih auch der Beichreibung mit, umd 
die Geſchichte Gideons, Jephthah, Simſons mit ihren Erfcheinungen, 
Proben, Träumen, Gelübden, Abentheuern, Räthjeln werden einem 
jugendlichen Xefer wie die Geichichte eines Jugendtraums dünken.“ 


1) Unficher, oft 2) Seelen, Notb des Bolts einen Helden, 

3) Geift Gottes Einen 

4) werben jeden jugendlichen Leſer als Geſchichte feines blühendſten 
Lebens dünken. 


— % — 


Die Fabel Jothams iſt, als heroiſche Fabel, zu ihrem Zwed 
betrachtet, die ſchönſte, die je gemacht ward, und man ſiehet aus 
der Wirkung, die ſie that, daß ihre Sprache ans Herz gieng, und 
alſo verſtändlich ſeyn mußte. (Kap. 9, 7:20.) So gehts in die 121 
Bücher Samuels und der Könige hinein. Der Anfang von 
der Geihichte des Erſten, jo vieles in der Geſchichte Sauls und 
der Verfolgungen Davids; unter den Königen infonderheit die eins 
gefchaltete Geſchichte der Propheten, Elias, Elifa, Amos, das Leben 
und die Himmelfahrt des Erfigenannten, der Tod jenes, den ber 
Löwe zertrat, und fo viel Andres, find Meifterftüde hiſtoriſch⸗ 
poetifher Erzählung; das Wort poetiſch nemlih nur fo 
genommen, daß es bie finnlichfte, wahrſte, nachahmendſte Beſchrei⸗ 
bung der Sache bedeutet, wie fie fih in ihrem Zeitalter zu— 
trug, und von den Mitlebenden angejchen! wurde Aus 
dem lesten folgt nothwendig, daß dieſe Stüde nach der Gefangen- 
haft nicht haben gefchrieben feyn können. Da wars mit den 
Zeiten der Poefie aus; weder Sprade, noch Einbildungstraft, noch 
Zuftand der Nation Hatte Nahrung für fie: wie ja jedem, ber 
einiges Gefühl hat, die Bücher Eſra und Nehemia augenſcheinlich 
zeigen.” Sollten alfo au, wie faft nicht zu läugnen ift, Einſchal⸗ 
tungen in dieſen, jelbft in den Büchern Moſes jeyn; fo beweifen 
eben dieje Einfchaltungen ‚,? die meiſtens geographiſch- oder Bifto- 
riihe Nandglofien find, das Alterthum des Tertes, den fie 
erläutern. Er muß aus alten Zeiten ber ſeyn, da ſchon damals 122 
folde Erläuterungen nöthig waren, und ih wünfchte, wir hätten 
ihrer bie und da mehr. Zwo Reihen eines folden Zuſatzes, wie 
fih 3. E. Saden und Namen geändert, fchlieffen mehr auf, als 
Bände heutiger Muthmafjungen und Räthſeleyen. Webrigens zeigt 
der Verfolg diefer Nachrichten, daß Alles, obgleih fo zufammen- 
gejhoben, gewiß nicht von Einer Hand ſey. Auch daß die Bücher 


1) bebente, wie .... zutrug, und angefeben 

2) Nation in ihrer erften finnlichen Blüthe nährte fie mehr; mie ja 
für jeden, ver .... Nehemia zeigen. 

3) beweifen ja eben dieſe Stellen, 











der Chronif, als eine Nachlefe Hiftorifcher Sammlungen unter den 
beiligen Schriften die legte Stelle haben, zeigt gnugfam, daß es 
den älteften! Sammlern nicht gleihgültig war, wo, oder wie fie 
etwas Hinjegten? Ohne Zweifel fanden dieje ſchon die ältern Bifto- 
rigen Bücher gefammlet da, und benannten fie deswegen aud) 
mit dem Ehrennamen der ältern Propheten. 

Meine Abficht ift nicht, dieſe Bücher zu durchgehen, und jede 
Schwierigkeit, die ihnen gemacht it, aufzulöfen. Außer den Com: 
mentatoren bleibt Lilienthals gute Sache mohl das Haupt- 
bud, dem fodann die Schriftfteller zunächſt an die Seite treten, 
die befonders einzelne Zeiten und Lebensläufe behandelt haben.? 
So haben mir 3. €. über das Leben Davids drei nicht zu verach⸗ 
tende Schriftfteller, Delany, Aden, Chandler. Der erfte ift 

123 ein? gutberziger Irrländer, der viele Stüde gut gefaßt, wohl 
erläutert, in andern aber * fo feltfame Meynungen bat, daß man 
das übrigens fehr unterhaltende Buch Theilmeife nicht ohne Vers 
wunderung liefet. Windheim hats überjegt, und feiner Gewohnheit 
nad, mit langen, aber ſchlechten Noten vermehret. Aden, unfer 
Landsmann, fchreibt ftarf und edel. Da er aber gegen Baile 
\chreibt, und zu fehr epanorthifiret, auch übrigens David nicht zum 
großen Sfraeliten » Könige mit Fehlern und Tugenden,? wie fie in 
der menfchlihen, zumal Königsnatur find, fonden zu einem 
Glauben3- und Lebenshelden machen will, fo ſchwirrt die zu 
Itraff angezogene Senne öfters über. Ueberhaupt madt ein zu 
anhaltender ” Nedner- und Kanzelton, wenn er auch der beite feiner 
Art wäre, in Büchern diefes Inhalts bald matt und müde, movon 
ih Ihnen mehrere Exempel anführen könnte. Es war eine Zeit 


1) Auch die letzte Stelle, die die Bücher ber Chronit, als Nachleie 
biftorifher Sammlungen unter den heiligen Schriften haben, zeigt gnugfam, 
daß auch den älteften 

2) dem die zunächſt .... behanbelt, 3) ein einfältiger, 

4) aber (3. E. im Podenpfalne) 5) Größen 

6) will; fo zittert oftmals die zu flraff gezogene Senne über. 

7) angebaltner 


— 2 — 


in Deutſchland, da ſolche Schreibart Beredſamkeit, ſchöner Styl 
hieß, und man glaubte ſich dadurch nach Boſſuet, Maſſillon, und 
ih weiß nicht, nach wem mehr? zu bilden. Selbſt die Moshei⸗ 
mifche Schriften werben uns Theilmeife, wegen diefer zu fchönen 
und ausführliden Beredſamkeit, jegt zumeilen fchwer zu lefen; 
damals war ed Ton der Zeit. Der britte Lebensbeſchreiber Davids, 


den ich nennen wollte, ift Chandler,*) der Durch feinen Weber- 124 


jeger und Anmerfer fidher gewonnen bat. Er bat zur Erläuterung 
mander Pjalmen viel Gutes, wie fein Ueberfeger auch Einiges in 
der Geſchichte Simſons aufzuklären gefucht hat. — Die befte Xebens- 
beſchreibung Davids und Salomo liegt in ihren eignen Schriften,**) 
verbunden mit den Umſtänden ihrer Geichichte, Die angenehmiten 
Belege ihrer Art. Die fchöne Elegie Davids auf Jona- 
tban (das ältefte und vielleicht befte Stüd dieſer Gattung) ,! die 
fürzere Elegie auf Abners Tod, fein eigner Abſchied, oder jo 
genannten legten Worte find jchöne poetifche Stüde. Ich über: 
jeße die erſte nicht, da fie fo oft überfegt, umfchrieben und nad) 
geahmt ift; die Todesllage über Abner aber ift kurz, (menigftens 
wir wiſſen fie nur in Einer Strophe) und wegen ihrer Biederwahr- 
heit mir immer rührend gemwejen:? 


Iſt Abner, wie ein Feiger ftirbt, geftorben ? 
Nein! deine Hände wurden nicht gebunden ! 
Und deine? Füße wurden nicht gefefjelt! 

Wie man vor Buben fällt, fo fieleft du. — 


— oo... 


*) Ehandler’s Leben Davids von Dietrich überſetzt. 

*+) Niemeier's Charakterifiil der Bibel gehet durch die ganze bib- 
liſche Geſchichte, und ift zu bekannt und beliebt, als daß fie meines Lobes 
bedörfte.! 


1) Gas erſte und vielleicht beſte Stück feiner Gattung), 
2) Biederwahrheit vorzüglid rührend: 
3) geftorben ? Deine .... gebunden! - Deine 


ı) **) Niemeier's — bebörfte. fehlt." 











126 


— 93 — 


Die letzten Worte Davids ſetze ich ohngefähr in die Claſſe der 
letzten Worte Moſes, nur jener ſpricht zum ganzen Volk, als 
der große Geſetzgeber, Erretter und Wohlthäter deſſelben; dieſer 
nur und leider als König zu feinem Geſchlechte.! Jenes it 
Lied des Ruhmes einer Nation, dies einer Familie; beyden 
aber tönet ihr Preis aus dem Munde der Stifter. 


So ſpricht David, Sat Sohn: 

So fpridt der Mann, den Gott erhöhet hoch, 
Den Jakobs Gott zum Könige gefalbt, 

Der Tieblide Pfalmenjänger Iſraels. 


Geift Gottes ſpricht in mir, 
Auf meiner Zunge tft fein Wort. 
Es ſprach zu mir Iſraels Gott, 
Es ſprach zu mir Iſraels treuer Schuß. 


„Ein gerechter Herrſcher über die Menjchen, 
„Ein gerechter Herrfcher, wie Gott verehrt: 
„Wie Licht am Morgen, wird er aufgehn: 
„Wie die Sonn’ aufgeht 

„Am Morgen; und die Nebelmolfen ſchwinden 
„Bor ihrem Glanz: 

„Und von dem Thau 

„Sprießt zartes Gras aus der Erb’ hervor.” 


So ſprach er, und fo fteht mein Haus 
Denn veft mit Gott. 
Denn er fchloß mit mir einen emgen Bund, 
In allem veft und treu und wohl verwahrt? 
Und das ift al’ mein Glück, al’ meine Freude. 


1) ſpricht zum Bolt, und diefer zu feinem Geſchlechte. 

2) So ſpricht David, der Sohn Iſai, So jpridt der Dan, 
geftellet Hoch! Ein Gefalbeter des Gottes Jacob, Beliebt in 
Pſalmen Iſrael. 


— 4 — 


Und fo denn werden aud die Beliald nicht wurzeln,! 

Herausgerißne Dormen find fie alle: 

Man faßt fie nicht mit Händen; 

Der Mann, der fie anrühret, 

Hat feine Hand voll Spieß’ und ſcharfer Lanzen, 

Mit euer verbrennt man fie; daß auch ihr Ort nicht mehr ift.? 
Der dunkle Spruch, alſo gefegt, wird, dünkt mid, verftänblich, 
ſchön und natürlidh, in? jedem Wort ein wahres Familienſtück, die 


legten Worte eines abjheidenden Königsvaters. Es 127 


ſprich ein Mann, den Gott und zwar zum Könige 
Iſraels erböhet, deſſen Gefchleht ex vom Hirtenftabe fo hoch 
hinauf gebracht hat. Wird ers wieder finten Iafien? fol, wie in 
alten Zeiten in Drient es oft geſchah, die Familie wieder klein 
werden? Dem Sterbenden liegt dies fehr am Herzen, daran 
bängt jegt all’ fein Wohlfeyn, feine Kümmerniß 
oder Yreude An Mifvergnügten fehlts nicht, die ihm 
und feinem Haufe ewige Rache geſchworen; werben dieje wurzeln 
oder fein Haus? Der Sterbende hat lebend an ihnen alles ver- 
ſucht, aber vergebens — — Unfihre Dornen find fie, und fo 
läßt er fie nad. Wer fie fanft anrühren will, fticht ſich“— blutig; 
Feuer ift der befte Lohn, den fie verdienen — — Und fiehe, 

Der Geiſt Jehovahs ſprach in mir, Auf feiner Zunge war fein 
Wort. Es ſprach mir der Gott Iſraels, Es ſprach mir ber Fels 
Iſraels. 

„Ein Herrſcher über die Menſchen, Ein gerechter Herrſcher in 
„Gottes Furcht; Wie Licht am Morgen wird er aufgehn, Wie die 
„Morgenſonn'. Vor ihrem Glanze fliehn die Nebel, Und Erden⸗ 
„grüne ſprießet auf vom Thau.“ 

Nein! auf Gewalt ift micht mein Haus gegründet; Ein ew'ges 
Bundniß ſatzt' er mir, In allem veft und treu; 

1) Er wirb nit wurzeln laſſen die Vermworfuen, 

2) daß fie nicht mehr find. 

3) Der Spruch, alfo gefett, wirb, dünkt mich, durch fie verftänblich, 
natürlich, ſchön, in 

4) fi) und anbre 


— HH — 


David iſt ſicher über fie und über die Wohlfahrt feines 
Hauſes, nit durch ein Menſchenbündniß,! fondern durch einen 
göttliden Ausſpruch. Der Gott, der nie trügt, ber Fels 
Iſrael, Bat ihm ein Orakel gegeben, das er V. 3. 4. in hoher 
Gottesſprache anführt, zu dem er in den erften Verfen mit demü- 
thig = ftolgen Lobe fein jelbjt in der Sprade der Götterfprüche 
Bileams redet,? und über welches Sie den 72. Pſalm und 2. Sam. 7. 

128 als Commentar lefen mögen. Dies Wort Gottes ergreift er, als 
einen ewigen, unverlegbaren Bund, als ein Gelübde, das 
Gott nicht brechen könne, nicht bredien werde. Aus wirds bald 
ſeyn mit den Häffern feiner Familie wie mit ausgerifienen Dornen; 
dagegen mit den Seinen ein neuer Morgen aufgehen joll, von defjen 
Glanz; und Thau milliges zartes Gras der Erde aufiproßt.* Der 
Tönigliche Vater ftirbt rubig.*)> 


*) Sie fehen, daß ich den Gottesſpruch des Orakels von -57% anfange, 
wozu mich denn der Zuſammenhang und ber 72. Pfalm führet. licher das 
RSS bes 5ten Verſes habe ich noch nichts befriebigendes gelefen, ob- 
gleih der Sinn des Stüdes im Ganzen Mar if. Sollte Bier nicht ber 
Fehler einer frühen Abfchrift vorwalten, die da fie jo viele Glieder der Rebe 
mit "> und den folgenben Vers mit NS=I2 anfangen mußte, dieſe beiden 
Worte, die völlig wegbleiben können, an eine unrechte Stelle jegte? Denn 
daß die Glieder mehrerer Verfe nicht recht abgetheilt find, wird kaum jemand 
läugnen.! 


1) nicht durch eigne Macht und Menſchenbündniß 

2) „zu dem — rebet,” fehlt. 

3) brechen Tann, nicht brechen wird. 

4) Familie — — („wie — auffproßt.“ fehlt.) 

5) Der königliche Vater ftirbt rubig- 

Dies ift der Zufammenbang; aber, mi dünkt, Sie fragen, ob er 
gewiß fey? Schr gewiß. Die Aenberungen, bie ich gemacht habe, find 
Interpunttion , die fich felbft vechtfertiget, ober die Verſetzung zweener Bin- 
dungspartiteln I, >, die in ber Rede nicht® ändern, und ber Interpunftion 
folgen; fonft wird fein Buchſtab, feine Sylbe geändert. Die zwei erften 
Berfe bleiben, wie fie find; im britten fee ich das "> Hin, wo es offenbar 


1) „r) Sie — läugnen.“ fehlt. 


— 9 — 


Die Gedichte der Könige, wünſchte ih, läſen fie mit den 
Propheten und diefe mit jenen. Bon den wictigften Propheten 


hingehört “37; denn der Gottesſpruch, ber baranf folgt, Bezieher fich 
darauf, al8 auf feine Guelle. Diefen fange ih von >57D an, wie es die 
nun anbebende Bilderſprache und der offenbare Parallelismus fodert. Leſen 
Sie darüber 2. Sam. 7. und Pf. 72. fo darf ih fein Wort zur Erlänterung 
binzufegen; die Bilder ſelbſt fogar ſtehen in dieſem Pſalm. Ich laffe im 
Orakelſpruch das ? vor TIRI meg, und ſetze es mit > im die folgende 
Reihe, das andre Glied des Parallelismus, vor ÖAW, wie offenbar der 
Zuſammenhang fodert, fchliefle biefe kurze Zeile mit AI, die folgende mit 
92, und laffe, wie ber Parallelismus gebeut, den Gottesſpruch mit 
YN2 endigen. Nun fangen die Zeilen an, die fo viel Rätbfelegen ber- 
vorgebracht, und mo infonberbeit in ber erften das N> fo anftößig geweſen. 
Auch mir ſchiens Tange aljo, fowohl dem Inhalt des vorigen Gottesfpruchs, 
als dem Nachſatz, dem zweyten Gliede bes Parallelismus und dem med 
des ganzen Segend entgegen. Ich hatte Luſt, es hinwegzuthun, als einen 
Fehler des Abſchreibers, der fo viele RD7I zu Anfange ber Zeile ſchreiben 
mußte, und alfo nichts als RD fohreiben mollte, ach wo gerate das 
Gegentheil fteben follte. Ich wollts in bie letzte Reihe des Aten Verfes, als 
» Hinter POT feen u. dgl. Lauter Wagniffe, die völlig unnöthig werben, 
fobald man 72 als Eubflantivum, statio, constitutio, stabilimentum, 
basis liefet, das e8 fo oft beißt, bier nothwendig beiffen muß, und ſowohl 
Sprüchw. 28, 2. als Dan. 11, 20. 21. 38. von der Sicherheit, Grün- 
dung, Beveftigung eines Reichs gebraucht wird. An diefer war David 
gelegen; es ift der Inhalt des ganzen Stücks, und um, fagt er, fey bie 
Conftitution feines Reichs nicht >RDOI fondern auf Bund Gottes gegründet. 
Ohne Zweifel kann jenes nicht Gott ſeyn, fondern Gewalt, weltliche Stärke, 
Bund mit mächtigen Fürften und Helden. Auf diefe verließ fih David nicht, 
wie ers in feinen Pfalmen hundertfach bezeuget; er gründet fein Haus nicht 
auf Macht der Menſchen, fondern auf freye Mahl, Gnade und 
Bund Gottes, der ewig unverbrüchlich ſeyn muß. So gehts fort, bis zu 
Ende des 5ten Berfes. Diefer ift offenbar fchlecht abgetheilt, das 82” muß 
fhon den 6ten Vers anfangen, wie vorher und nadber; es ift ja ſammt 
dem "> die dftere Bindungspartitel diefer wenigen Verſe. Nun wird, was 
finnlo8 war, der ſchönſte, fortgehendſte Sinn; man bat keine Aenderung 
nöthig, als daß man dad 1 vor >92 mwegnimmt, das offenbar die falfche 
Interpunktion, da man mit dieſem Wort einen neuen Vers anfieng, gegeben. 
Mich dünkt, man könne ſich keine Elärere Ergänzung eines jo dunkeln, zer⸗ 

morfenen, verrätbfelten Stücks denken. Die ganze Irrung ®. 5. kam davon 


— 1 


wiſſen wir, wenn fie gelebt Haben, und Jeſaia,! Hoſeas, 
129 Amos, Micha fallen gar auf Einen Zeitpunkt. D daß wir des 
einzigen Jeſaias Hiftorifches Werk (2. Chron. 26, 22.) noch hätten! 
Er, der Erfte feiner Art, prägte gleichjan den Typus vieler fols 
genden Propheten. Nach ihm ſetze ih den zwar kurzen, aber, 
zumal in feinen Sclußgefange fo erhabnen Habakuk. Sodann 
möchten Joel und Micha folgen. Hoſea ift kurz und hinreifjend, 
Amos landmäßig; die übrigen Heinern mögen in ihrer Ordnung 
folgen. Jeremias ijt äußert fanft, weich, und wehklagend; nur 
jein Tert Scheint fer verworfen, und feine Zeiten waren traurig. 
Ezechiel malet Ein Bild, ein ganzes Kapitel durch aus, und hat ganz 
feine eigne, ftarke und vollendete Weife. Er und die lebten Pro— 
pheten nad der Gefangenschaft Haben zum Theil neue, fremde, 
bie und da noch unerörterte Bilder, die auf ihren Erflärer warten. 
Uebrigens tft das Studium der Propheten zu unfver Zeit vorzüg- 
li getrieben; der einzige Jeſaias hat eine ganze Reihe gelehrter 
Männer) befchäftiget, und der Fleiß einiger derjelben **) Hat jich 
*) Michaelis, Lowth, Döderlein, Koppe, Dathe, Struen- 
fee n. a.! 
**) Michaelis, Döderlein in feiner Ausgabe des Grotius, Dathe 
und Struenfee in Ueberfeßungen, Schuurrer in emigen Differta- 
tionen u. a.? 


ber, daß man 72 als die Partikel anfah und II”8> zufammenfas, wo- 
mit freilich aller Sinn eutfloh; und daß man jowohl 8.3. 4. al8 Bere 6. 
7. fo widerfimmig und jelbft nur grammatifch abtheilte. Dies ıft meine 
Meynung, (Pfeifer und Trendeleuburg neue Verfuche iiber dieſe Stelle habe 
ich nicht gelefen) und auf fie ift meine Meberfegung gegründet. Ohne Zwei⸗ 
fel diktirte David das Stiid in feinen letzten Tagen; es konute alfo wicht 
die bearbeitete Abwechſelung in ben Berbindungspartitein haben, die es 
haben follte, fie kommen gerabe fo wieder, wie ein Menſch in Eile und im 
Teuer ſpricht — — 

1) gelebet? Jeſaia 

1) „*) Midaelid — u. a.” fehlt. 

2) „**) Michaelis — u. a.” fehlt. 

Herders jümnıtl. Werke. X. { 


— 98 — 


über mehrere Propheten verbreitet.! Bey fo vielen Anlockungen 130 
und zum Theil neuen Hülfsmitteln wäre es Trägheit, nicht mit 
zu gehn, nicht mit zu wollen — — 

Das beite Leien der Propheten ift, wenn man eine Zeitlang 
jeden allein und nicht alle in der Reihe fortliefet, weil man fi 
ſodenn allmälih näher mit feinen Geiſt, mit feiner? Gefchichte 
und Sprade befannt madt, und gleihjam in ihm wohnet. Die 
Gattung von Commentatoren und Xejern? der Bibel, die Kapitel: 
weile Buch⸗aus, Buch ein lefen und commentiren, kommen jelten 
in den innern Idiotismus Eines Schriftitellers, den ich mir immer 
als Heiligtum, nicht als Heerftraße denke. Da diefe Männer fi) 
jo genau auf die Zeiten beziehen, in denen jeder Ichte, aus denen 
fie gleihjam fproßten, ohne die fie unverftändlih, oder, was oft 
noch ärger ift, halb verftanden werben: da jeder feine eigne Art 
bat, Saden zu jehen, Bilder zu malen, ſich in tünjtige Zeiten zu 
jegen, und das, was noch nicht ift, zu jchaffen, als obs wäre; 
jo dünkt mid, iſt bey Feiner Gattung Schriften das einzelne 
Keen, und Erwägen nothwendiger, als bey ihnen. Wie fi ein 
Traum, auch der göttlichfte Traum, nad der Seele und der Welt 
von Umftänden deſſen, dem er wird, richtet; wie cr jebesmal bie 131 
zarteften Blumen ſeines Gartens wählet, den Stranz, den er ihm 
vorhalten will, zu flechten und oft mit den geheimften Säften fei- 
nes Herzens ihm fein Bild * malet; wie alles, was von ber Lei- 
benichaft, der Phantafie, dem Drud unter ſchlechten Zeiten, dem 


1) Iefaias bat beynah 6. oder 7. nicht unedle Köpfe befchäftigt, 
Döderlein, Struenfee, Michaelis, Dathe, den Biſchof Lowth; 
Bogel, Wagner, Sponfel, Reichel ungerechnet. Der Fleiß einiger 
diefer Männer bat fi über mehrere Propheten verbreitet, wovon ich Die 
Döderleinfche Yortfegung bed Grotius vom Jeremias an, die Dathi- 
he und Struenfeeifche Ueberfegung befonders nenne. 

2) und nicht in der Reihe fortliefet, ſich mit feinem Geift, feiner 

3) Die Eommentatoren und Lefer 

4) wie er nur die zarteflen Blumen feines Erdreich wählet, den 

. und oft mit den verfchwiegenften Säften des Herzens fein Bild 


— 9 — 


Vorgefühl beſſerer Dinge abhängt, aufs höchſte individuell iſt, 
und nicht von Subjekt zu Subjekt gezogen und gezerrt werden 
muß, um den urſprünglichen Sinn der Rede oder Ahndung zu 
erhalten:! fo beruht auch, kann man mit Petrus Worten ſagen, 
keine Weiſſagung auf eigenmächtiger, willkührlicher, fremder Deu⸗ 
tung; jeder der heiligen Gottesmänner ſprach vom heiligen Geiſt 
getrieben, als ſolcher, einzeln. Selbſt die Theile eines Prophe⸗ 
ten darf man nicht ſchlechtweg in einander werfen, zu einander 
herüber ziehen u. f. Sie können in verſchiednen Zeiten, unter fo 
andern VBeranlafjungen und Umſtänden geftellet jeyn, daß man 
ihnen Geift und Kraft nimmt, wenn man fie fremde deutet. Kurz, 
ein Demagog muß einen einzelnen Kreis des Volks haben, zu 
dem er ſpricht, und eine cigne Seele haben, aus der er rebet;? 
nimmt man ihm beybes, fo ift fein? jetziger Zweck zu wirken 
verlohren. 

132 Mich dünft, niemand hindert fi im rechten Gefichtspunft, 
Propheten zu Iefen, mehr,* als der nur allgemeine Sentenzen, 
dogmatifche Sprüche und Weiffagungen in ihnen aufſucht, und gar 
Zwangsmittel hat, einen Propheten hiezu und nad) feinem eignen 
Sinn? zu vergeftalten. Dogmatifhe Sprüche und Weiffagungen, 
wie wir das Wort jebt nehmen, waren nicht jedes Propheten 
Hauptablicht: fie warens nicht an jedem Orte Der Prophet 
war fein Prediger nach unſerm Begrif; noch weniger der Erflärer 
eines einzelnen Xocus. Führer des Volks, Sprecher des Willens 
Gottes über diefe Zeit, diefe Stadt, dieſe Verbindung von Um- 
ftänden, das war er; und das konnte er feyn, ohne daß Er eben 
unmittelbar vom Meßias weifjagte. Offenbar kommt diejer den 
meiften Propheten als Troftbild fünftiger Zeiten vor Augen. 
Nachdem ihre Zeit drüdend, und ihre Seele geftimmt war, Bilder 
der Zufunft vom höhern Geift zu empfangen, nachdem weifjagten 


1) mn urfprüngliden Sinn und Klarheit zu erhalten: 
2) bildet; 3) fein Stand, fein 4) fo febr, 
5) feinem Sinn 

7* 


— 10 — 


fie, d. i. fahen in die Zukunft. Der Eine fchafft fanfte, der andre 
beroifhe Bilder; Ein Maas, Eine Form und Farbe iſt nicht 
für alle, nod weniger Eine Manier, die man ihnen aufdränge, 
wenn fie glei nicht in ihrem Gebiet, im Kreiſe ihrer Ausficht 
läge. Ich Halte nicht viel von denen, die einen Ausleger ber 


Propheten darnach allein Ichägen, ob er diefe ober jene Stelle 133 


zuerjt und zunächſt auf Chriftum deute? und wenn cr dies nicht 
thut, den Stab über ihn brechen: „er könne über den Propheten 
nun weiter nicht? gutes jagen.” Sie fchen, mein Freund, mie 
unbillig und türkifch das Urtheil fey: es ftrangulirt den Ausleger 
und den Propheten, und beyde um etwas, wovon man gar nicht 
erweiſen Tann, daß es allein und ausjchlieffend den Propheten oder 
den Ausleger machen müffe, oder gemacht! habe. Laſſet uns doch 
die heiligen Männer lafjen, wie fie find; nicht, wie wir fie uns 
ſchaffen möchten. Es ift immer für ung cine ſchwere Frage, was 
ein jeder Prophet fich auch bey feinen unläugbarften Weiffagungen 
vom Meßias gedacht habe? mie hell oder duntel er ? in die Zukunft 
ſah? Manche Propheten meiffagten und konnten felbft nicht aus- 
legen, was fie fahen; andre weiffagen einzelne Züge, bey denen 
ihnen immer noch der Umriß des Ganzen gefehlt Haben fann. Ein 
Prophet ift fein Evangelift; und ein Zug in einem Propheten 
mehr oder minder, ändert ja nichts im Gemälde fänuntlicher 
Schriften und ihrer Ausfiht aufs Neid und die Perfon des 
Mepias. . 

An forgfanften ſuchen Sie, mein Lieber, die einzelnen Stüde 
eines Propheten abzutheilen, zu fondern und zu ordnen: denn fei- 
ner fette fih Hin, ein Buch zu fchreiben von Anfange bis zum 
Ende. Eine richtige Abtheilung hilft aufferorbentlih, und mo dic 
Stüde zerftreut fcheinen, eine muthmaaslihe BVerfegung Wo 
dunkle Stellen find, ziehn Sie alte Ueberfegungen zu Rath: einige 
der fpätern Propheten, infonderheit Jeremias, haben dies vorzüglich 
nötig. Werden Sie mit jedem derfelben gleichlam Zeitgenoß, 


1) milffe, gemacht 2) er über ihn 








— 101 — 


theilen mit ihm Leiden und Freuden, gegenwärtigen Drud und 
fünftig freyere Ausfiht: o wie wird Ihnen denn einzeln und all 
mäblih der edle Geift diefer Männer aufgehn, denen die andern 
Völker beynah nichts Aehnliches Haben! Sie werden mit Yejatas 
ala Adler! zur Sonne fliegen und mit der Turteltaube Jeremias, 
einer Tochter der Seufzer und Thränen, Hagen: mit Habakuk 
unter dem Drud feitftehn, und mit Hefekiel auf fremden Bergen, 
in ausländiſchen Waſſern, Gefichte jehn, und ſymboliſche Entwürfe, 
So mit den andern. Erwarten Sie nächſtens noch über ein paar 
Einzelnheiten meine Meynung, und mir gehen fodann aus dem 
Heiligtbum der Propheten in den Vorhof der Heiligen Schriften. 


— — — — — 


135 | Keunter Brief. 


Die Propheten, auf die wohl die meiſte Widerrede und Spöt— 
terey gefchüttet ift,? find Ezechiel und Yonas. Daß man die ganze 
Geſchichte des Leptern gern zu einem Traum, einem Geficht machen 
wollen, wird Ihnen befannt ſeyn; und doch ift im Propheten nicht 
die kleinſte Spur von Traun oder Geſichte. Als eine Geichichte 
fünget3 an, gehet fort und endet. Ich wundre mid, daß Nie- 
mand biöher auf die Hypothefe gekommen jey, den ganzen Verfolg 
der Begebenheiten als Dichtung anzunehmen, *) wie viele 3. E. 
die Geſchichte Hiobs für eine ſolche gehalten, und die Bücher der 
Judith, Tobias, Stüde in Efther offenbar find. Das Wunder» 
bare, das doc den meiſten Spott auf fich geladen, würde jodenn 
HZwedmäßig gewählte Schönheit; und der Sinn des Ganzen bleibt 
derjelbe, er mag aus einer wirklichen Geichichte, oder aus einer, 





*) In nenern Zeiten ift dieſes geichehen, von Michaelis, Eich— 
born, Niemeier u. a.t 
1) Sejaias Adler 2) Spöttereyen getroffen, 


— - 


1) „*) In — u. a.” fehlt. 


— 1IR — 


ſtatt ihrer geſchaffnen Dichtung folgen: denn die legte iſt doch im⸗ 
mer auch eine wmoralifhe Geſchichte zur Darftellung Einer ober 
mehrerer Lehren. ! 

Mih dünkt, Site find neugierig auf dieſen Gefichtspuntt ; 
bemerten Sie alſo, das Buch hat eine Einheit, Kürze, Rundung, 
wie fie das befte morgenländifche Poem? haben fann, und was 
mehr als Alles ift, auch Einheit im Zweck, in jeiner moralilchen 
Lehre; es ift „die lebendige Darftellung eines Propheten 
„in den manderley Fehlern, die das Prophetenamt hatte 
„und haben konnte.” Dem Propheten wird aufgetragen, einer 
fremden, fernen, reichen, majeſtätiſchen Stadt ſchnelles Unglüd zu 
predigen; welches Herz von Fleiſch und Blut thut das gem? 
Jona fträubte fi dagegen, wie fich mehrere Propheten beym Auf- 
trage ſchwerer Pflichten fträubten. „Was fol ih, ein Jude, dort? 
„Wird man ınic nit für einen Narren halten, und mit Spott, 
„mit lalter Verachtung ftrafen? oder wenn man mir glaubt, wenn 
„man meiner Botichaft Erfolg zutrauet, wird man nich nicht als 
„einen Unglüdspropbeten zur Stadt hinaus werfen und mürgen?“ 
Er mied alfo das ® Beilige Land, er floh, fo weit er konnte, 
Weftwärts. Daß das lieben zur Sce in damaligen Beiten bie 
fühnfte Flucht, daß die freymwillige Verbannung eines Siracliten 
und Propheten aus dem Lande Jehovahs die entichlofjienite Auf- 
opferung war, ift für fich felbft klar;‘' die Thorheit des dargeitell- 
ten Beyfpield gebt aljo auf offnem Wege? weiter. Feigheit den 
Willen Jehovahs zu thun, wird zur verwegenften und zugleich 
alberniten Flucht vor ihm auf® dem gefährliiten Elemente. 
Der Sturm entfteht: Jona fhläft: das? Loos fällt: er befennt 





1) ift doch moraliſche Gefchichte des Geiſtes. 2) beite Gedicht 

3) würgen?“ Kr hätte nicht fo denen follen, fo denten bürfen; daß 
er aber jo denken konnte, ift leider! zu menfchlich, und baß er wirklich fo 
bachte, zeigt der Erfolg; er mieb das 

4) war, ſpricht für fich ſelbſt; 5) auf hoher Strafie 

6) thun, wird zum verwegenften Trotz deſſelben auf 

7) ſchläft rubig. Das 


far‘ 


fe 


36 


37 





138 


— 18 — 


ſeine Schuld aufrichtig, ja er giebt ihnen ſelbſt den Rath, wie 
ihr Schif einzig zu retten ſey. Er wird ins Meer geworfen; der 
Fiſch kommt, ihn zu verſchlingen: es iſt ein wunderbarer Fiſch, 
den der Mächtige, vor dem er floh, ſelbſt berbeyführt.! Das 
Gebet im Schlunde des Filches ift offenbar eine ſpätere Zurüd- 
nehbmung, denn man hört darinnen einen ſchon Erretteten dan⸗ 
fen; furz, die Geichichte ift ? die ſichtlichſte Darftelung, wie wenig 
man Gott entfliehen könne, wie alles aud im Grunde des Meers 
ihm zu Gebot fey, wie er aber auch den tiefften Seufzer im Bauch 
des Fiſches, des Dceand und der Hölle vernehme.? Das dankende 
Lied ift fo fanft und Schön, daß ich nicht umhin kann, meinen 
Brief damit zu zieren: 

Ich rief in meinen Aengſten zu Jehovah, 

Und Er antwortete mir. 

Bom Bauch der Hölle jchrie id; 

Du börteft meine Stimme. 

Du warfft mid in die Tiefe, 

Ins Herz des Meers. 

Mich hatt! der Strom umgeben, 

AN deine Wellen, deine Fluthen, 

Giengen über mich hin. 

Da ſprach ih: „meit bin ich verftoffen 

„Bon jener Gegend deines Blids! 

„Noch will ich fort und fort zurüde bliden 

„Zum Tempel deiner Hoheit.” 


Die Wafler drangen mir tiefer bis zur Seele, 
Der Abgrund jchloß nid um und um, 
Meergras fchlang fih un mein Haupt, 


1) den Gott ſelbſt dazu Herbeyführt. 

2) kurz, es ift 

3) ihm zum Gebot fey, wie er aber auch auf erfolgte Reue und Rüd- 
tebr den... . . vernehme. Denten Sie fih Ort und Z<ituation, bie dieſe 
große Lehre wunderbarer und auffallender vorftellen könnte, als biefe? 


— 210) — 


In Klüfte der Berge war ih gelunlen, 
Die Erde mit ihren Riegeln war auf mir ciwiglid) 


Da licheft du aus der Grube 
Mein Leben aufftehn, 

Jehovah, du mein Gott! 

Als meine Scele über mir verzagte, 
Gedacht' ih an Jehovah: 

Schnell kam zu dir mein Flehen, 
Zum Tempel deiner Hoheit. 


Die nicht'gen Lügengögen dienen, 

Irren umber Erbarmungslos; ! 

Sch aber, mit der Stimme des Dankes? will ich kommen, 
Und opfern, was ich dir gelobt, 

„Meine Rettung, dem Jehovah!“ 


Ihm will ich fie zufchreiben, ihn mit der Stimme des Belennt- 
nißes 3 preifen; mozu denn eben auch, als Gelübbe, dies feyer- 
liche Lied gemacht tft. ch darf Sie nit erft aufmerkfan machen, 
mein Freund, auf die tiefe Stimme im Sclunde der Noth, die 
aus dieſem Liede tönet, auf das milde Lager, das cr bier im 
Grunde des Meers Hat, auf die harten Gedanken, die ihm ans 
Herz Stoffen: „o wärft du nun im Lande Gottes, dent Pallaft ſei— 
„ner Hoheit nah, wo er mohnt, wo er Gebete erhört! Und doch 
„will id) nicht ablafien, rückwärts dahin zu bliden, dahin zu 
„beten. Und wie die legte Noth zunimmt, bis er befreyet wird. 
Nun fühlt er augenfcheinlihe Hülfe Jehovahs, daß diefer nicht nur 
in Judäa, daß er überall,* auch im Banche der Erde Gott ſey, 
und Gebete höre; alle Götendiener bangen an Nichts, am Winde, 
ohne Hülfe und Rettung. — — Seht gehet er nach Ninive und 


139 


thut Jehovahs Befehl. Wunderbar! man Hört ihn, man ändert 140 


fih — über alle feine Erwartung. Es kehret fih alfo das Blatt, 


1) Wer Nidstigleiten der vüge nachgeht, Verläſſet deine Gnade; 
2) Lobes 3) der Belenntniß 4) Judäa, überall, 


— 1) — 


die angebrohten Gerichte treffen nicht ein, und fiehe, er ift wieder ! 
ein Menih, glaubt, der Wahrheit feiner Verkündigung entgehe 
danıit etwas, ift unmillig, zürmt, wünſchet fi den Tod. Und 
nun fommt die fhöne Enthüllung des Stüds durch den 
Kürbis: fo leicht, fo lehrreih, Gottes fo anftändig, den ſchwachen 
elenden Propheten fo? beihämend, daß ich mir über den Ausgang 
des Buchs, „die größefte Sache durchs Kleinfte anzuzeigen, und 
„den Einen Blid Gottes, des Weltinonarchen, über Meer und 
„Exde ,? über Ninive und den Kürbis zu ſchildern“ beynahe nichts 
finnlicheres, fTindlicheres vente. Die jo gerühmte Popiſche Ver- 
gleihung zwifhen dem Helden und dem Sperlinge, der bubble 
und world, die in Gottes Augen Eins feyn fol, ift* auf ihre 
Theilmahrheit zurüdgeführt, ein Wortllang; bier ift fimple, und 
doch fo große Wahrheit. Sie fehen, m. Fr., wie bey dieſer Hypo⸗ 
theje das Ganze ſchön zufammentrifft, und nicht nur den Iſrae⸗ 
litifchen Stolz, jondern auch zwey Extreme von Prophetenſchwach⸗ 
beiten und Fehlern lehrreich ſchildert. Mich dünkt, felbit der 
Berfaffer 5 des Propheten Babouc, müßte, wenn er fi in bie 
Vrophetenzeit des jüdiſchen Volks zurüdjegen wollte, die Dichtung 
141 nüglih und fhön® finden. Se munberbarer und größer die 
Mafchienen, deito mehr find fie fodenn an Stelle, und man hätte 
fein Gefiht, feinen Traum, feine ungeheuren Rettungen meiter 
nötbig.” Sit nun dieſe Geſchichte, als Dichtung, ſchön, treffend, 
nüglid; warum follten wir uns mit den Schwierigkeiten den Kopf 





1) Erwartung. Abermals die Enthüllung eines öftern Fehlers derer, 
die Gott jendet, Mistrauen, Kleinmuth. Jetzt kehret ſich .. . . 
nicht ein (und dürfen ja nicht eintreffen, wie der Prophet leibhaft, feiner 
bedingten Predigt felbft zu Folge fiehet;) er ift aber wieder 

2) fo treffend, fo 3) „über — Erbe," fehlt. 

4) ift entweder gerabe falfch, oder 

5) diefer an fich unfchuldigen Hypotheſe das Ganze ſchön zuſammen 
und umberläuft; eine mit jedem Wort treffende Darftellung ber vielfeitigen 
Prophetenfehler. Mich dünkt, ſelbſt der Spötter, etwa ber Verfaſſer 

6) Dichtung fein, nütlich, ſchön 7) Rettungen nötbig. 


zerbrechen, ob fie auch und wie wenn fie Gefchichte wäre? Was 
durd fie gefagt werden fol, jehen wir jo gut in der Fabel als 
in der Geichichte; und was brauden wir mehr? —! Noch Ein 
Wort von Ezechield Tempel. 

Wie viel Myſtiſches über ihn gefagt jey, willen Sie; (menn 
Stes nicht willen, verlieren Sie auch nicht viel.) Der ganze Tem⸗ 
pel, wie er da Steht, und mas er dem Buchſtaben nad vorftclt, 
ift meines Erachtens ohne alle Myſtik ganz in der Schreibart die- 
ſes Propheten.” Ezechiels Manier ift, ein Bild ganz und meit- 
läuftig auszumalen: feine Vorftellung fhien große Geſichte, von 
allen Seiten umſchriebene Bilder, fo gar langwierige, fchwere, 
Iymbolifhde Handlungen zu fobern; wovon jein ganzes Bud) 
voll if. Iſrael in feiner Irre, auf den Bergen feiner Berftreuung, 
unter andern Spracden und Völkern hatte einen Propheten nöthig, 
wie dieſer war, hatte Sprüche und Darftellungen nöthig, wie er 142 
fie ſchildert. So auch diefen Tempel. Ein andrer hätte ihn mit 
fliegenden Bildern in erhabnen Sprüchen entworfen; dieſer in 
beftimmten Maaßen. Und nit nur den Tempel, fondern aud) 





1) „Iſt nun — mehr? —“ Dafür in A: Ich befenne Ihnen indeß, 
fo fehr diefe Hypotheſe von feru anladht, fo wenig fehe ich, was ung zu 
ihr veranlafien fünnte. Iſt eine Gefchichte, als Dichtung, ſchön, treffend, 
erbaben, nuͤtzlich; warum follte fie ſolches, als wirtlihe Geſchichte, nicht 
mehr bleiben? Für den Gott Ifraeld, der Propheten erwedte, ift nichts 
Fremdes, Unpafiendes in viefer Führung: für ihm ift meber Fiſch, noch 
Kürbis Wunder, beyde nicht größere Wunder, als daß ein Jonas und 
Ninive fey, und jener dieſer Stadt den lintergang drohen konnte, drohen 
follte. Ueberdem ift jeder Heinfte Umftand fo treu, wahr, biftorifch erzählt; 
aud der Gefang fteht, als ein triefendes Dankgelübde fo ganz an feiner 
Stelle (in den Baucd des Meeres wird er gefett, weil er ba verfprocden 
war, alſo als Schuld dahin gehörte) daß ich bey der ſimpeln Erzählung 
gern bleibe. So aber gehets! Oft lefen wir als Gedicht gern, was wir 
als einfältige Gejchichte vorbeygehn! Der Roman muß uns oft das, was 
uns täglid) umgiebt, und gemeiniglich mehr als ein Roman ift, erſt ſehen 
lehren — — 

2) Der ganze Tempel bleibt, wie er da fteht, und bebeutet, was er 
dem Buchftaben noch vorftellt, ex ift ganz in ber Bilderart dieſes Propheten. 


— 117 — 


Zubehör, Stämme, Verwaltung, Land: das Heiligthun wird 
Palaft des Fürjten mitten im Lande. Daß diejer platonifche Ent- 
wurf Ezechield nicht erfüllt worden ift, war feine Schuld nidt; 
auch die Eintheilung des Landes unter die Stämme, mie er fie 
angiebt, ward nicht erfüllt, und jo minderte fich jener von felbft. 
Wie fehr ift Iſrael immer, wo es auf feine eigne Beftrebungen 
ankam,! nnter den Befehlen, Winken, Verheiſſungen Gottes in 
der Tiefe geblieben! Nur eine arme Nachlefe zog ins Land und 
bauete; nichts minder ala alle 12. Stämme, und fo mußte aud) 
Ezechiels Tempel unterbleiben.? 

So vielerleyg, m. Fr., mid) noch in dieſen treflihen Männern, 
den Propheten reiste, daß es entzüdend für mid wäre, Ihnen 
das Bild einiger der Vornehmften, To wie auch den Inhalt und 
die Zwecke ihrer vormehmften? Stüde zu entwerfen*): fo winkt 

143 mid doch mein Plan mit ernften Stabe weiter; ich gehe ohne ein 
Wort fernerer Vorrede zum dritten Theil der Ebräiſchen Bücher, 
den jo genannten „heiligen Schriften” über. Sie find im 
heil. Geift, d. i. nach dem Ausdrud der Jüden mit rubigerer Got- 
tesweishett gejchrieben; der Trieb der Propheten mar oft Brunft 
Gottes, Starke Begeifterung, und Mofes mit feinem Urgefeg, mit 
feiner * Poefie= reichen Urgefchichte fteht in der tiefern Ferne, als 
der geheime Freund Gottes, der vertraute Mittler feines Volkes. 
Sie wiſſen jene Vergleihung der Jüden, da ihnen das Geſetz 


2) Im dten Theil der Eihhornfhen Einleitung ins A. T. 
ift dies mit fo viel Kenntnig und Wärme gefchehen, daß wenn man weiter 
gienge, eber ein Uebermaas zu bejorgen wäre.! 


1) wo e8 auf ihn ſelbſt ankam, 

2) bauete; nicht Volk, nicht alle 12. Stämme. („und — unterblei- 
ben.” fehlt.) 

3) reiste, fo entzüdend es mir wäre, Ihnen das Bild eines Seren 
den Subalt, die Zwecke feiner vornehnften 

4) Urgeſetz, feiner 


1) „*) Im ten — wäre.‘ fehlt. 


— 168 — 


Moſes das Allerheiligſte, die Propheten das Heilige, die andern 
heiligen Schriften der innere Vorhof ſcheinen. Die Apokryphiſchen 
Schriften möchten ſonach der Heyden-Vorhof genannt werden, bis 
dag N. T. einen neuen, geiſtigen Bau beginnet. ch babe mich 
ſchon erllärt, daß ich Hier von den Graden, oder der Art der Ein- 
gebung nicht rede; indeß dem? Inhalt dieſer Schriften zufolge haben 
die Jüden, dünkt mich, mit diefer Eintheilung und Benennung 
nidt fo ganz unrecht. Das Geſetz Mofes war die Grundlage 
ihrer Berfaffung und ihres Gotesdienftes: die Propheten, bie 
Hortführer und Erklärer bdefielben, find gleihfam die Wände 144 
des Gebäudes; die heiligen Schriften find die inwendige Bier, 
ber foftbare, nützliche Hausrath. In einigen dieſer Bücher ift 
eine Summe von Goldkörnern und Golbftüden der Weisheit, 
Zudt, und ſchönſten praktiſchen Ertenntniß. 

Das Buch der Palmen fängt an. Daß es von veridied- 
nen Berfaffern, in mandherley Zeiten, Gelangarten und Situatio- 
nen jey, darf ich „Ihnen nicht erſt fagen;? daß es trefliche Stüde 
enthalte, noch minder. Der Name Davids bat die Grundlage 
dazu gemacht, weil er felbft fchöne Stüde verfaßte, und den gan- 
zen muſikaliſchen Gottesdienft in Glanz bradte; die Sänger und 
Dichter zu feiner Zeit halfen, die Dichter und Propheten fpäterer 
Zeit bauten weiter: denn daß einige Pſalmen das Zeitalter der 
Sefangenjchaft verrathen, ift wohl unläugbar. Es gehet alfo beym 
Pſalmbuch, wie bey allen Sammlungen jo verjchiedener Saden; 
fie werden, zumal wenn man fie in der Folge liefet, ein Laby⸗ 
rinth, aus dem man nit anders fommen kann, als wenn man 
fich gewiffe Hauptmerkmale jegt und darnad ordnet. Davids 
Name wird das crfte Merkmal. Die Lieder, die er jelbft gemacht 
bat, find doppelter Art, entweder PBrivatgejänge auf Umiftände 145 
feines Lebens, oder öffentliche und gottesdienftliche Lieder: 
denn wie nah diefe beyde Klaſſen in einander gelaufen? wie viele 
von jeinen Privatgefängen über Umftände des Lebens, auch öffent- 


1) rede; dem 2) nicht ſagen; 


— 109 — 


ih, zumal beym Gottesdienst gebraucht find? getraue ich mir! 
nit zu beftimmen. Diejer Theil der Pſalmen nimmt große 
Erläuterung aus feiner Gefhichte: wir wiſſen, wie frühe und 
audgezeichnet er Poeſie und Mufil, die damals meiftens verbunden 
waren, liebte. Der ehemalige Hirt und Dichter brachte alſo auch 
jegt die härteſten ſowohl, als die milveften Auftritte feines Lebens 
in Gefang; fein Herz ftrömte gleichſam? felbft in die Saiten; Lieb 
und Harfe wurden ihm Gebet, Troft, Aufmunterung, Dank, 
Freude, die füßefte Erquidung und Erholung. Es iſt fhön, daß 
uns bey vielen diefer Lieder ein Wink gegeben ift, wenn und mie 
fie entjtanden find?? Nuten Sie, mein Freund, dieſe Winte, 
und Iefen Diefe, eigentlich Davidiſche Pſalmen, zuerft allein, 
gleihfam in die Seele ihres Urheber und ihrer Veranlaffungen 
zurüd: die Unterfcheidung wird Ihnen wohl thun.*) Lieblid- 
146 keit ift der Charakter und Ton der meilten; David fett (2 Sam. 
23, 1.) dies felbit zum Charafter feiner Lieber. **) Seine Pfal- 
men jind ihn fo werth, daß er ſich nicht auf Siege, auf Glanz, 
auf Vortheile bezieht, die er Iſrael verichafft habe; ſondern auf 
feine Lieder. Durd fie hofft er im Herzen feines Volks, jo wie 
auf* ihrer Zunge fich felbjt zu überleben; und ihrem Andenfen 
angenehm zu bleiben. Es jeht dies voraus, was auch? jehr ver- 
muthlih üt: daß feine Lieder ſchon damals nicht blos im Tempel 
gefungen worden, ſondern zum Theil® im Gedächtniß Iſraels 


*) Sine ſehr fleifige umd reichhaltige Anleitung hiezu if Haffe 
Idiognomit Davids, Jena 1784. 

**) ch fee nehmlich voraus, daß der Anfang diejes Liedes von David 
feröft fey und nicht von einem audern; welches legte zu behaupten wir gar 
feinen Grund haben. Kin folder Anfang des Geſanges ift der Begeifte- 
rung Orients nicht fremde und fommt 4 Moſ. 24. allein ſchon zweynial vor.! 

1) mid 2) gleihfam jedesmal 3) entftanben ? 

4) In ihnen hofft ex im Herzen feines Bolts, auf 

5) auch jo 6) fondern allgemein 


1) „**) IH — vor.” fehlt. 


lebten; ich verftehe dies nicht nur von gottesbienftlihen, fondern 
auch von andern Liedern, wie wir aus der Elegie auf Jonathan 
fehen. Da aljo Gefang die Lieblingsneigung bes großen Königs 
war;? da wir fehen, wie ſorgſam er die genannte Elegie auf ſei⸗ 
nen Freund, ins Buch der Heldenlieder tragen, und Iſrael fie® 
auswendig lernen ließ: (2 Sam. 1, 18.) können wir zweifeln, daß 
er auch feine Gefänge und die Liebe zu diefer Gattung Dichtkunft 
jo meit verbreitet habe, als cr thun fonnte?* Die Palmen jei- 
ner Mufifmeifter Affaph, Heman? find davon Zeugen: ich halte 
fie für Arbeiten diefer Männer felbft (Mufitus und Dichter war 
damals Eins) fie haben alle ihre ® eignen, und die Gefänge Aſſaphs 
infonderbeit einen erhabnen Lehrcharakter. In den meiſten von 
ihnen fiehet man offenbar, daß fie zum öffentliden Gebraud 
find,” und Bmeifels ohne mit größefter Pracht aufgeführt worden. 
Sein prädtigfter Pialm, der 50ſte fteht voran; unter den 70. 
und 80en find aud von ihn treflihe Stüde. Bey den Palmen 
der Kinder Korah, oder des Orcheſters von diefem Namen, wiſſen 
wir ihren Verfaffer nicht: Aſſaph fcheinet mirs nicht, David ® auch 
nicht. Sie haben einen Fühnen, raſchen, gleihlam ftürmenden 
Schwung; und einige 3. E. Pf. 46. 87. enthalten Stellen, bie bey 
allen Nationen für die erhabenften gelten müßten. Ohne Zweifel 
wurben fie für den Trupp Korah zur Ausführung gemacht, wie 
Aſſaph den 77. Plalm für Jedithun machte. Cine Reihe andrer 
Pialmen find ohne Ueberichrift, und fie find nicht die fchlechteften. 
Einige find Hallelujah-Pfalmen, die wohl unter dem Hall der 


1) ſehen. Weberbaupt floß bei ben Iſraeliten Geiftlihes und Welt- 
liches immer zufammen; e8 war nur Ein Geift, der beydes belebte. 

2) war, fo daß er noch auf feinem Todtenlager feine Leier, nicht vie 
Krone, für das fchönfte Eigenthum feines Lebens hielt, und feinem Bolt 
vermachte; 3) es 

4) zweifeln, wie verbreitet feine Geſänge und die Liebe zu dieſer Gat- 
tung Dichtkunſt in feinen Zeiten gewvorden feyn mlifle ? 

5) Heman, Sebithun 6) ihren 

7) Gebrauch, fiir Volk und Gottesdienft find, 8) David vielleicht 


147 


— 111 — 


Tempeltrommeten ihre befte Stelle finden, andere 3. E. der 104. Pf. 
find Hohe Lobhymnen, andre find AJubelgefünge auf Siege ober 

148 andre Wohlthaten des Staats. Die Gefänge, für die ich eine 
befondre Liebe bege, find die fo genannten Stuffenpfalmen oder 
Lieder im höhern Chor, Pi. 120. u. f. Offenbar haben fie eine 
ähnliche Länge, beynahe auch Einerley Schwung und Abwechslung; 
fie find für mid, beionders Pf. 120. 124. 126.— 29. 133., 
Mufter kurzer und tiefer Herzensregung. Ein paar Klaggefänge 
find unter den Pfalmen, die beyde dem Jeremias zugefchrieben 
werden, und befonders ſchön find, Pf. 102. und 137., injonder- 
beit der letzte. Ein Gejang ift unter den Pſalmen, den ich den 
Urpfalm, das Lied der Emigfeit nennen möchte, und der dem 
ewigen Moſes zugefchrieben wird, Pf. 90. ich weiß nichts, das ihm 
an die Seite zu ftellen wäre. Kurz, bier ift ein Schatz alter 
Ebräiſcher Lieder, den ih, wenn die Gefänge mandjer ! andern 
Nationen ihm entgegen auf der Schale lägen, gewiß ? vorziehen 
würde, vorziehen müßte; viele Chriften und felbit Theologen wiſſen 
indeß faum,? was fie an diefem Schat haben — — 

Auch das iſt falſch, daß David nur ein Idyllendichter fey, 
und daß ihm Pfalmen höherer Art mißlingen. Leſe man doch den 
8. 19. 24. 68. 103. 108. 124. 139. Palm, andre ungerechnet ; 

149 und fage, was jedem an Stärke und Würde feiner Art abgeht? 
— — Einige Pjalnen find von Salomo, die id ihm nicht abzu= 
läugnen müßte, da wir andre von fpäterm Urfprunge haben. Das 
CSpithalamium des 45. Pſalms, von den Stindern Korah zu fingen 
und zu fpielen, ift eine Rofe in feiner Gattung. Läugnen kann 
ichs nicht, daß einige Stüde, die den Namen Davids und Salomo 
führen, 3. E. Bi. 70. eben nicht von ihnen, fondern auf fie 
gemacht zu ſeyn fcheinen, und daß alfo das > nicht fo fchlechthin 
den Verfafler, ſondern überhaupt anzeige, „wohin der Pjalm an 
Inhalt oder Gefangweije zu referiren ſey“ — — in Sachen der Art 
aber werden? wir nie auf ven Grund fommen. Gnug, die fchönen 





1) aller 2) fat 3) viele wiffen noch faum, 4) werben und börfen 


Stüde find da, von wen fie auch feyn mögen. Käme cs auf 
mid an, jo würde ich das Bud nach jeinen Ueberſchriſten ohnge- 
fehr fo ordnen: Bf. 1. Vorrede. Pi. 2. Lobgefang auf eines 
groffen Königes Reih. Pi. 3— 40. Gefänge Davids, wo beym 
legten offenbar ein Schluß ift. Pf. 41 — 49. anonyme Gelänge 
für das Geſchlecht Korah, die der prächtige Pſalm Aſſaphs Pf. 50. 
beſchlieſſet. Pi. 51 - 70. abermals Gefänge Davids, mit 2 (Bf. 
66. 67.) untermilchten anonymen Dankliedern. Pf. 71 — 89. 
Geſänge von verjchiednen, meiſtens genannten Berfaflern, mo 


beym lebten wieder ein Schluß ſtehet. Pi. 90 — 100. herrliche 150 


Anonymen, den Erften von Mofes ausgenommen; morauf wieder 
einer von David folgt, und nun eine Menge Dankpſalmen, mei- 
ftens anonym. Der 118. fcheint dieſe Parthey zu beichlieflen, 
worauf der 119., das befannte moraliſche A. B. C. folget, das ich 
nicht für Davidiſch Halte est kommen die treflihen Stuffenpfal- 
men Pi. 120 — 34. worauf Stüde verfchtedner Art, zulegt ſeyer⸗ 
liche Tempelpfalmen enden. Sie ſehen, daß dieſen Abfägen nad 
das Pfalmbuh nicht folh ein Wald bleibt, als es dem erften 
Anblick nach zu ſeyn fcheinet, und die Jüdiſchen fünf Bücher find 
zum Theil darnach georonet. — —! 

Ungleid) nügliher wäre es, wenn wir die Mufit jo verſchied⸗ 
ner Palmen fennten;? allein diefe Hofnung ift unter den Todten. 
Das Vergnügen des Ohrs ift die ftolzefte, hinreiſſendſte, innigite, 
zugleich aber auch die vorübergehendfte Wohlluft der feinern Sinne; 
vielleicht ift Dies auch die Urſache, warum einige Jüdiſche Lehrer, 
die meistens zu buchſtäblich über alles urteilen, die Bier? des 
Rhythmus und des Gefanges in den heiligen Schriften, als einen 
fremden Pug, als eine unmwefentliche oder gar verhüllende 





Schönheit des ewigen Wortes anzufehen geneigt find, und David 151 


jelbft e8 nicht ala das größefte Verdienft zurechnen, daß er das 
1) foheinet — — („und — georbnet." fehlt.) 
2) tennten, und uns wieder berzubringen wüßten; 
3) warım manche Jildiſche Lehrer die Zier 





— 113 — 


Gebot der Geſetze in Gefang verwandelt. Wie viel oder wenig 
an diefer Bemerkung ſey, fo hats der groſſe Erweis der Zeit beftä- 
tigt, daß diefer Putz wenigſtens nicht! ewiger Natur war, und mit 
Veränderungen der Jahrhunderte verihmwinden mußte. Pfeifer in 
feiner Abhandlung von der Muſik der Hebräer*) hat genugt, was 
zu nußen war; meiftens aber muß er von zu neuen Datis auf die 
älteften Zeiten fchlieffen.. Nach feinen Unterfuhungen fommt in 
den Weberfchriften der Pfalmen felbft wenig hierauf zeigendes vor. 
— — Was ih hinzu zu fegen babe, betrift blos den ganzen Gang 
des hebräiſchen Rhythmus folcher Lieder. 

Belanntermanßen ift viel darüber gejchrieben? und gemuth- 
maaßet worden; noch neulich hat Leutwein**) eine kurze Abhand- 
lung von Bersbau der Ebräer gefchrieben, die ih Ahnen, ob er 
mir gleih im Ganzen zu pünktlich feheinet, zu lefen ſehr rathe. 
Mir fommts vor, daß die Ebräer, gegen uns betrachtet, immter 

152 nur ein freyes Sylbenmaas gehabt haben.***) Gie batten Metra, 
lange und kurze, ohngefehr gleichlaufende und verjchränfte Metra, 
wie das der erite Begriff von Mufil, von verſchiedner Tonart und 
Leidenschaft fodert. Sie fcheinen auch, nah einigen Pfalmen zu 
urtheilen, einen Strophenbau im Ganzen, menigiteng zu einigen 
Inſtrumenten und Materien beliebte Gänge gehabt zu haben, auf 
melde nachher andre? Gefänge gemacht wurden. Trügt mich aber 
mein Obr nicht: jo gebet diefe Beſtimmtheit nicht, bis auf genaue 
Zahl, noch minder auf feitgefegte Duantität jeder einzelnen 
Sylbe. Offenbar ift diefe Kunft der eigentlichen* Proſodie bey 


*) Erlangen 1779. 
**) Verſuch einer richtigen Theorie der bibliichen Berstunft, Tübingen 
177. 
*”*) ©. die Meynungen einiger Rabbinen von der Ebr. Poefie, hinter 
Burtorfs Ausgabe des Buchs Coſri. S. 406. ı. f. 


1) diefer feinen Bernerkung ..... größefte Erweis .... betätigt, daß 
diefer Buß nicht 
2) gefchrieben, gezwungen 3) auf die andre 
4) Kunft eigentlicher 
Herders fümmtl. Werke. X. 8 


— 114 — 


allen Völkern von der fpäteften Erfindung. Sie fam nur benn 
auf, wenn Gedichte nicht mehr fürs freye, Wollufttrunfne Obr 
und für die mit dem Gefange lebendig zufammenzitternde Saite, 
fondern jhon für Schrift und Buchſtabenmenſur gemacht wurde; 
fo weit kams gewiß nicht bey den Hebräern, wenigſtens nicht in 
ihren wahren Poetiihen Zeiten. Da ftrömte ihre Rebe in Muft- 
kaliſchen Wellen heraus: der Geift ihres Mundes floß mit dem 
Geifte, der ihr Saitenfpiel, ihre Tuba belebte, zufammen, und 153 
ohne Zweifel warb da bie mächtigfte Wirkung, wo vielleicht der 
fühnfte Bruch des Sylbenmaaßes, der ftärffte Kampf der Worte 
war. Da geichah es, was unfer deutihe Rouſſeau finget: ! 
— — Es horchten auf die Lieber 
Die Kinder Korah. Aſſaph ftand, 
Und ſtaunt' und marf den Pſalter nieder, 
Den hohen Pfalter und empfand. 
Oder wie Dryden von Erfindung des erften Inſtruments finget: 
When Jubal struck the corded shell, 
His list'ning brethren stood around. 
And wond’ring on their faces fell 
To wdrship that celestial sound; 
Less than a God, they thought, there could not dwell 
Within the hollow of that shell, 
That spoke so sweetly and so well. 
Bey der Arabifhen Poeſie ift befannter maaßen das eigentlich Pro⸗ 
ſodiſche Sylbenmaas fpät entitanden. Das feine Ohr der Griechen 
bildete es bald aus, inbeflen iſts noch offenbar, was fich in Homer, 
ob er gleih durd fo viele Grammatiſche Hände gegangen ift, noch 154 
für Freyheiten finden.” Die Römer nahmen ihre künftliche Sylben- 
maaße von den Griechen, meil fie felbft — feine hatten, ob ihnen 
gleich alte Lieder nicht fehlten, und daß alle Europäiſche Nationen 


— — — —— —. 


1) unfer Rouffeau 
2) waß in Homer, 0b... . ift, noch für Freiheiten leben. 





— 115 — 


die eigentliche Proſodie ſehr Tpät befommen haben, ift klar aus der 
Geſchichte. Den Staliänern ſchufen fie erſt Dante und Betrarka 
aus den Provenzalen an; die Provenzalen Haben fie wahrfcheinlich 
von den Arabern fich zugebildet, und noch wiſſen wir, daß bie 
PVoefiereichften Sprachen Europa's, Staliend, Spaniens, Galliens 
Sprade, Sylben zählen, aber nicht meſſen, daß fie auf den 
lebendigen Klang des Verſes und der Strophe, nicht aber auf! die 
grammatiſche Quantität jeder Sylbe horchen, und fie dennoch dem 
feinften Gefange vermählen. In die Deutiche Sprache ift eigentliche 
Profodie und Duantität der Sylben nur duch Opitz gelommen, 
und wie lang hatte Deutichland vorher Geſänge und Gedichte! — 
Es ift aljo auch in diefem Betracht vergeblihe und miderfinnige 
Arbeit, eine fremde Profodie, die kaum hundert Jahr alt, die als 
eine Buchſtabenkunſt, für gebrudte Gedichte erfunden ift, der uräl- 
teften Eisgrauen Poefte der Erde aufzubringen, und fie darnach zu 
zerreifien. Keine freye Poetifche Nation, mie ſehr fie in Liedern 
155 lebe, wie trefliche Poetiſche Stüde, wie rührende,“ pafjende Melo- 
dien fie habe, weiß noch jeßt etmas von diefem Kunftbau Der 
Grammatif; und das ältefte Volk diefer Art, dazu von einer jo 
furzen, bildervollen, feurigen, gleihjam ganz und gar hieroglyphi- 
ſchen Sprade follts gewuft Haben? Chorgejang, Affelt und Paral- 
lelismus finds, die ihren Sylben- und Versbau beleben.? 

Sie ſchlieſſen leicht, daß ich die Mühe derer beflage, die ihre 
erfünftelte Ebräiſche Profodie, das Figment ihrer Phantafie, gar 
unfrer Sprade in Ueberjegungen aufbringen, und gern Sylbe 
nah Sylbe vorzählen möchten, wo mahrlid (aufs gelindefte zu 
reden) der Geiſt längſt dahin ift, und die todte Aſche‘ zermalmter 


1) meffen, auf ven .... Strophe, nicht auf 

2) Stüde, rührende, 

3) haben? Affelt, lebendiger Geift im An- und Fortklange der Reihen, 
ber Strophen, der Wiederholungen und Inverfionen its, was ihren Sylben - 
und Versbau belebet. 

4) Sie fchlieffen leicht, wie mir bie gefallen, die ihre erkünftelte 
Ebräiſche Profodie, das Figment ihrer Radbrechung ber Solben, gar unfrer 

8 





— 116 — 


Sylben daliegt. Auch dünkt micha eben fo fremde, wenn Palmen 
in Horazifhe Oden, oder in die Pindarifhe Form verlleibet wer- 
den. Arme Poeſie der Ebräer, wie ftehft du verwanbelt!! Beſchei⸗ 
den ſchämſt du dich des zu ſtolzen Gewandes, und ftolz ſchämt ſich 
das? frembe Gewand deiner! Unter Hirten gebohren, unter jugend: 
lichen Tänzen und zmotönigen armen Chören erwachſen und erzogen, 
wie das deine ©eftalt, dein ewiger, immer durchhin Flingender 
Parallelismus, der fimpelfte Schritt einer einfältigen Sprache zeiget, 
ſollt du plößlih im verfchlungenen Thefeifhen Tanz oder gar auf 
dem Kothurn, pindariſch, horaziſch, bacchiſch triumphiren! — 
Wenig Dinge in der Welt ſind abſtechender von einander, als dieſe 
beyden, der einfältige, unermüdliche Parallelismus der Ebräer, 
und jene gerundete ober geſpitzte künſtliche Sylbenmaaße. Kein 
Bild bleibt alſo in ſeinem Umriß daſſelbe, keine Strophe dieſelbe, 
kein Umriß eines Perioden derſelbe; alles wird verrückt und ver⸗ 
Ihoben.? Lachen Sie immer über mich, daß ich dieſe fimpeln 
Ebräiſchen Lieder? lieber in der ärgften Jüdiſch-Deutſchen Ueber- 
fegung, ala in foldem fremden Triumphkleide, wo die arme Ueber⸗ 
wundne öffentlih zur Schau geführt wird, leſe. Dort höre ich 
doch noch durch, mwa8® fie war, was fie ſeyn fol; bier höre ich 
den Parallelismus, und fol ihn doch nicht mehr hören: er kuckt 


Sprache in Ueberſetzung diejer Heiligen Stüde aufbringen, ihr 
Sylbe nach Sylbe gleichſam vorzählen wollen, wo .... und todte Afche 

1) Open, daB Siegslied der Deborah in eine Pindarifhe Form ver- 
fleibet dafteht. Arme, einfältige Poefle der Ebräer, wie bift du verwandelt! 


2) ftolz das 

3) Unter Hirten bift dir gebohren, unter ...... erzogen, das zeigt beine 
Geftalt, .... Sprade; und nun follt du plöglih im ..... Tanz, auf dem 
Kothurn, pindariſch, horaziſch, bacchiſch raſen! — Sie fehen, m. Fr., daß 
nichts in ber Welt abſtechender ſey, als dieſe Dinge, der einfältige, ewige, 
unermüdliche Parallelismus der Ebräer, und jene gerundete, geſpitzte, 
gedrehte künſtliche Sylbenmaaße. Kein Bild bleibt mehr daſſelbe, feine .... 
derſelbe; alles wird verzwickt und verſchroben. 


4) Lieder weit 5) noch, was 


ab 


56 





— 17 — 


überall vor, und foll doch verftedt werden! Glauben Sie, mein 
Freund, die Bibel würde lange nicht fo verunftaltet ſeyn, wenn 
man fih nicht ihrer Einfalt und Armuth ſchämte. Nun ward fie 
vollgepfropft mit fremden, mwiberfinnigen Ideen: die zweyte Zeile 

157 des Rhythmus, die urjprünglich nichts als Echo, ein zurüdtönen- 
des,? jugendliches Freudengeſchrey, ein erklärender Wiederhall ber 
eriten mar, follte immer was unergründliches, ungeſagtes, neues 
bedeuten, jedes Wort in ihr follte emphatifch jeyn; und jo zwang 
man duch finnlofe Verfhönerung hinein, wofür Zeit, Nation, 
Gelegenheit, Zwei, Zufammenhang, Strophe, Poeſie zurüd- 
Ichaudern. ® 


158 Zehnter Brief. 


Ich dachte wohl, daß Ihnen einiges im Schluß‘ meines leb- 
ten Briefes auffallend ſeyn würde; Sie zu befänftigen, will ich 
alfo nichts weiter gejagt haben, als daß man doc menigitens 
Sylbenmaaße in fremden Sprachen wählen müßte, die den Paral- 
leliamus der Ebräiſchen Poefie nicht verwirren,d fondern ebnen und 
fhlihten, die ihm freundlich dienen, und einen fanften,® gefälligen 
Eingang in unſer Ohr geben.” est zum Inhalt der Palmen. 


1) tukt immer hinter der Berbrämung vor, und iſt doch verbrämet. 

2) Echo, zurücktönendes, 

3) in ihr neu ſeyn; und .... Verſchönerung heraus ober hinein, 
wofür .... Boefie ſchauert. So viel man auch in den neueften Zeiten vom 
Parallelismus fpricht; fo wenig fieht man noch in manchen Stüden feine 
Wirkung. Denn macht man nicht immer noch aus Mofe, Propheten und 
den Pfalmen Horaziſche, Pindariſche, Rouffeauifche Verſe? und behanbelt 
fie, als ob fle als folche gemacht wären? Ich wiederhole es, daß ich ftatt 
eines ſolchen traveftirten Davids immer lieber des Rabbi Mofe Stenbels 
Jüdiſch⸗Deutſche Berspfalmen*) Iefe. 

4) Ihnen der Schluß 5) verzerren, 6) und fanften, 

7) geben. Künftig hiervon ein mebrere®. 





*) ©. Wagenfeild Benachrichtigung Über einige Yübifche Sachen, Leipzig 1705. 


— 18 — 


Ich weiß Ihnen keinen befiern Schlüffel zu ihm zu geben, als 
die vortreflihe Vorrede Luthers zu dieſem, feinem Lieblingsbuche. 
Er wird Ihnen fagen, mas Sie in ihm haben, wie Sie’3 anwen⸗ 
den und brauchen follen. Ein Magazin folder Art muß uns durch 
einzelne Vorfälle im Leben erft recht vertraut! und brauchbar wer- 
den. In ähnlihen Umftänden und Gemüthsfafjungen erheben fich 
ſolche Lieder gleichſam aus ihrer Aſche hervor, fie werben uns näher 
und traulicher, ihr Geift befucht uns in treffenden Sprüden, mir 
bören füßen Gejang der fanften Githith, der hellen Kinnohr ober 
der gedämpften Adufe von fern tönen, unſer Herz wird ftill oder 
freudig — — 

Sie erinnern mid an Proben aus diefem Buch, wie ih Ahnen 
bie und da aus den vorigen gegeben. Es fey fo; ich? gebe einige, 
wie fie mir in bie Hand fallen; Ihr guter Geift wende fie an: 

Ich bebe meine Augen zu den Bergen, 
Bon dannen mir? Hülfe fommt! 

Meine Hülfe fommet von Jehovah, 
Der Himmel und Erde fhuf. 

„Er wird deinen Fuß nicht gleiten laſſen, 
Er wird nicht ſchlummern, der dich bewacht! 
Nicht! Schlafen wird er, und nicht fchlummern, 
Der Iſrael bewacht. 

Sehovah ift dein Wächter, 

Jehovah ift dein Schatte, 

Er ziehet dir zur Rechten, 

Dat Tages dir die Sonne, 

Dir Nachts der Mond nicht ſchade. 
Jehovah wehret von dir alles Uebel. 
Er mwahret die dein Leben, 


1) Leben vertraut 

2) Es ſey fo; nur erinnern Sie fih, m. gr., daß man Herzens⸗ 
geſänge ſolcher Art auch durch Kritik entweyhen könne. Ich 

3) meine 4) Nein! nicht 


159 


160 


161 


— 19 — 


Behütet deinen Ausgang 
Und Eingang, 
Jetzund und immerdar.“ 


Welche file Ruhe, die in diefem Liebe der Wallfahrt, der Reife 
und des Sehnen? nad) Gottes Bergen berrihet! — Den Bug 
Gottes zur Rechten, nehme ih für einen gewöhnlichen Idiotismus, 
ftatt:? dir zur Hülfe, zur Stärke, zum Beyftande; die Redens⸗ 
art it häufig befannt: Pf. 73, 23. Pf. 16, 8. uf. — Ein 
andres ſchönes Lied, das? ihm vorhergeht: 


Zu Jehovah ruff’? ih in meinen Aengften, 
Und Er erhöret mid.* 


„Herr, rette meine Seele, 
Bon Lügenlippen, 
Bon Läfterzungen.” 


„Was kann dir thun, was fann dir ſchaden, 
Die Läfterzunge?” 


Sie ftiht wie jpige Pfeile des Starken, 
Sie brennt wie glühende Kohlen von Dornen. —* 
Wehe mir! 
Ein Fremdling bin ich hier in Räuberhorben, 
Muß wohnen hier in Kebarenifchen Zelten, 


Lang’ ward es meiner Seele, 
Mit Einem zu wohnen, der Frieden haft. 
Sch ſpreche vom Frieden, und Er fucht Krieg.® 


1) Ich weiß nicht, ob ich die ftille Ruhe ausgedruckt habe, die .... 
Bergen liegt. Den Zug Gottes ihnen zur Rechten, nehme ich ohne Geogra= 
phie für Idiotismus an, ftatt: 

2) Ein andres, das 3) ſchrie 4) Er börte mid. 

5) Spite Pfeile des Starten [hießtfie,  Glübenve Kohlen von Dornen. 

6) Ein Frembling bin ih in Mefeh, Muß wohnen in Zelten Kedars. 
Lange warb e8 meiner Selle, Mit dem zu wohnen, ber Frieden baft. 
Ich ſprach vom Frieden, Er nahms auf Krieg. 


Dffenbar tft dies Lied die Klage eines einzelnen verfolgten und 
verläumdeten Mannes aus einem unfriedlihen Zelt, oder aus einer 
bedrängenden Hütte. Warum es als nmyoynma TS daftehe, weiß 
ih nicht; fo, daß ich überhaupt dies Wort lieber von Palmen, 
die aus der Wiederkehr mitgebracht find, oder die zum Zuge nad 
Serufalem gehören, zu überjegen Luft hätte.*)! Augenfcheinlich ift 
das Pſalmbuch Parthieenmweife entjtanden, (mie oben gezeigt wor: 
den) und in dem leßten, dem jpätern Theil, find nur wenige 
Stüde von David, eine Nachlefe gleihfam; die meiften jcheinen von 
andern Berfaffern.? 


Wäre Yehovah nicht mit uns gemeien; 
Sage nun Iſrael. 
Wäre Jehovah nicht mit uns geweſen, 
Als Menſchen über uns ftanden; 
Verſchlungen hätten fie und lebendig, 
In ihrem Grimm, in ihrer Wuth. 
Sie hätten uns überſchwemmet, die Waffer, 
Der Strom wär’ übergegangen über unfer? Lchen, 
Gegangen wären fie über unfer Leben 
Die ftolzen Waſſer. 


*) S. vom Geift der Ebräifchen Poeſie. Th. 2. S. 367. u. f. 


1) Offenbar gebt dies Lied nicht auf die Reife felbft, fondern ift eine 
Klage no aus der Gefangenſchaft Hütte. So find mehrere diefer Pfalmen, 
die kein Wort von Reife fagen, und doch unter ben noyn NS fteben: 
fo, daß .... mitgebracht find, und zu ihr (dem Zeitpunkt und Urjprung 
nach) gehören, zu überfeßen Luft hätte. Dies fcheint dem Zweck der Lieber- 
ſchrift ſämmtlicher Bfalınen gemäß, die nicht ſowohl Inhalt, als Urfprung, 
Berfaffer, Umftände der Entſtehung zu beflimmen ſuchte. Alfo 
tönnen unter diefen Yiebern wirklich Stüde von David und Salomo ftehn, 
die vorher im Pfalmbuch noch nicht flanden, und jett aus der Gefangen- 
ihaft erft mitlamen und binzugefügt wurden. 

2) Berfaflern, und kamen auffteigend, d. i. auf der Rückkehr 
(Era 7, 9.) mit berüber. Bey den meiften zeigts ihr Inhalt: 

3) übergegangen unjerm 


Gelobt ſey Gott! 
Er gab ung ihren Zähnen nicht zum Raube, 
Entlommen tft unfre Seele, wie ein Bogel, 
Aus Vogler Strid: 
Der Strid ift zerriffen, wir find entjchlüpft. 
Unfre Hülfe fteht im Namen Jehovahs, 
Der Himmel und Erde fhuf. 


Daß der Anfang dieſes trefliden, in verſchiednen Stellen jehr 
lebendigen und nachahmenden Liedes nicht ein allgemeiner Sat, 
jondern eine beftimmte Erfahrung aus der Vorzeit fey, zeigt der 
Fortgang unläugbar. Eben hierauf, daß e3 ein gewiſſes Factum 
voriger Begegniffe jey, fteuert fih das Lied und »8, das ich nicht - 
163 ausdrüden Tonnte, ift nicht vergebens dreymal wiederholt. Wie 

ihön ift der Schwung im Ganzen! wie fhön die Malerey V. 3. 
4. 7. —! Hier ift ein anderer Pſalm, offenbar auf dieſelbe 
Gefangmeije: 

Biel haben fie mich geängftet von meiner Jugend an, 

(Sage nun Sirael) 

Biel haben fie mich geängftet von meiner Jugend an, 

Und doch nicht übermodht.? 


Sie haben auf meinem Rüden geadert, die Aderleute, 
Und zogen ihre Furchen lang. —* 

Jehovah, der Geredhte, 

Hat abgejchnitten die Seile der Frevler. 


Beichämet werben zurüde weichen, 
Alle, die Ston haſſen; 
Sie werden jeyn, wie Gras auf den Dächern, 
Das, eh’ es reif wird, melfet. 
1) Wie ſchön der Schwung im Ganzen, die Malerey V. 3. 4. 7. fey, 
mögen Sie fi jelbft erflären. — 
2) nicht über mich vermocht. 
3) geadert, die Pflüger, Und lang gezogen ihre Furchen. — 


— 12 — 


Mit dem kein Schnitter die Hand, 
Kein Garbenbinder füllet feinen Arm, 
Dem nicht die Webergehenden jagen: 
„Segen Jehovah auf euch! 

Wir fegnen euh im Namen Jehovah.“ 


Noch ein paar diefer ſchönen Lieber: 


An Babels Strömen faflen wir ba, 

Und meineten, wenn wir an Zion dadten. 

Hin an! die Weiden in ihrem Lande, 

Hingen wir unjre Harfen. 

Denn da foberten fie, die und gefangen hielten, 
Liedesworte von ung: 

Unfre Dränger foderten Freude: 

„Der Zionglieder, finget und Eins.” 


Wie follten wir fingen Jehovahs Lied 
Auf fremder Erde? 
Vergeß' ich dein, o erufalem, ? 
Sp vergefje meiner meine rechte Hand !? 
Es ange meine Zung' an meinem Gaumen, 
Wenn ich nicht dein gedenke, 
Wenn ich nicht über die Erite meiner Freuden, 
Steigen laſſe Jeruſalem. 
Gedenk, Jehovah, der Edomsſöhne, 
Am Tage Jeruſalems. 
Sie ſprachen: „reiſſet, reiſſet ein 
„Bis auf den Grund!“ 
Tochter Babels, Verwüſterin, 
Heil ihm, der dir den Lohn giebt, und vergilt 
Was du an uns gethan. 


1) dachten. An 2) dein, Jeruſalem, 
3) meine Rechte! 


166 


— 13 — 


Heil ihm, der einft ergreift und jchmettert 
Deine Säugling’ an den Fels. 


%* 

* * 
Als Yehovah Zions Gefängnig wandte, 
Wie Träumende waren wir da. 
Da war voll Lachen unfer Mund, ! 
Und unfre Zunge voll Jubel. 
Da ſprachen fie unter den Heyden: 
„Der Herr hat Großes an? ihnen gethan!“ 


Der Herr hat Großes an? ung gethan: 

Deß find wir froh. 

D laß’ auch jetzt, Herr, uns Gefangne? wiederkehren, 
Wie Quellen wieder fommen im bürren Lande. 


Der Siemann fäet mit Thränen, 

Und erntet mit Jubelgeſang', 

Er geht dahin und weint und träget feine Saat’ hin; 

Er kommt zurüd und jauchzt und bringet feine Garben.t 


Welch ein ſchönes Stüd, auch als Geſang betradtet! Der Anfang 
ift Jubel, als wäre es eine ſchon erlebte,” göttlide Wohlthat; 
und das Ende ift nur noch Wunſch, ein® Seufzer um die Wie- 
derfehr aus Babel. Sie find ihres Gottes fo gewiß, fie find ihrer 
Errettung auch nur im Traum des Andenkens fchon jo froh, daß 
die Zulunft ihnen Gegenwart wird, und nur ſpät erft die Seele 
zur traurigen Erinnerung aufwacht, dab um fie alles noch dürre 


1) Gebein 2) mit 

3) Laß, Jehovah, unfre Gefangnen 

4) Sie ſäen in Thränen, Und ernten im Jubel. Sie gehen, 
und weinen und tragen ihre Saat bin; Sie kommen und jauchzen und 
tragen ihre Garben. 

5) auch als Poefie betrachtet! Der Anfang ift jhon Jubel, al8 wäre 
e8 erlebte, 

b) noch 


— 14 — 


fey, daß fie noch im Lande der Gefangenichaft ſchmachten — —! 
Doch mein Brief wird reicher an Verſen, ala an Proje. Leben 
Sie wohl. 


— — — — — — 


Eilfter Brief. 


Mi freuet, daB Ihnen das Studium der Pfalmen dur 
meine Anfrifchung lieb geworden; wir haben im unferm SBeitalter 
auh über fie gute Hülfsmittel erhalten. Auffer Michaelis, 
Schulz, Tellers, Knappe, Mendelſohns Meberfegungen? in 
Proje, und fo manden hie und da in Verſen haben mehrere 
gelehrte Männer in einzelnen Anmerkungen mande Berichtigung 
und Erläuterung geliefert*).? Ich gehe zu den Schriften Salomo’8 
über — — 

Die Sprüde find eins der fchwerften Bücher der Bibel, * 
überfett zu werben. Der Geift orientalifcher Sinniprüde ift von 
unfrer Art der Sprache und Borftellung fo verſchieden, daB oft 
ihr feinfter Wig für ung ftumpf wird,? und die ihnen auffallendfte 
Aehnlichkeit verfhwindet. Indeſſen haben auch bier fehr würdige 


*) 3.8. Döderlein in feinem Grotius, Datbe in feinem Spri- 
hen Pfalter, Knapp, Köhler in mehreren Stüden des Nepertorium, 
Haße in der Idiognomik Davids u. a. 


1) gewiß, ihrer Errettung .... Andenkens fo froh, daß die Zukunft 
Gegenwart wird, und .... alles noch dürre, arme Thränenreihe Saat 
ſey — — („daß fie — ſchmachten.“ fehlt.) 

2) Knapps Ueberjehungen 

3) haben Döderlein in feinem Grotius, Datbe in feinem Syri- 
hen Bjalter, Knapp und infonderbeit Köhler in ihren Anmerkungen 
.... geliefert. Die legten find ein Magazin kritifcher Belefenheit mit einem 
febr reifen Urtheil georbnet.*) 

4) find wohl das ſchwerſte Buch der Bibel, 

9) Borftellung oft fo weit verfchieben, daß oft der feinfte Wit ftumpf wird, 

*) ©. Repertor. für Bibl. und Morgenl. Literat. Th. 4. 5. 


1) »*) 3. B. - u a” fehlt. 





— 15 — 


168 Männer gearbeitet und durh Anmerkungen und Ueberfegungen dem 


16 


8 


Liebhaber fortgeholfen. Ich darf die Namen eines Schultens, 
C. 3. und 3. D. Michaelis, Hunt, Reiske, Döderlein nur 
nennen, um Sie auf diefe Blumenlefe des morgenländifhen Wites 
und Scharfiinnd auch Fritiih aufmerffam zu maden. —! Das 
jonderbarfte Kapitel der Sprüchwörter ift wohl das vorlegte und 
das jonderbarfte in ihm jein Anfang. Ich Halte es ganz für? 
Arbeit oder Sammlung eines Berfafjere, der Agur hieß, ober 
fih bier Agur, den Sammler, nenne. Sie enthält finnreiche, 
zum Theil fcherzhafte? Sprüde, die unter fih eben in feinem 
Zufammenhange ftehen dürfen. Sie kündigen ſich gleich an, für 
das mwas* fie find, daher ich mich wundere, wie man fie in ein 
Gefpräh verwandeln können: 

Worte Agurs, des Sohnes Jakeh, 

Machtreden*) ſprach der Mann zu Stbiel, 

Zu Ithiel und Udal. 

*) Jchı nehme das Wort NÖNMT, wie es bey den Arabern fo gewöhn— 
lich iſt, und audh,2 ohne das 7, bey ben Propheten oft als Ueberfchrift 
vorlommt. Bey diefen heißts eine Machtreve, und bey jenen iſts ber Titel 
zu Sammlungen bentwürdiger Reden, Gedichte und Sprüde, wie wir etwa 
das Wort cornu copiz, Anthologie, Florilegium brauden. Sie haben 
mebr, als Eine Samafa; und bier hätten wir alſo eine? hebräifhe Hamaſa, 
d. i. Sprudfammlung Agurs, des Sohns Jaleh, der feinem Namen 
nah, ſelbſt Sammler heißt. Sie find zum Theil mit großer* Vehemenz 
und Eifer vorgetragen; und der Anfang jelbft ift eine begeifterte Zuſchrift an 
Ithiel und Uchal. 


1) verſchwindet. Auch hier hat Döderlein außer ſeinen Noten zum 
Grotius auch durch eine eigne Ueberſetzung ſich verdient gemacht; außer und 
vor ihm find Michaelis, Schultens, Hunt, auch neulich Reiske, 
€. B. Michaelis und Geier, jeder im feiner Art, brauchbar. 

2) Ich halte dies ganze Kapitel für 


3) zum Theil fehr geflügelte 4) glei an, was 


1) „Ih — Uchal.“ flieht in A. mit den angegebenen ÜÄnberungen vor „I nehme 
beydes für” im Texte. 

3) Sie fehen, m. Fr., ih nehme das .... gewöhnlich ift, und es auch, 

3) bier haben wir eine 4) großer Macht, 





— 126 — 


Ich nehme beydes für Namen feiner Schüler,! und Ithiel wird im 169 


Feuer des Parallelismus, wie mehrere Beyipiele find, feyerlich 
wiederholet. Sie wifien, daß von Orpheus und Hefiodus an faft 
alle? begeifterte Lehrſprüche und Geheimnifie an Schüler, Geweihte, 
Jünger geftellt wurden; die Namen Linus, Muſäus, Berfes find 
befannt.? Hier finds Ithiel und Udal, die die Götterfprüche hören; 
fie fangen beynah mit* einem Räthſel an: 

Ich, ein einfält'ger Mann, 

Der Menſchen Klugheit hab’ ich nicht;® 

Ich Habe Weisheit nicht gelernet, 

Und doch weiß ich der Götter Wiſſenſchaft. 

Wer fuhr gen Himmel und fuhr hinab? 

Wer faßt den Wind in feine Yauft? 

Wer band die Waſſer in fein Kleid? 

Wer fatte aller Erde Grenzen? 

Wie heißt fein Name? wie heißt fein Sohn? 

Wille mir das? 

So? ſprach immer die Begeifterung der Urmelt, nicht nur in 

Morgenlande, jondern aller Orten. Das älteite Gedicht der Nord- 


1) Namen (feiner Söhne oder Schiller) 2) an alle 

3) wurden; und bie .... find ja fo belannt. 4) fangen mit 

5) Ih, der finnlofefte der Männer, Der Menfchen Einficht hab 
ih nicht; 

6) Heilgen 

. 7) Ih nehme die Worte alle, wie fie ba fiehn: ohne Abſatz, obne 

Unterredung. Agur, ber fih im Feuer der Rede, als den Sinnlofeften ber 
Menfchen anlündigt, der nach den, was Klugheit unter ihnen heißt, nicht 
firebet, der feine Weisheit nicht Schulmäßig erlernte oder erkaufte; Er unter- 
nimmts demohngeachtet, Sprüche Gottes, Geheimniſſe feiner Heiligen 
zu wiflen und zu ſagen. Es ift befannt, wie fehr auch bei beibnifchen 
Dichtern, zumal in den älteſten Zeiten, fi das Göttliche, Himmliſche von 
dem, was gemeine Menſchen wifien, vom Irrdiſchen zu unterfcheiden juchte, 
und mie meiftens Dichter, Philofophen, Gottbegeifterte aller Art fich 
zuerft vom gemeinen Wege entfernt barzuftellen ftrebten, ebe fie ihre Gcheim- 
niffe, die ihnen von Gott gegebne Weisheit den Geweiheten verlündigen 








171 


— 17 — 


länder, das faft wie biefe Hamaja anfängt, und fih Voluſpa, 
Sprache der Weifjagung, nennet, fragt, gerade wie diefe Stimme, 
binter jeder geheimen Tradition vom Weltbau oder dem Gefchlecht 
Odins: Wer weiß mir das? oder: wifjet ihr das? Geheim- 
nifje der Art, Religions» und Naturgeheimniffe, wurden immer 
am liebften in Fragen und Räthſel gefleivet. Die Fragen Gottes 
bey Hiob, die er ihm als Abgrund ber Meisheit vorlegt, find 
hierüber der fchönfte Beweis und menigitens eine Heine Aehnlich⸗ 
feit mit ihnen bat diefer Sprud Agurs. Er fährt fort:' 

Die Neden Gottes find alle geläutert Gold. 

Ein Schild ift Er, allen, die auf ihn traun. 

Thu nichts zu feinen Worten Hinzu, 

Daß, wenn er fharf erforicht,? er dich nicht Lügner finde. 

Lefen Sie das 28. Kapitel? Hiobs, Eins der erhabenften 
Stüde der Welt, und ich darf Fein Wort mehr jagen. Es zeigt 


wollen. Ich könnte Ihnen manderley Stellen Griechifcher Dichter anführen; 
erinnere Sie aber nur an fo manche feyerliche Ankündigungen Ebräifcher 
Propheten; infonderbeit wenn in Hiob entweder Elihu anfäugt, oder Götter - 
und alte Weisheitiprlihe angeführt werden. Cine foldye fol auch bier fol- 
gen, und wie abermals der ältefte Zon will, als Geheimniß, in hoben 
Näthfelfragen. So 

1) Beweis, fo wie fie gewiß das Erbabenfte find, das je in foldyen 
Fragen gefagt ward. Cine ..... Spruch Agurs. 

Wie aber? mußte Agur alled, was er fo erhaben fragt? Mich büntt, 
ja: e8 war eben die auszeichniende Wiflenfchaft der Heiligen, d. i. ber 
Srmählten Jehovahs, daß fie Ihn fannten, Ihn, den Weltfchöpfer, ben 
Weltregierer, und eben dies, nur Dies preifet Agur. Er will nicht wiſſen, 
wie man Himmel und Erden erfülle? den Wind hemme, und Wafler in 
fein Kleid, die Himmelsluft binde? fondern wer e8 thue? wie fein Name 
umd feines Sohnes Name jey? das wufte Sfrael, das weiß Agur, und 
nennets ein Gottesgeheimniß. Daß dies der Sinn fey, zeigt der Zuſatz, 
den ich noch für Kortjegung deſſelben Spruchs halte: 

2) wenn er prüft, 

8) Der Ifraelit ift ftolz auf fein Geſetz, auf die Rebe, die ihm Gott 
anvertrauete, Hält fie für geläutert Gold, fir eine Summe aller Weisheit, 
der man nicht8 binzutbun müſſe, oder Gott räche jeden falſchen Zufat. 


— 128 — 


durchhin, daß nicht Naturkenntniß und Erforſchung das wahre Ziel 
menſchlicher Weisheit jey; fondern einzig und allein Kenntniß 
und Furcht Jehovahs. Es ift, fo wie der 19. 147. Pfalm, 
das Lied Moſes, die ganze Dichtung des Buchs der Weisheit K. 7. 
bis 11. Sirach 24. 51. der ſchönſte Commentar diefer Worte. ! 


Zwo Dinge bat ich von dir, 
Bermweigre fie mir nicht bis an mein Ende. 
Abgötterei und Lügen entferne meit von mir,? 
Armuth und Reichthum gieb mir nicht, 
Laß mid geniefien mein befchieden Brod, 
So lang’ ich leb’ auf Erben.? 


Ohne Zweifel wollte Agur doch ſelbſt nicht in daB Verbrechen fallen, wofür 
er warnt; und fo konnte wohl feine Weisheit feine andre feyn, als wie wir 
fie betrachte, Kenntniß de8 wahren Gottes Jehovah. Leſen fie 
das trefliche 28. Kapitel 

1) Es fpridt, fo wie ... Sirach 24. 51. hierüber ben ſchönſten Com- 
mentar — — 

Wer ift num aber der Sohn Gottes, von dem Agur redet? Wäre es 
die Tochter Gottes, fo wäre e8 ohne Widerfpruh die ewige Weisheit, 
von der, eben in Stellen von Agur® Art, jo ſchöne Perfonificationen vor- 
handen: wie 3. E. Sprüdm. 8. und in den eben angeführten Stellen des 
Buchs der Weisheit und Sirachs. Jetzt heißets Sohn Gottes, und 
Iſrael ift dieſes nicht, das wäre fein Himmelsgeheimniß. Ih muß ihn 
wirfli für den annehmen, der frübe fchon als Wort Gottes, Engel 
des Angefihts, im N. T. al® Aoyos bezeichnet ift, durch ben die Welt 
geſchaffen, die Ende der Erde geftellet, alles das ausgerichtet murde, mas 
diefer Gottesſpruch, als That des grofien Unbekannten preifet. Cr fährt 
hinauf und binab (Hiob 9, 10-12) faßt Himmel und Erde in feinen Willen, 
den Sturm in die hole Hand, Wollen des Himmels als Zipfel feines Klei- 
des zufammen, fett alle Grenzen der Erbe; Sohn Gottes, der cwige 
Ausrichter feiner Wege. — Ich wünſchte, m. Fr, daß Sie biefe Auf- 
löſung einer der fchwerften und fchönften Räthfelftellen der Bibel wenigftens 
mebr befricbigte, als die man bisher von ihr gegeben. Der erfte Macht- 
ſpruch ift vollendet; es folgen andre einzelne Lehren, Gleichniffe, Rätbfel. 
Ih kann nit umhin, noch Eins der fchönften zu nehmen, die je gejagt find: 

2) Wahn und Lügen entferne von mir, 

3) meines Antbeil® Brod. („So — Erden.“ fehlt.) 


— — — — — N llll— 


— 19 — 


Daß nicht, wär’ ich zu fatt, vielleicht ich löge, 
Und fpräde: wer ift Jehovah? 
Oder wär’ ih zu arm, vielleiht gar ftähle, 
Vergreifend mid am Namen meines Gottes, 
Durch falſchen Schwur.! 


172 So klingt der Herzenswunſch? eines beſcheidnen Mannes, (ein ſolcher 
klingt immer wie Gebet und wird Gebet) der nur die goldne 
Mittelmäßigkeit begehrt, verknüpft? mit innerer Zufriedenheit 
des Herzend. Er will nichts mehr, ala mas ihm an feinem Theil 
„von Haube des Lebens gleichfam durchs Loos“ zufällt, dies will 
er aber auch ungeftört! genieflen. Wo nicht beyves ift, wo wir 
entweder nichts haben und andre beſchweren müffen; ober zu viel 
haben, und dieje ung beneiden, da entgehet uns der größefte Schatz, 
Ruhe des Lebens. Agur, als fraelit, drüdt den Schaden und 
die Gefahr beyder Extreme noch treffender aus: ber Eine wird zu 
fatt, geräth in Wahn, macht fih aus Gott nichts, verachtet den 
Namen Jehovahs, denn Er bat feinen Gott im Beutel; der andre, 
zu arm, muß lügen,® jtehlen, die Noth treibt ihn zu uneblen 
Mitteln des Unterhalts, er wird nieberträchtig, vom Mangel gar 
gezwungen, falfch zu ſchwören — Die tieffte Grube von Niedrig- 
feit, wohin die Armuth ftürzen kann. Agur, der weiß, wie fehr 
menſchliche Herzen fih unähnlih, wie fehr fie von? Umftänden 
geändert, ihrer felbft unmürdig werden fünnen, verbittet die Ver- 
fudung zu beyden Abmwegen, und münjcht den geraden, goldnen 
Weg der Mitte bis am fein ehrliches Grab hin. 


1) Ober wär’ ih arm, vielleicht ich ftähle, Und vergriffe mich am 
Namen meines Gottes. („Durd — Schwur.” fehlt.) 

2) Ich halte die Worte für den Herzenswunſch 

3) Gebet) wo Ein Glied der Rebe das andre erläutert. Für Wahn 
Thauert ihn und für Lüge, für Stolz und nieberträdtiger Armutb. — — 
Sein Wunſch ift, die golpne Mittelmäßigkeit verknüpft 

4) ungeflört und unangezerret 5) nichts, vergißt, 

6) lügen, vielleicht 7) unähnlich, von 

Herders fänmtl. Werte. X. 9 





— 10 — 


Mie leid thut mirs, daß ich nicht fortfahren lann: Das ganze 173 
Kapitel! ift eine vortreflide Zugabe des Parabeln⸗ und Näthfel- 
buche; gleichjam eine Rede König Tyrols? an feine Söhne, wie 
das folgende lehte die Anrede einer morgenländiichen Winsbeck an 
Sohn und Töchter. Ich wieberhole e8, mein Freund, vielleicht 
wiffen wenige,? was fie für Schönes, vielfeitig Praktiſches und 
Menſchliches an ihrem Bibelbuche haben. — — Ich komme zum 
älteften und erhabenften Lehrgedicht aller Nationen, zum Bud 
Hiob3.* 

Aber, was fol ich darüber fagen? Was über ein Bud 
lagen, deſſen Ausfidt mir bald wie der beitirnte Himmel, bald wie 
der frölide wilde Tumult der ganzen Schöpfung, bald wie Die 
tieffte Klage der Menschheit, von Afchenhaufen eines Fürften, 


1) fortfahren fann, in den übrigen Regeln und Rätbſeln Agurs, in 
ber ſchönen Hofregel B. 10., in der Schilderung ber gewiſſen, aber unge- 
nannten Art Menichen, 

Eine Art, die ihrem Vater flucht, 

Ihre Mutter felbft nicht fegnet: 

Eine Art, fo rein im ihren eignen Augen, 

Und ungewafchen von ihrem Kotb: 

Eine Art, die hoch die Augen trägt 

Und hoch die Augenlieder fchlägt: 

Eine Art, die Schwerbter bat zu Zähnen, 

Meſſer zu Badenzähnen bat, 

Zu frefien die Armen vom Land’ binmweg, 

Hinmegaufreflen die Dürftigen unter den Menfchen — 
eine Art, die Agur nicht nennt, und niemand nennen muß, ber nicht ſelbſt 
verfehlungen werden will. Wie gern ſpräch ich noch von der Halukah mit 
ihren zwo Töchtern, die mit fchnappendem Munde: Habb! Habh! rufen: 
von den vier umerfättliden und vier verborgnen, und vier unerträglicen 
Dingen, von ben vier Heinen Weifen und den vier Prächtiggebenden — 
kurz, dies Kapitel 

2) eine Rede König Tyrols gleichſam 

3) vielleicht die Wenigſten wiſſen, 

4) älteſten, gelehrteſten und erbabenften .... zum Hiobs-Buche. 

5) wie ein beftirnter Himmel, oder wie .... Schöpfung, untermifcht 
mit dem tiefften Klagen der Menfchheit, 


— 131 — 


die Felfen der Wüſte Arabiens hervor, fürfommt. Meine Stimme 
erliegt, eine einzige Beichreibung Gottes in der Natur ober in 
feiner Borfehung, eine einzige Empfindung der Quaal, wie fie voll 
innigfter Herzenslaute dies Buch giebt, geſchweige die letzte Exfchei- 
nung, mo alles Große und Wunderbare der Schöpfung zufan- 
mentritt,! den majeftätiihen Thron Gottes zu tragen — einen 

174 Einzigen diefer Züge, nur wie ich ihn empfand, zu preifen. Hier 
ſey mein Stillſchweigen Lob, bis Ahnen einmal der Sternen- 
himmel dieſes Buchs aufgeht, und fein tiefe Meh? felbft in Ihr 
Herz tönet. 

Wir haben mancherley neuere Hülfsmittel zu ihm.*) Die 
Naturgefchichte deſſelben bat Scheuchzer in einem cignen Bude 
erläutert; und mehr als alles, erläutert das Leſen arabiſcher 
Dichter und Aegyptens, Abeffiniens, Arabiens Naturgeſchichte. 
Wo Hiob gelebt habe? und in welder Sprache urjprünglic das 
Bud verfaßt jey? wird wohl? ein Räthſel bleiben; gnug, es ift 
ein hoher Nachhall der erften Zeiten der Welt und der einfältigen, 

175 unſchuldigen, in ihrer Armuth reichhaltigen‘ Naturmweisheit der 
Väter und Patriarchen. Eine rechte Ueberfegung des Buchs ift 
äußerft ſchwer in unfern jegigen Sprachen; und in Verſen beynah 





*) Aufier? Schultens, (den Bogel, wiewohl am interefianteften 
Theil des Commentars, nehmlich den? Stellen Arabifcher Dichter, verſtüm⸗ 
melt herausgegeben) Reimarus, deſſen kurzer Nachtrag das ganze 
Geſchreibe feines Schriftftellers, Hofmanns, überwiegt, find Reiske neuere 
Anmerhimgen, Michaelis, Edermanns, vorzüglich aber Molden- 
bauers und Hufnagels beutfche Ucherfegungen? und Erläuterungen, 
Döderleins Anmerkungen zum Grotius u. f. nützliche Beyträge zu feinem 
Berftänbniß. 


1) zufammenftürmt, 2) und fein Ad 3) ewig 
4) himmelhoher Nachhall .... Welt, der einfältigen, unſchuldigen, in 
ihrem Reihthum armen 





1) „Wuffer — Verftändniß.“ folgt in A mit ben angegebenen Änderungen im Ip. 
3) Commentars, den 
3) Edermanne, in älteren Zeiten Kortums dentſche Neberfegung 

9* 


— 12 — 


unmöglich. Faſt bleibt! bisher immer noch Luther der Held ber 
Bibelüberfegung und (Tros aller verfehlten Stellen) infonberbeit 
auch in diefem Bud. Ob die Geſchichte Hiobs Geſchichte oder 
Dichtung fey, ift uns Einerley; gnug, er ift im Bude da, er 
jpricht? und handelt, hält einen gelehrten Consessum auf feinem 
Aichenhaufen über die erhabenften, wichtigften,, ſchwerſten Materien 
der Menschheit, über Borfehung und Menſchenſchickſal; und 
Gott ſelbſt entwidelt und Löfet den Knoten. Wenn Laften von 
Lehrgedichten, Theodiceen und moralifher Naturbefchreibung ver- 
gefien? feyn werben, wird dies Buch aufgehen in neuer Himmels⸗— 
höhe und Sternenflarheit. — — 

Das hohe Lied folgt. Was ih vor 10.% oder mehrern 
Jahren davon gehalten, mögen Sie in den Liedern der Liebe*) 
lefen; das Buch in einzelnen Stellen fritiich zu behandeln, war 
damals meine Abfiht nicht. Damit ic mich nicht in Nebenfachen 
verlicfe, und, mie e8 meiltens zu geichehn pflegt, durch unmelent- 
lihe Beywerke den Hauptanblid verfehlte,® Hätte ich beynah Luthers 
Tert gar bingefegt, weil mir durchaus nicht an Leßarten und Con» 
jetturen gelegen war, fondern am Zwecke des Ganzen, an feiner 





— — — 


*) vieder der Liebe, Leipzig 1778. Das Buch war einige Jahre 
früher, als es gebrudt warb, geichrieben. ? 


1) Eine -rechte Ueberfegung bat das Buch nicht gehabt, und kauns 
nicht haben in unſern jegigen Spraden; zumal in Berfen. Cubens Ueber- 
ſetzung if Ihwad, und Edermanns Jamben au ben meiften Orten bem 
Terte wibrig, fo ſehr ich den Fleiß deſſelben ſchätze. Der Himmel muß 
einen eignen Menſchen dazu außrüften, der uns den Klang bed Buchs nur 
von fern gebe; fonft bleibt 

2) ſey, intereßirt Sie nicht; gnug .... da, Spricht 

3) Menſchenſchickſal; Gott ſelbſt .... Knoten, was wollen wir mehr? 
Wenn Welten von Poefie, Lchrgedichten, .... Naturbefchreibung im Abgrund 
fiegen und vergeflen 

4) vor 5. 5) Benmwerte andre den Hauptanblid verfehlten, 





1) „*) Lieder — gefchrieben.” fehlt. 


176 





— 13 — 


auffallenden Form und Geftalt. In diefen Gefichtspunft leſen 
Sie das Büchelchen, und gehen nachher jelbft weiter. Die unzäh- 
ligen und unfeligen Somimnentatoren älterer Zeit mag ich Ihnen 
u nicht nennen; einige der neuern und befiern, die im Gefichtspunft 
des Ganzen mit mir einig find, habe ich auf dem Rande ver- 
zeichnet. *) 1 
Ueber Ruth und die Klaglieder Jeremiä habe ich nichts zu 
jagen, nah dem, was ich über Propheten und Gejchichte allgemein 
177 und in einer unten genannten Vorrede bejonders ? gejagt habe **). 
Wir haben Jeremias Elegie auf den Tod des Königs Joſias nicht, 
und müflen uns alſo an diefer Sammlung patriotiiher und rüb- 
render Klaggefänge ? erholen. — — Wovon id gern ausführlicher 
Ipräde, wäre der Prediger. Ob er von Salomo fey ober nicht 
jey? Tann jegt kaum entichieven werden. Vielleicht find auch nicht 
alle Stüde des hohen Liedes von ihm; vielleicht auch nicht alle 
Sprüde. Wir fahens an den Pjalmen, wir ſehens auch an den 
legten Kapiteln der Sprüche, daß man ähnlihe Materien an gewiſſe 
Hauptbücher ſchob, und gleihjam an die Nägel bieng, die einmal 
dazu beftimmt waren. Davids Name hatte Einmal die Ueberſchrift 


— nn 


*) Dazu gebören Döderleins Anmerkungen zum Grotius 1779. 
und feine Ueberfegung 1783. Kleuters bobes Lied 1780. und das Auch 
Etwas über das Hohelied in einigen Stüden des Repertorium. Eich- 
horns Einleitung ins X. T. müßte ich bey jedem biblifhen Buch neu= 
nen: benn fie verbreitet fi) mit großem Fleiß, Geihmad und Scharffinn 
iiber alle Bücher. ? 

**) Borrede zu Börmeld Klagegefängen Ieremia’s, Weimar 1781. 


1) Commentatoren werbe ich Ihnen vielleicht künftig rennen; vorerft 
mögen Ihnen Diderleins Anmerkungen zum Grotius und Leßings 
Ecloge Salomonis gnug feyn. Die erften haben meine Arbeit, zu ber ich 
bei Gelegenheit eine Nachlefe zu geben gebente, bey weitem verbeflert — -- 

2) „über Propheten — beſondersé“ fehlt. 

8) Sammlung Klagegefänge 


1) „*) Dazu — Bücher.” fehlt. 


— 14 — 


zu den Pſalmen! gegeben; nicht alles aber in den Pſalmen ift von 
ibm. Salomons Name galt Einmal für Weisheit, Sprüde, 
Räthſel, Praht und Liebe; auch das fpäte Buch der Weisheit 
nahm noch feinen Namen an, und fo können auch wahrſcheinlich 
in die Bücher feines Namens Stüde gelommen ſeyn, die gleichjam 
„Salomonisher Natur“ find, d. i. die? ihn, feine Weisheit, Herr- 
lichkeit, Pracht, Liebe befangen oder nahahmten, ihn aber nicht 
jelbft zum Berfafler haben. Die Vergleihung mit bem fpäter 
gebauten Thirza und viele Lobſprüche? auf ihn felbft, die er kaum 
gemacht haben kann im hohen Liebe, verrathen es jedem, der Ger 
fühl Hat. Vielleicht ifts mit dem Prediger nicht anders. Das 
Ende des Buchs ſcheint eine Sammlung von Sprüden mehrerer 
Weiſen zu verrathen (Rap. 12, 11.) und der Name nprrp ent- 
ſpräche diefer Angabe nicht übel; auf der andern Seite iſts aber 
auch unläugbar, daß der Berfafler von fih, ala Salomo Ipridt, 
und fih den Namen nwıp giebt. Woher dies jey? und was er 
in feiner Perjon bedeute? verftehe ih nicht, fo wenig als, wer 
bie Meifter der Berfammlungen find, die der Hirt (my&) beftellt 
bat. War dies eine Akademie von Weiſen, die Salomo ftiftete, 
oder die in fpätern Zeiten feinen Namen führte? Gnug; der 
Inhalt dieſes Buchs ift eines alten Weifen im Orient, oder ber 
Alademie folder Weiſen mwürbig. Sein Bud ift mir aus dem“ 
Altertbum befannt, das die Summe des menſchlichen Lebens, 
feine Abwechslungen und Nichtigkeiten in Gefhäften, Ent- 
würfen, Spelulation und Vergnügen, zugleid mit dem, 
was einzig in ihm wahr, daurend, fortgehend, wachſend, 


1) Liebern 2) find, die 3) Stellen 

4) fo wenig als, warum ex fi einen Hirten 9 nennt, ber bie 
Meifter ver Berfammlungen beftellt hat? Bielleicht ift dies eine Akademie 
der Weifen, die Salomo ftiftete, die feinen Namen führte; die entweder in 
feinem Namen fchrieb, ober in ber er rebete, die feine oder er ihre Sätze 
in Ordnung bradte. Gnug der Inhalt dieſes Buches ift des größeften Wei- 
fen Orients, und ber Alademie ihrer größeften Weifen wirbig. Kein Bud) 
it aus dem 


179 








— 15 — 


lohnend ift, veicher,! eindrüdlicher, kürzer befchriebe, als dieſes. 
Ein Königswert! — wie denn aud viele Männer von Geſchäften 
und Erfahrung, wenigitens in ihrem Alter an ihm? aufferorbent- 
lihen Geſchmack gefunden, und darauf zuletzt gleichjam ? ihre Lebens- 
mweisheit vebucirt haben. Leute im Gefängniß lefen ben Hiob, 
Leute im Kabinett lefen den Prediger am Abend ihrer Tage; Einer 
aus ihnen follte ihn auch aus Beyfpielen und Erfahrungen der 
Weltgefhichte auslegen. * Was Balo u. a. für politifche Weigheit 
in den Sprüchen Salomo's gefunden, ift belannt; mas für all- 
gemeine, biftorifch » philofophifche Lebensweisheit im Prebiger fey, ? 
ift vielleicht noch nicht dargeftellet, wie ſichs gebührte. Wenige 
Worte in ihm find das Refultat großer Bücher, Lebensläufe und 
MWeltperioden, und warlich finds, wie das Ende des Buchs rühmet, 
lieblihe Worte der Rehtichaffenheit und Wahrheit, Sta- 
heln und Nägel in die Seele. — — 
Man bat fi viel über den Plan dieſes Buchs befümmert ; 
am beten ift wohl, daß man ihn fo frey annchme, als man kann, 
180 und dafür das Einzelne nutze. Daß Einheit im Ganzen fey, zeigt 
Anfang und Ende: da aber den Morgenländern eigentliche Deduc⸗ 
tionen einer philoſophiſchen Materie fremd find, und weber dem 
Könige Salomo, noch feiner Alademie an einer Dilputation de 
vanitate rerum gelegen ſeyn konnte: ® fo beitehet das meifte aus 
einzelnen Bemerfungen des Weltlaufs und der ” Erfahrungen 
feines Lebens. Dieje find zufammengefchoben und mit den Allgemein- 
fügen, was enblih das fimpelfte Reſultat von Allem ey, 
leicht ® umfaßt und gebunden. — Mi dünkt, ein tünftlicheres 
Gewebe darf man nicht ſuchen. Wäre man indeß hierauf begierig: 
fo wundert mis, daß man die zwiefade Stimme im Bud 
nicht bemerkt bat, da Ein Grübler Wahrheit ſucht, und in dem 
Ton feines Ichs meiftens damit, „daß alles eitel ſey,“ endet; 


1) reicher, tiefer, 2) Alter daran 3) darauf gleihfam 
4) Tage; niemand als Einer aus ihnen follte ihn auch auslegen. 
5) ift, 6) liegen konnte: 7) der vielfeitigften 8) gleichfam 





eine andre Stimme aber, im Ton des Du, ihn oft unterbricht, 
ihm das Verwegne feiner Unterſuchungen! vorhält und meiftens 
damit endet, „was zulegt das Reſultat des ganzen Lebens bleibe?“ 

Es it? nicht völlig Frag’ und Antwort, Zweifel und Auflöfung, 
aber doch aus Einem und demſelben Munde etwas, das beyden 
gleihet, und fi durch Abbrüche und Fortfegungen unterjcheibet. 
Man kann das Bud alfo gleihlam in zmo Kolumnen theilen, da⸗ 181 
von die Eine dem ermatteten Sucher, bie zweyte dem warnenden 
Lehrer gehöret; bier ift eine Probe: 


1. Der Forſcher. | 2. Der Lehrer. 
Kap. 1, 1-11. | 
12 » 18. 
Kap. 2, 1-11. 
12 = 26. 
3, 1-15. 
16 = 22. 
4, 1:16, 
5, 9:19. 
6, 1-11. 
Kap. 7, 1. 
‚16. 


| Kap. 4, 17. Kap. 5, 1>8. 
‚24:30. 

| 

| 


Rap. 7, 2:15. 
Kap. 7, 1723. 


4 


7 
7 
8, 1. Kap. 8, 2-13. 
8, 14 - 17. 
9, 1= 3, 
9, 11=18. 
10, 1= 8, 


Kap. 9, 4: 10. 


Kap. 10, 4. 


1) Bermwegne und Lieberfpannte feiner Unterfiihungen und Be— 
mübungen 

2) ganzen Buchs und Lebens bleibe?" Das fonderbarfte if, daß 
bie und ba die erfte Stimme, durch die zwe yte unterbroden, nadıper 
gerade ba fortfährt mo fie e8 lieh: es iſ 








— 17 — 


Rap. 10, 5 =7. ' Rap. 10, 8-19. 
Ä Kap. 10, 20. 
| Kap. 11. 12. bis V. 7. 


182 Worauf das Thema wiederholt wird, und der Schluß folget. 
Nochmals gejagt, ich gebe die Eintheilung nicht für einen ! Dialog 
zwifhen Ich und Du aus; inbeßen tft der Unterfchieb doch merf- 
würdig und läßt vielleicht eine Zufammenfegung aus mehrern ein- 
zelnen Stüden vermuthen. — ? Auch dies Buch hat in den neuern 
Zeiten feine Bearbeiter gefunden *). 


Ueber die legten Bücher Heiliger Schriften darf ich kurz jeyn. 

Das Buch Efther Halte ih für einen Belag zu Beurkundung des 
Feſtes Purim, wie etwa die Jüden in ihrer gewaltigen Entfernung 
vom Hofe und von den Perfiiden Sitten, vielleiht auch ſchon in 
Ipäterer ® Zeit die Geichichte, die ſolches Feſt veranlaßt batte, über- 
kamen. Die Grundzüge diefer Geſchichte halte ich aljo für mahr, * 
183 nur daß fie bier ganz nad der Weile und Vorftellungsart der 
Juden erzählt ift, ob fie wohl Spuren Perſiſcher Sitten noch in 
ih träget. Daniel ift die Offenbarung Johannes im U. T.; ich 
müßte zuviel jagen, wenn ich etwas davon jagen wollte. — Efra 


*) Auffer?) M. Mendelsſohn, deilen ehrerbietigen, pbilofophifchen 
Zon id manden unſrer chriſtlichen Ausleger wilnfchte, haben Michaelis 
in feiner Ueberfegung und poetifhen Parapbrafe, Kleuter, Struenfee, 
Döderlein einzeln oder im Ganzen das ihrige gefagt; von ben ältern 
Kommentatoren biefer und gefammter Bücher des A. T. werde ich fpäterhin 
im Zufammenhange reden. 


1) einen völligen 

2) „indeßen — vermuthen. —” dafür in A: genau angeſehen aber, 
if die Rüdficht auf einander ımläugbar. — 

3) Beurkundigung des Frefte® -... . ihrer Entfernung vom Hofe und 
den Perſiſchen Sitten, vielleicht auch ſchon in etwas fpäterer 
4) Die Geichichte halte ich für wahr, 





1) „Aufſer — reden.” folgt in A im Text. 


und Nehemiah find traurige Bücher, fowohl im Inhalt der Ge- 
Ichichte, ala im Styl und Ton der Erzählung. Armes Volt, wo 
war bir jet bie Zeit und der Geift Mofes, Davids, Salomo, 
Jeſaias! Die Bücher der Chronik endlich find eine nübliche Nadh- 
lefe von dem, was auffer den fchon geordneten obigen hiftoriichen 
Büchern an Volks- und Reichsnachrichten, Chronologie u. dgl. übrig 
war, und man bier forgfältig hinzuthat, ohne es bie und da ord— 
nen zu können. Nehmen Sie meine Briefe zuſammen und jchliefien, 
was für einen Reichthum von Inhalt und verſchiedner Art wir 
an biefen fo vielen und vielfahen Jüdiſchen Schriften haben! und 
wie arm der dran fey, ber fie ohn Unterſchied, als ein Buch Einer 
Zeit und Eines Schreibers stans pede in uno lieft. Er könnte 
es nicht ärger machen, wenn er eine Bibliothef von 24 Schriften 
und Scriftftellern einer andern Nation, in der verſchiedenſten 
Schreibart, Jahrhunderte von einander getrennt, erft durd ! ein- 
ander würfe, ſodenn zufammen binden liefie, und nun als Ein 








Bud, bie Schrift Eines Menſchen und Tages, läſe. Ich bin 184 


gewiß, der erfte Grundſatz eines gefunden, richtigen Leſens dieſer 
Büder ift: theile! lies jebes Buch für fi, lies es in feine 
Zeit zurüd und gleihfam auf feiner Stelle;? werde mit der Seele 
und Schreibart jebes einzelnen Schriftftellers vertraut, und vergiß 
jo lang alle andre, bis du zulest von Einer Gotteshöhe (falls 
du dahin gelangft) fie alle zufammen, wie Bileam dag Volt, über- 
feheft. ? 


1) und noch mehr Schriftftellern .... in ben verfchiedenften Arten 
der Schreibart, .... getrennt, durch 

2) Leſens ift hier: theile! Lies jedes Buch für fich, im feine Zeit zurüd, 
auf feine Stelle; 


3) überfieheft. 





— 139) — 


185 Zwölfter Brief. 


Sie wollen, daß ih Sie auf jene Gotteshöhe, ſämmtliche 
Bücher des alten Teitaments zu! überfchauen, führe; aber, Freund, 
wenn auch die fieben Altäre da- und ihre Opfer bereit ftünden, 
wo tft der Gott, der mir begegne und mir feine Gefichte über dies 
Voll, den Sohn feines Eigentbums, zeige? Ich Schaue ihn, 
aber nur von ferne. — — 

Die Hauptfache, der Grund von Allem ift, ob die Geſchichte 
dieſes Volks wahr? das ift, mit andern Worten, ob dies Volk 
Iſrael fey oder je geweſen? Mich dünkt, nur Frechheit ober 
Verzweiflung könne dies läugnen. Es war und ift das ausgezeich- 
netite Volt der Erde; in feinem Urjprunge und Fortichen bis auf 
den heutigen Tag, in feinem Glüd und Unglüd, in Vorzügen 
und Fehlern, in feiner Niedrigkeit und Hoheit fo einzig, jo ſonder⸗ 
bar, daß ich die Gefchichte, Die Art, die Erjiftenz des Volks für 
den ausgemadtejten Beweis der Wunder und Schriften Balte, 
die wir von ihm wiſſen und haben. So etwas läßt fich nicht dich⸗ 

186 ten, ſolche Geſchichte mit allem, was daran hängt und davon 
abhängt, Turz, fol ein Volk läßt fich nicht erlügen. Seine noch 
unvollendete Führung ift das gröffefte Pocm ber? Zeiten, und 
geht wahrſcheinlich bis zur legten Entwidlung bes groffen, noch 
unberührten Knotens aller Erbnnationen hinaus. — — 

ft dies? Faktum bewährt; Tann niemand ala Falſchheit 
erweiſen, daß Gott einen Abraham, aus der Familie, aus dem * 
Geſchlecht der Vorväter, von der Höhe Aſiens allmälich ins niedre 
Paläftina, bis in das noch tiefere Aegypten geführet, fein Ge- 
ſchlecht durch einen Joſeph dahin kommen, durch einen Mofes (auf 
welche Weile es auch geichehen jey) wieder heraus führen, lange 
in der Wüfte umberziehn, zulegt Paläftina, wiewohl unvollkom⸗ 
men, erobern, dafelbft wohnen, feine mancherley Haushaltung trei- 


1) Bücher zu 2) aller 3) dies grofle 4) Familie, bem 








ben, endlih es gefangen führen, wieder fommen, ſich neu ein⸗ 
richten, nah manderley Einfledtungen fremder Völker es zulegt 
in den Zuftand ftürzen laffen, mo wirs nod jest fehen; ift Dies 
alles, noch ohn’ alles Wunderbare, nur jchlicht - hiftoriih, wie jede 
andre Geſchichte wahr; mich dünkt, fo ift Alles geſetzt, Alles zu: 
gegeben, was wir wollen, ein Wunder der Zeiten. So find aud 
die Schriften wahr, die die Geſchichte dieſes Volks jo Natur: 187 
voll, aufrichtig, fimpel, einzig bejchreiben, die jeden Zeitraum, faft 
möchte ich jagen, jeden Winkel derjelben in feinem Xicht zeigen, 
die mit den Greigniffen ſelbſt nur fo ſchlicht hinabgehn, mie der 
Spiegel mit der Perſon, die er darſtellt. So iſt endlih aud der 
Geift diefer Schriften mahr, denn er ift nur Geift des 
Volks und feiner Gefhichte. Der Gott, der Iſrael fo erwählte, 
jo führte; mußte auch fo zu ihm ſprechen, mußte auch alfo von 
ihm fhreiben. Die Gefchichte bemeilet die Schrift, die Schrift 
die Geſchichte. So eine unbändige Lüge e8 wäre, zu jagen: das 
Bolt hat nicht erjiftirt und erfiftirt nicht, jo unbändig iſts, zu 
jagen: die Schriften haben nicht erfiftirt, und find (vom Priefter 
etwa, den Salmanaffer ins Land fchidte, vom armen Eſra oder 
gar von einem Juden der dunteliten Jahrhunderte) erbichtet wor⸗ 
den. Harduins Hypothele ift Gold gegen diefe Staubeinwürfe. ! 
Man Tann in manchem Betracht viel eher Griechen und Römern 
(gejchweige Chaldäern, Aegyptern) ihre Werke, Schriften und Tha- 
ten, als die Begegniffe und Schriften dieſes Volks abläugnen: 
denn die Geſchichte und Poeſien der Römer find zum Theil meit ? 
‘ minder national gejchrieben, als die Geſchichte und Poeſien dieſes 
Volles. So abftehend in Jahren, Inhalt und Abficht fie find, fo 188 
ganz find fie in Einem Geift, im Geift feines Gottes und feiner 
Geſchichte verfafiet. Das jonderbarfte Wolf hat die ſonderbarſten 
Büder, ein Boll, deſſen Religion und Gefchichte ganz von Gott 
abhängt und dahin weifet, hat auch Bücher der Art, des Geiftes; 
jene Dinge find aus diefen, diefe aus jenen entitanden, und Alles 


1) Kotheinwürfe. 2) find weit 


— 1 — 


iſt im Grunde nur Eins. Ein Gepräge, Ein Charakter, Eine 
Beurkundung der Zeiten: ihr Name iſt, das Volk Jehovahs, 
wie dort der Name von Ezechiels Stadt und Tempel: main 7" 
Ich wünſchte niht, m. Fr., daB Sie mich mißverftünden, 
und die Vorzüge diefes Volles in fein natürliches Verdienſt, 
jeinen erhabnen, tugendhaften Stammcharakter, oder gar in eine 
glänzende Rolle, die es vor allen Völkern der Erbe babe jpielen 
jollen, festen. Allem widerſpricht der Inhalt dieſer Schriften felbft. 
Ein widerfpenftiges, hartes, undankbares, freches Volt find feine 
beften Titel in Mofe und den Propheten, die Wahl deſſelben ift 
eine freye Wahl in den Vätern, die Liebe zu ihm ift die Zucht 
eines Vaters an feinem übelgerathenen Sohne. — Glänzend von 
auffen nad profanen Begriffen follte das Schickſal dieſes Volks 
189 nicht feyn, wie etwa der Ruhm der Aegypter, Griechen, Römer. 
In Kunſtwerken excellirten fie nicht; der Baum hiezu ward beynah 
bis zur Wurzel abgehauen in der Gefebgebung. Handel und 
Umlauf unter andre Völker ward ihnen unterjagt; enbli das 
fleine Land felbft, das fie befaflen, hats ihnen nicht gnug gefoftet? 
Erft Fremdlinge darinn in ihren Vätern, denn Dienftknechte in 
Aegypten, jego mit Angft errettet, nun 40 Jahr unirrend, erfterbend 
in der Wüſte — hatten fie damit nicht gnug gelitten, daß ihnen 
endlich eine Ruheſtäte würde? Noch fanden fie diefe nicht ganz: 
fie eroberten das Land nicht, wie fie jollten; blieben Moſes Geſetzen 
nicht treu, wie fie follten; Ein Drud, Ein Verfall kam nad dem 
andern: ! einzelne Befreyer, wenig gute, noch weniger glänzende 
Könige waren ihre Retter; fie waren und wurden der Raub innerer 
Theilung, ausmwärtiger Unterbrüdung, Gefangenführung u. f. Wahr- 
lich fein Paradies auf Erden! — Indeſſen lag dies Alles fo fehr 
im Plan Gottes mit ihnen, hing jo ganz von ihnen ſelbſt ab, 
fteht im Liede Mofes, (der Charta magna dieſes Volle, die es 
auswendig lernen mußte,) jo beutlih, wird von allen Propheten, 
infonderheit von Jeſaia und den Pfalmen, jo rührend gebraucht, 





1) Verfall nach dem andern fam: 





— 192 — 


fo richtig gedeutet, daB es ein fehr fremder Kopf feyn muß, ber 
fih ftatt des armen Knechts Jacob, des niedrigen, verachteten 190 
Iſrael, ein andres, etwa ein glänzendes Kunftvolf der Erde zu 
diefer Anfiht wünfchte! Ein Kunftvoll, das Ideal der Erde in 
ſchönen Probuctionen, ein Heldenvoll, das deal menſchlicher 
Stärke und Uebermindung, ein politiiches Volf, das Vorbild von 
der Nutzbarkeit des Bürgers zum gemeinen Beiten follte dies Wolf 
nicht werden; (daher man ſich in folden Feldern andre Mufter 
fude:) Volk Gottes follte c8 ſeyn, d. i. Bild und Figur der 
Beziehung Gottes auf Menſchen, und diefer auf Jehovah, 
den Einzigen, den Gott der Götter. Was diefe Beziehung 
ins Licht ftellte, ward mit ihm vorgenommen, und wie es vors 
gieng, mit Tugenden und Fehlern, wards aufgeichrieben. Die 
Anbetung des Einen Gottes, des Schöpfers, des Vaters der 
Menſchen feftzuftellen auf der Erbe, feinen Einfluß in Alles, 
feine unmittelbarjte Wirkung in jede Kleinigkeit des Anliegens, der 
Hofnung, der Noth der Menſchen, — mie nah er jebem unfrer 
Seufzer, unjrer Gebete, unſrer Fehler, unſrer Vergeffenheiten 
feiner, wie immer noch fo milde und verzeihenb er jey,? das 
Böfe zum Guten zu Tchren, fobald jemand da ift, dies Gute zu 
empfangen, und mit einem beſſern Gewande ſich leiden zu laſſen 
vom Himmel — — mie tief der Menſch immer unter Gott, unter 191 
feinen menſchlichſte Zmweden, Verheißungen und Geboten 
bleidbe,? und wohin eigentlich dieſe Zwecke Gottes zielen? Dies, 
m. Fr. und viel mehreres im Bande foldher Beziehung ift Geift 
und Zwed diefer Geſchichte und diefer Schriften. Gerade hievon 
findet man in den Schriften andrer Nationen, zumal des Alter- 
thums, nicht3 oder wenige. In den Denkmalen der gebildetften 
Völker, der Griehen* und Nömer, werden Materien diefer Art 


1) verachteten, und bey Gott doch beliebten Wurmes Ifrael, .... 
Erde hiezu wünſchte. Ein folder Wunſch zeigte, daß wir vom offenbaren 
Zweck Gottes mit biefem Bolt nicht8 merkten. 

2) feiner und immer .... verzeibend fen, 

3) unter Gott bleibe, unter ... . Geboten, 4) Bölter, Griechen 


— 183 — 


nur ſeitwärts, beyläufig, oft mit ſolchem Contraft zu ihrer ander- 
weitigen Klugheit und Einficht abgehandelt, daß man ſich ver- 
mwundert:? in Judäa aber bezog fich alles darauf; der Name Gottes 
war mit dem kleinſten Nagel der Stiftshütte, der Tleinften Opfer- 
flaue, der jchlechteften Verrichtung des Lebens verbunden; einen 
jolden Geiſt athmen auch dieſe Schriften. Daß 3. E. in den 
fremden ausländifhen Hofbuch Efther der Nanıe Jehovah nicht, 
daß er in den andern fo pft vorlommt, bat feine Urſache. Daß 
Gott ſich in diefem großen Gebäude von Zeiten und Situationen auch 


in Schriften fo vielfeitig, vielfältig geoffenbaret, hat ſeine Zwecke 


und Beziehung. Daß mehrere Bücher untergiengen, dieſe blieben, 
diefe in feiner andern Form und Geftalt blieben, hat gewiß feine Zwecke, 


192 auch ohne allen Jüdiſchen Aberglauben betradtet. Ein heiliger 


Name ifts, der diefe Bücher umjchließt, der die fernfte Stimme vom 
Nachhall der Schöpfung und der früheften Weltfcenen bis auf die 
legte, dumpferfterbende Stimme im Schutt der Mauern Jeruſalems 
bindet und zuſammenholet, der zu unferm Geift und Herzen aus der 
höchſten Höhe, der tiefiten Tiefe, der ferniten Weite, der innigften 
Nähe fpricht und Handelt. Wo ift ein fo herrlich Volk, zu dem 
feine Götter fi alfo nabten, ala Jehovah zu dieſem Volke? 
Wo ift ein fo berrlih Volk, das jo gerechte Sitten und 
Gebote hatte, als dieſe Gottesgebote waren? 

Sie jehen, m. Fr., wie heilig und hehr mir diefe Bücher find, 
und wie ſehr ich (nach Voltair's Spott) ein Jude bin, wenn ich 
fie lefe:? denn müfjen mir nicht Grieden und Römer ſeyn, wenn 
wir Griechen und Römer lefen? Jedes Buch muß in feinem Geifte 
gelefen werden, und jo aud das Buch der Bücher, die Bibel; und 
da diefer in ihm offenbar Geift Gottes ift, von Anfange bis zum 
Ende, der feinen Ton und Inhalt von der höchſten Höhe bis zur 
tiefften ? Tiefe ftimmet, fo können wir wohl nichts widerſinnigers 


1) verwundert: (diefe waren auch ihr Hauptzweck nicht, fie fehrieben 
nicht, als Kinder Gottes, fondern-al® Kinder der Menden ;) 

2) leſe. Der Spott ift äußerfi matt: 

3) Inhalt bis zur böchften Höhe und tiefften 


— — 





- 


thun, ale Gottes Schriften im Beifte des Satans leſen, d. i. 
die ! ältefte Weisheit mit dem jüngften Dünkel, himmliſche Ein- 
falt mit nedendem Modewit verbrämen. Leſe man fo die Schriften 
Homers, Plato's, die Traditionen von Pythagoras, den Gefchicht- 
Schreiber Herodot und wen man wolle; es ift der nemlide Mis 
brauch; der nur bey dieſen Büchern mehr auffällt, weil fie bie 
älteften und die von allen andern Büchern verſchiedenſten find, da 
fie Sprache? Gottes reden und nicht der Menſchen. Hier? ifts 
und bleibt gewiß: „Die Weisheit Gottes fommt nicht in 
eine boshafte Seele, und mwohnet nidht in einem dem 
Rafter unterworfenen Menjhen. Der Geift der Zudt 
fliehet Betrug, und meidhet fern von den Narrengedanten; 
er wird gefunden, von denen, die ihn nicht verjuden, 
er erfcheint denen, die ihn ſuchen in Herzenseinfalt. In 
ihr, der Weisheit Gottes, ift ein verftändiger Geiſt heilig, 
eingebohren, vielfadh, fein, beweglid, aufrichtig, unbe- 
fledt, offenbar, unverlegbar, ſcharf, hurtig, wohlthätig, 
menſchlich, feft, ftandhaft, fiher: er fann alles, und blidt 
auf alles, und umfaſſet alle reinen, verftändigen, fub- 
tileften Geifter. Die Weisheit ift beweglicher, als alle 
Bewegung, fie reiht und umfaſſet alles wegen ihrer 
Reinigkeit: denn fie ift Hauch der Kraft Gottes, ein 
reiner Ausfluß vom Glanz des Allmädtigen, Abglan; 
des ewigen Lichts, ein fledenlofer Spiegel der göttlichen 
Wirfung und Abbild feiner Güte. Einzig, wie fie ift, 
vermag fie alles, bleibet in ſich felbft und erneuet alles, 
fteiget hie und da in heilige Seelen und bereitet Freunde 
Gottes und Propheten.” Auch Lefer derjelben, mein Freund, 
muß fie bereiten; fonft find wir blind im größeften Lichte — — 


— —— — — 


1) leſen, die 

2) Büchern am meiften auffällt, weil fie von allen andern Büchern 
die älteften und verſchiedenſten, Sprace 

3) Da 4) Stiavenleihnam. 


133 








— 16 — 


Uebrigens habe ich weit größere Luſt, das Göttliche dieſer 
Schriften lebendig anzuerkennen, zu fühlen und anzu— 
wenden; als über die eigentliche Art und modum deſſelben in 
der Seele der Schreiber, oder auf ihrer Zunge, oder in ihrem 
Griffel, oder in ihrer Feder zu diſputiren und zu grübeln. Wir 
verſtehen nicht, wie vielfach⸗menſchlich unſere Seele wirkt, und 
ſollen entſcheiden, wie viel- oder einfach Gott in fie wirke? Wir 
ergründen Tein Wort Gottes in der Natur, jehen nie das innerfte 
Wie? einer Sade, fondern! nur meiltens hinten nad und in 
der Wirkung, das Daß und etwa dad Warum? das Ießte 
meifteng auch nur im fpäten Erfolge; und wir follten das innigfte, 
geheimfte Wert Gottes im Allerheiligften der Natur, in ber 

195 Seele feiner Knechte und Geliebten, und zwar im feinften 
Wie? und Weldhergeftalt? dafelbft erforfchen, ergrübeln, oft 
im Streit und Haß ergrübeln wollen? Wir millen von dem 
innern Zuftande feines Dinges in der Welt etwas, als durch 
eigne Erfahrung oder Aehnlichkeit mit derſelben; (mo uns biefe 
fehlt oder nicht gnug thut, wiſſen wir nichts;) und wir follten 
vom innerften Zuftande fremder Perſonen entſcheidende Kennt⸗ 
niß haben, wo die größten Entſcheider und Behaupter es? immer 
jelbjt vorausjegen, daß wir nihts Aehnliches in unjercer 
Seele erfahren fünnen, oder ja nicht erfahren müjfen, um 
niht Schwärmer zu werben. Endlich follen wir in dem ewigen 
Streit, zwifhen Wort und Sadhe, Gedankt und Ausdrud 
bier an der verflodtenften Stelle Auskunft geben fünnen, da, 
jo lange die Menſchen vifputirt Haben, fie ſich über die Grenzen 
von beyven, Wort und Sade, Bedankte und Ausdrud, 
jelbit in dem und worüber fie difputirten, in der ihnen bemufteiten 
Sache des Augenblids und der Gegenwart nie haben einigen können. 
Fliehen Sie, m. Fr., die ſcholaſtiſchen Grillen und Grübeleyen 
hierüber, den Auskehricht alter barbarifchen Schulen, der Ihnen oft 
den beiten, natürlichften Eindrud des Geistes dieſer Schriften ' 


1) Wie? fondern 2) Enticheiber es 
Herders ſämmtl. Werke. X. 10 


— 1 — 


verdirbt. Sobald Sie ftatt gefunder Anficht, ftatt Tebendige gött- 196 
lihe Wirkung zu genieffen und anzumenden, fi in einen Abgrund 
einfperren und ein Spinnengeweb ! Philofophiiher Fragen und 
Unterfcheidungen theilen, fleucht Sie der Geiſt diefer Schriften. 
Er ijt ein natürlicher, freyer, frober, kindlicher Geift; er liebt 
* Solche Hölen und Knechtäunterfuhungen nicht. Wenn Sie nicht das 
Rauſchen feines Tritts, ala da8 Kommen eines Freundes, oder 
einer Geliebten hören; ſondern den Tritt knechtiſch ausmeſſen, 
austappen wollen ; jo werben Sie ihn nicht Tommen hören. — — 
Sonderbar und äußerjt zu bedauren iſts, daß wir bey diefen 
Schriften immer anders verfahren, al® bey allen andern auten, 
Ihönen, menſchlichen Schriften; da diefe doch auch, fo fern wir fie 
leſen, und verftehn, und empfinden, und anwenden follen, völlig 
menschlich, für menjchlihe Augen, Ohren, Herzens- und Seelen- 
träfte gefchrieben find. Den Geift Horaz, Homers, Sophofles, 
Plato laffe ih aus ihren Schriften auf mid wirken: fie Sprechen 
zu mir, fie fingen, ſie lehren mi: ih bin um fie, leſe in ihr 
Herz, in ihre Seele; jo allein wird mir ihr Buch verftändlich, jo 
alfein habe ich auh, mit den Zeugniſſen der Geſchichte, das beite 
Siegel, daß diefe Schriften von ihnen find, weil ihr inneres Bild 197 
nemlih, ihr mir gegenmwärtiger, lebendiger Eindrud auf mid 
wirkt. Ohnmöglich kann ich von diefer heiligen Schriften eignem 
und höhern Geift erfüllt, und von ihrer Göttlichfeit überzeugt 
werden, als auf dieſe nemliche Weile. Wunder und Weiffagungen, 
die fie enthalten, find nur denn erſt Beweiſe, wenn id ihre 
Urfprünglichkeit, ihre Acht» und Wahrheit einzeln oder im? 
Zufammenhange der Gefchichte Schon erfannt habe, d. i. wenn ber 
Geiſt ihres ganzen Gebäudes ſchon auf mich wirkte, und id von 
der Göttlichkeit ihres Inhalts Schon überzeugt bin. Dies kann nun 
nicht * anders als meiner Faſſungskraft angemeflen geichehen; ober 
man müßte bemeifen, daß, wenn ich diefe Schriften Iefe, ich jogleich 


1) und Spinnengeweb 2) Schriften natürlich 
3) einzeln im 4) fann nicht 


— 147 — 


Menih zu feyn aufhöre, und Engel, Stein oder Gott werde. 
Hypotheſen ſolcher Art (fie verdienen diefen Namen nicht einmal, 
denn fie find jedem gefunden Gedanken! und aller Natur zumider) 
können nichts anders als bitten Spott und äußerften Schaden 
gebähren. 

Um Gottes und unjer felbft willen, m. Fr., laſſen Sie uns 
dem Gott und Geifte folgen, der uns diefe Bücher gab, der uns 
in ihnen jo anſchaubar, fo vertraut und natürlich redet. Warum 

198 redet er alſo? warum ändert er fo oft den Ton? warum bequent 
er fih der Seele, der Faflungstraft, dem Gefichtöfreife, dem Aus- 
drud jedes diefer Schreiber? warum anders, als daß er vom 
verderblihen Abgrunde der Schwärmerey,? aus dem noch feiner 
zurüdfam, der fich Bineinftürzte, daß er uns von ihm weg, fern 
weg, und nur auf Natur, Natur richten wollte, feine Sprade 
ala die verftänblichite, innigfte, natürlichſte, leichtefte Menſchen— 
ſprache zu hören und zu vernehmen. Warum ift das Meiſte in 
der Bibel Geſchichte? und aud alle Poeſie, Lehre, Propheten: 
ſprache auf fimple Geſchichte gebaut? Warum anders, als 
weil Gott in der Schrift zu uns fprechen wollte, wie er in ber 
Natur zu uns fpricht, in feinem vertrauten Wort, wie in feinen 
ofnen Werten, naturvoll, thätlih. Die Sprade in der That 
ift die Sprache Gottes: denn fo er Ipricht, jo geichiehts, jo er 
gebeut, fo ftehetS da; die vertrauteiten Sprüche und Baterreben in 
jeinem Wort find nichts ald ein Aufſchluß? feiner Werke, 
jelbft vol That, voll Wahrheit. Je menſchlicher, d. i. Menfchen - 
inniger,* vertrauter, natürlider man fi aljo Werk und Wort 
Gottes denkt; je gewifjer kann man ſeyn, daß man ſichs urfprüng- 
lich,“ edel und göttlih denke. Alles unnatürliche ift ungöttlich; 

199 das übernatürlich - Göttlichfte wird am meilten natürlih; denn 
Gott bequemet fih dem, zu dem er ſpricht, und für den er 


1) find allem Gedanken 2) Myftit, 
3) als ber gebeimfte Aufſchluß 4) Menſchlicher, Menfchen inniger, 
5) urfpränglich, wie e8 war, 

10* 





— 148 — 


handelt! Er wirkt durch die geheimften, fleinften Räder das 
Augenſcheinlichſte, das Größefte — — ? 

So dente ih auch von der Abichrift und der Bewahrung 
diefer Schriften; Gott forgte für fie, wie ein Autor für fein Bud, 


“ wie ein König für die Aufbewahrung feines Willens jorgt; aber, 


jo viel wir willen, durhd natürliche Mittel und Wege. Meynen 
Sie nicht, daß immer ein dienftbarer Geift dabey ftand, dem Ab- 
jchreiber die Hand zu lenfen, oder dem Ueberſetzer ans Ohr zu 
rühren, wenn er unrecht überjeßte; der grofe Beweis jo vieler 
Abſchriften und Ueberfegungen ift offenbar dagegen. Je natürlicher 
Sie über diefe Sachen denken, defto näher find Sie der Wahrheit. 
Daß diefe Sprache ſich veränderte, mie alle Spraden, zeigt die 
Geſchichte, ja ſelbſt die Schreibart biefer Bücher. Warum hört ? 
binter Eſra und Nehemia die Ebräifche Sprade in Büchern auf? 
als — weil fie im Leben aufhörte, meil man fie jeßo künſtlich 
lernen mußte, und alfo nicht lebendig, rein und natürlich mehr * 
Ichreiben konnte. Gott fchafte fein Wunder mit dem lebendigen 


Gebrauch der Ebräiſchen Sprade; noch weniger wird ers mit den 200 


Buchſtaben, die fie bezeichneten, mit den Schreibmaterialien, von 
denen ihre Schrift abhieng, geihaft haben. Es kann immer feyn, 
daß die Samaritanifhen oder noch viel rohere Budhftaben 5 die 
ältern find, und unfere Ebräifche nur aus Chaldäa kamen. Es ilt 
höchſt wahrſcheinlich, daß unſre Punkte nicht vom erften Zeitalter 
der Sprache find, noch weniger ihre Accente und heutige Gramma- 
tif: denn feine Sprache, vielmeniger die Sprache eines fimpeln 
Hirtenvolfes hat auf Einmal Alles, und das künſtlichſte, feinite, 
gewiß nicht zuerft. Sie thun aljo wohl, wenn Sie, zumal in 
zweifelhaften Fällen ſich in diefe Urzeit und einfache Urſchrift mit 
blofjen, vieleicht auch nicht genau abgetheilten Buchftaben und den 


1) ſpricht, und weiß alles in feiner Natur zu brauchen. 

2) Größeſte — — und handelt, wenn er aufs menfchlichfte fpricht 
und handelt, am meiften göttlich. 

3) börte 4) mehr in ihr 5) Samaritanifhen Buchftaben 








— 149 — 


vornehmften matribus lectionis zurüdlefen, oder! die ähnlichen 
Laute mit lebendigem Ohr zu hören ftreben: alles dies ift nur 
Natur der Sache, der Schrift und Sprache. Nun aber ftehen Sie 
auch wie ein Fels feit, daß diefe Schriften im Wefentlichen nicht 
verborben, verftümmelt und verlohren auf uns gefommen, daß in 
ihnen noch Sinn, Zufammenhang, Inhalt, Wahrheit zu finden 
und zu haben jey, fo viel wir davon bebürfen, und das vielleicht 
mehr, ala bey irgend einer andern Gattung menſchlicher Schriften: 
201 denn offenbar bat hievor die Borfehung nah Zeugniflen der 
Gedichte, durch wirkliche, Fräftige facta geforget. Der 
Samaritanijche Coder, die alten Weberfegungen und Paraphrafen, 
endlich der jpätere Zaun des Geſetzes, die Mafora, find uns bier- 
über Bürge; jedes Hülfsmittel in feiner Art. Um von der lebten, 
der Maſora ein Wort zu reden, mar fie nicht ein Zaun? der Bibel 
in den langen Jahrhunderten der Dunkelheit Europa's? Was 
wäre aus ihr, fo lange Zeiten hinab, in jeder Hand der Unmifien- 
beit, der Wuth des Aberglaubens, der frechen oder feigen Ber- 
ftümmelung geworben, wenn nicht durch oben genannte Kunſt felbit 
Buchſtaben, Punkte, Schreibezeihen ala Heiligtümer und Klei- 
node gleihfam aufgefädelt worden wären, und für Ganze alſo 
nichts beträchtliches verlohren gehen konnte. Freylich war es mit 
ihr, wie mit der Arche? Noah: reines und unreines ward in ihr 
aufbehalten, wie es bineingegangen war; das war in jener trau- 
rigen Sündfluth von Zeiten hoch nöthig. Endlich ift durch Die 
Buchdruckerey und hundert andere Dinge der Zuftand ber Littera- 
tur verändert; aus den Händen der Juden find diefe Bücher, auch 
der Bearbeitung der Urſprache nah, in die Hände der Chrijten 
gelommen, die fih in allen Geftalten und Stellungen damit 
202 beſchäftigen. Wie unmürdig manche Stellungen ſeyn mögen, jo tft 
die Nutzbarkeit ihrer * Bemühungen im Ganzen unverkennbar. Man 


— 





1) ober gar 

2) Testen, oft zu ſehr verachteten Maſora ein Wort zu reden, war fie 
nicht ein ächter Zaun 

3) Die Mafora war, wie bie Arche 4) biefer 





wirft fi auf den Tafeln des Gefehes herum, und macht fie, felbft 
durch die Fehler des Herummerfens von ihrem Staube rein, jo daß 
wir fie vielleicht einmal dem Volk, dem fie gehören, in einem 
Glanz des Urfprunges wieder geben werben, den man freylid 
jest bey manden unmwürbigen Bearbeitungen noch nicht gemahr 
wird. Trage jeder biezu bey, was? und auf die würdigſte, veinfte, 
gewiffenhaftefte Weiſe, wie ers thun kann; und forge injonderbeit, 
daß er bey allem Modegeſchrey in diefem Felde des fimpeln Weges 
nicht verfehle. Die Bücher des A. T. beitehen aus fo vielen und 
jo manderley Schriften, fomohl in der Schreibart, ala nach dem 
Genius der Gedanken des Schreibers verſchieden; warum theilet 
man nicht mehr die Arbeit, und giebt zuerft einzelne Bücher mit 
allem kritiſchen Fleiße heraus? Das Studium der Bibel würde 
dadurch natürlih: man vergäße, mo es ſeyn muß, die übrigen 
Bücher bey diefem Buche, lernte diefes zuerft in feinem Licht 
eben und fjchägen. Das MUeberfegen und Gommentiren aller 
Ebräifhen Bücher Reih - hinab, dünkt mich, wie! wenn man ein 
Bücherbrett feiner Bibliothef Reih- hinab kommentiren wollte. 208 
Auch wünſchte ih jo viel möglich zuerft allen Commentar weg, 
und nur eine vollftändige, richtige, fritifhe Ausgabe 
einzelner Bücher. Der Maſorethiſche Tert ftünde oben; 
jest die Lesarten andrer Eremplare, mozu Stennifot den erften 
unvollkommenen, leider gar unfichern, indeß immer doch nüßlichen 
Anfang gemacht hat. Lebt kämen die alten Ueberjegungen, 
jofern fie nemlih kritiſchen Gebrauch haben; ihre Abweichungen 
würden genau? angezeigt und ſodann vermuthet, moher die Abwei⸗ 
hung kam? wie fie gelefen? oder gehört? oder verftanden? Alles 
dieſes furz und genau; das eigne Urtheil fo jelten, ala möglich); 
meiftens nur mit Zeichen und verfchienner Drudart angegeben. Die 
vierte Columne enthielt Conjekturen, neuerer eigne Meberfegungen, 
wo fie fih nemlich auf feine der vorigen Claſſen reduciren, und 
nicht gar auf Unwiffenheit gründen; jonft blieben fie meg, und der 


1) ale 2) Abweihungen genau 


Unterfchied blofier Worte würde gar überfehen. — Wünfchen Sie 
niht mit mir, m. Fr., daß! wir eine foldde Bibel, au nur in 
den einzelnen Stüden und Büchern, die es vorzüglich 
nöthig haben, hätten? Daß? eine Gefellichaft wäre, die fih, da 
doch in unjern Tagen dies Studium mehr getrieben, wenigſtens 
204 mehr davon geredet wird, als jemals, fih im Stillen, zu einem 
jolden Wert verbände!*) Ich kenne freylid feinen Ptolomäus, 
der fie dafür bezahlte; dafür fperrete man fie aber auch nicht zu— 
fammen, und ihr Wert wäre eine edle,’ freye, klaſſiſche Arbeit. 
Wie? wenn wir zu BVirgil, Homer, Theokrit gehen, ift nicht ein 
ftiller Fleiß in fo Etwas das erſte Erforderniß, der erfte Griff 
zum Werfe? und im Buch der Bücher, das jo viele Männer eigent- 
lich auf fich verpflichtet und mit ſich nähret,“ wollten wir nur 
immer muthmaaßen, ruffen,? Dogmatifiren, ober gar poetifiren, zer- 
fegen und zerreifien; nie ganz und vollftändig liefern, auf ben 
Grund gehen, und mas da ift, mit Fleiß und Urtheil® ftille janı- 
meln? Webers erſte Buch Mojes hat man mancherley verjudt; 
für meinen Plan aber entweder zu viel oder zu” wenig Daß in 
205 unſrer Zeit jchon viele ® gejammlete, aber zeritreute Hülfgmittel 
dazu find, wiſſen Sie, und Ipäterhin werben wir mehr davon veben ; 
jegt fey es genug, daß ich mit Einer kurzen Anmerkung fchlieffe. 
— — — 


*), Das Repertorium für bibliſche und morgenländiſche 
Literatur, Leipz. 1777-79. enthält dazu nützliche Vorarbeiten ; bie meiften 
von feinen Berfaflern wären auch vielleicht die Erften zu ſolchem Werke in 
Deutichland. Und der Berfaffer der Einleitung ins A. T. könnte dieſes 
fein mühfames und rihmliches Werk nicht Schöner als mit dem noch müh— 
jamern und rühmlichern dem Tert des U. 8. ſelbſt krönen.! 


1) überfehen. — O daß 2) hätten! O daß 

3) wäre die ebelfte, 4) und nähret, 5) fchreien, 

6) vollfländig und auf .... ift, mit Urtheil 

7) hat Meintel eine Polyglottenconferenz,, ein nützliches Buch, gelie- 
fert; e8 bat aber für meinen Plan zu viel und zu 

8) viele einzeln 


1) „Und — Erönen.” fehlt. 


— 


Die Bibel iſt vielleicht auch darinn Gottes Wort, daß ſie 
von Anfange der Welt ſich an der älteſten Schrift! erhalten hat, 
die wir aus dem Abgrund der Zeiten kennen. Alle Traditionen 
der älteſten Völker ſind einig, daß ein gewiſſer Seth, Theth, 
Thoit, Theut (Alles nur Ein Name dem ziſchenden th nad) bie 
Buchſtabenſchrift erfunden, und ich wäre, (fo lächerlich eg unſern 
gern niederreiſſenden, jelten aber aufbauenden ? Zeiten vorkomme,) 
jehr geneigt, dies zu glauben. Nur durch ein folhes Mittel 
haben fich die älteften Nachrichten der Welt erhalten, Wort Gottes 
bey einer Familie, frey von Hieroglyphen, Abgötterey und Bilder: 


dienſt, vein bleiben können, wie es offenbar, beyın Faden dieſer 
' Nachrichten, der Zweck Gottes zu feyn ſcheinet. Daß nur Ein 


eigentliche Buchftabenalphabet in der Welt jey, und alle Nationen 
es nur fopirt haben,? ift beynah erweislich; daß ein Phöniciſches, 
Syriſches, Ebräifches, (im Grunde alle nur Eins) die Mutter 
jämmtliher in Europa gemejen, tft eben jo unläugbar. Das 


ältefte Wort Gottes ift alfo noch mit aller unfrer Schrift ver- 206 


wandt; wir brauchen, auch mern wir das ärgfte dagegen fchreiben, 
noch immer jene Vatererfindung Gottes oder des Patriarhen an 
jeine Söhne, ihnen Wort in Schrift zu geben, und das ältefte 
Wort Gottes, die urfprünglidften Nachrichten, ja enblid 
den unentbehrlichen Faden aller Menſchengeſchichte, die Zeitred- 
nung* ihnen rein und treu zu erhalten. Was .diefer Ge- 
danfe der Bibel für eine Würde, den älteften Traditionen für 
Natur, der ganzen Idee „eines Worts, einer Schrift Gottes 
an die Menſchen,“ für Urſprünglichkeit, Nutzbarkeit, und meit 
verbreitete, durch die Gefchichte dofumentirte Wahrheit gebe, wenn 
er in alles Licht feiner Wahricheinlichfeit gefett würde, verfolgen? 
Sie ſelbſt. — — 
Ende des erſten Theils. 


1) Welt bie ältefte Schrift 

2) unfern alles niederreiflenten und nichts bauenden 3) fopıet, 
4) „die urſprünglichſten — Zeitrechnung“ fehlt. 

5) und allverbreitete, ..... nebe? verfolgen 


| — 











Briefe, 
das Studium der Theologie 
betreffen. 


von 


% ©. Herder.' 


— — — — — — — — — 


Zweyter Theil. 


— — — — km 





Zweyte verbefjerte Auflage. 


Weimar, 
bey Carl Ludolph Hoffmann 


fel. Witwe, und Erben. 


1780. 1785. 


1) „von I. ©. Herder.” fehlt. 





(207) 


(208) 


Inhalt. 


@eite 


Br. 13. Vom Anblid, den uns die Schriften des N. T., verglichen 

mit dem 4. T., gewähren. Die vergeblihe Mühe, die manche 

fid um fie gegeben. Geſichtspunkt zur Harmonie der Evangeliften. 

Ob fie einen eignen, falfchen Plan gehabt, bey der Berfaflung 

ihrer Gefchichte? ? 209 
Br. 14. Ueber ihr Zeugniß, al8 Zeugniß. Nothmwendigfeit der Ge- 

ſchichte, die fie befchreiben, als Grund des Chriſtenthums betrach⸗ 

tet. Ob man zum Glauben diefer Gefchichte zwingen müfle? .... 223” 
Br. 15. Wahre und falfche Stüten der Religion Iefu. Das Grab 2 

des Heilandes, ein Lehrgedicht.!..uneensenesnesenenesonsnennessesnnnnssnnnnnnnsonnense 234 
Br. 16. Bon den Sleichniffen Ehrifti. Erläuterungen des R. T. aus 

dem Spracgebraud der Süden. Bon Eommentaren und Para 

phrafen des N. T. Der Sieg des Heilandes, eine Ode. ...... 249 
Br. 17. Bon den Weiffagungen und Vorbildern des neuen, im Q. 

z. -— Ob bloße Accomodation alles gutmache? Zweifel dagegen. v 

Ueberjegung und Paraphraſe des 110ten Pfalmes. „nenn. 262 
Br. 18. Einige Bemerkungen zum Verbältniß des A. und N. T.; 

infonberheit daß der Erweis Jeſu ſich nicht auf rabbinifche Deu⸗ 


tungen alter Weiffagungen zuerft und allein gründe „use scene 274 
Br. 19. Vom ar Plan des iſtenthums. Ob es fih von 

allem Guten, das außer ihm ift, abjondern folle? Obs Epo- 

pen gewähre? Beylage einer morgenländifchen Fabel und eines v 

Eremiten - Hymmuß. ....eascassenee 02 onsnennnnnensennenennnnne Annsennsssanssnsnonenssonenne 301 
Br. 20. Bon? Hymnen und Liedern. Beylage eines Gedicht. ........ 319 
Br. 21. Bon der Eitation des A. im N. T. Hauptregel die Schriften 

der Evangeliften und Apoftel zu leſen. inige Züge zum Bilde 


Chriftus. Das Diadem der Fiebe.® ..ueseeseensenr sanssenseensnnensesenennnnne 329 





1) „Das — Lehrgedicht.“ fehlt. 

2) Br. 20. Ob Beimerle und Empfindungen zufälliger Perſo nen der Chriſtlichen 
Geſchichte eine Epopde gewähren ?_ Bon 

3) im N. T. — Bon ben zu vielen Erläuterungen bes N. %. Obse aus —— 
ländiſchen Selten erläutert werden börfe? Ob jeder Schriftſteller des N T. ein Apoſtel ſeyn 
müffe? Ob die Offenbarung Jopanned ſchon erfüllet und verlebt fei? Zugabe einiger Segeln 
aus den Yüdifchen Sprüden ber Väter. 





Br. 


— 16 — 


22. Gründe, warım die Paraphraſen ganzer biblifhen Bücher 
nicht eben die befte Erflärungsart derfelben ſeyn können. Bon 
den Commentaren der Bibel. Zugabe einiger Regeln aus ben 
Jüdiſchen Sprüchen der Väter.!.. 


VBr. 23. Fernere Regeln? zum Xefen bes N. T. Ueber die Göttlich 
feit deſſelben. Vom Kanoniſchen Anfeben einzelner Bücher. Von 
den Briefen der Apoftel, infonderbeit Pauli. Bom Evangelium 
Johannes. Parabeln.. 

Br. * Prüfung der Urſachen zum Studium ber Theologie. Para⸗ 
Im. .. 


1) Br. 33. Gtellen der Offenbarung Iohannes aus einer Poetiſchen Ueberſetzung 


7) Br. 38. Regeln („PBernere” fehlt.) 


[ 


349 


364 


377 








(209) 


Dreizgehnder Brief. 


Allerdings, m. Fr., gewähren uns die Schriften des N. T. 
einen ganz andern Anblid. Hier ift Tein Teſtament auf fteinerne 
Tafeln, oder in prächtige Gebräude, Weißagungen und Lieber 
geſchrieben; fondern ein Bund und eine Gefchichte des Geiftes, 
gefchrieben in die weichen Tafeln des Herzens einer kleinen Heerde. 
Der Held, auf den fidh hier alles bezieht, iſt felbft Fein Schrift- 
fteller, noch weniger ein Dichter geworden; das Einzigemal, ba 
wir ihn in feiner Geſchichte jchreibend finden, jchrieb er mit dem 
Finger auf die Erde, und die Gelehrten von achtzehn Jahrhun⸗ 
beten haben noch nicht errathen, mad er gejhrieben? Die 
Geſchichtſchreiber feines Lebens find fo furz, fo einfach, jo gedrängt 
in ihren, nur den nothwenbdigften Nachrichten von ihm, daß man 
fiehet, prächtige Bücher und Beichreibungen zu entwerfen, wenn 
fies auch gekonnt hätten, war nicht ihre Abfiht. Seine menigen 
Boten predigten; die mwenigften von ihnen ſchrieben. Die gejchrie- 
ben haben, brauchten ihre Feder nur zu Briefen — zu Briefen 


210 an einzelne Jünger, Melteften und Gemeinen, über einen Kreis 


von Umständen und Beziehungen, wie er ihnen vorlag, und wie 
diefe ihren Zuſpruch braudten. Die Zufchrift follte nur den 
Zuſpruch erjegen und ſpricht alſo in der vertraulichften Schreibart. 
Kurz, der Zwei des N. T. tft nit eine Bibliothek zu ftiften, bie 
ewig neue Bibliothelen zeugte, jondern den Bund zu errichten, da 
niemand den andern gelehrt unterwiefe: erfenne den Herrn, 
fondern alle ihn kennen follten, kindlich und thätig. — — 

Mih dünkt alfo, es ſey ſchon Mißanwendung diefer Schriften, 
daß man fo viel und in fo andern Geiſt über fie jpreche und 
jchreibe, als in dem fie gefchrieben find und in dem fie wahr- 


— 158 — 


ſcheinlich auch haben gelefen werden wollen. Was in der Welt 
helfen alle die gelehrte Erörterungen, wo am Ende doch nidts 
heraus fommt, als daß wir — auch dies nicht wiflen: z. E. welchen 
Tag und Stunde Chriftus gebohren jey? wo! er in Aegypten 
gewefen? moher die Weijen aus Morgenland kamen und wie der 
Stern ihnen dad Haus zeigte? wer Petri Schwieger, und ob Wat: 
thäus und Levi verwandt geweien? ob Matthäus fein Evangelium 
Ehräiich geichrieben und was am Evangelium der Nazarener jey ? 
(deren feines wir mwahrfceinli zu fehen befommen werden) wer 211 
des Lucas Theophilus war? wenn und wo jeder Evangelift und 
Apoftel jeden Buchſtab und Vers feines Evangeliums, feiner Briefe 
geſchrieben? an wen er fie couvertirt? wie leferlich oder unleferlich 
feine Hand geweſen? — Alle dergleichen gelehrte Unterfuchungen, 
die vor einiger Zeit noch Einleitungen ind N. T. bieflen, ob fie 
gleich nichts weniger, als jo etwas find, werden hoffentlich bald 
in die Claſſe von gelehrten Tragen und Antworten fallen, in 
welche fie gehören, in® nimium et inutile der Behandlung diejer 
Schriften. Hätte Chriftus für unfre Neugierde forgen wollen, zu 
wifien, was er bis zum 30. Jahr feines Alters getrieben? in 
welcher Geſtalt ihm der Verſucher erfchienen? wo er die 40. Tage 
nad feiner Auferwedung gelebet? mo ber? Himmel jey, in dem er 
jegt lebet? wenn er wiederfommen? wo und wie der Thron des 
Meltgerichts jeyn werde? Oder gar welder Geftalt, Länge und 
Farbe Er? aus melden Zeuge Paulus Oberkleid geweſen? hun- 
dert dergleichen curiosa mehr; würde es ihm und den Seinen nicht 
ein Leichtes gefoftet haben, uns hierüber zu belehren? Daß fies 
nicht gethban, daB uns mit ihrer Zeit auch alle Mittel entgangen 
“find, fo etwas zu wiffen und zu erfahren; ift dies nicht Zeugniß 
gnug, daß wird nicht wiſſen jolen? Und ih weiß auch nid, 212 
wozu wirs wiflen müßten? 


1) gebohren? (ſelbſt das Jahr feiner Geburt müffen wir nur erra- 
tben:) wo 
2) Auferwedung gefchmebet? wo der dritte 


— 159 — 


Offenbar geben uns die Evangeliften nur die Ichlichtefte Nach- 
riht von dem, was ihnen, den Chriften, von Ehrifto zu wiſſen, 
nöthig ſchien. Die drey erften menden fi) um gewiſſe Haupt- 
punkte, feiner wunderbaren Geburt, der Erklärung Gottes über 
ibm bey feiner Taufe, (mozu Johannes Prophetenamt geböret) 
feiner Berfuhung, Lehre, Wunder, fcharfen Anmahnungen, feines 
Leidens, Todes, Begräbnifjes, feiner Auferftehung endlih und 
Erhebung gen Himmel. Dies find die Momente, die fie treiben, 
von denen fie die Umftände, jeder nach feiner Art, nad jeiner 
Kunde und Abficht, länger oder fürzer, bier oder da erzählen; ihre 
Erzählungen find alſo biftorifche Documente und Beläge des alten 
Glaubensbelänntnifies, das bald aus ihnen gezogen ward: „geboh- 
„ren von Maria der Yungfrauen — bis, wieberfommend, zu 
„tichten die Lebendigen und die Toben.” Hierüber find fie mit 
den verichiedenften Worten alle Eins; dies ift auch der nützlichſte 
und beite Geſichtspunkt zu einer Harmonie derfelben — ein Wort, 
das font fo fchredlich mißbraucht wird. Die Leute, die jedes Wort 

213 der Evangeliften in Abfiht auf Umjtand, Zeit, Wunder und Lehre 
Chrifti, bis zum Kleinften erreı, aaı und rore harmonifiren wol- 
len, wiſſen nicht, was fie thun. Sie zwingen und harmonifiren fo 
lange, bis nichts mehr barmoniret, bis man fi an den Verwir⸗ 
rungen! des fchlihten, offenbaren Sinnes der Evangeliſten über- 
drüßig liefet. Offenbar war der Zweck diejer nicht, Chronik oder 
pragmatifche Gefchichte, fondern ſummariſche Nachrichten nach gewiſſen 
‚Hauptmomenten und Merkmalen zu fchreiben; die bey aller Ber- 
Ichiebenheit daher in Allen Eins find. An fo verichiednen Orten 
zuweilen Matthäus und Lucas Einerley Rede, Gleihniß und 
Wunder Jeſu erzählen; fo deutlich erzählen fie doch Einerley Sache 
nur vielleiht aus einer andern Duelle geſchöpft, in einer andern 
Abficht geordnet. Wiſſen oder wüſten wir diefe, jo würde alles 
Harmonie; denn die Harmonie des Geiftes und Zweds ihrer 
Erzählung ift unverkennbar. 





1) Berzerrungen 


Irre ih nicht: fo ift Matthäus der erfte Evangelift geweſen, 
unter den vier, die wir haben. ch unterfude nicht, ob er jein 
Evangelium zuerft hebräiſch gefchrieben (unwahrſcheinlich ifts nicht); 
gnug, wir haben es Griedifh, und dies Griechiſche ift offenbar 
vom Ebräiſchen Evangelium der Nazarener jehr verfchieden. Bon 214 
diefem willen wir nit gnug, um darüber urtheilen zu können; 
was wir aber davon willen, bebt den Verbadht nicht auf, daß es 
nicht nach Lieblingömeynungen der Ebioniten eingerichtet, alfo aud) 
unfern übrigen Evangelien widerſprechend geweſen. Gnug, Matthät 
griechifches Evangeltum mar uns allein beftimmt und wir haben 
an ihm, vergliden mit den andern dreyen, unjtreitig bie älteite, 
Thlichtefte Volksnachricht vom Leben Jeſu. Er folgt ihm Schritt 
vor Schritt auf feinen Reifen, Zügen, Wundern: bey ihm ift fein 
Plan, feine Anordnung etwa zum Nefultat eine allgemeinen 
Satzes, wie bey Johannes, oder zu einer firengen! Zeitbemerkung. 
Er fchreibt, wie er gehört oder gejehen hat, Reiſen, Wunder, 
Sprüde, Gleichniſſe, jo daß er nur vielleicht einige derfelben, 
wenn fie einander nahe lagen, zujammen bindet, manchmal viele 
Wunder in Eins faßt, offenbar aber nur Epitomen, Summarien 
des Lebens Chrifti fchreibet. Diefe Blanlofe Einfalt, diefe Kunſtlos 
und einzeln aufgenommene Reihe der Erzählung ift mehr Bürge 
der Wahrheit, ald wenn er und jeine Brüder zierlich gereibet, 
und barmonifirt, wenn fie einander? die Feder geliehen und wie 
aus Einem Munde gefprochen hätten. — Dem Matthäus ift Marcus 
gefolgt. Daß er ihn vor fich gehabt, ift offenbar, ob ich glei 215 
nicht enticheide, in welder Sprade? Die Zufäte, die er madit, 
verrathen nicht unmahrfcheinlih Petrus Zuthat; und märe dies 
(wir könnens aber nicht ficher bemeifen) jo hätten wir ein Evan- 
gelium mit Petrus Autorität und Durchſicht. Lucas bat, wie er 
jelbit jagt, aus anderer Erzählungen gefammlet und geordnet; er 
beruft fih auf Augenzeugen der Geſchichte, die er mit Fleiß 
und Ordnung fchreiben will; diefe Schreibart ift bey ihm auch 


1) zu ftrenger 2) gereibet, und gefädelt, Barmonifirt, einanber 





durchaus! merfbar. Indeſſen macht er fi) fo wenig, ein prag- 
matiſcher Geſchicht⸗ oder ein reingriechifcher Chronikichreiber zu feyn, 
anheiſchig, als es ja fein Buch zeige. Ex erzählt die vorläufigen 
Umftände der Geburt Yeju, eine Reihe Gleichniffe, Sprüde und 
Wunder, die Matthäus nit bat; im Ganzen aber fehen mir, 
Einer nimmt das Wort Evangelium, wie der andre, für fimple 
Erzählung der Lebensumftände Jeſu, mie fie fih nah treuen 
Berichten der Augenzeugen zugetragen haben, ohne für den Tag 
und die Stunde jedes Worte, jedes Spruchs und Wunbers zu 
ftehen. Wozu follte dies auch? und mie ſchwer wäre es, ohne 
daB Judas etwa, ftatt des Beutels, die Fever hätte führen müffen, 
geweſen? Somohl die Worte, als die Wunder Chrifti wiberholen 
216 fi) oder laufen in einer ewigen Aehnlichkeit fort; ob an dem, oder 
dem? hie oder da? jet oder morgen? jo oder aljo verrichtet, thut 
bier nichts zur Sache, da es feine in jeder Kleinigkeit verfüängliche 
gerichtliche Ausſagen, fondern ſummariſche Nachrichten jeyn jollten, 
die, wie au Johannes zu Ende feines Evangelii jagt, mit Fleiß 
vieles übergiengen und nur Hauptpunfte in Begebenheiten, Neben 
und Thaten bemerkten. Se jchlichter,? wenn ich fo jagen darf, d. i. 
je weniger angeftrengt und kritikſüchtig, je aufrichtiger, freyer, 
liberaler, Volksmäßiger man diefe Bücher liefet; deſto mehr iſt 
man in ihrem Sinn, im Geift ihres Urjprunges, und Inhalte. 
Sie hatten gleichfam fein Arg, in dem, was fie auf treuen Glau- 
ben und gut Gewiſſen erzählten; fie bauten alfo auch Kabalen 
feindfeliger Kritit nicht vor, fo wenig fie eigentlih für ſolche 
ſchrieben. Ihre Nede war Mil der Wahrheit, Honig einer frö- 
lichen Botfchaft für Kinder, Jünger, Chriſten, einfache, argloſe 
Lefer — — Halten Sie alfo, m. Fr., fo viel Sie fünnen, beym 
erften Lejen diefer Schriften alle gezwungene Harmonien, Dogma- 
tifche Erörterungen und gelehrte Ueppigfeiten im Commentiren aus 
andern Nationen, Sprachen und Denlarten von fih entfernt; fie 


1) Fleiß, ordentlich fchreiben will; und biefe .... ihm burchaus 
2) lofer 
Herver® ſammtl. Werte. X. 11 


ftören durchaus den erften unverborbenen Eindrud. Leſen Sie jeden 217 
Evangeliften allein und meflen ihn nach feiner Abſicht: wenn fie 
nachher die drey erften zufammenftellen, jo gejchehe es noch frey, 
nit Sylben⸗ jondern Seltionenweile, wie etwa der und jener 
diefelbe oder eine ähnliche Nede und Handlung beſchreibet. Seyn 
Sie bierinn lieber zu freygebig, als Fritifchlarg; weil die Evange- 
lüften feine Kritifer waren und ja bie, an denen die Wunder 
geihahen, nicht einmal namentlich nennen, geſchweige daß fie ein 
Protokoll über ihre Heilung hätten führen mollen. Aehnliche 
Stellen erläutern Sie durch einander, mit der billigen, wilden 
Hand, mit der man redlichen, des Sprechens und Schreibens unge: 
wohnten Zeugen, ihre Ausſage leicht macht; ftatt, daß der, dem 
daran liegt, daß fie fich widerfpreden jollen, fie verwirrt, fie bey 
Kleinigkeiten der Verſchiedenheit aus ihrem eignen Sinn treibt und 
ihnen, wenn ich jo jagen darf, das Wort! im Munde verfehret. 
Sch bin überzeugt, Sie werden fehen, es babe nur Ein Chriftus 
gelebet und fo verjchieden man von ihm erzählt Bat: fo fey das 
Beugniß aller, gerade im Wefentlichften und Wunderbarften, nur 
Ein Zeugniß.? ch begreife nicht, wie der Verfafler des Fragments 
über den Zwed Jeſu und feiner Jünger, den lebten einen Plan, 
die Geſchichte ihres Meifters wiſſentlich zu verfehren, bat beymeſſen 218 
können; in ihrer Erzählung, wie wir fie jebt haben, ift nichts von 
biefem Doppelfinn, von diefer fpäter bin ihrem Meifter? geliehenen 
Endabfiht merkbar. Entmweber wiſſen wir nichts von Chriſtus, falle 
wir dieſen feinen Zeugen nicht glauben börfen; wohl, fo wifjen wir 
nichts von ihm, weder böſes noch gutes, und fo mag die Sache 
ruhen. Oder wir miflen etwas durch fie und dörfen fie lefen 
(denn Griehen und Römer Haben doch fo gut ala nichts Hifto- 
riſches von ihm gemelbet,* geſchweige etwas, daß ihnen vorzuziehen 
wäre) mohlan, jo müfjen wir fie lefen, wie fie find; nicht fagen, 


1) Sinn wirbelt And, .... bie Worte 
2) fo fei aller Zeugniß, .... nur Eins. 
3) bin ihm 4) geichrieben, 


— 1638 — 


„das jchreiben fie, das will ich glauben, jenes fchreiben fie zwar 
„auch, das glaube ich ihnen aber nicht, das haben fie erdichtet und 
„erlogen;“ denn ich fehe gar nicht, wo hier die Grenze zmwifchen 
Wahrheit und Lüge ſey? und ob die unbewiejene,! eigne Meynung 
eines Leſers achtzehn Jahrhunderte Hinter ihnen dieſe Grenze ziehen 
könne? Sit ihnen zu glauben: fo glaube man ihren ganz, denn 
offenbar ift von Anfange bis zum Ende ihrer Erzählung ein 
Ganzes. Iſt ihnen nicht zu glauben, fo verwerfe man fie ganz, 
ſage, daß man dur foldhe Leute gar nicht von Chrifto wiſſen 
könne oder wolle, und laſſe fie mit ſich felbft unverworren. Für 

219 Kritiker, die eine Römiſche oder Griechiſche Gefchichte ſuchen, haben 
fie nicht jchreiben wollen; und es werden ihnen allemal Leſer blei- 
ben, wie flein und veracdhtet ihre Anzahl fey, die die Unbefangen- 
heit ihres Geiftes, die Planlofe Einfalt ihres Ganges, kurz das 
aufrichtige, Lift- und Harmlofe Ganze ihrer Erzählung fo bemer- 
fen werben, wie man ein offnes Gefiht und die Kunftlofe Rela⸗ 
tion eined gemeinen Mannes bemerkt und mit fih einig — — 
Vom Evangelium Johannis rede ih bier mit Fleiß noch nidt: 
denn es ift ein Dogmatifches Evangelium nad einem eignen Plan 
gefchrieben. 

Bielleiht wenden Sie ein, daß alle das wohl angienge, wenn 
fie nur nit fo wunderbare d. i. unwahrſcheinliche Sachen 
erzählten, und daß alſo eben dies Unmahrjcheinlidhe die Grenze 
jey, wo der Glaube ihres Berichts aufhöre. So könne man ihnen 
3. E. wohl glauben, daß ein Jeſus gelebt, daß fie mit ihm umge- 
gangen, daß er dies und jenes geſprochen, gewollt, betrieben habe, (falls 
fie recht gefehen und gehört,) daß er gefreuzigt, geftorben, begraben 
ſey — Aber nun ja fein Wort weiter. Daß er fo wunderbar gebohren, 
ſo wunderbar getauft, gelebt, geftorben, gar auferftanden, gen Himmel 
gefahren fey; dies fünne man ficher, als Betrug oder als frommen 

220 Irrthum, von ihrer Erzählung jcheiden, das jey gewiß nicht wahr, 
weil es — nicht wahrſcheinlich, für uns nicht wahrſcheinlich 


1) ob unbewiefene 
11* 








ift, ober endlich, mweil wird nicht felbft gejehen ober erlebt haben. 
— — Die lebte Bedingung tft freylich die befte, die alle fremde 
Nachrichten aufbebt und uns zuletzt die Welt fo enge macht, als 
den Spannenlangen Umkreis unfrer Sinne oder unfers Leben. 
Ich fürdte aber, die Erfte ift nicht zufammenhangender ala bie 
Zweyte. Das Wahrſcheinliche ift gerade nicht immer, wenigſtens 
nicht ausfchließend und unbebingt, das Kennzeichen der Wahrheit: 
fonft müßte jener Indianiſche König recht gehabt haben, der das 
Eis Täugnete, weil ihm unmahrjcheinlih war. Jede neue Natur: 
entdedung müfte jo lange falfch feyn, bis fie uns a priori wahr 
ſcheinlich! würde, und alle individuellen Umstände einer Lebens- 
geihichte, die für uns oft unwahrſcheinlich gnug, in ihrem 
Zufammenhange aber eben dadurch vielleicht deſto eigenthümlicher 
und charakteriſtiſch wahrer find, müften durch dies Maas zu unſerm 
Gedankenkreiſe? oder gar zu unfrer Willführ die unmiderjpredlid- 
ften Zügen merden. Der nämlide Fall ift mit biefer Lebens- 
geſchichte. Das Wunderbare in ihr ift durchaus nicht mehr unmahr- 
iheinlih; c8 ift der Perfon, dem Chriftus, fo eigenthümlich, jo 
charakteriſtiſch, ſo nothwendig, daß Chriftus Chriftus zu feyn auf 221 
böret, wenn er nicht fo gebohren, fo wunderbar thätig, jo lieb 
den Himmel, alfo lebte und ftarb, litte, und wieber ermedt wurde. 
Augenscheinlich ift dies der Zufanmenhang, der Zweck ihres ganzen 
Chriftus; die Sache nehmlich nur als factum betrachtet und alles 
Dogmatifche no davon gefondert. Wie fie die Geichichte vorftellen 
und erfahren haben wollen; gehörte dies Alles jo weſentlich zu ihm, 
als e8 zu Einem von uns nicht gehöre. Mithin können Diele 
wunderbaren Facta durch feinen Schluß von unfrer Erfahrung, 
und die Analogie, die in ihnen ſelbſt liegt, durch feine Analogie 
aus unjerm Leben über den Haufen raifonnirt werben; jo mwenig 
ih Cäfarn aus der Geſchichte wegläugnen fann, weil er fein Menſch 
unſrer Tage oder einen Riefen läugnen fann, weil er fein Zwerg 
ft. Doch ich fühle ſelbſt das Ueberſpannte meiner Folgerungen; 


1) uns wahrſcheinlich 2) Kreife 





— 165 70 — 


wie denn nothwendig alles ſchwankend oder überfpannt merben 
muß, wenn man von fo incommenjurabeln Saden, als Raifonne- 
ment und factum, Wahrſcheinlichkeit nah unſrer Maasgabe 
und Wahrheit einer Geſchichte in Einem Dihem und mie über 
Ein = und diefelbe Sache reden fol. Iſts ueraßaoıc eıc aldo 
yevos, wenn man auf hiftorische Dinge allgemeine Dogmata bauet; 

222 fo iſts folhe nicht. minder, wenn man jene durch Dogmata von 
Wahrſcheinlichkeit, Wunderbarem u. d. gl. deren Calcul noch niemand 
in der befannteften Sache zur Gemwißheit gebracht hat, wankend 
machen wollte. Beyde ftehen völlig auf ihrem eignen, jehr ver- 
ſchiednen Grunde. Geſchichte muß man dur Vergleich mit ihr 
jelbft, mit ihrem Ort, Zweck, Zeitalter, Zeugniß u. d. gl. glauben, 
oder fie ift für ung nicht da; man läßt fie andern und glaubt fie 
nidt. ch kann es Saunderfon nicht verdenken, wenn er fich fei- 
nen ſichtlichen Begriff von der Sonne machen kann, weil er fie 
nicht fiehet; wollte er deshalb aber die Sonne läugnen ober beftim- 
men, wie weit die Relation der Sehenden von ihr wahr ober 
falih jey; gienge er dabey nicht zu weit? Vielleicht, wenn er 
aufs jchärffte ratjonnirte; jpräche er für Sehende am irrften. 


223 WViierzehnder Brief. 


Keinen Fußbreit Platz babe ich mir mit dem vorigen Briefe 
für Dogmata bes Chriftenthbums erftreiten wollen; nur ein ſchmales 
Plätzchen für diefe arme, veracdhtete, und doch in fich jelbft jo zu- 
jammenbangende, edle Geſchichte. Johannes mag mit feinem 
Dogma: „Das Wort war ewig, war Gott und ward Fleiſch“ — 
noch ganz an feinem Drte bleiben ; denn daß das ewige Wort Menfch 
wurde, fchricb er nicht ald Zeuge, fondern als Lehrer, ber 
alfo zu feiner Lehre auch andre Quellen braudt, ala Ohr und 
Auge. Aber daß Chriftus Todte erwedt, daß er einen viertägigen 
Tobten zum Leben aufrief, daß er einem Blindgebohrnen das 
Geſicht, einem dreyßigjährigen Kranken die Gejundheit durch Ein 


— 166 — 


Wort gab, daß Er ſelbſt, der gekreuzigte, begrabne Chriſtus wieder 
erſchienen, wieder geſehen und erkannt ſey, das konnte Er und 
ſeine Brüder zeugen. Dazu gehört nur Auge und Sinn, ein 
richtiger Verſtand und ein geſundes Urtheil. Und daß die Apoſtel 
dies gehabt, daß in ihren Schriften keine Spur von Schwärmerey, 
verſchlagener Liſt, betrogener Dummheit, alberner Eitelkeit, Jeſum 224 
zu loben oder durch ihn gelobt zu werden, erſcheine; iſt, dünkt mich, 
augenſcheinlich. Mögen fie ſich in ihren Anführungen des A. T., 
in ihren Ideen über Jeſum geirrt haben, wie fie wollen (td) rede 
davon. noch nicht) das alles gehört nicht zu ihrem ſchlichten, biito- 
rifhen Zeugniß, über Saden, von denen fie zeugen fonnten, 
zeugen muſten (denn ſonſt konnte feiner ihre Stelle vertreten) und 
wenn ſies einmal tbaten, nicht anders, ala alfo zeugen borften. 
Wir haben aljo noch! nicht das Mindefte gegen fie; und nod 
alles ift für fie. 

Wäre Eine falfhe Spur in ihren Schriften, oder in ihrem 
Leben: wäre Einer aus ihrem Mittel 3. E. von ihnen abgetreten, 
hätte ihre Betrügerey, ihre Verabredung, die Geſchichte Jeſu zu 
verftellen, au nur feindfelig entvedt; hätte Judas, der Ver- 
räther, e8 auch nur in der Stunde entdedt, da fein Bauch barft 
— fo wäre Indicium gegen fie und nun müfte man jchmanten, 
prüfen, vechtlich, richterlich, erzkritiſch unterſuchen; noch aber könnte 
man nicht ungehörter Sache verdammen und abläugnen. Nun ift 
von allem gerade das Gegentheil. Keiner wird feinem Zeugniß 
und der Sache deſſelben untreu; fie leben, leiden, fterben darüber; 225 
der Verräther büßt feinen Pöbelgeiz mit dem Leben und fonnte 
nichts verrathen, als — den Garten, wo Chriftus war, wo ihn 
die nächtlihen Diebe fangen konnten.” Die Briefe Petrus und 
Johannes find auf die Gefchichte Jeſu nicht nur gebauet, fie find 
mit ihnen Eins; die Gefchichte Jeſu ift ihre Seele, wie fie Seele 


1) haben nod 
2) nichts als — den Garten, wo Chriſtus war, verratben. („wo — 
konnten.“ fehlt.) 


— 117 — 


und ganzes Leben derer war, die fie fchrieben. Diefen Geift 
pflanzten ſie fort, mit ihm allein erfüllten fie den Körper ! bes 
Chriftentbums, daß er, Trog allem, was ihm Anfangs entgegen 
war, faſt zwey Jahrtauſende überlebt bat — wahrlich, eine jonder- 
bare Betrügerey, ohne alle und gegen die größeften Anzeigen! 
Ein einziges Neich Beelzebubs, das mit fich jelbft fo eins, das in 
allen Wirkungen ein Reich? der Wahrheit ift, dem Beelzebub ent- 
gegen arbeitet, und dem mir doch den Beelzebub aus unferm Kopf 
leihen wollen. —? Noch mehr. Erfiftirten auch nur feindliche 
Zeugniffe gegen diefe Gefchichte, zumal in den erften Zeiten, in der 
Nation, die dagegen zeugen konnte und fo viel Urſache hatte, 
dagegen zu zeugen? — Auch nidt. Joſephus, der ja den Chriften 
nicht frohnen dorfte, jagt fein Wort gegen fie, geſetzt auch, daß 
er nichts für fie gefagt habe. Iſt fein Stillfchweigen nicht Sprache 
226 gnug für fie? Und wäre es wohl wahrſcheinlich, ja nur begreiflich, 
daß er von ihnen ganz gefchwiegen hätte? Man nenne feine Stelle 
von Chriftus verftümmelt, ich alte fte auch dafür; etwas muß er 
indefjen doc von Chrifto gefagt haben, und nah dem, was er von 
Sacobus jagt, gewiß nichts Uebels.“ Sobald die Römer von dieſen 
Schriften zu reden anfangen, iſts gerade im Geift diefer, wie Pli- 
nius Brief zeuget — alſo immer noch Alles hiſtoriſch dafür und 
nichts dagegen. — Endlich, könnte man auch nur (ich laße mich, 
meinem vorigen Briefe ſelbſt zuwider, ets aAlo yevog herab) einen 
Plan wahrfheinlid mahen, nah dem die Apoftel dieſe 
Geſchichte erdacht und ausgebreitet? auch nur von fern wahrjcein- 
lich mahen, wenn und wie und wodurch ſolches gejchehen? — 
Bon allem aber noch nichts; ja das Härfte Gegentheil von Allem. 
Die Geſchichte, die fie von Chrifto fchrieben, war den Begriffen 
der Nation, war ihren eignen Begriffen entgegen; nichts ftieß 
1) Bau 2) eins, in allen Wirkungen Reich 3) leihen — 

4) Uebels. Ganz erdichtet kann die Stelle unmöglich feyn, fonft wüfte 

ih nicht, warum man nicht auch bie Stellen von Johannes dem Täufer 
Herodes Agrippa u. dgl. wegſchneiden könnte, blos, weil fie das N. T 
befräftigen, ob fie gleich, eben, wie jene, alle bisher geſehene Codices haben 





— 18 — 


fie auf den Roman, Alles ſtieß ſie davon ab, und ihnen muſte er 
ja ſelbſt, als eine ihnen unbegreifliche! Geſchichte, aufgezwungen 
werden. Dieſe breiten ſie nun, als dazu beſtellte und faſt dazu 
gezwungene? Augenzeugen, lebend und ſterbend, unter Schmach 
und Trübſal, und fo fortgehend, unenthuſiaſtiſch, harmoniſch in 227 
Schriften und im Leben, im Leben und im Tode weiter — Ich 
hafle alle Declamation bey Biftoriichen Erweiſen: ich babe mir felbft 
über diefe Sache viel zu lang geichrieben, weil fich einem Zwei⸗ 
felnden oder gar Läugnenden doch felten etwas oder gerabe nur 
jo viel einreden läßt, ala wenn man dem Blinden von der Farbe 
deflamiret: überhaupt find groffe Bände von Beweifen der Wahr- 
beit der Chriftlichen Religion feine Speife für mich und ich wünfche 
nicht eben, daß fies auch für Sie würden, ja endlich nah Allem 
will ih noch fein Wort für die Wahrheit der Chriftlihen Reli⸗ 
gion (jo verflodten, als man das Wort Religion nimmt) gejagt 
haben; allein für die Wahrheit diefer Heinen Geſchichte, mie fie 
in ihrem erften Zuſammenhange dort erjcheint,? Tonnte und Tann 
ih nicht anders reden, bis man mich eines andern Üüberzeuget. Ich 
fage* mit allem nichts mehr: ala leſen Sie unbefangen und im 
Bufammenhange ihrer Zeit, ihres Drts, ihrer Umftände, die Ge- 
ſchichte ſelbſt; und (mern ich Hinzu ſetzen darf) hüten Sie fi, fo 
viel Ste können, vor abftraften, hinkenden Bettelbemeifen. Unglaube 
mag die Peft des Chriſtenthums ſeyn; fchlechte Beweis - Metaphyfit 
ift feine garftige, faule Seuche. Es fterben mehr Menſchen an 
diefer, wie vielleiht an jener; und in unjern Tagen ift fie die 228 
Modekrankheit. — 

Indem ich Sie auf diefe Bücher felbft und auf die Gründung 
des erften Chriftenthums, ala auf den beiten Thatbeweis dieſer 
Geſchichte verwieſen, ſchließe ich Fein gründliche Buch aus, das ihre 
Uriprünglichleit als Schrift, oder als Sache betrachtet, in ein 


1) al8 unbegreifliche 2) nun, als erzwungne 
3) wie ih fie mir in ihrem Zuſammenhange dort bente, 
4) ſage doch 





— 169 — 


biftorifches Licht ſetzt. Lardner's, zum Theil Jort ins Schriften; 
Houteville, l'Abbadie u. a. unter den Deutihen, Lilien- 
tbal, Leß, Nößelt, und! eine Reihe andrer, die ich nicht gelefen; 
Bonnet, Grotius, faft ein jeber, der über Wahrheit der Chrift- 
lichen Religion jchreibt, muß diefen Punkt wenigſtens Streifmeife 
berühren. Eine gute Einleitung ins NR. T. würde manches 
Ueberflüßige dieſer Beweiſe abjondern und fur; zufammenfaflen, 
was zur Beurkundung und Einficht der Bücher des N. T. und 
ihres Inhalts diene. Das befte Organ indefien diefe Schriften 
zu leſen und zu gebrauden, ift Einfalt des Herzens, vebliche, 
gerade Abſicht. 

Ich würde Sie fehr beflagen, m. Fr., wenn Sie von der 
biftorifchen Wahrheit der erften Chriftlichen Geſchichte nicht über: 
zeugt, beim Studium der Theologie blieben. Nicht, al8 wenn Sie 

229 deshalb zu verbrennen und wegen Ihres Unglaubens zu freuzigen 
wären; fonbern weil es ihrer Ruhe und Neblichkeit, der Würde 
ihres Charakter und dem Eifer, den jeder rechtichaffene Mann 
feinem Gefchäft ſchuldig ift, äufferft ſchadete, wenn Sie ein Diener 
der Lüge, der Bote? einer Gedichte und Sache würden, die Sie 
ſelbſt nicht glaubten. Wie Sie fih auch nachher helfen mollten: 
„ich predige gute Moral, fromme Lehre, Meinungen eines guten 
Mannes,” Ste werden immer ein weller Zweig am Baum des 
ChriftentHums für fih und andre feyn und bleiben. Mich dünkt, 
in unſrer Beit follte man manche dergleichen Zweige ahnden! ich 
beflage fie und bedaure das Chriſtenthum durch fie. Hätten die 
Apoftel jo gedacht, hätten fie fih in der Bruft, als kalte Betrüger 
eines nicht⸗ auferſtandnen Chriftus gefühlt und fich mit bebender 
Furchtſamkeit zum Erfag ihrer Lüge, die fie unwillkührlich fagen? 
müften,, an einige Moral aus dem Munde Jeſu gehalten; wo wäre 
Chriftus, wo wäre das Chriftenthum jetzt? Ihre Freudigkeit im 
Leben und im Tode kam nur davon, daß fie nothgebrungen und 
von Gott beftellt, eine wahre, ſelbſtgeſehene Geſchichte, in» 


1) Leg, und 2) Lüge, Bote 3) machen 

















— 170 — 


ſonderheit der Auferſtehung predigen mußten. Gerade die 
Simplicität dieſer Lehre, als eines gewiſſen, ſelbſterlebten 
Facti trug am meiſten zu der Revolution bey, die das Chriſten⸗ 230 
thum machte. Der bloßen Lehren, Zweifel, philoſophiſchen Fragen 
und Scrupel über Dienſt und Verehrung Gottes, über Unſterblich⸗ 
keit und ewiges Leben, war man müde: Jahrhunderte hin war 
man durch Diſputiren nicht weiter gekommen, als man Anfangs 
war und die menſchliche Seele will Gewißheit, fie dürſtet nad 
Factis. Dieſe alfo, die alles enthielten, was jenen fehlte, nahm 
man mit gröfter Begierde an: bie Moral des Chriftentbums marb 
Thatfache in den Sitten feiner Jünger, die Ruhe, die es gewährte, 
war Factum! in ber Heiterkeit ihrer Seelen, das künftige Leben 
Factum in der Gefchichte ihres Herrn, Die fie erlebt hatten, für 
die fie lebten und ftarben. Diefer kurze, Eönigliche Weg war damals 
Triumph bes ChriftentHums und wird zu allen Zeiten fein gemifle- _ 
fter Triumph feyn. Gehen Sie ans Krantenbett und beſuchen heut 
einen ebrlich-treuen Chriften, morgen einen feinen dogmatiſchen 
Zweifler; Sie werben feben, wo Würde, Veſtigkeit der Seele, 
Ruhe und Großmuth ſey? Oder warum nenne id dad Wort 
Krantenbett? beſuchen Sie beide in ihren geſundeſten Tagen, beob- 
achten Sie diejelbe eben in jchweren Umständen, bey Verwidelungen 
ihres Lebens; und ſehen, wohin fi der Ausfchlag neige? Der 
größefte, nützlichſte, glüdfeligite Theil der Menfchen braucht Facta, 231 
weil er fih an ſelbſterdachte Hypotheſen nicht halten Tann, weil 
jeder Wind fie umreißt oder weil fie für ihn zu fein find. Die 
Kraft einer Demonftration tft dem Effect der feinften Muſik, der 
Wirkung des feinften Gemälbes und was fonft die menſchliche 
Matur zartes empfinden mag, an Feinheit unendlich vorzuziehen; 
aber auch nur an Feinheit. Zum täglichen Leben, zum fortwäh⸗ 
renden, nährenden Genuß brauden mir andre Dinge, als biefe 
feinen Effecte; gefunde Speife, gejunde Sinne und ihre Wahrheit. 
Auch die köſtlichſte Abftraction mufte ja aus ihnen bereitet werben 


1) gewährte, factum 








— 11 — 


und Tehrt in fie, wenn fie nahrhaft und gefund werden foll, wieber.! 
Ein Chrift, der an einen auferſtandnen Chriftus? glaubt und da 
it, wo Er ift, figend zur Rechten Gottes, herrſchend in 
Kraft und Unfhuld; bat an feinem Facto mehr, als ein andrer 
an hundert philojophifchen Zweifeln und Wahriceinlichkeiten über? 
die Unfterblichfeit der Seele. Ein Chrift, der an Ehriftum thät- 
lich glaubt, d. i. das Factum bes Lebens deſſelben durch jein 
Leben ſtill und wirkſam ausdrückt, hat an dieſem thätigen Glauben 
mehr, als der gröfte Theoretifer, der allgemeine Moral im Buch⸗ 
232 ftaben aufputzt. So weitr. Mir iftö immer rührend, wenn eine 
Chriftlihe Gemeine mit Herz und Weberzeugung Auferftehungs - 
Geburts » Vaffionslieder, ald Facta und Entſchlüſſe über Facta 
finget; in ihrer gröften Simplicität ift eine Kraft, die mandes 
neuere Machwerk von gereimten oder ungereimtem Raifonnement 
weder nahahmen, noch erjegen kann. Auch bier gilts: „Waſſer 
thuts nicht, fondern Wort Gottes und Glaube” um welches fich 
die beiten Raifonnements der Menſchen nur mie Kränze um den 
Stamm flehten. Ich bin überzeugt, daß die alten Hymnen der 
Chriftlichen Kirche, die Gefänge des Prudenz u. a. mande Lieber 
der Lateinifchen und alten Mährifhen Gemeine, und mas feit den 
Zeiten der Reformation ihnen in ihrem Geiſt folgte, daß diefe ein- 
fältige, biftoriiche Glaubensgefänge beim größeften, nützlichſten Theil 
der Menichen mehr Gutes gefchaft, mehr Unfchuld, Ruhe und Ueber- 
zeugung gewirkt haben, als was, an die Stelle gejegt, vor ber 
Hand wirken würde. Der Grund des ganzen Chriſtenthums ift 
biftorifhe Begebenheit und derſelben reine Erfaffung, 
fimpler, ſchlichter thätig-ausdrüdender Glaube. 
Eben aber, daß dies fein Grund ift, zeigt, m. Fr., daß Chri- 
ſtenthum als ſolches, nie verfolgen kann, nie verfolgen muß. 
233 Wer wird den andern mit Feuer und Schwert zwingen, daß er 
eine Sade Biftorifch glaube? Ueberzeuge ihn, daß er glaubt; 


1) mufte aus ihnen... . in fie nabrhaft und geſund wieber. 
2) Chriftum 3) Zweifeln über 


— 112 — 


wo nicht, jo laß ihn gehen. Er ftebe oder falle dem Richter feiner 
Ueberzeugung ; du bift dies nicht. Chriften, die einander zum 
Glauben zwingen, oder bes Unglaubens wegen verbrennen oder 
verfolgen, follten nur ben Titel ihres Teftaments aufſchlagen: es 
beißt Evangelium, es ift Geſchichte. Wer verbrennt einen 
andern, weil er ein Evangelium nicht annehmen mil? Behalt, du 
andrer, e8 für dich ſelbſt. Wer fchlägt den andern, weil er eine 
vor ‚zweitaufend jahren erlebte Geſchichte nicht glauben wollte? 
Glaube du fie darum deſto feiter. Ich Habe nie gehört, daß bie 
Schüler Sokrates und Plato mit fremden Völkern hätten Krieg 
anfangen wollen, weil diefe Völker von ihrem Sokrates und Plato 
nichts wuften, etwa weil fie nie! Gelegenheit ober Muße gehabt 
hatten, fi vom Dafeyn derſelben in Griechenland zu überzeugen; 
und Schüler Chrifti hätten fih fo etwas zu Schulden kommen 
laſſen? Wahrlich, fie waren nit Schüler Ehrifti mehr, da fie es 
tbaten! . 


Funfzehender Brief. 


Freylich, m. Fr., facta können nur durch facta beurfundet? 
und erhalten werden; der beite Beweis des Chriſtenthums tft alſo 
das Chriſtenthum jelbft, feine Gründung und Aufbewahrung, am 
meiften feine Darftelung in Unihuld, in thätiger Hoffnung und 
in dem Leben, wie Chriftus es lebte. Dffenbar jagt dies Chriftus 
felbft in dem belannten Sprud: jo jemand will des Willen 
tbun u. f. Gegen feine Feinde beziehet er fich immer auf feine 
Werke, auf Thatbeweife feines Charafterd und feiner göttlichen 
Sendung; dies ift der Beweis des Geiftes und der Kraft, 
der dem Chriſtenthum nie abiterben ſollte, ober e8 wäre mit feinen 
alten Wunder- und Weißagungsbemeifen gegen Ungläubige, oder 
gegen folche, die feinen Beruf fühlten, diefe Sachen zu unterfuchen, 





1) wuften, nie 2) betannt, beurkundet 








— 13 — 


gefchweige fie blind zu glauben, mißlih daran. Das Chriftenthum 
ift überhaupt, wie gezeigt worden, feine Demonftrationsfache, da 
Hiftorifche facta in Ewigkeit nicht, wie fehr man auch verwirre und 
fnüpfe, werden demonftrirt werden fünnen. Sie wollen aud 

235 nicht anders bemonftrirt fegn, als durch hiſtoriſche Ermeife, 
durch eigne Weberzeugung und einen reinen Ausdruck derjelben 
im! Charakter des Lebens. 

Sagen Sie doch, m. Fr., bat je ein Schüler Socrates feinen 
Lehrer anders und befler zu ehren geglaubt, als wenn er die Wahr⸗ 
beit feiner Lehren thätig ausdrüdte? Je mehr er dies thut, je 
weiter er bierinn kommt, deſto mehr ift er Socrates Schüler ; übers 
zeugt ihn Socrates nicht, jo wähle er fih Epicur, Diogen,? oder 
ſich felbft, dem er folge. Wem er folgt, dem folge er auf feine 
Gefahr. In den eriten Jahrhunderten behandelte man das Chriften- 
thum auch auf eine fo freymwillige, milde, thätige Weiſe; und weder 
das Chriſtenthum, noch fein Belenner befand fi dabey übler. 
Sobald das Chriſtenthum ſchlaffe Gewohnheit, ererbte8 Gut, oder 
gar fürchterliches und doch müßiges Landesgeſetz, fur; Leibes- und 
Geelenzwang warb; bliebs fein Chriftentbum mehr. Dies beruhet 
nur auf That und Ueberzeugung, auf Geiſt und Wabhrbeit. 
Der arme Chriftus, als er in ber Welt wandelte, bewarb er fi 
wohl um König Abgarus Gunft, feine Religion daſelbſt politisch, 
als einen Erbgebrauch, als eine bürgerliche Landesbebingung ? zu 

236 etabliren? Trug er jo etwas den Häuptern Jeruſalems oder dem 
Herodes * und Pontius an? Behauptet er nicht vielmehr, bis auf 
die legte Stunde, daß fein Neih nit von diefer Welt jey, daß 
leiner feiner Diener darum oder dafür mit weltlichen Waffen kämpfen 
und fremben Anechten. die Obren abhauen dörfe: daß cr Wahrheit 
zu lehren da ſey und Wahrheit fi allein ale Wahrheit fort- 
pflanzen müfle — bat er dies nicht in feinen Leben aufs nad- 
drüdiichite dur Wort und That bezeugt? Was mic er mehr 


1) Ausdrud im 2) Mic.: Diogen, Zeno 
3) Erbgebraud und Landesbedingung 4) oder Herodes 





— 114 — 


als Zwang und vornehme Unterftügung? Floh er nicht die Palläfte 
der Grofien? madte er nicht Reulingen den Zutritt zu fich eher 
jchwer, als leicht? wards nicht immer erfter Charakter feiner Nach⸗ 
folge: fih zu verläugnen, mit fi felbft wohl zu Rath zu 
gehen, ehe man den mißlichen Schritt tue. So Chriftus; und 
deßwegen blieb auch fein Reich Hein und unfichtbar, die Zahl feiner 
Jünger war geringe und auch das, was an feinen Jüngern eigentlich 
nur Perle des Chriſtenthums war, blieb und ift ein vergrabner 
Schatz im Ader. Unfer Leben, ſagt Paulus, ift verborgen 
mit Chrifto in Bott; nur wenn er erfcheinen wird, werden 
auch wir offenbar werden. — Chriſtus mollte nicht weltlich 
herrſchen noch jeine Aufnahme mit Feuer vom Himmel documen- 
tiren. Er haßte das erfte, als einen Kunftgrif des Teufels gegen 237 
den ganzen Zwed feiner Würde und feines Lebens; das lebte als 
eine feindfelige Zernichtung feiner ganzen Abfiht.! Er gieng durch 
die Welt, als ein armer Wandrer, der, ala ob alles mit Fluch 
und euer gewürzt fey, fo wenig, ala möglich, von ihren Gütern, 
Schäten, Hülfgmitteln, Koftbarkeiten berührte. Wie alſo? Er 
machte eine freywillige Verläugnung alles? defien, mas der ftillen 
Maht und Wahrheit feines Reichs fremd märe, zum 
Grundgefeg feiner Nachfolge; und unter uns follte weltliche Hoheit 
der? Charakter feiner Herrihaft? Zwang der Geſetze und Verfolgung 
jollte Stüße feiner ächten Religion je ſeyn können, feyn dörfen? 
Wenn bat das Chriſtenthum eine politiihe Gefeßgebung, fobald 
beyde Theile rechter Art waren, auch nur formiren wollen? Gein 
Geiſt kann Alles durchdringen und wenn in Rom der Stotcismus, 
in Griechenland der Pythagorismus den Gefehen aufhalf, würbe 
wahrlich der reine Geift, der Menfchenliebende, allverträglie Sinn 
des Chriſtenthums, der Gejeßgebung gewiß nicht Ichaden, wenn 
man ihn je jo weit fommen lieffe; um Gottes willen aber glauben 


1) letzte als einen völligen Feind feines Geiftes. 
2) machte freiwillige VBerläugnung alle 
3) und weltliche Hoheit follte ber 4) wenn 








— 15 — 


Sie nicht, daß irgend ein blinder! Gelten- oder heuchlerifcher 
238 Sclavengeift Gejeggebung des Chriſtenthums ſey. Seyn Sie 
immer auf Ihrer Hut, wenn bey Sachen folder Art Chriftenthum 
angebeftet wird; da lauert gewiß die Schlange Hinter der Rofe. 
Wenn Sie einft ein geiftliches Amt befleiven, entfernen Sie fidh, 
was Sie fünnen, von jeder dummen Superintendenz über die 
Gemüther,? vom politifch - unchriſtlichen Chriſtenthume. Stellen Sie 
die Lehre und das Leben, kurz die Gefchichte ihres Herren und ber 
Seinen dar, mündlich, thätig, je ftiller und Geräuſchloſer, defto 
beſſer; damit die Wahrheit ihr Recht behalte und das Wort Gottes, 
jo wie der Charakter? Jeſu im Stillen wirke. Werden Sie fo 
glücklich, nur, einige zu überzeugen, daß fie fih, ohne Schmärmerey 
und Aberglauben, entſchlößen, dem Leben und ber Lehre Chrifti 
männlich zu folgen, nad) feinen Grundſätzen zu leben in Wahrheit 
und ftiler Liebe; mögen Sie nun diefe Leute kennen oder nit — 
das legte immer um fo beſſer! Laflet uns Chrifto Jünger ziehen; 
nicht und. Laſſet uns ihn, nicht uns predigen. Liebe ift Geift 
des Chriftenthums, nicht Gebräude; allgemeiner, reiner Geiſt 
der Wahrheit, wo Wahrheit fich finde; feine einzelne Claufur 
von Worten. Nicht nah Sekte wird Chriftus am Weltgericht 
fragen, nit nad den Saum des Node, oder nach erlernten,* im 
239 Grabe gebliebnen Formularen; ſondern nah reinem, Tindlichen 
Menſchenſinn, nad allgemeiner, ſich jelbft unbewuſter Menfchenliebe. 
Was ihr gethan habt, Einem unter diefen Geringften; 
das habt ihr mir gethban. Was ihr nit gethban habt 
Einem derfelben, Habt ihr mir aud nicht gethan. D Freund, 
wenn wir nur dieje einzige Rede Chrifti, nur Die einzige Handlung 
von ihm hätten, ala er jenes Kind in die Mitte ftellte und was 
er darüber ſprach; könnten wir des Weges, Chrilten zu feyn in 
feinem Sinn, im Geift feiner Wahrheit, je verfehlen? Und wie 
dDiefe, find ja alle feine Lehren, Handlungen, fein ganzes Leben. 


1) daß blinder 2) Superintendenz der Gemütber, 
8) und Wort Gottes, Charakter 4) Rode, und erlernten, 


— 1716 — 


Güte lobt er immer, als die menſchlichſte, billigfte Gerechtigkeit; 
Verzeihung, Nachgeben, Duldung, Ueberwindung bes Böfen mit 
Guten zeigt er jebesmal als die wirkſamſte, befhämendfte Güte. ! 
Der Stolz des lauten Guten bat feinen Lohn dahin; das ftille, 
verfhwiegne Gute aber ift bey ihm Saft der Natur, Baljam? 
des menſchlichen Herzens und Lebens. Zu bauen, mo jedermann 
bauet, oben am Kleide zu fliden und die Schüffeln auswärts rein 
zu halten, nennet er Pharifäerey und ſpricht ihm, ala der ver- 
führendften Heucheley, die das Auge vom wahren Schaden, von 
wahrer Beſſerung abziehet, das fürchterlichſte Weh;? aber, da 240 
beflern, mo niemand befiert, da helfen, wo niemand hilft, fich der 
armen, verlannten, nadten, Hungrigen, gefangnen Menichheit 
annehmen, wo und wie fie gefangen liege, darbe und bettle, 
geiftig oder leiblich, in Sachen des irrdiſchen oder ewigen Lebens; 
das iſt Chriſtenthum, das ift Geift feiner Lehre, feines Lebens, 
feiner ewigen Belohnung. Wo in der Welt diefe ftile Saat reiner, 
guter, verborgner Thaten auch unter Schnee und Dornen blübe; 
wird Chriftus fie finden und in feine Ernte fammlen, alle crift- 
liche und undriftliche Spreu aber wird er verbrennen mit ewigen 
Feuer — — 

Heil dem Chriftenthbum diejer Art, wo und wie e8 blühe und 
feime! und Sie, mein Freund, ruffen mit mir Heil! Chriften- 
thum der Art ift die Wurzel der Menfchheit, ihr edelſter Lebensſaft 
in den verborgenften Gefäßen, Mark Gottes in unjern Gebeinen, 
fein jtilles Bild, feine verborgne, aber mächtige Kraft der Schöpfung. 
Was mit Trompeten- und Paudenihall, um! Ruhm, Ruben, 
Stand, für die liebe lange Weile gethan wird, empfängt, wa3 es 
will, Ruhm, Nugen, Stand, kurze Weile; es tft vorüber und hat 
feinen Lohn dahin. Das wahre, chriſtliche Gute, im Stillen 241 
gethan, aus innrer Weberzeugung und Liebe zur Wahrheit, zur 


1) Guten, al8 bie befchämenpfte lite. 
2) ıft fein Saft der Natur, ift fein Balfam 
3) Befjerung abzeucht, das verberblichfie Web; 4) für 





— 17 — 


Beyhülfe der armen, nadten, gefangenen und darbenden Menfchheit 
— es hat von jeher die Welt erhalten und erhält fie: es geht nicht 
unter, es ftirbt nicht, wenn es auch zu fterben fcheint, es geht! 
in unfichtbaren Gefäßen, ala Saft des Lebens, ald Ambrofia und 
Manna aller Natur, als Gottes Licht, Flamme und Same weiter 


und wirkt, wo mans oft nicht ſuchen Sollte. Die künftige Welt 


wird nur aus dem beftehen, was in diefer reell, d. i. ächtes 
ChriftentHum mar und als folches in fie übergehen fonnte. Die 
verborgne Saat wird alsdenn offne? Ernte, das zerftreute Reich 
der Glieder Jeſu, die von Einem Geift belebt, in manderley 
Geitalten, die Laft des Lebens trugen und den Staub? zu Golde 
zu maden jtrebten, werben fich freuen und Eins werden und bey 
dem Herrn feyn allezeit. Dies, m. Fr., ſey unfer Chriftus- 
fiegel! Seine Taufe, fein Abendmal, fein Gebet, feine Gleichniſſe, 
jein Leben, fein Ausgang aus der Welt, fein Eingang in den 
Himmel, feyn ftilles Dortjeyn, bis daß er wiederkomme mit feinem 
Reid — alles führt, alles zieht uns darauf, Eins zu jeyn 
mit Ihm, zu leben in feinem Geift, als Kinder Des 
ewigen Vaters im Himmel. Unten. 

N. S. Ich Habe Sie mit Fleiß noch zu Ende meines Briefes 
an die wenigen und zarten Inſtitute Chrifti, Taufe, Abendmal 
und fein‘! Gebet, erinnert. Ich kann mir nichts freundlicheres,® 
innigers denken; auch wenn ich fie als blofje Inſtitute (Dogmata 
von Geheimniffen noch abgejondert,) betrachte. Wie Chriftus getauft 
ward, werden auch wir getauft, mit allen Drey heiligen Namen, 
die fi) dort bey und über ihm offenbarten. Sein Abendmal ift 
die innigfte Verbrüderung mit uns, daß er Weinjtod jey, wir nur 
die Neben, daß fein Saft und Blut in unferm Herzen mwalle und 
wallen müfje zum ewigen Leben. Sein findliches Gebet endlich, 
ift, wie jenes Buch jagt, „Die herabgelaſſene Herrlichkeit des Herrn, 
„zu der die Heiligen Gottes auffleigen und den Urheber aller 


1) unter, ftirdt - .  . feheint, gebt 2) wird offne 3) Koth 
4) Abendmal, fein 5) Mfe.: freunbfchaftlicheres 6) dort iiber 
Herders fämmtl. Werke. X. 12 


— 18 — 


„Dinge um das Leben der Seele, die Bedürfniſſe des Leibes, und 

„die Abkehrung vom Böſen zum Guten bitten, mit einer Hand, 

„welche dem Vater jchreibt, und zu Ende derjelben mit einer Hand, 

„die den Brief mit! Gottes Siegel, den Volltomnienheiten Jehovahs 

„ſelbſt, verfiegelt.” Leben Ste wohl und leſen dieſes Gedicht, zum 
12, Ye heil nad) einigen Witthofſchen Strophen.* 


Das Grab des Heilandes.’ 243 


So ſchläfſt Du nun den Todesihlaf im Grabe, 
Du junger Held, gefärbt mit ſchönem Blut. 
Dein Leben war für taufenn Lebensgabe, 
Dein Tod erguidt auch Sterbende mit Muth. 
Ruh dann, erlöft von jedem Jammer, 
womit Dich Menſchenhärte traf, 
in Deiner ftillen Kammer 
ben fehwer -errungnen Schlaf. 


Du aber Freund, ar dieſem bittern Tage, 
komm, ſchau mit mir der Menfchbeit Scenen an. 
„Sieh, welh ein Menſch!“ Betracht’ ihn ftill und fage: 
wer Menfcher ſegnender je werden kann? 
Und dann laß uns der Welt bier denken: 
mit weldem Dank fie ihn erfreut? 
Aus Liebe fih zu kränten 
ift ſüße Dantbarteit.* 


1) die mit 2) „xeben — Strophen.“ fehlt. 

3) Das Gedicht fehlt in A. Im ciner älteren, unvolllommenen, an vielen Stellen 
abweichenden Geſtalt ohne Kenntnis des erften Druckes aufgenommen unter die Gedichte IT, 
171 — 173 (1817). Bier fehlt Ste. 9. 14. Die von Herder verworfene Form ift nur mit‘ 
wenigen Barianten (G.) berildfichtigt. 

4) Withof: Der Beiland ſchläft den Zodesihlaf im Grabe, Der er den Tod 
buch feinen Tod erſchlug. Was war fo fehr, als Leben, feine Gabe? Bon ihm 
erwedt erlebten Todte guug. Ihn (Ihm?) legt, nun alle (allen ‘?] Sammer, Womit 
ihn Gottes Härte traf, In feiner Toptenlammer, Der ſchwer errungne Schlaf. 

O, wache freund! an biefem Elenbetage: Ih rlüde dir die Marterfcenen an. 

Sieh! welch ein Menſch! von, Haupt zu Füße Plage, Wie Gott noch nie, noch nie 
Geſchöpfe ſahn. Bier laß uns feine Mühe denken, Wo Mitleid ja, wie Luft, 
erfreut. Aus Liebe fih zu Tränfen, Ergögt die Dankbarkeit. 





244 


— 19 — 


In Nazareth, am Galilder- Meere 
wer gab dem Jünglinge den hoben Geift, 
Der, wie enttommen ſchon ber Erden - Sphäre, ! 
fein Reich den Himmel, Gott nur Bater beißt 
und ſchaut, wie Seine Sonne leuchtet 
auf Bf’ und Gute, wie Sein Thau 
fo Rof’ al8 Dornen feuchtet 
auf Einer Gottesan. 


„Auf laßt uns Kinder feyn der Vaterglite 
vollflommen, wie der Herr vollkommen ift.“ 
So pflanzt’ er in der Sterblihen Gemüthe 
Unfterblich Weſen, das fich felbit vergißt, 
und im Berborgnen fchafft und flehet, 
für Menſchen fchafft, für Feinde flebt, 
fill für Die Zukunft fäet 
und fill von dannen gebt. 

„Slüdjeel’ge Armen! Glücklich, die ba leiden 
unfhuldig-fanft und im Erbarmen ſchön 
aus reinem Herzen Menſchen Fried’ und renden 
und Mitleid reichen und den? Haß beftebn. 
Seyd fröhlich und getroft: euch Tohnet 
im Himmel ew'ger Troft und Lohn; 
der Staub, den ihr bewohnet, 
ift bald zum Staub’ entflohn.® 

„Auf! feyb der Zeiten Licht, das Salz der Erbe, 
ein Stern der Nacht, ein Keim der Kruchtbarteit. 
In euch ift Glanz, damit Glanz um euch werde, 
in euch ift Gold, das ihr den Menfchen leibt.* 
Auf! dDringet durch der Sieger Pforte! 
Eng’ ift die Pforte, ſchmal ber Weg, 
zum böchften Freudenorte 
ein unbetretuer Steg. 


Er ſprachs umd gieng voran die Dornenpfabe, 
die noch dem Sterbenden fein blutig Haupt 
im Kranze ſchmückten. Haupt, bu lächelſt Grabe, 
Als Hätte Roſ' und Lorbeer Dich umlaubt. 


1) &.: der Erden Schwere 2) B.: dem (SDrudfehler?) 
3) &.: Wo jeder Gute wohnet, Dem Haß der Welt entflohn. 
G.: ift Reichthum, den die Erde weiht. 


12* 


— 180 — 


Entſchlummre. Bald wird Deine Krone, 
Ziegprangenb wie der Sterne Glanz, 
dem Dienfchengott zum Lohne 

ein ew'ger Gotteskranz. 


Denn fanft wie Gott, gefällig gleih den Engeln 
war Güte nur und Huld fein Königreid). 
Mitfühlend unfrer Laſt und unfern Mängeln' 
Und Sich allein an Kraft und Würde gleich: 
Einfam im lauten Weltgetünmel, 
in feine Größe ftill verhüllt; 

So ftrahlt am hoben Himmel 
die Eonne, Gottes Bild. 

Und konnten Dem ein linheil Fromme ftiften ? 
Die Priefter ach! ergrimmte fein Bemühn. 

Sie riefen ihn aus ihren alten Schriften 
und als er fam, erwürgten Priefter ibn. 
Zu ſchwer der Heuceley geworden, 
entgieng er ihrer Tücke nicht. 
Ihn riß der Segensorden 
ins ärgfte Blutgericht.? 

Wie? hatt’ er nicht Schon lebend gnug gelitten ? 
Er, deflen Herz das Mitleid felber war. 

Ein zarter Eproß, um den die Stiirme ftritten, 
Ein Arzt, dem Fremdes eigen Leid gebar.? 
‚Laß diefen Kelch vorübergeben; 

Doch Bater, Dar haft ihn erfüllt.* 

Dein Wille mag gefcheben; 

Nicht ih; wie Du Herr millt." 

Er trank den Kelch und als nun feine Glieder 
Gefühl der Gottverlafjenheit durchdrang: 

Kein Troſt erquidte feine? Augenlieber, 
auf die des Hohnes ſchwere Wolte fant: 


1) Nur 3. 1-3 nah W.: „Denn fanft wie Gott, geflihlig gleich den Engeln, 
Zum Helfen ba, von Eigenliebe fern, Belud er fih mit unfer aller Mängeln,‘ 

2) W.: „Sie priefen ihn, nur ftoly auf alte Schriften,” und „Ertrug er ihre Tiide 
nit: jonft wie oben. ' 

3) Nur 3. 1-4 nah W.: „Wie hat er nicht, wie vielerlch gelitten, Er, deſſen 
Herz die feinfte Liebe war, Das ſchwächfte Rohr, das Wütende beftritten, Dem 
Schönheit Haß und Güte Neid gebahr.” 

4) G.: gefült. 5) G.: Schon driülckte Nacht bie matten 


246 


247 


213 


249 


— 131 — 


Zerriſſen warb der legten Schmerzen 
geliebter Knote, der den Freund 
mit Freund- und Mutterbherzen 
im Tode noch vereint. ! 
Da blidt’ er auf und ſah die ſchönen Auen, 
bie er dem Sünder Mitleidvoll verbieß: 
„Beben! an mich und laß bein Reich mich ſchauen.“ 
„Hent ſollt Du's fchauen, der Freunden Paradies. 
Empfang’ in Deine Vaterhände 
den matten Geift: es iſt vollbradyt! 
Da kam fein flilles Ende, 
fein Auge brach in Nacht. 
Nicht Thränen, Freund! ein Leben ihm zu weiben 
Die Seines, das nur ift Religion. 
Was Ihn erfreute, fol auch uns erfrenen, 
was Er verſchmähte, fey uns fchlechter Lohn. 
Mit Güte Bosheit überwinden, 
Undant der Welt wie Er verzeihn, 
im Wohlthun Rache finden, 
ſoll Chriſtenthum ung ſeyn. 
Und nie, o nie ſey ſeiner Feinde Seele 
die Unſre! Was fein Leben ihm betrübt,. 
was feinen Geift wie in der Marterhöle 
zu feufzen zwang, jey nie von uns geliebt. 
Erftorbenbeit und ftolze Ränte, 
beym Pöbel Pharifierruhm, 
Geſchwätz und Wortgezänte 
fey Teufels Chriſtenthum. 


Sechzehnder Brief. 


Der Meynung bin ich nicht, daß man in allen Gleichniſſen 
Jeſu tiefe Geheimniſſe finden oder fie gar als die Kunſtvolleſte 
Dichtung betrachten müffe, die je auf Erden gemacht ward. Dichter 
zu feyn, war Chriſtus nicht hier und den Aeſop mit Fabeln oder 
einen misigen Kopf mit Sinniprüden zu übertreffen, war nicht 


— — — 


1) Nur Z. 1 nach W.: „Er trank ihn aus” 








— 11 — 


jeine Abfiht. Auch hierüber, wie über jo manches Andre hat der 
Hochheilige Lobreden enipfangen müflen, deren fich jeder, der jene 
Zeiten Tennet, ſchämen möchte. Parabeln, wie Jeſus fie ſprach, 
waren nicht feine Erfindung: fie find gewöhnliche Einkleivung der 
alten Jüdiſchen Lehrer, die wir in ihren Büchern und Commen⸗ 
taren häufig, oft nicht ungeichidt finden. Nicht in der Einfaflung 
liegt der Werth, fondern in dem gefaßten Stein, dem Sinn der 
Rede; und auch diefen muß man nicht zerfnirfchen und zerfplittern, 
als ob er aljo fchöner würde: in einer Parabel dörfen nicht tau- 
jend Sätze gefügt werden; Ein Hauptſatz muß in ihr liegen. Daß 
fie als eine Geſchichte, gleichſam als ein Mährchen täglicher Gemohn- 
heit, fortläuft, giebt ihr einen lebendigen, reichen, frucdtbarn Gang; 
unmöglich aber kann man jedes Glied, als ein neues Ganze voll 
Geheimniſſe und Lehren abreigen, ohne daß nicht meiftens der Sinn 
der Erzählung überhaupt leide oder gar verſchwinde. Inſonderheit 
giengs vielen Gleichniſſen Chrifti jo, weil fie, ein Jahrtaufend her, 
gewöhnliche Sontagsterte gemwejen find, die in zweyen Tagen oft 
breymal in Einer Kirche Jahr-aus Jahr-ein erfläret werden. 
Da wollte, da mufte man doc immer was Neues fagen; jeder 
wollte es vor dem andern ausgezeichnet jagen, und jo wurden Die 
Verfchneidungen, die Deutungen, die falfchen Gefichtspunfte, die 
verzwidten Predigt: Themata, daraus, von denen in grofjen Bürden 
die Welt voll ift. Holder Menſchenſohn, mollteft du das, da du 
bein einfaches Gleichniß jagteft? 

In diefen und andern Sachen, m. Fr., lejen Sie nur einige! 
Jüdiſche Schriften, deren eine Reihe auch überjegt ift, um fih an 
den parabolifhen Ton zu gewöhnen, und ihn mit fchlichtem Auge, 
auf welches Chriſtus jo viel hält, anfchen zu lernen. Gin groffer 
Theil feiner Ausdrüde, auch felbjt feiner Gebete, nimmt aus der 





damals gewöhnlihen Sprahe der Jüden fein Licht, Drufius, 251 


Schöttgen, Lightfoot, Meufhen, Wetftein haben dazu nicht 
unnützlich geſammlet. Sie fünnen bey biefen Formeln noch inmer 





1) Sie alte 


— 13 — 


ablondern, was fpäter Jüdiſcher Gebraud und Mißbrauch ift; in» 
deſſen bleibt Sprachgebraud der Zeit Doch immer der natürliche 
und erjte Umriß der Reden Jeſu: denn er lebte unter dem Volk, er 
Iprad zum Volle und mufte aljo nad feiner Weife reden. Inſon⸗ 
derheit nimmt auch Paulus aus diefer Duelle Licht; da er im Ganzen 
feine Sprach- und Schlußart Rabbiniſch gebilvet hatte, und dieſe jegt 
auf Saden des ChriftenthHums anwandte. Tauſend Abentheuer im 
Ausdrud fallen weg, wenn man Süden als Jüden ſprechen läßt, 
nicht als Metaphyſiſche Grammatifer unfrer abendländiſchen Spraden. 
Zunädjft treten wohl die Erläuterungen des N. T. aus Joſe⸗ 
phus und Philo, zween beynah gleichzeitigen Jüdiſchen Schrift- 
ſtellern. Krebs, Carpzov und LXöfner haben fih in diefer Bahn 
bemühetl. Da das Griechifche des N. T. belanntlih Hellenismus, 
eine nah dem Ebräifchen (zum Theil Lateinifchen) und andern 
morgenländijchen Dialecten gebildete Schreibart ift; fo find, um ſich 
252 zu ihr zu gewöhnen, die Alerandrinifche Ueberſetzung des U. T. 
und die von Drigenes geſammlete Dollmetſcher zu leſen nüglid; 
nidt, daß man, mie manche rathen, fie immer SKapitelmeije, dein 
Ebräiſchen Tert zur Seite, habe, es fey denn, daß man ſie jetzt 
eigentlid als Hülfsmittel des Ebräiſchen brauchen wollte; ſondern 
frey, ganz, Bücherweife und für fih allein leſen Sie fie. Die 
beftüberfegten Bücher nehmen Sie zuerit: erfriihen Ihre Lektüre 
durch einige angenehme Apokryphiſche Schriften, mie z. E. das Buch 
Sirachs, die Weisheit Salomons, Tobias, die Maccabäer; dies 
wird Sie von ſelbſt dem Idiotismus des N. T. zuführen. Ich 
wünſchte, daß wir für Diefe Helleniftiihe Sprache mehr ächte Hülfg- 
mittel hätten, als wir haben. Statt des langen und unfeligen 
Streits: ob das N. T. rein Griechiſch gefchrieben? und obs dem 
Geiſt Gottes nicht unanftändig fey, daß er feine Bücher nit im 
Attiſchen Dialect jchreiben laſſen? ob der Hellenismus Dialcct 
genannt zu werden verdiene? u. d. gl. wäre es nützlicher geweſen, 
den Uriprung dieſer vermifchten Mundart aufzufpähen und und 
menigftens einzelne tüchtige Beläge zu einen Idiotikon derjelben 
zu geben. Das erfte, dünkt mich, ift noch nie vecht gefchehen. 


Wörterbüher Haben wir über das Griechiſche des A. T. drey: 
Kircher, Tromm und Biel; das Wörterbuch des legten ift das 
reihite und das bequeinfte zum Gebraud.! Webers N. T. haben 253 
Gataker, Borft, Heinfius, Grotius, auch Ernefti in feiner 
Theologiſchen Bibliothek hie und da viel gute Anmerkungen, aus 
der Duelle des Hellenisinus geichöpfet; ? an einer völligen Samm⸗ 
lung und Untereinanderordnung derjelben, kurz, an einem wahren 
Wörterbuche des N. T. fehlt e8 una? noch. Bisher dünkt mich 
das Schöttgen-Krebjiihe das befte, fo wie ih an kritiſchen 
Apparat diefer Art noch immer Grotius und Wetfteins N. T. 
für das beite Halte Im letzten find Raphel, Kypke und wer 
ſonſt die weltlihen Schriftfteller fürs N. T. (oft mit grofler Mübe 
und wmwenigem Gewinn) gebraudt Hat,* genugt. Und wenn man 
aus ihm den Saft zöge, in Anjehung der Varianten Griesbachs 
u. a. Arbeiten dazuthäte,® ſodann die Conjecturen, die Bowyer 
zu fammlen angefangen und Schulz überfegt hat, mit dem, was 
zu ihnen fonft noch aufftieße, in einer dritten Columme gäbe:® die 
Barianten der merkwürdigſten alten Ueberſetzungen, (die Hülfgmittel 
dazu follen fünftig genannt werden) ebenfalls bemerfte; kurz, hier 
fo zu Werke gienge, mie dort beym U. T. gezeigt ift — freylid 
jo hätte man Vieles in Einem, das man jest nicht hat. Yet 
müflen Sie dieſes oder jenes Hülfsmittel einzeln judhen;? und fo 254 
lange ift Griesbachs, Wetſteins und Koppe angefangenes 
N. T., (wenn Sie das mittlere bey jener theuren Seltenheit hab- 
baft werben fönnen,)® ein Auszug von vielen, und Grotius bleibt 
Vorgänger und Hauptmann. Ueberhaupt erjpare ich mir die Mühe, 
eine Reihe Hülfsmittel bejonderd anzuzeigen, wenn ih Ihnen Eins, 
1) Wörterbücher haben wir ihrer, des N. T. umgerechnet, zwei: 


Kicher und Tromm; beides aber find uur Wörterbücher, ohne Kritifche 
Unterfcheidung. Biels neuen thesaurum tenne ich noch nicht. 


2) aus diefer Onelle geliefert; 3) uns vielleicht 
4) Raphelius, Kypkte und bie fonft ... .. . gebraucht haben, 
5) nutzte, 6) dazutbäte: 7) brauchen; 


8) N. T., wenn Sie das mittlere habhaft werben können, 


— 15 0 — 


Ernefti interpretem N. T. nenne; ein Büdelden, das ftatt vieler 
theils jelbft feyn Tann, theild auf den Gebrauch vieler mit dem 
geordnetiten Fleiß zeiget. 

Indem ich mich auf dies ſchätzbare Buch, und wenn Sie über 
einige kritiihe Punkte ein weiteres Raifonnement hören mollen, auf 
Michaelis Einleitung ins N. T. beziehe, fahre ich in meinen 
nähern Anmerkungen fort. Für Commentaren und Para- 
phrafen des N. T. hüten Sie fih Anfangs, wie ih Sie auch 
Ihon beym A. T. gemarnet. Der Commentator bringt gern feine 
und feiner Zeit Ideen dem alten Schriftiteller in den Mund, wie 
mir davon, wenn vom Gebrauch diefer Kommentare zu öffentlichen 
Vorträgen die Rede feyn wird, fonderbare Beyfpiele fehen werben. 
Der Paraphraft nimmt oft dem! Bufammenhang der Rede Licht 
und Schatten; entweder mwäflert er alles in Eine langweilige Brühe, 

255 oder er giebt dem Tert feine d. ti. eine ganz neue Verbindung. 
In beyden Fall muß das A. und N. T. leiden. Fangen Gie 
einen Poeten an zu paraphrafiren, zu profaifiren; er tft fein Poet 
mehr, hat Geift und Kraft verlohren, man liefet fi an ihm matt 
und müde. So ifts mit der Paraphrafe der Propheten, Lieber, 
Palmen, felbft der Lehrbücher des A. T., die doch alle Poetiſch 
find. Verſuchen Sie nun gar eine fimple Geſchichte, wie Die des 
N. T. ift, zu umſchreiben, zu commentiren und zu verbogmatifiren, 
nahdem Ahnen hie oder da der Muth ftehet; der charakteriftifche, 
enge, einfache Geichichtichreiber ift verſchwunden, es jtehet ein neues 
traurige Mittelding zwiſchen Geſchichte und ihrer Erklärung da. 
Endlih unternehmen Sieß gar, Briefe zu paraphrafiren, inſonder⸗ 
heit Paulliniiche Briefe, die beynahe ſchon Paraphrafen ihrer jelbft 
find; man verwirret ih, nit in Paulus oder Petrus, fondern 
in deö neuen Peter- Pauls Paraphraſe, weiß zulegt nit, ob man 
einen Brief oder eine matte Predigt oder eine holprige Abhandlung 
Viefet — kurz es wird ein verzogen, clınd Werl. Paraphrafiren 
Sie doch einmal ein Menjhengefiht mit einem Hohlſpiegel oder 


1) ninımt dem 





— 186 — 


einem Bergrößerungsglafe und fehen, wo der Umrik für unfer 
natürlihes Auge geblieben? was aus der Menfchenfigur jebo 256 
geworden ſey? —! Kein Jota anders mit der aus einander 
gerißnen Geftalt diefer Schriften. Wie oft muß der Schriftfteller 
jagen, mas er gar nicht fagen wollte! Wie oft mit offnem? Munde 
jagen, was cr im Faden feiner Rede faum andeutete, kaum her⸗ 
winkte. Ein feiner Sinnſpruch, ein Naturvolles Gleichniß Jeſu 
wird cin fchlaffer Gemeinort: die herzliche Anrede eines Apoftels, 
der Ausguß feiner Empfindungen, Wünſche, Theilnehmung ift Aus- 
ruffung und Dellamation geworden, die einem feinen Sinn wibert. 
Wollen Sie Broben davon, fo lefen Sie — doch Sie follen vor 
der Hand nicht diefer Art leſen.“ Es ift zu beflagen, daß, was 
man bey weltlichen Schriftftelern ausziſchen würde, man bey hei- 
ligen lobet und gutbeißt; ich weiß feine Urfache, ala weil ung bey 
diefen alles gleichgültig ift, und die fchlechteite Behandlung der⸗ 
jelben noch innmer heilig und andächtig ſcheinet. Käme es jemand 
in den Sinn, die Briefe der Sevigne, oder Horaz, Virgil, 
den Gornelius Nepos erbärmlic in Deutfche zu umſchreiben; 
er würde des? elenveften Geſchmacks beſchuldigt, geieht, daß cr 
auch noch fo richtig commentirte. Bey Paulus und des leichten, 
lieblihen Johannes Briefen, bey Hiobs, Salomons, Jeſaias hoher 
Poefie, bey der Evangeliften Kryitallhellen Erzählung madt man 257 
fih daraus fein Gewiffen und paraphrafirt® in die liebe Mutter- 
ſprache. Das Gemälde der Seele des Schriftftellers iſt Hin, die 
Knofpen der Schreibart find zerzaufet und ihr feinfter Reit ent- 
flogen; ſelbſt grammatifch iſt der Lehrling oft übel dran, wenn er 
bie und da ohne Urfadhe ein x. für u. liefet und aus der noth- 
dringenden Wortbebeutung hinaus commentirt wird. Sie, m. Fr., 

1) geworden ? — 2) ſchreiendem 

3) geworden, wofür man edelt. Wollen .... leſen Sie die neuern 
Engliich- Deutſchen und Deutfch - Englifchen Parapbrafen, zehn ftatt einer. 
(„doch — leſen.“ fehlt.) 

4) Nepos fo erbärmlich .... er wilrde des Unſinns und 

5) commentirt 


— 18577 — 


bleiben aljo bey der Quelle und laflen den, der will, vom abge- 
leiteten oder verdämmeten See! trinten — 

Ich weiß, man Ihüßet fi mit Erasmus und andrer feiner 
Zeitgenofjen zum Theil herrlichen Paraphrafen; ohne zu bedenken, 
wie andre Sache es damals damit war und jekt ift. Grasmus 
und jeine Zeitgenoffen muften erft die Sprade in Gang bringen: 
das Griehiihe war dem grofien Haufen unbelannt, das Latein 
ward Barbariſch gejchrieben. Er that alfo zwey gute Werke mit 
Einem, machte durch Einerley Bemühung zwo Sprachen befannt 
und parapbrafirte,? genährt an den Alten, ald — Meiſter. Wo 
dieg bey den meiften unſrer Paraphraſen, zumal in der Mutter- 
ſprache, ftatt finde? oder was auf diefenn Wege an Erasmiſcher 

258 Abficht erreicht? werde? mögen Sie felbft entjcheiden. Durch dieſe 
Werke merden mir doch wahrlih weder Griechiſch noch Deutſch 
lernen; und an den ſtrengen Umriß des Autors iſt gar nicht mehr 
zu denken. Leben Sie wohl. 

N. S. Um meinen trodnen Brief und mich ſelbſt zu erhei- 
tern, lege ich Ihnen eine Dde auf die Himmelfahrt Chrifti bey, 
die Sie vielleicht? noch nicht fennen. Wozu ich es thue? wird 
die Folge zeigen. 


Der Sieg des Heilandes. 
Eine driftliche Ode.5 
Die du brünftig dort auf den Waſſern fchmwebteft, 
Und mit milden Haud Adams Bruft belebteft, 
ALS des Vaters Bild denkend in ihn fuhr, 
Groſſe Seele der Natur; 


Wehe® reine Yuft um die goldnen Saiten, 
Laß dies neue Lied bey verlehrten Leuten, 
Feinden ihrer felbit, ſüßbetäubend fchön, 
Unfres Schilo Yob erhöhn. 


1) bleiben bei der.... will, den verbämmeten Sumpf 
2) Mic.: parapbrafirte iiberbem, 

3) was in diefer Art erreicht 4) wahrfcheinlich 
5) „Eine — Dbe.” fehlt bei Withof. 6) W.: Blafe 


Sterne! waren e8, die von ihm erflungen, 259 
Flammen funfelten auf zeripaltnen Zungen, 
Leuchtend trat er felbft in die Wälder ein, 

Feurig muß mein Loblieb feyn.* 

Siegreih ftand der Held, dichtgerollte Flammen, 
Schlungen fih zum Kranz um fein Haupt zufammen, 
Die der Söhnaltar, den er fallen bieß, 

Ihm zum Siegeszeichen Tieß.® 

Der vereinte Duft, der feit tauſend Jahreu 

Bon dem Opferbeerb’ wollicht aufgefahren, 

Ward zum Wagen ihm au des Cedrons Strand 
Zum Triumph binabgefandt. 


Glorreich ließ er fih auf der Wolte nieder, 

Der erftaunten Schaar jüngft erfochtner Brüder, 

Die ihn fcheiden ſah, ſprach er tröftend ein: 

„Mein Berdienft foll euer ſeyn.“ 

Start mit Blut befpritt, reicher nodh an Balmen, 
309 er durch den Klang cherubinicher Pfalmen, 

Die im langen Zug, von ber untern Welt, 260 
Sid bi8 zum Olymp geftellt. 

Jauchzend floß ein Heer prächtger Seraphinen 

In Aurorens Schmud um des Himmels Bihnen; 
ALS der Bater ihn feinen Throne nah, 

Majeftätifch kommen fah.* 

„Mein Geliebter, nimm, nimm uun bein Geſchlechte 
Dir zu eigen bin, fie mir zur Rechte. 

Juda fey dein Theil, dein fey Ephraim!“ 

Sprad des Vaters Gruß zu hm. 


Unfers Schidjal8 Buch ward ihm übergeben, 

Bor ihm liegt dev Tod, beys ihm fteht das Yeben, 
Macht ſtützt ſeinen Arm, Gilte ruht bey ihr — 
Solden Fürſten dienen wir! 


Engel find fein Bolt, Menfchen feine Heerde, 
Jauchz' ihm, Himmel, zul Schmiege did, o Erde, 
Der ift fein Ballaft, diefe feine Luft, 

Beyden ift fein Sieg bemußt. 


1) W.: Sternen 3) Hiernach zwei Strophen ausgelafſen. 
3) 4) Hiernach eine Strophe ausgelaſſen. 5) W.: nebft 


261 


262 


— 189 — 


Laß mein brünftig Lied, Schilo, bey dir gelten, 
Sp wie Adams Yand bir vor allen Welten, 
Wie, vom Geift befeelt, Aſſaphs Saitenipiel 
Dir, vor Engel-Lob gefiel. 

Schönfter, wie die Welt durch Aurorens Feuer, 
So begrüß’ ich dich mit dem Klang ber feier. 
Stimmt das Echo jett aud in Thorheit ein, 
Soll mein Herz mein Echo feyn. 


— — — — 


Siebenzehnder Brief. 


Mich freuets, daß die Anſpielungen der prächtigen Ode, die 
ich Ihnen überſandt, Sie auf die Weiſſagungen und Vor— 
bilder des Meßias im A. T. aufmerkſam gemacht haben. Sie 
bringen mich damit auf meinen Weg: denn eben wie Sie, halte 
auch ich dieſen Punkt für einen der ſchwerſten und feinſten der 
Chriſtlichen Lehre — — 

Hätten wir blos mit Meynungen alter Juden zu thun, ob 
nicht auch Einer oder der andre Rabbi dieſe oder jene Stelle, dies 
oder jenes Bild auf den, der kommen ſollte, den Troſt Iſraels 
gedeutet; fo wäre die Sade ausgemacht Werl. Sie dürfen nur 
jo manche Bücher, die aus und nad den Grundſätzen der Rabbinen 
jelbft ftreiten, Martini pugionem fidei, Galatinum de arcanis 
catholicae veritatis, injonderheit Schöttgens Jeſus, der wahre 
Meßias aufihlagen, wo fo viel Jüdiſche Deutungen unfrer 
Weiffagungen auf den Meßias gefammlet find, daß man fih, wenn 
dies gnugthäte,! wundern müßte, warum noch nit alle Juden 


263 in der Welt befehrt find? Ich fage dies ganz im Ernft. Denn, 


wenn ich Bücher der Art in meiner Jugend las (und ich las fie 
ber ſchönen Stellen wegen gern) fo wunderte ich mich wirklich, daß 
es noh Juden, die nicht zugleich Chriften find, gebe; bis mir in 
ipätern Jahren Chriften ſelbſt die Binde von den Augen zogen. 


1) Alles thäte 





Ich hörte fie nemlih Häufig behaupten: Die Stellen und Weil: 
jagungen des U. T. ſeyn in unſerm Gejalbten meijtens nur durch 
Hecomodation erfüllt, nicht anders. Im U. T. Hätten fie einen 
andern Sinn, andern Zuſammenhang, andre Abficht;! fie ſeyn nur 
durh Volkswahn, dur falſche Regeln jüdischer Auslegung und 
Deutungskünfte, durch Unwiſſenheit derer, die fie citirt, auf Chriftum 
berübergezogen, herübergezwungen. Kurz, wir haben nur durchs bene- 
fiium der Allufion und Judendeutung einen accomodirten Chriftus. 
Spotten kann ich hierüber nicht, m. Fr., ich bebaure.? Wenn 
ih auch nicht die geringfte beffere Auskunft wüfte, ich würde immer 
noch, wenn auch zulett nur mich ſelbſt bebauren. Denn benfen 
Sie ernftlih und unpartheiiih: wohin die Sache kommt? Ich 
wills zugeben, daß Paulus als cin Schüler der Rabbinen, daß 
die Evangeliften, fo fern fie ald Jüden für Jüden fchrieben, in 
unmefentliden Dingen, zur Grläuterung, zur Sluftration ar 
ardowr.ov dergleihen Anspielungen und Lieblingsdeutungen haben 
machen dürfen; Die Hauptjadhe, wenn fie ſich auf andre und beflere 264 





1) Mie.: Zufammenhang und Abſicht: 
2) einen — accomodirten Chriſtus. 

Wie diefe Behauptung nun mit den andern Wunderbeweiſen, „daß 
„Ehriftus der wahre Meßias fei, zuerft aus dem Weißagungen des X. T. 
„klärlich dargethan,“ zufammenhange, mögen Sie felbft Iefen. Da find etwa 
noch ein paar oder drei Stellen aus Iefaia, Daniel, den Pſalmen, geblieben, 
die noch nicht herausgeworfen find und auf die nun mit groffem Eifer und 
noch größerer Macht Alles gebaut wird, bis ein andrer komme und aud 
fie für Accomobationen erkläre. Bei einigen iſts fchon geſchehen; das jüngere 
Buch defjelben Yehrers ftraft oft das Aeltere; wo nicht, fo ftraft ibn fein 
Herr College, und Ifrael irrt umher, wie eine verlohrne Heerde. Sch meine 
das junge Chriftlihe Ifrael. Dies läßt fi) weifen, folgt jett dieſem, jett 
jenem Stabe: diefer jagt, „da ift eine Quelle, trint!” jener fagt: „Thörichter, 
„willt du Sand lecken? da ift Feld, da iſt Wüſte! Die guten Yeute bes 
„NR. T. accomodirten nur und müſten wir fie nicht Dem Herkommen nad 
„für infpirirt annehmen: wir würden der Sade einen andern Namen gebet; 
„ießt nennen wird accomodiren!” 

Spotten kann ich hierüber nicht, m. Fr., ich bebaure. Ich bedaure 
ein Accomodationschriſtenthum, einen fo accomodirten Chriſtus. 


— 191 — 


Beweife ftüßte, verlöre durch dieſe mißliche Nachbarfchaft nichts ober 
wenig. Seten Sie aber nun, daß fie aud) in der Hauptjade 
dergleihen Beweiſe anführten, daß Chriftus felbft fih in feiner 
Hauptfache auf folde Accomodationen ftügte, über die wir jetzt 
hinaus find; fagen Sie, wo bliebe nun, id will nit jagen: 
Theopnevftie, fondern nur das gewiffe! Wert eines Gottes der 
Wahrheit? Sandte dieſer feinen Sohn in die Welt, fonnte er 
ihn nit unter unfehlbarern Kennzeichen ſenden? Konnte er 
ihn und feine Zeugen nicht wenigſtens vor der Anwendung fehl- 
barer. Kennzeihen bewahren? Daß Jelus ein reblider Mann 
geweien; kann der ſchwache Zmweifler gern zugeben; aber fonnte 
der redliche Mann fid nicht trügen? Konnte er fi ? nicht um fo 
mehr trügen, als in feiner Seele ein Ueberihmung ? von guten, 
für ihn unerreihbaren Abfichten ıdar? Und wenn er fih trog, 
auh nur in der Anwendung Einer Weiffagung trog, die eigent- 
lich nicht auf ihn geftellt war, die er nur durch Accomodation fich 
zum Kleide machte, warum bejtätigte ihn Gott durch Wunder? 
durchs größefte Wunder feiner Aufermedung? Wollte er uns eine 
265 Fallbrücke bauen zwiſchen Trug im Auslegen und Redlichkeit im 
Handeln, zwiſchen fih irren und «3 gutmeynen? Es wäre die 
gefährlichite Fallbrüde, die je gebaut ward, nicht bloß für das 
Jüdiſche Volk, fondern für alle Völker und Zeiten, denen A. T. 
und Chriftentbum je in die Hand käme.“ Wie? ein Chriftus für 
alle Zeiten, für alle Nationen gefandt; und nad Jüdiſchen Acco- 
modationen, die auch feine Zeit vieleiht nicht alle annahm ,® nur 
für fie und zwar für den ſchwächſten, ungelchrteiten Theil derjel- 
ben erwiefen? Er kommt vom Gott der Wahrheit, und Diefer 
hätte auf die Dänmerung, auf den $ Nebel ciner Zeitverbindung 
gebauet ? er hätte ihn durch Wunder fo ? unläugbar; durd) Anwen⸗ 
dung der Weiffagungen aber fo mangelhaft, To mißlich ermiefen? 


1) nur gemißes 2) trügen? ſich 3) Ueberſchwang 
4) Jüdiſche ſondern für .... kommt 

5) die ja auch nicht ſeine Zeit einmal annahm, 

6) Dämmerung, den 7) ſo ganz, ſo 


Denn, mas Er und feine Diener für fih anführen, führen Wir 
entweder gar nicht mehr an, oder laſſens nur noch Ehrenhalber jo 
ftehen; gegentheild, worauf Wir am meiften bauen, darauf bauen 
fie nidt, und wer weiß, ob Wir felbft in! kurzer Zeit noch 
darauf bauen werden. Der Ausleger kehrt ſich nicht ang Dogma 
und fchreidet weg: das Dogma greift ? nad diefen, nad jenen 
Halmen; wie wenn der Rain nun da ift und die legte Sichel 
ſchlüge; wie denn? 

Sie fehen, m. Fr., jede Sicherheit hierinn ift mißlih und im 266 
Grunde nicht rechtſchaffen. Auch fernen Zweifeln müflen wir 
zuvorkommen; ober fie find ung näher, als mir denfen; und joll- 
ten dieſe auch wohl fo fern jeyn? Sollten fie nicht hundert 
Chriften aufgeftoffen feyn, die eregefiren oder die die neuen Ere- 
geten leſen? Und denn, mas jagen die Juden? Wäre bey fol- 
her Lage es? blos halsſtarrige Bosheit, was fie von Anwendung 
ihrer Weiffagungen auf unjern Chrütus abhält? Sind nidt 
die Weiffagungen und felbit die Reihe von Lehrern, die fie aud 
auf den Meßias deuten, ihr? Dagegen aber deuten andre ihrer 
Lehrer die? Weiffagungen jo anders; ja mo fies nicht thun, helfen 
wir Chriften ihnen,® fie anders als auf Chriftum zu deuten, jelbft 
reichlich. Leſen Sic von Jüdiſchen Difputationen $ der Art nur 
die amicam collationem Judaei cum Limborchio, die unter bes 
Orobio? Namen auch Franzöfifh heraus ift; und jchliegen ſodenn, 
ob man fo ganz in Ruhe fortichlendern dörfe? — 

Der Pſalm, der am auffallenditen auf Chriftum angewandt 
wird, ift der 110te; laſſen Sie uns ihn hören und vergefjen Sie 
einen Augenblid noch unfern Chriftus.® 





1) felbft, nach der Revolution unter Weißagungen, bie gejchehen ift 
und täglich gejchiehet, in 

2) greift noch immer 3) es allgemein und 

4) Und noch beuten andre Die 5) ihnen ja, 

6) Sie Jüdische Commentare und von Difputationen 7) Orobi 

8 Chriſtus. Ich bins nicht, der jet fpricht, ſondern irgend ein 
berühmter Ausleger unfrer Zeit. 


267 


268 


— 13 — 


Ein Kriegs- und Giegeslied.! 

Jehovah ſprach zu meinem Könige: 
„Sitz her zu meiner Rechten, 
„Bis daß ich Deine Feinde Dir 
„Zum Schemel Deiner Füße niederlege.” 
Gr ſprachs. Wohlan! den Scepter Deiner Siege 
Nedt Jovah alfo felbft vom Sion aus: 
Nimm ein Dein Neid in Mitte Deiner Feinde. 
Sreywillig, auf den Tag, wenn Du gebeutft, 
Stellt fih Dein Volk Dir dar, 
In beil’gen Kleidern, wie zum Tempeldienſt geſchmückt, 
Mie aus der Morgenröthe Schoos der Thau 
Etrömt Dir die Jugend Deines Landes zu.? 
Geſchworen bat Jehovah, 
(Nie reuet ihn der Schwur:) 

Mein Königsdiener ſollt Du ſeyn, 
Wie einſt Melchiſedek.“ 
Wohlan denn! Er, der Dir zur Rechten ſteht, 
Zermalmt, wenn er ergrimmt, 
Die Könige.’ 
Er fißet unter Völkern zu Gericht, 
Und füllt das Land mit Leichen 
Und tritt die Häupter ihnen in den Staub — — 


1) Ein Siegeslied. 

2) &8 Sprach Jehovah zu meinem Herrn: „Sit ber zu meiner RHedh- 
„ten Bis daß ich Deine Feinde lege Zu Deiner Füße Schemel.“ 

Den Scepter Deiner Stärle reckt Jehovah Bon Sion aus: 
„Dein Reich fei in der Mitte Deiner Feinde!“ 

Strads find mit Dir Freiwillige Zum Fe geihmüdt, am Tage 
Deiner Macht. Wie aus der Morgenröthe Schoos der Thau Strömt 
Deine Jugend zu Dir hin. 

3) „Ein Prieftertönig ſollt Du ſeyn, Wie einft e8 war Melchi⸗ 
ſedel.“ Der Herr zu Deiner Rechten Zermalmt am Tage ſeines 
Grimms Die Könige. 

Herders fänmtl. Werte. X. 13 


— 14 — 


Er trant vom Bad am Wege, 
Drum bebet er fein Haupt fo ſtolz empor.! 
Ich babe dem Pſalm feine myſtiſche Feyerlichkeit gelaflen; bin? 
auch in nichts von der gewöhnlicdden Erllärung abgegangen. Und 
nun, wie wenn der Pſalm ein Steges- ein Kriegs- und Schladt- 
lied auf David wäre? Der Dichter redet feinen König an, und 
nennt ihn feinen Herrn; wie fonnte er ihn anders nennen? Er 
beginnt mit einem Wort Gottes an ihn; wie wir ja Worte, 
Drafel Gotted an David, über feine Macht, feinen Sieg, jein 
Königreih haben. Jehovah, den er von feinem Herrn? unter- 
ſcheidet, ſpricht dieſem zu, daß er fich zu feiner Rechten fege, 
und in mtajeftätifcher Ruhe, gleihjam Gott zur Seite, als fein 
Statthalter, ala fein Mitregent auf Zion neben ihm throne,“ bis 269 
er alle Feinde unter feinen Füßen fühle — Für den 
Anfang eines Loblieves, kann man jagen, was ift natürlicher, 
präcdhtiger, al8 dies Bild, dies Wort Gottes? Der König ift, 
wie auch der zweyte Palm finget, Sohn Gottes, fein Gefandter,? 
fein Erbe der Völker. Gott gab ihm den Thron auf diefem Berge, 
nahe den Sebufitern, von Feinden mitten umringt, und befiehlt 
ihm, fo fiher, fo ruhig darauf zu thronen, als ob das Werk 
jeines Sieges ſchon vollbracht fey, und der Gott zu feiner Seite 
(ein gemöhnliher Ausdrud der Pfalmen) alles für ihn bereits 
gethan habe.s Die Folge mahlt diefe Kriegsthat Gottes für David, 
und mahlt fie majeftätisch, ſchrecklich? Jehovah reckt nur feinen 
Scepter, feinen Kriegs- und Befchlöftab von Zion, dem Berge 
feines Pallafts aus; und fiehe, es ift ein Wink zu Davids Sieg: 
wohin der Scepter reiht, wird Davids Reich; er Herriht — in 


1) Und trinkt vom Bach am Wege Und hebt fein Haupt empor. 

2) Palm alle feine .... gelaffen, und mich aus den ſchweren Stellen 
des 2. und Iten Verſes fo leicht gezogen, als ich konnte; bin 

3) Herrn fo hoch 4) Etatthalter, fein Mitregent auf Erben throne, 

5) Geſandter, Regent auf Erbe, 

6) Thron und befichlt .... thronen, als ob fein Wert vollbracht fei, 
und .... fir ihn thäte, 

7) göttlich. 


— 15 — 


der Mitte feiner Feinde. Sobald diefer Wink, dies zweyte 
Wort Gottes befielt, ftrömt! Volk, freymilliges Volt zufam- 
men, eine Schaar der Weihe gleichlam, der Aufopferung und per- 
jönlihen Hingabe für ihren Gott und ihren König In feyer- 
lihen Kleidern ericheinen fie, als ob die Schlacht Gottesdienft, 
270 der Kampf ein Feſttag des Sieges wäre?. Da fteht aljo die ſchöne, 
junge Kriegsfchaar; wie Thau aus dem Schoo8 der Morgen- 
röthe floß fie, Mann für Mann, jchnell zuſammen, und fteht in 
weiſſen Feſtkleidern und friſchem Jugendglanz da —° fühlen Sic 
jelbjt da8 Schöne des Bildes. Und nun thut Gott, der zweymal 
ſprach, den dritten, größten Ausfprud, der jo gar Schwur, 
ein ewig unverbrüchlicher, unmiderruflider Schwur wird: eine 
Belräftigung der zwey erften Gottesworte.* Der König, in deſſen 
Namen Gott auszieht, deſſen Reich er unter feinen Feinden gründet, 
ſoll und wird in feinem Gejchleht ewig ein König ſeyn; und 
zwar König der ältejten, edelſten Weife, j7>, Prieſter und 
Fürſt, ein Diener Jehovah's in jeiner heiligen Nähe, Meldi- 
fedel, König der Gerchtigfeit und des Friedens, zu 
Salem, auf Zions Berge. Sie fehen, wie jhön der Dichter die 
größeſte Pflicht derb ſchönſten Verheiſſung einwebet. Er machts 
zur Bedingung des hohen, ewigen Schwurs Jehovah über Davids 
Haus und Nachkommen, daß er auch ein König der Unſchuld und 
Menſchenliebe, nur Diener Gottes an ſeiner erhabnen Stelle, 


1) iſt Wink zu Davids Sieg, zu feiner Heldenſtärte. Wohin .... 
Reich, eb wird - - in der Mitte feiner Feinde, dahin ſich entweder feine 
Eroberingen ausbreiten oder wo eben diefer Gottesſtab die Feinde vom Reich 
feines Geſalbten abhält. Sogleidy ba biefer .... Oottes erjheinet, ſtrömt 

2) wäre; er iſts auch, deun ihr Schlachtheer und Heerführer vedte ja 
den Stab feiner Hoheit aus Zion felbft aus und rief fie. 

3) Jugendglanze — 

4) Shwur, ewig .... wird: was wirb er anders ſeyn als eine .... 
Gottesworte? Das ift er. 

5) wird ewig ein König feyn: König, denn Gott hats geſchworen, 
und .... Fürſt, Melchiſedek, .... Friedens, des Glücks, der Ruhe 
und Wohlfahrt. Sie ſehen, wie .... Pflicht dem höchſten Lobe, der 

13 * 


Patriarh und Bater feines Volks ſey und bleibe! Der 
übrige Theil des Hymnus ift Ausführung des Wortes Gottes in 
den eriten Verſen: Jehovah ftreitet für feinen Gefalbten: er hält 
Gericht über die Völker: ihre? Niederlage Toftet ihn nur Ein 
Wort, ein Urtheil. Zermalmt liegen fie da: der Sieger geht 
auf Leihen, tritt auf ihre Häupter; müde von der Schlacht fieht 
er einen Bach am Wege und trinkt, und hebt geftärkt fein ſtolzes 
Haupt — — Ich darf Ihnen wohl nicht? weiter von der Pracht 
dieſes Pſalms fagen. Die Anführung Ehrifti*) wird einer Acco- 
mobdationsreihen Zeit leicht zu erklären feyn: „er ftritt mit den 
Vharifäern nah? ihrer Weile.” Sie legten ihm Räthſel vor; 
er ihnen desgleichen: dies mußte alſo aus dem Kreife ihrer Erflä- 
rungsart jeyn u. fe —* Und fo wäre denn diefer Palm auch 
abgethan, wie der zweyte längſt abgethan worden, der dieſem übri- 
gend genau zur Seite ftcht, und denfelben Anhalt, faft auf eben dem 
Gange, nur milder und ruhiger ausführt. Jener ift die drohende Ein- 
leitung zu dieſem blutigen Siegshymnus, ein ferner prächtiger Don- 
ner vor der Zerfchmetterung ; dieſer ſchildert? dic Zerfchmetterung jelbft. 

Erwarten Sie nicht, daß ich auch den andern Palmen, dem 16. 
22. 40. 68. u. f. dem 11. 12. 53. Kapitel Jefaiä, dem 9. Kap. 
Daniels u. f. meine Feder leihe; ich darfs nit: denn die Sachen 
find alle ſchon gefagt und wieberholet.* Ueberhaupt ift jeder Tritt 

*) Matth. 22, 43:46. 

1) bleibe. (Die gewöhnliche Erklärung „nach der Weife Melchifenets“ 
ift gut; nur nicht, daß man Reihe, Rodel, Prieſterord mung verſtehe, 
denn in folcher ftand Melchifedet nicht. Er war ein Kinziger König, obne 
feinesgleihen, wie es aud Paulus erkfäret; und chen deßhalb wird er 
Ideal, Vorbild diefes Königes, der regieren foll, wie er regierte, nach 


feinen Grundfägen, nad feiner Weiße.) 
2) Geſalbten thätlih: er .... Völker — ein prädtiges Bild. Ihre 
3) mit ihnen nad 4) ſeyn. — 
5) ift drohende .... vor biefer Zerſchmetterung; biefer iſt 
6) wiederholet. Beim 16. 22. 40. 68. Pſalm, beim 7. Kapitel Jeſaias 
und Daniel® laut; bei andern leiſe, und famı ja nach eben der Analogie 


gefagt werben. 


271 


— 197 — 


unſicher, wo man ſo oft ſank, wo man nicht weiß, wie leiſe 
oder veſt? warum hier und nicht dahin? man treten ſoll. Haben 
doch Juden und Chriſten ihnen nach, es überhaupt geſagt: „die 
„Hofnung eines Meßias ſey ihnen nie cin Glaubenspunkt geweſen, 
„und dörfe es noch nicht ſeyn: Propheten haben feine neue Glau— 
„benglehren aufbringen können, die nicht im Geſetz Mofes ftanden; 
„und in dieſem fey Glaube an den Einigen Gott, ein reiner und 
„williger Dienft deffelben! die Summe von Mofes Bunde. Der 
„Meßias cricheine nur als ein? Troft der Nachwelt, den jeder 
„Prophet nah den Bebrudniffen feiner Zeit ſchilderte, ohne des- 
„wegen Perſonalcharactere eines einzelnen Menſchen entwerfen zu 
„wollen.“ Vieles dergleihen mehr. Sie fehen, m. Fr., es ift 
eine gründliche Erwägung der ganzen Sade, ohne herausgerifjene 
einzelne Stellen und jo genannte Beweisſprüche nöthig. So lange 
dulden Sie fih, oder fchreiben mir, was Sie denken. Mir ifts 
oft gegangen, wie des Vrbani Regii guter Ehefrau, Anna, die 
dabey gewejen zu ſeyn wünſchte, als Chriftus nach feiner Auf: 
273 erftehung anfieng von Mofes und allen Propheten, und 
legte ihnen, feinen Jüngern, alle Schrift aus, die von ihm 
gejagt war, öfnete ihnen auch das Verſtändniß, daß fie 
jelbft auslegen konnten und die Schrift verftunden. Vielleicht 
aber, werden unjre Ausleger jagen, bat er da jo jubaifirt, wie 
er in feinem Leben jubaifirte; und fo würden fie freylic nicht viel 
von ihm lernen. In Moſes z. E. ftehe gar? nichts von ihın u. f. — — 





274 Achtzehnder Brief. 


Ich kann Ihnen, m. Fr., über die lettberührte Sache nichts 
als meine Meynung jagen; überzeugt fie Sie, wird fie Ihnen 
ein Band, fih das A. und N. T. harmoniſch zu denken; 
1) Gott, veiner, williger Dienft und Herzensliebe deſſelben 
2) Meßias fei ein 3) ja 








— 198 — 


wie froh wäre ih, falls ich Ihnen hiezu auch nur von weiten bie 
Spur wide. 

Zuerst: bin ich freylich der Meynung, dag man Feine Stelle 
bes U. T., wie feines vernünftigen Buchs, aus ihrem Zujanı- 
menhange reifen und weil fie in unfern Deutſchen Exemplaren 
einmal größer gebrudt ift, nothwendig auf Chriftum deuten müfle; 
das Vorhergehende und Nachfolgende handle, wovon es wolle. 
Wenn! Gott den David einen Sohn verſpricht, deſſen Reich er 
beftätigen und defjen Fehler er mit Menfchenruthen züchtigen wollte; 
jo können einzelne Reihen unmöglid jo aus der Rede gerifjen 
werden, daß Same, Sohn jest und zwar nur in Einem Com— 
mate ausfchließend etwas anders beveute, als es fonjt immer, 
als es auch im vorhergehenden und folgenden Sat der Rede fort: 
gehend bedeutet. Wenn der ganze Alte Pfalm von Chrifto nicht 
handelt und ber 10. Ver: auh mein Freund, der mein 275 
Brod aß, tritt mich unter die Füße, follte und zwar aus⸗ 
Ihlieffend von ihm handeln — viele dergleichen Stellen mehr — 
wenn dicd, und zwar ohne weitern Grund, ohne alle Ber- 
bindung des Zufammenhanges gelten follte, blos, weil, fo 
berausgeriffen, die Worte fih auf einen Umftand des Lebens Jeſu 
zu pafjen ſchienen; jo wäre es freylich mit dem Zuſammenhange 
des U. T. mißlich. Gegen ſolche Herausreißungen einzelner Verſe 
bin ih ganz; denn der Prophet, oder Geſchichtſchreiber oder gar 
Gott felbft fprah im Zufammenhange, mie jeder vernünftige 
Menſch Sprit, und wie ja das Glorreichſte, immer mit ſich Einige 


1) Im Mfe. geben folgende durchſtrichene Sätze voran: „Wenn 
1 Mofe 3, 14 von der Schlange die Rebe ift, die bamals und daſelbſt die 
Gelegenbeit zum Fall geweſen war, und den Vers barauf von einer ganz 
andern Schlange, einem ganz andern Weibe und Weibesfaanten, einem ganz 
andern als dem finnlichen Zertreten des Kopfs die Rede feyn fol, wie es 
fich jeder natürlich denkt und fid) damals die Menfchen denken muſten; fo ift 
dies wenigſtens ein harter Sprung aus dem Zufammenbange, eine plötzliche 
Berjekung in eine ganz andre Zeit und Denlart. Wenn Gott dem Abraham 
einen Samen verfpricht, in dem alle Bölter der Erde gefegnet werben, und“ 


— 19 — 


Weſen in einem ewigen! Zufammenhange handelt. Alfo muß jeder 
Vers auf feine Stelle zurüdgeführt und fo wenig einzeln betrachtet wer- 
“den, ala c8 ſeyn fann. Himmel und Erde find Ein Werf und das 
Wort Gottes ift gewiß nur Eines. Bon Verſen und Abfähen nad) 
unfrer Art wuſte überdem fein Prophet, weder in Schrift noch Sprache. 
Zweytens. In dieſen Zufammenhang zurüdgeführt, Tonunts 
nun Darauf an, was man Weißagung, Bild, Vorbild nenne? 
276 Da es nemlich fein Dictum ift, das der Prophet auswendig lernen 
ließ, fein Bild ift, das er, abgeriffen von feiner und aller damals 
lebenden Menſchen Faflungsfraft, ala die gemahlte? Geftalt eines 
Chriftus von Nazareth darftellte; jo kömmts darauf an, in melden 
Zeitumftänden er [prad, in welder Verbindung einer 
und andrer Gedanken er dies Bild, jene Ausſicht vorftellig 
machte. In diefe müffen wir eindringen, und nod) nichts aus 
unfrer Zeit, aus unfrer Gedanfenreihe dazu nehmen. ft nemlich 
1 Mof. 3, 15. von Chrifto die Rede, jo kanns nicht anders ſeyn, 
ala im Bilde der Umftände, die den Menjhen damals vor Augen 
lagen. Die Schlange hatte ihnen gejchadet; fie ward ihnen cin 
Bild des Böfen, der Verführung, zugleich aber auch des Fluchs, 
der Verachtung und Strafe. Sie follte ihnen ein Symbol? bleiben, 
wie niederträchtige Nachftellung und Verführung fich ſelbſt ſchade, 
weldhen Lohn fie endlich erhalte. Den Menichen warb die muthige 
Ausficht gegeben, daß fie, die Nachkommenſchaft des Weibes (denn 
Eva Heißt eine Mutter aller Lebendigen) ftärler und edler ſeyn,“ 
als Schlange und Alles Böfe. Sie würden diefen daB Haupt zer- 
treten, und dieſes fi nur mit einem elenden Ferſenſtiche rächen 
können; kurz, das Gute follte Uebermacht gewinnen über das Böſe 
277 duch alle edle Streiter, durch jeden treflihen Kämpfer aus dem 
Menſchengeſchlechte. Dies war die Ausſicht. Mie belle oder 
dunkel fie das erſte Menſchenpaar fah, gehört nicht hieher; gnug, 
1) und ja das Glorreichite, mit ſich Einigfte Wefen in ewigen 
2) feinem und aller Menſchen Zuſammenhange und Faßungskraft, als 


gemahlte 
3) ſollte ihr Symbol 4) wären, 





wenn der edelſte Streiter gegen das Böſe, der tapferfte Zer- 
treter des Kopfs der Schlange aus Eva's Geſchlecht, in dieſer 
Ausficht mitftand und allerdings vorzüglich dahin gehörte; fo wars 
damals nicht anders als im Umriß der ihnen natürlichen, 
finnliden! Bilder, deren Inhalt erſt fünftige Zeiten entwidelter 
fahen. Liegen in Umftänden vom Reich Davids und Saloıno 
Bilder des Meßias; fo können wir zu ihnen nicht anders gelangen, 
als daß wir jene Umftände in ihrer urfprüngliden Geftalt 
einfehen lernen -- — Es ift ſchlimm, daß uns zum Ausprud 
dieſer Dinge oft felbft die beſtimmten Worte fehlen oder die beiten 
mißbraucht worden find. Unter Weißagung denkt fi ein jeder 
beynab ein fo klares Dictum, als es uns jegt ift, die wir den 
Erfolg wiſſen; unter Vorbild gar etwas Aergers: cine öffentlich 
zur Schau geftellte Heilige, in allen Zügen myſtiſche Perfon oder 
Sade, die damals ſchon Gott oder Priefter und Prophet, ich weiß 
nicht, wie genau und dogmatiſch erflärt habe. Nichts von allen 
diefen möchte ich noch darunter verftehen wollen; daher ih das 
Vorbild immer lieber nur Bild nennen werde und unter Weifla- 278 
gung nur allgemein noh Ausfiht in die Zufunft verftehe, 
wie hell ober dunkel, perfonell, oder reell, in Wünfchen ober Ver- 
beigungen ſolche feyn mochte. Bild und Ausficht muften? nun 
nothivendig jedesmal im Geſichtskreiſe ihrer Zeit, nad Ver— 
anlaffungen derfelben, und gerade nur jo meit, als fie die 
Worte oder Winte des Propheten geben tonnten, erfcheinen. Wenn 
alfo die Ausleger der Bibel unter directen und indirecten Weiſſa⸗ 
gungen unterfcheiden: jo ift die Sache wahr, nur der Ausdruck 
unbequem, weil, wenn dies Bild, jene Verheißung eine ganze 
Folgezeit in fi faßt, fie alles im ihr directe enthält, wie bie 
Knoſpe den Baum, wie das Ei die Frucht, obmohl erft die Zukunft 
jolde entwidelt.? Wenn in Abrahams Nachkommen alle Völker 


— — 


1) Umriß ihnen natürlicher, ſinnlicher 

2) mochten. Diefe muften 

3) Die Ausleger der Bibel haben daher immer unter... .. unter 
fchieden. Die Sache ift wahr, .... . unbequem: denn wenn .... fallt, fo 


— 201 — 


der Erde gejegnet werden follten: fo konnte und follte fi Abraham 
diefen Segen in feiner Allgemeinheit denken und Alles, wodurch 
fein Volt fih um die Völker der Welt verdient gemacht hat, gehört 
in ihn. Wenn Chriftus alfo aud) unter diefe edeln Verdiener gehört: 
jo gehet auf ihn auch der Segen, nicht indirecte, ſondern directe 
und wenn Er der Vornehmſte diefer Anzahl ift, direetissime vor 
allen andern; nur daß Abraham noch feine Geftalt nicht deutlich 
2379 in diefem Keim, den ganzen Baum feiner Verdienfte noch nicht fo 
deutlich in der Knoſpe fah, und, es ſey denn durch befondere Offen- 
barung, auch nicht fehen follte. Wenn Chriftus es war, der das 
eigentlih ewige Reich ftiftete, das David, Salomo und ihre 
Nachfolger nicht ftiften Fonnten; fo gehört er nicht indirecte, ſon⸗ 
dern directissime in ihre Verheißungen; nur daß fie damals die 
Art und Geftalt feines Reichs noch nicht ober nur dunkel 
jahen, fih aber ans Wort Gottes hielten und vertrauend fich der 
Zufunft überliegen. So ward mit andern Verheißungen fern oder 
nah. Sie waren Blide in die Zukunft, nad) den Umftän- 
den, die damals vorlagen, in dem Maas von Troft oder von 
Lehre, das die damalige Zeit! brauchte. — — 
Drittens. Es ift alfo durchaus fein Gegenſatz, daß Weil- 
fagungen, die im N. T. auf Chriftum angewandt find, im U. T. 
nähere? Umſtände gehabt, auf die fie ſich bezogen, und in 
denen gleihfam ihr Um- und Vorriß geweſen; vielmehr finde 
ih nichts der menſchlichen Sehart, der ſymboliſchen Veranitaltung 
Gottes und der immer nur allmählig alles entwidelnden 
BZeitfolge gemäßer, als dieſes. Was konnte fich doch der Pro- 
280 phet, was der Zuhörer? an einer Weißagung denken, die in ihren 
Zeitumftänden feine Veranlafiung, feine Haltung, Feine finn- 


hält fie alles in ihr directe, wie .... Frucht, fo daß die Zukunft folches 
nur entwidelt. 

1) die Zeit 

2) Weiflagungen, die auf Chriſtum geben ober in welchen er zu fin- 
den ift, auch nähere 

3) Zuſchauer 


— 202 — 


lihe Eriftenz gefunden und wie cine ungebohrne, Geftaltlofe Men- 
ſchenſeele im «dı,s, im Reich der Wefen, das nad) 2. 3. 4000. Jah- 
ven einbrechen würde, umhergeſchwebt Hätte?! Es ift fo ganz der 
Natur der Zeit, der Geftalt der Schriften und der Schriftſteller, 
ja der Abſicht Gottes in dieſem vorbereitenden Kinderteftament 
entgegen, daß fie, und zwar zu jeder Zeit gleich, und von An- 
fange der Welt an, ſchon Männer gewejen und Chriftum durch 
ein unfichtbares Vergrößerungsglas ſchon in Bethlehem gebohren, 
ums Galiläiſche Meer mandeln gejchen hätten; und doch ſetzt man 
bey mancder Theorie von Weißagungen das immer jchon voraus. 
David fol den Judas, der Chriftum verrietb, genau gekannt, 
ben Kriegsknecht, der ihm den Eßig reichte und die Glieder durch 
bohrte, genau gefehen haben: denn „er hat ja von ihnen geweiſſagt.“ 
Die Kriegsknechte fpielten vor feinen Augen um Chrifti Kleider, 
und Maria ftand dem Propheten Jeſaias leibhaft vor, da er 
ſprach: „Siehe eine Jungfrau ift fchwanger.” So iſts mit dem 
Eſel, auf dein Chriftus gen Jeruſalem ritt, bey Zacharias; fo mit 
Johannes dem Täufer im? Malachias; fie haben alle in enger 
Freundichaft, obwohl Jahrhunderte entfernt von einander, gelchet. 281 
Nichts zerftört fo ganz den prophetifchen Geift, die nur all: 
mählich zunehmende Klarheit und überhaupt den primitiven 
Eindrud jeder einzelnen Weißagung, als diefe aus unfern Köpfen 
in jene, Beiten gebrachte Helle. — Calvin verbrannte den Servet 3 
auch deßwegen, weil er in feiner Bibel bie und da Weißagungen, 
die auf Chriſtum gehen follten und er felbjt auf ihn deutete, zu⸗ 
fürderft auf etwas in ihrer Zeit anmandte und glaubte, daß 
dies zu ihrer Zeitbeftimmung gehört Babe; ftatt ihn zu verbren- 
nen, hätte ich feine Meynung beberzigt, und unterſucht, was fie 
für mehrere oder mindere Wahrjcheinlichkeit gebe? Verbrennens⸗ 





1) Erfiftenz fand und .... umherflog? 

2) und 

3) Helle. Statt daß alles ftehn foll, wie es fteht, in feinem eignen 
Schimmer; bringt man fein Lichteyen mit ſich und ruft: ei wie Hari — 
Calvin verbrammte Servet 


werthes iſt nichts in dieſer! Hypotheſe, denn von einzelnen 
Weiffagungen folder Art Haben es alle Theologen von jeher 
behauptet. Ob nun einige mehr ober weniger diefer Art wären ? ? 
das thut zur Sade nichts. Wäre immer der 2. und 110. Pjalın 
zuförderft auf David gemacht, auf ihn nemlih, in den Glanz 
der Verheigung, die ihm Gott gegeben, ald Vater eines 
ewigen Reichs gekleidet; das hindert nichts. eich bleibt Reich, 
weder Er noch Einer von feinen irrdiſchen Söhnen bat aber ein 
ewiges Neih errichtet, oder konnts errichten, ala Chriſtus. 
282 Sowohl in der Verheißung Gottes an den König, als in den 

Pjalmen, die ſolche ausmahlen, ift alfo eingewidelt (implicite) 
Chrifti? Reich enthalten, David, dem die Verheißung gefchah, 
oder der Prophet, der fie ihm in einem jo ſchönen Gefange brachte, 
mochten viel oder wenig jehen, wie eigentlich das Reich werden 
würde. Sie follten fo viel fehen, ala Gott ſprach; nicht den 
Baum, fondern die Knoſpe.“ So ifts mit den Pfalmen aus den 
Lebensumftänden Davids, Salomons, der Propheten. Es ift 
Thorheit zu denken, daß fie fich in dieſem ober jenem Umſtande, 
als Typus einer zukünftigen Begebenheit oder Perſon und Sache 
jelbjt Hell und klar gefühlet, daß fie deßwegen diefen und feinen 
andern Ausdruf mit klarer Beſonnenheit gebraucht, ſolchen dem 
Volk in Wochenpredigten erklärt oder ſich gar felbit zum lebendigen 
Typus Chriſti Bingeftellt hätten — unnatürlih, und unbewiejen 
ift dieſe Meynung. Sie arbeiteten, mie andre Menſchen, unter 
ber Lat des Lebens, die Worte, die fie |prachen, Tamen aus dem 
Drang ihres Herzens und alſo aus veranlafjenden Zeitum— 
ftänden; die Geſtalt, die fie in der Reihe der Zeiten bat- 
ten ‚5 ſahen fie nicht, ſah oft ihre Zeit nicht; dies erblidte erſt 
die Zufunft. Da ſah man fie im rechten Licht, auf ihrem fon- 
derbaren Stande, in ihren einzelnen Merkwürdigkeiten, man ver- 

1) ver 2) wären? (alle finds nicht) 

3) in der Weifagung Gottes .... ift alfo Chriſti 

4) nicht Baum, fondern Knoſpe. 

5) machten, 





— WM — 


glich! und bauete weiter. Manches Wort, das fie geſprochen, 283 
manche Begebenheit, die fie erlebt hatten, warb jego neuer Wink 
auf neue Saden im Fortfluß der Zeiten — — 

Biertens. Auf dieſen Faden der Entwidlung und Auf- 
bellung des Zweds Gottes bey feinen Gefegen, Ber- 
heißungen, Gebräuden und Begebenheiten — auf ihn zu 
merken, macht die wahre Kette der Weiffagungen und Bil: 
der. Immer nemlich erklärte fi der Zweck Gottes mehr: ? er 
veranlaßte, daß gewiffe Dinge auffielen, daß andre Dichter und 
Propheten fie ausmahlten, und darauf weiter bauten; bis 
aus allen vollftändig, ein ziemliches Licht zufammentraf. Inſon⸗ 
berheit warens Worte Gottes felbft, die gleihfam aus einander 
geiponnen, in feinern Fäden zu neuen Geftalten wurden. Der 
Segen Abrahams war allgemein; in Iſaak, Jacob, Judah wurde 
er beftimmter. Dem legten ward Sieg, Macht, Anfchen, 
Ruhe, ein Königreich, oder wenn man will, ein Friedenmacher 
verheißen; das Alles blieb noch im Allgemeinen, näher kam die 
Entwidelung nit, bis aus Judah der erfte und zugleich mäch— 
tigfte, Siegreichfte, anjehnlichite König, der Stammpater des 
ganzen Haufes kam, David. Nun fam die Verbeißung wieder; 284 
abermald nur angemeffen ihm, feinen Wünſchen, feiner Aus⸗ 
fiht. Auf Kriege follte ein Friedenskönig erfcheinen, dem 
niedrigen Stammvater ward ein langes Königlihes Geſchlecht, 
ein ewiges Reich verheißen. Dies entwideln die ſchönſten Pfal- 
men, alle im Licht der Verheißung Gottes durch Nathan gegeben, 
und alle in demſelben Gottesgeiftee David farb. Das Neid) 
Sant, fein Stamm neigte fih; nun kam die Verheißung micber. 
Jeſaias entwidelte? ein cwiges Neih aus dem Stamme 
Judah, aus Davids Geſchlecht in prächtigen Bildern, zeigte aber 
immer mehr, daß es ein geiftiges Reich, eines geringen An- 
fanges feyn mwürbe;* fein König muß wie ein Fleines verad- 

1) Merkwürdigkeiten, verglich 2) fi Gott mehr: 

3) entwidelte dennoch 4) würde; ja 


— 0 — 


tetes Reis aus der Wurzel Davids aufblühn. Micha, fein 
Zeitgenoß, bemerkte das Feine Bethlehem, als die Geburtsftadt 
Davids in eben dem Sinne; alle Propheten paaren nun Niedrig- 
feit mit Hoheit und machen es fi zum eigentlichen Gefchäft, zu 
zeigen, daß diefe von Gott verbeißene, wahre Hoheit und 
Herrihaft des ewigen Reichs geiftiger Natur, aus Ber: 
ahtung, und Armuth fproffen müffe, Iproffen werde Auch 
damals können und müfjen jedem Propheten Data vorgelegen 
haben, die die Weißagung ihm und feiner Zeit alſo verſtändlich 
machten. Oft redet er das arme, verachtete, gebeugte Iſrael, 
oft das Davidifhe Haus, oft wie Jeſaias ſich jelbit an, um 
die Vereinbarkeit diefer zwey Extreme, Licht und Schatten, 
Niedrigleit und Hoheit, Armutb und ewiges Reich zu 
zeigen; das thut aber, wenn man die Sprüde nicht farg! aus- 
reißt, dem Zwei des Propheten nichts entgegen. Die obgebachten 
Hauptcharaftere blieben der Nachwelt mit ewigen Buchſtaben vor- 
gezeichnet: 

Abrahbams Segen: 

Judahs Herrfhaft und Ruhe: 

Davids ewiges Reich des Friedens: 

Geiftiger Art und Dauer: 

Aus Niedrigfeit, durch Veradtung und Leiden: 

Durh Wunder, Lehre, geiftlihde Gaben, 


daß fie fünftig überall in die Augen fallen muften. Sie blieben 
Hauptcharaktere. — So meit war die Entwidlung gefchehen 
und die Gefangenschaft kam. Ehe fte zu Ende gieng, ward dem 
betenden Daniel die klärſte Verheißung, fie beftimmte eine Zeit, 
die beftimmte Nevolutionen des Volks, der Stadt, des Tempels 
286 betraf,“ bis auf die gänzliche Berftörung; kurz, fie ward eine 
Fingerdeutung auf die eigentlide Periode? der Erjcheinung 


28 


SS 


1) karge 
2) beftimmte die Zeit, betraf Nevolutionen .... Tempels, 
3) die Beriode 


— 206 — 


des Gejalbten; und ift jet Bürge, daß er erfhienen ſeyn 
müſſe: denn Stadt und Tempel find zerftöret. Zum zweyten 
Tempel Iuden ihn deutlih Haggai und Maladias ein; in 
den Büchern der Maccabäer finden wir die Erwartung des Meßias 
als Eines, der kommen follte, deutlich. Zu den Zeiten der An- 
funft Chrifti gieng, aus Daniel und andern Traditionen die allge- 
meine Sage, der große König müſſe kommen, die Zeit jey vorüber, 
kurz, (das können wir gewiß jagen,) ift Chriſtus nicht erichienen, 
fo bat er nicht erfcheinen follen, jo find die MWeißagungen, Ber- 
iprehungen, Zufihrungen der Propheten, zulegt unter fo 
beftinmten Umftänden — fronme Träume. 

Fünftens. Vielleicht fpricht jemand, mer laugnets, daß ſie 
fo etwas geweſen? Iſts nicht wahrſcheinlicher, daß fie es! waren, 
ala nit waren? Wer träumt nit? wer ahndet nit in die 
Zukunft? wer ſpinnt nicht gern, wenn er fich oder fein armes 
Volk tröften fol, die Hleinften Fäden von Hoffnung und Verheißung 
zur gemifjeften Erwartung weiter? Wenn ich das Alles, m. Fr., 
allgemein zugebe ; fo kann ichs in diefem Fall nicht glauben, ohne 
zugleich die Geſchichte des Jüdiſchen Volks,“ die Haushaltung, die 287 
Gott mit ihm hatte, kurz, feine ganze Erfiftenz in und mit dem 
alten Zeftament, als Traum aufzugeben oder al3 Betrug zu ver- 
dammen. Dazu jehe ich feinen Grund; die ganze jo ausgezeichnete 
und zufammenhangende Geſchichte? und Reihe von Schriften, Die 
doch wirklich facta find und als Effecte einer Urſache baliegen, 
find dagegen. Iſt nun die Sübifche * Geſchichte wahr, ift Jüdi⸗ 
ches Volt und Gottesbienft, jeine Schriftftellereg, der Geift feiner 
Schriften und Begebenheiten — find fie das, mofür fie fi in 
Wirklichkeit darftelen und das niemand leugnen fann; fo gehört 


1) daß fies geweſen? Iſts nicht mahrjcheinlicher, daß fie fo etwas 

2) ohne auch den Charakter des Jüdiſchen Volls, feine Wunder⸗ 
geichichte, 

3) Grund; ja die ganze fo ausgezeichnete Gejchichte 

4) dagegen. Erinnern Sie ſich an einen ber worhergehenden Briefe, 
den ich über diefe Materie gefchrieben. Ift nun Jildiſche 


— 0 — 


Geift der Weißagung mit in diefe Gejchichte und Bücher, fo 
muß dieſer auh wahr und Abſichtvoll gemejen ſeyn, wie die 
Geſchichte.! Seten Sie Einen Augenblid, daß der Tentpel ver- 
brannt, die Jüdiſche Republid mit allen den Beftimmungen, unter 
denen Chriftus zum zweyten Tempel fommen ? follte , zerftört fey, 
und dieſer ſey nicht erichtenen; Tönnten Sie, wenn Sie ein Jude 
wären, e3 bleiben? Könnten fie die Göttlichfeit diefer nicht erfüll» 
ten, ja dur die Zeit zweyer Yahrtaufende fogar widerlegten 
Weißagungen noch behaupten? — Mein Gewiſſen giebt mir Zeug- 
niß, daß ich nichts fo fehr, ala den Ton der Controversbefehrer 
288 ad absurdum, ad malignum, ad impium et incredulum haſſe: 
ich jelbft Halte die Weißagungen des A. T. noch nicht für ganz, 
noch nit alle für erfüllt, die legte Entwidlung dieſes Volks, 
unfrer Neligion und aller Völker der Erde ınuß das Siegel auf- 
drüden, und den größeiten Erfolg gewähren. So viel dünft 
mich aber, daß wenn man nit die Chriftlihe Religion, ala 
medium terminum, als ein interpositum aliquid annimmt, das 
aus der Jüdiſchen geworden, das an? ihre Stelle getreten ift, und 
den legten Erfolg aller Weißagungen entwideln fol; — daß, 
wenn man diejes nicht annimmt, das U. T. ohne Abſicht auf- 
höre, fich felbft widerſpreche, fich eines guten Wahns, der nicht 
erfolgt ift, öffentlich zeihe und überhaupt nach allem Gebadten, 
Abfichtvollen und Göttlichen, das vorbergegangen feyn fol, auf 
eine ſchnöde, unerwartete, unerflärlihe Art ende. Und offenbar 
ift doch das Chriſtenthum in diefe Zeiten des Ausgangs mit ver- 
flochten! Gerade in der Abenddämmerung des Jüdiſchen Tempels 
und Gottesdienfts entflanden, hat es den Saft jener Lehren und 
Schriften fi zu eigen gemacht, eine neue Epoche angefangen, ohne 
Gerimonien, aber im Sinn und Geift und in der Kraft der Pro- 


1) wahr, beftimmt, Abfihtvoll .... Geſchichte; oder alles 
widerfpräche ſich und ginge im Traume auf. 

2) Republid mit Den Bedingungen und dem Zeitmaaffe, in bent, 
unter denen Ebriftus kommen 

3) geworden, an 


— 208 — 


pheten fortzuzeugen und auf eine andre Hoffnung, eine andre 
Erfcheinung des Reihs und Trofts Iſraels zu tröften. Aeufferft 253 
ſonderbar, daß der Umfturz des Mofaifchen Gottesdienſtes, durch 
Mömer- Hände bewirkt, nun gerade auf die Zeit traf, da das 
ChriftentHum aus ihm den Saft gezogen und zu feiner Erfiftenz 
Wurzel gefaßt hatte; noch ſonderbarer, daß die Prophezeyhung des 
Chriſtenthums diejen jo unwahrſcheinlichen, unerwarteten, traurigen 
Fall vorherſah, ihn deutlih vorberjagte und ihn immer mit 
fih verband, indem fie ihn als einen thätlihen Erweis 
Gottes anjah, daß das Weſen gekommen fey, und der Schatte 
nun aufhören folle,! die Zeit zu Mofes Dienft fey vorüber, da 
in Chrifto Gnade und Wahrheit erihienen; am fonderbarften 
enblih, daB diefer thätlihe Zeitenerweis, daß Gott Feine 
Opfer, feinen Tempeldienft? im Jüdiſchen Lande mehr wolle, 
zwey Jahrtauſende fortgegangen, indeſſen jo wenig Juden - 
als Ghriftentfum, weder Propheten, noch Evangeliften und Apoftel 
‚untergegangen find, und jene Schriften von ihrem Volk, beyberlcy 
Schriften aber vom ? Chriſtenthum immer noch für göttlich an- 
gefehen werden und beyde Religionen auf bie Erfüllung eines 
legten Erweifes, jene ohne Chriftum, diefe mit Chrifto ald dem 
medio termino fünftiger Hoffnung und Erſcheinung warten. Wer 
wird Net haben? Das mag der Ausgang zeigen. Wer hat 230 
jegt Net? Mich dünkt, die Chriften: denn ihr A. T. ift nicht 
ohne Erfüllung ausgegangen und dieſe ift ihnen das Pfand zu 
fünftiger höherer Erfüllung. Den Juden ifts unter der Hand 
abgeriffen, wie ein verjengter Faden reißt. Nicht blos Hat ihr 
Gerimonienbienft jih ohne Abfichten, fondern nah der Ermar- 
tung des ganzen Volks, fo viel hundert Jahre durch, (ehe Chri- 
ftus kam und feit er gelommen ift) gegen alle Abficht geendet. 
Ohne Entwidlung und Zwiſchenſchub des N. T. ift der Moſaiſche 


1) vorherſah, deutlih .... verband, ihn als .... anſah, das 
Wefen fer gefommen, der Schatte folle num aufhören, 
2) fein Zempeldienen 3) Schriften vom 


— 209 — 


Gerimoniendienft, der fo viel Sahrhunderte mwährte und das 
Volk mit Laften belud, Er jomohl! als die Weißagung, die 
ſich Jahrhunderte fortipann und das Volk immer mit neuen Ent- 
widlungen in Othem zu erhalten juchte — ohne jenes Zwiſchen— 
glied der Fortleitung, fage ich, find beyde mwahrjcheinlich immer 
ohne geiftlihe, Gotteswürdige Abficht, alſo ein wirklicher 
Betrug oder ein eitles Menſchenwerk? gemejen, wogegen doch, 
nah meiner UWeberzeugung Geift der Schriften und der 
Geſchichte ftreitet. Sie fehen, man muß ein Chrift feyn, felbit 
um die Schriften des A. T. nicht zu verläugnen und am Ende 
der Welt mit allen Eins zu werden, die in ber wahren Hoffnung 
Iſraels je gelebet haben — — 

291 Sechſtens. Sie werden jagen: „die Argumente find alle ' 
„gut, wenn man fchon der Sache gewiß ift oder ihr gewiß feyn 
„will; aber für einen fpisfündigen Juden, ober für? einen feinen 
„Vernünftler, der immer neue Ausflucht findet, ſey fehr zu fürd- 
„ten.“ Ich felbft, m. Fr., fürchte; und wenn das Chriftenthum 
feine andere einfachere Documente hätte, jo würde ih auf ein fo 
aufammengejettes, auf ein von fo vielen Stellen vieler Pro— 
pheten, aus vielen und den verjhiedenften Zeiten, (in jeder auf 
verſchiedne Weiſe gejagt) auf ein nur dem Geift, dem Sinn 
gefamter Stellen nach,“ gleichſam zufammengeftraltes Zeug: 
nid — ih würde, fage ih, auf ein fo zufammengefchtes, 
feines, vom Geift der Auslegung fo alter und verſchiedner 
Schriften abhangende® Argument mid nie als auf die erfte® 
Stübe des Chriſtenthums beruffen, wenns feine andre, kürzere, 
unläugbarere Thatbemweife gäbe. Chriftus thuts felbft nicht; und 
es ift Misbrauch, wenns von Einem Bemeifer des Chriſtenthums, 

1) belnd, fowohl 
2) fage ich, ift beides wahrfcheinlich immer ohne geiftliche, ewige, 

Gotteswürdige Abſicht, alfo wirlliher Betrug oder Menſchenwerk 
3) einen armen Juden, für 
4) dem Geifte nad, dem Sinn gefammter Stellen im Zufam- 

menbange gemäß, 5) auf erfte j 

Herbers fämmtl. Werte. X. 14 


— 2310 — 


gar zu unſrer Zeit, geſchähe. Er rief nit aus, als er auftrat: 
„tommt! und jehet den Meſſias: ich habe alle Kennzeichen aus den 
„Propheten an mir: prüft fie, bier ift das lebendige Corpus. Ich 
„bin aus Davids Samen, in Bethlehem gebohren u. f. Dies 
„it das erſte unumftöslide Hauptargument meiner Religion” — 29% 
davon war Chriftus weit entfernt. Er ließ, wie er fagt, den, 
der ihn gefandt Bat, er ließ fein Leben, feine Lehre, jeine 
Werke, feinen Charakter von fi zeugen; und zeugte nicht 
ſelbſt. Schickt Gott einen Meßias, jo muß er ihn auch ermeilen; 
und daß er dies thun wollte, ift ja der meiften Weißagungen 
Anhalt. Das Bethlehem, das Judah, der zweyte Tempel, die 
Zeit der 70. bey Daniel erwieje noch nichts, wenn nicht reellere, 
. thätigere Beweiſe wären, die zur Sade gehörten, ja die 
die Sade jelbft wären Die genannten Weißagungen find 
ja nur eben darum ! Weiffagungen geworden, weil fie zur Sade 
gehören, meil fie Charaktere des Reichs Davids und ſei— 
ned ewigen Geſalbten, Theilweife, in ihrer Maaſſe find. 
Bon willkührlichen Delineationen, Schilderungen und Riffen: mie 
der Meßias ausfehen follte? ift in ihnen nicht die Rede. Meßias 
Reich Sollte erfcheinen, und als es erſchien, war es fein felbft 
Zeuge. Der Anlündiger der Geburt Jeſu fagte es nicht anders 
an als thätlih. „Er wird ein König feyn über das Haus 
„Jacob ewiglid: er wird fi ala der Sohn des Hödjften 
„erweiſen;“ das ift feine Botichaft.? Der Engel jagt den Hirten 
die Geburt des Heylandes, des Königs an;? Fein Kennzeichen, 
das er ihnen giebt, ala Krippe und Windeln (damit fie ſich nicht 293 
an dem Anblid ftießen;) das übrige muß ihnen fünftig das Leben 
und Reich Jeſu fagen. Maria kommt nad Bethlehem, nicht aus 
eignem Entſchluß, damit fie ja nirgend anders, als am Ort des 
Propheten niederfäme; die Gottheit fügets fo, damit auch dieſer 





1) nur darım 

2) er wird der Sohn des Höchften genannt werden;" das find 
feine Ermeije. 

3) Königs; 


— 211 — 


Wink auf Davids Neih in Erfüllung fomme, ohne daß fie daran 
denfet. Simeon meiffagt über Chriftum — unter feinen andern 
Charakteren, ald den mejentlich erftbenannten: „Licht der Völ— 
„ter, vielen ein Fall, andern ein Auferftehn, allen aber ein 
„Zeichen des Widerſpruchs, eine im Anfang unbegreifliche, fremde 
„Erſcheinung.“ Ohne Zweifel jagte die Mutter dem Kinde alle 
Umftände feiner wunderbaren Ankündigung und Geburt: das Kind 
erwuchs gleihlam in den Propheten und war ſchon im zwölften 
Jahr feines Alters vertraut mit ihnen; noch aber finden mir nicht, 
daß es auftrat und ſprach: „id bin der bofnungsvolle Knabe! 
„an mir finden fi) alle Kennzeichen des U. T.! Er erwuchs in 
der Stille, kam auch unbemerkt und nicht in der Abficht dieſes 
Erfolgs zur Taufe Johannes; wo nun unvermuthet das fchöne 
Geſicht geihah und Gott feinen Sohn vom Himmel erklärte Er 
belohnte biemit feine im Stillen vollendete Bildung, und rief ihm 
294 zu, daß es jetzt Zeit fey, vorzutreten und fih ala Sohn Gottes 
der Welt zu zeigen. Jeſus folgt der Stimme und bereitet ſich 
in der Wüfte, nach der Weile der Propheten, faftend und betend, 
zu feinem Beruf: der Verfucher legt ihm mancherley Plane vor, 
wie er fih als Sohn Gottes bezeugen fünne? „auch nah Aus- 
ſprüchen der Propheten.” Nichts von allem findet Chriftus fei- 
nen Beruf, feine Sendung. Was thut Er denn? worinn ſetzt 
Er diefe? In das, mas feine erſte Stimme ruft: „das Reid 
„Gottes ift kommen!“ in das, was feine Reden und 
Wunder zeigen, wie er fie den Jüngern Johannes vorhält, mie 
er jo oft den Juden antwortet: „ich habs euch gejagt, und mas 
„Hilft jagen? Sehet meine Werfe! glaubet ihnen; nicht mir.“ 
Chriftus ſelbſt alfo wills nicht, daß man fih mit metaphyfiicher 
Deutung der Kennzeihen an ihm allein befchäftige: fein Ned, | 
feine Werke, feine Lehre und Wunder find eben die vorausver⸗ 
fündigten Kennzeichen: dieſe läßt er wirken. Er verbietet es 
fogar feinen Schülern lange, es nicht ala Wort, als Predigt anzu- 
heften, daß Er der Meßias fen, ſondern befiehlt ihnen dafür fein 
Neich zu lehren, andern Begriff davon zu geben, wie er ihn 
14* 


— 2312 — 


ihnen gab; das weitere finde fich felbjt.! Da er feinem Aus- 
gange, (der aud dazu gehörte,) näher fam,? feitvem Moſes und 295 
Elias mit ihm davon auf jenem Berge ſprachen, rebete er von 
feinem Leiden, feiner Auferftehung, als von Saden, die aud 
vorher verfündigt feyn, und jebt erfüllt werben müßten, der Zu- 
funft feines Reichs unbeſchadet. Vorm Hohenpriefter ſpricht er, 
„wer er ſey?“ vermeilet ihn aber auf andre, als Wortbe- 
weife; auf feine Erfcheinung mit den Wolfen, auf fein Reich, 
auf That. So ftarb er; er erfand — und nun, fagen Die 
Upoftel, Hat Gott durch die Auferftehung? ibn zum 
Herrn und Chrift gemadt,*) d. i. ihn als ſolchen dargeftellt 
und bewiefen. Nun legt er ihnen nochmals alle Schrift 
aus, die von ihm gejagt war, und zeigt, daB alle dieſe 
facta zum Anbrud, zur erften Ericheinung feines Reichs gehöret: 
er geht gen Hinmel und läßt fie als Zeugen deſſen, mas* 
gefhehen ſey und nod gejhehen werde. So verfündig- 
ten® ibn feine Boten; als einen, von Gott durch Thaten 
erwiefenen, von deflen Begebenheiten und Thaten aud 
ale Propheten gezeuget. So ward das Chriſtenthum gegründet; 
anders, meines Erachtens, kanns auch jet nicht bewieſen werben. 
Fehlten die facta, das Neid, die Lehre, die Wunder, bie 
Auferftehbung, die Getftvolle Gründung der Neligion 296 
Jeſu, die eben der Kern der Prophezeyungen von ihm 
find; bloſſe conditiones, sine quibus non, 3. E. dert Stamm, 
das Geſchlecht, der Geburtsort, die Jungfrau, der Tempel, die 
70. Wochen könnten an fi nichts thun, und mürbens nicht 





*) Apoft. 2. 4. 10. 


1) (fein Reich, . . . . find ja eben die vorausverkündigten Kennzeichen, 
ohne die man ihm nicht betrachten und überhaupt feinen Meßias erwarten 
tann.) Diefe läßt er wirken, verbietet... .. . fondern bafür fein Reich 
zu lehren, Begriff ..... gab; das andre finde fich felbft. 

2) ging: 

3) Auferftehung eben 4) das 5) verkündigen 

6) non, der 


— 213 — 


gethban haben. Es konnten viele aus Bethlehem feyn und waren 
doch feine Meßias; der niedrige Sohn Davids aber, der fo 
und nicht anders das Reich anfieng, der milde, reine, 
fräftige Gottesgefandte, der wars, Fein andrer. Bon ihm 
zeugten alle Propheten, ala vom Arzt der Kranken, dem 
Heiland der Sünder, dem Fegopfer der Welt, dem 
ewigen Baum eines neuen Lebens. So ward Chriftus 
des ganzen A. T. Mitte und Abſicht, aller Bilder Geift, 
aller Typen Erfüllung, aller Berheißungen Kraft und Leben. 
Näher oder ferner konnte, mufte nun Alles von ihm handeln; 
man fonnte, man mufte Ihn (db. t. fein Reich, feine Lehre, 
feine! ganze bis in die Ewigkeit reichende Abficht) fein Leben 
und alle facta, die ihn betrafen, überall, d.i. im gefamm- 
ten Zmwed der Vropheten ? finden. So erflärte er den Apofteln 
die Schrift: fo erklärten fie folche andern und ihren Chriftum in 
derjelben.? Will man wiſſen, was er ihnen nad der Auferftehung 
297 gefagt hat: jo Iefe man, was fie in der Apoftelgefchichte und in 
den Briefen jagen; denn fie werdens doch nicht anders haben 
machen wollen, ala ers ihnen gezeigt hatte. Auf dieſem Wege 
werden alle Jüdiſchen Kunftgriffe der Auslegung unnöthig.* 
Wir fahn, das ganze U. T. beruhe auf einer immer aus- 
führlidern Entwidlung gemiffer primitiven Verheißungen, 
Bilder, Erfolge und ihres geſammten, zujammenjtralenden 
Sinnes, ihrer immer meitern und geiftigern Abſicht; dag N. T. 
alfo war eine Erfüllung des Alten, jo wie der Kern erſcheint, 
wenn alle Schalen und Hüllen abgemunden find, die ihn ver- 
bargen. Sie wurden allmählih und immer feiner abgewunden, 
bis Chriftus da ftand, und werden einft allgemein als Eine 
Gottesabfiht erkannt werden, wenn Er fommen wird mit 








1) und 2) überall in ben Propbeten 

3) AB: denfelben. 4) Kunftgriffe unnöthig. 

5) ihres Sinne, ihrer geiftigen Abſicht; das ..... Alten, ber 
geiftige Kern aller vorigen Hüllen und Schalen. Sie wurden 
immer .... und werben allgemein 


feinem Reich. Alsdenn wird Niemand mehr glauben dörfen: 
denn wird jeder fühlen, jchmeden und jehen. ‘est ifts nur, wie 
Er und alle Apoftel jagen, Anfang jeines Reihe, Morgen: 
röthe, Keim, Ausjaat. Das Emblem feiner erften Erfcheinung 
find Krippe und Windeln, das Kreuz, die verborgne, nur von 
den Seinen bezeugte Auferstehung; der Sohn Joſephs aber wird 
als Sohn Davids kommen, das Senflorn wird Baum, die ftille 298 
Saat eine Freudenernte ! werden; e8 wird ihn jehen jegliches 
Auge, aud die ihn ftahen, und werden weinen über ihm 
alle Geſchlechte des Landes, als über ihrem geliebteiten 
Sohne — — 

Siebendens und endlihd. Sie ſehen alfo, m. Fr., daß mit 
allen Citationen aus dem A. T. niemand eigentlih zum chriftlichen 
Glauben zu zwingen ſey, weil ihre Erfüllung doch abermals auf 
dem Geift vieler Begebenheiten, der aus allen zufammengefaßt 
und in feiner einzigen Einheit empfunden werben muß, berubet.? 
Will jemand fagen, die Propheten haben von gar feinem Meßias 
geweiffaget: fie fchrieben aufs Gerathewohl Bilder der Zukunft; 
jo mag er diefes, ihnen jelbjt und dem Glauben aller Zeiten ent- 
gegen jagen! Sagt er: die Propheten Tonnten, fie dorften* 
von feinem Meßias, ala einem Glaubensartifel, mweiffagen: jo gebe 
ih ihm das Wort „Glaubensartilel” in dem Sinn, wie wir 
nehmen, gern zu. Der Glaube an Einen Gott Yehovah und der 
Dienst defjelben nad feinen Befehlen, war eigentlih der einzige 
Glaubenzartifel der Juden, d. i. er war ihre Pflicht. Aber zu 
einem Troft, zu Berheißungen, zu einer Entwidlung bes 299 
geiftigen Sinne Gottes bey feinen Gebräuden und Ver— 
beißungen in den Vätern läßt man fi doch nicht zwingen; fie 
find auch jenem nicht entgegengeorbnet, fondern liegen ala Stern, 





1) Saat Freudenernte 2) feinem vielgeliebteften 

3) daß auch mit ..... eigentlich zu zwingen fei, weil .... Bege- 
benbeiten berubet. 

4) fonnten, borften 


— 25 — 


ala innere Wohlthat und Abficht Gottes felbft ſchon in Moſes 
Gefeßgebung. Entweder muß man annehmen, daß es dem Ewi- 
gen allein und ausfhließend und wie am legten Zmed an jenen 
äußerliden Hüllen gelegen, und es! ihm gleichgültig geweſen, 
wie kahl und leer die Sache außgienge; oder, wenn die Stimme 
der Propheten, wenn ihre? Winfe auf ein ander Teftament des 
Geiftes, und die immer geiftigere Entwidlung der Vorzeit doch 
gerade das Gegentheil bemeifen; jo müfte man bie ganze Sache 
Gottes mit diefem Volk aufgeben, und alles zu glüdlich - unglüd- 
lihem Menfchenwert mahen; oder — ich fehe Fein drittes, als 
das Chriftentbum, die Theil- und Anfangsentwidlung 
des vorigen Plans jebt auf neuem, geiftigen Grunde. 
Mit dem lebten mird Alles To zufammenhangend, jo Eins; und 
abermals, mit der neun Hinficht auf eine andere Zukunft, 
neu, fortgehend, Gottes» und der Menſchen würbig!® Auch die 

300 Chriſten find Siraeliten, nur mit dem Glauben und der Hofnung 
näherer Zukunft, durh den Mann, durch den Gott Eine Ent- 
widlung im Stillen gemadt hat, bie andre herrlih und ewig 
machen wird. In ihre werden Jude und Ehrift Eins werben, in 
dem der beyder Teftamente Hoffnung und Erfüllung, 
%a und Amen tft, war, und feyn wird, 


301 Neunzehnder Brief. 


Sie bemerken vet, m. Fr., daß das Chriftenthun nach dem 
Entwurf, den mein legter langer Brief berührte, ein Werk von 


1) Abficht in Mofes Geſetzgebung. Man muß annehmen, daß Gott 
allein und ausfchließend und als an Testen Zmwede an .... gelegen, 
und daß es 

2) Propheten, ihre 

3) Hier folge im Mſe. durchſtrichen der Satz: „daß, wenn ich ein 
gebohrner Jude wäre, ich vielleicht befwegen ſchon ein Chriſt würde, um 
fein Ifraelit außer meinem Sande, ohne Tempel, ohune Opfer, Bolt, 
Alles, was mich zum Sfraeliten machte, bleiben zu dörfen.“ 


— 216 — 


jchr groſſen Plan ſey, von dem wir nod das Wenigſte erlebt 
haben. Zuerft giengs, in die Bilder des U. T. gehüllet, verklei⸗ 
det einher: Gott fuchte fein Volk zur Prlicht und zum Nachdenken 
zu bringen, durch alles, mas er ihm in einer finnlichen! Sprache 
und Denlart gebieten und verjpredhen konnte Die Blüthe warb 
immer mehr Frucht, und die Erſcheinung derjelben ? konnte nicht 
anders bewirkt werben, als daß die Blätter der Blüthe durch die 
Gefangenſchaft und das Elend des Volks traurig zerftreut wurden. 
Ich bins nicht, der da läugnet, daß die Jüden richt aus dieſem 
Zuftande neue Entwidlungen ihrer vorigen Begriffe mitgebracht 
haben jollten; mich dünkt, die Sade ift augenſcheinlich, auch Got» 
tes, der nichts umſonſt thut, jo würdig. — — Nach langen Zube: 
rettungen warb der Geift des A. T. im Chriſtenthum fichtbar; 
aber zuerjt niedrig, verachtet, verborgen, bald (melches noch ärger 
ift) mit mancherley Gräueln und Laftern bevedt, von denen aud) 302 
zum Theil noch das äußere Gefäß nicht rein iſt.“ In diefer mitt: 
leven Scene, dem wahren Kinoten der Geſchichte, leben wir nod) 
und können vielleicht jegt am wenigften über die eigentliche Wir- 
fung des Chriſtenthums auf der Erde Hiftorisch urtheilen. Seine 
beiten Wirkungen find verborgen, mie e8 auch die Tugend des 
Chriftentfums 5 überhaupt feyn fol; fie framen fi aljo nicht auf 
dem Markt aus, fie werden in der Gefchichte öfters nur durd 
Uebermaas und Mißbrauch merkbar. In der Kirchengeſchichte 
erfährt man davon ordentlich das wenigſte; die geht meiſtens auf 
den Landſtraſſen, um die Mauern oder Häuſer der Bekenntniſſe 
einher, zeichnet ſie von auſſen und kann auch nicht wohl anders. 
In das Innre der Häuſer kommt ſie nicht, und ins Heiligthum 
derſelben ſchauet nur der jetzt auch verborgene Chriſtus. Neulich 
iſt ein eigentlihes Buch von den Wirkungen des Chriften- 





1) in finnlicher 

2) Frucht, und das erfte Anſehen berfelben 
3) Gefäß vol ift. 4) wir und 

5) wie auch die Güte des Chriſtenthums es 


thums unter den Völkern erſchienen*), worinn, wie mid 
303 dünkt, viel Wahres und Gutes ftehet; ich wünfchte, daß es nur 
auch chriſtlich, d. i.! ftil und ohne Declamation gejagt wäre. “Die 
befte Wirkung des Chriſtenthums ift, mie das Licht Teuchtet, mie 
die Frucht keime — — 

Auch darinn haben Sie Net, m. Fr., daß Chriftenthum fich 
nicht Stolz; abfondern, und eigentlich Fein Gutes verachten müſſe, 
wie oder mo es fih auch finde?? ft Gott allein der Juden 
Gott, ſagte Paulus, ift er nicht auch der Heyden Gott? Und 
wie? der Gott der Chriften, deren Grundgeſetz der Religion all- 
gemeine Wahrheit, allgemeine Liebe ift, Er follte ? ein abge- 
ſchrenktes, gehäßiges Weſen feyn? Er follte Wahrheit und Liebe 
nicht nad jedem Mans ihrer Reinheit ſchätzen können und jchägen 
wollen, überall, wo fie fi finde? * 

Allein darinn muß ih Sie, einen zu eifrigen Freund der 
Poeſie mißverftanden haben, daß das Chriftenthbum der Gefchichte 
feines groſſen herrlichen Plans mwegen, auch prächtige, über alle 
Dichtungen der Heyden erhabne Epopeen und Miythologien 
gewähre — das kann ih, mie mir die Sache vorliegt, ſchwer⸗ 
lich glauben. Erinnern Sie fih an unfre vorigen Briefe. Iſts 

304 wahr, da das Chriftenthum nur auf factis, auf ftrenge zu bemei- 
jenden und von Gott felbjt ermiejenen factis beruhe; jagen Sic, 
wollte man ? hierüber mohl dichten? Wollte ein Chrift fo kühn 
jeyn, die Phantafien feines Kopfs den Thaterweifen Gottes einzu- 


*) Rothe von der Wirkung des Chriftenthums auf die Völler in 
Europa, Koppenbagen 1775.1 


1) ftehe mag, wenn e8 nur auch chriftlicher, d. i. 

2) fid finde? 

3) Grundgeſetz Wahrheit und allgemeine Liebe ift, follte 

4) können, ſchätzen wollen, ..... finde? Auch bierüber werde ich in 
der Folge deutlicher, näher reden — — 

5) Sie mifverflanden haben, daß Ehriftenthum 

6) mir jetzt die Sache noch 7) Sie, ließe ſich 


I) „*) Rothe — 1775.” fehlt. 


— 218 — 


mifchen, ober zwifchen zu Ichieben, das ift, wenn er es auch wiber 
Willen und Willen thäte, fie nach feiner Gedankenweiſe zu verge- 
ftalten?! An der Simplicität und Wahrheit diefer Geſchichte Liegt 
dem Chriftentbum unendlid. Wer mir ein Evangelium Chriſti 
zum Roman macht, hat mein Herz verwundet, wenn ers auch mit 
dem fchönften Roman von der Welt getban hätte. Die Dichtung 
mag befjer oder fchlechter gerathen, als dem Feinde der Religion 
das Evangelium felbft vorkommt; er, der Feind fpottet über die 
befiere oder jchlechtere Geftalt, die ihm doch nur geliehen warb: 
der Schwache Freund verwirrt fih: der Neuling, zumal der leicht 
zu entzünbenbe poetifche Jüngling, fängt Feuer, und nimmt viel- 
leiht, der urfprünglihen Wahrheit zuwider,“ Farbe und Einbrud 
der Begebenheiten daher, woher er fie nicht nehmen ſolle. Diefe 
fommen ihm nachher, auch wo fie ihm nicht kommen follten, in 
Liedern, Predigten, in Vorträgen ans Volk wieder; und über- 
Baupt,? dünkt mi, erträgts die Abficht, und die Einfalt des 
Chriſtenthums nicht, daß feine Geſchichte das Feld mwillführlicher, 305 
wenn auch aufs befte gemeynter Dichtungen‘ werde — — 

Ich bitte, leſen Sie die Evangeliften in ihrem fimpeln Gange; 
was ift da zu dichten? was zu cpopöiren? Daß Chriftus gebohren 
wird und in Windeln Liegt, daß er nach Aegypten flieht und 
Fremde ihn zuvor finden, anbeten und befchenten, daß er im 
Tempel dargeftellt wird und in der Stille erwächſt; daß er durd 
Berührungen und Wachtworte? Wunder thut, füße, aber fimple und 
nicht zu verändernde Worte des Lebens Spricht, daß er ange- 


1) ſchieben, oder gar Diefe Durch jene auszubilden, das if, wenn auch 
wider Wiften und Willen, halb ober Seitwärts, zu verdrängen? 
2) bat meinen Berftand und mein Herz verwundet, wenns aud mit 


dem ſchönſten Roman wäre. Die Dichtung .... Feinde das Evangelium 
verfommt, er der Feind fpottet: der .... entzündende Iüngling, fängt 


Feuer, und nimmt, der urſprünglichen Wahrheit entgegen 

3) kommen ſollen, wieder; überhaupt 

4) willtührlicher Dichtungen 

5) erwächſt, ſich einmal won feinen Eltern verliert; daß .... Macht⸗ 
worte unzäliche 





— 219 — 


feindet, von einem Böſewicht verrathen, von einem furdhtfamen 
Schüler verläugnet, falſch angellagt, übel vor Gericht behandelt, 
unſchuldig verurteilt, gegeißelt, gefreuzigt wird, am Kreuz nad) 
wenigen Worten ftirbt und ins Grab kommt — jagen Sie, mas 
wäre an dieſer fo einfachen, zarten, nur durch ihre Einfalt beftehen- 
den Menſchengeſchichte, was Stof zur Homerifchen oder Vir⸗ 
giliichen Epopee gäbe? Ich meyne, natürlichen, nicht herbeygehol- 
ten Stof, noch weniger hineingezwungene Dogmatif. Der Heiland 
der Menden, hätte er gewußt, daß fein Leben in einer Epopee 

306 vorgetragen, eine beilere, ftärfere, veinere Wirkung thäte, als in 
einem fimpeln Evangelium; hätte ers nicht alſo befchreiben laſſen? 
Nun lefen! Sie beydes in Vergleihung: Ein Kapitel der Paßions⸗ 
geihichte und viele! Gefänge darüber; und fagen, wo ift mehr 
Natur, urprünglide Wahrheit, reiner Begrif der Sache, 
Convenienz des Styls zu ihr und endlich gewiß auch mehr 
unverfälfchte, ewig? daurende Wirkung? 


„Wie aber, die wunderbaren Begebenheiten? die Erfchei- 
„nung der Engel, das Erdbeben, die Auferftehung, die Erfcheinung 
„der Todten, die Himmelfahrt;* follten die nicht im höchſten Grad 
poetiſch ſeyn?“ Ich glaube es wohl: im höchſten, höchſten Grad 
poetiſch, aber nicht für uns Menſchen. Beym Wunder liegt uns 
blos die äuffere That vor Augen, Wort und Erfolg: je kürzer 
dieje befchrieben, je einfacher und wahrer beybe gebunden werben, 
(gerade wie die Evangeliſten fie binden: „er ſpricht, fo gefhichts! 
Er gebeut, fo ftehet3 da!“) deſto mehr thun fie für uns finnliche, 
Zufhauer Wirkung. Wie im Unfihtbaren das Wunder hergieng, 
willen wir nicht, daher kanns der Dichter mit hiftorifcher Wahrheit 
nicht holen; er muß es durch Dichtungen, die vielleiht —- dem 

307 finnlihen furzen Effect haben. Geſetzt, es ftünde immer eine 
Schaar Engel bereit, die unjichtbar dem Blinden das Auge öffnen, 


— — — 


1) laßen? Leſen 2) zehn 3) allein 
4) „Begebenheiten? Wunder, Erſcheinung der Engel, Erdbeben, Auf- 
„erſtehung, Erfcheinung ber Zodten, Himmelfahrt und dgl.; 





— 20 — 


die Keime! des Weins (nad einer berühmten neuern Hypotheſe) 
in das Waſſer tragen, das Wein werden fol; fagen Sie, tft durch 
diefe poetifche oder metaphyſiſche? Lüdenfüllung der Effect des 
Dichterd gegen den Effect des Coangeliften vermehrt oder vermin- 
dert? Iſt ihm nicht eben der Umriß genommen, der das Werk 
unjern fterblihen Augen? zum Wunder madhte? Die Handlung 
muß in ihrer neuen Sphäre, zu der fie der Dichter hebt, fo natür- 
ih oder fo unnatürlih, fo flein oder fo groß werben, daß wir 
fie entweder nicht zu überjehen vermögen, oder daß ihre Größe 
verſchwindet.“ Wenn ich zum kleinſten Gefchäft der Welt, in ber 
ich lebe, taufend Gefandtichaften® nöthig habe; fo ift Dies chen fo 
wenig wahre Hoheit, ala wenn ih in meiner finnlihen Welt zum 
Bewegen des Fingers taufend Diener® brauche. Wären fie auch 
da; jo müften fie verborgen feyn, wie Gott die Lebenägeifter und 
das Wallen unſres Bluts verbarg und nur ihre ſchöne wunder⸗ 
bare Wirkung von außen zeigte.” Chriftus verſchmähte eg, Myria- 
den Engel von Gott zu ruffen, dem Petrus feinen Schmwertichlag 
zu erjparen; ja er erſparte ihm den Schwertichlag felbft, ohne 
Engel. — — Chriftus ftirbt und die Erde bebt, die Felſen 
zerreijien, die Gräber thun fih auf; das ift groß, das ift 308 
göttlich. Warum? es thut die Wirkung, die es thun foll: es 
erſchüttert uns finnlihe, ſchwache Geſchöpfe, es macht Graufen und 
Erſtaunen. Nun laſſen Sie einen Engel lange bereit ſtehn und 
auf den Augenblick des Abſchieds warten, daß der Stern vor die 
Sonne rücke; die groſſe Handlung, dünkt mich, verliert von ihrer 
Größe; auch alle Phyſik der Sonne, des Sterns, und der Fort⸗ 


1) Dichter nicht holen; es fei denn, durch Dichtungen, bie dem .... 
ſchaden. Geſetzt, er hätte .... Blinden den Staar ftehen, Keime 

2) dieſe metaphufiiche 

3) unfern Augen 

4) fie nicht zu überjehen vermögen. („oder — verſchwindet.“ fehlt.) 

5) Geſandtſchaften der Engel 

6) zum Regen des Fingers taufend Bedienten 

7) Wirkung zeigte. 


— 21 — 


rüdung dabey noch ungerehnet.! Sie ſehen, diefe Dinge liegen 
nur als Sinnlichkeiten in unjerm Kreife; aus ihm gehoben, 
werden fie metaphyfiiche, oft antiphyſiſche Subtilitäten, die uns an 
der Begebenheit felbft cher Zweifel erregen, als daß fie uns von 
jener mehrere Ueberzeugung? und Klarheit ſchaffen follten. — 
Noch mißlicher iſts mit bloffen Erzählungen aus der fremden 
Geifterwelt; der Dichter hat viel zu thun, daß fie nicht Mährchen 
werben. 

Wenn Engel bey der Geburt oder beym Grabe Ehrifti erichei- 
nen: fo erfcheinen fie ala Boten Gottes, ala Geſchöpfe andrer Art, 
ſchnell, Herrlih, edel. Ihre Geftalt ift wie der Blig, ihre Kleider 
glänzend wie Schnee: ihr Wort ift beyden? gemäß, ausgeipart auf 
diefe Stelle, aufs höchſte beftinunt, warum fie und nicht Menschen, 

309 dag und nicht mehr, ‚jet und nicht zu andrer Zeit jagen? Sie 
treffen als Blitze, fie verfhmwinden als Blige; zur langen Beäugung 
oder zum täglihen Umgange taugen fie für unjre Welt nidt. 
Kehren Sie dies um; laſſen Sie uns im Dichter Myriaden der 
Engel und abgeſchiedenen Geiſter befannt und gemein werden; 
faum mehr diejelbe Wirtung Wir werden der Engel gewohnt 
ober fie hindern uns im Gange der Erzählung Wenn Chriftus 
fih als den Gefreuzigten und Auferftandnen zeigt; je unvermu- 
theter, und doch wahr; je herrlicher,“ und doc gewiß und 
überzeugend dies gejchehen kann; defto wirkſamer, deſto edler. Und 
offenbar haben die Evangeliften beybes verbunden. Er erjcheint 

1) dünkt mid, wirb Hein. Sie fagt nichts mehr, als wenn ber 
Schulknabe auf horam wartet, daß er aufruffe und die Sanduhr wende; 
alle Phyſik ..... noch aufgegeben. 

2) fie von jener Ueberzeugung 

3) Ihre Idee ift wie der Blitz, .... ihr Wort beiden 

4) Sie dem Dichter .... Geifter fo gemein werden, ale dem Wechsler 
eine Reihe blanker Ducaten; ganz nicht mehr die Wirkung. Man kann vor 
lauter Engeln nicht fort: überall drängen fie ſich in den Straffen, Tiegen in 
den Fenftern der Planeten, geben und fommen, und thun doch zum ganzen 
Beat — nichts. 

5) wahr, herrlicher, 


nur und lebt nicht mit ihnen; lebt Stunden unter ihnen, aber wic 
ein Geſchöpf aus einer andern, Herrlichen,! ihnen verborgnen Welt, 
um die ihn niemand fragen darf, aus der er niemanden antwortet. 
Schnell ift er weg, ift anderswo; fie willen aber nicht: wo? bis 
es ihm wieder gefällt, fi irgendwo zu zeigen — — Beſtrebe fid 
nun der Dichter, uns dies verborgne Reich der Geifter, dieſe unge 
fehenen Orte und Ende ans Licht zu bringen und dem Auge des 
Leferd To eben zu macen,? ala den Weg einer Landftraffe: er 
zeige, mo Chriftus jo lange geweſen? was er getban? momit er 
ſich befchäftigt? Laße er ihn thun, was er will; die Erfcheinung 310 
unter Menſchen hat jest für ung verlohren; er fommt, als einer, 
der von Tabor nah Jeruſalem, von da nah Emahus wandert. 
Gar nicht daran zu denken, wie fchmer es feyn werde, Chriftum 
in dieſem Zwiſchenzuſtande Träftig,? zu diefer Sache gehörig, 
zu beichäftigen, da wir ja aus diefem Zeitraum und aus biejen 
Gegenden nichts willen, und nur ahndend, in fhüchternen Wün- 
ſchen leiſer Hoffnung bineinträumen müffen, wenn nicht das ganze, 
geliebte Bild das werben fol, was der Mond am Tage ift. Warum 
ſchwieg ung die Bibel hierüber ? über Gegenftände, nach denen mir 
ſchmachten, von denen jedes Wort, jeder Laut ung die* Seele wedt 
und das Herz entzündet; warum ſchwieg fie darüber? doch nidt 
etwa, daB der Dichter reden und uns ihren Mangel an Nad- 
richten in ſüßen Vhantafien® erjegen folte? — Bon der Himmel‘ 
fahrt, vom Siken zur Rechten Gottes, u. f. wie fie ung der 
Dichter mahlen fann, mag ih, wenn ih die Sadhe als Religion 
betrachte, kaum etwas hören. Mein Auge reicht nicht fo weit, ben 
Triumphirenden Stern nad Stern vorbeyziehen zu fehen, wie ihn 
der alte Dtfried und Scultetus ſchildern und fo fchlage ichs 
lieber zur Erde, wie mir die Himmelsboten jagen. Soll id, dam: 


— — —— — — 













1) Stunden mit ihnen, .... aus andrer, herrlicher, 
2) Laſſe es fi ein Dichter num in den Sinn lommen, dies ver 
borgne .... fo plan zu machen, 


3) würdig, kräftig, 
4) denen uns jedes Wort, jeder Yant Die 5) in Bhantafıen 


— 23 — 


Wort dieſer Engel gerade zuwider, Geſänge lang ſtehen bleiben, 
und den mein Blick nicht mehr erreicht, mit meiner Phantaſie durch 
alle Himmel und aller Himmel Heer verfolgen, ſo unterliegt mein 
Geiſt, wie mein Ohr und Auge! Ich habe fo viel geſehen, daß 
ih nichts ſah; ich habe fo? viel gehört, daß ich nichts vernommen. 
Ich komme herunter und greife zu einem — o wie andern Buche, 
meinen treuen Evangeliften. Die jagen nicht mehr, als fie wiſſen: 
fie zeugen nicht weiter, ala wir begreifen; die Sache, die wir nicht 
begreifen follen, aber willen müfjen, nennen fie nur, und laflen 
den Vorhang finfen. Kurz, m. Fr., der Menſchenſohn ift, wie , 
mih dünkt, viel? zu einfältig, ſchlecht und geringe, daß feine 
Knechtsgeſtalt Epopee werden wollte; der Sohn Gottes, der 
auferwedte König der Ehre aber ift* viel zu erhaben über unfern 
Gefichtsfreis, ald daß ihn das Auge verfolgen, die Phantafie 
dichteriſch ſchildern könnte. Beyde Ende, Niedrigfeit und Hoheit, 
Kreuz und Thron find zwar im Geiſt der Evangeliften, fo mie? 
im Herzen feiner Nachfolger Eins; ich zweifle aber, ob ein Menfchen- 
werk, gejchweige ein Epifches Thema fie fallen, fie uns zugleich 
gegenwärtig maden und daritellend jo verfolgen könne, daß wir 

319 nie feines aus dem Geficht verlieren; immer den groſſen Lauf 

J Deßen im Auge habend —8 

Der da kam vom Vater her, 


J Und ging wieder zum Vater, 

ne Fuhr hinunter zu der Höll, 

er Und wieder zu Gottes Stuhl. 

Re — — — 

eit, * 1) Bon Himmelfahrt, Sitzen .... mag ich Religionsweiſe gar nicht 
pie Y bören. Andreas Scultetuß, ber alte Otfried, die Jeſum Stern nad 
age ® Stern vorbeiziehen laſſen, bleiben doch noch in unferm Geſichtkreiſe: fie 


. feben, fo weit fie tönnen, wie die Apoftel, und wenden nun ihr Auge zur 
ch, v Erden, wie e8 die Himmel$boten fagen. Soll ih mun aber, dem .... 
bleiben und ihn bis zum Thron Gottes durch alle Himmel .... verfolgen, 
. fo unterliegt mein Geift, Ohr und Auge. 
ies ro 2) ſah; ſo 3) iſt viel 4) Ehre iſt 5) Evangeliften, wie 
6) fafien, fie barftellendb .... verlieren und immer den groffen Lauf 


ſehen — 


ien 





nur und lebt nicht mit ihnen; lebt Stunden unter ihnen, aber wie 
ein Gefchöpf aus einer andern, berrlichen,! ihnen verborgnen Welt, 
um die ihn niemand fragen darf, aus der er niemanden antwortet. 
Schnell ift er weg, iſt anderswo; fie wiſſen aber nit: wo? bis 
es ihm wieder gefällt, fich irgendwo zu zeigen — — Beitrebe fi) 
nun der Dichter, uns Dies verborgne Reich der Geiſter, diefe unge- 
jehenen Drte und Ende ans Licht zu bringen und dem Auge des 
Leſers jo eben zu machen,? als den Weg einer Landſtraſſe: er 
zeige, wo Chriftus fo lange geweſen? was er gethban? womit er 
ſich beichäftigt? Xaße er ihn thun, was er will; die Ericheinung 
unter Menſchen hat jegt für uns verlohren; er kommt, als einer, 
der von Tabor nah Jeruſalem, von da nad Emahus wandert. 
Gar nit daran zu denken, wie ſchwer es ſeyn werde, Chriftum 
in dieſem Zwiſchenzuſtande fräftig,? zu dieſer Sade gehörig, 
zu bejchäftigen, da wir ja aus dieſem Zeitraum und aus dieſen 
Gegenden nichts wiffen, uns nur ahndend, in ſchüchternen Wün- 
Ichen leifer Hoffnung bineinträumen müffen, wenn nicht das ganze, 
geliebte Bild das werden joll, was der Mond am Tage if. Warum 
ſchwieg uns die Bibel hierüber ? über Gegenftände, nach denen wir 
Ihmadten, von denen jedes Wort, jeder Laut uns die* Seele wedt 
und das Herz entzündet; warum ſchwieg fie darüber? doch nicht 
etwa, daß der Dichter reden und uns ihren Mangel an Nad- 
richten in ſüßen Phantaſien? erfegen follte? — Bon der Hinmel- 
fahrt, vom Siten zur Rechten Gottes, u. f. wie fie ung der 
Dichter mahlen fann, mag ih, wenn ih die Sache als Religion 
betrachte, Taum etwas hören. Mein Auge reicht nicht fo weit, den 
Triumphirenden Stern nad Stern vorbeyziehen zu fehen, wie ihn 


der alte Dtfried und Scultetus ſchildern und fo ſchlage ichs 


lieber zur Erde, wie mir die Himmelsboten fagen. Sol ich, dem 


1) Stunden mit ihnen, .... aus andrer, herrlicher, 

2) Laſſe es fih ein Dichter nun in den Sinn fommen, dies ver- 
borgne .... fo plan zu made, 

3) würdig, fräftig, 

4) denen uns jedes Wort, jeder Laut die 5) in Bhantafien 


310 


311 


— 23 — 


Wort diefer Engel gerade zuwider, Gefänge lang ftehen bleiben, 
und den mein Blid nicht mehr erreicht, mit meiner Phantafie durch 
alle Himmel und aller Himmel Heer verfolgen, fo unterliegt mein 
Geift, wie mein Ohr und Auge! Ich babe fo viel gejehen, daß 
ih nichts Jah; ich habe fo? viel gehört, daß ich nichts vernommen. 
Ich fomme herunter und greife zu einem — o wie andern Buche, 
meinen treuen Evangeliften. Die fagen nicht mehr, als fie wiſſen: 
fie zeugen nicht weiter, al3 wir begreifen; die Sade, die wir nicht 
begreifen follen, aber wiſſen müfjen, nennen fie nur, und lafien 
den Vorhang finfen. Kurz, m. Fr., der Menfchenjohn ift, wie , 
mi dünkt, viel? zu einfältig, ſchlecht und geringe, daß feine 
Knechtögeftalt Epopee werden mollte; der Sohn Gottes, ber 
auferwedte König der Ehre aber ift* viel zu erhaben über unfern 
Gefichtsfreis, als daß ihn das Auge verfolgen, die Phantafie 
dichteriſch Schildern Tönnte. Beyde Ende, Niedrigfeit und Hoheit, 
Kreuz und Thron find zwar im Geift der Evangeliften, jo mie® 
im Herzen feiner Nachfolger Eins; ich zweifle aber, ob ein Menfchen- 
wert, geichweige ein Epifches Thema fie faflen, fie uns zugleich 
gegenwärtig machen und darftellend fo verfolgen fünne, daß wir 
319 nie feine aus dem Geficht verlieren; immer den ‚groflen Lauf 
Deßen im Auge babend —® 
Der da fam vom Bater ber, 
Und ging wieder zum Vater, 
Fuhr Hinunter zu der Höll, 
Und wieder zu Gottes Stuhl. 
1) Bon Himmelfahrt, Siten .... mag ich Religionsweife gar nicht 
hören. Andreas Scultetus, der alte Otfried, die Jeſum Stern nad 
Stern vorbeiziehen laſſen, bleiben doch noch im unferm Gefichtlreife: fie 
feben, fo weit fie können, wie die Apoftel, und wenden nun ihr Auge zur 
Erden, wie e8 bie Himmel&boten fagen. Sol id mun aber, dem .... 
bleiben und ihn bis zum Thron Gottes durch alle Himmel .... verfolgen, 
fo unterliegt mein Geift, Ohr und Auge. 
2) fab; fo 3) it viel 4) Ehre ift 5) Exangeliften, wie 
6) faſſen, fie darftellend .... verlieren und immer ben groffen Lauf 


fehen — 





— 224 — 


Sehen Sie alles, was ich geſchrieben, nicht für Kritik über irgend 
einen Dichter, ſondern für das was es iſt, für Warnungen an 
einen Schüler der Theologie an, und! ſchreiben mir Ihre Mey- 
nung Mir fommts immer vor: die befte Epopee Ehrifti fey 
dad Evangelium, und der? befte Hymnus auf ihn ein dant- 
bares Herz, ein Chriftliches Leben. Ich wünſche Ihnen beydes, 
und lege ein paar Gedichte bey, die Ihnen wahrſcheinlich beſſer 
gefallen werden, ala meine tbeologiihen Zweifel. Leben Sie 
wohl.? 


Streit der Kindlichen Liebe. 
Eine morgenländifche Babel. 
In Aſiens entlegenften Provinzen 
War eine Königin, der Mütter glücklichſte, 
Sie hinterließ drey wohlgefinnte Prinzen,* 
Wovon fie jeder kindlich Liebete. 3183 
Die ftritten; nicht wie Alerander, 
Um mandjes Yand, um mandes Meer: 
Sie ftritten, edler Streit! nur darum mit einander, 
Wer anı erfenntlichften für ihre Liebe wär! — — 
Der Kampfplag war ein Tobtentempel, 
Bon taufend Lampen aufgebellt. 
Hier war der Aſchenkrug der Mutter aufgeftellt. 
Hier follte fehn die Morgenmelt 
Der Frömmigkeit Triumph und zärtlichfte® Erempel. 
Der Aeltfte Tieß in mandem Land’ 
Nah ſchimmerndem Porphyre fchauen, 
Und aus demfelbigen durch großer Künftler Hand 
Der Mutter Daufoläum bauen, 
Auf welches er den halben Schaß verwandt. 
Der Mittelfte bracht’ aus Idume 
Des Fleißes und der Flora Zucht, 


1) nicht als Entſcheidung, fondern als Zweifel an und 

2) Evangelium,®ber 

3) Gedichte bei, um Sie für meine armjeligen Zweifel wenigſtens 
einigermaßen ſchadlos zu halten — — („Leben Sie wohl." fehl.) 

4) drei Prien, 











314 


Manch ſchön' und feltne Blume, 

Mit feiner Wahl, zu ihrem Ruhme 

Mit Seufzen abgepflüdt, mit Thränen ausgefucht. 
Die alle Tieß er erft zu groſſen Blumenbinden 
Durch tugendhafte Schönen winben. 

Dam Bing er fie betrübt und ſtumm 

Dem Grabmal um. 

Der Iingfte trat hierauf aus einer nahen Halle, 
Das Haupt verhüllt, hervor, und trug in feiner Hand 
Ein Beden von Kryftalle 
Und einen ſcharfen Diamant. 

„Was kann dein Selim dir, erhabner Schatte, geben? 
„Dein Selim, der fo wenig bat! 

„Am Tiebften gäb’ er dir fein Leben! 

„Sein Leben, bein Geſchenk, Doch e8 gehört dem Staat. 
„Smpfange denn fein Blut, das Beſte, was er hat.“ 

So ſprach er, öfnete mit Schmerzen 

Sih eine Aber unterm Herzen, 

Ließ ihrem Burpur freyen Lauf, 

Ting ind Kryſtall ihn rauchend auf; 
Beſtieg mit Demuthsvoller Miene, 

Die ſchwarze Tranerbithne 

Und fett fein Blut der Mutter Urne bey. 

Gerührt erhub das Volk ein jauchzendes Geſchrey: 
„Du, Selim, du, baft überwunden! 

Die befte Liebe quillt ! aus deinen ftillen Wunden — — 


Sie fehen, m. Fr., die Moral der Fabel, im Geift des Chrijten- 
thums betrachtet. — Das andre Stüd, womit id Sie jchablos 
zu balten gevenfe,? jey ein Lobgeſang auf Gott, von eben dem 
Verfaſſer. Es find zwo Stimmen in ihm: die erfte eines Ein- 
jieplers in der thebaiſchen Wüfte; Die zweyte cin unfidt- 
bares Chor der Geifter, ihm antwortend: 


Lobgeſang auf Gott. 


1. Eremitifche Felſen, 
Traurige Felſen, babt ihr in enren Wildniſſen 


on Mit 
2) ſchadlos balte, 
Herders ſammtl Werte X. 15 , 


— 226 — 


Keine denkenden Weſen, 
Die des Ewigen Lob mit mir verbreiteten? 


2. Den Unendlichen lobt man 
Nicht mit Worten allein; beſſer verehret ihn 
Die Bewunderung ſprachlos: 
Dennoch, ſterblicher Mann, rede! wir antworten. 


1. Alle ſüſſen Empfindungen 316 
Welten, fterben in mir, fing‘ ich vom Ew'gen nicht; 
Aber fing ich vom Ewigen, 
So erwaden in mir alle Empfindungen. 
2. Unfer Einig Vergnügen ift 
In Betrachtungen ihn allezeit anzuſchaun. 
Wer ihn einmal nur anfchant, 
Sieht nichts anders mehr an, denfet an nichts jonft mehr. 


1. Monardieen zerftört er, 
Mit geringerer Müh, als ein Gewapneter 
Iene Reiche der Bienen 
Zart und wächſern im Bau, eilig zu Grunde flürgt. 


2. Welten wirft er ins Leere, 
Wie ein irrdifher Dann bin auf den Ader gebt 
Und des Baterlande Speiſe | 
Mit leichtſäender Hand frey in die Lüfte wirft. | 


1. Uns, den Erdegefchöpfen, 
Baut er einen Pallaft, fiehe, dies Erdenrund! 
Rings mit Himmel umwölbet, | 
Zu der fröhlichen Reif Hin in die Ewigfeit. 

2. Aber uns ein Icrufalem, 
Wo die Tächlende Ruh, unfre Gefangene, 
Angefettet mit Blumen, 317 
Ewig freundlich und froh, mit ung zu Tifche Tiegt. 


1. Seine Sonn’ und fein Perlenthau, 
Die das niedrige Thal und die erbabenen 
Seven Alpen befrucdten, 
Epiegeln liberall Gott, überall Gottes Glauz. 
2. Aller Bater, ernähbret er, 
Schmetterlinge mit Thau, Weiſe mit Wifjenfchaft; 
Aber Sonnen mit Erben, 
Und mit Blicken der Huld uns, feine Zcligen. 


— 2 — 


1. Zürnt der hohe Exrhabene, 
So verbleichet die Som’, ftehet im Laufe fill, 
Und die Erb’ überwirft fich, 
Und der furchtfame Mond hüpfet zur Seite weg. 


2. Aber lächelt der Emige, 
Denn gebieret fein Hauch Seelen zu Zaufenben, 
Aus des Möglichen Reiche 
Rollen Monde bervor, ihnen zu Wohnungen. 


1. Als ich neulich zur Sonne fprad, 
Die dort glänzenden Gangs einſam am Himmel ging: *! 
„Schöne Some, fleh ftille! " , 
Sprad fie: „Schöner ift Gott!" eilte verſchämt davon. 


318 2. Als uns neulich in heller Nacht 
Schweſter Luna zufang: „Brüder, der Bater ſchweigt!“ 
Eangen wir ihr zurüde: 
„Wenn er fchiweiget, wie it, wer redet herrlicher ?* 


1. Seyd, bellleuchtende Morgenſtern', 
Eurem Freunde gegrüßt, aber o lehrt ihn auch 
Seinen göttliben Urſprung 
Dur die Tochter der Stimm’ edel verberrlichen. 


2. Dächten feiner Verherrlichung 
Engel Säklen hindurch, Menſchen Neonen nad; 
Blieben ihre Gefänge 
Doc Gefänge des Staubs, unwerth des Ewigen. 


1. Ehrerbietig verſtumm' ich dann 
Bor dem ewigen All. Aber je tiefer id) 
Bor demſelben verſtumme, 
Je mehr bet’ ich es an, je mehr bewundr' ich es. 


2. Ehrerbietig verftunnmen wir 
Dor dem ewigen All. Aber je tiefer wir 
Bor demſelben verſtummen, 
Je mehr lieben wir es, je mehr lieben wir es. 





1) Die alleine dort ging: Himmels Einöd' hinan: 2) bewunbre ichs. 


— BB — 
Zwanzigſter Brief.' 319 


Berzeihen Sie, m. Fr., dab ich Ihre Bitte nicht erfülle und über 
Klopftods Meßias, die heilige edle Epopee unfrer Sprache beſon⸗ 
ders rede. Ich redete biöher eigentlich nicht von ihm; ſondern 
(Sie wiffen, wie Sie ſelbſt die Sache veranlaßt haben) eigentlid 
nur allgemein? über Epifhde Gedichte diejes Inhalts. 
Klopftod kann Ausfünfte getroffen haben, an die ich nich jo beut- 
lich nicht mehr erinnere: denn es ift Sabre ber, ſeit ich feinen 
Meßias mit Liebe und Hohadtung gelefen babe. Mic jest in 
eine Unterfuhung darüber einzulaffen, ift auch deßwegen meine 
Sade nicht, theils weil ich fett Jahren alles, was öffentlicher 
Kritit nur ähnlich fiehet, fcheue und lieber mit mir felbft wohne; 
theil3 weil diefe Unterfuhung zu unfrer Abſicht gar nicht gehöret. 
Mein Zweck ift nämlid nicht, Sie zum Kritilus der Dichtkunſt 
zu bilden, fondern vielmehr fie davon mwegzubilden, falls fich die 
ſanfteinſchmeichelnde Dichtkunſt mit der Glaubensgeſchichte zu nahe 
befreunden follte. An mehreren Jünglingen unſres Poefte - reichen, 
weichen Zeitalter8 babe ich diefe freinde Vermiſchung bemerkt und 320 
mag aljo felbft meiner Abficht nicht entgegenarbeiten. Zu ihr 
müßte ? ich Klopftods Meßias, wie jener Mathematiker den Virgil 
durchgehn; alles Dichterifche benfeit fegen und nur Sade, Wahr⸗ 
heit, Coangelifhe Geſchichte“ ſuchen. Belohnte der Erfolg die 
Mühe? Ich entkleidete ein jchönes Werk von feinem Schnud, um 
‚ein Skelett zu finden, das weder Sie, noch ih, zu fehen, gewiß 
auch nicht der Dichter zu geben wünfchte.® 

1) Die erften Abjchnitte des VBriefes in A (S. 335 — 339) enthält der 
Anhang (Band XI) unter I. 

2) wie die Sache veranlaßt iſt) allgemein 

3) feit ich feinen Meßias geleſen. Defto beßer, wenn ers bat. 

Mich jet .... Sache nicht, weil ich feit Jahren .... ſelbſt wohne. 
Zu unferer Abficht müßte („theil8 weil dieſe — entgegenarbeiten.“ fehlt.) 

4) Geſchichte in ihm 

5) Im Mſe. ſchließen fich bier folgende burchftrichene Sätze an: „Ueber- 
haupt ift jegt, von Klopftod und nicht von Klopftod zu reden, beinah 














Lieber befolge ich den zweyten ! Theil Ihres Briefes und 
vede von Hymnen weiter. Der Dichter, den wir eben genannt 
haben, ift Einer der größeften Hymnen - Dichter. Sprache und Seele 
hebt fi, wenn in feinen Meßias Gefänge, Empfindungen, Elegien, 
Hymnen tönen: alles wird Jubel, Thräne, Wohlllang. In feinen 
Oden find trefliche, einzige Stüde diefer Gattung, ob ih ihm gleich 
bie und da in feiner myſtiſchen Metaphyſik über Gott nicht folge. 
Gein Pfalın, feine Empfindungen über die Sternenmwelt und überhaupt 
über das Heilige ? in der Schöpfung find feyerlihichön und werben 
ſich Ihrem ftillen Sinn längft empfohlen haben — — Einen 
andern Gang von Hymnen haben wir der einſylbigtönenden Eng- 


gleich gefährlih. Gewiße feiner Jünger (Er, der befcheibne, gütige Mann 
gewiß nicht) wollen, daß alle von ihm und daß ja niemand etwas über 
ihn fagen fol. Nur anſtaunen fol man, nur bemundern, und bazu bin 
ich nicht gefchaffen. Das ift ein hartes Gefchäft, ärger als mit ewig auf- 
blickendem Kopf und auf- und abgezognen Schultern hartes Holz fägen. 
Selbft Toben kann man ihnen nicht zu Dante; wie vielmehr nun, wenn 
man die Sade der Wahrheit, Religion und Gefchichte, abgezogen von aller 
Dichterei, nadt in ihm fuchte? Und denn feine Jünger? Käme mein 
Brief in eines ſolchen Jüngere Hände, fo wäre ich wenigftens ein Judas, 
ober ein Chriftusverräther. Einer von ihnen hats laut gejagt, es babe 
zwei große Tage fürs Heil der Welt gegeben: Einen, an dem die Erlöjung 
durch Chriſtum gefehehen, Einen, ba fie dur Klopftod befungen fei; und 
ein ander Jünger that gleich den Dornenfranz binzu, ben beide, Chriflus 
und Klopftod, um Einer Sache willen getragen. Wie entfernt bin ich, auch 
nur meine Hand an diefen Kranz zu legen, infonverheit, da c8 mein Wert 
gar nicht feyn Lönnte, die Rorbeern, die der Dichter jo rühmlich und einzig 
trägt, zu vermehren. Ja was hillfe e8 endlich, fein Gedicht mit ber 
Geſchichte, den Dichter mit den Evangeliften zu vergleichen, da neulich 
Einer feiner Schiller laut gefagt bat, Klopftod babe ben SHefeliel ver- 
begert, fo augenſcheinlich verbeßert, daß diefer ihm danken wilrde, wen 
er fein Prophetenftüd in diefer Verbeßerung läſe. Diefelbe Stimme (denn 
ein Kopf kann e8 wohl nicht gefagt haben) würde ausruffen: was fchabets ? 
auch die Evangeliften bat er verbeßert, Chriftum verbeßert — alfo..... 
überheben Sie mich der mißlichen Arbeit. 
1) dritten 
2) Empfindungen ber Sternenwelt und überhaupt des Heiligen 











— 20 — 


liſchen Sprade, und ihrem hellen Tubaton zu danfın. Syn ihr 321 
waren die Palmen lange ſchon in chen dem kurzen metro, das 
ihr als die ältefte Volksmelodie jo lieb ift; daher auch Milton 
und Neuere die Pſalmen meiftens in diejem und etwa in ein paar 
andern Sylbenmaafien gegeben haben.” Ohne Zweifel fennen Sie 
mande fchönen Gelänge Addiſons, Popens u. a. auch über 
Chriſtliche Gegenftände;*) im Grunde aber iſt? Milton der Vater 
diefes Jamben⸗-⸗Hymnus, defien erſten Klang ihm offenbar ber 
104. und einige andre 3 Pfalmen gegeben. Sein Lobgejang auf 
die Geburt Chrifti ift Ihnen gewiß befannt, aud die Stellen im 
Young, die an den Hymnus grenzen. Im Deutichen weiß ich 
in diefer Manier nichts, das ich dem ſchönen Kleiftiichen Lobliede: 
Groß ift der Herr! vorzöge.. So hier, als in andern Stellen 
feiner Gedichte hören * wir den Schüler Gottes im Heiligthum der 
Natur, den Mann von gutem Herzen und immer richtigen Ver- 
‚Stande. Mid dünkt, er kommt unter allen neuern Dichtern an 322 
bündigem Geſchmack dem Dpis am nächſten; in dem Gie aud) 
einige männliche Lobgeſänge auf Gegenftände der Religion finden 
werden. Meberhaupt find dieſe Gegenftände mit der herzlichen, 
wahren Sprade, die ihnen gebührt, von unjern ältern Dichtern 
mehr befungen, als von den neuern; laffen Sie fih alfo nidt 
*) In einer Deiftifyen Yiturgie (a liturgy un the universal prin- 
ciples of Religion and Morality. Lond. 1776.) die ein D. Willianis 
beransgegeben, find profaifch und poetifch die beiten Stüde gefamnilet.! 

1) in ibm und .... gaben. 

2) Gegenſtände; in einer Deiftifchen Yiturgie, bie ein D. Willianıs 
vor wenig Jahren berausgegeben,*) ftehen Proſaiſch und Poetiſch die beften 
Stücke. Miltons und Thomfons Hymnen find eingewebt; und im 
Grunde ift 

3) und aubre 

4) Gedichte, feines Frühlings, dev Idyllen, des Geburts- und Grab- 
liebes hören 

5) dem, fo wie in Scultetus und Flemming 





1) A gibt als Anmertung *) num ben Titel A liturgy — Lond. 1776. 








— 231 — 


verdrießen, fi um bie auch weniger befannte Namen, Dad, 
Riit, Franke, Scultetus, Flemming u. a. zu bemühen; Sie 
finden über Moraliſche und geiftlihe Saden, unter manchem 
Gemeinen, zumeilen ſehr ſchöne Stellen, in einer ſchönen herz: 
lihen Sprade.*) Unter! den neuern Dichtern finden Sie in 
Gellert, Uz, Cronegk theila philofophifhe Hymnen, theils 
Chriftliche Lieder, und falls Ihnen die Feine Sammlung Weih- 
323 nahtsgefänge E. A. Schmidts zur Hand fommt, werben Sie 
auh da gute Stüde, rein gejagt und zart gedacht, antreffen. 
Gramers Pialmen und Oden, unter denen feine Auferftehung 
befonder8 berühmt ift, darf ich nicht erft nennen oder empfehlen; 
und fonft giebt es bie und da zerftreut, vortreflihe Stüde, dic 
jemand, doch ohne daß cr die allbefannten Dichter plünderte, 
gefammlet herausgeben follte.**) Der Hymnus auf den Gieg 
des SHeilandes, den ih ihnen vor einiger Zeit fandte, war 
von Witthof, in einer längft vergriffenen? Sammlung feiner 


*), In der grofien Anzahl derer, die die Pſalmen verfificirt, muß ich 
auch den älteften Dichter der neuern Poeſie, Wedherlin, nennen. Seine 
Pſalmen find in einer bündigen, Gedankenvollen Manier; bier und ba aber, _ 
nach der Weife feines Zeitalters in England, mit Beftimmungen und Wör- 
tern liberladen, und alfo für uns unharmoniſch. Es follte fie jemand 
fließender machen und die nervenwolle, ſchöne Sprache fänbern.! 

**) 88 iſt dies neulih von 9. Füßlhi unter dem Titel gefcheben: 
Der heilige Geſang der Deutfhen Züri 1782. 


1) neuen; bei denen Alles fih mehr in Worte und Manier zu ver- 
laufen ſcheinet. Laßen Sie ſich nicht verbrießen, .... Franke u. a. zu 
bemühen; Sie finden .... herzlichen Sprache. In der groffen Anzahl berer, 
die die Pſalmen verfifieirt, muß ich infonderheit den älteften Dichter ber neuern 
Boefie, Wedherlin, nennen. Seine ‘Pfalmen find in einer bündigen, 
Sedantenvollen Manier; bier und da, nad der Weife feines Zeitalters in 
England, mit Beſtimmungen und Wörtern überladen, aber ſehr liber die 
gemeine Sphüre — — Unter 

2) einer beinab unfichtbaren 


1) „*) In — fänbern.” fehlt. 


— 1 — 


Gedichte.*) Die zwey Gedichte, die ich neulich beylegte, find von Göß, ı 
deſſen Arbeiten, fo mander Art und fo feinen Geihmads und fo 
zerftreut und unter unwürdige verborgen, gewiß vor andern geſamm⸗ 
let zu werben verdienten. Unter der Karſchin Stüden find einige - 
vorzügliche Gedichte diefer Gattung, zur Probe lefen Sie das ie, 
7be, 8. 10. 13. u.f. Mich dünkt, es ift Schade, daß die Did- 
terin von ihren Jugend» und Volksempfindungen, bie in ihren 
Gedichten gerade immer die treffendften Stellen find, unter Klaßiſche 324 
Litteratur gerathen ift, bie fie nicht nugen konnte, und wo fie 
ſich ſelbſt verlohren. Wenn Ihnen (Hubers) Verfuche mit 
Gott zu veden**) in die Hand fallen: fo laſſen Sie fih vom 
Titel nicht abjchreden, die mande guten, nur etwas harten Stüde 
näher kennen zu lernen. Rammlers kurze Rhapſodie: Zu dir 
entfliegt mein Gefang! Gerftenbergs Hymne an Gott 
(infonderheit unverkürzt in der erjten Ausgabe des Hypochondriften) 
Shafteshuri fo philofophifchen Lobgefang auf die Natur in fei- 
ten Moralists, manche jchöne Poefien von Lavater — ohne! 
"Zweifel fennen Sie dieſe fhönen Stücke. Ich hätte große Luft, 
Ihnen den Anfang der Vorrede des Perfers Sadi? zu feinem 
Rofenthal und einen Arabiſchen Lobgefang auf Gott herzufegen, 
ber, wie überhaupt mehrere Gebete der Morgenländer, das Hod)- 
erhabne Gottes und die Niebrigkeit der Menſchen treflich ſchildert; 
doch davon und mandem andern ein andermal. Ich ſetze noch 
ein paar Worte hinzu von Liedern. 


*) Sie find unter dem Namen: Witthofs alabemifche Gedichte 
wiebergebrudt, aber mit Veränderungen, bie mir bie alte Ausgabe noch viel 
lieber gemacht haben.! 

**) Reutlingen 1775.3 


1) Sott von Engeln und Erzengeln, dem Genius bed Menfchen 
und einigen abgeſchiednen Geiftern, (infonberheit .. .. fo philofophifcher 
Lohgefang auf die Natır und ihren Schöpfer in feinen Moralists, — ohne 

2) des Sadi 


1) „N Sie — haben.“ fehlt. 3) „**) Reutlingen 1775.” fehlt. 








— 13 — 


Chriſtliche Lieder ſind dem Herzen faſt noch nützlicher, als 
325 hohe philoſophiſche oder poctifhe Hymnen. Der Menſch iſt ſelten 
bes Hymnus fähig, und wenn ers ift, ift ers nur in Augen» 
bliden des Auffluges, der Aufmallung, der Umfaflung Him- 
mels und der Erbe; bald finfen ihm die Flügel und er kriecht! 
auf feiner Erbfcholle weiter. Wohl, wenn er auf ihr wenigſtens 
Jinget und fein Herz, fein Pulsichlag, fein Geſchäft, fein Leben 
ein ftilles, vergnügtes Chriftlihes Lied if. So meifet uns 
Chriftus auf die Vögel des Himmels; fo find feine eignen Worte 
und Gebete meiftens ftile Lobgefänge in erhabner Einfalt, das 
Bater Unjer jelbit ift Eins dergleichen: und fo will Baulus, daß 
unfer Herz immer ein foldes Saitenfpiel Gottes feyn fol. Daß 
das Chriftenthum ſchöne Gefänge allerley Art und mandherley ? 
Inhalts, alt und neu habe; daß unfre Sprade und die Prote- 
ſtantiſche Kirche infonderheit einen Reichthum derſelben habe — 
lernt nur Der 3 einfehen und ſchätzen, der die Wirkung berjelben, 
oft in fehr fimpeln Worten, in Kunftlofen, herzlichen Ausdrücken 
und Strophen bey beftimmten Gelegenheiten und einzelnen Fällen 
fiehet. Wie der Gefang das Wort belebt: fo beleben Geſänge die 
treflichften Lehren und Pflichten des Wortes Gottes. Abſtractio⸗ 
nen und Tändeleyen follten in Liedern feinen Platz finden; deſto 
326 mehr, mas Geift und was Herz ift, in der Religion und im 
Leben. Geſänge folder Art find Troft, und Lehre des gemeinen 
Volks, eine ihrer Empfindung nahgebrachte Religion, kurz die für 
fie belebte Bibel. Ich wüßte nidt, was an Erquidung und 
Wirkſamkeit über ein gutes Lied gienge,; nur freylich Die neuge- 
machten, umgefehrten und veränderten Lieder find nicht immer 
biefe guten, diefe beften Lieder. — — Für heute gnug: und Bier 
Etwas zum Erſatz deſſen, mas meinem langen Regifter von Hym- 
nen und Liedern abgeht. 


— — nn — 


1) keucht 
2) Art, mancherlei 
3) lernt der nur 





— U — 


Auf den Tod feiner Mutter. 


Hellglänzend auf einer Wolfe des Abendroths war der Cherub herab: 
geftiegen, der Seele meiner Mutter zu fagen, daß fie vor Gott müßte. Sie 
erfhrad fo wenig, als ein junger Held erfchridt, der in ben Pallaft geruffen 
wird, aus ber Hand des Königs, für den er gefieget, ben Lorbeer zu 
empfangen. Frölich verließ fie den Körper, umſchwebt' ihn und fagte: 

„O mein getreuer Gatte, fo müffen wir fheiten! Du mein anın- 
feliges Hlittlein, da8 die Sünde mit mir gemicthet bat, jetzt bift bu nieder 


gerifien! Du mein irrdifcher Menſch, wie jämmerlich bat fie dich mit blu- 327 


tigen Striemen gezeichnet, bis du erliegen mußteft. 

„Die bunten Blumen, die ſchönen und glänzenden Mufcheln, die wir 
am Meere der Eitelleit mit einander gefammlet, und damit Schürze und 
Gewand angefilllet haben, verwelfen und vergeben jetst mit Dir. 

„Deine Augen haben ausgeweinet über ihre und anderer Sünden. Sie 
bliden nicht mehr gebrochen dem Simmel zu, von wannen bir Hülfe kam. 

„Du bift nicht mehr gezwungen, dich unter Kleine Tyrannen zu beugen, 
die ſtolzer als große find; noch mit den Kindern der Thorheit auf ber 
Sherfläe der Erbe zu laufen. 

„Deine Hände, welche ber Nothdurft der Heiligen gebienet, und beine 
Füße, die feinen Weg gegangen, als der zum Hauſe Gottes führte, finb 
glüdlich gebunden. Die Vorhänge einer tiefen Mitternacht find um bich 
gezogen. 

„Slüdfelig bift du, mein Leichnam, glüdjelig! Ein Stoß des Dieers 
bat dich zerbrochen und an das Ufer geworfen, wo bu heil wirft. 

„Run biſt du außer Gefahr, auf aumuthige Abwege zu gerathen, 
und ftrafbar oder beftraft zu werten. 

„O gnug geplagter, ruhe nur ein wenig im fühlen Echooffe der Erde; 
gebulde did, bi® dein Gebein Staub geworden, in der Infel bes Todes. 
Bald ſollſt du, mit Strahlen der Ehre gefrönet, in die flilen Auen bes 
Frieden® wieder zu dem kommen, von welchen alles, was bu ſchönes 
gefehen, matte und entftellte Schattenziige find. 

„Wefte, weht ihm Kühlung von biefen Delwipfeln zu! Berwefung, 
gehe fanft mit ihm um! Und bu, mein geliebter Cherub, bebede ihn mit 
beinen Fittigen, bis die Diorgenröthe der Ewigkeit aubricht.“ 

So fprah die Seele meiner geliebten Mutter und entflob. Ihr 
Scutsgeift, inden er ihr mit ſchimmerndem Finger die geftirnte Straffe 
wies, antwortete alfo: „Ich will bey deinem Leichname bleiben, fliehende 
Seele, bis du dich ſchöner mit ihm vermäßlen wirft. Ich will nicht zuge- 
ben, baß ihm Uebel over Leib wiberfahre. Alle feine Schmerzen find jeto 


328 


— 235 — 


Triebe gemorben. Siehe, ich flelle meinen Reiſeſtab an diefe Euprefle und 
lege meine Fittige ab, um nicht von ihm zu weichen; biß er, mit der zwo⸗ 
ten Erde vernenet, vor dem Meßia erfcheinet und nicht erfehridt, ihn Bru- 
der zu nennen; bi® er fein Gefpiele im Reich der Liebe geworden.” 


329 Ein und zwanzigiter Brief. 


Wir Haben lange gefeyert; es iſt Zeit, daß wir wieder an 
die Arbeit gehen, ob ich wohl in Anfehung unjers Plans, da wir 
bob auch einmal von Hülfsmitteln Geiftlider PBorträge 
reben werden, Die Feyer nicht für Müßiggang Halte Sch bitte 
alfo, heben Sie diefe Briefe auf, um fie einmal, wenns Zeit feyn 
wird, wiederlefen zu können; jet fahren wir fort, mo wirs lieſſen, 
bey der Citation des alten, im neuen Teftament. 

Und da dünft mid die fichere Hauptregel diefe, Evange- 
liften und Apoſtel jo einfah und ungefünftelt ſprechen 
zu lajjen, als fie fpreden, als der Geift ihrer Schriften 
überhaupt if. Sie werden nit in dieſem Einzigen Stüd 
anders ſeyn, als in allen andern; am wenigſten Judengelehrt, 
wisig und rabuliſtiſch, daß fie duch Kunftgriffe der Auslegung 
fih eine andere Deutung hätten erſchleichen wollen, als von der 
ihre Seele überzeugt war. Sie verftanden in ganzen Ernft die 
Stellen, die fie von Chrifto anführten, von ihm: fie fanden ihn 

330 überall im A. T. und fagen frey und offenbar: „von diefem Jeſu 
zeugen alle Propheten.” Jeſus nicht minder, der in mehr als 
Einer Stelle alle Schrift des U. T. auf fich deutet, ſie alfo 
allgemein! als Zeugin von fich betrachtet, und ſich in Moſes 
und der Propheten Munde findet. Ich fehe nicht, wie man dieſe 
Sprüche drehen, die Schärfe derjelben abmeten, geſchweige Chrifto 
oder den Seinen Zweckmäßiggeſuchte künſtliche Accomodatio- 
nen Schuld geben fünne, von denen ihre Gelehrjamleitlofe Einfalt 
jo weit entfernt? war. Vielmehr wird Alles Har und eben, wenn 


1) fie allgemein 2) Einfalt überdem entfernt 





— 236 — 


wir Ihn, feinen offnen Ausfprüden zu Folge, für die totale 
Summe, für den letzten geiftigen Inhalt des gefammten A. T. 
halten, und fein! Reich als die Verheißung anfehen, die den 
Vätern gegeben, von den Propheten immer mehr und ınchr, 
heller und dunkler, näher und ferner entwidelt war. Gein 
Geift und feines Reichs Zukunft hatte das ganze Gebäude ber 
Schriften A. T. erfüllet; und aus dieſem großen Haufe führen 
nun Evangeliften und Apoftel an, mas ihnen zunädft tim Auge 
und bey der Hand Tiegt, mas fie jett brauchen? Bey Citation 
der Stellen machen fie fich feine Sorge, ob dieje zuerft, zunächſt 
beweife? ob feine andre treffender jey? ob jene zu ihrer Zeit 
nit einen nähern Vorfall betroffen babe? Sie ſprachen zu ihrem 331 
Bolt in den allgmein angenommenen Grundſätzen befielben, in 
denen auch fie erzogen, unterrichtet, in denen aud die Feinde die⸗ 
jer Anwendung mit ihnen Eins, unbezweifelt Eins waren, unb 
die doch nicht falſch ſeyn müflen, weil der Geift Gottes fie 
bejtätigt bat und fie einem vernünftigen, würdigen Got- 
tesz3wed des A. T. fo gemäß find. Gnug, die Anführung 
des A. T. geſchah in feinem andern Geifte, als in welchem ſämmt⸗ 
liche Schriften des N. T. geftellet find, im Geift der Einfalt und 
thörihten Vredigt. Wo find die Klugen? fagt der Apoftel. 
Wo find die Schriftausleger? Wo find die Weltmweifen? 
Hat nit Gott die Weisheit diefer Welt zur Thorbeit 
gemacht? Weil die Welt in ihrer Weisheit Gott in fei- 
ner Weisheit nicht erfannte, gefiel es Gott wohl durd 
thörichte Predigt jelig zu machen, alle die, jo daran 
glauben. So reden die Apoftel und fo geben fie felbit die Regel, 
nah der fie citiren,3 unverholen an. Sie wollen nicht gelebrter 
und fünftlicher feyn, als fie find. Sie Sprechen über diefe und 
aus diefen Stellen ald Zeugen, daß Gott ihren gefammten Sinn 
in Jeſu entmidelt, befräftiget, befiegelt habe. Site räthieln 
1) für Summe und Inhalt... . halte, fein 


2) brauchen. Sie bringen nit immer den Silberfchrant getragen; 
jest thut ein Nagel, ein Hammer Dienfte. 3) citiren, oft und 


— 237 — 


Jeſum nicht aus ihnen heraus; fondern fie deuten auch dieſe 

332 Stellen auf ihn, meil alles fih auf ihn bezogen babe, weil 
alles in ihm erfüllt jey und Gott diefe Erfüllung vom Himmel 
bemiefen.*) 

Veberhaupt, dünkt mis, m. Fr., daß wir die Schriften der 
Evangeliften und Apoftel viel zu gelehrt lefen; da beybe doch Feine 
Gelehrte waren und eigentlih auch für Gelehrte nicht fchrichen. 
Wenn ich bedenke, welde Bürden von Anmerkungen und Erläu⸗ 
terungen auf diefe Schriften gemälzt ſeyn, unter denen ihr Geift 
oft gar nicht fort kann, und feine Wirkung vielmehr verlieret; fo 
weiß ih nicht, ob ich das Chriſtenthum bedauren oder bejauchzen 
ſoll, daß es in jo gelehrte Hände gelommen? Sie wiſſen, wie 
es dein Ariftotele8 ging, da man Jahrhunderte über ihn, als über 
lauter Orakel commentiret: fie wiflen, wie dem 4. T. von den 
Händen mander Rabbinen, dem Koran von den manderley Secten 
der Muhammebaner begegnet worden, ſobald man fi einmal hins 
feßte ! zu commentiren und ala ob alles Dunfelheit wäre, erft 
Licht hineinzufhaffen. Hiemit war das klärſte Licht dunkel 
und die heiterfte Ausficht Nebel; jollte eg mit den Schriften des 
N. T., die ausdrüdlih für die Einfältigen gefchrieben find, anders 

333 gegangen ſeyn? Nicht, ala ob ich von der Parthey derer fey, die 
alles Nachdenken, alle gute, infonderheit Zeit- Ort: Spraden: 
fenntniffe, ja gar allen gefunden Berftand haſſen und auf Licht 
vom Himmel, auf innere Eingebung warten. Die Apoftel haben 
mit ruhigen Geift, mit guter Ueberlegung, mit Zeit» Ort- Sprad- 
fenntnifien gejhrieben, jo müflen fie auch gelefen werben, mie 
alle andre vernünftige Schriften. Aber nur, daß man nidt zu 
viel und zwar fremde Gelchrjamteit Hineinbringe, am mwenigiten, 
daß man fie mit Spikfünbdigfeiten, die fie felbit loſe Verfüh— 
rung nennen, erwürge. hr Geift ift Nechtichaffenheit und Wahr- 
heit,? das Weſentliche in ihnen wird nur durch Uebung erkannt 


*) Apoft. 2,22=32. 8.3,16-26. 8.10, 38. 39. 
1) dahinſetzte 2) Rechtichaffenheit, Wahrheit, 











— 33 — 


und lebendig. Erlauben Sie alfo, daß ich ftatt weiterer ſpeciellen 
Regeln, die Sie in manderley Büchern finden Tünnen, Ihnen 
einige Züge von dem aud in unfern Tagen fo fehr mißhandelten 
Chriftus entwerfe. hr Stiller Fleiß wird Diefelbe aus der 
Erzählung der Evangelüten fo wie aus der Anwendung der Apoftel 
ſich jelbft ausmalen und ins Herz fchildern. ! 


Einige Züge zum Bilde Chriftus.® 34 


"Auf dem ganzen Kampfplatz chriſtlicher Ketzereyen erinnere 
ich mich feines unmürdigern Haders, als der unter dem Namen 
von Eutyhianern und Neitorianern, von Monophyjiten und 
Monotheliten, cigentlih aber von der griedifchen Möndsfubtt- 
lität, vom gäbrenden Biihofsftolz und von der unfinnigen Ent- 
ſcheidungsſucht der Kaiſer Jahrhunderte lange Zeit geführt "oder 
genährt wurde. Mit Mönchsworten wollte man beftimmen, mas 


1) „Erlauben — ſchildern.“ fehlt. In A (S. 353 — 366) folgt der 
Abſchnitt: „Die Wahrheit — Sammlung zu leſen:“ Bol. den Anhang 
’ (B®b. XI) unter II. Darauf folgen in W die „Ausfprüche der Jüdiſchen 
Väter,“ wie unten ©. 360 — 363. 

2) Diefer Abſchnitt fehlt in A. 

3) Im Dife. des fünfundfunfzigften Briefes (Theil V) Bilden folgende 
Abſchnitte den Anfang: 

„Sie Hagen, daß ih übers N. T. fo kurz gewefen und daß infon- 
derheit, auch da ich unter den Dogmatiſchen Artikeln von Ehrifto babe reden 
wollen, Sie mir mit Ihrem Apolloniuß von Tyana und Ver— 
faßer des Zwecks Jeſn gerade zur Unzeit in Die Quer haben kommen 
miüßen, woburd ber ganze Ton polemiſch geworden fei. Nun dann! wir 
tönen nachholen und wollen über eine jo Liebe Geſchichte und Lehre nicht 
mehr polemifiren. 

Auch bier fange ich mit meinem alten Sat an: Sie müßen das Fchen 
Jeſu menfhlich leſen: venu und nur denn leſen Sies recht. So ſchrie— 
bens die Evangeliſten, ſo laſens die erſten Chriſten, ſo laſens zu allen 
Zeiten, auch in den dunkelſten Jahrhunderten die, Dies zur Erbauung, 
zur Wahrheit, zur Nachfolge leſen wollten. 


— 239 — 


feine menfchliche Vernunft, die nicht einmal die Vereinigung unſrer 
Seele und unſres Leibes zu Tennen vermag, je wird beftinmen 
fönnen, nämlid die Bereinigung der beyden Naturen 
Chrijti, und benebelte damit den gefunden Anblid feines gan- 
zen Lebens, wie ihn die Evangeliften ohn' alle ſolche Wortbeitim- 
mungen geben. Unſre proteftantifche Kirche hat nichts mit dieſem 
griehifhen Mönchswahn zu thun: denn ob er fich gleich in diefelbe 
bei Gelegenheit eines andern eben fo unfeligen Streit3 von ber 
Allgegenwart des Leibes Chrijtt hat einfchleichen wollen; fo haben 
doch aufgeflärte Theologen ihm zu rechter Zeit gefteuert./ Einem 

335 göttlihen Phantom, das auf der Erde manbelt, darf ich weder 
nachahmen noch nachdenken, und da Paulus, da alle Evangeliften 
lagen: daß Chriftus ein Menſch wie wir gemefen, aller- 
dinge feinen Brüdern gleih und allenthalben wie wir 
verfudt, damit er Gehorfam lerne; da alle Apoftel es uns 
zur Pflicht machen, ihm auf der Bahn der Tugend im fchmerften 
Kampf nahahmend zu folgen: jo ift für jeden Chriften, für jeden 
hriftlihen Theologen der menſchliche Chriftus fein Bild in den 
Wolken zum Anftaunen, fondern ein Vorbild auf Erden zur Nach— 
ahmung und Lehre. Jede Schrift, die dies Vorbild, die Geftalt 
des reineften Menſchen auf Erden hiſtoriſch entmwidelt und moralifch 
darftellt, ift cin evangeliihes Buch; jede ſcholaſtiſche Spitzfindigkeit 
hingegen, die ihn zu einem erhumanen Blendwerf madt, ift den 
Schriften de8 N. T. gerade entgegen und fchäblic.! 


1) Hier fließen fich im Dife. des 55. Briefes folgende Sätze an: 

„Heßens Gefchichte Jeſu hat einen allgemeinen Ruhm der nützlichen 
und lehrreichen Entwicklung, infonderheit aus der Gejchichte ihrer Zeiten; 
ih babe fie aber leider! nicht, oder nicht ganz geleſen. Wenu ich Einen 
Theologen unfrer Zeit lenne, der Chriftum im diefer reinmenſchlichen, 
edlen, göttlihen Geftalt ohne Schwärmerei und Scholafticisinus ins Auge 
gefaßt und für Menfchen beberzigt bat, iſts Lavater — bie und ba und 
id) möchte fagen, fo oft ers kann, im feinen ſchönen, Ichrreichen Schriften. 
Wenn Sie bei ibm auf Hypotheſen floßen, die Ihnen übertrieben fcheinen, 
fo lagen Sie dieje feiner Individualität; den rein menſchlichen Blid 
aber (ich wiederhole den Ausdrud) mit dem er die Geftalt und das Yeben 








— 2140 — 


1) In Stile und Armuth wuchs der edle Unſchuldige auf, 
fern von Serufalem und den Pharifüerichulen, aber auch eben fo 
fern von Pracht, Ueppigleit und der verderbenden Eigenliebe. 
Seinen armen Eltern untertban, von Jugend auf an ihre harte 
Arbeit gewöhnt, und für fi ftille in den Propheten forichend; 
fiehe! das ift mein Knecht, den ich erwählet habe, mein 336 
Liebling, an dem meine Seele Gefallen bat. Er wird 
nicht zanken, noch ruffen: fein Geſchrey wird man nidt 
hören auf den Gaſſen. Die Gottheit jorgte dafür, daß er von 
feiner verberbenden Form, von feinem aufblähenden Wortgeſchwätz 
auch in feinen zartiten Jahren misbildet würde: fein Blid in die 
Propheten blieb Kar, fein Herz frey und aufridtig; der Sohn 
einer Unbefledten wuchs keuſch und gejund heran, voll Weis- 
heit und Anmuth vor Gott und den Menſchen: das Bild 
eines Kindes, eines Sünglinges, der einft Mann Gottes jeyn wird. 

2) Im dreyzehnten Jahr erwachte feine Seele zuerft — im 
Tempel: Hier fand er fih im Haufe Jeines Baters, und 
zugleih in feinem Eigenthbum; die Verwundrung derer, bie 
ihm zubörten und mit denen er fich befragt. Aber Trotz dieſes 
innern Beruf, Trotz dieſes entjcheidenden Winkes für fein ganzes 
Leben gieng er mit jeinen Eltern zurüd und blieb ihnen unter- 
than. Bis ins dreyßigſte Jahr feines Alters war der Sohn Gottes 
auf Erden unbefannt, und ließ feine jugendliche zur männlichen 
Weisheit reifen. Ja auch in dieſem Jahr z0g ihn die Gottheit 
gleihfam unerwartet und ungeſucht hervor. Eine Stunme vom 
Himmel, die ihn den VBielgeliebten, des väterlihen Gottes 337 
innige Freude nannte, und das ſchöne Symbol feines Charaf- 
ter3, das über ihm ſchwebte, zeigte, meld ein Geift auf ihm 
ruhe, und zu melden Bilde er fi in feinen verborgnen Jugend⸗ 
Jeſu umfaßt hat, machen Sie fi eigen: dem dies Verdienſt, fein ſchönes 
Ideal der Menfhlichleit md Menfhentugend, werben ihm aud 
feine Feinde nicht nehmen. Ich winſchte, daß er eine Geſchichte des 
Lebens Jeſu, nur in Proſe, fchriebe: fic wiirde vielleicht die niltlichfte 
feiner Schriften werben.” 


— 1 — 


jahren gebildet habe. Sohn Gottes war dies göttliche Bild: 
Einfalt und Unſchuld, Sanftmuth und Liebe waren der Tauben— 
charakter, den die himmliſche Erſcheinung bezeichnen ſollte: ein 
heiliges, duldendes Lamm nannte ihn Johannes, als er ihn 
ſah. Ein ſolch Gepräge befam auch feine Religion und Lehre: er 
der willige Sohn und Gott fein innig-geliebter Pater: alle 
Menden Kinder Gottes und Gott ihr innig»geliebter Vater. 
Siehe da das Himmelreih, das Chriftus der Erde brachte, die 
ältfte, einfache, veine Geftalt, zu der er die Menjchheit hob! 
Außer ihr ift auch Fein ChriftenthHum denkbar. 

3) Der berufene Prophet Gottes mählte fih einige Männer 
zu Schülern, mit denen er ald mit Brüdern umgieng, die er 
mehr thätig ala wörtlich lehrte und denen er ihre ſchwerſten Pflichten 
zuerft ſagte. So that ers jedem, der ihm folgen wollte und ver- 
mied die Menge: ein Kleines, faft verlohrnes Samentorn ließ er 

338 auf der Erbe, das er aber auch, wie fein Abſchied und lebtes 
Gebet zeigt, deſto werther hielt, und als den koſtbarſten Schab, 
als den fhönften Raub feines Lebens in die Hände feines Vaters 
legte. Ein aufmunternder Zug der Geſchichte Chriſti! Als die 
Gottheit ihren Sohn auf die Erde fandte, mußte fie feinen reinern 
Stand für ihn, als die Lebensart eines aufrichtigen, beſcheidnen 
Lehrers. Als König würde er Jünger und Anbeter gnug gehabt 
haben; aber falſche Jünger, unreine Anbeter, bie dem Glanz fei- 
ned Standes mehr als der Wahrheit gefolgt wären, und alfo auch, 
da alles Unlautre fi wie ein ſchädlicher Schatte verliert, unmög- 
lih die daurende Wirkung hervorgebracht hätten, die jegt von den 
wenigen, armen Chriftusfchülern in die Welt verbreitet worden. 
Auch darinn follte der reinite Lehrer der Menfchen die härtefte 
Prüfung beftehen, daß er fein Werk den Schein nah jo 
unvollendet nadlaflen mußte, daß da er die Welt verließ, er das 
Samenkorn kaum verweilen ſah, das feine Auferftehung erſt aus 
der Erde hervorlodte.e Er tft beitanden in feinem Kampf, der 
Anfänger und Bollender des ſchwerſten Glaubens, der 
von Gott verlafien dennod dem Pater jeinen Geift empfahl und 

Herder ſammil. Werte. X. 


— 42 — 


fein Haupt fanft neigte; wir follen auf ihn fehen und aud nicht 
müde werden und ablafien. Das begrabne Samenkorn muß erfter- 
ben; alsdenn bringts Früchte. 

4) Wer waren die bitterften Feinde Chrifi? Der geiftliche, 
gelehrte, Fromme Stand, Priefter, Gejeglehrer und Canoniiten, 
Pharifäer und Heuchler. Sie konnten feine Gegenwart nicht ertra- 
gen, weil jeder Blid von ihm ins gefchmüdte unreine Grabmal 
ihres Herzens drang und jedes unſchuldige einfältige Wort aus 
feinem Munde unter ihrem heuchleriſchen todten Geſchwätz wie Feuer 
unter den Dornen wühlte. Wir willen den Mugen Spruch Kaiphas, 
mit dem er, um das Volk zu retten, den Verführer des Volks 
patriotifh aufopferte, und zum Zeichen der Zeit muß dieſe treffende 
Geſchichte Jahraus Jahrein erklärt werden, obgleih Manches noch 
gerade denfelben Gang gehet. Aber nicht ohne Urſache haßete dies 
Geſchlecht Chriftum: denn ihm felbft mar es das unerträglichfte 
in feinem Leben. Sylbendienft und Phariſäismus in allen Stän- 
den, Wölfe in Schaafskleidern und. tobte faule Bäume mit pran- 
genden Blättern; der Sanftmüthigfte der Menfchen ſpricht und 
handelt gegen fie mit einem Eifer, ald ob er ihretwegen allein vom 
Himmel herabgelommen wäre. Kein Wunder: denn hat nicht diefe 
Gattung von Menſchen von jeher alles Gute in der Welt auf: 
gehalten und verfälihet? In jedem Beruf des Lebens warb der 
toftbarfte Balſam durch dieſe todte Fliegen zum Gift; der leben- 
Digfte Körper von Religion, Lehre, Geſetzgebung, Erziehung, 
Anftalt und Uebung ward durch fie zum edeliten Leihnam. An 
Güte babe ih Wobhlgefallen und nidt an Opfern: ber 
Sabbat iſt für den Menschen, nicht der Menſch für den 
Sabbat: Gottes Gebot habt ihr aufgehoben um eurer 
Zufäge willen: Müden feigt ihr aus und verfhludt 
Kameele: fo und in noch bärtern Ausdrücken ſprach Chriftus und 
jo war es fein Wunder, daß der gefunde Menichenfinn und das 
veine Gefühl der Humanttät mit ihm zur erften gelegnen Zeit aus 
der Welt gefchafft wurde. Die Geſchichte feines Lebens und Todes 
ift die ewige Gefchichte der Welt, nur in veränderten äußern Geftalten. 





339 


340 


5) Das Leben Chrifti ift nicht minder ein Mufter der Klug- 
beit im Betragen, als der Neinigkeit feiner Abfiht. Wie anders 
Ipriht er zu Pharifäern und Sabducäern, zum Boll und den Jün- 
gern! wie anders ift er vor Hannas, Bilatus und Herodes! und 
allentbalben Derjelbe, feiner würdig. Wie 3. B. er fih über das 
Blutopfer Pilatus erflärt, was er Herodes dem Fuchs fagen lieh, 
was er, ald man den Zoll foderte, ſprach und that, wie verjchieden 

341 er die Verſchiednen, die feine Jünger werden wollten, aufnahm, 
wie er ſich gegen die Ehebrecherin, gegen manden Zöllner, gegen 
das arme blinde Volt betrug, wie anderd er diefe Frage, jenen 
Zweifel jegt auflöfete, jeßt von fich wies, mas und wenn er von 
feinem Rei), von des Tempels Zerftörung, von feiner zweyten 
Zufunft redete; kurz mas er that und unterließ, ift ein Gemälde 
der Klugheit, Heiterkeit und Menſchenweisheit. Aber nichts ift 
dagegen dem Charakter feiner ganzen Gefchichte fremder ala der 
fünftlihe Betrug, die Doppelzunge, die Glafien- Secten- und 
Logen -Gtifterey, die man aus Betrügereyen unfrer Zeit dem offen- 
ten der Menfchen Täfternd angedichtet, und damit die einfache, 
belle Erzählung der Evangeliften verunziert hat. Dichtete man 
über einen Griechen jo etwas: ſo ˖würde jeber Billige es als einen 
ihm angeworfenen Schandfled fremder Zeiten und Sitten unmillig 
verachten und nun lefen wirs über einen jübifchen, galiläifchen 
Ehriftus! — 

6) In allen Evangeliften liebt Chriftus den ftarfen, finn- 
lichen, betheuernden Ausbrud: denn er war aus dem Volk und 
Ipriht zum Volk: er Spricht überzeugt und will überzeugen. Daher 
das öftere Wahrlich, Wahrlich: daher die Sprüde und Sprüd- 

342 wörter, die Barabeln und Bilder, die Johannes infonderheit in 
langen Allegorieen ausführt, daher zumeilen aud) das lebhafte 
Wiedergeben der Yrage, ja jelbft hie und da Striche der Ironie 
im Ausdrud.! Natürlich iſt dieſer feinfte Idiotismus Chriftt von 


—— — — 





1) Im Mſe. des 55. Briefes folgen bier die Sätze: „Wie Sokrates 
lichte er Analogie und Induction, Gefpräh und Parabel; aber 
wie ausgefuchter, reiner klarer ift feine Lehre; wie fchlichter, und göttlicher 

16* 


— 244 — 


Gefühlloſen Auslegern am meiſten überſehen und mißdeutet wor⸗ 
den. Was z. B. hat man nicht aus der Sünde gegen den Men⸗ 
ſchenſohn und gegen den h. Geiſt, aus der Vergebung in dieſer 
und jener Welt, aus dem Kameel, das durchs Nadelöhr geht, 
und ſeiner Anwendung, aus dem Berge, der ſich wegheben ſoll, 
damit die Apoſtel größere Dinge thäten, als Jeſus gethan habe, 
aus den Schaafen und Böcken, dem Gleichniß von den Arbeitern 
im Weinberge, den Lahmen und Krüppeln beym Gaſtmal, ja bey 
den meiſten Parabeln gemacht, die eine ſinnreiche Wendung aus⸗ 
zeichnet! Dinge, die doch ſo klar ſind, ſobald man Chriſtum menſch⸗ 
lich reden läßt, auf die Veranlaſſung ſeiner Rede merkt und nicht 
jedes Wort als ein Geheimniß aus den Wollen holet. Keine 
Gebehrde des Auslegers ſchadet dem beitern, freyen, oft lebhaften 
Ausdrud Chrifti mehr, als die gedrüdte, frömmelnde, umſchrei⸗ 
bend⸗ grübelnde, jchwerfällig - gelehrte Mine des Wortreichen Erflä- 
vers; und leider ift fie die gemeinfte über feine Reden, wobey man 
ganz vergißt, daß Chriftus fein Gelehrter, Tein Prediger, am 
wenigften aber ein afcetiicher Mönd war. 

7) Was endlich den Charakter Chrifti, fo mie feine Religion, 
am augenfcheinlichften auszeichnet, und Diefer, zumal in bebrüdten 
Seiten, fo viel Herzen gewonnen bat, ift, daß er ſich injonderheit 
der armen, verfallnen, verlaßenen Menfchheit annahm, und alfo 
recht eigentlich ein Arzt für Kranke, ein Heyland der Sünder, ein 
Hirt der Verlohrnen wurde. Dies ift die Seele feines Lebens, 
das Privilegium und gleihfam der Balfam feiner Lehre: freylich 


ift fein Tod und Leben. Er ſuchte den Tod nit, um deſto eber zur 
Gemeinſchaft der Götter zu fommen: er vertheidigte ſich und zeigte feine 
Unſchuld; ging aber dennoch froben Sinnes zum Bater. Vermag jemand 
fein letztes Gebet mit der beften Hoffung und Zuverſicht Sokrates zu ver- 
gleihen? Jene war Dämmerung, ein fchöner Frühlingsmorgen; dies ifl 
die Sonne in ewiger Himmelsklarheit. Er war bei den Seinigen und 
bleibt bei ihnen: ihr Oott, ihr Licht, ihr Leben. Er geht im die 
Herrlichkeit ded Vaters zurüd, die ewig fein war und ſieht audy da bie 
Seinen ſchon bei fich. 


343 


ein Privilegum, das entjeglih gemißbraudht worden, ein Balfam, 
der viele Kranken aus Schuld ihrer falfhen Aerzte zum Tode 
befördert bat; demohngeachtet aber bleibt dieſer außzeichnende Zug 
das eigentliche Kriterium eines Menfchenheilandes, eines Welter- 
löſers. Die natürliche Religion hat viele Gründe und Kräfte, das 
Gute im Menfchen zu ftärken und zu entwideln; fein Böſes aber 
fann fie ihm nur zeigen, nicht nehmen und ihn über das DVer- 
gangene nur ſchwach tröften. Die Religion des Weltheilandes 
lodet die Sünder an und zeigt ihnen, wenn fie zurüdfehren, eine 
zehnfache Freude des Himmels über diefe Rückkehr, einen zehnfach⸗ 
344 größeren Lohn vor jedem ftolzen und ftarren Selbftgerediten. Sie 
macht alſo den Mangel felbft zum Duell des Weberflußes, indem 
fie nit auf die That, fondern auf das Herz fiehet und biejes 
beilet: der tiefgefallene, aber wiederkehrende Sohn ift dem Vater 
lieber, als der ihn nie verlaffen hatte und auf feine Werkheiligkeit 
ftolz if. Diefe tief-blidende, Menfchenfreundlihe Denkart gehet 
bey Chrifto durch Reden und Thaten: feine Gleichniße, Sprüde, 
Treöftungen und Wunder gründen ſich darauf; fie fodert aber auch 
in der Anmendung den reinen Geift Chrifti oder fie wird, mie 
jedes erhabne Principiun eines ausgezeichneten Mannes bey feinen 
ſchwachen Nachfolgern es leider! geworben ift, eine ſchädliche Arz- 
nen, ein Gift zum ärgeren Tode. Daß er fih der Armen, der 
Berachteten, der Unmünbdigen annahm, und ale Wohlthaten, die 
man ihnen erwiefe, als jelbftempfangene Gütigfeiten ſchätzt und 
belohnet, daß fein großes Principium der MWiebervergeltung in 
diefer und jener Welt am meiften dahin gerichtet ift, fich des müh— 
jeligen, kranken, gebrüdten Theild der Menjchheit anzunehmen; 
dies zeigt nicht nur in feiner Perjon ein edles Herz, ſondern ift 
auch im erften Chriftenthum, fo lange es eine Religion ber Liche, 
345 des Troftes, der Wohlthätigkeit gegen die Armen, der Erziehung 
unmünbdiger Kinder war, eine ber größten Triebfedern ihrer Aus- 
breitung geweſen, jo daß man ihr wenigſtens die reinften Grund- 
füge der Humanität und das Verbienft einer freygemachten Menſch⸗ 
beit nicht abſprechen kann. Auch durch BHiftorifche Thatjachen ift 


— 246 — 


Chriftus aljo ein Befreyer der Welt, ein Menſchenheiland worden; 
und an feiner Lehre liegts nicht, wenn mitten im Chriftenthum 
die gebrüdte Menfchheit hie und da noch fiebenfach leidet. Die 
proteſtantiſche Kirche bat, menigitend der Theorie nach, fein Evan- 
gelium der Barmherzigkeit und freyen Gottesgnade aus dem Staube 
wieder hervor geholt; deſto trauriger aber ifts freylih, wenn im 
Munde der Schwäßer, und in der Hand der Defpoten die 
erquidendite Lehre ein Duell manches neuen und größeren Jam: 
merd geworben. Kurz, das Vorbild der ächten Gottesreligion, die 
den Vater ala Kind verehret, und ihn in feinen Kindern liebet, 
mithin die ächte Religion der verborgnen, unermüdeten Menſchen⸗ 
liebe ift in der Denlart und im Leben Chrifti vor uns, und feine 
Religion verbienet feinen Namen, als die er felbit Hatte, felbft 
glaubte, felbft übte. 


* 
* * 

Dies find cinige Schattenzüge des ſchönen Gemäldes, das 
Ihnen die Evangeliften in allen lebendigen Farben geben; ich 346 
Schließe ein kleines Gedicht bey, deßen allegorifche Anlage ein Zeuge 
feiner ältern Zeit ift, das ich aber, fo meit e8 geſchehen Tonnte, 
unfrer Zeit angemefjen gemacht babe. 


Das Diadem der Liebe! 


1699. 


Ich wollt’ um meines Herren Haupt, 
das jüngft mit Dornen war umlaubt, 
ein Diadem von Seide binden ;? 
das follte wie die Unſchuld rein 
und zart wie feine Liebe feyn, 
mit Blumen wollt’ ichs rings umwinden 
Und webte mit demüth’ger Hand 
Dentmale von ihm in die® Band.? 
1) Die Bellage fehlt in U. 
3) Mic.: das rings mit Dornen war umlaubt ein Kronenband von Golde binden, 


3) Mie.: und zeichnen mit bemüthger Sand Des Herren Thaten in bies 
Band. 


347 


— 247 — 


Ich fit’ ein Heines Palmen -Keis, 
das zu Jehovah's ftillem Preis, 

zum! Lebensbaum ben Völkern blübet: 
Hier einen Weinftod voller? Saft, 

die Trauben an ihm voller Kraft, 

in denen Gottes Sonne glühet: 

den Oelbaum, der vom Felſen ſprießt 
und Segen auf die Menſchen gießt: 


Ich zeichnete den ſchönen Stern, 

der aus des Aufgangs grauer Fern’ 
berborgieng über ftillen Hügeln: 

Die Morgenfonme, groß und gut, 

die wie ein Meer voll Gottesglut 

uns Heil bringt unter ihren Flügeln; 
fie träntt mit Balfamreihem Thau 
bie matte Flur, die dlirre Au. 


Und von den Bildern ftieg ih ſchon 
auf zu Ihm felbft, dent Menſchenſohn, 
auf dem bie Friedenstaube fchmebte, 
die immer rege, ftill und zart, 

ihn mit des Vaters Gegenwart, 

die Welt mit feinem Troſt belebte: 

Er fühlte fig im Gottes Schoo® 
unfhuldig=treu, verſchwiegen⸗ groß. 


Ein Hirte, der fein Schäflein fucht, 
und fanft e8 Iodt von feiner Flucht 
und Tiebreich e8 im Buſen träget: 
Ein Arzt für jedes Herzeleid, 

Ein Freund für jede Bangigleit, 

der Mattes ftärkt, das Kranfe pfleget:® 
das fanfte, ftille Gotteslamm, 

das fremde Sünden auf fih nahm: 
Schon hatt’ er feines Kreuzes Laſt 
mit Heldenmuth emporgefaßt, 

ſchon ſchwebt' er in ber Dornenfrone: 
Bon feinen Lippen fließet ſtumm 


2) Mic.: voll von 


8) Mfc.: der Matte flärkt, die Kranlen pfleget: 


— 18 — 


ſein letztes Cvangelium 

von Gottes Reich, vom ew'gen Lohne: 
ſein Auge bricht in Todesnacht 

und Himmel war um ihn erwacht — 
Da bebte mir, mir ſank die Hand; 
Ich muß, ich muß Dir dieſes Band 
Geliebter, unvollendet geben. 

Nimm hin es! Deiner Seele Bild, 
nur ſchweigend⸗groß und thätig⸗ mild’ 
in ſtillen Thaten will e8 leben. 

Des reinften Herzens Himmelsſchein 
will nur ind Herz geftralet feyn. 


Zwey und zwanzigfter Brief.! 


Sie glauben, ın. Fr., daß ich über die Paraphrafen inſonder⸗ 
heit des N. T. zu hart geurtbeilt babe; ich glaube es nicht und 
wir werben uns einverftändigen, wenn wir uns darüber erllären. 

Seber dunkle Ausdrud, wenn ih ihn mit andern Worten 
erläre, wird paraphrafirt und muß parapbrafirt werden. So 
erklären ſogar Wörterbüher und die kleinſten Anmerkungen: fo 
müfjen fremde Spraden, dunkle Schriftfteller, inſonderheit auch 
ſtarke Sprüde und Gedanfen paraphrafirt d. i. entwickelt werben, 
oder fie bleiben unverftändlid. Auch bier gilts, was Young von 
ber Sprache, injonberheit vom freundſchaftlichen Geſpräch fagt: 

Speech, Thought’s Canal; Speech Thought’s Criterion too. 
Thought in the Mine may come forth gold or droff; 
when coin’d in Word, we know its real Worth. 
Thought, too, deliver’d is the more possest: 

Teaching we learn and giving we retain 

the births of intellect; when dumb, forgot. 

Speech ventilates our intellectual fire 

1) Den in 8 befeitigten zweiunbzmwanzigften Brief der Ausgabe A 
(S. 370— 383) enthält der Anhang unter UI. (Band XI) 


— 249 — 


Speech burnishes our meutal magazine 

brightens for ornament and whets for use. 

’Tis Thought’s Exchange, which like th’ alternate Push 

of waves conflieting, breaks the learned Scum 

and defecates the Student’s standing Pool. 
goldne Worte, die mehr als eine große Abhandlung fagen — und 
die Sie auf Parapbraje, Commentar, Gefpräh, Predigt, kurz auf 
die Entwidlung und Erflärung jedes Tertes in jeder Art anmwen- 
den mögen. 

Bon dem Allen aber war bier nicht die Rede. Die Yrage 
war: ob es gut d.i. vorzüglich bildend und gnugthuend fey, ganze, 
ja alle Bücher der Schrift in ihren hellen und bunleln Stellen 
durchhin zu paraphrafiven, mithin alle Züge derſelben aufzulöjen 
und das Ganze in der Form eine? neuen Umrißes, einer neuen 

351 Spradart — nit darzuftellen: denn. das Product fteht meiſtens 
nicht mehr, ſondern dem Lefer träge und matt vorzulegen? Da 
zweifle ih no, m. Fr., und meine Gründe find, dünkt mid, 
augenſcheinlich. 

Zuerſt: Die Bücher der Schrift ſind Poeſien, oder Geſchichte, 
oder Briefe; zu keinem von dreyen ſchickt ſich eine fortgehende 
Paraphraſe. Nicht zu Poeſien: ein paraphraſirter Virgil z. B. iſt 
ein widriges Ding; niemand mag ihn leſen. So auch eine para⸗ 
phraſirte Geſchichte: ſie wird, wenn ſie in ihrem urſprünglichen 
Umriß etwas taugte, durch die Paraphraſe eine elende Maſſe, ein 
überſtopftes oder zerfloſſenes Weſen. Ein paraphraſirter Brief end⸗ 
endlich; war er an ſich, was ein Brief ſeyn ſoll, Geſpräch, An⸗ 
rede, Ausguß des Herzens, Bericht, Erzählung: fo Hatte er ber 
Paraphraſe nicht nöthig: denn wer wird im täglichen Geſpräch 
immer einen PBaraphraften neben fi haben? Hatte er fie nöthig, 
und in allen Theilen nöthig: jo mars ein fchlechter Brief ober 
eigentlich gar fein Brief, fondern ein Räthfel und hätte ihn Gabriel 
ſelbſt geichrieben. 

Zweytens: Die fchönfte Deutlichleit und. Klarheit ber 
Gedanken beruht auf ihrer Verbindung d. i. auf der Stellung und 


\ 


— 350 — 


Anordnung, in die fie der Schriftfteller feßte, auf dem Umriß 
und wenn ich jo fagen darf, der Geiftes-Mine, die ihr die den- 352 
kende Seele gab. Hierinn befteht das Gepräge jedes eigenthüm- 
lichen Autors: in lebendiger Geftalt ftellet es uns fih dar und 
mit einem unerflärlichen Vergnügen gehet der Eindrud davon un- 
mittelbar in die Seele des Lejenden über. Nothmendig geht alles 
dies in der beiten Paraphrafe verlohren. Nicht Paulus, nicht 
Petrus jprehen mehr zu mir; fondern der Paraphraft in ihrem 
Namen. Er zeigt mir feinen, ftatt ihres Styls, fein Antlitz ftatt 
ihres Gefichtes. Nehmen Sie die beiten Paraphrafen der Eng- 
lichen Sprade, Lode, Benfon, Clark, Taylor, Wbitby, 
Peirce, Pyle u. f.; wer ſpricht in ihnen? Locke oder Paulus ? 
Clark oder die Evangeliften und Chriſtus? und fpreden in ihnen 
3. B. in Benfon und Whitby nicht die verfchiedenften Schriftfteller 
gleih? Den größten Neiz des Leſens aljo, das Urgepräge des 
Säriftitellers, mithin die intuitive Seclenfänntniß deſſelben 
baben Sie verlohren; und was dafür erlangt? Die Lectüre einer 
Schrift, die Feine Schrift mehr ift, vielleicht ein vermäßertes Nach⸗ 
bild derſelben, eine plaudernde Echo. Die ſchlechtſte Ueberjegung 
ift wenigftens der Kupferftich eines Gemäldes; in der beiten Para⸗ 
pbrafe ift gar fein Gemälde mehr: Compofition und Haltung, 
Farbe und urfprünglicher Geift ift in der Urfchrift zurüdgeblieben. 353 
Drittens: „Aber die Richtigfeit der Gedanken iſt wenigſtens 
hinübergetragen?” Ich zweifle. Leſen fie Lod und Whitby, 
Doddridge, und Clarke, Zahariä und Semler; lafien dieſe 
berühmten und Ruhmwürdigen Paraphraften ihre Schriftfteller 
Eins und dafjelbe jagn? Und Eins hat er doch nur gejagt: fei- 
ne Gedanken müßten in jedem Paraphraften diefelben ſeyn, wenn 
diefe Art der Darftellung treu und gnugthuend ſeyn follte. Nun 
trifft Dies zmar auf alle Auslegungen aller Commentare; allein 
mit dem merkwürdigen Unterfchiebe, daß in diefen ber Erklärer, 
in jenen der vorgegebne Schriftfteller ſelbſt redet. Die Meynung 
des Erklärers darf ich nit annehmen, wenn jeine Gründe mir 
nicht hinreichend fcheinen und ich eine beßere Habe. Er mußte 


— 231 — 


Gründe anführen und ich Tonnte fie prüfen: mein Auge ward im- 
mer wachend erhalten: denn ich lad urjprünglich nicht ihn, fondern 
den Autor, Bey dem Baraphraften nit alſo. Er ſchwemmte 
nid gleichſam hinein in feine Erklärung; fobald ich fein Scif 
beftiegen babe, bin ich vom Lande weg und muß ihm folgen. 
Fügen Sie nun noch hinzu, daß vielleicht der Paraphraft ſich 
354 felbft jo wegſchwemmte, daß wenn er ein Syftem batte, er unwiſ⸗ 
jend dafjelbe mit feiner Denkart hinübertragen mußte, weil er dem 
Schriftiteller mie feine Worte jo auch feine Ideen unvermerft 
leihet — welch ein gefährlicher Richtweg wird hiemit jede blendete! 
Paraphraſe. Locke gieng gewiß mit treuer Wahrheit- Liebe zu 
feinem Paulus; und bat er ihn überall verftanden? Hat er ihm 
nicht feine, Locks Gedanken unterihoben? Und mas Lode begeg⸗ 
net it; wem dörfte e8 nicht begegnen? An Scharfiinn und 
Unpartbeilichleit fehlte e3 ihm, der fein Theolog war, gewiß nicht. 
Ueberdem m. Fr. iſts eine Art von dummachender Arbeit, fich 
frühe an Paraphrafen zu gewöhnen. Den Tert verftehen, d. i. 
ſehen müflen Sie doch lernen; warum wollten Sie alfo nit 
lieber glei mit eignen Augen fehen wollen und erjt durch fremde 
Brillen ihr Geſicht verderben. Lernen Sie die Sprade: nehmen 
Sie das Wörterbuh, und allenfalls Anmerkungen, Meynungen, 
Sommentare zur Hand: vorzüglih aber jtudiren Sie den Zuſam⸗ 
menhang und Balten fih an den Geilt des Autors; dieſe fchöne 
Mühe, dieſe Geijt- aufwedende, forjchende Geduld wird Ihnen 
bald alle fertige Paraphrafen, denen Sie nur nachſchwimmen dorf- 
ten, verleiden. Ein Yüngling, der fich ſelbſt Yrüchte lieſet, will 
355 nit, daß ihm der gefaute Bilfen in den Mund geftopft werde, 
und wer einmal Gefühl vom Geift diefer Schriften hat, wird fi 
die füße Beſchwerde nicht dauern laſſen, den Verſtand derſelben 
litterariſch und eregetifch fich felbft zu erwerben. Nun weiß er doc, 
was dunkel und far fey, und weiß es aus eigner Erfahrung; bey 
dem Peraphraften war ihm alles gleich Kar d. i. gleich dunkel. 


1) Iſt etwa Berzuftellen: „jede noch fo blendenve” (7) 





Damit aber glauben Sie nit, daß ich den Arbeiten der 
genannten und nicht genannten verdienten Männer etwas von 
ihrem Werth entziehen mollte; fie find alleſammt fehr nützlich 
gewejen, nur zu ihrer Zeit und in ihrer Abfiht. Erasmus 
3. B. (feine Paraphrafe über das N. T. wird noch lange die Erfte 
bleiben) leſen Sie feine Vorrede, feine Dedication an den Kater, 
und Sie werben ſowohl die Schwierigkeiten feiner Arbeit ala den 
Zwed derſelben aus feinem eignen Munde hören. Ex wollte mit 
feiner leichten und ſchönen Paraphraſe janft vorbereiten, die ftrei- 
tenden Gemüther unvermerkt vereinigen, vom barbariihen Scho⸗ 
laſticismus zur Bibel führen, und die unmwißenden Pbilofophafter 
feiner Zeit, was in ber Bibel ftehe ober nicht ftehe, in einer 
andern als der ihnen gewohnten Sprache lehren. Dies wollte er, 
und dies hat er mit einer noch fortgehenden Reformation aus ſei⸗ 
nen Silberhellen Schriften bewerkitelligt: feine Paraphraſe bleibt 
alfo wegen ihrer Haren Denkart und ſchönen Sprache noch Goldes 
werth; unmöglih aber mollte der Sprachen Icnnende Mann fie 
einem heutigen Lehrlinge ftatt des Tertes geben. Lode hatte zu 
feiner Zeit ähnliche Abfichten und auch Er Bat fie erreiht. Durch 
feine und feiner Nachfolger Schriften find die ſcholaſtiſchen Spitz⸗ 
fündigleiten über die Briefe der Apoftel ſehr abgeründet, und 
auch unter denen, die nicht Theologen find, ein gemwißes leichtes, 
Ichlichtes, praktiſches Wortverftändniß der Schriften des N. T. 
verbreitet; jo daß wir auch den verdienten Männern viel Danf 
ſchuldig find, die diefen Engliihen Paraphrafen das Deutiche Bür- 
gerrecht gegeben haben. Unftreitig haben fie dem beßern erege- 
tifchen Geſchmack, nämlih die Schrift im Zufammenhange und mit 
gefundem BVerftande zu Iefen, jehr aufgeholfen, wie die Epoche, 
die fie gemacht haben, bezeuget. Nun aber hat jedes Ding ſeine 
Zeit und da Erasmus, Lode und feine Brüder ſchwerlich zu 
übertreffen find; mich dünft, m. Fr., fo fönnte des Paraphrafirens 
auch gnug feyn, und da diefe ganze Gattung von Eregeje mehr 
für die Ungelehrten ala Gelehrten, am wenigſten aber für ben 


356 


eregetifchen Lehrling, daß er aus ihnen den Tert verftehen lerne, 357 





gejchrieben wurde: jo brauden auch Sie dieſe Gängelmagen mit 
Vorfiht, damit Sie ja den freyen Gebrauch ihrer eignen Füße 
dabey nicht verlieren. 

Die Commentare, über die Sie mich fragen, pflegt man in 
Saden- und Wortcommentare zu unterfcheiden und Sie vermuthen 
jelbft, melche ich vorziehe ? umftreitig die legten. Im Wortverftande 
müßen die guten Commentare aller Länder und Secten Eins jeyn; 
mit Anwendung auf Lehren und Saden ifts nicht aljo. Sehen 
Sie die großen Realcommentare aus dem Jahrhundert der Refor- 
mation an; Lutheraner und Neformirte, Katholiihe und Socinia- 
ner, die Myſtiker allenthalben mit eingerechnet, ſchütten, wo es 
nur angeht, auch bey unpaßenden Stellen ihr Syftem aus: ſchon 
dies hat die Folianten ſehr aufgefchwellt, noch mehr aber die Zeit- 
mäßige Anwendung, die fie allenthalben einwebten. Die herzlichen, 
Träftigen Commentare Luthers, die gelehrtern des Meland- 
thons, die feinen Entwidlungen des Brenz, die feurigern Des 
Calvin, u.f. — mer liefet fie jegt? ja, wer hätte Zeit, fie 
Reihab zu lefen? Dagegen Pellican, Strigelius, Chytraeus, 

358 Hyperius, noch mehr aber Grotius, Clericus, u. f. fih nod 
leſen laſſen, meil fie bey dem Wortverſtande bleiben. Ueberhaupt 
aber m. Fr. mißrathe ih Ihnen (den einzigen Grotius etwa aus- 
genommen) noch alle großen Commentare. Wenn Ihre acabe- 
mifchen Studien geendigt find, haben Sie Zeit, die beiten der⸗ 
felben allmählig kennen zu lernen, und im Amt felbit werben 
praftifhe Arbeiten Sie oft gnug zu unferm Serz » erquidenden 
Luther, zu unjerm fanften Melanchthon, oder wen Sie jonft 
liebgewinnen, führen. Denn das ift der große Vorzug der Schrif- 
ten diefer Zeit, daß, da fie die Sade der Religion noch als ein 
thätiges Werk des Lebens anjahen, fie auch über die Bibel aus 
voller Bruft ſprachen. 

Was ich Ahnen ftatt vieler zerftreuenden Commentare über 
die Bücher der Schrift anriethe, wäre eine eigne ftille Hebung in — 
Ueberfegung derjelben. Nicht daß ich die unzählbaren Weber- 
ſetzungen der Bibel im Meßkatalogus mit diefem Rath zu ver- 





mehren wünfchte: denn jobald Sie fürs Publikum überfegen, über- 
jegen Sie in Ihren Jahren gewiß ſchlecht und mein Zweck ift verfehlet. 
Aber wie wenn man einen Autor liebgewinnet, man.ihn gern in 
feiner Sprache haben mag, ja auch ſchon beym Lejen im Gemüth 
überfegt und ihn in feine Sprache gleichſam hinüberdenket: fo lernt 359 
man ihn auch durd jede überwundne Schwierigkeit des wirklichen 
Vebertragens zehnfach beffer fennen und anwenden, ala bey dem 
forgfältigften Leſen deſſelben. Bereinigen Sie fih zu dieſem Zwed 
mit einigen, die Ihnen gleich denken wetteifernd, thetlen unter fich 
die Schätze der Schrift nad dem Geſchmack Diefes und Jenes und 
Iefen jodann Ihre Arbeiten einander vor. Ich mollte, dab Sie 
es auch bey allen vorzüglichen fogenannten Profan - Seribenten aljo 
thäten; Ste würden mir gewiß für meinen Rath danken. Ein 
guter Autor, den man ſelbſt überjegt hat, ift ung mehr als zehn, 
die wir lajen; ja id wollte behaupten, daß jeder gute Theolog 
fih feine Bibel ſelbſt müßte überſetzt haben. Unglaublid wären 
die Folgen, die mit diefer ftillen Webung fih auf das ganze Stu- 
dium und Amt befjelben verbreiteten; gewiß lernte man dadurch 
mehr Theologie als durch große Kommentare. In jedem neuen 
Jahrzehend ihres Lebens merden Sie dieje alte Jugendüberfegung 
mit Freuden leſen und wenn Sie derjelben Ihre weiteren Benter: 
fungen jedesmal til Hinzufügen; o Freund, fo befämen Sie damit 
eine beßere Theologia viatoris ald die Ihnen im Compendium ber 
Dogmatik ſchwarz auf meiß bleibet. Leben Sie wohl und da mir 
eben die Jüdischen Pirke-Aboth in die Hand fallen: jo ſetze ich 360 
Ihnen einige Lehren ber; vielleicht bekommen Sie Luft, die ganze 
Sammlung zu lefen. 


Ausſprüche der Jüdiſchen Väter. 


Yaß dein Hans eine Schule der Weiſen feyn, und hänge dich an ben 
Staub ihrer Füße und trinke mit Durft ihre Worte. 

Sey unter den Schülern Aarond, welcher Frieden lichte und dem 
Frieden nachjagte; welcher die Greaturen liebte und fie zum Gefet 
anfübrte. 


— 25 — 


Wer einen Namen fucht, verliert feinen Namen. Wer nicht hinzu 
thut, nimmt ab. Wer nicht lernen will im Gejeß, iſt des Todes fchuldig. 

Ihr Weifen, gebt Acht auf eure Worte, daß ihr nicht weggeführt 
werdet an einen Ort, wo böjes Wafler ift, daß die Schüler, die nach euch 
fommen, davon trinten, und fterben, und aljo der Name des Himmels 
entheiliget werde. 

Ich bin in meinem Leben unter den Weiſen erwachſen, und babe mir 

361 nicht8 befler gefunden, als Schweigen. Selbſt die Erllärung bed Geſetzes 
it nicht das Hauptwerf, fondern das Thun. Wer viel Worte macht, bringt 
Sünde über fih, wie Eva. 

Sondre dich nicht von der Gemeine: denn wer ſich von ber Gemeine 
fondert, fiehet nicht den Troſt der Gemeine. Verlaſſe dich nicht auf Dich 
felbft, bi auf den Tag deines Todes: denn Jochanan, der 80. Jahr Hober- 
priefter gewefen, ift noch ein Sadducäer worden. . 

Nichte deinen Nächſten nicht, bis du an feiner Stelle geftanben. 
Sage nicht8, welches man nicht verftehen kann, daß ſolches am Ende werde 
verftanben werben; fage auch nicht, wenn ich Muße haben werde, will ichs 
erflären; vielleicht möchteft du nicht mehr Zeit dazu haben. 

Wärme dich an dem Licht der Weifen, büte dich aber vor ihren 
Kohlen, damit du dich nicht verbrenneſt. Denn ihr Biß ift, wie der Biß 
des Fuchſes, ihr Stich, wie der Stich de8 Scorpions, ihr Murmeln, wie 
das Zifchen einer feurigen Schlange. 

Der Tag ift kurz; der Arbeit ift viel: der Lohn ift groß: der Haus- 
vater treibt mit Eruſt zur Arbeit; und doc find die Arbeiter träge. — Es 

362 liegt Dir nicht ob, das Werk zu vollenden; es ftehet aber auch nicht bey bir, 
es gar zu unterlafien. Alsdenn aber wirb dein Lohn groß und viel feyn, 
wenn du viel im Geſetz Terneft, und übeft; er ift treu, welcher ber Herr 
deines Werts iſt, und wird dir den Lohn deiner Arbeit bezahlen. 

Wer ift ein Weifer? Der von jedermann lernet. Wer ift flarf? 
Der feine Begierden bezwinget. Wer ift reih? Der fich über das ihm 
beſchiedene Theil freuet. Wer ift gechtt? Der andre Menfchen ehret. 

Mache das Geſetz nicht zu einer Krone, damit zu prangen; noch zu 
einer Hade, damit zu graben. 

Wer von jungen Leuten lernt, ift gleich einem, ber unzeitige Trauben 
ißet und Wein aus den frifchen Hefen ber Kelter trinfet; wer von Alten 
lernt, ift gleich einem, der zeitige Trauben ißet und alten Wein trintet. 
Siehe aber nicht auf Die Kanne, fondern auf das, was darinmen if. Es 
giebt neue Kannen voll alten Weins, und alte Kannen, darinn nicht ein« 
mal neuer Wein ift. — 

Biererleyg Arten find berer, die vor ben Weifen jigen. Einige find 

363 dem Schwanm ähnlich, der alles einfauget, Helle und Tribes: andre 


— 36 — 


einem Trichter, wo, nad man oben eingießet, unten ausläuft. Anbre 
einem Seiber: ein Seihetuch läßt den Wein auslaufen unb behält nur die 
Hefen; die Bierten einem Siebe, welches das dünne Staubmehl durchfallen 
läßt und das Semmelmehl behält. — 


Ich darf nicht Hinzufegen, in welde Clafie ih Sie wünfde. 


Drey und zwanzigfter Brief. 364 


Ich babe nur noch mweniges vom Lejen des N. T. zu ſchrei⸗ 
ben, und wir gehen zu den eigentlih jo genannten Theologi- 
hen Wiffenfchaften über... 

Ueber die Göttlichkeit diefer Schriften metaphyſiciren Sie 
fo wenig als möglid. Der modus davon ift feine Sade des 
Diiputs; und die Sache felbft ift, wie die Göttlichfeit der Schrif- 
ten A. T. auf facta gegründet. Iſt Die Geſchichte Chrifti und der 
Apoftel wahr: fo gehören diefe Schriften zu ihrer Geſchichte. 
Sie enthalten fie, fie befchreiben fie auf die ihr gemäßefte Weile. 
Der Geiſt Gottes, der Jeſum von den Todten erweckte, belchte 
auch die Apoftel: Jeſus verfprah, Jeſus jandte ihn den Seinen: 
Er verſprach ihn ihnen nicht bloß vor Gericht, fondern fie in alle 
Wahrheit zu leiten, ala Lehrer feine Stelle in ihnen zu vertreten, 
dur fie mit Wirkſamkeit und Gottesfraft zu zeugen. Diefe Wirt: 
ſamkeit fehen wir in den Apoſteln; den Geift derjelben in ihren 
Schriften. Es ift nicht der Geiſt der Melt, weder ihres noch 
unferes Jahrhunderts, jondern der Geift aus Gott, ein Geift der 365 
Kindlichkeit, Treue und Einfall. 

Meber den Kanon einzelner Bücher Iafien Sie ih noch 
meniger in Streit ein. Sie thun wohl, wenn Sie fi alle Gründe 
pro und contra befannt maden, und die beiten dahin gehörigen 
Bücher Iefen; Sie werben aber finden, daß die größten Diſputan⸗ 
ten nicht weiter find, als man immer geweſen. Nehmlich, einige 
Bücher find ouoAoyovueya, andre avrıleyoueva, mit mehren 
oder mwenigern Gründen. Ich zmeifle auch, ob, wenn fi nit 
mehr Entiheidungsgründe, Zeugen und Zeugniffe in den 


— BI — 


erſten Jahrhunderten auffinden, die Sache durch unſer Diſputiren 
pro und contra im achtzehnden Jahrhundert je weiter kommen 
könne? Sie thun daher wohl, wenn Sie ſich hierüber ſchlicht 
nach der Kirche richten, in der Sie lehren: denn es kommt keinem 
einzelnen Gliede zu, aus dem Kanon auszuſtoſſen oder dahin auf: 
zunehmen, was und in welchem Maas es ihm beliebet. Ber- 
fegern Sie feinen, der 3. E. Zweifel gegen die Offenbarung, oder 
gegen einige Briefe hätte; Luther felbft Hatte fie Anfangs, obmohl 
nicht aus den treffendften Gründen, und unjre Symbolifche Bücher 
366 haben hierüber, ala über eine kirhlihhiftorifche Sade, kein Joch 
gejchmiebet. Bon der andern Seite aber hüten Sie fih noch mehr 
vor der luxurianten Freyheit, BHierinn ja anders, als andre, zu 
wähnen. Dogmatifches und Moralifches ift gemiß nichts in dieſen 
Schriften, das dem Geift der andern miderfpräde; die Zweifel 
gegen fie dünfen mir fo ſchwach, jo wenig jchließend — doch 
darinn fage ih nur meine Meynung. Sch jehe es übrigens nicht 
ungern, daß infonderheit die Offenbarung Johannes nit durch⸗ 
bin, fondern nur in den ausgemacht hellen und Haren Stellen 
öffentlih gelefen und dem Volk erklärt werde. Es kommt, wenn 
Alles genommen wird, zu viel ungemafchenes Zeug hervor, und 
der gemeine Mann wird oft mehr geirret, als belehret. Manchen 
Ihönen Tanonifchen Büchern gehet3 jo, daß, meil jeder in jebe 
Stelle Alles hineinträgt, was ihm beliebet, man mandmal fie 
lieber unfanoniid, d. i. zum Heiligtum ftiller Brivat- Erbauung 
wünſchte, nit daß fie, wie jo mande Gleichniffe und Epifteln 
Sahrhunderte durch zur platten, ausgetretenen Heerftraße wür⸗ 
den — — Dem Heinen wird indeß Alles rein; dem Unreinen 
und Gemeinen tft Alles ärgerlih und unrein. 
Hüten Sie fih die Begriffe ver Göttlihleit oder gar der 
367 Sanonicität Heiliger Schriften mit dem Dogmatijchen ober 
Moraliſchen Theil derfelben zu verwirren; denn damit wird Alles 
Verwirrung. Thatſache ift der Grund alles Göttlihen der Reli: 
gion, und diefe kann nur in Geſchichte dargeftellt, ja fie muß 
jelbft fortgehend lebendige Geſchichte werben. Geſchichte iſt 
Herders ſammtl. Werte. X. 


— HH — 


alfo der Grund ver Bibel, die Wurzel und der Stamm des Baums, 
aus dem die Lehren wie Aefte ausgehn, an welchem vie Pflich— 
ten! wie Blüthen und Früchte wachſen. Wer diefe ohne Aeſte, 
ja gar ohne Stamm und Wurzel will, weiß nit, was er will; 
ob ihm gleich niemand zumuthen wird, daß er die Wurzeln und 
das Holz des Baumes eſſe. So ifts mit den hiſtoriſchen “Theilen, 
jelbft mit den Gejchlechtsregiftern der Bibel. ‚Kein Menſch fobert, 
daß man fi an den letzten erbauen fol, oder wie Srommell 
that, fie zu Chriftlihen Mufterrollen brauche; jedermann aber fiehet, 
daß fie die Stüge der Geſchichte ſeyn, aus der alles auögehet, 
auf die fi) alles beziehet, für deren Erhaltung alſo Gott jo forgen 
mufte, als für die Aufbewahrung der erhabenften Lehre, der nutz⸗ 
bariten Lebensregel. Beftehet der menfchlide Körper allein aus 
Blut, aus Lebensjäften? braudt er nicht auch Knochen, Häute, 
Adern, Nerven und hundert andre Gefäße? ohne bie jene weder 
bereitet, noch erhalten, noch genust werden fünnen. Genau fo 368 
iſts mit dem Mancherleyg der Offenbarung, in dem fich eben das 
feinste, geiftigfte Eins offenbaret. 

Studiren fie aljo auch diefe, wie die Schriften des A. T. 
einzeln. Die Briefe der Apoftel lefen Sie ald Briefe, vergeflen 
Sie Kapitel, Verſe, gewohnte Epifteln, und Iefen, wie wenn fie 
ein Chrift des erften „Jahrhunderts wären, und einen Brief aus 
den Händen des Apoftels ſelbſt empfingen. Die Briefe eines 
Apoſtels vergleihen Sie mit einander, und fuchen feinen Charalter. 
Paulus fcheint mir der feurigfte von Geift, Jacobus der ftrengjte 
an Eittenlehre, Johannes der zartefte an Geift und Herz. Die 
Briefe aller dreyen würden Manche höher fchägen, (jo wie Jeſus 
Sirach, Kapitel des Buchs der Weisheit u. f.) wenn fie leider! 
nur nit in der Bibel ftänden. 

Paulus Briefe find vol Schwung und oft jehr original im 
Gange der Gedanken; gewiſſe Lieblingsbegriffe, in bie er ben 
Einen groffen Plan Gottes durch Chriftum Heidet, Tom- 


1) dem Lehren wie Aefte ausgehn, an melden Pflichten 


— 259 — 


men in mehrern wieder, und Stellen aus ihnen find fo fchön, daß 
man ihnen zum Poem nur bat Verſe geben börfen, mie 3. €. 

369 1 Sor. 13. das Prior und andre verfificirt haben. Andre Stel- 
len verrathen einen jo Philofophifchen Geift, daß fie Samenkörner 
großer Theorien geworden, wie 1 Cor. 12. 15. Er giebt hohe 
Gedanken vom Chriftenthum und treffende Regeln der Moral. 
Da feine Perioden verfchlungen und lang find, thut man gut, 
wenn man fie in ſchweren Stellen zufammenziehet, die Parenthefen 
ausläßt oder mildert, und hie und da mit einem Ebräiſchen Grie- 
hen auch Ebräiſch-Griechiſch conftruiret und bindet. Koppe bat 
dies in einzelnen Fällen glücklich verfuchet. 

Die Schriften Johannes find ftille Waſſer, die tief gründen: 
die leichteften an Worten, mit dem umfaffendften Sinn. Sein 
Evangelium ift, mie feine Offenbarung, voll Plan und Abficht. 
An wenige Worte, z. E. Licht, Leben, Wort, Brod des Him- 
meld, Waffer des Lebens, zu Chrifto fommen, vom 
Bater ihm gegeben, verfiegelt werden u. f. bangen ſich ganze 
Reden Chrifti, die mit groffer Sorgfalt, fo wie feine wenigen 
genau erzählten Wunder, ausgeführt und zu Einem Zweck 
neben einander geftellet find. Ich wollte, daß fi) aus Morgen- 
lande einmal Umftände entbedten, zu welder nädften Abficht 
Johannes eigentlich fein Evangelium aljo eingerichtet Habe? Gab 

370 diefe ihm etwa Johannes, des Täufers Schule? wie mir eine 
ſolche Apoft. 19, 3. eben in dem Epheſus antreffen, wo er lebte, 
und die auch noch jest in Afien fortwähret: denn umſonſt iſts 
doch nicht, daß unfer Evangelift jo oft und ausdrüdlich den Johan⸗ 
nes unter Chriftum ordnet, und jenen nur als Zeugen dieſes dar⸗ 
ftelt. (Kap. 1, 6 - 35. Kap. 3, 25 = 36. Kap. 4, 1.2. Kap. 5, 
33 - 36. Kap. 10, 40. 42. u. f. bis Kap. 20, 31.) Waren diefe 
etwa für die Ehre ihres Johannes härter eingenommen, als bie, 
jo Paulus fand und auf Chriftum taufte? Waren fie etwa, wie 
fie no jet find, mit Philoſophiſchen Secten verjchlungen, deren 
gewohnte, prägnante Lieblingsausbrüde aljo Johannes braucht, 
auf Chriftum anwendet und eben damit rectificivet? Eine nähere 

17* 





— 2 — 


er, wo man ihn angriff: feine Zunge war nie müßig, nie verlegen: wenn 
man ihn für befiegt hielt, half ex fih am blendendſten hervor. Zulekt tra- 
ten zwo Weibsperſonen hinein, jungfräulid, ungeſchmückt, einfältig, edel: 
die Eine nannte fih Treue, die andre Liebe. Der Sophift erblakte, 
warf fih bin und und ber, zulett verflummte er, ergriff unwillig feine 
Papiere, und flieg vom Katheder. Murmelnd foll man ihn fagen gehört 
haben: „Dachte ih doch, nur mit Schminke bier zu thun zu haben; und 
da zeigen fich die wahren Töchter! der ungefhmintten, unüberwindlichen 
Wahrheit.“ 


3. Das Alter der Keligion. 375 


Die Religion freuete fich ihres Alters, ihrer noch fo friſchen Glieder, 
ihres noch fo Runzelloſen Angefihte. Die Andacht, ihre Schmweiter, 
nahm Theil an ihrer Freude: allerdings, fagte fie, haft bu Urſache, Did 
zu freuen, Schweiter; aber auch nicht zu fehr zu freuen, denn deine Jugend 
war in mandem doch anderd. Daß nah fo viel Anfällen mächtiger 
Feinde du noch erhalten und frifch bift; Haft Du dem zu danken, der als 
Bater, in der Kindheit dich pflegte, dein Gott der Wahrheit und Menfchen- 
liebe, aber etwas haben beine Kräfte Doch abgenommen, mie du felbft 
ſieheſt. Einft Lonnteft bu die Großen zähmen, bie deinen Zaum jett gar 
nicht leiden: einft die Armen nähren, die jett hungern; Gefete geben, vie 
jetst jeder auf das ſchändlichſte abwirft; der Philofophie gebieten, die nun 
über dich zu berrichen firebet; das Volt bewegen, das jett flarr ift; Gott 
vorftellen auf Erden, deſſen Ehrfurcht und Andenken jest beynab verſchwun⸗ 
den, den Satan liberwinden, von deſſen Waffenträgern jett alles voll ift. 
Die Religion feufzte: ihr Seufzer war das jchmerzbaftefte Geſtändniß. 
Guten Muth, Schmefter, ſprach die Andacht weiter: bedenke, wie berabge- 
fommen du vor einigen Jahrhunderten wareſt, und wie dir Gott dur 376 
wenige Männer in fo kurzer Zeit aufhalf. Giebt Gott bir deine erſte 
Jugend, deine alten Kräfte wieder, und er kanns! denn wollen wir jauch— 
zen. Vorjetzt wollen wir demüthig feyn und nicht ablaffen, zu bitten, zu 
ſtreben, daß Ers bald thun möge. 


Bier und zwanzigfter Brief. 377 


Ich bin ſehr bereit, jet näher ans Land zu fteuren, und 
die eignen Pläte und Wohnungen Theologiſcher Wiſſenſchaften mit 





1) ſich Töchter 


— 268 — 


Ihnen näher zu beſehen, auch Ihnen zu eignem Anbau der⸗ 
ſelben mein Gutachten nicht zu verbergen; vorher aber, m. Fr., 
warum wollen Sie and Land? Zum Vergnügen? Wollten wir 
da nicht lieber etwas anders befchauen? Warum Theologie eben ? 

Ich babe Sie um nichts befraget, fo lange wir ung bey dem 
Grunde des Glaubens, bey der Bibel, vermeileten; fie tft der 
Grund des Glaubens für jeden Chriften, nicht blos für den 
Theologen — — Über jeht, da es eigentlih auf Berufs: 
Amts - oder, wie e8 der Pöbel nennt, auf Handmwerfswiffen- 
Shaften kommen fol; darf und muß ich do fragen: warum 
wollen Sie fi diefen Beruf, Theolog und zwar Prediger 
zu feyn, wählen? - Sie wählen auf Beitlebens, auf Zeitlebens 
alfo wählen Sie fih ihre Ruhe oder innern Gram, frohe Nup- 
barkeit oder unnütze, |päte, vergebliche Neue. 

378 Und meiftens fommt beydes auf die Urſachen und Abfichten 
an, aus und zu denen wir mähleten. Wie die Wurzel, fo der 
Baum und feine Früchte: wie der Geift ift, der uns zu einer 
Sache trieb, fo find die Aeußerungen, fo die Folgen. Prüfen 
Sie fih hierüber ſcharf, aber männlich und rubig. 

Suden Sie Ehre, politiihen Rang in der Welt; warum 
wollten Sie fi diefen Stand wählen? Sie kommen in ihm nidt 
boh, und wenn Sie am höchſten gefommen find, ſchätzen manche 
Sie, des albernen Standes wegen, noch niedrig. Ueberdem ift 
wohl nichts unmwürdiger in der Chriftenheit, als ein Ehrwürdiger, 
der nah Ehre läuft und nirgend geehrt wird. Politiſche Theo- 
logen, feine Minifter » Theologen, mie fie meiftens find, find mir, 
zumal in ber Evangelifchen Kirche, die verächtlichften Leute. Dem 
armen Dorfpfarrer find fie Engel der Großen: den Großen find 
fie meiftens, ihrer friechenden Dienftbarfeit wegen, Engel.” Selten 
Salbung aufs Haupt, deito mehr nachgebenve, oft übelriechende 
Fußſalbe. Und kurz, ich glaube nit, daß der Mann, der nad) 
Ehre läuft, ſich in unfrer proteftantifchen Kirche zu einem Diener 


1) Gewürme. 2) Es fcheint ein Genitiv zu fehlen. 


— 2 — 


des Evangelium, auch nur feiner eignen Ruhe, noch mehr aber 
der Würde und Abficht feines Standes wegen, ſchicke — — 379 
Suden Sie die Theologie, des Glanzes der Beredſam⸗ 
feit wegen; Sie irren fih und werben bald mit Ueberbruß Ihren 
Irrthum finden. Mit den Demojthenen und Giceronen auf der 
Kanzel iſts nicht mweither: fie kommen auch nicht weit bin und wer- 
den ihrer Kunft meiftens felbft zuerft müde. Was it bier mit 
dem Donner der Kunſt zu donnern? mas mit dem Blisftralen der 
Beredfamkeit zu fchleudern? Wo ift Martt? Mo Boll und 
Abfiht? Welche ſchnelle Entſchlüſſe find hier zu erregen? melde 
Leidenihaften zu empören? melde Neuigkeiten zu deflamiren ? 
Schon die Sache der ftillen Vernunft und UWeberlegung, die Mate- 
rie des Rechts, der Belehrung, verſchmähet diefen fremden Bomp, 
dies widrige Geräufh von Worten; und Religion, das verjchmwie- 
gene, beſcheidene Kind des Himmels, jollte ſolche Ankündigung 
bedörfen, wollen, lieben? ja nur nicht äußerft verabicheun, haſſen, 
flieden? — Meiſtens geſchiehts auh, daß dem Declamator, wenn 
die Jugendhitze vorüber ift und mit den ‘Jahren der Berftand 
fommt, das Rauch- oder falfche Donnergefäß ſelbſt aus der Hand 
fällt. Die Floſkeln der Beredſamkeit um fein Haupt find verwelft; 380 
die nichtige Blüthen eines unmelentlihen Ruhms find abaefallen. 
Er findet, er muß zu viel prebigen, zu oft über Einerley pre- 
digen, über Saden reden, die in Wortſchmuck aufgelöft, nicht 
mehr, mas fie find, bleiben, alfo auch nichts mehr wirken, am 
wenigiten bey der vermilchten Menge wirken, die ja für das Feine 
der Beredſamkeit fein Ohr Hat. Oft werden daher die größeften 
Declamatoren zulegt die jchlechteften Prediger oder finds vielmehr 
immer gewefen. Wer einer Sade jelbft überbrüßig ift, wirds 
Ichmwerlich verbergen, daß nicht auch jeder ihrer überbrüßig werde. 
Oder wählen Sie den geiftlihen Stand einer einträglichen 
Stelle und der lieben Ruhe wegen, bey der fi fo gut ftubi- 
ren lößt? Ich wünſche Ihnen Glüd, wenn Sie beydes und 
zwar bald, nicht in den Jahren erft erhalten, da Sie mehr Luft 
haben, fih ind Grab zu ftudiren. Wie oft müfjen eben in dieſem 


— 265 — 


Stande die gejchidteften Candidaten am längften warten, weil fie 
fih doch ſchon durd ſich ſelbſt forthelfen, ohne zu betteln! mie 
oft müfjen die beiten Köpfe in den beiten Jahren auf einer elen- 
den Pfarre das Feld des Kummer adern, mo ihnen das Stubi- 
ven wohl vergehet! Erhalten Sie endlich eine befere Stelle, mit 

381 welchen Gejchäft » Kleinigkeiten ift fie nicht meiftens beladen, deren 
Wirkung aufs Gemüth, e8 ewig zu zerjtreuen und zu zerreiflen, 
Shrem ruhigen Studium eben nicht förderlich jeyn wird. Dem 
Amt Ahr ruhiges Stubiren eben fo wenig, Mancher, der fih in 
feiner, nicht Ihrer Sache zu Ihnen drängt und nicht zulommen 
Tann, mird fagen, was jener Bauer zum Bedienten des Biſchofs 
Huet jagte, da diefer immer vorgab, fein Herr ftubire: „ich dachte, 
der König hätte uns einen Bifhof geben können, der ſchon ftubirt 
babe und es nicht jet erſt thun dörfe.“ Warum wollten Sie 
alfo, wenn Wiſſenſchaft und Literatur Ihr Zweck ift, nicht diefen 
Zwed rein und allein wählen? Werden Sie Lehrer auf Schu- 
len oder Academien, im legten Fall dörfen Sie fih ja aus 
Ichließend auf Ihre Lieblingswiſſenſchaft legen und können 
größern Nuten ftiften. Im geiftlihen Stande ift alle Wiſſen⸗ 
Ihaft und Literatur nur Mittel zu Ihres Amts Endzweck. 
Wollen Sie mit diefem und mit fich felbft in Ruhe und reblicher 
Harmonie leben: jo muß feine Nebenfache Hauptwerk werben ; fein 
redliher Mann wählet fih ein Amt, damit er nicht das Amt, 
jondern ein anderes Ding treibe; font! wird auch gemeiniglich 
aus Haupt» und Nebenſache nicht viel. 

382 Endlih wäre auch wirklich Ihr Zwei, Fromme Eindrüde 
unter den Menſchen zu befördern, fo feyn Sie noch auf guter Hut, 
weß Geiſtes und Grundes dieſer Trieb ſey? Ach Halte Sie von 
dem Methodiſmus frommer Empfindungen fern, aus dem felten 
was Rechtichaffenes wird, oder lange bleibet; ich weiß aber, daß 
uns zumeilen eine jugendliche Hite für frommen Enthufiasmus 
gilt, und bey den beften Menſchen das Herz den Verftand auch 








1) da 


— 266 — 


übereilet. In Entſchlüſſen aufs ganze Leben hat dies üble Folgen, 
und Chriſtus räth nicht umſonſt, eh man ein Haus bauet, zu 
ſehen, auf welchen Grund man baue? Faſt iſt kein Stand unter 
allen gelehrten Ständen, wo ſo viel Krüppel zuſammen kommen, 
als der geiſtliche; Noth, Armuth, niedriger Ehrgeitz, hundert 
ſchlechte Vorſtellungen treiben die Menſchen dahin zuſammen, ſo 
daß Gott ſtatt der Erſtlinge ſeines Geſchlechts oft mit dem Aus⸗ 
ſchuß zufrieden ſeyn muß. Ob nun gleich auch hierinn feine Hand 383 
im Spiel iſt, und ſelbſt durch dies Unedle bisweilen Zwecke 
befördert werden, an welche das blinde Werkzeug nicht denkt: ſo 
iſts doch von unſrer Seite Pflicht, jeden Gottesdienſt vernünf⸗ 
tig feyn zu laſſen, daß es ein lebendiges, reines, ihm wohl- 
gefälliges Opfer werde. ch fchreibe Ahnen alfo nicht, mas 
ih für die reinen Zmede in Beſtimmung zu biefem Stande 
halte; fchreiben Ste mir dieſes aus Ueberlegung und Weberzeugung. 
Sch bin fodenn bereit, mid) nad beftem. Wiffen über Alles zu 
erklären, morüber Sie mich fragen: denn in der Welt fenne ich 
fein belohnenders Geſchäft, ala Jünglingen zur nähern Beſtim⸗ 
mung ihres Lebensmweges zu dienen. Erlauben Sie, daß ich aber- 
mals mit einigen Parabeln von eben dem gelehrten, frommen und 
angefehenen Theologen unfrer Kirche ſchließe, von dem aud bie 
Beylagen meines legten Briefe waren. Nennen werde ich ihn 
fünftig, bey Fällen, mo er uns noch ftrengere Wahrheit wird jagen 
müſſen. 


1. Der Provinzial. 384 


Werner von Oushuſen, ein Provinzial, pflegte, wenn er feinen 
Sprengel bereifete, die Geiſtlichen dreyerley zu fragen. Erftlich: wie fie 
ing Amt gelommen ſeyn? ob bey Zage, als ihre Vorgefekten machten: 
oder bei Naht, als die Leute fchliefen und der böſe Feind jäte? ob auf den 
Füffen, durch gutes Verdienſt; oder zu ‘Pferde, auf kräftigen Vorbitten und 
Recommendationen? ob durch die Thür — eines orbentlihen Rufs; oder 
hinein zum Fenſter? — Dies war bie erfte Frage; die zweyte hieß: wie 
fie im Amt lebten? ob bes Herren Weinberg bauend oder von beffen 
Früchten zebrend? ob fie andre ftreichelten, falten; ober arzneyeten unb 


— 267 — 


geſund machten? ob ſie mit ihrer Pflicht ſpielten, oder ſie von Herzen, 
mit Mühe trieben? Die dritte Frage war: wie ſie herauszuziehen 
gedächten? ob fett an Gütern, von Müßiggang weich, glatt und gleißend 
385 an gutem Namen; doer dürre von Kreuz, voll Schwülen bes Knieens vor 
Gott, vol Runzeln der Undankbarkeit von Menſchen? Oft verfiummten 
die Herren zu dieſen Fragen. Denn wandte er fih an die Jünglinge: 
warum fie ind Amt wollten? wie fie zu dem fhweren Schritt, Geiftliche 
zu fepn, gelommen wären? Die waren offener; meiftens hörte er aber: „ie, 
„das ginge fo! Geiftlich ftudire fich fo leicht; geiftlich gebe jo bald Brobt, und 
„fo bequemes Brodt, und wenn man einmal drinnen fey, jo fichered Brobt, und 
„fo anftändiges, Ehrwürdiges Brodt. Da bebörfe! man fo wenig Geidid- 
„Lichleit, und doch rüde man mit der Zeit weiter.” Der Provinzial fenfzte. 
Stlüdtiches Jahrhundert, ſprach er, das den ſchweren Dienft Ebrifti, in 
dem Betruß und Baullus nur Leiden, Schmadh und Tod fanden, in To 
bequeme Ruhe, Gewinn, und Ehrenſtellen zu verwandeln gewußt bat. 


386 2. Die begrabene Wahrheit. 


Nur Gott iſts, der die Todten ermedet, es fey denn, daß er etwa 
feiner Lieblinge Einem die bimmlifche Gabe leihet. Wir thun wohl, ver- 
ſtorbne Heilige wenigitend im Grabe zu ehren und ihr Andenken unter 
uns zu erhalten. 

So am man neulihd an bie Grabfläte einer fehr berühmten, ber 
Sage nah fehr verdienten Berfon, ber Wahrheit. Alle Merkmale gaben®: 
bier liege fie und fo grub man ihr mit groffer Begierde, mit unermüdetem 
toftbaren Fleiß nad. — Dan fand fie endlich. Keine Infchrift, kein Dent- 
mal auf den Trümmern ihres zerfallenen Sarges, als die wenigen Worte, 
die man herausbrachte: 

„zu meiner Zeit.“ 
Ihr Leichnam war entftellt, verfiämmelt, mit Unrath bebelt. Keine Würze, 
fein Balfam um ihn ber, fondern Unrath, in den er zur Schmach verfenlt 
887 war, und den vom heiligen, fehönen Körper hinwegzubringen, Mühe machte. 
Siehe, da fand fi endlich ihm unter dem Haupt eine eherne Tafel, mit 
der Infchrift: 
Ich, die Wahrheit, 

Gottes Tochter, der Menfchen Freundin, 

durch Satans Lift und Trug der Welt, 

durch Fleifches Weichlichleit und Tyranney, 


ı) dörfe 


— 268 — 


durch Priefterträgbeit, der Weltlinugen Bosbeit, 
des Witzes Leichtfinm, der Gelehrten Narrheit 
und Pöbeld Starrigteit 
lieg’ ich erfchlagen bier, mit Koth bebedt. 
Du Nachwelt, lebe wohl! 
Nach Hundert Jahren 
feh ih die Sonne wieder. 
Wie erfhrad, wie freute man ſich, da man die Grabfchrift fand. Man 
halt die Vorzeit, man pries die glüdliche Nachwelt. Der Wahrheit ward 
ein marmorn Grabmal errichtet, Würze bufteten um fie, ihr wurden Kränze 
geopfert, die prächtige Grabfchrift enblich binzugetban: 
Wären Wir 388 
zu unfrer Väter Zeiten geweſen; 
wir wollten nicht theilhaft feyn mit ihnen 
an der erfchlagnen Wahrheit Blut. 
Mattb. 23, 30. 
Grabmal und Grabſchrift fielen ſchön ind Auge; die Wahrheit aber erwachte 
davon nicht wieder. Man ſagt, fie fchlafe noch in dem geihmüdten Mar⸗ 
morgrabe, und barre, bis ihre Zeit kommt. 


Ende des zweyten Theils. 


Briefe, 
das Studium der Theologie 


betreffend. 


von 


% G. Herder. 


Dritter Theil. 


mm — — — — — — —— — 


Zweyte verbefferte Auflage. 


Weimar, 
bey Carl Zudolf Hoffmanns 


fel. Wittwe, und Erben. 
1781. 1786. 


1) „von 3. &. Herder.” fehlt in AB. 


Vorbericht 


zur erften Ausgabe. 


Der Herausgeber bittet beim Lefen dieſes Buchs! den Titel 
deſſelben nicht zu vergeilen; es find nur Briefe, Briefe, das 
Studium der Theologie nur betreffend. In Briefen erwartet 
man feine Abhandlungen, noch weniger Abhandlungen in fteifer 
Einförmigfeit und Proportion der Theile. Wie fich die Materie giebt 
und wendet, wie fich das Geſpräch zieht und bindet, oft wie Lieb- 
haberei oder einzelne Zwiſchenvorfälle es abjegen und lenken, fo 
wenden fich,? fo folgen die Briefe; und ich müßte mich fehr irren, 
wenn nicht diefer Faden eines lebendigen Zufammenhanges, dies 

. 12, yti. Individuelle? ihres Urſprungs und ihrer Beziehung fie eben dazu 
machte, was fie in der Handichrift jeyn follten* und nachher im 
Drud freilich nicht mehr find. Auch kann ich e8 nicht bergen, 
daß bei diefen Briefen, wie fie jeßt gedrudt find, gerade viel- 
leicht das Lehrreichite, die genauere Beurtheilung ein- 

1) Der Anfang lautet in X: 

Bor Allem wirb ber Leſer erfucht, im dritten und vierten Theil biefer 
Briefe nachflehende Drudfehler zu ändern, ehe er zum Leſen gebt. Sie 
bindern den Berfland oder machen ihn ein paar mal gehäßig und wibrig: 

[folgen acht Drudfebler.] 
Die übrigen Heinern Drudfehler, Verwechslungen eines Buchſtabs oder eines 
Unterſcheidungszeichens werden fih im Leſen felbft finden. 

Zweitens bittet ber Herausgeber beim Lefen des Buchs 

2) fo fpringen, 3) dieſer lebendige Faden, dies Individuelle 

4) follen 





— m — 


zelner Schriften fehle. Es Hat fi) indeſſen nicht anders (II) 
thun lafien und noch weiß ich faun, ob die folgenden Briefe, 

in denen die Dlaterien immer fpecieller, andringender, indivi- 
bueller werden, gar des Druds fähig jeyn dürften. Die öffent- 
lihde Stimme des Markts und die vertrauliche eines Privat- 
Briefmechjeld find und bleiben immer ſehr verjchieben. 

Gnug, diefe Briefe jollen dag Studium der Theologie ja 
nur betreffen; und was betrift eine Sache nicht manchmal 
im Privatgeijprähe? est ifts eine Kleinigkeit, ein für andre 
unmwichtiger, diefem Paar aber ein wichtiger Umijtand; jetzt 
ziehet fie Neigung, Herz, Liebhaberei! dahin, mo andre ein 
trodner Plan nicht binziehen würde — furz, wer hat wohl an 
den befannten und fo nußreihen Briefen, die neuefte Litteratur 
betreffend, (mit denen indeß diefe Briefe nichts gemein haben 
fonnten und follten) wer hat an ihnen je ein Syftem der 
neuejten Litteratur erwartet? 

Den 3. Dec. 1780.2 
1) Liebe 
2) Unterfohrift in A: Der Herausgeber. 





Vorbericht 


zur zweiten Ausgabe. 


Die Eigenliebe eines Schriftſtellers, falls er ſich beim Schrei- 
(III) ben feines Buchs Feiner edlern Triebfeder bewußt ift, müßte ſich 
ohne Zweifel jehr gedemüthiget fühlen, wenn nad) wenigen 
Jahren, da die Schrift eine neue Auflage erlebt, ihn ſelbſt Schon 
ein Theil ihres Inhalts weniger befriedigte, als da er fie zum 
erftenmal herausgab. Er könnte ſodann wahrfcheinlich darauf 
rechnen, daß in andern Stüden Andre noch unbefriedigter als 
Er jeyn werden, und die papierne Ewigfeit feines Werks müßte 
dabey manche Gefahr laufen. nn 
Dem Schriftiteller, der nicht aus Eigenliebe fchrieb, wird 
das an fich unangenehme Gefühl der Unpollfommenheit feines 
ehemaligen Werks durch eine andre Vorftellung, wo nicht ver- 
jüßet, jo doch gemildert. Er fühlt nämlich, daß die Wiſſenſchaft, 
die er bearbeitete, oder feine eigne Känntniß und Erfahrung 
fortgerüdt jey, und warum jollte er fich darüber nicht freuen 
dürfen? Warum fich nicht freuen dürfen, "daß, wenn er jet 
den Weg zu gehen, diefe und jene Materie abzuhandeln hätte, 
er fie mit mehrerer Gemwißheit und Sicherheit würde abgehan- 
delt, er feinen Weg mit weniger Ummegen würde verfolgt 
haben? Wozu wäre das menjchliche Leben, wenn man in ihm 
nicht täglich lernte? 
(IV) Wenn mir alfo aud) bei diefen Briefen mein Geift oftmals 
jagte, daß, wenn ich fie jet zu fchreiben hätte, ich fie bie und 
Herbers fänmtl. Werte, X. 18 





— HU — 


da anders würde gejchrieben haben: fo ſagte mir zugleich mein 
Herz, daß ich fie Damals jo gut jchrieb, als es die Gelegenheit 
gab und ich fie nach vorliegenden Umftänden zu jchreiben wußte. 
Ich habe in dieſer Ausgabe gebeffert, was fich ſowohl in Behand- 
lung der Materien als in der Schreibart befjern ließ, und wer 
| Geduld hat zu vergleihen, wird auch aus diefen Aenderungen 
ı lernen. Umſchaffen ließ ſich indeffen das Buch nicht: denn 
es iſt ein Briefwechjel, der fih auf Umftände einer Zeit und 
Verfon gründete, und der muß er bleiben. Eben als folder 
ift er, wie ich weiß, für manden Jüngling belehrend geweſen, 
und wird es, wie ich hoffe, für manchen andern noch jet wer: 
den. Geſichtspunkte, Litteratur und Form einer Willenfchaft 
verändern ji” mit den Jahren; das Wahre, Wejentliche und 
Herzlide der Theologie und NWeligion wird zu allen Zeiten 
Daſſelbe jeyn und bleiben. 
Weimar, den 8. Jul. 1786. 


J. &. Herder. 


p.12, Hr. 











(M) 


Br. 


(VI) 


Inhalt. 


. 25. Auch die Theologie ift ein Tiberales Studium und will feine 


Sklavenſeele. Auſicht der Dogmatit, Polemik und der Wiffen- 
ſchaften des Ausdruds aus dieſem Geſichtspunkt. Eine Stelle 
de8 Marimus Tyrius. Nachſchrift. „u... .. 


. 26. Obs einen Zwiſt gebe zwiſchen Natur und Schrift, Vernunft 


und Offenbarung? Verhältniß zwifchen ihnen nad) Maasgabe der 
Geſchichte der Vienfchbeit. Die Farbe und das Ficht, eine Fabel! 


. 27. Fortſetzung der Materie. Lob derer, die die Naturtheologic 


fortgebildet. in Platonifche8 Lehrgedicht: Sokrates oder von 
der Schönheit. .P 


. 28. lieber einige Waturtheologen, infonderbeit Shaftesburi 


und Rouffeau. Behutfamteit in Lefung bdeiftifger Schriften. 
Der neunzehnte Pſalm. P 


. 29. Dogmatik iſt eine Philoſophie aus der Bibel. Anpreiſung 


der Philologifhen Methode. Bon der fcholaftiihen Terminologie: 
wo und wiefern fie nöthig oder unnöthig ſeye? Wunſch einer 
Philoſophiſchen Gejhichte der Dogmatik. Kurze neuere Gefchichte 
de8 dogmatifchen Predigtvortrageß in Deutfchland. . 


. 30. Bon Gott. Warnungen fir Entweihung feines Namens 


durch Geſchwätz, Spisfindigleiten und Battologee. Ob die Kos— 
mologiſche Theologie in allem für den gemeinen Mann ſey? 
Einige Schriften hiezn. Em Hymnus. P. 
31. Ein Pſalm auf die Vorſehung. Vom Gebrauch und Uebung 
dieſer Lehre. Vom Göttlichen im Leben eines Menſchen. Von 
der geheimen Wiedervergeltung. Von der moraliſchen Regierung 
Sotte8 auf unfrer Erde. P. 


. 32. Schriften dazu. Lieber die Lehre von den Engeln und 


dem lirfprunge des Uebels. Kurzer Entwurf bes Syſtems der 
Offenbarung. .P.... 


. 33. Von den mancherlei Zuftänden ber Menſchheit. Bon der 


eriten Unfchuld, der Erbſünde, dem freien Willen nach dem Kal, 
1) „Die — Fabel.“ fehlt. 
18* 


Seite 


24 


72 


80 


102 


Br. 


— 2716 — 


der Gnade. Lob der Lutherſchen Schriften. Warnung vor dem 
pietiftiichen Dietbobifmus. Ein Hymnus. . 
. 34. Bon Apollonius von Tyana. Ob Pbiloftrats Beſchreibung 


von ihm Gefchichte oder Roman ſey? Ob er mit Chrifto etwas 
gemein Babe? Bon Geſchmack philofophifcher Romane. Ob daB 
Chriſtenthum durch Aufpußungen der Art gewinne oder verliere”? 
Obs allein in der Aufllärung beftehe? und ob wir jet in ben 
männlichen Jahren deſſelben ſeyn? Warnung vor Leſung zu vie- 
ler und allerlei Schriften. Luther Borrede zu feinen Werken. .... 
35. Leber den Zmwed Jeſu. Vom Zwed des Lebens eines Men- 
fen überhaupt: Schwierigkeiten bes Urtheils darüber. Ueber die 
Quellen zu Beurtbeilung des Lebens Jeſu: feine Geburt, Er- 
zichuug, Taufe, Lehre, Wunder. Wahrfcheinliche Beranlafjung 
des Buchs vom Zwei Ielt. .......0nen0renennessnssnsennennenssnnnennnennnnnennensnnnnn 


. 36. SFortfegung der Materie. Vom Einzuge Chrifti, feinen 


Tode, feiner Wiederkunft, feinem Reich. Bon feinen Jüngern 
und der erften Giütergemeinfchaft. .. 


. 37. Bom Werk Ehrifti, feinen Aemtern, der Dreieinigfeit, dem 


Gebet, der Auferftehung, dem Weltgerichte. Schluß mit einigen 
Gedanken des Bao. .necnnsessusenensennenesnnnnnsnnenenuennannnnnsennnnsnnnennenennnsnnne 





Fünf umd zwanzigfter Brief. 


Die Kleine Gejhichte Ihres Lebens, m. Fr., die Sie mir mit 
jo vielem Zutrauen erzählen, ift freilich Antwort auf meine Frage. 
Allerdings entjcheiden Umſtände und Zufälligfeiten bei vielen und 
den meilten aufs ganze Leben; bei Ihnen aber follen und müſſen 
fie nicht entſcheiden. Eindrüde der Jugend vergchen: eine Wolfe 
von Zeitentichlieffungen verraucht; Vernunft allein, göttliher Zug 
und Trieb des Herzens, innerer und äußerer Ruf von Beweg- 
urfahen, Zweden, Fähigkeiten und Kräften, bleibt der Dämon, 
der und am gewiſſeſten leitet.! or jest alfo laſſe ich Ihre Blödig- 
fett in Ruhe; nur aber dazu, daß Sie fih bei allem, wovon 
weiter dic Rede feyn wird, ſchärfer prüfen. Hören Sie mich nod) 
als Fremder, als Freund? der Theologie: noch nicht als ein an 
fie verfaufter Knecht und Sklave. Uhnftreitig hören Sie ſodenn 
edler, williger, freier. 

Behalten Sie, mein Freund, diefe erſte Erinnerung: denn ic) 

2 weiß nit, warum man bei der Theologie nicht jo freien Sinnes 
und beitern Geiftes ſeyn könne, ala bei einer der andern Wiflen- 
haften? Theologie iſt gewiſſermaaſſen die liberalfte von allen; 
eine freie Gottesgabe and Menſchengeſchlecht, die dieſem auch zu 
allem liberalen Guten der Vernunft, einer edeln Tugend und Auf- 
Härung geholfen. Theologen waren die Väter der Menjchenver- 
nunft, des Menfchengeiftes und Menſchenherzens. Die erften Weifen, 
die erften Geſetzgeber und Dichter gingen aus biefem heiligen Hain 
aus; und oft nur ſpät haben fich die verſchiedenſten und Tlärften 

1) bleibt unfer gewißefter leitender Dämon. 

2) Liebling 





— 278 — 


Wiſſenſchaften aus der alten Theologie, wie! dic Frucht aus der 
Knofpe, losgemunden. Warum follten wir uns nicht dieſes 
Urfprunges freuen und mit alle dem Feuer, mit alle der Liebe, 
womit Dichter, Propheten, Weife des Alterthums ihre hohen Wahr- 
heiten, oft mangelhaft gnug, der Welt Fundthaten, dieſe jet in 
einem veinern Lichte, in einer edlern Begeifterung lernen und 
lehren? Wenn Orpheus und Homer, Pythagoras und Plato, 
Hefiodus und Pindar die Geburt und Herrlichkeit, die Negierung 
und Wunder ihrer Götter, die erſten Knoſpen menſchlicher Lehre 
und Tugend mit Schwunge, mit Entzüden preilen; warum fchlagen 
wir, wenn wir vom wahren, cwigen Gott und feinen Wundern, 3 
von feinen Veranftaltungen mit dem? Menſchengeſchlecht zu deſſel⸗ 
ben ewiger Würde reden, knechtiſch die Augen nieder? Oder glau: 
ben wir, daß ſich mitten im Licht am beften mit verbundnen Augen, 
mit einer bleiernen Binde um Sinn und Seele, jehen? daß ſich 
die Wirkung des edelſten Geiſtes, nur wenn der unſre am unfreic- 
ften, unebeljten iſt, am beiten jpüren? lafje? Erwachen Sie, lieber 
Jüngling, aus diefem niedrigen Traum? in einem fo ungefunden, 
drüdenden Nebelthale. Offenbarung Gottes ift Morgenroth, Auf- 
gang der Frühlingsfonne fürs Menſchengeſchlecht mit allem Licht, 
mit aller? Wärme und Lebensfülle derjelben; was foll zu ihr die 
gedrüdte, grämliche Mine, als ob die zu Bibel und Theologie, 
wie der Betteljad zum Betteln gehöre ? 
Ach ich gefteh es dir, es ſchmerzt mich nur zu oft, 
wenn, wo mein müder Geift Belehrung Gottes hofft,® 
ein dumpfes, dürres Blatt mit Talteın Lob’ ihn hönet, 
und Tand mit ofen Frönet.? 
1) aus der Theologie himmliſchem Schleier, wie 
2) Beranftaltungen ums 3) iſt, ſpüren 
4) dieſem Sklaventraum 5) Licht, aller 
6) den Herrn zu finden hofft, 
7) (Withof:) Wan, da mein müder Geiſt was guts zu finden hofft, 
Manch abgeſchmacktes Blatt Gott, Wolſtand, Tugend höhnet, Und Tand 
mit Liedern krönet. 





— 279 — 


4 Der rühnt die Wahrheit hoch; doch Geift und Kraft gebricht! 
Der buhlt um ihren Schinud und hat die Wahrheit nicht: 
Der mahlt die Tugend ung, doc nicht, daß auch Beichwerbe 
in ihr gefällig! mwerbe.? 


Mich veizt, was Perfien vom Oromazes? fpridt: 

Bon Wahrheit ſey fein Geift, fein Körper fey von Lid; 
Da die, die er befämpft,* mit Finfterniß und Lügen 
ih und die Welt betrügen — —* 


Iſts nicht Tonderbar z. E., was man für dumpfe Vorurtheile 
gegen Dogmatil, Homiletil, Polemik, ja gegen Bibel und 
Theologie überhaupt hat, als ob da aller geſunde Verſtand im 
Lehren und Lernen aufhöre und der elendefte Sklavengeiſt allein in 
ihnen jein Theil finde? Was ift denn Dogmatik, recht gelehrt 
und recht verftanden, als ein Syſtem der edelften Wahrheiten 
fürs Menſchengeſchlecht, feine Geiftes- und ewige Glüd- 

5 feligfeit betreffend? cine scientia rerum diuinarum et huma; 
narum, mithin die jchönfte, die wichtigfte, die wahrefte Philofophic- 
wie fie auch die Kirchenväter geheiffen haben, eine philosophia 
sacra. Sie ſpricht von alle dem, wovon die Philoſophie ſpricht: 
fie nutzt alles, was die Philofophie Wahres weiß und hat, denn 
die Vernunft ift ihr eine edle Gottesgabe; fie ftügt e8® aber mit 
mehrern Gründen, fie holts aus einer höhern Duelle, fie ver» 
mehrt3 mit unendlihen, neuen, ſchönen Ausfichten — jollte das 
Ichte fie deßwegen zur unfreien, brüdenden Sklavenlehre machen? 
Iſt nicht Wahrheit überall, auch im Nugen und in Reizen die— 
jelbe Wahrheit? Iſt eine Verbindung von Lehren, die alle in 
rechten Derbältniß, nit ihren Gründen und Zwecken vorgetragen 


1) in ihr zur Wohlluft werde. 

2) W.: Der rühmt die Wahrheit audy, allein der Schmud gebricht. 
Den Schmud findt diefer zwar, doch Wahrheit fucht er nicht. Dort lodt 
der Bortheil wol, allein das Rauhe quählet, Da bier das Wefen fehlet. 

3) ®.: von Oromagbes 4) W.: die du belämpfft, 

5) W.: betriegen. 6) ſtutzts 





— 0 — 


werden, nicht Harmonie? Harmonie für den edelſten Sinn der 
Menſchheit, den Verſtand, auch! in Anmuth? denn wo iſt der 
Weiſe des Alterthums, der uns ein ſolches Gebäude, eine ſolche 
Ausſicht von Wahrheiten, Lehren, Pflichten und Hoffnungen gege- 
ben hätte, als unſre Chriftlihe, bei Chriften und Unchriften ver⸗ 
achtete Dogmatik wirklich ſeyn follte?? — — Polemik (das 
zarte Nervengebäude unſers Jahrhunderts erzittert bei dieſem ver- 
haßten, nicht? ganz ohne Recht verhaßten, wenigſtens unſchicklichen 
Namen) Polemik in gutem Verſtande, iſt fie etwas anders, als 6 
eine philofophifhe Geſchichte der Dogmatil? und ift fie 
nicht eben damit die interefjantefte Geſchichte von einem großen 
Wirkungsfreife des Menfhliden Geiftes? Welch Ding 
bat mehr Revolution in der Welt gemacht, als Religion? Revo— 
Iution und Religion in gutem und böjem Berftande. Sie fennen 
das Schöne Bild hievon in Klopftod;*) und die Geſchichte ift der 
große Sommentar des Bildes. Man Hat mit ihr und über fie 
geftritten, verfolgt, gehaßt und gemorbet; aber fie Gottlob! aud 
unterfucht und gelehrt, durch fie erquicdt* und getröftet. Der 
menschliche Geiſt hat fih durch den guten Gebrauch derjelben zu 
dem gebilbet, was er tft; durch ihren Mißbrauch aber freilich auf 
die entſetzlichſte Weiſe aufgehalten und? zerftöret. Sehen Sie nun 
eine Gefchichte, die dies alles unterfught, die Fuß für Fuß zeiget, 
wie jede Lehre des Chriftenthums allmählig entwidelt, gleichſam im 
Kampf erwachſen, unter Feinden und Gegnern mächtig geworben 








*) Religion der Gottheit, du heilige Dienfchenfreundin, Aber ein 
Schwert in des Rafenden Sand u. f. Gef. 1V. 3. 450. 


1) Nuten und Reigen diefelbe Wahrheit. Iſt ein Gebäube, eine 
Berbindung von Lehren in ihrem Verhältniß, mit ihren Gründen und 
Zwecken, nicht Harmonie? Harmonie .... ber Menfchheit, auch 

2) Wahrheit, Lehre, Pflicht und Hoffnung gegeben als .... Dogmatif 
feyn ſoll? 

3) verbaßten und freilich nicht 

4) und an ihr geftritten .... aber auch unterfucht und gelehrt, erguidt 

5) aber auf bie entfetlichfte Weife erniedrigt und 





— 2331 — 


fey? welche Mittel man jedesmal zu ihrer Anfeindung und Ber- 

7 theidigung gebraucht ? welche gute und böfe Kunſtworte man erdadht? 
was jedes zu jeder Zeit für Zwed gehabt? was für gute und böje 
Leidenſchaften fi in diefen abmwechjelnden Kampf der Wahrheit 
und Lüge, des Lichts und der Finfterniß gemifcht haben und noch 
miſchen? Was denn hinter und unter diefen Meer von Fluthen 
und Meinungen cndlih und jest gemifler Grund, Gold» und 
Feljengrund ſey? Dies alles und nody jo viel mehr, das die 
Sade ſelbſt zeige — jeten Sie davon eine philöfophifce 
Geſchichte, die ift, was fie feyn fol, und ihrem Gegenitande in 
alle Krümmen, Winkel, Abmwege und Falten folgt; kanns ein 
angenehmeres, mannichfaltigeres, belehrenderes Studium, ala fie, 
geben? Das Studium des Ausdruds und PVortrages theolo- 
gücher Wahrheiten endlich — ift an den Wahrheiten felbft etwas, 
find fie, was fie find, die wichtigjten, vielfeitig- und doch einfach: 
ften Wahrheiten fürs! menſchliche Weſen; mid dünkt, fo hat das 
Studium ihres PVortrages, ihres Ausbruds, ihrer Berebfamteit 
alle die Reize, die je eine wahre, nützliche Beredſamkeit haben 
kann. Wahrheit und Tugend find die edelſten Schäte der Menſch⸗ 
beit; und die Wiflenfchaft, die ſolche lehrt und anwendet, ift, 
dünkt mich, die ebelfte Wiſſenſchaft von allen, und das iſt Theo- 
logie, Lehre von Gott und dem Menjchen.? 

8 Wer, mein Freund, fi reines Herzens und edeln Geiltes 
fühlt, diefe Erkenntniß und Wiſſenſchaft, als das liebſte Gut, den 
Zwed feines Lebens zu treiben: wer fi) vor andern beruffen fühlt, 
den Menſchen diefe Wahrheiten ewiger Glückſeligkeit wichtig, aufs 
neue wichtig zu maden, die alten Stleinode derſelben, bie und da 
vom Roft und Staube der Zeit bebedt, neu zu fäubern und fie 
ala Heiligtümer der Ur- und Nachwelt, dem Bolf in neuer 
Schöne und Herrlichkeit zu zeigen; wer fi Hohen und reinen 
Muthes gnug glaubt, die Vorurtheile des Zeitalters zu verläugnen, 


1) find, die bildenbften, wichtigften, vielfeitig einfachiten fürs 
2) Wißenfchaft Aller, Theologie, Gotteslehre. 


— RB — 


lieber, wie Paulus vom Mofes jagt, mit! dem Wolf Gottes 
Armuth zu leiden, als nah Ehre, Reichthum, politifcher Hoheit, 
finnliher Luft zu laufen; die Schmach Chriſti lieber zu haben, 
als die Schäte Aegyptens; der werde, wie chen biefer feltene Mann 
den? Timotheus nennet, cin Gottesmenſch, ein Theolog; mo 
nicht, jo werde er etwas anders. 

Kein Stubium hat vielleicht zu allen Zeiten fo wenige gehabt, 
die ihm ganz und treu dienten, als die Theologie; cben weil fic 
beinah ein übermenfchlihes, güttliches, das fehryerfte Studium ift. 
Leſen Sie hierüber die Briefe Pauli an Timotheus und Titus. 
Kein Studium Hat aber auch vielleiht fo viel Gutes und zwar 
das cbelfte, ein ftillverboranes® Gute geftiftet, als Theologie, 
wenn ihr Schag, aud in irrdifchen Gefäſſen, nur ceinigermaafjen 
blieb, was er ſeyn ſollte. Ich will ihr feine Xobrebe halten: denn 
fie verfchmähet Lobreden und Ehrenkränze; aber die einfachſte, 
edelſte Aufklärung,‘ Wahrheit zur Gottſeligkeit und ihre 
Menſchenholde, tröftende Wirkung — fie wärmt und erhält unter 
Schnee und Froft die Wurzel, das Mark, den Samen der Menjd- 
heit. Unter Prieftern und Layen wird Chriftus fennen, die 
jeines Theil® find, die dies Eine Werf® Gottes mit ihm 
trieben — 

„O Zeus, Athene und Apollo, (rufft ein griechiſcher Redner 
„zum Lobe der Philofophie aus) ihr Auffcher menschlicher Sitten! 
„Philoſophen müffet ihr zu Schülern haben, die eure Kunft mit 
„ſtarker Seele faflend, eine ſchöne und glüdlihe Ernte des Lebens 
„zu geniefjen ftreben. Uber e3 ift felten, das Werk diefes Ader- 
„baues; es geräth mit Mühe und langjam. Indeſſen wie in 
„einer dicken Naht es nur weniges Lichts bedarf zur Erleuch— 
„tung: jo bedarf aud das menfchliche Leben dieſes feltnen und 
„wenigen Zunders nur bie und da; in diefem und jenem Men- 10 





1) fühlt, .... lieber mit 2) wie Baulus den 
3) ebelfte, ftillverborgne 4) Aufllärung, die ftille 
5) die Ein Verf 





De) 














— 283 — 


„ſchen einen flammenden Funken. Denn des Guten und Schönen 
„in der menſchlichen Natur iſt überhaupt nicht viel: der Himmel 
„will aber, daß durch dies Wenige das Ganze erhalten werde. 
„Nimm dem Leben die Gottesweisheit: ſo nimmſt du ihm ſeinen 
„erſten lebendigen Funken der Begeiſterung, wie wenn du dem 
„Körper die Seele, der Erde die Fruchtbarkeit, dem Tage die 
„Sonne nimmſt: der Körper iſt todt, die Erde unbrauchbar und 
„der Tag verſchwunden.“ 


Nachſchrift. Wollen Sie die ſchöne Abhandlung eines unpar- 
theiiſchen Mannes über da3 Studium der Theologie Iejen: jo 
befünnmern Sie ih um Nobert Boile, des berühmten, Ruhm- 
würdigen Phyfifers, Heine Theologifhe Schriften In 

11 ihnen. ift die untenbenannte Abhandlung,*) fo wie eine andre über 
die Shreibart der Schrift, über die Verehrung, die 
der menfhlide Verftand Gott ſchuldig ift, u. f. fehr! 
lesbar. Die Schriften unfrer alten und guten Theologen find voll 
diefer Materie; durch fie muß man die Theologie, wie den Baum 
an feinen guten Früchten, beurtheilen, ſchätzen und lieben lernen. 

Die Folge, wenn wir auf Lebensbeſchreibungen und Amisfüh— 
rungen der Theologen kommen, wird uns hierüber ein Mehreres 
jagen.” Leben Sie wohl. 


*) „Bon ben Vorzligen des theologifchen vor dem Studium der Welt- 
weisheit.“ Man bat auch eine deutfche Ueberjeßung von fogenannten aus- 
erlefenen tbeologifchen Schriften R. Boile, Halle 1709. 


1) if, ſehr 

2) fagen; vorjetst feyn Ihnen die Hirtenbriefe Paulli, die Beruffungen, 
Klagen und Lobſprüche mancher Bropbeten über ihr Amt und deſſen Wirkung 
das bitterfüße Buch, das Sie freudig und Herzlich koften. 


— 234 — 


Sechs und zwanzigfter Brief. 


Sie find alfo auch in den unfeligen Zwift zwiſchen Natur 
und Schrift, Natur und Gnade, Bernunft und Offenba- 
rung gerathen! fo tief bineingerathen, daß Sie feinen Ausweg 
wiffen und glauben, Eins von beiden aufgeben zu müflen, um 
das Andre zu erhalten. Ich bitte Sie, m. Fr., fehen! Sie um 
ih: es ift nicht Zwiſt, jondern nur verfhiedne Bahn auf Einem 
Wege, mehr oder minder zu Einem Biel. Hören Sie mid an. 

Es ift nicht gut, daß man Gegenſätze madt, wo feine find; 
nod minder, daß man zwiſchen friebfertige Partheien Zerrüttung 
ſäet und Eine, weil fie nicht die Andre ift, auf Koften der andern 
lobt. Mich dünkt, die Retorfion wird das Mindefte ſeyn, das 
darauf folgt. So gings vielleicht zwifhen Theologen und den 
fogenannten Naturaliften. Was demonftrirten jene nicht! was 
fanden fie nicht für gut zu demonftriren! Die geihlagene Blind- 
beit unfrer Vernunft; und denn follte doch diefe ftodblinde Ver⸗ 
nunft wiederum die Nothwendigkeit, Wirklichkeit, Beichaffenbeit, 
Nusbarkeit der Offenbarung, aus fich felbft bis auf ein Haar 
demonftriven! Sie bewiefen eine überall ftumme Natur und 
lobten doch bei allen Berdanımungen die aufgellärten, wohl⸗ 
Iprehenden Heiden, die ja nur diefe ſtumme Natur gehört 
hatten. Wenns endlih gar auf Natur und Gnade kam; Hint- 
mel, welche fonderbare Zänfereien entitanden zwiſchen dieſen beiden 
Matronen, Natur und Gnade. Die Eine wollte durchaus nicht 
annehmen, was ihr die andre zubereitet hatte, und wenns Ambroſia 
und Nectar wäre: fie mußte es erit anders kochen, anders deftilliven. 
Keine blieb, wo die andre war, und haberten fo lange, bi3 bie 
Stärfere Ueberhand befam, ihre Feindin einſchnürte, daß fie ſich 
nicht mehr vegen und vühren follte, und nun fie, als Ueberwin⸗ 
derin jauchzte. Schöne Vorftellungsart des Einen edlen Werks 
Gottes, der Menſchheit und ihrer Bildung, wenn mans alfo zer- 





1) erhalten. Ums Himmels willen! fehen 


— 


3 





— 288 — 


theilet und gegen ſich ſelbſt aufreibet. Eine ſonderbare Gnade, 
die ! die Natur, wie Saturn die Kinder, auffrißt, vernichtet. 
D des traurigen Mißverftandes der beiten biblifchen Worte! 


14 wehe der unfeligen Uebertragung aus Sprade in Sprache, mo 


— 
(Dt 


zulegt vom Anfange und Urbegriff feine Spur bleibet! Bernunft 
und Schrift, Natur und Gnade, Natur und Offenbarung — find 
fie nicht alle Geſchenke Eines Gottes? und ? kann der Eine Geber 
wohl in fernen beiten Gefchenten gegen fich felbft ftreiten? Und 
iind zmei Geſchenke ſich deßwegen entgegen, weil fie mehr als 
Eins find? Mic dünkt, der befte Friede, jo wie die Abficht des 
Urhebers ift, wenn man beide gut braucht. 

Zuerft alfo: Bernunft und Schrift; aber mas heißt Ver- 
nunft? was heißt Schrift? Schrift war nit gleich da, als 
Offenbarung da war. Gott nahm fich des Menſchengeſchlechts vom 
Anfange feiner Bildung an; aber nicht das Erfte, was er ihm 
anbilden fonnte, war fchreiben und lejen, wie ers ihn etwa in 
die Feder fagte. Der Menſch mußte vieles vorher können, ehe er 
diejes konnte, vieles vorher verjtehen, ehe er Schrift verftand und 
brauchte. Das meyne ih, der ich doch den Gebrauch der Schrift 
jo frühe annehme;*) das jagt übrigens die Natur der Sache. 
Es ift mehr als Rabbinifh, die Lehre Gottes, jo fern fie auf 
Menſchen wirkt, in Pergament und Griffel bannen; es ift hölzern 
und finnlos.? Wie jung find die älteften Bücher der Schrift, 
gegen den Anfang des Menfchengefhlehts! Wie weit mehr ward 
durchs ganze A. und N. T. Hin geiprocdhen, als gejchrieben, gehört 
als gelefen. Schrift ift ja nur Abdruck der Rede: die befte 
Erziehung und Untermeifung in jedem täglichen Leben ift ja‘ durd) 





*) ©. Th.1. Br. 12. am Ende. [152] 


1) &8 wird eine ſchöne Gnade ſeyn, die 

2) Gottes? (freilich nicht Ein Gefchent!) und 

3) e8 ift miberfinnig und hölzern. 

4) die bildendfte Erziehung und Unterweiſung ift ja im jedem tüg- 
lichen Leben 


— 286 — 


viel etwas anders, als durch bloße Schreib- und Leſe-Lectio— 
nen. Und wer nun vom Anfange der Welt an, ja dur alle 
Nationen den?! Geift Gottes fo feflelt und bindet; wahrlich, ber 
bat einen eingeſchränkten, armen und todten Geift Gottes. 

Alſo ftatt Vernunft und Schrift zuerft Vernunft und 
Offenbarung; aber auch noch fällt mir der Streit zwiſchen bei- 
den nicht ins Auge. Wenn Offenbarung die Erziehung des 
Menſchengeſchlechts ift, wie fies wirklich war und feyn mußte, 
fo bat fie die Vernunft gebildet und erzogen: die Mutter Tann 
alfo nicht gegen die Tochter feyn, und die Tochter, wenn jie rech⸗ 
ter Art ift, Sollte gegen die Mutter nicht ſeyn mollen. Ver— 
nunft (ob der Name gleich fehr unbeftinmt und vieldeutig gebraudt 
wird) ift der natürliche, lebendige Gebrauch unfrer Seelenfräfte; 
wer lehrte und Ddiefe brauchen, ala der Schöpfer, der uns erzog? 16 
Vom erften Augenblid unſers lebendigen Daſeyns machte er über 
feinen Liebling, den Menſchen, legte? BVeranlaffungen vor und 
um ihn, die Kräfte feines Geiftes zu entwideln, die Neigungen 
jeine® Herzens zu üben, zu prüfen, zu ordnen und einzufchränfen: 
er felbft ging mit ihm um und ging mit ihm durch Lehren, Ver- 
bote, Strafen, Erfindungen, Gottesdienſt, Einrichtung u. f. die 
erften Schritte feines Lebensganges 3 weiter. Unter alle Nationen 
haben fich diefe FSußftapfen‘ des mit uns mandelnden väterlichen 
Gottes fernhin verbreitet: überall find fie, ſelbſt nach Jahrtauſenden, 
noch fihtbar. Die älteften Traditionen aller Bölfer, ihre fimpeliten 
Gebräuche und Einridtungen, an denen dod ihre ganze Eultur® 
(fie haben derjelben viel oder wenig,) hangt, find cinander jo 
ähnlih, jo nahe verwandt; fie gehen an jo einfache Ende zufan- 
men, daß man, durch welde Krümmen und unerforjhbare Abwege 
es aud gegangen jey, die eriten Anfänge einer Gottesbildung 

1) nun in den älteften Zeiten, ja von .... an, den 

2) Liebling, legte 

3) Einrichtung die erften Schritte feine befehwerlichen Yebensganges 

4) Sp durchhin Mfe. und A. In B: Fußtapfen 

5) doch all’ ihre Kultur 








nn „287 u— 


fchwerlich verfennen oder läugnen fünnte.! Jene Wege der Mit- 
teilung ar zu fehen, ift ung jo nöthig * nicht, die Bibel ſelbſt 
fagt uns davon wenig: fie faßt die Nahrichten von der erften 
Erziehung Gottes, die er dem Menſchengeſchlecht gegeben, mehr in 
17 Zeilen ala in Kapitel und Bücher und läßt uns übrigens von ber 
Wirkung auf die Urſache ſchlieſſen. Ueberall alfo, wo ich jene 
ſehe, ſchlieſſe ich ficher auf diefe; und fo übertrieben mande con- 
cordia rationis et fidei, manches osculum ethnicae et Christianae 
religionis etc. ſeyn mag, zumal wo man fpätere, blo3 biftorifche 
Dinge allgemein machen wollte: ſo dünkt mid, ift doch die erſte 
Analogie, der Grund von allem, unläugbar. Scheuen Sie fid 
alfo nicht vor diefen heiligen Hainen alter Tradition und Reli- 
gionsgebräude, in denen Die menſchliche Vernunft zuerjt erzogen 
und gebildet ift: ihre Dämmerung tft fchr angenehm für ung, die 
wir jest ein miehreres Licht haben. Es ift jo ſchön und lehrreid), 
die Fußftapfen des mit feinen Kindern wandelnden Vater überall 
wahrzunehmen, fich zu freuen, wie er aud jenen in der Dämme— 
ung fih nicht unbezeugt lich, ich ihnen zu ſuchen gab, ob 
jie ihn aud fühlen und finden möchten, dag ih an Reiz 
und Belehrung dieje einzelne dunkle Spuren Beiliger Gebräuche, 
Allegorien und Traditionen vielem neuem muthmilligen Läug- 
nungs- und Vernunft» Geihmäs vorziehen möchte.“ Wie vieles 
hatten und mußten diefe Völfer, von dem wir glauben, fie hatten 
und wußtens nicht, weil fie es nicht auf unſre Art fagten. Und 
18 woher Hatten ſies? als woher wirs haben, durd Tradition einer 
urfprünglihen, das menjchlihe Geſchlecht fortleitenden Kinder - 
Offenbarung. Wer an die Stelle diefer, einer fortgehenden leben- 
digen Cultur, nur immer und überall das Wort Vernunft 
jegen und von ihr ald einem Avtomat reden will, das durd fi) 
felbft da ift und wirket; mich dünkt, der fpricht dem täglichen 


oT mu IT 
1) Anfänge der Gottesbildung .. . . ober verkiugnen kann. 
2) noth 3) wollen: 


4) vorziebe. 


— 288 — 


Anblick einer Menſchen⸗Erziehung ziemlich entgegen.! “Die gebildete 
Vernunft fällt nicht vom Himmel, wie wir jegt noch an fo vielen Lehr - 
dürftigen Nationen, an fo vielen Lehr - dürftigen, dabei nicht ? dum⸗ 
men Menſchen und endlich ja in der Erziehung jedes Kindes jehen. 
Alles ift erft pofitiv, ehe c8 abftract wird, Gefet, Lehre, Wahr- 
heit, Uebung. So werden Finder erzogen, jo ift die Welt erzogen 
worden; es ift fein andrer Gang unfrer Seclenträfte möglid. Noch 
jegt fröche der Menfch, wie jener Zerglieberer es beweifen wollte, auf 
Vieren, wenn ihn nicht väterliche Erziehung aufgerichtet, pofitive Lehre 
und Religion fortgebildet hätte. Zerreiſſet diefe ? Kette, hebt ihn aus 
der ihn umfchlieffenden Welt von Sprache, Lehre, Gebräuden, 
Unterweifung, Uebung heraus; er iſt fein Menſch mehr: feine 
Vernunft entwidelt fi nicht, er ift ein Bürger des Thierreichs, 
wohin ihr ihn verpflanzet. Hunderte und taufende von Sahren 
bleiben gejcheute, vernünftige Nationen in einem engen Kreife der 19 
Gultur jtehen, wenn fie nicht durch äußere, gleichjam treibende 
Beihülfe fortgebildet, forterzogen werden. Kurz, Vernunft und 
diefe ältefte, dieſe mit unſerm Geſchlecht fortgehende Dffenbarung 
verhalten ſich wie Kind und Mutter, wenn jenes diefer ins Geſicht 
widerſpricht, daß, weil es jet gehen fünne, es nie das Gehen 
von ihr gelernet habe, jo* handelts weber vernünftig noch kindlich. 
Sie werben fagen: „mags feyn, daß die Tochter einmal von 
„der Mutter gehen gelernt; aber jebt kann fie allein gehen, fie 
„braucht ihren Leitband nicht mehr; fie will fie nicht immer hinter 
„Th Haben.” Die Mutter darf nichts, als antworten: „gehe 
allein! ih will dich nicht hindern, ich dränge mich niemanden auf. 
Habe ichs dir doch kaum merken laflen, daß ich dich gehen lehrte!“ 
Über, m. Fr., alle Vergleihungen hinten, und jo wollen wir uns 


1) Haben, von Gott und feiner urfprünglichen, fortleitenden Kinder - 
Offenbarung. Die an Stelle diefer fogern immer Vernunft fegen und von 
ihr als einem Avtomat reden, vwermifchen offenbar das, was gebilbet wer- 
den fol, mit dem, ber da bilbet. 

2) fo viel Lehre bürftigen Nationen, Yehre dürftigen, nicht 

3) die 4) gelernet, fo 








— 989 — 


auch diefem nicht weiter überlaffen, ala e3 reihen kann und joll.! 
Belanntermaafjen hat ſich die Dffenbarung Gottes in die Geſchichte 
eines einzelnen Volks verfchlungen und mit berjelben auf viele 
andere fortverbreitet. Diefe Offenbarung in und durch Geſchichte 
hat offenbar einen höhern Umfang von Hoffnungen und Lehren, 
als die gebildetfte Vernunft der Griehen und Römer fi vorzu- 
20 zeichnen gewagt hat; und Doc) ericheint fie in der faßlichiten Geftalt 
für Menſchen. Ste macht das Unendlidye endlich; nicht anders 
aber, ald daß der Schöpfer ſelbſt in Menfchennatur fein Geſchlecht 
belehret, vettet und in die Ewigkeit führet: an ihn, an feine 
Begegniffe und Thaten find die größeften Wahrheiten und Hoff- 
nungen gefnüpft, deren fi die ınenfchlihe Seele erfreuet und das 
Chriftenthum feitdem als ihre Ausbreiterin rühmet.? Hier fcheiden 
ſich nun allerdings Vernunft und Offenbarung, aber nicht ala 
feindlihe Weſen, fondern wie fih Abftraction und Gefdidte 
ſcheidet. Hat jene Gründe, dieſe nicht für ächt zu erfennen: fo 
fage fie diefe Gründe und laſſe ihre Aechtheit ebenfalls prüfen. 
Sie erlaube aber aud andern, daß fte ſie für ächt annehmen:? 
denn Abitraction bat eigentlich über Gejchichte Feine Gefete: feine 
Geſchichte in der Welt fteht auf Abitractiong - Gründen a priori.* 
Sprit jene: „ich ſcheide mich von dir: denn ich mag meine Lehren, 
„meine Hoffnungen, meine Pflichten auf fein fo baufälliges 
„Gebäude, als eine Geſchichte ift, ſetzen,“ auch nicht einmal fie 
„deran hängen, kurz dich nicht zur Nachbarin haben:” fo mag 


1) hinten und die Mutter kann mehr als geben: fie will fie aud 
mehr als geben lehren. („und fo — foll.” fehlt.) 

2) mit derfelben fortverbreitet. Diefe bat offenbar nur einen höheren 
.... gewagt bat: fie macht das Unendliche enblih, den Schöpfer zum 
Menſchen, der felbft in Menfchennatur fein Gefchlecht belehret, rettet und 
in die Ewigkeit ſich machzengt: an ihn, .... geknüpft, deren fich ſeitdem 
das Chriftenthun rühmt. 

3) erfennen: nun! fo erkenne fie fie nicht dafür, nachdem nehmlich 
ihre Gründe ſelbſt ächt find. Sie erlaube aber andern, daß fie fie dafiir 
annehmen: 

4) auf Abſtractions-Gründen. 5) Gebäude einer Geſchichte ſetzen, 

Herders fänmtl. Werle. X. 19 


— 290 — 


dieſe antworten: „ſcheide! Meine Facta kann ich nicht auf deine 
Art demonſtriren, willt du ſie nicht auf meine Art erkennen, wie 
Facta erkannt werden müſſen, jo beneide ich dir dein philofophi- 21 
ſches Gewebe, das du aus dir felbit willt gefponnen haben, wie 
viel du mir davon auch ſchuldig ſeyſt, nicht. Hänge es an did, 
oder made, daß es durch fich felbit beftehe; nur vergönne, daß 
ich mein Gebäude auf! eine andre Art, auf einen andern Grund 
baue. Ich ſehe, daß in der ganzen Welt Vernunft und Geſchichte 
niht nur zufammenhangen, jondern jene aud in einzelnen 
Thatfachen und gleichſam Ermwedungen aus dieſer hervorgegangen 
ſey. Du abftrahirft von diefen Thatſachen und orbneft die Wahr- 
heiten, ihre Refultate an umd unter ? einander, um ihre Scön- 
heit und Harmonie zu fühlen, ich gönne dir dein Gefühl und 
theile e8 mit dir: nur verläugne ich meine Menjchheit und die 
einzelnen Quellen nit, aus denen jene große Wahrheiten geflofjen 
find, und in denen ih noch immer mehr, als du in ihrem Abfluß 
haft, zu befiten glaube. Laß mir dieſe menſchliche Schwachheit; 
deine Abjtraction Habe ih ja doch aud mit dir. Warum mwillt 
du intolerant feyn, da ich tolerire? warum foll ich ein reiner 
Vernunftgeift werden, da ih nur ein Menſch feyn mag, und 
wie in meinem Dajeyn, jo auch in meinem Willen und Glauben 
als‘ eine Welle im Meer der Geſchichte ſchwebe? Unendlid) 
ift doch immer der Umfang ewiger Wahrheiten, das giebft du zu. 
Du giebft alfo zu, daß du, endliche Vernunft, fie nicht überjehen 22 
fannft, und in Ewigkeit lernen müffeft, lernen werdeſt. Erlaube 


— — — — — 


1) an dich, in die Luft ober .... beſtehe. Wer damit zufrieden ſeyn 
will und feyn kann, fey e8; nur vergönne, daß id) das Meine auf 

2) Geſchichte zufammenbangen, und jene nur in einzelnen Ent- 
bedungen aus diefer hervorgehet. Du abftrahirft von dieſen Ent⸗ 
deckungen und orbneft die Wahrheiten derfelben unter 

3) Wahrheiten ber find. Laß mir biefe Menfchlichkeit und Schwach- 
beit, an der ich mehr zu haben glaube, als du mit deiner Abftraction baft: 
denn ſie babe ich ja doch mit bir. 

4) ih ein Menſch bin, und als 

















— 291 — 


mir, daß ich glaube, das ala Bild zu haben, was ich ala Sache 
noch nicht überjehen Tann, das ala! Geſchichte zu haben, mas 
Emigfeiten hindurch meine Geſchichte feyn oder fie beftimmen wird. 
Mein ewiger Vater hat mir diefen kindlichen Aufſchluß, diefe Unter- 
mweifung de Evorrroor ev awvıyuarı gegeben, an bie ich mic) durch 
Glaube, Liebe und Hoffnung fefthalte und deine Harmonie ewiger 
Wahrheiten auch in diefem höheren Licht, mit göttlichen Anſehen 
beſtärkt, meiner Faſſung gemäß, im Kreife menſchlicher Geftalten 
fihtbar gemacht, auch mit genieße und dankbar fühle? Laß mid! 
Zu rechter Zeit, wenn dein Gebäude einmal, vielleicht an ? einem 

Strohhalm, wanken wird, kommſt du doch wieder.” Leben Sie wohl. 


Die Farbe und das Lit. 


Eine Yabel. 

Bin ih? wie ober bin ich nicht? 
So ſprach die Farbe zu dem Licht. 
Ich bin und bin nicht, wechjelsmeife ; 
Oft, wenn ich meine Schönheit preife, 
Erfahr’ ich meine Nichtigkeit, 
Bis Du mich wieder nen beftraleft, 
Mir Leben giebft und mich bemaleft. 
Du glänzend Licht, ich bitte Dich, 
Wer biſt Du? und wie nennt man mich? 


Du beißeft Farbe, ſprach das Licht, 
Und biſt mein Kınd, Du trreft nicht. 
Du fcheinft in Deiner Mutter Schöne, 
Wenn ih Dir meine Stralen lehne. 

So lange Du nad mir verlangft, 
Will ih dich immer neu beftralen 
Und Di mit ſchönem Schimmer malen; 


—— — — — — · 


1) kanu, als 
2) Wahrheiten nur in höherm Nicht, .... gemäß, im menſchlichen 
Geftaltentreife fihtbar gemacht, fühle. 
3) einmal an 
4) Die Fabel fehlt in 9. 
19* 





— 2982 — 


Doch hüte vor dem Stolze Dich, 

Ein Nichts biſt Du, Nichts ohne mich. 
„Wer aber biſt Du? glänzend Licht ?“ 

Das, ſprach die Mutter, frage nicht; 

Denn was Du von mir lannft erfahren, 

Soll Dir mein Stral ſchon offenbaren; 

Und ihn auch faſſeſt Du nicht gan — 

Ja wenn ih taufend andre Weſen 

Zu neuem Abglanz mir erlefen, 

So ſehn fie zwar mein Angeficht, 

Eind Karben; aber ich bin Licht. 


Sieben und zwanzigfter Brief. 


Zmeitens. Der Streit zwiſchen Natur und Schrift enticher- 
det fih, dünkt mid, aus dem Vorhergehenden ziemlih. Denn 
was iſt Natur? was iſt Schrift? Iſt Natur nit auch eine 
Schrift, eine ſehr lesbare, hohe Schrift Gottes an die Menfchen ? 
Der treflide 19. Palm ertennet fie dafür, und mie viel Pjalmen 
und Kapitel der Bibel find nichts ala Blätter diefer Schrift! 
lautbar gemachte Töne diefer göttlihen Naturfprade. Das erite 
Kapitel der Bibel, fo manche Beichreibungen der Natur, zum Theil 
aus dem Munde Gottes felbft, in Hiob, den Propheten u. f. find 
dies offenbar, und Paulus fagt mehr als alles, wenn er Diele 
Sprade der redenden Schöpfung eine! fürmlide Offenbarung 
Gottes nennet, die feinen Heiden von feiner Verantwortung frei- 
lafien wird. So liebet Chriftus den Gott und Vater aller Welt, 
aller Nationen und Völker; fo predigt Paulus ihn den Hei- 
den. Es find fo freie Stellen in mehrern feiner Vorträge und 
Briefe, daß ich mich wundere, wie es Einem Barbaren hat ein- 


24 


fallen können, die Sprache der ganzen Natur, die Schrift Gottes 25 


1) jo viel Befchreibungen von Gott und der Natur, .... Propheten 
find es offenbar und Paulus fagt mehr als alle Dice, wenn er diefe Sprache 
und Schrift eine 








— 293 — 


an Himmel und Erde zu vernidten, um, wie er thöricht meinte, 
ftatt ihrer eine ! andre geltend zu machen, die ja auf allen Blät- 
tern von jener redet. 

Und mo Wahrheit ift, da ift auh Tugend, dieſer 
Wahrheit gemäs. Hat der Heide ein Gejeg, wie Paulus und 
die gefunde Vernunft ausdrücklich jagen, hat er Verantwortung 
darüber, ein Gewiſſen, ein verflagendes oder beruhigendes Gewiſ⸗ 
fen, wie Paulus ausdrücklich fagt: wohl! fo hat er auch Zugend! 
die ja Chriftus an Heiden und Samaritern fo oft preifet: fo wird 
er auch einen Richter haben, der nad) dieſem Geſetzbuch, das 
Paulus deutlich nennet, über ihn urtheilet und fein Schickſal 
beftimmt. Dies alles ift fo Zar, das Gegentheil davon ift jo 
Menſchenfeindlich, VBernunft- und Schriftwidrig, daß ih mid 
abermal3 wundere, wie je folde Zwilte und Scheibwände von 
pharifätfchen Händen, die die Schlüffel des Himmelreichs beſaßen, 
haben aufgeführt werden können. Selbſt die Juden, die jener 
Römer odii humani generis convictos hält, Haben nicht aljo 
geeifert und entichieden. — Indeß, m. Fr., wenn wir zun Ber- 

26 danımen der Heiden feinen Richterftuhl haben; wer hätte uns den- 
jelben zu ihrer Seligſprechung eingeräumet? Laſſen wir doch den 
Bater der Natur fchalten und richten, wie Er will, nicht wie wird 
für gut meinen. Er kann Zeiten der Unwiſſenheit überjehen und 
wird Zeiten der gröbern Unmifienheit ahnden — — mas füm- 
mert3 und? Chorazin und Bethjaida ift über Tyrus und Sidon 
nicht Richter, fondern es ift ein härterer Mitbellagter. 

Alſo it in diefem Betracht fein Streit zwiſchen Natur und 
Schrift, zwiſchen Geſetzbuch? und Gewiſſen; aber wohl ift ein 
großer Unterfchied zwilchen ihnen, der abermals nicht überjehen 
werden muß. Natur ift das Werk Gottes; aber wie viel gehört 
dazu, dies Werk zu verftehen? in ihm feinen Urheber zu fin- 
den und genau alles das von ihm zu finden, was für uns ift? 


1) zu verwifden, um wie ex thöricht gemeint bat, eine 
2) Schrift, Geſetzbuch 


— U — 


Wie wenig hat der Künſtler mit ſeinem Werk gemein! und 
Gott, der unendliche Künſtler mit ſeinem immer doch von uns nur 
endlich zu überſehenden Werke! Er der Vollkommenſte; und uns 
dünkts, wir fehen Unvollfommenheiten, Mängel. Er, der Eine, 
der Hohe, Seligfte, Belte; und Hier anſcheinende Unfeligfeit, Tod, 
Elend, Nichtigkeit der Geftalten. Er, die ewige Harmonie der 27 
Harımonien; und bier und da jeltfame Verwirrung, Chaos. Welchen 
Heinen Winkel bewohnen wir in der Schöpfung! und wie wenig 
jehen wir in diefem fleinen! Winkel! Wie furze Zeit jehen wirs! 
dur wie trübe Ferngläfer und Sinne! kommen und willen nid, 
was wir waren, gehen hin und willen nicht, was wir ſeyn wer- 
den. hr Bewohner andrer Welten, andrer Sterne und Erben, 
wiffet ihr mehr? jehet ihr, was um euch liegt, mit eurem Ge⸗ 
ſchlecht, mit euch felbft und Gottes Natur in mehrerer Harmonie 
und Ordnung? fehet ihr au nur Einen Ring, Ein Glied in 
der Kette, worinn ihr jchwebet, vor- und rückwärts weiter ? Natur, 
ſprich! Natur, du fchmweigeft. Ich ſuche mich blind in den Gejchöpfen 
und finde fein Bild nicht; wie follte ichs auch finden, da er fein 
Bild bat — und doch jehne ich mich darnach, als ob er meiner 
Gejtalt wäre, wie nah einem liebenden nah verftedten Freunde, 
deffen Nähe ich ahne. D dag mir Ein Laut feiner Stimme ſpräche! 
und fiche! er ſpricht zu mir. Defien Geftalt ich nicht fehen Tann, 
deſſen Väterlihes Wort Tann ich hören: er öfnet mir, mie in 
der Kindheit, durchs Ohr mein Auge und meine Seele.? Väterlich 
unterredet er fih mit mir, was ic in der Schöpfung zu fehen 28 
babe? was ih in berfelben jey und feyn foll und ſeyn werde? 
Nun wird mir der Heilige, ftumme Tempel lebendig, das ſchöne? 
Chaos wird angehende Harmonie und Ordnung; wenigftens befomme 
ich einen Leitfaden, mich durchs unermäßliche Gewirr diefer unüber- 
jehberen Scenen an meinem Theil herauszufinden, herauszumin- 
den. — Noch mehr. Die lehrende Stimme feines Auffchluffes, 


— — — — — 


1) kleinen verzogenen 2) durchs Ohr, Auge und Seele. 
3) ſchöne helle 





— 25 — 


dieſer Mittelbegriff der Deutung und Beziehung aller 
Dinge auf mih und mein! Dafeyn, den ich nimmermehr 
gefunden hätte, und jegt nimmermehr verlieren werde; er wird ein 
jo fanfter,,? väterlider Ton für mein Herz, wie es fein Bild, 
feine Anſicht durchs Auge je? werben könnte. Die Stimme 
wedt, wie Jeſaias fagt, mich alle Morgen und bejeelt mir 
Harfe und Seele: fie weckt mein Ohr, daß ich höre wie fein 
Jünger und nicht ungehorfam zurüdbleibe So hob fie 
Adam von der Erde und öfnete ihm Ohr und Auge, lehrte, 
ftrafte ihm und verließ auch fein gefallenes, niebergefunfenes 
Geflecht nie. Eben in Zeiten der mühleligften Verwirrung kam 
fie wieder, und ſchuf Weiſe Gottes, Heilige, reine, geliebte Seelen, 
die fie empfiengen, die fie veritanden, die fie andern auszuſprechen, 
29 ja fie mit* ihrem Leben zu befiegeln, bereit waren. Das Bud) 
der heiligen Natur und des Gewiſſens ward dur den Commentar 
der Tradition allmählig aufgeblättert, erläutert, erfläret. 
Mit der Zeit wanden fi einzelne Wiffenfchaften vom großen 
Knäuel los und die Vernunft der Menfchen fpann ihr feineres 
Gewebe — So bei allen Völkern der Erde und bei Einem erwähl- 
ten Volke nahm diefe Stimme große Zeiten hindurch eigentlichen 
Wohnplag. Die Kette zwiſchen Gott und der Menſchheit war nicht 
nur in der öffentlichen Einrichtung des Gottesdienſtes und Landes 
bemerkt, jondern fie ward auch durch erlefene Werkzeuge jet und 
dann von neuem gereihet, und ziehet ſich in der Geſchichte dieſes 
Volks vom erſten Gliede des menfchlichen Gefchleht3 durch einen 
andern Adam bis ans Ende des Menſchengeſchlechts hinunter. 
Dieſer zweite Menſch, der Sohn und Lehrer, der aus des Ewigen 
Schoos kam, brachte die kläreſte, dem menſchlichen Herzen 
innigſte Stimme Gottes auf die Erde. Er ein Lehrer, mie 
der Propheten feiner Nation feiner geweſen war, verlündigte bie 
wahre Religion der Menfchheit, ftiftete Frieden zwiſchen Himmel 





1) mein künftiges 2) wirb fanfter, 3) Anficht je 
4) auszuſprechen und mit 


— 26 — 


und Erde, lehrte! und zeigte den Einen Gott der Natur und 
Schrift, der Juden und Heiden; aller Menſchen Vater, aller 
Sünder Helfer. So ſprach, ſo that er: ſeine Lehre gieng in viele 30 
Länder? aus, zerſtörte Götzentempel und eitle Syſteme; der menſch⸗ 
lichen Vernunft aber half ſie auf, das Herz der Menſchen ſuchte 
fie zu läutern und zu bilden? Wie verdorben und gemißbraucht 
fie Jahrhunderte hindurch geweſen ift und* zum Theil noch ift, fo 
daß fie fih mit Gräueln und Spigfünbigfeiten bedeckt gejehen und 
beinah alled Welttheile mit Blut und Laftern überſchwemmt hat: 
fo konnte fie felbit dies alles nicht werden, wenn fie an fi nicht 
gut war. Es mußte ein koſtbarer, wirkſamer Trank feyn, der fo 
ftarkes Gift ward: es mußte ein ſcharfes Werkzeug feyn, das die 
menjchlihe Vernunft und Erfindungsfraft bis zu dein Grabe bes 
Mißbrauchs jhärfen konnte. In ihren Lehren und Auffchlüffen 
gut und groß und weile, tft fie die einfachjte und tiefite Aus- 
legung der Natur; in ihrer Gejchichte der umfaflendfte Plan 
fürs Ganze der? Menſchheit, und gewiß (denn Geſchichte Tann 


1) Das Buch der heiligen Zrabition warb durch den Commentar ber 
Natur und des Gewißens allmälich .... erlläret. Dit .... Wißenfchaften 
108 unb aud die Vernunft der Dienfchen fpann ihr feinftes Gewebe — — 
Nur dei Einem ermwählten Bolte nahm dieſe Stimme andern Weg und 
große Zeiten hindurch eigentliden Wohnplatz. Im ihm ward ausgejchlofien, 
was zur künftlihen, politiſchen Bildung gehört, und nur der göttliche 
Theil im Menſchen bearbeitet. Die Kette zwilchen Gott und der Menſch⸗ 
heit warb immer nem gereyet: fie ziehet ſich in feiner Gefchichte vom erften 
Gliede des menſchlichen Geſchlechts durch einen andern Adam, das Haupt 
einer neuen Welt, bis and Enbe de8 Menſchengeſchlechts hinunter. Diefer 
zweite Menſch, der Sohn und Jünger aus des Ewigen Schoo8, brachte die 
nächſte, dem menfhligen Herzen innigfte Stimme Gottes auf die 
Erbe. Er war ein Lehrer, wie ber Propheten feiner Nation keiner geweſen 
war und bod die Summe, der Nachhall aller Propheten, hatte bie wahre 
Religion des Himmels und der Erde, fiftete Frieden zwiſchen bei- 
den, lebrte 

2) in alle Welt 3) erheben. 4) geweſen unb 5) und alle 

6) Geſchichte, wenn fie auch nur Roman wär, der umfaßendſte, 
erhebendfte Blau der 





— 121917 — 


nur durch Gejchichte entwidelt werden,) die Entwidlerin unfers 
ganzen Labyrinths auf Erden — — 

Sie fehen, m. Fr., wie! fehr in dieſem Geſichtspunkt der 
Zwiſt zwifchen Natur und Offenbarung fchwinde! ine wird die 
friedlihe Erflärerin der andern, die Natur der Schrift, bie 

31 Schrift der Naturoffenbarung. Diefe ift Tert, vielleicht an ſich 
unverftändlicher Text; jene ift Gloſſe oder vielmehr des Textes 
Auszug. Die Natur ift ein Patent Gottes für alle Völfer: das 
Bud feiner Teftamente eine väterlihe Erklärung, eine geheime 
Auslegung und Lehre für feine Hausgenoffien und Kinder. Jene 
ift eine Offenbarung Gottes fürs Auge, unendlih, Mar, vielfach, 
bleibend;? diefe ift eine vertraute Stimme Gottes für unfer Obr, 
verftändlih, ſanft, liebreich. ans Herz dringend. Der Blinde 
läugnet jene; der Taube diefe: und beide ſtimmen doch zufammen, 
wie Aug’ und Ohr, wie Gegenwart und Zeitfolge.* Uebri- 
gens will ich Feine Freundſchaft zwiſchen Vernunft und Dffen- 
barung maden, die die Schrift nicht madt; noch weniger zwiſchen 
verderbter Natur und Offenbarung. Da paßt vielmehr die Krank⸗ 
heit und der Arzt, die Armuth unſres Willens und die gütige 
Almofe einer höhern Erfenntniß ſob gut zuſammen, daß ſchon nad) 
Sirah und dem weifen Salomo beyde zufammen ſeyn müffen; 
denn der Herz hats alfo geordnet. Wie verſchiedne und fich 
einander entgegengefette Elemente machen in der Natur Gottes 
Eine Welt aus!® Feuer und Waffer, Luft und Erde; follte es 
in der höhern Natur der Haushaltung Gottes mit Geiftern der Men- 

32 [hen anders feyn können?“ anders jeyn dörfen? Das Kreuz 
Shrifti und die Unwiſſenheit der Weifen gehört da jo gut zufam- 
men ald Nichts und Etwas, aus dem eine Welt ward — — 

Sonft, lieber Jüngling, lobe id Sie, daß Sie fi Ihrer 
Griechen und Römer fo warm annehmen. Wer wird von einem 


1) ſehen, wie 2) blenbenb; 

3) Gottes dem Ohr, einfach, ftill, Liebreich, 

4) Ohr, wie jeßt und allmälich, wie degenwart und Zukunft. 
5) Arzt, Armutb und Allmofe fo 6) Welt! 7) milffen! 





— 8 — 


Kenophon und Plato, Homer und Pindar, Plutarh und Cicero, 
Seneca und Antonin,! ala Naturtheologen betrachtet, Talt reden ? 
Was fie Gutes fagen, wer ſagts befjer? und wenn fie nit alles 
lagen, oder nicht alles recht ſagen; Tonnten fie dafür? haben wirs 
nicht anders woher reiner? — Alſo laſſet uns aud das Gött 
liche,? das ſie durchgeht, würdig nutzen und den heiligen Tempel 
des Unfichtbaren, den fie in der Natur verehrten, nicht durch 
Läfterung® feiner Diener im Vorhofe fchänden. In manden 
Griechiſchen Gefängen, in manden Entzüdungen des Sokrates bei 
Plato und fonft in fchönen* Stellen des Plutarch, Maximus 
Tyrius, Cicero u. a. find Stimmen, die einen Menſchen aus dem 
Traum wecken müflen, wenn er irgend ein Gottes- Gefühl bat. 
So find auch bei einigen Neuern, felbft in fehr® verjchrienen Natu- 
raliften und Deiften Gefühle der Gottheit, Entwidelungen einer 33 
ewigen Wahrheit, Harmonie und Tugend, die man in manden 
jogenanntfrommen Büchern vergebens ſuchen bürftee Shaftes- 
buri’3 Moralists 3. B. infonberheit feinen Lobgejang auf Gott, 
habe ich Ihnen, dünkt mich, ſchon genannt, in Rouſſeau's 
Glaubensbekenntniß und andern zum Theil übelberüchtigten Schriften 
giebt3® dergleichen für die Philoſophie und Naturtheologie herrliche 
Stellen. Behalten Sie alſo immer Ihre Heiden lieb, wie Sie fie 
lieb gehabt haben und lernen Sie aus ihnen, was zu lernen ift; 
weder Schrift, noch Gnade, nod Offenbarung verbeuts Ahnen. 
Kein Heiliger wird Ihnen, wie dem Hieronymus im Schlaf erichei- 
nen und Sie dafür, daß Sie den Cicero gelefen, geiffeln; ober es 
wäre fein rechter Heiliger. Die Kirchenväter haben vieles aus den 
Heiden genommen, und mander bat gewünfcht, daß fie noch mehr 
aus ihnen genommen, und einige, jetzt verlohren gegangne Stüde 
mehr damit aufbewahrt hätten; wir mollen uns dafür an denen 

1) Antonin, fie 2) Ycıov, 

3) verehrt haben, nicht durch Läfterungen 

4) fonft fchönen 5) bei Neuern, felbft ſehr 

6) Moralists, infonberheit .... genannt: in Roußeau, ja felöft in 
des fogenannten Atheiften Spinoza Schriften giebts 


34 


— 299 — 


noch geretteten erholen. Auch der ſchöne Platoniiche Enthufiagmus, 
den Sie in Ihrem Briefe über einzelne Stüde diefer Art äußern, 
gefällt mir fehr wohl, und id) weiß ihn mit nichts Beſſerm zu 
belohnen, ald mit einer ähnlichen Begeifterung des Dichters, von 
dem ich Ihnen vor einiger Zeit die Dde auf die Himmelfahrt 
des Erlöſers zuſandte. Vergeſſen Sie jeht meinen Brief und 
folgen ihn in feine ſchöne! Einöde. Bol von Ihrem Sofrates, 
von dem auch Er voll ift, hören Sie zu: 


Sofrates 
oder 
von der Schönheit. 


Als jüngft der laue Mai mid in die Büſche brachte, 
Und ih, voll von mir ſelbſt, mein eigen Herz burchbadhte, 
Befiel mich Wachenden der Träume? Beilge Ruh. 

Ich ſah den Sofrates,® als ſäh' ich das Vergnügen 
In leiblicher Geftalt auf Phädons Schulter Liegen, 

Ihm warf ein Ahornbaum gefühlte Schatten zu. 

Ein Bad floß vor ihm Bin, der mit gebrochnen Güſſen 
Sich ſchlurfend durch den Wald verlohr, 

Und ftellte mir den murmelnben Stufen, 

Des Achelou8 Duelle vor. 

Er fang entzüdet* froh mit wunderbaren Tönen, 
Und Phädon börte zu, vom allgemeinen Schönen, 
Sein Ausbrud ftieg fo hoch, fo tief die Lehre war. 
Hier in der Dämmerung noch unentweihter? Buchen 
Will ich fein göttlich Lieb zu wiederholen fuchen, 

D ftellete Dirs, Freund, mein ſchwacher Nachhall bar! 
Dem würdiger als Dir, vor defien friichen Blicken 
Der Schöpfung Anmuth' fichtbar Liegt: 

Um jene ſchwebt ein Tieblihes Entzüden, 

Wenn bier fi Geift und Herz vergrrügt.® 


1) heilige 

3) (Withof:) Träumen 3) W: ſahe Sokrates, wie (Withof.) 

4) W.: Er fange lächelnd 5) W.: unbeneibter 

6) O Freund, o ſtellte Dirs 7) Jugend 

8) W.: Dir, Freundinn, ſtellt es ſich in neuen Arthen dar! Wem würdiger als 
Dir? auf deren friſchen Bliden Des Geiſtes Schönheit ſichtbar liegt. Um jene ſchwebt 
ein wallendes Entzücken, Wan der Bernunft und Witz vergnügt. 





— 30 — 


Gebüfche! rief ex aus, mit Fu bethaute Fluren! 

Holdſel'ger Aufenthalt zufriedener * Naturen, 

Wie gut verbirgft du mich vor der finnlofen? Welt! 

In jenem Tummelplatz? erhitzter Leidenfchaften 

Mag Habfucht, Gram* und Stolz an ſchlechten Scelen haften, 
Wenn bier mein reger Geiſt zur Weisheit fich gefellt.® 

Sie fliehen vor ſich felbft und graben aus ben Grüften 

Das Gold hervor, die Rub hinein; 

Indeſſen wirb® in diefen böbern Lüften 

Mein Herz von ihrem Unmuth rein. 

Schon als ich noch im Staub’ der niedern Atmoſphäre? 
Getrieben von Geſpenſt der nimmerfatten Ehre, 

Bon Lehrfucht tiefberaufcht, nach heller Thorheit lief,“ 
Gefiel mir nichts fo fehr, Als dieſe ſtillen Grünbe, 

Es ſchien mir, ob mein Geift bier was zu fnchen finde,® 
Ind ein verftedter Freund mich flüfternd zu fich rief! 
Oft fühle ih, Daß ein Reiz, Hart wie Jacchus Säfte: 
Allmächtig meinen Geift durchfuhr; 

Ach! rief ich dann, ihr bier verborguen Kräfte, 
Entdedt euch, ach entbedt euch nur! 

Zum Irrthum alt genug, zur Wahrheit laum noch mündig,t? 
Bon Prieftern irr gemacht, der Gottheit noch unklindig, 
Nief ich die höchſte Kraft, obwohl unmiflend an. 

Mein Herz gefiel ihr wohl ,!® das, eh es fie noch kannte, 
Schon gegen ihre Glut mit Zärtlichkeit entbrannte; 
Zuletzt ergab fie fi) und wieß mir ihre Bahn. 

Ein fanfter Frühlingsweſt flieg von ber nahen Fichte, 
Und Taufchend ſchwand ern vor mir fort; 

Auf einmal fuhr mir etwas vom Gefichte, 

Ih ſah — bier fehlen Klang und Wort. 


1) W.: ermübeter 3) unfinn’gen 

3) W : der unfinngen Welt! Der Stabt, ber (de?) Tummelplatz 4) Harm 

5) W.: Laß Habſucht, Harm und Stolz an fchlcchten Leuten haften, Worunter fidh 
mein Geift in Tugend wirlfam Bält. 

6) W.: bleibt 

7) U: der Zauber⸗Atmoſphäre W.: Staub der zauberiihen Sphäre 

8) W.: Bon Lehrſucht ganz beraufcht, nach präctger Thorheit Lief, 

9) W.: fünbe, 

10) 4: Ich fühle, baß .... W.: Ich fühle, daß cin Heiz, flart wic des Liber Säfte 

11) X: oft, (wie Withof.) 12) W.: nun erft mlinbig, 

13) B.: gut, 

14) W.: nächſten Fichte Und Iaufchend ſchwanlt' er 


39 


— 301 — 


Nun ſchien mein alter Stand mir völlig unerträglich, 
Seit ich die Schönheit ſah, (die ſeh ich jetzo täglich!) 
Die, wie Aurorens Glanz, ſich überall erſtreckt. 

Hier ſteh ich bloß vor ihr und frei vom finſtern Nebel, 
Worinn der Haufe tappt und der gelehrte Pöbel 
Großſprechend und doch tief! bis an den Scheitel ftedt. 
Dann fteig’ ich göttlichlühn Hoch über dieſe Tannen, 
Zur Schönheit ewigem Revier 

Und komme ftet8 Liebtrunkener? von bannen 

Und Geift und Sehnfucht bleibt bei ihr. 

Ah Phädon, fiehft du nicht die hellen Bäche rinnen! 
Entfeßle Deinen Geiſt von den zu groben Sinnen, 
Komm! fleuh? an meiner Hand der Quelle jelber zu. 
Getroft! Du wirft da nichts von alle dem verlieren, 
Was Heinre Lüfte bir bier in die Sinne führen;t /, 
Dort wallt ein Meer der Luft voll Anmuth und voll Ruh. 
Hier wirft doch nichts fo fehr zur Yabung? als zum Reizen, 
Da man dort zum Genufle gebt: 

Wer wird, als Kind, nad) Einer Frende geizen,® 
Wo jede Fröblichkeit entfteht? 

Licht! Schönheit! höchſter Ban! Natur! Selbftftändig Wefen! 
Geift! (oder, was Du Dir für Namen auserlefen,) 
Bewegerl! ewge Kraft!? Du, die in allem lebt, 

Wie ſtark biſt Du! wie groß! wie vielfach ausgegofien! 
Auch Ich bin Deiner Art und von dir bergefloffen, 
Und fließ’ in Dich zurück, wenn ſich mein Geift erhebt. 
Ad, ich beicheide mich und dede meine Bloße, 
Um Di allein gefall’ ih mir! 
Ein Heiner Theil? der ungeheuern Größe, 
Ein Theil, jedoch ein Theil von Dir. 
Ganz herrlich, ewig jung, nie fähig zum Beralten, 
In täglich fterbenden, ſtets werdenden Geftalten, 
Bl Du das, was Du warft, ftetS voll und immer neu. 


1) U: Großfpregeriih und tief .... W.: Großſprächriſch, aber doch biß an bem 
Scheitel ftedt. 

3) A: ftet®, fie liebender, von dannen W.: Rivier Und komm ftetd mehr in fie 
verliebt von bannen 

3) A: Sinnen, Und fleuch (wie Withof.) 

4) W.: bier dir in die Sinnen führen; 5) W.: Wolluft 

6) W.: Wer wirb doch da nach einer kindiſch geizen, 

T) W.: Beweger! Tugend! Kraft! 8) W.: Nur bloß ein Theil A 


— WM — 


Hier treten Weſen auf; dort geben Weſen unter; 
Du tilgft und zeugeft ſtets, ftet® wirfend, ewig munter ! 
Sorgft Du, daß jeder Tod ein Brunn des Leben fev. 
Dort ſchwand die leichte Pracht? der abgelebten Floren; 
Doch Floren folgt Bomona nad: 
Und jene wirb von diefer neu gebobren, 
Das Grabmahl wird ein VBrautgemach. 

Wie tritt fie dort einher in jener hellen Ferne! 
Die Schönheit, Gottes Kind, und um fie ber find Sterne, 
Und Eonnen ftreuet fie, wie leichte Funken bin.? 
Mein Geift verlieret fi in taufend Symphonieen, 
In denen Welten dort, wie Gotte8 Heere, zieben:* 
D daß ich nicht vor Luft foS oft zerfchmolgen Bin! 
Doch nein! in meinem Thal ſtimm' idy mit beilger Feier 
In jenen Klang nachahmend ein, 
Ja ſchlummernd felöft ſoll meines Herzens Feuere 
Ihr Opfer und ihr Abbild ſeyn! — 

Doc Unerforſchliche! darf Dich Dein Liebling fragen? 
Woher ergieht? fich Doch der Ocean von Plagen, 
Der nur des Menſchen Herz mit Sammer ® überſchwemmt! 
Nein, ewge Schöne, Du, Dir? kannt nichts Böſes zengen, 

Dir if die Güte fo, wie uns das Uebel eigen, 

Ich weiß e8, daß Dein Haß nicht unfern Glücksſtand hemmt. 
Des Körpers ie innrer Bau, ber Glieder äufre Hillle, 
Der Geift, wie fchön find fie gemacht! 
Nur unfer Herz, der widerfpenft'ge Wille, 
Berläßt Dein Licht und fucht die Nacht. 

Allein umfonft, umfonft hat er fein Her; verfchmoren! 
Du Schönheit haft Dein Hecht noch nicht auf!! ihn verlobren, 
Er fucht und lobet Dich auch wider Willen noch. 


1) W.: wirlend und fieta munter 2) W.: ſchwindt bie flilchtge Pracht 
3) W.: Wie trit fie da einher in der erbellten Fernel Zu zeugen ihrer Pracht ver- 
güldet fie die Sterne Und Sonnen fäht fie da wie leichte Körper hin. 

4) W.: Wonach die Kugeln bier wie prächtge Heere ziehen: 

6) W.: fon 

6) U: In ihren Klang... . Im Schlummer au .... W.: flimmt meine beilge Leier 
In ihren Klang nachahmend ein, Und bei der Nacht Nachte] felbft muß mein gebeimes Feuer 

7) A: ergeußt (wie Witbof.) 8) W.: Elenb 

9) W.: Nein ewge Schönheit, nein, bu 10) W.: Der Theilen 

11) W.: Recht nicht ganı auf 





43 


— 38 — 


Kaum fieht er Deine Glut auf jugendlichen Wangen, 
Wie Hopfend bleibt fein Herz an ihrem Burpur bangen! 
Er wird ein Sklav' um Di und trägt ein ebern Joch. 
Ie mehr fein Innerſtes der Schönheit Glanz verbrungen, 
Je mehr gebt er der äußern nad: 

Er taufchet fie, durch ihren Werth bezmungen, 

Mit! Jahren voll von Ungemad. 

Bon Thoren nie gefehn, die Nacht und Traum bebeden, 
Wirfſt du, fie gleichwohl noch zur Einficht zu erweden, 
Dein Leben und Dein Licht auf alle Wefen bin. 

Sie zwingt Natur und Kunſt ſich Tiebend? zu verweilen, 
Und wo nur Ordnung berrfcht, auch in den Heinften Theilen, 
Da wirft Du, Schönheit, felbft dem Triebe Lehrerin. 

So labeſt Dur den? Geift an taufendfadhen Bildern, 
(Denn Schönheit nährt die Geifter ja!) 

Und hört er auf, fich ferner zu verwildern, 

Wie ſchnell find Kraft* und Leben bal> 


Ja Phädon, wille Du, ein Geift, den Tugend leidet, 
It Gottes ſchönſtes Wert, unde wirb mit Recht beneibet, 
Denn Tugend? ift ein Schat, ber Kronen überwiegt, 

O ewge Schönheit, geuß, geuß Deine ftarle Fluten 

In meines Freundes Bruft, fie find ein Strom des Guten, 
Bor deflen Duelle fih mein Geift anbetend fchmiegt. 

Wie Licht und Wärme dort aus jener Flammenſphäre, 
Quillt ächte Weisheit nur aus Dir! 

Und tehrt zurüd, wie Ströme zu dem Meere, 

Zurück in Dich und ich mit ihr.* 


— — — — m 


1) W.: Von 2) W.: verliebt ſich 

3) W.: ſelbſt den Trieb zur Lehrerinn. So labſt bu noch ben 

4) W.: Höhrt er dan auf, fi ferner zu verwilbern, Go find noch Kraft 

5) Hier find vier Strophen des Originals ansgelaffen. 

6) W.: Kann nimmer ſchöner ſeyn, und 7) W.: DO: Tugend 

8) W.: Geuß, ewge Schönheit, doch, geuß bu doch ſtarle Fluten In meines 
Bhädons Bruſt, fie find eiu Theil vom Guten, Warum allein mein Geiſt ſich betend 
vor dir [hmiegt. Wie Licht und Wärme nur aus jener Flammenſphäre, Quillt wahre 
Zugenb nur aus Bir; Und lehrt zurüd, wie Wlüffe zu dem Meere, Und jließt in 
dich und ich mit ihr. (Die geiperrten Worte au in 9.) 





— 304 — 


Acht und zwanzigfter Brief. 4 r 


Schämen Sie fih Ihrer Empfindung nit. Es wäre ein 
übles Zeichen, wenn Sie ſowohl bei diefem Gefange, als bei den 
Gefprähen, die ich Ihnen fonft nannte, unempfindlich geblieben 
wären. Im Alter wird die Seele kalt, und! der Schwung bes 
Enthuſiasmus nimmt ab; wir werben durch fo mancherlei traurige 
Erfahrungen aus der idealiſchen in die Körperwelt, oft in eine 
fehr dürre oder unreine Welt zurüdgeftoflen, daß uns der Aufflug 
in die blumigen Gegenden der Phantafie wohl vergehet; mehe ? 
aber dem Sünglinge, deflen Herz und Sinn für die Reize der 
Natur, für die Schönheit der allgemeinen Wahrheit und Tugend 
verichloffen ift, der an die Sonne des Himmels mie an einen 
falten Fels denket. Ich wünſche mir noch oft die Stunden jener 
eriten, Süßen Begeifterung zurüd, da in den Wiſſenſchaften mir 
Alles neu war,? da die Wege des Studium und bes Lebens wie 
holde Auen im Glanz der Morgenröthe vor mir lagen und ih 
noch feine Schlangen, Dornen und Difteln fannte, die leider auch 
zu ihnen gehören. 

Indeſſen würden wir auf zu weite Abmege gerathen, wenn 
ich Ihnen nach einer fo leichten Veranlaffung meines letzten Briefes 45 
jest von mehrern fogenannten Naturtheologen* Rechnung able- 
gen fol. Bei denen, die ich genannt habe, und über die Sie ein 
ausführlicheres Urtheil wünſchen, mags6 feyn; im Anfchung der 
Vebrigen wäre es ein zu weiter Spabiergang. Ä 





1) kältet fich bie Seele und 

2) dürre und fohlammige Welt zurüdgefoffen, daß uns endlich ein 
neuer Aufflug dauert; mebe 

3) Stunden erfter, füßer Begeifterung, da .... Alles noch 
neu war, 

4) Indefien flhren Sie mid auf zu weite Abwege, wenn .... 
Naturtbeologen, worunter Zie ja auch felbft Deiften zählen, 

5) genannt babe, mags 


Mih dünkt, e8 müßte ein Thor ſeyn, der dem Lord Shaf- 
tesburi einen feinen, ſchönen und gewiß philofophilchen ! Getft 
abſpräche. Alle Aufſätze feiner Characteristik’s tragen davon 
Spuren; feine Sittenlehrer? find davon voll. — Eins der 
wenigen Stüde der Neuern, die man, ſowohl der Compofition als 
dem Inhalt nad, den. Alten zur Seite ſetzen könnte. Faft möchte 
ih jagen, dag man in ihm alle Blüthen der Leibnigifhen Philo- 
fophie (ohne die Spielhypotheien defielben) dazu im jüngften fchön- 
ften Slor blühen fehe, ja daß? ein neuer * Plato in ihm vebe. 
Zweene feiner beften Schriften*) fcheute Spalding fih nicht zu 

46 überfegen, und mich dünkt, der ſchöne Ton, der in Mendels- 
ſohns Briefen über die Empfindungen bherricht, ift ein 
jugendlicher glüdlicher Nahhall des Engliſchen Philofophen. Vor 
einigen feiner Paradoren:? z. €. Laune und Wit fey der befte 
Prüfeftein der Wahrheit u. f. hüten Sie fih; er hatte fie felbft 
halb 8 in der Laune des Scherzes gefagt und nachher gnug befchränft 
und zurüdgenommen. ch weiß alfo faum, warum er bey Eng- 
ländern und Deutichen unter den Deiften ftehet; wahrſcheinlich 
wegen einiger Spöttereien, die er fich in feinen früheren Schriften 
gegen mande ungeſchickte Vertheidiger ihrer fogenannten Religion 
erlaubte.” Daß Scherz fein Prüfeftein der Wahrheit fey, hat 


*) Die Sittenlebrer und Unterfuhungen über die Tugend, 
Berlin 1745. Nachher find ſämmtliche Schriften dieſes Berfaflers überfegt 
eribienen: Shafteshuri philoſophiſche Werte, iüberfegt von Voß, 
Leipz. 1776. % 


1) &8 müßte .... Shaftesburi z. E. einen feinen, |fhönen und 
wahrhaftig philofophifchen („Mich dünkt,“ fehlt.) 

2) Moralists 

3) daß in ihm alle .... dazu eben aufgebrochen im jüngften, fchön- 
fen Slor blühen und daß 

4) Mſe.: neuerer 5) Für einigen feiner Paradorien: 

6) er bat fie Halb 

7) Deutſchen (e8 fei benn, daß Deift ein Ehrenname feyn follte) 
unter den Deiften ſtehet. („mahrfceinlihd — erlaubte.” fehlt.) 


1) „Die Sittenlebrer — Leipy. 1776.” feblt. 
Herders fämmtl. Werke. X. 20 


— 306 — 


Bromn, der berühmte Cenſor der Sitten, ſehr eifrig ! gezeiget; 
auch der gutmüthige feine Berfelei zieht ihn in feinem minute 
Philosopher Dialog. III. darüber durch — andre Gegner der Dei- 
ften ? zu geſchweigen. Auch wegen des Sabes, daß man bie 
Tugend um ihr felbjt willen lieben müſſe, bat man ihn ſehr 
getadelt, den doch die Enthufiaften der Religion und Yenelon 
ſelbſt behauptet ? Haben. In feinem Lobgeſange auf die Natur ſoll 
er gar ein Aheift, ein Pantbeift * ſeyn, (mozu Gundling alle 
Weifen des Alterthums machte) den Herren entfallen die Namen, 
nachdem fie ihre Schlafinüge fchütteln. Gnug, m. Fr., leſen Sie 47 
ihn mit Vernunft und Unterfcheidung; deßwegen aber, in dent, 
was cr Feines und Schönes hat, mit nit minderm Gefühl 
für Wahrheit und Humanität, die Blüthe aller menſchlichen Tu⸗ 
and — — 

Ueber Rouſſeau werde ich vielleicht härter denfen, als Sic 
glauben, wenigftens bin ich fein jo blinder Roufjenu » Verehrer,® 
daß ih, wie viele, ihn ich weiß nicht für welchen Hinmelsge- 
fandten, den volllommenften Erflärer und Märtrer menſchlicher 
Wahrheit u. f. Hielte, mich dünkt, er war mehr Märtrer feiner 
Krankheit, feines philoſophiſchen Egoismus und einer fonderbaren 
menjchenfreundlich = menfchenfeindlicden € Laune. So beredt er iſt, 
jo oft declamirt er, infonderheit von fich felbft, jenen großen 
Moi, das feine Statue zuerft ausſpricht;“ aud find einige feiner 
Hypothefen, in der Allgemeinheit, in der er fie vortrug, ob er fie 
gleih nachher immer ® mehr einfchränkte, wohl nicht zu retten 


1) Sitten, der ſich nachher ſelbſt den Hals abſchnitt, eifrig 
2) Deiften= Gegner 
3) die größten Enthufiaften der Religion und ſelbſt Myſtiler behauptet 
4) Atheift, Pantbeift 
5) Gefühl der Wahrbeit und Liebe -— — 
Roußeau. Ich bin kein Roußeau-Verehrer, 
6) und feiner menſchenfreundlich-menſchenfeindlichen 
7) fo fehr declamirt er, .... dem erften Wort, das jeine Statue 
ausſpricht; 
8) vorträgt, und nachher nur immer 











— 307 — 


geweſen. Im Reich der Todten aber wird ſelbſt ſein Feind Vol⸗ 
taire! ihm nicht mehr läugnen, daß er ein ſtarker kühner Geiſt, 
ein beredter Mann und ein ſtrenger, eifriger Liebhaber deſſen 
geweſen, was? Er für Wahrheit anſah. Seine Beredſamkeit, 
48 ſein Haß gegen die Laſter der Geſellſchaft und der Gelehrten, ſeine 
feurige Liebe zu einem Ideal von Tugend und Redlichkeit, ob er 
ſie gleich mit faurer Sonderbarfeit vermengte, werden ihn immer 
ala einen Coloffus unter den Schriftitelleen unfers Jahrhunderts 
daritellen, von dem es Schade ift, daß jugendliche Fehler und 
Unglüdsfälle ihn in mandem Gefühl für fein ganzes Leben ver- 
darben und die Blüthe feine® Daſeyns zu einer herben Frudt 
machten? In diefem Betracht find feine Confessions, die ich 
Ihnen indeſſen jet noch nicht zu lejen rathe, das warnendſte Bud) 
für einen jungen Menſchen, das jeyn kann. Es zeigt nicht nur, 
was für einen böjen Einfluß Verirrungen der Jugend aufs 
ganze Leben haben, und welchem gefährlichen Labyrinth man fid) 
ausfege, jobald man ohne Grundfäße die gemeine Bahn der Gefell- 
Ihaft verläßt: fondern bei Rouſſeau felbft wirds offenbar, aus 
welchen trüben, traurigen Quellen der Schimmer jener Lieblings- 
grundjäge gefloffen ſey, den man nachher in feinen Schriften 
bewundernd anftaunte.* Wenn Sie alfo einmal jeine Schriften 
leſen, (no Halte ichs nit für gut und nöthig) fo Iejen Sie 
fie nit anders, als hinter feinen Gonfeffionen. Die erften 
als ſchöne Declamationen eines vom Wege verirrten Einſamen 
49 über ein paradores Thema; mas Wahrheit in ihnen ift, wird 
jih Ahnen Theilweiſe doch aufbringen und Gie werden dieſe 
eingejchränktere, bewährte Wahrheit defto mehr Tieben.® Sein 
Emil ift voll von® Beobachtungen und Lehren für die Menid- 

1) Voltaire es 2) das 

3) Schade iſt, daß er in keiner andern Nation und Sprache lebte. 

4) „In dieſem Betracht — anſtaunte.“ fehlt. 

5) Iefen Sie fie, zumal die erften als ſchöne Declamation über ein 
parabore® Thema: die Wahrheit wird fi Ihnen .... diefe ‚defto mehr 
lieben. 6) voller 

20 * 


— 308 — 


heit: fein Glaubensbefänntniß des Savoyiſchen PVicars in dem- 
jelben bat jchöne Stellen über Gott, Gewiſſen, die Stimme ! 
der Natur und die Vortreflichfeit des Evangelium, bei allen Zmwei- 
feln, die er dagegen vorträgt. Diefe haben ihm Verfolgung zuge- 
zogen, und fein ſonſt nübliches Buch dem Teuer überantwortet ; 
fie ftehen aber in hundert andern Büchern, die überall geleien 
werden und beziehen fi meiltens auf den Hauptzmeifel, daß bie 
geoffenbarte Religion nit allgemein fey, welches fie auch, als 
Geſchichte, offenbar nicht feyn konnte und ſeyn wollte.” Uebri- 
gens leſen Sie zu des Rouſſeau Lobreven auf die natürliche Reli- 
gion auh Möfers Brief an den PBicar:*) er giebt fein Wort 
für die poſitive Religion auf feine Weile; wie denn auch wirk⸗ 
lich jener Lobpreifende Traum mander Deiften vom Glanz des 
allgemeinen Naturlihtse und der allgemeinen Natur - Reli: 
gion, der Geichichte der ? Menſchheit nach, nichts ala ein glänzen- 
der Traum jeyn dürfte. Wenn haben die Menſchen ſolche natürliche 
Religion in aller Reinheit und Würde * gehabt? welche Menfchen ? 
und feit mann? wie lange? Und melde Menſchen unter ung 
find gefickt, fie zu Haben, fie zu? bewahren, immer darnad) 
zu handeln, ja nur ihre gepriefene SHimmelflare® Schönkeit, 
Harmonie und Neinigfeit recht zu bewundern? Alle foldhe 
Saden in Rouffeau, und feines gleihen muß man, ohne 
den Werth der Abjtraction felbft zu?” verfennen, wie Utopilche 
Plane Iejen. 


*) Schreiben an den Savoyiſchen Bilar, Bremen 1777. 


1) Bicars hat fchöne Stellen Liber Gott, Gewißen, Stimme 

2) welches fie, auch nur als Geſchichte betrachtet, offenbar wicht 
gleich feyn fonnte,* wielleicht aber, was wißen wir? einmal feyn wird. 

*(Eitat wie oben) ’ 

3) wirflih der Loberhebende Traum jener Herren vom Glanz bes 
allgemeinen Naturlichts, der Gefchichte und Beſchaffenheit ber 

4) in ſolcher Reinheit und Fülle 5) haben, zu 

6) ihre Himmelklare 

7) ohne ihren Werth zu 


50 








— 309 — 


— — Aber nun genug, m. Fr., denn über die Schriften ber 
andern Philofophen Iafje ich mich jett mit Ihnen nicht ein; * Gie 
haben andre, unjchädlichere, nötbigere Bücher für jet zu leſen. 
Bon Einigen derer, die Sir mir genannt haben,? z. €. von Hume, 
Helvetius, Bolingbrofe, Voltaire, halte ich, fie als Philo- 
ſophen betrachtet, jo gar viel nit; nur dauert? mich freilich, daß 
fie in manchen Antibeiftiichen Syitemen und Wörterbüchern ſchnöde 
abgefertigt und faft immer mit Leuten zujammengejeßt werden, bie 
weder an Geift noch Abficht das mindefte mit ihnen gemein haben.’ 

51 Muß es nicht jeden billigen Mann, der diefe Namen anders als 
aus Wörterbüchern und Kegerregiftern kennet, beleidigen, wenn ein 
Montesquieu und der Narr La-Mettrie, ein Shaftesburi 
und Chubb, der ernfte Rouſſeau und der Spötter Voltaire, 
in bunten Triumphe neben und durch einander Schau geführet 
werden ? ja daß oft ein Menjch über fie, als über die elendeften 
Schriftfteller, das Urtheil Spricht, der faum ihr Abichreiber zu feyn 
werth wäre.* In unferm Jahrhunderte ift das nicht nur belei- 
digend, jondern auch läherlih und ſchädlich. Einmal gelten dieſe 
Männer, ein Montesquieu, Rouffeau, Shaftesburi oder 
auch Hume, Bolingbrofe, Voltaire in der großen Welt, mas 
der Hr. Doctor vielleicht nicht gelten; und wenn aus dein Munde 
des Doctor der Paftor 5 nun dergleichen Urtheil weiter, in die 
Geſellſchaft, in Bücher, fogar vielleicht auf Kanzel und Altar 
bringt, fo Hat er der guten Sade damit eben nicht geholfen. 


1) Im Mſe. folgt bier durchſtrichen: „felbft über das Lehrgebäude 
Spinoza nicht, von dem ich künftighin Ihnen einiges zu fagen Luft Hätte. 
Diefe Schriften find jest für Sie noch nicht zu leſen.“ 

2) andre, gewißere, unfchäblichere, nöthigere Bücher. Bon Einigen 
.... genannt, 

3) Wörterbüchern fo ſchnͤde .... immer Leute zufammengefeit wer- 
ben, die .... mit einander gemein haben. 

4) und ver Lichterzieher Chubb, .... Voltaire, der mit ihm feine 
Ader gemein bat, .... Schaugeführt werden? und ein Menfh .... ber 
faum den Staub ihrer Füße zu Ieden werth ift. 

5) des Hrn. Doctors der Hr. Paftor 


— 30 — 


Ucberhaupt, m. Fr., Schweigen Eie von diefen Leuten, ehe Sie 
fie felbft gelefen Haben; ! auf den index expurgandorum und das 
Zeugniß eines Inquifitors verlaffen Sie fih nie.? Hören Sie die 
Gründe Ihres Anti - Deiftifchen Collegii; die Geſchichte und den 
Geiſt einzelner diefer Schriftfteller müflen Sie aus ihren Schriften 
ſelbſt kennen lernen, zu deren Prüfung aber ein fchon geſetzter 52 
Berftand gehöret. 

Folgen Sie aljo meinem Rath und drängen fi nicht vor- 
eilig zum Leſen folder auch berühmten und glänzenden Schriften, 
die gegen die Religion gefchrieben mwurben;? möge fih an der 
Lecture der Collins, Tindals, Tolands, Morgans, Chubbs, 
MWoolitons, d'Argens und Conforten erbauen, wer da will, 
wer dazu Amt und Luft bat. Mich freuets fehr, daß die Periode 
vorüber ift, da Alles von diefen, zum Theil fehr unmürbigen 
Namen ertönte und man mit den Bilbniffen diefer Leute und mit 
ihren Widerlegungen Kaften und Keller ſchmückte; auch wünſche 
und boffe ih, daß die Zeit bald kommen werde, da man die 
bliendendern Namen eines SHelvetius, Hume, Diderot,* in 
Urtheilen und Sachen diefer Art auf ihren rechten Werth ein- 
Schränken werde. Was follen überhaupt Schriften diefer Gattung, 
wenn fie auch fonft die ſcharfſinnigſten und reizendften mären, 5 
in den Händen eines zu bildenden Jünglings? Was fol er an 
Montesquieuß Geift der Geſetze, an Hume’s Zweifeln 
gegen alle Gemwißheit und Moral der menfhlihen Erfennt- 
niß, an Helvetius Wetterleuchten des Eſprits (wie Mendels- 
john fein Buch nicht unrecht bezeichnet) an Diderots Fiſch, derzg 
nicht für alle ift, an Bolingbrofe’s unhiſtoriſchen Zweifeln 


1) gelefen; 2) nicht. 
3) Geift einzelner Deiften werden Sie daraus felten kennen lernen — — 
Verſtehen Sie mid) indeß nicht unrecht. Ich wünfche nichts meni- 
ger, als daß Sie fih zum Leſen folder Schriften drängen, bie gegen bie 
Religion find; 
4) Diderot, von denen jeßt alles tönet, 
5) Schriften der Art, wenn fie auch fonft die beften wären, 


— 311 — 


gegen die Jüdiſche Geſchichte und endlich gar an Voltärs Evan— 
gelium leſen und lernen? —ı Es iſt ein unabſehbarer, Schade 
und Verderb des Jahrhunderts, daß jetzt Alles Allerlei, fo ver- 
miſcht und unordentlih und ohne alle Grundfäte liefet. So wars 
nicht bei den Alten: daher dachten und fchrieben fie auch anders. 
Ihre Denkart nährte fih an Wenigem und dem Belten: fie feste 
ſich inſonderheit in der Jugend erft veft, ehe fie fih ſchmückte. 
Werden Sie hierinn, lieber Jüngling, auch ein Alter. Halten Sie 
fih an das, mas Ihnen gute Grundſätze, eine vefte Dent- und 
Schreibart giebt; und laſſen Dagegen den ? abwechſelnden Flitter⸗ 
ſtaat der Zeiten einen jeden, der fih damit fchmüden mag. In 
Bauıngartens Bibliothef, in Lilienthal und Leland finden 
Sie fürs erfte foviel, als Sie von Ddiefer Leute Meinungen zu 
wiffen brauchen; jodenn lefen Sie etwa bie beften Schriften ihrer 
Gegner, 3. E. Berklei's Alciphron, (ein feines und ſchönes Bud), 
nur ſchlecht überſetzt im Deutichen) Stelton’3 Gefpräde, Bent- 
lei, Fofter, Littleton, Weſt, allmählig. Ach fage: allmählig: 
denn fo wie das zu viele Lejen überhaupt ſchadet: fo ſetzt infon- 

54 berheit das Leſen mancher ſchiefen Rechtfertigung eher ſelbſt Zwei⸗ 
fel in den Kopf, als daß es ſolche wegräumte. Sichern und ver- 
wahren Sie ſich zuerft ihre Religion durch eigne Weberzeugung ; 
alödenn laflen Sie die Feinde an fih fommen, ohne daß Sie 
folde aus Uebermuih ſuchen wollten. — — 

Uebrigens wünſchte ih, m. Fr., daß ih Ahnen durch meine 
lange Deduction wenigſtens jene edle Befcheidenheit gegen manche 
zum Theil verdienſtvolle Namen, die nicht mit gleiher Schuld in 
diefem Negifter ftehen, einflößen und Sie injonderheit vor der 
religiöfen Kedheit, vor jenem hochmüthigen Trog bewahren könnte, 
der gewiß niemand weniger al3 einen Theologen und PVertheidiger 
des Chriftenthbums leidet? Was ſolls 3. E. beiffen, daß mir den 


1) leſen? was an ihnen lernen? — 

2) vefte Schreibart giebt und laßen Sie den 

3) denn das zu viele Lefen ſchadet und das Lefen mancher ſchiefen 
Rechtfertigung fett felbft Zweifel in den Kopf. Sichern .... ihre Heli» 





Namen Deift zum Schimpfs und Elelnamen gemadt haben? 
Sind goir denn Feine Deiflen? Alſo Atheiften? Tritheiften ? 
Polytheiften? wie wären wir zufrieden, wenn man uns einen fol= 
hen Namen gäbe?! War Chriftus nicht jelbft, im reinften ? Ver- 
Stande des Worts, ein Deift? und mars nicht fein Zwed, die 
Seinen zu reinen, volllommenen Deiften, d.i. zu Dienern und 
Kindern Gottes, volllommen, wie der Vater im Himmel vollfom- 
men ift, zu mahen? War nicht Deismus, der Glaube an 55 
Einen Gott, die Grundlehre der Religion des alten Bundes ? 
und iſt fie nicht Grundlehre jeder nüslichen, bildenden Religion 
auf der weiten Erde??? Wenns aljo Leute giebt, die die Wahr⸗ 
heiten ber natürlichen Religion mit mehrerm Fleiß juchen, orbnen, 
bemeifen, ans Herz legen, jelbjt wenn fie auch von der Geſchichte 
und den Lehren einer geoffenbarten Religion abftrahiren ;* find 
fie deßwegen Schimpfes-wertH? Sind Sofrates, Zenophon, 
Plato, die Pythagoräer, Cicero, Epiktet, Antonin u. f 
Schimpfes - werth,, daß fie die Wahrheiten ihrer Religion und Moral, 
jo fern fie fie einfaben, zu gründen, zu bewähren, zu verbinden 
ſich rühmlichſt beitrebten? Hat die menſchliche Vernunft, hat felbit 
die Chriftlide Religion dadurch gemonnen oder verlohren? und 
warum betrachtet man jene, die zu unferer Zeit leben, nicht auch 
ala Griechen und Römer? Laſſet fie ihr Werk treiben! treiben 
fies gut, fo iſts der Chriftlichen Religion gewiß nicht ſchädlich; 
treiben fies übel, fo ift ja auch der Schade ihr und die Religion 
zieht fi in ihr eignes, befferes Gebäude. Sind fie Philo- 
fophen rechter Art: fo werden fie ein Gebäude unbefehdet Lafjen, 


gion: alsdenn .... kommen, ftatt daß Sie fie ohne Veranlaßung aus Ueber- 
muth fuchen wollten. — — 

Meine Abfiht war nur, Ihnen Beſcheidenheit gegen .... einzuflößen 
und Sie vor der religidfen Kedheit und dem hochmüthigen Tot gegen fie, 
fo lange Sie infonderbeit Iüngling find, zu bewahren. 

1) Atheiften? oder Tritheiſten? Bolytheiften? und wie ... .. wenn 
man uns fo nennte? 2) reinen 3) Religion der Erbe? 

4) abftrabiren wollten; 5) Mie.: man denn 


— 313 — 


das nicht auf Abſtraction, ſondern auf Geſchichte gebauet, und 


56 alſo nicht ganz ihr! Eigenthum iſt. Kommen ſie in unrechten 


97 





Angriffen dagegen: fo weile man fie ab; nur mit rechten, ehr- 
lichen Waffen, nicht mit unterlegten Minen; font beraubt man fich 
ja ſelbſt ſeiner — wo nicht Bürger, jo doch Unterthanen, Hand- 
langer und Mitarbeiter. Geſetzt, fie Hätten lauter verſchimmelt 
Brod in ihren Taſchen; lich doch Joſua die Gibeoniten mit ihrem 
verfchimmelten Brod Ieben und machte fie dafür zu Holzipältern 
und Waflerträgern am ? Tempel. Ich dächte, wir machtens, wenn 
fie übrigens friedliche Menſchen und nützliche Bürger find, aud 
fo, und bie Vernunftbeweife mögen das Holz und Waſſer feyn, 
das fie uns zu unferm Opfer mit großem Nußen und nicht ohne 
unfere Bequentlichkeit fo reichlich zutragen.? Leben Sie wohl. 


Der neunzehnte Pſalm.“ 


Die Himmel erzählen Jehovahs Ruhm; 
Die Sternenhöhe verlündiget5 fein Werk. 
Der Tag den Tage, Die Nacht der Nacht 
fagen® und ftrömen Erfenntniß fort. 

Es iſt nicht Spracde, es ift nicht Wort, 
daß man nicht etwa vernäbme® den Schall. 
In alle Lande tönt ihr Klang; 

zum Ende der Erden fpricht ihr Lied, 
wo das Zelt der Sonne ruht. 

Aus dem fie? tritt, wie ein Bräutigam 
aus feinem Brautgemach; 

und freut fih, wie ein rüftiger Helb 

auf feine Siegesbahn. 

Bom Ende der Himmel geht fie aus, 
gebt bis ans Ende deſſelben bin, 

und füllt die Welt mit Glut. — — 


— — 


1) das auf Wunder und Geſchichte gebauet, nicht ihr 
2) zum 3) Opfer zutragen. 
4) Beilage. („Der — Pſalm.“ fehlt.) 5) zeigt 6) Börte 7) Daber fie 





— 314 — 


Auch unſer: Geſetz Jehovahs iſt 
Tadellos, und berichtigt den Verſtand. 
Jehovahs Zeugniß iſt bewährt? 

und macht die Einfalt weiſe. 


Die Gebote Jehovahs ſind gerecht 

und erfreun das Herz. 

Lauter find die Befehle Ichovahe,? 

ein erleuchtendb Licht dem Auge. 

Die Kurt Jehovahs, fie ift rein, 

und bleibt in Ewigkeit. 

Jehovahs Ordnungen find Wahrheit 
und fie rechtfertigen ſich. 

Sind köſtlicher als Gold und Edelſtein, 
find füßer noch al8 Honig und Honigfeim. 
Dein Knecht wird durch fie aufgeflärt, 
und wer fie hält, hat großen Lohn. 


— — — —— — 


Keun und zwanzigſter Brief. 


Allerdings ift Dogmatik eine Philofophie und muß als folde 
ftudirt werben; nur eine Vhilofophie aus der Bibel geſchöpft und 
diefe muß immer ihre Duelle bleiben. Was man au zur Ber: 
theidigung jage, jo wars eine falſche Methode, als die Wolftfche 
Philofophie fih cine Herrihaft über die Theologie anmaaßte, ihre 
Definitionen in jeder Lehre zum Grunde fette, Daraus berleitete, 
was ihr gefiel, und nun hinten nad einige biblifche Sprüche zur 
Schau führte, die? auch ohngefähr dafjelbe Jagen möchten. Diefe 
Behandlung war im Grunde nicht beifer, als die Ariſtoteliſch⸗ 
Scholaftiide in den mittlern Zeiten; denn ob Ariftoteles oder 
Wolf? thut nichts zur Sade. — — 

Unftreitig ift bier die Philologiſche Methode beffer, die 
zuerit, recht gewählte und Hinlänglich erflärted Sprüche voraus- 

1) (Doc unfer) 2) ift vol Treu 3) Der Befehl Jehovahs, er ift lauter, 

4) die fo 5) gewählt .... erklärt, 


— 315 — 


fegt und aus ihnen mit gefundem Beritande Lehren folgert und 
fammlet. Wir haben denen Dank, die diefe Lehrart gerettet und 
60 beftätiget haben, auch allen denen, die in ihr fortgehen und immer mit 
mehrerm Fleiß Sprüche zu wählen, Lehren zu fimplificiren, zu erläu= 
tern, zu begründen juchen. In unferer Kirche brach Melandthon, 
ein eben fo guter Philofoph als Philolog, die Bahn und machte einc 
Menge Schüler. Als diefe von einer abermaligen Scholaftif überjchrieen 
wurden, brach Calirtus und feine Gehülfen wieder zu einem befjern 
Wege durd. Die Freigeifterei ftand auf; ihr entgegen fette fich die 
Philoſophie veſt. Dieſer entgegen regte fich der Pietismus und alles 
gährte fo lange durch einander, bis fi mit Hülfe der Sprachen und 
des gefunden Berftandes die Philologiſche Lehrart jegt emporge⸗ 
ſchwungen und mande Fehler ihrer Vorfahren glüdlich verbeflert 
hat. Biele unnübe Terminologie ift meggejtreift; mancher fröm- 
melnde Unfinn ift zu richtigern biblifchen Begriffen erhellet, andre 
Lehren find befjer georbnet worden, und überhaupt wird der Lehr- 
ling zum literarifden Verſtande der Bibel forgfältiger ange: 
führt, welches unzweifelhaft und gewiß in feiner Art aut ift. Ob 
man dabei nun abermals nicht etwas Anders verfäume? ob nicht 
manche Lehren überhaupt (auch) ohne darüber predigen zu wollen) 
zu troden vorgetragen werben, fo daß bei der an fich unentbehr: 
61 lihen Wortkritik oftmals die Sade felbit, ihre Bejchaffenheit, 
Wichtigkeit, Würde, Nutzen, Gebrauh, Anmendung, kurz bie 
Realität der Dogmatif etwas bintangefegt werden? — Beinahe 
jollte man dies aus manchen Beifpielen der Jünglinge, die von 
Akademien kommen, vermuthen.! Gie, m. Fr., vergeflen gewiß 
Ein3? über dem andern nit. Treiben Eie nit Worte, als ob 
feine Sachen dazu in der Welt vorhanden wären. Handhaben Sie 





1) frömmelnde Unfiun zu .... erhellet: andre Yehren befer georbnet 
und .... angeflihret, welches unzweifelhaft aut if. Ob man babei nicht 
0... berfäune? ob nit .... zu trocken, nadt und kalt vorgetragen, bei 
der an fih .... bintangefeßt merden — follte man aus manden .... fom- 
men, faft vermutben. 

2) vergeſſen Eins 





— 316 — 


die Bibel nicht, ala ob durch Ihre Kritik erft eine Bibel werden 
müßte; — dieſer kritiſche Vorwitz fchadet der Weisheit, Wahrheit 
und Nutzbarkeit Ihres ganzen dogmatifch-biblifhen Studium mehr 
als Sie denken. Es wäre übel, wenn dur Ihre Bemühung erft 
eine Bibel oder eine Dogmatif! würde! und fo muß c3 nicht vor- 
theilhaft feyn, wenn Sie an Ihrem Glaubensbuh nichts als eine 
Fabrik dergleihen curarum academicarum haben. . Kommen Sie 
nachher ins Amt, fo jehen Sie, wie unbraudbar Ihnen diefer 
Grillengeift tft: fteigen fie weiter ins Alterthum durd) eigne Belcfen- 
heit und Uebung hinauf, jo? finden Sie, wie mandjes lange ſchon 
gejagt war, was Ihnen Ihr Lehrer, als gejtern erfunden angab. 
Melandhtbon,*) Chemnit, Hyperius, Strigelius, Chytracus, 62 
Calixtus u. a. waren in rechter Methode der Dogmatif auch feine 
Thoren! neben ihnen find Calvins Dogmatik, Gerhard3 loci, 
zumal mit Cotta's Zufäben, aud) wohl zu gebrauden und legterc 
ein? Meer von Gelehrfamfeit und Kenntniß. Wenn in den neuern 
Zeiten durch einiger gelehrten Eregeten 3. E. Mihaclis, Zachariä, 
Tellers, Döderleins u. a. Fleiß dies Studium injonderheit in 
Prüfung der Beweisftellen gewonnen hat:* fo brauden Sie diefen 
Gewinn Still und beſcheiden, ohne vor kritiſchem Dünfel die Sache 
jelbft zu verlieren und zulegt vor lauter Eregefe feine Dogmatik 
mehr zu haben. Halten Sie fi an einen gefunden und gelehrten 
Philologen, der Sadhe und Wort hat: Oeoloyeır der, 8 TEy- 
vokoyeır, ſagte Bafilius; vieleicht ſollte man in unfern Seiten 
*) Die vollftändigen Titel der bier angeführten Schriften find in 
Walchs bibliotheca theolog., in Nößelts, Millers n. a. Anweifungen 62 


zur Känntniß theologifcher Bücher zu finden, daß eine neue Ennmeration 
überflüßig: wäre.! 


1) oder Dogmatit 2) Uebung, fo 

3) Thoren: Calvins .... Zufäben, find ein 

4) Gelehrten und Exegeten .... Zahariä, Döderleins .... 
gewonnen, 


— — 


1) „*) Die — wäre.” fehlt. 


— 37 — 


hinzuſetzen:  quAoAoyerr uovor. —! Ich wünſchte, daß Sie in 
Ernefti Bibliothef die Necenfionen einiger neuen? dogmatiſchen 
Bücher, Baumgartens, Clemms, Stackhouſe, Heilmanns, 
Barths, Tellers, Michaelis, Gerhards, Zachariä u. a. 

68 laſen: feine Urtheile auch über den Vortrag einzelner Lehren find 
fehr beftimmt und ſchätzbar; noch beffer wars, wenn ber verbienft- 
volle Greis ung felbft mit einem Lehrbuch befchentte.*) 

Ich Habe bisher die Bibliſche Theologie als die einzige und 
wahre gerühmet; Sic merfen aber felbft, m. Fr., daß id) damit 
Teine afroamatifche Genauigkeit ausfchließe, dieſelbe vielmehr 
aufs möglichfte wünſche. Zufammengeraffte Worte der Bibel her- 
beten, fann jeder Unwiſſende, und Hinter folde Worte feinen 
eignen Wahn verfteden, haben alle Schwärmer und Irrgeiſter 
gefonnt; id) nannte alfo die Dogmatik mit Fleiß eine Philofophie 
und habe ihr längft ſchon in einem eignen Bricfc**) die Geſchichte 
der GlaubensIchren und ihres Vortrages, durd alle’ locos 
und Jahrhunderte hindurch zur Gefährtin mitgegeben.”  Unglaub- 
lich ifts, wie durch diefe Geſchichte jede Lehre gleichſam genetiſch 
bel und Har, ja aud die dürreſte Terminologie dadurch belebt 

64 werde. Man fiehet durchhin, wie jeder neue terminus, jede Claffi- 
fication und Antithefe entftanden jey?* auf welcher Seite Recht 
und Wahrheit geweſen? ob man jegt noch den Ausdruck, oder die 
Eintheilung nöthig Habe? oder ob man fie nicht,? nad Lage der 





*) Da dieß nicht geſcheben ift: fo wäre ein dergleichen Buch von feinem 
Nachfolger Morus vieleicht noch ermünfchter.! 

**) Diefer Brief muß verlohren gegangen feon; oder id babe die 
Stelle nicht bemerlt. Der Herausgeber? 


1) fogt Vaſilius — („vielleist — woror” fehlt.) 

2) Bibliothek einmal die Recenfionen einiger neuern 

3) B: und möchte ihr die Gefhichte .... Gefährtinn mitgeben. 
4) entftanden? 5) Ausbrud, die .... babe? oder nicht, 


1) „*) Da — ermünfchter.” feblt. 
2) 8: „*") Diefer — Herausgeber.“ feblt. 


— 316 — 


die Bibel nicht, ala ob durch Ihre Kritif erft eine Bibel werden 
müßte; — dieſer kritiiche Vorwitz fchabet der Weisheit, Wahrheit 
und Nutzbarkeit Ihres ganzen dogmatifch-biblifchen Studium mehr 
als Sie denken. Es wäre übel, wenn durch Ihre Bemühung erft 
eine Bibel oder eine Dogmatif! würde! und fo muß es nicht vor- 
theilhaft feyn, wenn Sie an Ihrem Glaubensbudh nichts als eine 
Fabrik dergleihen curarum academicarum haben. . Kommen Sie 
nachher ins Amt, fo fehen Sie, wie unbraudber Ihnen diefer 
Grillengeiſt ift: fteigen fie weiter ins Alterthum durch eigne Belefen- 
heit und Uebung Binauf, jo? finden Sie, wie manches lange ſchon 
gejagt war, was Ihnen hr Lehrer, als geftern erfunden angab. 
Melanchthon,“) Chemnig, Hyperius, Strigelius, Chytraeus, 
Calixtus u. a. waren in vechter Methode der Dogmatik auch feine 
Thoren! neben ihnen find Calvins Dogmatik, Gerhards loci, 
zumal nit Cotta’8 Zuſätzen, auch wohl zu gebrauden und letztere 
ein? Meer von Gelehrſamkeit und Kenntniß. Wenn in den neuern 
Zeiten durch einiger gelehrten Exegeten z. E. Michaelis, Zachariä, 
Tellers, Döderleins u. a. Fleiß dies Studium injonderheit in 
Prüfung der Bemweisftellen gewonnen hat:* jo brauden Sie biefen 
Gewinn fill und bejcheiden, ohne vor kritiſchem Dünfel die Sade 
felbjt zu verlieren und zuleht vor lauter Eregeje feine Dogmatik 
mehr zu haben. Halten Sie fih an einen gefunden und gelehrten 
Philologen, der Sadhe und Wort hat: @eoloyeır der, 8 rex- 
voAoyeıv, fagte Bafilius; vielleicht follte man in unjern Seiten 


2) Die volftändigen Titel der bier angeführten Schriften find in 
Walchs bibliotheca theolog., in Nößelts, Miller u. a. Anweifungen 
zur Känntniß theologifcher Bücher zu finden, daß eine neue Enumeration 
überflüßig: wäre.! 


1) oder Dogmatit 2) Uebung, jo 

3) Thoren: Calvins .... Zufäben, find ein 

4) Gelehrten und Exegeten .... Zahariä, Döberleins .... 
gewonnen, 





1) „*) Die — wäre.” fehlt. 


62 











— 317 — 


binzufegen: # gpıloAoyeır uovor. —! Ich wünschte, daß Sie in 
Erneſti Bibliothef die Recenfionen einiger neuen? dogmatiſchen 
Bücher, Baumgartens, Clemms, Stackhouſe, Heilmanns, 
Barths, Tellers, Michaelis, Gerhards, Zahariä u. a. 

63 läſen: feine Urtheile auch über den Vortrag einzelner Lehren find 
jehr beitimmt und ſchätzbar; noch beſſer wars, wenn der verdienft- 
volle Greis uns felbit mit einem Lehrbuch beichentte.*) 

Ich habe bisher die Biblifche Theologie als die einzige und 
währe gerühmet; Ste merken aber felbit, m. Fr., daß ich damit 
feine afroamatiihe Genauigkeit ausfchließe, dieſelbe vielmehr 
aufs möglichite wünſche. Zufammengeraffte Worte der Bibel her⸗ 
beten, kann jeder Unmwiffende, und hinter ſolche Worte feinen 
eignen Wahn verfteden, haben alle Schwärmer und Srrgeifter 
gekonnt; ich nannte aljo die Dogmatik mit Fleiß eine Philofophie 
und babe ihr längſt Schon in einem eignen Briefe**) die Geſchichte 
der Glaubenslchren und ihres Bortrages, durch alle’ locos 
und Jahrhunderte hindurch zur Gefährtin mitgegeben.” Unglaub- 
lich ifts, wie durch dieſe Geſchichte jede Lehre gleihfam genetisch 
bel und klar, ja auch die dürreſte Terminologie dadurch belebt 

64 werde. Man fiehet durchhin, wie jeder neue terminus, jede Claffi- 
fication und Antithefe entitanden ſey?“ auf welder Seite Necht 
und Wahrheit gemefen? ob man jeht noch den Ausdrud, oder die 
Eintheilung nöthig habe? oder ob man fie nicht,“ nad Lage der 


*) Da dies nicht gefcheben ift: fo wäre ein dergleichen Buch von feinent 
Nachfolger Morus vielleiht noch erwünjchter.' 

**) Diefer Brief muß verlohren gegangen ſeyn; ober ich babe dic 
Stelle nicht bemerft. Der Herausgeber.? 


1) fagt Baſilius — („vielleicht — uovov” fehlt.) 

2) Bibliothek einmal die Recenfionen einiger neuern 

3) V: und möchte ihr die Gefhichte .... Gefährtinn mitgeben. 
4) entftanben ? 5) Ausdruck, die .... babe? oder nicht, 


1) „*) Da — eriwünfcter.” fehlt. 
2) B: „**) Diefee — Herausgeber.” fehlt. 


— 318 — 


Zeit, mit etwas Bellerm ! vertaufchen fünne? Das lebte ift inſon⸗ 
derheit für die Katechetik und den Predigtvortiag dienlih: denn 
was follen fih Kinder, was follen fi) Zuhörer mit Worten quälen, 
zu denen die Beranlaffung längft dahin ift, die unjre Zeit (denn 
auch die Art der Sprache und des gemeinen Sinnes verändert ſich) 
gerade eher in einer andern Bedeutung aufzunchmen geneigt wäre, 
als fie urjprüngli haben follten? Verba valent, sicut nummi, 
und fo wie die Philoſophie, ja jede Kunft und Sprache ihre Linea- 
mente verändert, warum follte es die fcholaftiihe Dogmatit 
nicht, die fofern ja blos Philofophie, Kunit, Sprade ift? 
Ich weiß nicht, ob man fich in dem Streit, ob die gelehrte 
Terminologie aus der Theologie zu verbannen fey? genau an diefen 
Geſichtspunkt gehalten habe; er ift, dünkt mich, der einzige wahre 
Geſichtspunkt. Es fragte fih nehmlich; aus welcher Theologie 
jollen fie abgefchaft werden? Nicht aus der afroamatischen Dog- 
matik; ſonſt müßte dieſe, um eine genaue Wiſſenſchaft? zu ſeyn, 
ſich eine neue Terminologie erfinden. Aus der Geſchichte der 
Dogmatik noch weniger: denn da find fie res facti, die wir zwar 
vergeffen, nicht willen, nie gelernt haben fünnen (woran niemand 
zweifelt,) die aber deshalb im Buch der Zeiten, mas fie find, blei- 
ben und bleiben werden, ja an benen häufig die Genefts und die 
Geftalt unjrer Theologie Tlebt, wie in vielen Proben Ernefti und 
andre gezeigt haben. Ob aber verflochtne, abgelebte, ausgeftorbene 
Mortkrämereien von der Kanzel und aus? der Katechefe weg— 
bleiben können, ja wegbleiben müffen, wer jollte daran zweifeln? 
Geht man denn mit? verrofteten Schwertern zu Felde, die jebt 
weder treffen noch fchneiden? Oder legt man fih mit Helm und 
Panzer zu Bette? oder will man mit? einer alten Lanze Korn 
ſchneiden? Nicht anders ifts mit dere ausgeftorbnen Keker- und 
Streittechnologie auf Altar und Kanzel. Rede hier, wie deine 


1) Mſe.: Beßern 2) Doch nicht aus.... um Wißenfchaft mit Genanigteit 
3) Kanzel, aus 

4) wer bat daran gezweifelt? Geht man denn mit alten, 

5) will mit 6) der alten 


7) 


— 319, — 


Zeit redet: erfläre, wie fie, die umberftehn, dich verftehn und 
dir etwa, wenn fie an deiner Stelle ftänden,! den locum erflären 
würden. Das alte Rüftzeug lap im Zeughaufe der Dogmatik, auf 
Concilien und Synoben; aber wiſſen mußt du’, wo es jteht? 
wohin es gehört? wozu es gebraucht warb? obs etma noch, oder 
Gottlob! nicht mehr gebraucht werden dürfe? u. f. 

66 Sehr hoch, m. Fr., ſchätze ich einen Vortrag, er jey eine 
Predigt, oder eine? Katechefe, mo dies Maas dogmatiſcher 
Genauigkeit aud in Worten recht angewandt ift, ohne weder 
den Verſtande der Zeit, noch dem Begrif der Lehre etwas zu ver- 
geben: es ift nicht fo leicht zu treffen, als nıan denke. Kindern 
3. €. den zweiten und dritten Artikel, oder die Lehre von den 
Sarramenten zu erklären, ohne den unnützen Schulwuft voriger 
Jahrhunderte zu wiederholen; zugleich aber auch jo, daß das Kind 
fh gegen die ihm vorkommenden Irrthümer daraus? mapnen 
könne, Turz, wie fie ein Evangelift, ein Apoſtel, wenn er. jebt 
lebte, ihm beigebracht hätte — dies haltet ich für ein Stüd Sokra⸗ 
tifcher Theologie und Lehrweisheit. Mit flacher Philofophie über 
diefe Lehren iſts nicht ausgerichtet; mit bloßem Weglafien deſſen, 
was uns nicht gefällt, was fih etwa nidht mit vollem Munde ber- 
jagen läßt, ift3 noch weniger gethan.“ Känntniß der Bibel, des 
Dogma und feiner Gedichte, Känntniß‘ feiner Zeit und jeiner 
Subjecte ift nöthig. Hätten wir doch eine Geſchichte der Dog- 
matil, mit dem praktiſchen Endurtheil bei jeder Lehre, wie 
fern fie, nah ſolchen Prämifien, jebt am? beiten unfrer Zeit 
vorzutragen wäre! Vorarbeiten über einzelne Artikel haben wir 

67 infonderheit unter den Semmlerſchen Arbeiten reichlih;® das 

1) ftänden, dir 2) Vortrag, eine Predigt, eine 

3) Jahrhunderte, zugleich .... gegen alle Irrtbilmer feines Lebens 

daraus 

4) bätte — halte 5) läßt, noch weniger. 
6) Känntniß endlich 

7) ſie nun, nach ſolchen Prämiſſen, am 

8) haben wir ziemlich; 


— 0 — 


Werk ſelbſt aber, das ich wünſche, (unpartheiiſch, vollſtändig, philo⸗ 
ſophiſch, menſchlich) — iſt, To viel ich weiß, noch ungefchrieben.*) 
Eine Geſchichte des dogmatiſchen Predigtvortrages 
wäre ebenfalls zu wünſchen: denn es iſt ein ſonderbarer Anblick, 
wenn man ihn die Zeiten der chriſtlichen Geſchichte hinab! verfolgt 
und die Farbe fiehet, die er jedesmal von feinem Zeitalter und 
der damaligen Modewiſſenſchaft annahm. Luther 3. B. ſprach die 
einfältige, ftarfe, ungefhmüdte Sprache? des gefunden Verftandes; 
er ſprach aus Bruft und Herzen, nicht aus Kopf und Gedächtniß. 
Seine Predigten find daher infonderheit bei Gemüthsveiten Predt- 
gern in unferer Kirche lange das Mufter ihres Vortrages geweſen;* 
Chemnig, Matthefius, Weller u. a. predigten ihm nad. Mit 
der Zeit artete diefer Vortrag in Heine Mähren, in erbauliche 
Etadt - Gejchichten, mohlgemeinte, aber nicht immter beſtehende 
Consilia, furz in einen Stadtpfarrer-Vortrag* aus, von dem 
wir aus dem vorigen Jahrhundert noch eine Menge Proben haben. 68 
Akademien und Höfe wollten ſich unterſcheiden: jene lagen zum 
Unglüd in bittern Gtreitigfeiten, diefe waren mit der Seuche eines 
Spaniſchen übeln Geſchmacks behaftet; beides, Polemik und cin 
Ipigfündiger Gefhmad kam aljo auf die Kanzel. Nun mur- 
den ſchrecklich-⸗ dogmatiſche, widerlegende, donnernde; oder emblc- 
matijche und Bilderpredigten gehalten, die fi) abermals eine Zeit- 
lang erhalten® haben. Männer von feinerm Geift und befjerm 
Herzen Ichlungen® ſich an die Myftif; bis endlich aus ihren Nad;- 
läffen in unferm Jahrhundert der Pietismus entftand; aus welchem 


*) Wer Spittler’8 Kirchengefchichte kennt, wird nicht Tange Darüber 
anftehn, von wen ers am Tiebften wünſchen möchte.‘ 


1) ihn Zeiten hinab 2) Luther ſprach .... Sprade der Wahrbeit, 

3) Muſter geweſen: 

4) Mährchen, erbauliche Gefchichtehen, .... Stabtpfarrer - und Bürger- 
vortrag 

5) fih lange erhalten 6) ſchlangen 


1) A 8: „*) Wer — möchte.“ fehlt. 


— 21 — 


ſodann andre Secten bervorgingen,! deren jede ſich ihre eigne 
Erbauungs- und Kanzelipradhe oft mit großer Wort-Verwir⸗ 
rung? und mit einer gar eignen Pfychologie bilden wollte. Weil 
diefer Vortrag zum Herzen ſprach, jo konnte das Spanische Bilder- 
weien und bloße Wortgeflingel, fo wie auch die rüftige Streit- 
theologie ihm nicht beſtehen. Philofophie aber machte fich gegen 
ihn auf und unftreitig mit befferm Glüde aud für den menſch— 
Iihen Verſtand, der vor allem andern Klarheit liebet; bis endlich 
auch fie die ganze Dogmatik und Moral, ja jogar Predigten und 
Katechismus in einen neuen Spanifchen Mantel büllte.® | Die 
69 Religion gehörte nun zur beften Welt und aus dem vollfom- 
menften Wefen folgte der Zuſammenhang aller Dinge, 
auch der Sünde, des Lafters, der Gerechtigkeit Chrifti, der 
Buße, der ewigen Höllenftrafen, wie zu ermeifen. Wo 
fonnte man auch befjer erweiſen, als auf der Kanzel, wo niemand 
widerſprach? und fo ward felbft die Kanzel, zumal da Wolf Deutſch 
geichrieben hatte, mit einer Terminologie überhängt, die noch nicht 
völlig von ihr megbleiben, ja die in unfrer Sprache jetzt beinah 
zu Haufe feyn will, ob der gemeine Mann glei, felbft nachdem 
er fie hundertmal gehört bat, fie eben* nicht mehr verftehet, als 
da er fie zum erftenmal hörte. Bewegungsgründe und ihre 
Beftimmung, Triebe und VBolllommenheiten, Wefen und 
Möglichkeit, Gefihtspunfte, Lagen, Situationen, Cha- 
raktere, Ideale u. dgl. find noch auf der Kanzel, und oft wer- 
den fie, ganz unnüg, ja vomd Redner jelbft unverftanven, am 


1) Jahrhundert fi) der Pietigmus, aus ihm andre Secten fich gebahren, 

2) großer Berwirrung 

3) Weil fie zum Herzen ſprach, fo konnte vor ihr [Dife.: „tonnte 
ihr“] das blaſſe Spanifche Bilderweſen und Wortgelfingel, fo wie auch die 
rüſtige Streittheologie nicht beſtehen. Philoſophie machte fich gegen fie 
auf und hüllte Dogmatit, Moral, Predigten, Katechismus in ihren Mantel. 

4) ward diefe, zumal Wolf .... Terminologie überflittet, die .... 
wegbleiben und in unfrer Sprache beinah .... gleich fie jet, nachdem er fie 
hundertmal gehört bat, eben 

5) unnütz, vom 

Herbers fümmtl. Werke. X. 21 


— 52 — 


unrechteſten Drt gebraudt. In den damaligen Streitigfeiten über 
die Philoſophiſche Art zu predigen famen unter andern Theolo⸗ 
giihe Gedanken heraus, wo eine philojophifche Predigt in gutes 
verftändliches Deutſch überſetzt war: wie oft hätte man zu ſolchen 
Ueberfegungen noch Anlaß und bevauret die Menge, die es nicht 
thun kann! Nur freilich iſt unfere neuefte Bücherſprache, die ich 70 
auf die Kanzel gebränget bat,! nicht aus Wolfs Schriften, Die 
nicht mehr gelefen werden: ſondern aus Frankreich, England, 
alien und ich weiß nicht mo ber? Die zu vielen Ueberjegungen 
(und meiftens dur; Handarbeiter, die den Genius unjrer Sprache 
nicht Tennen,) verderben diefe: eine zu? frühe, zu flüchtige, zweck⸗ 
loſe Lefung folder und allerlei Schriften verberbt? noch mehr. 
Unfer Erbeharacter, die Nachahmungsſucht, macht, daß wir immer 
borgen und betteln, ja daß, wenn ſich nicht die Sachen jelbft jo 
leicht fortbringen laſſen, wir wenigftend Worte, d. i. leere,“ höl⸗ 
zerne Gefäße mitnehmen und nachher kindiſch zur Schau ftellen. 
Ich babe einen Menfchen gekannt, dem man immer anhören Tonnte, 
was er zulegt gelefen hatte: einen andern, der in Crebillon ver- 
liebt, wirflih Crebilloniſch predigte — Sie fünnen leicht denken, 
wie? As Klopftod aufkam, predigte alles Junge, was erhaben 
jeyn wollte, in verftümmelten Herametern; hätte das Barden- 
luftrum nur etwas länger gedauert, fo hätte man auch Bardiſch 
gepredigt. ALS vor wenigen Jahren Alles die Kunſt kennen wollte, 
erſchien auch die? Kunſt auf der Kanzel; jetzt, da die jungen Herrn 
Bibliſche Ausdrüde in ihre Romanzen und Mondſcheinverſe brin- 71 
gen, wäre es ja undankbar, wenn die Kanzel mit der Zeit ihnen 
nicht nachginge und auch den Romanzen - und Mondicheinton borgte.* 


1) unfer neuere® Büchergeſchwäz, das fich auch auf die Kanzel gebränget, 

2) diefe: die zu viele, zu 3) verdirbt 

4) betteln, und wenn fi wicht Sachen fo leicht fortbringen laſſen, 
wenigſtens Worte, leere, 

5) erfchien die 

6) Romanzen, Mondicheinverfe und Kraftknüttelreime bringen, .... 
ihnen nicht vergölte und .... von ihnen borgte. 











— 323 — 


D Luther, wenn man da an Did und an Deine reine, vefte, 
allverjtändlide Sprache zurückdenlet! 

Erlauben Sie, daß ich einige Lehren der Dogmatik durch⸗ 
gehe, und da doch bei ihnen an der Anwendung! alles liegt, etwa 
zeige, wie fie zu Vorträgen dienen fünnen? was bei dieſen etwa 
zu vermeiden, bei jenen vorzüglich zu brauchen, zu nutzen wäre? 
oder wo Sie fi etwa weiter Raths erholen können?? u. f. Ich 
meyne: Raths erholen — nicht in Predigten: denn von diefen Tenne 
ich wenige.” Ich habe nie Zeit gehabt, Poſtillen zu leſen, und 
mande glänzende Homileten find für mid unbelannte Länder. 
Bielleicht gelingt mirs aber, Ihnen hie und da etwas zeigen zu 
können, dabei Sie jene entbehren mögen oder* wenigftens ficherer 
brauchen. Indeſſen verſpreche ih nur Proben, nichts Ganzes! 
Leben Sie wohl. 


— — —— - no 


Dreiſſigſter Brief. 


Gott iſt die Hauptlehre aller Religion, ſo wie die Quelle 
aller Erkänntniß, Seligkeit und Tugend. Die erſte Warnung, die 
ich zu geben habe, iſt: entweihen Sie ihn nicht, wenn Sie 
ihn heiligen ſollen! führen Sie ſeinen Namen auch auf 
Kanzel und Altar nicht unnütz. — Wie oft wird er da unnütz 
geführt! und fließt als ein leeres Bild- und Silbenwort, ohne 
Gedanken, ohne Gefühl und Regung von den Lippen hinunter! 
daß es einen Menſchen ſchaudern möchte, ders hört und der an 
die Andacht und Hochachtung nur tugendhafter Heiden zurückdenkt, 
mit der fie das ewige, höchſte Weſen nannten.“ Eurethalb 
wird Gottes Name verläftert unter den Heiden! fagt Pau⸗ 
lus von den Juden, und von men gölte e8 mehr? 


— ——, — — 


1) doch an ihrer Anwendung 
2) zu vermeiden, zu brauden .... wäre? wo .... könnten? 
3) denn dieſer ferne ich wenig. 4) entbebren oder 


5) Heiden, mit ber fie .... nannten, zurückdenket. 
21* 





— I — 


Hüten Sie fih aljo, daß Sie ohne Gefühl von Ehrerbietung 
und Würde, nie von Gott reden und zu ihm beten. Im Geift 
und in der Wahrheit, fagt Chriftus, will er angerufen ſeyn, 
damit fein Erfänntnig in und ewiges Leben werde;! und 
wie kann es dies werden bei Gebanfenlofem Leichtfinn? Wenn 73 
ein Sofrates, nur eine Wahrheit der Philofophie unterfuchend, zu 
feinem höchſten Gott betet: wie einfältig und erhaben tft fein Gebet! 
Wenn die Pythagoräer Gott lieber ? durch Schweigen, durch ftil- 
les Suden und Nachahmen, als durch leeres Wortgeihwäg ehren 
wollten: wenn mande Völker den großen Unnennbaren am beiten 
mit einem ftillen Schauer kindlicher Liebe anzubeten glaubten; wie? 
und wir ® Chriften, denen der Sohn aus feinem Schooße ihn, als 
den Vater,“ ald die allmwirfende überallergofiene Duelle alles 
Lebens, aller Seligfeit fund gethan bat, wie weit ftehn Wir in 
jo manden Büchern, Predigten, Thaten und Gebräuden Binter 
ihnen! Nicht, ala ob ich Ihnen jene unlautere Empfindungsquelle, 
den Myſticismus, ober gar zum Erſatz der Empfindung, die Talte, 
hochtönende Phantafie, ein auffliegendes Odengeſchwätz u. dgl. 
anpreifen wmwollte.d Gott wird ſowohl dadurch, als durch jeden 
leeren Schein der Heuchelei und der Abgötterei entehret; ja® Durch 
diefen wird eine Gemeine oft nur verführt.und geärgert. Reden 
Sie von und zu Gott in Einfalt des Herzens, wie Sie denen, 
wie Sie ihn erkennen und empfinden. Lernen Sie ihn alſo recht 
erfennen, ſicher empfinden; nit durch Worte allein, fondern 
durch Gedanken, durch Uebung und Erfahrung.” Dies ift die 74 
meditatio, oratio, tentatio, die Luther zum Studium der ‘Theo- 
logie vorjchreibt; denn niemand kann einen andern lehren, was 
er jelbjt nicht weiß, und niemand einem andern geben, was er 
jelbft nicht Hat; alfo — 


1) Chriſtus: feine Erkänntniß fei ewiges Leben! 

2) betet: wenn die Pythagoräer ihn Tieber 3) glaubten; wir 

4) als Bater, 5)ich jene unlautere .... u. dgl. Ihnen zureben wollte. 
6) und 7) Gedanken, Uebung, Erfahrung. 








— — 4 


75 


— 325 — 


2. In Spisfündige Unterfuhungen über Gottes 
Defen und Eigenſchaften laffen Sie ſich vor einer Ber- 
jammlung, die zur Seligfeit unterrichtet werden will, nicht ein. 
Es ift gut, ja nöthig, daß Sie dieſe Streitigkeiten und wie weit 
es der menſchliche Dijputirgeift ! darinn gebracht hat, willen. Ler⸗ 
nen Sie diejen in allen Verwandlungen und Schlupfwinteln, mie 
er fo viele Jahrhunderte ? hindurch Diefelben Fragen und Knoten, 
immer in andern Worten, aufgebradht bat, Tennen; nur Ihre 
Gemeine verfhonen Sie damit. „Was Gott jey? wie er Eins 
„in Dreien, Drei in Einem fey oder gar gemorden?? mas er 
„von Ewigkeit ber gethan? wie er aus fich felbft getreten? (ein 
„monftröfer Ausdrud!) und endliche Dinge hervorgebracht habe? 
„Wie der Unendliche fich jebt zu ihnen verhalte? wie er fie ſehe 
„und erfenne? ob in oder außer fih? Er in ihnen ober fie in 
„Ihm? ob und wie ihre Veränderung in Ihm feine Veränderung 
„zeuge und Er doch in ihrem Zeitraum wirfe, Menfch worden 
„ey? u. f.“ Diefe und hundert Fragen mehr, woran die fühn- 
ften 5 Geifter gejcheitert find, werden uns ewig Klippen bleiben. 
Das Unendlihe mit dem Endlichen zu berechnen: das In oder 
außer Gott ertenfiv ober intenfiv zu meſſen u.f.f. — das 
Alles ift® nicht Menſchen- jondern Thorenwerf, und mer über 
Fragen folder Art die Ketzerkrone verdient, trägt fie weder zum 
Nuten, noch mit Ehre. Wir Arme, die wir nicht ? wiflen, mas 
wir jelbft find? mollten das Weſen der Weſen kennen, wie es 
Tih ſelbſt kennet! Endliche Gefchöpfe, mit Drt und Zeit um- 
fangen, wollten ins Unermäßliche gehen, mo fein Drt und Seit 
ift, und die Allwiſſenheit, Allgegenwart, Präbdeftination, Juſti⸗ 
fication in Gott® begründen! Die nicht wiffen, wie fie ihre 
Hand regen, wie ihr Geift auf den Körper wirkt, eben da er 





1) Disputationdgeift 2) er alle Jahrhunderte 

3) Gott eigentlich fei? wie .... ſei und geworden? 
4) hervorgebracht ? 5) durchbringendften 

6) meffen und was dem anbängt, ift 

7) die nicht 8) Zuftification Gottes 





— IE — 


wirft — wollten demonftriren, wie Gott auf die Welt, auf 
andre Geifter, Elemente, Körper wirle? — insania insaniarum! 
Für fih bemühen Sie fih bierinn um die befcheidenften, 
unverfänglidhften Ausbrüde, ſich zu erflären; fchweigen aber 
davon vor der Gemeine. 

Mit ihr reden und erklären Sie die Sprade der Bibel. 
Diefe fpricht zu Menſchen menſchlich; und ich weiß nit, ob von 76 
der Ewigkeit, der Unveränderlichkeit, der Allgegenwart, Allwiſſen⸗ 
heit, Heiligkeit, d. i. Unvergleichbarteit Gottes, erhabner, faßlicher 
und prägnanter geſprochen werben Tann, ala im 90. 102. 139. Pſalm, 
in fo ſchönen Stellen des Buchs Hiob, im Jeſaias? und überall 
in Mofe und den Propheten, wenn der Name und bie Natur 
Sehovahs erklärt wird. Im Johannes, wo Chriftus von Gokt, 
feinem Vater fo oft fpricht, thut ers immer auf die Tindlichfte, 
innigfte Weiſe. Diefe Stellen mit ihren edlen Begriffen der Jugend 
einzubrüden, ihr Gott überall in ber Natur und Schrift unver: 
gleihbar, groß und liebenswerth zu machen, von ihm. nie zu 
ſprechen, als mit Yaffung, Theilnehmung und Ehrfurdt — dies 
ift die ſchönſte Philoſophie des Chriftenthums über Gott, aus fet- 
nem und feines Sohnes Munde. Was Philoſophen mit großer 
Mühe dunkel und Halb erwiefen, bat Chriftus oft in Ein Wort 
der Liebe und kindlichen Einfalt gehüllet; und mande jener Wei- 
jen erwiefens aus und nah ihm — — 

3. Große Dorologien von Gott, langmweilige Erör— 
terungen einzelner und aller feiner Eigenſchaften liebe ich 
weder in Predigten, noch in Liedern? und Gebeten. Der 77 
Drient liebt fie, trägt fie aber auch wärmer vor; Geift und Sprache 
find in ihm einmal dazu gewöhnet. Bei uns werden fie meiftens 
erfrome Wortfhollen, kalte Abitractionen, wo Gott von mancher⸗ 
lei Seiten vifirt wird, oder gar Mönchslitaneien. Nun verbietet 
ja Chriftus alle Battologie, als ein Geſchwätz? der Heiden, 
und lehrt deßwegen fein kurzes: Unfer Vater im Himmel! 


1) Hiob, Jeſaias 2) noch Liedern 3) als Geſchwätz 


— 3217 — 


und wir Chriften follten dies vergefjen, und in Gefängen und Pre- 
digten, dort noch dazu mit oft fo langweiligen Melodien, bier mit 
noch langweiligern Perioden Stundenweiſe battologifiren mollen ? 
Je ärmer man an Wahrheiten ift, deſto mehr jucht man fich mit 
diefem Geſchwätz auszuhelfen: denn! mas wollten nun die Leute, 
die jo wenig Artikel der Religion haben, Stundenlang fingen oder 
reden, wenn fie nicht no ein prächtiges Nichts über Gott perio- 
bifiren, oder verfificiren könnten! Man follte fie zu den Mobebs 
der Parſen ſchicken, um ihre Jeſchts berzubeten, ober zu reimen. 

Immer ſpricht die Bibel von Gott als einem gegenwär- 
tigen, lebendigen, thätigen Wefen, lebendig in allen feinen 


78 Merken, thätig in jedem einzelnen Werk, ja im kleinſten Gefchäft ? 


unſers Lebens; dadurch wird fein Begriff andringend; dadurch 
wird die Lehre von ihm reizend ® und liebreich. Allerdings tft 
dies au der einzige Weg, uns Gottes gleihfam zu vergemwiflern, 
ihn felbft wahrzunehmen und ihn andern bemerkbar zu machen; 
kurz, es ift der Grund aller Religion auf Erven.* Den Unend- 
lichen auſſer der Welt begreife ich nicht, er reget mih auch nidt; 
denn er ift ferne von mir. Aber der Gott, der mich umgiebt, der 
mich durchſchauet, der mich ſchuf, der alles ſchuf, der mich erhält 
und führet, der ift mein Gott und Bater!d Mo Kraft in der 
Natur ift, iſt Er: wo Geift in der Natur ift, iſts Hauch und 
Kraft feines Geiftes: Er in Allen und es beſtehet alles in 
ihm. Wo fol ich Dich ſuchen, da du, Herr, nicht wäreft? wo 
könnt' ich Bingehen, da du mich nicht führteft? Das Gemebe 


1) Ehriften vergeffen dies und battologiren in Geſängen .... Stun- 
benweifel Der neue Deismus und die englifhe Prebigtmanier Hilft dieſem 
Geſchwätze von Gott ſehr auf: denn 

2) al8 gegenwärtig, lebendig, thätig, im feinen Werfen, wie 
in jedem einzelnen Wert, im jeglichen Gefchäft 

3) wird ibre Lehre reizend 

4) Weg Gott zu finden und ibn zu zeigen. („kurz — Erben.” fehlt.) 

5) Bater! die Seele meiner Seele, das Herz meine® Herzens, das 
Weſen meines, ja aller Weſen mit mir. 


— — — — — 


meiner Gedanken ift ein Stidwerf deiner Hand; die Pfade met- 
nes Lebens ein Labyrinth ! deiner Güte: die ganze Natur dein 
Werk, deine Wohnung,? dein Tempel — 


Sie iſt die Laute feiner Hand, 

die er zu unfrer Luft erfand, 

Er gab ihr Millionen Saiten, 

und jede klingt und jeder Klang 

tönt zum frohlodenden Geſang? 19 
der Lehre feiner Heimlichkeiten. 


Und diefe unermefine Welt, 

die fo viel Weſen in fich hält, 

ſeit jo viel taufend, taufend Jahren, * 
Und die unendliche Natur 

iſt gleichwohl Ein Gedanke nur, 

nur Einer von dem Unfichtbaren. 


ft Eine Sonne ſchon fo ſchön, 

bei der noch taufend andre ftehn, 

im Mittel andrer Millionen: 

wie prächtig muß die Majeftät, 

die diefe Feuerkugeln dreht, 

in einem — weldem? — Pallaſt wohnen! 


4. Der legte Gedanke führt mid auf Etwas, das ich oft, 
injonderheit bei Kindern bemerkt habe. Die über uns jo erhabnen, 
jo vielfaffenden Aftronomifhen Beweiſe von der Herrlid- 
feit Gottes in der endlojen Sternenfhöpfung find zu 
hoch, zu entfernt für fie: fie regten fie, wider meine Erwar⸗ 
tung, aud mit aller Faßlichkeit und Stärke vorgetragen, lange 80 
nicht fo ſehr, als die für uns überjehbaren, menſchlichen, und 





1) Luflgarten 2) Braut, 

3) gehört zum ewigen Geſang (Withof:) Hört zum Harmoni- 
fen Geſang 

4) fon feit fo vielen taufend Sahren, (ebenfo W.) 5) weit 





wenn ! ich fo jagen darf, Erdenbemweife. Beim gemeinen Mann 
habe ich ein Gleiches bemerkt und bei manden theils für wahr 
angenommenen, theild beinahe Thon gemachten? Entdedungen, ſchüt⸗ 
telt er den Kopf und denkt höchſtens: quae supra nos — — Alſo 
auch um deßwillen halte ich den Vortrag der Bibel, die vom Him- 
mel fo ganz im Bezirk unfrer Erde und von allem auf ihr völlig 
zo avdgwrcov fpricht, für den menſchlich-beſten? Vortrag. 
Suden Sie für fih alle die erhabnen Entzüdungen zu ſchmecken, 
bie in Kopernilus, Keplers, Galiläi, Newtons, Bradleis, 
Henſchels u. a. Entdedungen liegen, und die Hugens, Kant, 
Lambert, Schmid u.a.*) zum Theil mit edler Wärme vorge- 
tragen haben;* nur die Kanzel verfchonen Sie mit Aitronomifchen 
Predigten, und nehmen dafür den 8. 19. 104ten Pjalm, ja end- 
lich Gott felbft bei Hiob zum Muſter. Hier ift Erhabenheit für 
das Gefühl aller: bier erfcheint der Allumfafende im armen engen 
Gefichtsfreife unfrer Erde. Auch menn Sie alles, was Ray, 
81 Nieumentyt, Derham und andre von der Phyſikotheologie gejchrie- 
ben, fich eigen gemacht haben: fo gebrauchen? Sies auf der Kanzel 
nur fehr mäßig. Nicht alle Beweife diefer Theologien find gleich gut, 
ja da in allen biefen Thatfachen eigentlih nur Ein Beweis liegt: 
jo ward, da fi) die Bücher mehreten, das herrlichite Thema zuletzt ein ® 


9 Hugens Kosmotheorog: Kants allgemeine Naturgefchichte und 
Theorie des Himmels: Königsb. 1755. Lamberts Tosmologifche Briefe: 
Schmid von Weltlörpern u. f.! 


1) die zu überfehenden, menfchligen, wenn 

2) manden fo mwahrangenommenen, zum Theil fo wahrgemachten 

3) Himmel jo umkreiſet für unfre Erbe und von allem auf ihr fo 
ganz zer avsowrnrov fpridt, für den menſchlichſten, beften 

4) Bradleis u.a. .... Lambert, ber mittlere infonberbeit*) mit 
edler Wärme bargeftellt hat 5) AB: gebrauchten 

6) Leſen Sie auch, was Ray .... gefchrieben; doch auf der Kanzel 
brauchen Sied mäßig. Nicht .... gut, und zulest warb das berrlichfte 
Thema ein 





1) *) S. Kantd allgemeine Naturgefhichte u. Theorie des Himmels: Konigéeb. 1755. 
Lamberts boemologiſche Briefe u. f. 


— 330 — 


bloßer Gemeintitel zum Ausſchreiben andrer Werke. Bonnets 
Betrachtungen, Plüche! Schauplatz der Natur (zwei Werte 
von Einem Namen und von fehr verfchiedner? Ausführung !) 
find Ihnen ohne mich befannt. Reimarus Betrahtungen 
über die natürlihe Religion, über die Triebe der 
Thiere — Doch wie könnte ich ° Alles anführen in dieſem uner- 
mäßlicden Felde! Giebt Ihnen der gütige Himmel einft in einer 
Landwohnung Muße, Gejundheit * und Vermögen; jo jey dies 
Studium Gottes und der Natur ihre tägliche Freude, und je 
näher fie den alltäglichen Wohlthaten Gottes im erjten Artifel 
bleiben: deſto befier! Luther macht uns infonderheit auf Auge 
und Ohr, (alö auf die5 feiniten, ebelften Sinne, zwei Abgründe 
von Wundern!) auf Vernunft und eine Menge fo feiner, uner- 
forihlider Seelenfräfte, wie auch auf den ebeln Gliederbau 
unſers Leibes aufmerffam. Vom lesten bat don Galen in dieſer 
Abficht ein trefliches Buch gefchrieben, und Hallers Phyſiologie, 
injonderheit die Theile vom Herzen, von den‘ Sinnen und der 
Seele des Menſchen, nebft dem, was er von ber ganzen Lebens⸗ 
öfonomie eingeftreuet hat, find ein Ocean von Wiſſenſchaft und 
Känntniß. Süßmilchs Böttlihe Ordnung bietet Ihnen ein 
neues, dem Amt eines Geiftlichen ſehr nahegelegenes Feld? dar; und 
wenn ihr eine allgemeine phyfiihe Geographie des Menſchen— 
geihlehts unfrer Erde zugeführt würde, wäre e3 ein jchöner 
Kommentar über die Worte des Apoftels, Apoft. 17, 26. 27. Ich 
würde nicht fertig, wenn ih, Claſſen hindurch, Alles anführen 
wollte, was zur Känntniß Gottes in der Natur Vortrefliches 
geleiftet ift und gewiß noch geleiftet werden ® wird; überhäufen Sie 
ih aber auch in dieſem lockenden Felde nicht mit Arbeit. Vielen 
wird vor lauter Leſen das Auge blind; und mehr als Einem 
Naturforfcher fagte mans nah, er war ein Freigeiſt. Er über: 


1) Bonnets, Plüde 2) und verfchiebner 

3) Thiere, vortreflihe Abhandlungen in Buffons Naturgefchichte 
— und wie fan id 4) einft eine Landwohnung und Muße und Gefunbbeit 

5) Obr, (die 6) Herzen, den 7) bietet ein neues Selb 8) noch werben 





on 


— Bl — 


ſpannte fih mit Hypotheſen, und fehte zulekt ein Ding, mas er 
Natur, Nothwendigkeit, emge Ordnung nannte, auf den 
Thron der Gottheit. Inſonderheit in Frankreich ift diefer Natur - 
Atheismus, der fich oft mit großem Aberglauben und einer fehr 
intoleranten Schwärmerei paaren Tann, jest die anftedende Krank⸗ 

83 Bett.! — Ich bin von meinem Dogmatiſch-homiletiſchen Artikel fo 
weit weggekommen, daß ich fchwerlich wieder hineinfommen kann; 
alfo Diesmal gnug! Und bier ift zur? veichen Entſchädigung ein 
ungedrudter Hymnus: 


nu bu de) 
Gott! 


Du, der Du biſt! — Dies fühl’ ich; den weitern Gedanken nerfchlingt mir 
Deiner linendlichleit Meer! — Doc barf ichs wagen, von Dir, Du 
Einziger, etwas zu denken, al8 wie im Zxaume, fo fleigt bier 
Diefe Regung vom Staube zu Dir! — 

Du, der Du wareft! 
Eh die Orionen, der ſchimmernde Sand, vor dem Blid Dir 
Standen! der Dur fie weghauchſt wie Floden des Schnee® und ewig 
Seyn wirft — fage, wie nenn’ ih Di? wo find’ ich den Maasſtab 
Deiner Größe? Ich fieh und verſenke mich tief in bie Tiefe, 

3 Strebe mit Flügeln des Lichts empor an die Grenzen ber Welten — 
Aber ihr flammenden Welten, was ſeyd ihr? Vielleicht nur Atome, 
Die das heiſſere Blut des großen Weltthiers durchwallen, 

Das vielleicht auf weitern Gefilden mit Tauſenden feiner 
Gattung fcherzet? Bielleicht erfüllt in dem röthlichen Strome, 
Der aus meinen Adern dahinquillt, ein Heer von Welten 
Itzt fein letztes Schickſal! — Wo bin ih? Berlobren in Wundern — 
Unermäßlicleit um mich und Unermäßlichleit in mir. 
Du, dem bie Fülle der Welten nur Ein Gedanke, der Ausfluß 
Seines Schimmers iftl O lehre mich doch, wer knüpfte 
So der Weſen unendlichen Faden an einander? 
Sprich, wer pflanzte den ungeheuren Lebensbaum, deſſen 


1) Aberglauben und Schwärmerei paaret, jetzt die galante Paßion 
und Krankheit. 
2) hier zur 





— 352 — 


Wurzel tiefer dringt, als kein Gedanle der Engel, 

Hoch ſein Gipfel ſteigt, wo der Raum der Endlichleit aufhört! 

Schweig' und verſtumme, mein Geiſt, und Du,! mein Geſang ſchwebe 85 
nieber 

Und erwache mein Herz! Er fchuf auch dich in der Fülle 

Aller der wechfelnden Wunder! Du darfſt ihn verehrten, als Bater, 

Ihn verehrten als Vater, im Staube gebüdt, als fein Kind Ihn! 

Bift zugegen in feinem großen Haufe, wo Alles 

Alles gut ift — nicht möglich das Beſſere — nur ber befchräntte 

Dumpfe Will’ e8 verlangt — wo Alles, Alles bereit ift 

Zum unendlichen Segen, zur froben Glückſeligkeit, Alles! 


Bier venweil’ und rube dich aus und let’ dich im Schatten 
Seiner Büte, im Strale der allerwärmenben Sonne, 
Dis der Keim deines Glücks durch der Zeiten Jahrhunderte forttreibt, 
Und flet8 männlicher wächr zum immergrünenden Baume! 


Ein und dreiffigfter Brief. 56 


Ich weiß gewiß, daß Gott der Höchte Lebt, 
Dur den die Welt in weifer Ordnung fchwebt, 
Und ber auch mich fo kunftreich® bat gewebt 
In meiner Mutter: 
Dep freuet fi mein Herz und ſchenlt die Glieder, 
Die ihm ber Herr gefchenlt, bem Herren wieber 
Und finget ihm des Danles heil'ge Tieder® 
Bergnügt und ftill. 
Wie weil’, o Herr, war mit mir Dein Geleit* 
Bon Kindheit an, durch alle Lebenszeit! 5 
Zumeilen zwar vergaß ich es; doch Heut 
Schärf’ ich die Sinne 
Und ſeh, wie Hug des Herren Arm regieret, 
Und ſeh, wie gut er mich bisher geführet, 
So daß mein Fuß fein Unglüd je berübret 
Bis diefen Tag. 


1) Schweig' denn, und verfiumm’! — Und Du, 

3) (Def:) Fünfilic 3) A: (wie Deft:) ihm die allerfhönften Lieder 
4) Wie wunderbar hafl du mich, Herr, geleitt, (Deft:) mi doch geleit't 
5) (Deft:) durch bie vergangne Zeit 








87 


— 33 — 


Mit Wolluſt haſt du mir das Herz getränkt, 

Den Becher voll haſt du mir eingeſchenkt, 

So daß noch jetzt mein Geiſt, der deß gedenkt, 
Für Freude taumelt. 


Vergiß, Herr, mein fo! unbeſonnen Klagen, 

AS murrend Dich dein? Liebling durfte fragen: 

„Erſchufſt Du mid allein, um mich zu plagen?“ 
Bergiß es, Herr! 


Oft® fpridt der Menſch: „ich weiß, daß Gott mich haft! 
„Was drüdt mich fonft des Unglüds Zentner -Laf 9“ 
Das macht, weil er bed Herren Sinn nicht faßt; 
Sonft würd’ er ſchweigen. 
Ein Kind, zu Hein, der Mutter Sinn zu deuten, 
Und daß die Lieb’ es müß’ am Bande * Teiten, 
Damit fein zarter Buß nicht möge gleiten, 
Beweint den Zwang. 


Bei mir ift nun die Kindheit überhin. 
Ich ſeh die Hand, in deren Macht ich bin 
Und Gott ift num dem kluggewordnen Sinn 
Unendlich klüger; 
„Mein Bater! = - Könnteft du dein Kind 5 wohl baflen?“ 
Sollt' ih denn murrend deinen Arm verlaffen? 
Und kröch' ich gleich gebeugt hindurche die Gaflen, 
Gott Tiebt mich doc. 


So foll denn das mein Wunſch und Borfak feyn: 
Zu halten meine Hand vom Unredt rein,? 
Und meinen Gott zu lieben und zu fcheum 
Bergnügt im Stillen. 
Er böret ja des Wildes nächtlich Brüllen 
In den Eindden an, die fie verbilllen, 
Und öfnet feine Sand, um fie zu füllen 
Mit Lebensluft. 
Ich weiß gewiß, bag Bott ber Höchſte lebt u. f. — ® 








1) (Deſt:) Bergiß mein einft fo 2) A: (wie Deft:) Ws di fo gar bein 

3) (Deft:) So 4) X: (wie Deft:) in Bändern 5) (Deft:) den Sohn 

8) (Deft:) nun durch 7) U: (wie Deft:) von Allem rein 

8) (Def:) Mein Gott if der; ein Gott der herrſcht umb lebt, Durch den die Welt 
fo gut, fo weislich ſchwebt, Und ber u. |. w. 





— BA — 


Mit diefem und feinem künſtlichern Gejange, m. Fr., fange ich 
an von der Providenz zu reden. Der Berfaffer, ein fehr eigen- 
thümlicher Dichter ! merkt von ſich felbft an, daß in Stunden, ba 
er dergleichen Zuſprüche bes Herzens beſonders nöthig hatte, ihm 
das kindliche Davidifche Lied befjer gethan babe, als die erhabne 
Horaziih - Stoifhe Ode. Mich dünkt, es wird mehrern fo geben,? 
und gerade diefen Weg nimmt die Bibel. Ohne Providenz ift 
und die Lehre von Gott unnügß: der Gott der Epikurer, ber 
außerhalb der Welt wohne, ift? uns ein entbehrliches Weſen 
Sie zeigt aljo in lauter menſchlichen, auch in den unbeveutendften 
Geſchichten, daß Gott noch * jett, als Vater für Alles forge, daß 
dem, der auch das Kleinfte ſchuf, nichts zu Klein ſey. Dies zeigt 
fie in Lehren, Beifpielen, Gefängen und Liedern. Pic 
größefte Wahrheit, die den Sterblicden zu wiſſen nöthig ift, knüpft 
Chriftus an jedes Haar unſeres Haupts, an den Tall eines Sper- 
lings. Die erfreulichite Wahrheit, deren Ueberzeugung uns jo 89 
wohlthut, breitet er rings um uns aus, er zeigt fie uns in 5 jeder 
blühenden eldlilie, in jedem Gejange des Iuftigen, immerver- 
gnügten Vogels. Der Fall Ninive's und das Wellen * des Kür- 
bis ift im Blick Gottes verbunden ⸗⸗ unzählige Beiſpiele mehr. 
Machen Sie fih, m. Fr., in dieſer Hauptlehre fürs menschliche 
Geſchlecht dic Bibel, ihre Geſchichten, Pſalmen, auch mande 
ſehr rührende und kindliche Chriftliche Poefien und Lieder nicht 
nur befannt: fondern prägen fich diefelben in Herz und Seele — — 
Mein Rath zum Vortrage der Lehre wird infonderheit der 
Methode der Bibel folgen und Ihnen etwa die Punkte zeigen, bie 
ih infonderheit wirkſam und Troftreih fürs menſchliche Gemüth 
gefunden habe. Prüfen Sie fie nach Ihrem eignen Eindrud. 


1) ein eigenthiimlicher und zu ſehr vergeffener Dichter 

2) ergeben, 3) ©ott der Stoiter und Epiturer ift 

4) auch ben ...., baß Gott auch noch 

5) Wahrheit, die uns zu glauben fo wohlthut, verbreitet er rings 
um und, zeigt fie in 

6) der Tod 


— 385 — 


Zuerſt. Gott muß den Menſchen als gegenwärtig, als 
mitwirkend! in ihr Leben, auch in die kleinſten Umſtände 
defielben mit feinen Abjichten verflodten, dargeftellt wer- 
den; fonft bleiben die fchönften Lehren von Allgemein her, ent- 
fernt, tobt und öde. Wenn nidts in der Welt ohne Gedante 
und Abficht ift; follte e3 die Welt der Welt, das menjchliche Leben, 

90 und die Triebfeder aller Sichtbarkeit, der Gang des menschlichen 
Herzens, feyn können? feyn dörfen? Wenn ich feinem Kinde was 
völlig Abfichtlofes zutraue; ſollte ich von der ewigen Weisheit 
glauben, die fih ja im Bau des Schauplates fo Abfichtsvoll gezeigt 
bat? Und das Schaufpiel ſelbſt, wozu fie jenen aufführte, follte 
fih von ihr verlaffen, wie eine Pofje, durchs närrifche Ohngefähr 
fpielen und enden? — | 

Je mehr Sie aljo Dienfchen aufmerkfam machen können, dieje 
Abſichten Gottes bei den Verhängniſſen und Fleinften 
Umftänden ihres Lebens zu bemerken, zu erforſchen, zu 
befolgen, in allen Führungen, wie Agamemnon, da er vom 
Traum erwachte, die Stimme des alten Neftor8 der Welt, und 
was er uns jebt und feinem andern, jest und jonjt ninmer, 
durch Diefe und feine andre Schickung in der Welt jagen wollte, 
zu bören; je mehr Sie dies bei jih und andern bewirken, defto 
mehr haben Sie lebendigen Glauben an Gottes Vorſehung 
gepflanzt. Siehe, wie die Augen der Knechte auf die 
Hände ihrer Herren fehen und die Augen der Magd auf 
die Winfe ihrer Frauen; aljo jehen unjre Augen auf 
den Herrn unjern Gott. Gleichwie du nicht weiſſeſt den 

91 Weg des Windes und wie die Gebeine in Mutterleibe 
bereitet werden: fo fannft du Gottes Werk nicht mwilfen, 
das er thut überall; aber an dir und gegen dich felbit jollt 
du's erfahren und bemerken. 

Wir haben einen Freund in uns, der und auf dieſe Fuß⸗ 
ftapfen der um und mit uns mandelnden Liebe immer aufmerkſam 





1) gegenwärtig, mitwirlend 


— 336 — 


madt; ed ift das zarte! Heillgthum in unfrer Seele, wo die 
Stimme und Abſicht Gottes lange Zeit fehr hell und Har wieber- 
tönet. Die Alten nannten fie den Dämon, den guten Genius 
des Menfchen, dem fie mit fo vieler Jugendliebe huldigten, mit 
fo vieler Ehrfurdt folgten. Chriftus begreifts unter dem klaren 
Auge, das des Lebens Licht ift und den ganzen Leib licht macht. 
David bittet darum, als um den guten, freudigen Lebensgeiſt, 
der ihn auf rechter, ebner Bahn führe u. fe Mögen wird nun 
Gewiſſen, innen Sinn, Vernunft, den Aoyov in uns nen- 
nen, oder wie wir wollen; gnug, es ſpricht laut und deutlich, 
zumal in der Jugend, ebe es durch wilde Stimmen von außen 
und innen, durch das Gebraufe der Leidenſchaft und das Geſchwätz 
einer Tlügelnden Unvernunft allmählig zum Schmeigen gebracht ? 
oder irre gemacht wird. Wehe dem, bei dem es fo ftumm und 
irre gemacht ward; injonderheit dem Sünglinge und Rinde! Es 
wird allmählig ohne Gott in der Welt, geht wie ein irres 
Schaaf umher, ohne gejunden, moraliiden Stun, ohne das Gött- 
liche! in einer Sache des Lebens an fih und andern zu fühlen. 
Nur fo viel haben wir von Gott und feiner Vorfehung, ala wir 
beide lebendig erfennen, im Einzelnen und Allgemeinen. Jemehr 
wir e8 (ohne Schmwärmerei und Geelentälte) thätig erjehen, wie 
und mozu er mit uns handle? defto mehr ift er Unſer, unfer 
allein. Laß nun einen Schwäter und Zweifler dagegen fagen, 
was er will: Erfahrung geht über Geſchwätz und Zweifel. 

Sie fehen, lieber Jüngling, daB Sie fih kaum nützlicher 
ums menſchliche Gejchleht machen können, als wenn Sie auf dieſe 
Weile ein Engel der Vorſehung werden, Erwachſne und Kin— 
der auf die Stimme der fie leitenden, und erziehenden Liebe auf- 
merkſam zu maden, aufmerkſam zu erhalten, und injonberheit bei 
Kindern die Unfhuld des innern Sinnes, wie eine * zarte Früh—⸗ 
Iingsfnofpe, die im rauhen Clima diefer Erde fobald verlohren 


1) immerdar aufmerffam macht, ein zartes 
2) allmälich geſchweigt 3) Gο 4) Sinnes, eine 


2 





— 37 — 


geht, mit göttlicher, mütterlicher Treue zu bewahren. In dieſer 
93 und jener Welt werden Ihnen Liebesthränen der erhaltenen, geret- 
teten, bemwahrten, zurüdgerufenen intern Glüdfeligfeit und Her- 
zens⸗ Unfhuld danten — — Ich komme zum zweiten Punkt, der, 
bei der Lehre von der Vorjehung infonderheit Aufmerkſamkeit ver- 
dienet: er betrift nemlich die [onderbare geheime Wiederver- 
geltung, die ih in Gutem und Böfen, für den knechtlichen 
und Findliden Sinn, fo allgemein und bei mandem einzel- 
nen Menſchen jehr auszeichnend bemerkt babe: wenigſtens habe 
ih fie an mir bemerkt und an allen denen, die ich näher kannte. 
Mid wundert, daß diefe Lehre von Shriften jo wenig getrieben 
wird, da fie doch auch ſchon Heiden fo bündig eingefehen, und 
Chriftus fie als das herrſchende Geſetz Gottes in diefer 
und jener Welt wiederholt einſchärfet. In Orient gilt fie in 
den meiften Religionen nod davor; unjre Väter haben auch auf 
fie ein jchärferes Auge gehabt, als wir, denen ber Geift eigner 
Klugheit und Wirkfamkeit in Dingen des allgemeinen Welt - und 
Lebenslauf die Augen nur zu oft verblendet. 
Chriſtus entdedt uns nehmlich die moralifche Regierung Got- 
te8 in der Melt ala eine große, unfichtbare Wange der That 
94 und der Folgen: Du kannſt nichts, weder Gutes noch Böſes in 
die Eine Schaale legen, ohne daß ſich die andre, mit gleichem, aber 
progrekivem Maas der Schwere in guten und böjen Folgen rege. 
Fremde empfinden das nit; aber du empfindefts. Vielleicht 
empfindeft du's jego nicht, weil du dein Gefühl abgeftumpft haft; 
aber fahre fort, du wirfts und vielleicht dann empfinden, wenn 
du von dem Arm der vergeltenden Wange erdrüdt wirft. Die 
Alten haben gejagt: nichts räche ſich fo ſcharf, als die 
Natur; und was und wo iſt nit Natur Gottes? Sie haben 
gejagt, daß je langfamer die Rache fomme, deſto ſchwerer 


1) verbienet, nebmlih, ber fonderbaren geheimen Wieder- 
vergeltung in biefer Welt, die ih .... bei jedem einzelnen 
Menſchen fo auszeichnend bemerfe; 

Herders fänmtl, Werte. X. 22 


— 38 — 


fie ftrafe, und fo diefe, wie hundert andre feine Bemerkungen 
über das Göttliche in menſchlichen Dingen durd die treffend- 
ften Bilder, Sprüdmörter, "Symbole, Fabeln dargeftelt. Die 
Schriften des A. und N. T. reden von dieſem Alles durchſchauen⸗ 
den Auge, das wie ein zweiichneidiges Schwert blidt, und das 
Innerſte unfer8 Herzens theilet. Sie reden von jenem Bud Got- 
tes, wo Alles angefchrieben wird und in der Folge gewiß zum 
Vorſchein fommt, von einer aud in dieſem Leben fortgchenden 
Saat und Ernte — Ya, wen! ſpricht nit, mehr als alles, 
hierüber fein Gewiſſen, das fortgehende Bewußtſein feines ? 
Lebens, das doch eigentlih allein unfer Ich, unſre moraliſche 95 
Identität ausmacht? Grazien und Furien ftehn bei jeder Hand— 
lung bereit, und zu umfangen und ? fortzubegleiten. ‘Sie beglei- 
ten uns auch wirflih und laſſen ſich nicht abtreiben, eine Zeitlang 
verſcheucht, kommen fie gerade in der Enge des Lebens am furdt: 
barften Ort wieder, uns durch die natürliden Folgen unſrer 
Handlung mit Geilfeln oder Roſenkränzen zu lohnen. Alte 
Gefhmwüre drehen auf, wenn mans am wenigſten glaubet, und 
unjer Herz ahndets, melde noch aufbrechen müfjen und werben. 
So binden fih Zeit- und Lebensalter: jo binden ſich Stände 
und Menſchen. ever Mangel Iohnt mit Mangel, Lafter mit 
Strafen, Verfüumniß mit Bedürfniß: Der Frühling beſtimmt den 
Herbit, der Sommer den Winter, die obern die untern, die untern 
die obern Stände der menſchlichen Geſellſchaft.“ Gerechter Richter, 
wie ſuchſt du Heim! und ifts nicht unfre Blindheit allein, wenn 
wir in moraliſchen Dingen nicht eben die Geſetze der Bewe— 
gung, des Druds, des Falles, als in der ganzen Phyfifchen 
Schöpfung wahrnehmen? Hier haben Sie mwahrlid ein novum 


1) dargeftellt; (die Cie auch gefammlet an fo manden Orten, dem 
Stobaeo, Pieinelli, Neander, Strucdhytmeier, Huet, Pfanner, Erafmus u. a. 
finden können:) die Schriften des A. und N. T. reden von dieſem zwei— 
ſchneidigen Schwert, von biefem Buche Gottes; wo .... fommt, von 
diefer fortgehenden Saat und Ernte — und dent, wen 

2) unſers 3) umfangen, uns 4) Stände des Lebens. 


— 89 — 


organum theologiſcher Wiſſenſchaft und Uebung, wenn fie das Herz 

haben, darauf Ihr Auge zu richten.! 
96 Inſonderheit, m. Fr., ſchärfen Ste jedermann ein, daß er 
die Macht in feiner Hand babe, die Vorfehung zu zwingen, wie 
fie mit ihm umgeben fol, ob mit einem Knecht oder Rinde? Hart 
oder Linde? nachdem Er ſich nehmlich gegen fie jelbft bezeiget. 
Nah Chrifti Lehre weiß er den? Weg, mit einem Becher Talten 
Waſſers den Lohn eines Propheten zu erlangen; aber auch den 
Weg, mit den lauteften, jchreiendften Berdienften feinen Lohn 
dahin zu haben. Gott ift ung, wie wir wollen, daß er uns ſey; 
Richter oder Vater, Tyrann oder Freund und Bruder. 

D wer bier das Buch der Menfchenalter und Menfchenjeelen 
recht aufzufchlagen, es jedem aufs anfchauendfte zu maden ? wüßte, 
wie es einit das Aufwachen in jene Welt auf einmal und ewig 
eröfnen wird! Jeder Menih trägt Funken, brennende Funken 
diefes Bewußtſeyns in fi; aber ſie glimmen unter der Aſche und 
bei vielen werden fie, jo unlöſchbarer Natur fie find,* täglich mit 
Waſſer gefühle. Kein rebliher Menſch kann fein Leben überden⸗ 
denken, geſchweige jchreiben und es den Seinen mit Wahrheit nad- 
laſſen wollen, wo ihm diefe Funken Gottes nicht gleichſam zur 
Flamme würden; vielleicht oft fo zur Ylamme würden, daß er die 
Feder Hinwürfe und fich felbft nicht zu ertragen vermöchte: ° daher 
wir aud fo wenig moralijch-treu und göttlich-wahr beſchrie— 
bene eigene Lebensbeſchreibungen und Tageregiiter haben. 
Die Alten übertrafen uns auch bier vielleicht an Strenge und reb- 
licher Wahrheit, wie theil® die Lehren und Uebungen der Pytha⸗ 
goräer, theils ihre Lebensbeſchreibungen und Aeußerungen von fid 

1) Uebung. („wenn — richten” fehlt.) 

2) ob knechtlich oder kindlich? Hart oder Linde? nachdem Er 
ſich nehmlich ihr bezeiget. Er weiß den 

3) eröfnen 4) unerlöfhbarer Natur fie als Gottes Funken find, 

5) Kein Menfh kann .... wollen, wo fie ihm nicht zur Flamme 
werben, oft fo zur Flamme werben, baß er bie Feder binmwirft und fi 
felbft nicht zu ertragen vermag: 


9 


— 


2.92% 


— 40 0 — 


nah dem Maafie ihres moralifchen Urtheils beweilen. Ein Pre⸗ 
diger hat nicht blos Gelegenheit, fondern es tft auch feine Pflicht, 
mehr als andre von diefem innern Tugebud Gottes in menjd- 
lichen Seelen zu leſen und zu erfahren. Auf dem Kranfen- und 
Sterbebette wird vieles, mas fonft verjchwiegen war, offenbar; 
was fonft gedämpft und unterbrüdt ward, wird laut und revend. 
Glücklich, wenn Gott ihm einen Sinn gab, in diefe Schaglammer 
göttlihder Gedanken, Abjichten, Zmede und Triebe in Lei— 
tung einzelner Menſchen Hineinzufhauen und fie zum Beften 
andrer zu gebrauden. Glücklich, wenn er fie dem Menſchen jelbft 
zu eröfnen und lebendig zu machen weiß; — ein andrer jollte 
auch nicht Prediger werden wollen. 

Endlich, m. Fr., kommt Alles, wie Sie jehen, darauf an: 
wie fern ein Menjch hienieden im Einzelnen ſowohl ala im Allge- 98 
meinen ! moraliihe Regierung Gottes erfennen, anneh- 
men, und anwenden wolle; ohne diefen Sinn und Willen und 
Glauben find alle Worte von der Vorjehung ſchöne, aber Nutz⸗ 
Iofe? Mähren. In unferm Zeitalter ftürmt Alles darauf, uns 
dDiefe Weberzeugung zu rauben, und wir müflen uns ſchämen, ftatt 
in fo viel Jahrhunderten weiter, vielmehr in unfrer Weisheit und 
Weltbetrahtung gegen Griechen und Römer hierinn merklich zurüd- 
gekommen zu feyn, wie fo viel neuere philofophifhe Geſchich— 
ten der Welt bemweilen. Jene fahen und hatten doch noch bei 
dem, was fte thaten und fchrieben, einen unmandelbaren, gewiſſen, 
feiten Zweck: da8 allgemeine Gute, auf welches die Götter ſchau⸗ 
ten, und für das aud fie bandelten, lebten und ftarben, war 
ihnen doch wenigſtens, wenn auch mit vielen falihen Begriffen 
des Ruhms, der Vaterlandsliebe u. f. durchflochten, Zar vor 
Augen; ? was aber haben wir? Im unfrer Gedichte und Men- 
fchenverwaltung werden Phyſiſche Zwecke geſucht; die Moralifchen 
dagegen vergefien oder lächerlich gemadt. „Mit Phyſiſchen Kräften, 


1) Einzelnen und Allgemeinen 2) ſchöne, Nutzloſe 
3) „mar — Augen;” fehlt. 








„nicht mit Moraliihen, beißt es, muß man fein Glüd bauen; ber 
„Rare, der ed mit diefen ſucht, gebt, wie das Meer der Welt- 
99 „geichichte zeigt, gewiß unter. Je mehr zum Gebraud und zur 
„Regierung der Menſchen fich die legten, die Phyfiſchen Hülfsmit- 
„tel, in Erfindungen und Werkzeugen vermehrt! Baben; deſto 
„mehr kann man der unzuverläßigen, ſchweren Moraliihen Kräfte 
„entbehren.” Alſo Iebe wohl Borfehung! Die ganze Gefchichte 
ift deine Grabftäte. Siehe gutherziger Wandrer, wie e8 alle den 
Schädeln ging, die je auf dem Felde der Menſchheit moralische 
Zwecke ſuchten: als Thoren Tiegen fie da und werben von Thoren 
beweinet; aber die Nephilim, die berühmten, großberzigen Tyran- 
nen, die Unterbrüder und Betrüger ihres Brudergeſchlechts leben! — ? 
Doch, dünkt' mich, nicht fo ganz und gar; oder fie leben 
vieleicht fi zur Schande, und der moraliſche Tobtenfchäbel, ber 
bier wenigftens in ſich Troft und Leben genoß, fand gewiß auch 
bie und da die Zuftimmung andrer Menſchenherzen, und gejeßt, 
daß er feinen Zweck bier nicht völlig erreichte, jelbft für dieſen 
verfehlten Zweck in? einer andern Welt Belohnung. Freilich, 
m. Fr., iſt unfre Erde weder das Land des Lohne, noch das 
Baterland wahrer, ewiger Tugend: fie felbft und ihr Schichſal ift 
bier nur Stüdwerf, A. B. C. oder höchſtens Buchftabenfehung, 
100 ein unvolllommner, unvollendeter Anfang. Unfre Erde dreht fi 
und wir drehen uns mit ihr: fie ſchwankt mit den Jahrszeiten; 
und auf ihr ift nichts ewig. Weder Leimhütten, noch Pyramiden: 
weder Schand- noch Chrenfäulen. Wer fich hienieden üchter, 
ewiger Tugend rühmt und für fie einen irrdifch-ewigen Lohn, * 
wenn auch nur im Nahruhm der Menſchen, in der Unfterblichkeit, 
erwartet; der zeigt, daß er von ächter Tugend und ihrem Lohne 


1) Hilfsmittel vermehrt 

2) den moralifhen Schädeln ging; aber die Nephilim,..... 
Tyrannen leben! — 

3) leben fih zur Schande, und ber moralifche Todtenſchädel, ber 
bier in ſich Leben genoß, fuchte und fand gewiß in 

4) für fie ewigen, irrdiſchen Lohn, 


u MB 


— 2 — 


feinen Begriff habe.“ Weber jene, noch dieſer kann irrdiſch 
ſeyn. Unſer moraliſches Dafeyn ift bier gewiß nur auf ber 
erften Stufe, in der erften Knoſpe. Hiernah hat die Vor⸗ 
fehung das Clima und den Boden ded Gartens eingerichtet: 
die Blume oder die Frucht fol bier nicht reif werben. Deßwegen 
macht die Bibel nicht Tugend und ſelbſtgemeinte Vollkommenheit, 
fondern Glauben, Liebe, Hoffnung, die Kindertugenden, zu 
Führerinnen unfres Lebens. Nicht Pyramiden de Ruhms, noch 
Schlöffer der Wolluft; ein Kreuz ift aufgerichtet über alle Natio- 
nen, dadurch wir näher zu Gott kommen follen und der Weg 
über und an demfelben beißt Geduld, moralifde Erziehung, 
Prüfung. Damah muß auch die allgemeine Geſchichte 
betrachtet, gelefen, angewandt werden; fie iſt uns menigftend das 
große Lehrbuch der Nichtigkeit aller menſchlichen Dinge 101 
und zeigt ung damit jehr augenjcdeinlih, was nicht der rechte 
Meg und Zweck des Menſchengeſchlechts hienieden? fey, wenn fie 
und auch nicht mehr zeigte. Nützlich und ſchön find alle Bei- 
träge, die fie alfo darftellen und erklären, fie mögen Gejchichte 
oder Vhilofophie, Gedicht oder Predigt beiffen.? Schriften der 
Art Halte ih für die würdigfte Beichäftigung des leſenden oder 
ſchreibenden menjchlihen Geiftes; Schade aber, daß ihrer nicht fo 
gar viel find, wenigſtens daß ich foldher nicht jo gar viel Tenne. 
Was kann der menfhliche Geiſt Erhabeners feyn, als ein Zu- 
Thauer und Ausleger der Vorfehung ewiger Weisheit und 
Menihenliebel — Leben Ste wohl. 


——— 





Zwey und breiffigiter “Brief. 102 


Sie fragen mid nad Schriften, die von fo befondern Zügen 
und? Merkmalen der Borjehung handeln, als von welden 


1) ädhter, ewiger Tugend ... keinen Begriff hat. 
2) Dinge: fie zeigt und wenigftend, was nicht ber rechte Weg und 
Zweck binieben 3) fie feyn Gefchichte ... . . Prebigt. 


— 343 — 


neulich die Rede war;“ ich verweiſe Sie darauf, worauf ih Sie 
. fon verwies, auf fih und auf die lebendige Erfahrung in 
ihrem Kreiſe. In Bücher kommt davon menig: in Perfonalien, 
Rob -» und Leichenpredigten nichts. Einzelne Geſchichten und Tage- 
bücher, die Menſchen von fich ſelbſt jchrieben, wären dazu bie 
beiten Beläge; allein ihrer find nicht viel in diefer Abficht ver- 
fafjet: obwohl demohngeachtet ich Feine einzelne, eigengejchriebene 
Geſchichte eines noch jo wenig merkwürdigen Menfchen gelefen habe,? 
darinn nicht die Züge dieſes Gemäldes vorkämen. Seyn Sie alfo 
auf diefe aufmerffam, nachdem fie Ihnen zu Händen kommen, und 
halten fi außerdem an gute PBarticular-Gefhihten. Im 
Bejondern und Einzelnen, m. Fr., ift überall die befte, nahr- 
baftefte und bejtimmteite Belehrung. Im Allgemeinen ſowohl der 
Philoſophie, als Gejchichte fliegen nur die Himmelsvögel; auf ber 
103 Erde wächſt Heil: aus dem Staube quillt Leben. — Verachten 
Site indefien auch die allgemeinen bündigen Beweife und Betrad)- 
tungen nicht, die Sie bei Jeruſalem, Reimarus, Spalding, 
Fofter, Clarke und font häufig auch über bie Vorfehung finden, 
auh Jacobi Betradhtungen über die Abfihten Gottes, die 
angenehme Schrift eines jehr popularen Theologen, haben Biezu 
viel Guted. Dom Geſetz der Wiebervergeltung hat Hale ein Bud 
gejchrieben, das von Geßner fehr gelobt wird; ich habe es aber 
nicht gelefen. Im Deutſchen giebts ein jehr? dickes Bud, fatum 
theologico -historicum, ober Brunner vom göttlihen Geſchick; Die 
Beifpiele find gut und übel, gar nicht gewählt und das Bud in 
einem feinen Geiſt gefchrieben.* Die vielen Schriften über uner- 
fannte Sünden, Wohlthaten, Gerichte, Strafen von Ger: 
ber, Balm, Hellmund u.a. follten bieher gehören; ich Tenne 
fie aber zu wenig. In den Schriften und Predigten unfrer alten 
Theologen, 3. E. Luthers, Matthejius, Herbergers, Scri- 
ver3 u.a. findet man mehr dergleichen Einzelnes ala in neuern; 


1) welchen wir neulich geredet; 2) gelejen, 
3) fchredlich 4) B: „Im Deutichen — gefchrieben.” fehlt. 


indefien auch in Einigen von ihnen find mit unter Mährchen. 
Moraliſche Gedichte über Vorſehung und ihre Scenen im menfd- . 
lichen Leben darf ich Ihnen nicht lange erft nennen: in Uz, Witt- 
hof, Kleift, Gleims Halladat, u. a. kennet fie jeder. Bei ben 104 
älteften Griechen! in Homer, den Tragikern, Pindar, wiſſen 
Sie, ift alles Heilig: Alles ift in ben Händen der Götter und 
im Knoten des unüberwindliden Schickſals. Dies trägt mit dazu 
bei, jenen alten Thaten und Gedichten eine Art von Erhaben- 
beit, Würde, und Einfalt zu geben, die uns fremb ift: denn 
bei und wird alles dieſes ohne? Götter, gemein und alltäglid 
behandelt. Auh in ihre profaiihe Schriften geht dies über: 
Sofrates bei Plato, Marl-Antonin, Epiktet, felbft der 
wisige Plutarch,“ die Pythagoräer find andächtiger, oder wenn 
wir wollen, abergläubijcher gegen die Vorjehung, als viele unfrer 
Chriften. Plutarch bringt diefen Zug jelbft in alle feine Hel⸗ 
den; und mie gläubig die alten Römer an Vorſehung waren, ift 
aus Livius, Gicero u. a. befannt gnug! Vieles davon mar 
allerdings Aberglaube, vieles Staatslift ober everbte Gewohnheit: 
man muß aljo auch bier mit prüfendem Auge lefen; doc wo 
müßte man biefes nicht? 

Am meiften Balten Sie ſich, m. Fr., an? das eigentliche 
Arhiv von Urkunden der Vorſehung, die Bibel. Hiob und 
der Prediger, auch manche Propheten und Pfalmen knüpfen Zweifel 105 
gegen die Vorfehung; andre Propheten, andre Pfalmen, vor allen 
aber Chriftus löſen fie auf;® und vielleicht ift feine Scene der 
Vorſehung, Feine Sünde, Strafe, Wohlthat und Art? der 
Belohnung, die nicht in dieſem einfältigen und dod fo vielfachen 
Buch ihre Lehre und Beifpiel fände. Auch einige Apokryphen, 
3. E. Weisheit, Sirach u. f. find dazu nützlich. 


1) ven Griechen, 2) wird ja alles ohne 

3) Plato, Plutarch, 4) , Vieles — nicht?” fehlt. 5) ſich an 

6) Propheten knüpfen Zweifel; andre Propheten, das Buch der Pfal- 
men, Ehriftus vor allen, löfen auf; 

7) Wohlthat, Art 





— Yu — 


Ueber die Engel, als Diener der Vorſehung haben Sie, wie 
mich dünkt, genau den Geſichtspunkt, den die Schrift angiebt. 
In der Sprache der Ebräer iſt die ganze Natur Engel Jehovahs: 
alle kleine Umſtände ſind ſeine Diener, alle Zufälligkeiten ſeine 
Boten. Er wirkt in jeder kleinſten Handlung fo ganz und unmit- 
telbar, ala ob diefe Handlung in Ewigkeit fein Hauptgejchäft wäre. 
Ketten Sie aljo, fo viel Sie können, dieſe edeln Werkzeuge der 
Vorſehung von der Kleinlichkeit, in melde! fie Mönchsbegriffe, 
ſchlechte Gemälde und ärmliche Gedichte verengt haben. Im U. T. 
find Engel die Fürften des Himmels, die Regenten der Natur, 
Machthaber der Elemente, ganzer Königreihe und Länder; und 
doc lagert fih um Einen Gerechten wiederum ein Heer, die ganze 

106 Natur mit Flammen und Winden wird Iebendig und fchlägt ein 
Lager auf, wenn Gott winft. Oder fie erzeigen ſich im neuen 
Bunde den Menfchen jo vertraut, daß, da Chriſtus Himmel und 
Erde verföhnt und Alles zu Einem gemacht hat, fie, Die Das Ange: 
fiht Gottes Schauen, zugleich der zarten ? Unſchuld der Kinder bie- 
nen; — mie entfernt find fie in diefem allen von unjern gewöhn- 
lichen Begriffen und poetischen Maſchienen! Kurz, lehren Sie, m 
Fr., die Menjchen inſonderheit, daß die ihnen nächſten und ange- 
meſſenſten Werkzeuge der Vorſehung fie felbit, dag Menſchen 
gegen einander Engel feyn fünnen und feyn müffen,? bier in Liche, 
Gefälligkeit und Reinheit; damit fies dort an Erkenntniß, Macht 
und GSeligleit werden! — — 

Der Urfprung des Uebels endlich ift wohl die ſchwerſte 
Frage, die e8 in der Welt giebt; der Baum ber Erfenntniß des 
Guten und Böfen war bie ältefte Prüfung des Menfchen und wird 
ohne Zweifel auch die letzte bleiben. Was die Vernunft hierüber 
an Zweifeln jagen kann, bat Baile; mas fie an Auflöfung ver- 


1) die 2) zarteften 

3) angemeßenften Engel als Werkzeuge ber Borfehung fie ſelbſt, 
Menſchen, einer dem andern feyn müßen, 

4) feyn mögen 


— 346 — 


ſuchen mag, Leibnitz geſagt; machen Sie ſich dieſe Raiſonnements 
wohl bekannt; hüten ſich aber, daß Sie Ihre Heerde in keine 
metaphyſiſche! Dornhecken führen. Offenbar find wir bier auf der 107 
erften Stufe von Moralität und Einfiht, und nur in der Hof- 
nung, daß wir nah unfern Anlagen gewiß weiter hinauf- 
rüden werden, liegt mahrer Erſatz gegen unſre Mängel und 
wirkliche Unvollflommenheiten: da8 übrige ift nur Troft armer hülf- 
Iofer Aerzte. Mer ung einreden will, daß hier Fein Uebel, Feine 
Unvollfommenheit jey, lügt; und wer uns damit tröften will, daß 
doch das kleinſte Etwas befler als Nichts jey, hat auch nicht viel 
gefaget. Gnug, fo viel fehen wir: bei allem Wechfel der Geftal- 
ten, bei allem Tode voll Aufopferung und Zerftörung, der in der 
phyſiſchen Schöpfung herriht, find die Geſetze diefer Abmeds- 
lung, fo weit wir fie überjehen fünnen, gut und Gottes würdig. 
Tag und Naht, Zonen und Jahreszeiten, Lebensalter und gegen⸗ 
feitige Aufreibung der Geſchöpfe: alles dienet Einem großen und 
guten Gele. Tod bringt Leben; einzelner Untergang 
beförbert eine höhere Ordnung; und nichts gebt eigentlich 
in der phyfifhen Natur unter. Sollte es in der moralifchen, 
der wahren Natur, dem Vorrathshauſe aller Triebfebern, und 
Kräfte anders ſeyn ? ſollte es bier nicht im eigentlichſten Verſtande 
ſo ſeyn müſſen? Wenn kein ſichtbares Staubkorn verlohren 
gehen kann; wird eine unſichtbare Gewalt untergehen oder nicht 108 
nach beftimmten Geſetzen in ihrer Natur fortgehn und wachſen? 
Aber freilich, diefe Geſetze find feiner und von verflochtnerer Art 
ala die bei der Körpermelt: unfre Vernunft fieht bei ihnen nicht 
weit, weil fie zu wenig vor fih Bat, nur Ein Glied des Ver- 
hältniſſes nämlich, nicht eine Reihe von Gliedern vor- und rüd- 
wärts.? Wir wiſſen nicht, was wir geweſen find; wir haben feine 
phyfiichen Data vor ung, was wir ſeyn werden? die Analogie 
verläßt uns auf beiden Seiten. Es muß alſo wirklich Geſchichte 


— — 





1) Heerde nicht in metaphyſiſche 
2) nehmlich, ohne die Kette vor- und rückwärts. 





an die Stelle des Raifonnements treten und dieſe Geſchichte beur- 
fundet und commentirt die Offenbarung. Sie zeigt nicht nur, 
daß der Menſch noch nicht im Seyn, fondern erft im Werben fey; fons 
dern fie zeigt auch, was er werben folle und durch welche Uebergänge 
ers werden werde? | Was alle Völker dumpf gefühlt und einige 
zum Theil in jo liebliche Fabeln eingelleivet haben: das beur- 
fundet ung die Schrift Hiftorifh. Sie begnügt fih nicht mit 
lieblihen Yabeln und einem Nebel der Morgenröthe,; ſondern giebt 
Unterricht, Lehre, Beiſpiele, Thatſachen ver Geſchichte. 
Der ganze Entwurf der Offenbarung nämlid, (wenn man 
der großen Regierung Gottes durch alle Zeiten einen menjchlichen 
109 Begriff fubftituiren darf,) jcheint an die ee vom Bilde Gottes 
d. ti. vom Menſchen als feinem Sohn, feinem Stellvertreter und 
Kinde, feinem moraliihen Abdruck und Nachahmer gelnüpft zu 
ſeyn; welches auch die Einzige und höchſte Idee ift, durch melde 
fih der Menſch an die Gottheit fchließen Tann. Zum Bilde diefer 
Gottähnlichfeit war er erfchaffen; niemand anders als der Sohn 
Gottes im reinften, höchſten Verſtande des Worts konnte in 
unjrer Natur uns dazu Lehrer, Mittler, Vorbild werben, fo 
daß wir nad immer mehrerer Gottähnlichkeit ftreben und zu ihr 


— —— 





1) Sie zeigt nicht nur, daß der Menſch noch nicht im Seyn, fonbern 
im Werden fey; fie zeigt auch, was er werben folle und burdh welche Ueber⸗ 
gänge er daB, maß er ift, geworden? Was alle Bölter dumpf gefühlt und 
zum Theil in fo lieblihe Fabeln von der Pſyche, die ihren Amor beleuch- 
tete und verlor, ihn jetzt fucht und harte Prüfungen ausftehn muß, bis ihr 
endlich in der Testen und ſchwerſten, Amor ſelbſt wieder erfcheinet und 
fie zu feiner ewigen Braut madt, von den Gefahren Herkules und fei= 
ner unfterblihen Hebe, fo vielen andern mehr — was fie, wie iu ber 
Morgenröthe, im Nebel fo Yiebliher Fabeln, Allegorien, Bilder geahndet 
und von Ferne gefehn baben: das beurkundet uns die Schrift hiſto— 
riſch, mit der erhebendften Lehre, mit der umfaßendſten Einfalt. 

Der ganze Entwurf der Offenbarung ift nehmlich an bie Idee vom 
Bilde, vom Sohn, vom Kinde Gotte8 genüpft: zu bem ber Menfch 
erichaffen mar, zu dem niemanb anders al8 der Sohn Gottes in 
unfrer Natur uns führen konnte, zu dem wir einft in höherm Glanz 





— 538 — 


zu gelangen, für dieſes und jenes Leben eine aufmunternde unfterb- 
liche Hofnung haben. Hierauf beruhen die jogenannten vier Stände 
oder Zuftände des Menſchen; fie find gleichſam der Knote jei- 
ner Ver⸗ und Entwidelung Hierauf beruht das Syftem 
unſrer fogenannten Heilsordnung, die drei Artifel unfres Belännt- 
nifjes u. f£_ Bei diefem Glauben des Chriftenthbums bleiben Sie, 
m. Fr., denn rechtverftanden ift er eine fehr einfache, Herz» erhe⸗ 
bende, reine Philoſophie über das menſchliche Leben, an Thatjachen 
gefnüpft, und laſſen fih von der ſchönen Hofnung, die er uns 
giebt, durch feine Klügelei weglocken. Selbſt die Lehre der Drei- 
einigfeit, auf die wir getauft find, ift in feine Defonomie ver: 
webet; und ich kenne überhaupt feine Aenverungen, die, fobald 110 
fie das Wefentlihe des Chriftenthbums betreffen, es wirklich befier 
machten oder ihm nur nod feine zufammenhangende Geftalt ließen. 
Nehmt diefen Pfeiler, nehmt diefen Balfen aus dem Gebäude; es 
ftürzt. Untergrabt diefe, jene Mauer; fie müfjen mit ber Zeit 
alle finten. Und das Ganze diefes Gebäudes ift in der Schrift 
doch jehr unverkennbar vorgezeichnet. — 


tommen follen, als wir im Anfange gejchaffen waren. Hierauf beruben bie 
fogenannten vier Stände oder Zuftände bes Menſchen; fie find der Knote 
feiner Ber- und Entwidlung Hierauf beruht das ganze Syſtem 
unfrer Heilsordnung, die drei Artikel unfres Belänntnißes; wer uns einen 
nahm, that fo übel, al8 ob er uns alle drei nähme. Bei diefem Glauben 
bes Ehriftenthums bleiben Sie, m. F., und laßen ſich durch keine Klügelei 
wegloden. Selbft die Lehre der Dreieinigleit, auf bie wir getauft find, ift 
in feine ganze Oekonomie verwebt; und ich lenne keine neue Aenderungen, 
ſobald fie das Wefentliche des Chriſtenthums betreffen, die es beßer mach⸗ 
ten oder nur nicht ganz zerſtörten. Nehmt dieſen Pfeiler, nehmt jenen 
heraus; und es ſtürzt. Untergrabt dieſe, jene Mauer; fie müßen alle finten. 
Auch iſt das Ganze dieſes Gebäudes in der Schrift ſo unleugbar, ſo unver⸗ 
kennbar! — — 

Selbſt die Dogmatiken gefallen mir nicht, die von der umfaßenden 
Einfalt der Schrift abgehen und ihren vielſeitigen Entwurf ausſchließend 
in Eine Metapher, Ein Bildwort z. E. Bund, Weg, Licht, Leben 
und bergl. ſpünden. 





— 349 — 


Daher gefallen mir auch jene tropiſchen Dogmatiken nicht, 
die von der reichen Einfalt der Schrift auch dadurch abgehen, daß 
ſie ihren vielſeitigen Entwurf ausſchließend in Eine Metapher, in 
Ein Bildwort z. E. Bund, Weg, Licht, Leben u. dergl. ſpünden. 
Die Schrift hats nicht gethan: fie braucht viele Bilder; worauf 
fie alle8 bauet, ift der Zuftand, die Natur! des Menſchen. 
Bleiben Sie auch hierinn bei der Einfalt Ihrer Symbole und 
hüten fih vor dem Gothiſchen Geſchnörkel eines metaphorifchen 
Gebäudes. Warum foll man mit Mühe fi) erft das Xicht ver- 
bauen; um nachher die Dunkelheit «mit Fackeln oder Lämpchen zu 
erleuchten? Stet animo fixa sententia: ovdev areg yoapng. Ut 
non nostras sed sancti spiritus sententias proferamus, non pro- 
priis praesumta opinionibus sed divinis testimoniis munita. eben 
Ste mohl.? 


Drei und dreiffigfter Brief. 


Erwarten Sie nit von mir einen vollftändigen Commentar 
über alle Lehren der Dogmatit; Dogmatiken find gnug in der 
Welt und auch an Negiftern zu Theologischen Büchern fehlts nicht. 
Sie kennen Buddeus Isagoge, die Fabrize, Pfaff, Wald, 
Miller, neulih auch Niemeier und Nößelt, dern Theolo- 
giſche Bücherkenntniß und Prediger-Bibliothef fehr braud- 
bare „Handbücher find: meine Abficht ift nicht, fie zu compiliren 
oder zu vermehren. Auch eigentlihe Anmweifungen zum Stu- 
dium der Theologie find fo viel und zum Theil von jo geichid- 
ten Leuten, einem Melandthon, Chyträus, GStrigeliug, 
Gerhard, Mabillm, Fleuri u.a. kürzer ober länger, über 
dieſes oder jenes Fach beſonders; daß es auch hier unnüß wäre, 
eine Reihe oftgefagter Dinge wieder zu jagen, und noch verbrüß- 


1) it Zuftand, Natur 2) „Stet — wohl.” fehlt. 
3) neulih auch Nößelt, defien Theologifhe Bücherkenntniß 
ein fehr brauchbares Handbuch if; 





— 850 — 


licher, ſie in Privatbriefen auszuſchreiben. Einige von dieſen 
Methoden ſind auch zuſammen gedruckt, da Sie denn auf einer 
Auction für ein paar Groſchen die Gedanken der größten und 
gelehrteſten Männer über die Methode in mancherlei Stu- 112 
dien, (eines Erasmus, Grotius, Naudeus, Scioppius, 
Campanella u. a.) haben können. Meine Abfiht ift nur, da 
jede Zeit ihre eigne Mängel und Vortheile, Hinderniffe und 
Vollkommenheiten, Hülfsmittel und Fehler bat, Ihnen 
nah der unfrigen, wie ih fie etwa fennen gelernt babe,! über 
einzelne Lehren, Materien, Wiſſenſchaften u. f. einige gutgemeinte 
Winke zu geben. Ich weiß, für Sie find Winfe gnug. 

Und fahre alfo fort, wo wirs ließen, über die manderlei 
Zuftände der Menfhheit zu reden nad unfrer Dogmatik. 

Den Stand der erften Unſchuld überhäufen Sie ja nidt 
mit jüdiſchen Grillen, zumal in Vorträgen ans Boll. Unſchuld 
mars und feine Dämonifche Klugheit: Integrität aller Neigungen 
und Kräfte; feine geprüfte Vollkommenheit und Tugend, Die ja 
bei der eriten Probe fo übel beitand. Je mehr man ohne und 
wider die Schrift das Ideal diefes Standes auf eine myſtiſche 
Weiſe hinaufſchraubt; deito mehr läuft man Gefahr, wider den 
ganzen Plan der Heildordnung, ja zulebt gegen die menjchliche 
Natur felbft, erhabnen Unfinn zu reden. Ueber Einiges dieſer Art 
bat fih Schon Liskov hergemadt; und in unſrer Zeit hat man 113 
noch niehrere Behutſamkeit nöthig, da ja die Philofophen aller 
Länder vom primigenen Naturmenfhen, ihrem élève de la 
Nature jo gut und genau unterrichtet jeyn wollen — 

Wie über diefen, Zuftand der Mährchen, fo enthalten Sie fi) 
über den zweiten und den Uebergang jenes, in dieſen, unnöthiger 
Grübeleien und Hypotheſen. Folgen Sie Far der Geichichte der 
Schrift, wie fie uns Adams Fall beſchreibt; es iſt Geſchichte, 
aber unfer aller Geſchichte. Wie Er fehlte, fehlen wir: Die 
Jugend des Menfchengefchlechts ift unfer aller Jugend. Ich begreife 





1) gelernt, 





es nit, wie man jo außerordentliche Schwierigfeit findet, eine 
natürlide! Sündhaftigfeit der Menſchen anzunehmen; mic 
dünft, die Erfahrung bei denen, die unſres Herzens und Bluts 
find, follte e8 ung, wenn die Bibel auch nicht? davon fagte, von 
ihrer Kindheit an lehren. Wer Tann, wer darf fih rühmen, daß 
Er der primigene Adam, der natürlihe, noch unangetaftete Keim 
aller menſchlichen Kräfte und Tugenden, kurz da8 vollfommene 
Exemplar der menjhliden Natur ſey? und daß er als ſolches 
gebohren worden? Und das war Adam, wie uns die Schrift 
faget. Nun breitete? fih durd feine Schuld, die Gott vorber- 
114 gefehen und in den Plan feiner höhern Barmherzigkeit und Men- 

ſchenordnung eingefchloffen hatte, gleih von ihm durch alle Kanäle 
ſeines Geſchlechts Schmachheit, Mangel, Sünde, Unvollfommen- 
beit, Keime zu Irrthümern, Laftern und Thorheiten? herunter. 
Wir Tommen, fo wie mit einzelnen fehr beftimmten Gefichts- 
zügen, Kräften und Anlagen, jo aud mit eben fo bejtimmten 
Sndifpofitionen, Neigungen, Mängeln auf die Welt, die fich oft 
Ihon in den erften Zeiten der Kindheit fonderbar äußern. Die 
Philoſophen, die alle menſchliche Seelen für gleich und gleich leer 
halten, die fie einem Kreidemeiffen und Sonnenreinen Papier ver- 
gleichen ,‚* find von meiner Philofophie nit. Meines Bedünfens 
ijt die menſchliche Seele eine volle Knofpe von guten und böfen 
Anlagen und Dualitäten: es giebt Familienbildungen, wie Fami— 
lienfranfheiten und Character. In der jungen, neugebohrnen 
Knoſpe kann alfo fehr beftimmt der Wurm, ja Würmer vielerlei 
Art nagen: fie nagen .leiver! in ihr aud wirklich. Was man von 
der allgemeinen Bollfommenheit, von der NReinigfeit und 
Würde der menfhliden Natur fpridt,? mag im Allgemeinen 
wahr feyn; wo erfiftirt aber das Allgemeine in Einem Men- 

1) natürliche Berborbenbeit und 

2) fei? und als folde8 gebobren worden? Und das war Adam! 
das follten, und fönnten wir alle noch fern! Nun aber breitete 

3) Laftern, Thorbeiten 4) vergleichen u. dgl. 

5) Natur baber fpricht, 


Ihen? Niemand ehrt das Ideal der Menfchheit mehr, als die 
Bibel, da fie e8 ja fogar zum Nachbilde Gottes erhebt: aber 115 
eben weil fie es fo ehret, jo fuchet fie nicht die Schmachheiten, 
Mängel und Krankheiten unſres Geſchlechts zu verichleiern und zu 
verſchönen, da diefe ja wahrlih nicht Bild Gottes in ung find; 
vielmehr meggethan ,! geheilt, übermannt werben müffen, wenn je 
das hohe Bild in Zügen unfrer einzelnen Natur lebend und 
berrfchend erfcheinen ſoll. Sie ftelt Adam als den Keim zum irr- 
difchen, Chriftun als den Vorgänger zum höhern Leben dar; und 
zeigt nun, wie Gott unter die Sünde Vene und die Unſchuld 
Diefes feinen ganzen Plan verfaflet, den Entwurf des menjchlichen 
Geſchlechts auch dur mande Abfälle ? und Mißtöne jo herrlich 
zufammengeoronet bat, daB wir auf der Spur des lebten gei- 
ftigen Adams, ein jeder aus feiner einzelnen Berborbenheit und 
Todesgeſtalt? eben zum Biel jenes hohen Bildes hinaufftreben 
ſollen. Trägt biezu auch frühe Pädagogie bei, (und allerdings 
ſoll ſie's thun) fo thue ſie's; nur fie verhele die Krankheit nicht, 
der fie Arzt feyn fol: denn die erfte Tugend des Arztes ift die 
Krankheit zu kennen und bi8 auf den Grund zu erforjden. 
Die philofophifchen Zweifel gegen die fogenannte Erbfünde find 
alfo, dünft mich, nicht weit her; und bie pädogogiſchen Zweifel 116 
unfers Jahrhunderts vielleicht Died ſonderbarſten von allen. 
Führen Sie, m. Fr., in diefer ganzen Lehre fih und Ihre 
Gemeine aus dem Felde des allgemeinen Raifonnements auf That, 
Geſchichte, Erfahrung Es ift merflih, daB Die größeiten 
Zweifler hierüber gerade die wenigfte Erfahrung gehabt zu haben 
icheinen: denn Helvetius Syſtem 3. 3.5 ift offenbar gegen die 
Natur und auch bei Rouffeau, dieſem fonderbaren menfchen- 


1) Schwachheiten, die Mängel, die Krankheiten und Giftfeime zu ver- 
ſchleiern und zu überfchönen, die ja... . find umd mweggetban, 

2) Geſchlechts durch Abfälle 3) Todeslarve 

4) ſoll oder fie giebt Verdacht, daß fie ein fchlechter Arzt fer: 

5) pädagogiſchen unſers pädagogifchen Jahrhunderts bie 

6) denn z. E. Helvetius Syſtem 





— 39 — 


freundlichen Menſchenfeinde, haben Grillen gegen die Theologie 
oder fein volles Herz ihn bier, wie ſonſt mehrmals, irre geführet.“ 
Wer Tann Erbkrankheiten annehmen, ohne daß es, jelbit nad 
dem Syſtem der Philofophen von Verbindung der Seele und des 
Körpers, nicht auch Erbfehler gebe? und wer würde, bei jeber 
andern Materie, nicht die Unzuläßigfeit eines abftracten, all- 
gemeinen deals in lauter einzelnen Fällen einer bloßen 
Geſchichtſache rügen? Weiſen Sie alfo Ihre Menjchen an, den 
Engel im Menſchen nicht vorauszuſetzen, fondern auszubil- 
den, das in ihm liegende Gold nicht Schladenlos anzunehmen, 
damit man fih Mühe erfpare; fondern es zu reinigen, zu läu- 
117 tern. — Uebrigens find feine Vorwürfe, die man dem Syſtem 
der Bibel macht, ungegründeter, als die von ihrer Menjchenfeind- 
ſchaft in Anjehung diefer Lehre. Sie ift gewiß Menfchenfreundin: 
denn ihr Ideal der Menfchheit geht über alle philofophifche Ideale 
hinaus — | 
Die harten und zum Theil ſchimpflichen Streitigkeiten über 
den freien Willen des Menſchen nad) dem Fall find mei- 
ſtens duch Perfönlichkeiten der Streitenden jo ? hart gemacht wor⸗ 
den; mich dünkt, da wir jeßt aus dem Drange der Zeiten hinaus 
find, follten wir aus und nad der Bibel bald Schluß faſſen kön⸗ 
nen. Sie fpricht nehmlich keinem Menfchen ein Vermögen in 
natürlichen Dingen ab; nur von geiftliden, göttlichen, himm⸗ 
liſchen Dingen und auch bei diefen nicht blos vom Wollen, fon- 
dern vom primitiven Erfennen? und von der ganzen Geftalt 
des Menſchen zu feiner Gottgefälligfeit ift die Rede, und 
da, dünkt mich, muß man die Offenbarung beftimmen laſſen, was 
ihres Theile ift. Ihre göttliche Wahrheiten Hat fi der menſch⸗ 
liche Verſtand nicht erfunden noch * erfinden fünnen: das ift res 
facti. Gott bat alfo die Erziehung des Menfchengefchlehts in 
höherer, bejondrer Zuthat angefangen, und wer will nun Gren⸗ 


1) mehrmals, weggeftrömet. 
2) Berfönlichleiten fo 3) vom Ertennen 4) unb 
Herders fämmtl, Werke. X. 23 


— 3A — 


zen beftimmen, wo er aufhören Tann, darf und foll? m 118 
natürlichen Sachen haben wir alles durch Erziehung und durd den 
fortgehenden Einfluß andrer Menfchengeifter und Menfchenberzen 
auf uns; in göttlihen Saden follten ! wirs nicht Haben? da jol 
der menschliche Verftand Alles aus fich erfinden, das menfchliche 
Herz Alles aus fi thun fünnen? Und gerade ift dies doch das 
Schmerite, fo für unfre Natur da ift:? ein Entwurf Gottes, zu 
dem, auch biftorifeh genommen, unſere Erfindungsfraft blind, 
unjre Beitimmungsfraft tobt ift; und ewig blind und tobt ſeyn 
würde, wenn der Vater fein Gejchlecht nicht mit Licht und Gnade 
erfüllet hätte. Jetzt, da es erfüllt ift, da Licht und Gnade zuvor- 
fommend um und in uns leuchtet; jegt wäre es zu difputiren Zeit, 
wo menſchliches und göttliches Vermögen fih in jedem Strich ber 
Erfenntniß, in jedem nisua und actu der Entſchließung unfrer Secle 
trennen? ja mir follten über diefen Abgrund der Abgründe nur 
etwas entſcheiden dörfen? Gie, m. Fr., werden hierüber nicht 
Grübler, nit Richter; fondern folgen dem Haren Wort der Offen- 
barung. Gott ifts, der in uns wirkt beide das Wollen 
und das VBollbringen: er wirkt durh Natur, er wirkt dur) 
Wort und Gnade Denn, iſt auch die Natur nit fein? ift 119 
auch fie nit; find nicht alle? Kräfte in ihr Gnade? oder iſt 
feine Gnabe Unnatur? oder wirkt fie nicht unfrer Natur Di. 
unferm BebürfniB aufs höchſte gemäß, und ift für uns, jelbit 
den Ausdrüden der Schrift zufolge, ein Geift, der in Jedermann 
nach jeiner Weile zum gemeinen Nuten wirket?“ — Entfernen 
Sie fih, Freund, aus dem ſchwarzen Irrhain alter fcholaftiicher 
oder rhetorifcher Unterſcheidungen und Spisfündigfeiten, der nur 
gepflanzt wurde, um zu verfeßern oder zu diſputiren; und bleiben 
Sie in Saden von fo hiftorifher, praktiſcher Art auch auf 
dem jchlihten Geſchicht- und Erfahrungsmege der Bibel. 


1) follen 2) da ift, Geift gegen Fleiſch, Himmel gegen Erbe! 
3) fie nicht und alle 
4) gemäß und für uns, dem Anfcheine na, identiſch? — 








— 355 — 


Noch minder theilen Sie den Kümmel der Unterſuchung aufs 
neue und wollen beſtimmen: wie Gott nun bei dem Wort 
wirke? wie bei dieſem und jenem Wort? auf welchen Fleck 
unſres Weſens? und wie man jede Kraft, jede Gnade, jedes 
Amt, jede Handlung ſtellen müſſe und ordnen? Ich wiederhole, 
was ich oft ſchon geſagt habe: der Geſchichte der Dogmatik wegen 
müſſen Sie dieſe Benennungen und Claſſificationen wiſſen und ſich 
erklären können; verſchonen Sie aber damit Kinder und Gemeine. 

120 Bleiben Sie bei dem jimpeln Wort Gottes: Buße und Glaube 
ala Wert; Gejet und Evangelium ala Mittel, zu betrachten, 
reduciren bierauf die manderlei Aemter, Gnaden, Hand- 
lungen, Kräfte, und zeigen immer, daß hier nur Ein Gebäude 
von verfhiednen Seiten gezeichnet, und zerlegt wird.*) Wol—⸗ 
len Sie diefes nun aud auf die Seelenfräfte des Menschen 
anwenden und zeigen, wie der Verſtand erleuchtet, das Herz 
verändert, und neugelenft werde? fo thun Sie e8;! hüten fich aber 
gar fehr für der zu philoſophiſchen Zerlegung der Seelenfräfte etwa 
zu emer eigenmädtig-langmeiligen GSelbft- Befjerung.? 
Wiedergeburt und Glaube ift das Prineipium, die eigentliche 
energifche Kraft, der lebendige Funke eines neuen Geſchöpfs zu 
einem neuen himmlischen Dafeyn;3 nicht philofophifche Aufklärung, 
nicht allmählige gutgemeinte Beſſerung, nachdem und miefern c3 
nehmlid uns aufzuflären und uns zu beflern beliebt. Die lebte 
halte ich gerade für die fehönfte Schlaffucht, ja für jenen kalten 
Brand der Seele, da man fih mit den lieblichiten Opiumträumen 


*) Mir find bierliber einige Programme von Hrn. D. Tittmann 
in bie Hand gelommen, die biefe Materie, der Schrift gemäß, fehr beut- 
ih jondern.! 


1) wird: fo thun Sies; 

2) eigenmädtigen, langweiligen Belehrung. 

3) Principium, der eigentliche lebendige Funte eines neuen Geſchöpfs 
vor Gott, eines himmlischen Dafeyns; 


1) von Tittmann .... gelommten, bie mir fehr gefallen Haben. 


— 366 — 





in Schlaftrunkenheit wiegt — — ! Wollen Sie von ber Natur, 121 


Kraft und Nothwendigfeit diefes lebendigen Principium, 
des Glaubens, auch auf eine fehr Iebendige, beitimmte Weiſe 
geredet hören, jo lefen Sie Luthers Schriften. Er zeigt3 hundert⸗ 
mal und ausführlih, wie wenig der Bettelfad von allmähliger 
Selbftbefierung in ſich halte; wie noch weniger er chriſtlich jey 
und vor Gott gelte. Er felbit aber beflagte es jchon, wie 
. wenige zu feiner Zeit den rechten Begriff von dem, was Er wah- 
ren, lebendig - machenden Glauben nannte, faßten, und ihn nad 
feinem Sinn praftiih zu machen wüßten.? Unter unfern neuern 
Theologen habe ich injonderheit bei Ernefti öftere Rettungen und 
die ächte Beitimmung dieſes Alt-Lutherifchen Begriffs gegen die 
neueren philofophijchen Belehrungsfyftene, in denen alles jo fein 
langfam und demonftrirt zugeht, gefunden. So haben fih aud 
neulih einige Wirtembergifhe Theologen diefer Lehre angenom⸗ 
men und ihren Begriff, wie mich dünkt, bel und praftiih aus 
der Schrift erwiejen —* 

Die Lehre der Rechtfertigung ift mit jener vom Glau- 
ben jo nahe verwandt, daß Eine mit der andern ftehn und fallen 
muß; auch bei ihr, dem Eckſtein des Lutherthums, halten Sie fich 


vorzüglih an Luthers Schriften. Mich dünkt, es war Spener, der 122 


Zweifel gegen dies * Syſtem gefaßt hatte, die ihm unmiderleglich 
dienen; er las Luthers Schriften, und feine Zmeifel verſchwan⸗ 
den. Aber, wie gejagt, Luther Hagte ſchon zu feiner Zeit, daß 


1) Schlafſucht und den Falten Brand ber Seele mit ben Tieblichften 
Dpiumträumen jenes Biſchofs aus Laodicen. — — Meiftens aus Eng- 
liſchen Schriftftelleen und Prediger» Philofophen ift die Syſtem zu uns 
gelommen, dem Glaubensbelänntniß Luthers und unfrer ältern Theologen 
völlig fremde. 

2) „Er ſelbſt — müßten.” fehlt in A; dafür: „Der Geift feiner 
Schriften wäre Feuer, dieſe dürre Dornheden zu Afche zu machen; wenns 
noh Mode wäre, die Schriften des leider Auguſtiner-Mönchs, Luthers 
zu lefen — — 

3) neulid Cleß und Storr in ein paar Schriften dieſer .... 
helle aus der Schrift erwieſen — 4) ſein 








— 37 — 


nicht alle ihn hierinn begriffen und da jebermann von Glauben, 
Rechtfertigung und guten Werfen fchrie,! wenige feinen Sinn 
und Geift gefaßt hätten; die Folgen unmittelbar und lang nad 
feinem Tode habens traurig gnug gewieſen. Alfo gehen Sie, m. 
Fr., auch, wenn Sie hierinn Lehre und Auflöfung verlangen, 
zu ihm felbft, Diefem lebendigen Glaubensmann und ädhten 
Sohn Paulus. In feinen Schriften tft ein fo gejunder Berftand 
mit folder Stärke des Muths und Wärme bes veblichen Herzens 
verbunden, daß ich oft, von der Falten Grübelei jüngerer Zeit 
ermattet, mich nur an ihm erquidt babe. 

Uebrigend, m. Fr., hüten Sie fih für dem heiſſen Schmwefel- 
babe des Myſticismus, der in ältern und neuern Zeiten feinen 
dumpfen, erjtidenden Nebel auch über diefe, Die Iebenbigiten, 
blühendften Lehren des Chriſtenthums ausgebreitet hat; er ift das 
entgegenftehende Extrem gegen die unzeitig « philofophirende Schlaff- 

123 heit und Kälte. Zu welchem Unfinn! in welche Gräuel und Krank⸗ 
heiten bat er nicht feine Sünger und Freunde verleitet! und wie 
entfernt ift feine Hölen- und Tiefenphilofophie gegen die klare, 
freie Himmelsluft der Bibliihen Methode. Seinem Schädel ein 
Loch zu bohren, daß Geift vom Himmel bineinregne, den dunfeln 
Grund der Seele fo lange zu verdunfeln, bis er von fich felbit 
Licht werde, und der Chriftus in ung bervorjpringt; oder bie 
Gnadenhandlungen in Slaufuren zu faſſen, jeder ihre Tage und 
Zeit zu beftimmen und dem H. Geift einen Galender vorzeichnen 
zu wollen ,? nach dem er operire; Bänke der Belehrten und Halb- 
befehrten zu machen, und darauf die Sige, vom erſten Schlage 
an bis zum legten Durhbrud, zu numeriren; fein und etwa 
feines Bekehrers enges, arınfeliges Beifpiel zum allgemeinen Muſter 
und Modell fämmtlicher Belehrungsgaben und Zuſtände und 


1) verſchwanden. Luther Hagt oft, daß fchon zu feiner Zeit wenige 
ihn begriffen und da alle von .... fchrieen, 

2) Elaufuren faflen, .... Zeit beflimmen und .... Calender vor⸗ 
zeichnen, 





— 358 — 


Gnaden zu ſtempeln! und den Dunſtkreis feiner Schwitzſtube zum 
Thermometer aller menſchlichen und göttlichen Gefühle jedermann 
an die Thür zu firiren — o Freund, Freund, welde Schwad- 
beiten, SKleinheiten, Engheiten, oder auch Pharifäereien, Gräuel 
und Pedanterei! Weiß davon die Bibel? redet fie davon Ein 
Wort? zeigen Chriftus, Paulus, Johannes, Jacobus, 
Petrus ung auf den Weg hin? — Aus der Thebatichen Wüſte 
ift der zehrende, erftidende Oftwind gelommen, nicht vom Him- 
mel, nit vom? Geifte de Lebens. In die Wüſte gehört 
er auch; wo alle Verridtungen und Geſchäfte des menfchlichen 
Lebens aufhören und weder Gras noch Laub wächſt. Heiligen 
Styliten, Fakirs und Derwifchen gehört er, und die mögen ihn 
auch behalten, ihren Bauch füllen mit Dftwind, wie ber 
Prophet jagt und lebendige Maufoleen werden. Dein Gott fey 
Licht: Dein Glaube Thätigfeit, und Liebe; damit leuchte, damit 
erwärme und laß übrigens den Geift wehen, mo und wie er zu 
wehen für gut findet. 


Hymnus. 


Du, der alles bewegt und regiert, durch den ich auch ſelber 

Bin, was ich bin, durch den, in dem die Naturen alle 

Sind, was ſie ſind, der allen auch Alles iſt, Nähe und Ferne, 
Tief' und Höhe, und Minder und Mehr, und in allen Geſtalten 
Ausfüllt, was ſie von Liebe wiſſen, von Glück und von Weisheit! 
Siehe, von Deiner Güte, von Deiner Wahrheit, da nahmſt Du 
Einen der Tropfen und miſchteſt ihn ein in die Seelen der Menſchen, 
Daß er Quell ihnen ſey und immerwährende Nahrung, 

Und in mancherlei Bild, in manchen Geſtalten und Arten, 

Trüber und heller, und ſtets nach Jedes Weiſe verändert, 
Immer, getragen in ſich, die Quelle des ſüſſeſten Friedens 

Und der bitterſten Schwermuth, der Stachel höhern Verlangens — 
Immer durſtend nach Mehrerm und niemals gänzlich geſättigt, 
Nimmer ganz rein; doch ſchimmert es durch dies göttliche Etwas; 


— — —3 — — 


1) machen 2) der Wüſte .... nicht vom Himmel und vom 


pas 
W 
575 


126 








127 


128 


— 359 — 


— Hat von diefem Strale, von biefem Ausflug auch Etwas 
Meine Seele berührt — Du, der mich immer und aller 

Orten begeiftert, mir war von Kindauf jüßere Freude, 

Tiefer Entzüden! ſich fpiegeln mir Tieß die etwigen Wunder 

Seine Natur, die, obangethan felbft mit Seiner Gewalt, mit 
Seinen Anfehn und Glanz, doch immer ewig nur Ihn zeigt — 
Ihn, den großen Führer, den Geift, den erſten Beweger, 

Bon dem Leben ausgeht und Rath und Mittel und Ende, 

Und durch alle Adern, Natur, der fichtbare Gott, Tebt! 

Laß von Deinem Schimmer, von diefer Gewalt, bie mich anfaßt, 
Wenn ih rund um mich feh Deine Werl’, in befcheivener Demuth, 
Aufgelöft im Gefühl meines Nichts; zum Troſte der Menfchen, 
Ihnen zur Freude, mir aber zum Glück — Ein Wort laß mich fingen, 
Einen Ton ohne Kunft, fo wie die Füll' ihn mir darreicht 
Defien, was mich umgiebt; damit ihr Geift fi) ermanne, 

Sich ihr Herz befräftige, frei und edel zu handeln, 

Nicht zu forgen des Glücks, das aus der Fülle des Daſeyns 

Der bedenkt und felbften Sich giebt, durch welchen fie ba find, 
Der fein göttliches Merk durch alle Zeiten binausführt! — 


Bier und dreiſſigſter Brief.“ 


Seyn Sie fiber, m. Fr., daB Apollonius von Tyana 
unjerm Chriftus nicht fchade, und wenn auch noch zehn „weile 
Männer,“ wie Damis, oder „Attiiche Sophiſten,“ wie Philo— 
ftrat, oder „Wahrbeitliebende Philofophen“ wie Hierofles und 
Blount, ihn bis zum Himmel erhöben. Leſen Sie fein Leben 
bei Philoftrat und fragen Ihr unbeftochenes Urtheil. Es ift ein 
Roman von Anfang bis zu Ende: ein Roman, bei den Ihnen Chri- 
jtus entweder gar nicht einfällt, oder etwa jo einfällt, wie man ? 
die fchlichte, arme Wahrheit bei der reichiten aufgepugteften Lüge 
gevenfet. Was bielte man von einem Menſchen, der den Tele- 
mad, oder die Neifen des Cyrus als eine Geſchichte? Läfe, 
weil ihre Legenden an Namen ber Gefchichte gefnüpft find? Mit 


1) Der vier und breiffigfte Brief. 2) manan 3) als Gefchichte 


— 360 — 


dem Zauberer und Wunderhelden, Apollonius von Tyana, iſts 
nicht anders. 

Sie wiſſen, in welchem Zeitalter Philoſtrat lebte und wie 
vol damals alles von Philoſophiſchen Romanen war. Seitdem 
die unglückliche Alerandriniiche Philoſophie Wurzel gefaßt und mit 129 
ihrem Unkraut das ganze Römische Reich durchfrochen Hatte, ward 
das nüchterne Denken Schwärmerei, die Philoſophiſche Geſchichte, 
die die keuſcheſte ſeyn follte, ward Roman der Romane. Man 
ftopfte die Namen der alten Philojophen mit Zauberei, Wundern 
und Fabeln aus und ließ fie durch Nefromantifhe Künfte von 
den Todten berauffommen. So erjhien Pythagoras mit feiner 
goldnen Hüfte, Abaris mit feinem Wunberpfeil, Empebofles, Epi- 
menides, Archytas u. a! Zum Glück Haben wir ja noch Die 
Leben des erften vom Porphyrius, Jamblichus und jo viel fchöne 
Ueberbleibfel des philofophilch - theurgiichen Geſchmacks diefer Zeiten, 
daß darüber weiter Feine Frage feyn ſollte. Der Geſchmack war 
leider! nun allgemein: eine Reihe Kaifer liebten ihn aus man- 
herlei Urſachen vorzüglih: man wußte ? die thörichtiten Dinge mit 
der gefunden Vernunft zu reimen, wenn es nur wunderbar, groß, 
theurgifch ins Ohr fiel. Die Homerifche, Xenophontiſche Dichtung 
gab keinen Neiz mehr: felbft Plato mar. zu fimpel: das Gericht 
mußte mit jhärfern Würzen zubereitet werden; und fo wurde das 
Ideal des Wahren und Guten eine Geftalt, wie fie — Ammo- 
nius, Porphyrius, Plotinus, Jamblihus, Philoftrat an 130 
ihren magiſchen Helden ſchildern. Ich ſetze den lebten in die Klaſſe 
jener und beflage, daß er in fie Fam. Er war Sophift und wollte 
eigentlich fein Philoſoph ſeyn; hatte aber die Ehre, in das gelehrte 
Kränzchen der Kailerin Julia zu kommen, die nad Spartians 
Bericht eine Afiatin von Geburt, unter Prieftern und Weiſen 
erzogen, eine fchredliche Paßion für diefe Wunderweisheit hatte, und 
da ihr die Kommentare des weifen Mannes Damis von einem 
Verwandten defjelben Täuflih aufgeſchwatzt waren und fie fih an 


1) u. a. auf der Bühne. 2) fie wußten 





— 361 — 


deſſen Styl nicht erbauen fonnte, ob ihr gleich die Materie ſehr 
wohl gefiel: jo gab fie dem Schönfchreiber Philoftrat, fie in beffere 
Form zu bringen, Auftrag. Diefer, den die Wahrheit des In⸗ 
balts weiter nicht anging, ſah, dab ſich daraus was machen ließe; 
und fo madte ers denn. Cr giebt felbft darüber jo rhetorifche 
Auskunft, daß dieſer Held z. E. ihm gerade recht gemejen, weil 
: er weder früher noch fpäter, ala — anderthalb Jahrhunderte vor 
ihm gelebt, daß er aus Sagen des Volle, aus Tempelmährcen, 
aus?! Briefen Apollonius an Könige, Länder und Städte, (Die 
nah den vielleicht auch unächten Proben, die wir haben, nichts 
131 von feinem Leben enthielten und vornehme Orakelſprüche waren) 
endlih aus dem weiſen Marne Damis und Mörigenes, die er 
jelbit bei aller Gelegenheit herunterjett, gefchöpft habe; ? und nad 
dem er nun aus Städten, aus Tempeln, aus Nachrichten, aus 
Briefen von Elis, Delphos, Indien, Aegypten, (0 des Rhetors!) 
alles, alles Zuverläßige gefammlet, fo ſchreibt er der SKaiferin 
Julia ein Leben, zierliher als der meife Mann Damts fchreiben 
tonnte. Das lebte glaubt ein jeder: denn der Sophift, der fich 
(mern diefe Schriften von ihm find,)® an nicht minder, als neun 
und funfzig Leben der Sophilten, vier und ſechzig Beſchrei⸗ 
bungen von Gemählven, fammt allen griechifchen und Trojani- 
chen Helden im Malen geübt hatte, der Tonnte ja jett wohl einen 
Apollonius malen, wie man ihn gern ſah. Man merkt, er geht 
auf der Tradition, wie auf feurigen Kohlen, Tann fie nicht zart, 
nicht delifat genug behandeln, eilt immer davon weg und iſt defto 
reicher an Einſchaltungen, vornehmen Sittenfprüchen, entfernten 
Wunderdingen, Reiſen. Sein jchönfter Schauplag iſt Aften, der 
Caucafus, Ganges, Aegypten, die Mondsgebürge, wo Teiner hin- 
fragen konnte. Auch ift das ganze Buch in feiner Anlage, Yort- 
132 leitung, in Bertheilung der Epijoden, Neben, Sentenzen, Wundern, 
Fabeln, kurz in der ganzen Haltung von Anfange bis zu Ende, 





1) Tempelmährchen, (fchöne Quellen!) aus 2) gefchöpft; 
3) „(wenn — find,)” fehlt. 4) Wunder, Fabeln u. f. kurz 


vom Augenblide, da Proteus ſich gebähren läßt, bis zum letzten 
Kapitel, wo Philoſtrat in aller Welt, felbft nur das leere Grab 
des Unfterblichen ſucht, fo fihtbar Roman, daß es feines wieder⸗ 
Iommenden guten Freundes von Apollonius, des Euphrates, bedarf, ! 
um das zu ſehen und durchhin zu fühlen. Nichts ſtimmt ja mit 
Geographie und Geſchichte: im ganzen Altertum ift Apollonius 
nur als Magus befannt, und felbft Lucian denkt an ihn, als 
an den Bater der Betrügereien und bes CErzbetrügers, eines 
Uleranders: Tragödie nennt er fein Werf und Weſen. — Hätte 
ein Chriſt aud nur die Hälfte folcher Auffchneibereien fih zu 
erzählen getrauet, wie würde man ihn verladen und wegwerfen! 
und nun, da der Gott Apollonius auf Erden wandelt, hat ınan 
nicht Worte gnug, ihn zu Toben. 

Ferne ſeys von mir, Ahnen ein Buch verleiden zu wollen, 
das als Noman betrachtet, vielleicht das ſchönſte diefer Zeit ift. 
Ich babe gegen den Schreiber Philoſtrat nichts und beflage nur 
jedes Zeitalter, mo felbft das deal des Wahren und Guten, 
wie diefer Apollonius doch ſeyn fol, und dazu aus Fliden aller 133 
Werfen der Erde von Pythagoras bis zu Jarchas, vom Ganges 
und den Mondögebürgen bis zu den Säulen Herkules zufammen- 
gejeßt und creirt wird — mo felbit dies deal ſolche pretiöje 
Pralereien nöthig hatte,? fih zu empfehlen. Um des Himmels 
willen, was ift dagegen der arme, einfältige Chriftus! und wem 
hats je in den Sinn fommen können, die zwei zu vergleichen oder 
gar, wie der Gemahl der Julia that, ihre Bilbniffe neben einan⸗ 
ber zu ftellen und Orpheus und Abraham mit ihnen! Wenn 
ſpricht Chriſtus fo erhabne diktatorifhe Machtſprüche, die plötzlich 
die Melt ändern? wenn jchreibt er an Könige und Länder fo vor» 
nehme, einſylbige Briefe, die fie plöglih neu befeelen? Wenn 
zog er, von allen Tugenden begleitet, durch Welttheile und Städte 
und gab fie an den Thoren an — wie ſolch übertriebenes, einen 
Meilen ganz unmwürdiges? Pralen das ganze Buch burchgehet. 


1) braucht, 2) bat, 3) ſolch unfinniged und einem Weifen unwürdiges 





Wenn trieb er auf fo erhabne Weije Sittenteufel aus, verftand 
‘ die Spradhe der Sperlinge, ftillte, da er fiumm war, die Wuth 
bes Volks durch ein Winfen des Haupts — ! mehr, ala Vater 
Zevs bei Homer thun konnte. Die vornehme Art, wie Apollonius 
mit Königen, Weifen, gejchmeige mit Teufeln? und dem Möbel 
134 umgeht, die gebieterifche Weisheit, die er überall ausframet, jene 
Africanifch - Indianischen Yabeln und Mährchen,? womit der Vor: 
trag aufgeheitert wird, die wichtigen Saden, die er den Schatten 
Achilles fragt, die fehöne Art, wie er den Fuß aus der Kette 
zieht,* und nad) gehaltner Redes vor dem Tyrannen verfhmwin- 
det — doch, wo kann ich die Affectationen herzählen, die das 
ganze Buch durchgehend Wer dieje mit Chrifto vergleicht, weiß 
nicht, was er redet; wer fie aber Chrifto vorzieht und wie Hadrian 
und Garacalla, hehr und göttlich preifet, deſſen Urtheil begehre ich 
in diefer Sache nicht zu haben” — — 


1) Haupts, durch ein Niden der Nafe — 2) geſchweige Teufeln 
3) die Africaniſch-Indianiſche Lügenmenge, 4) Mſe.: zeucht 
5) und nachher nach gehaltner Sophiſtenrede 6) durchherrſchen. 


7) Statt: „doch, wo kann — haben“ folgt in der älteren Redaction 
(Dife.) die Stelle: „Kurz, bis aufs letzte leere Grab des unſterblichen Man- 
nes, das Philoftrat in allen Ländern vergebens ſuchte, geht bie gebieterifche, 
zwedmäßige Auffchneiderei durch; und ich wünſchte nichts, als daß Apollo- 
nius guter Freund, Euphrates, wieberläme und den Philoftrat lüfe Er 
würde und Berichtigung geben — doch was darfs feiner? eines Fein- 
des? Lucian ift da, der ibn [Rüde von 17/, Zeilen, zu ergänzen 
aus ©. 362 3. 8. 9] nennt: fo fennt ihn das ganze Alterthum: Das 
zeigen auch die Titel aller feiner vorgegebenen Schriften. Es find 
Aftrologien, Opfer- und Wahrfagungsbilcher, Orakel u. dal.; ich glaube, 
Sie werben nach feinen begierig feyn, felbft nicht nach dem, das er aus 
der Höle Trophonius brachte. Wahrſcheinlich find auch die vorgegebnen 
Briefe nicht von ibm; fo wenig als bie toftbaren Reden, die Philoftrat 
einwebt und bie ihm ſelbſt, dem Sophiften, fo ähnlich find. Sie jehen 
aber, wie mans machen muß, damit man Tempel befommt und ein Gott 
werbe; nehmlich den Lieblingsihwachheiten feiner Zeit dienen, mit fich koft- 
bar und groß thun, uud bei guten Naturgaben die Welt, inſonderheit die 
Großen, die immerbar betrogen feyn wollen, betrügen. Ich bin der Ehre 
herzlich müde, bie Severus feiner Mutter zu Gefallen Chriſto anthat, da 


— 34 — 


Ich bin weitläuftig, m. Fr., aber unfre Zeit erforberts viel- 
leicht, da fie an Romanſucht, und pretiöfer ' Aufſtutzung der leere: 
ften Wahngeftalten, zur höchſten Bewunderung der Caracallen, 
Julien, und Severe, jener Zeit nicht nachgeben möchte. Hat man 
Chriftum jelbft nicht oft jo aufgepuget und pußt ihn zum Theil 
noh auf? Gnoftiih, Alexandriniſch, Scholaftiih, Ariſtoteliſch, 
zulegt Sokratiſch, Apolloniſch, theurgiſch und ich mag nicht weiter 
jagen, wie?° Bat man nicht gar das Syitem aufgebracht, daB man 
das Chriſtenthum für unfre Zeit nothwendig ſo? aufihmüden 
müffe? Denn, was Chriftus und die Apoftel gepredigt haben, 
ſey nur Kindheit des Chriftenthumg;‘ wir, wir jeyn in den 
männlichen Jahren. Man bat dazu zwo verſchiedne Lehrbegriffe 
(nicht Lehrarten) erdacht, deren Einer für die Schmaden, der 
andre für die Starken ſey und die fih gar nicht ähnlich ſeyn dör⸗ 
fen. So wird der Irrthum, die Lüge, der Betrug beveftigt und 
Chriftus und die Apoftel zum Theil ſelbſt zu Magiern, oder zu 
betrogenen Betrügern 5 erniedrigt. Das fonderbarfte ift das, daß 
man jih über die Schranken beider Klaſſen, der geheimen und 
offenbaren Wahrheit nicht vereinigen ® Tann, daß es immer Ueber- 
läufer giebt, die diefe und jene geheime Wahrheit der Eingeweihten 
auch den Layen ausſchwätzen und endlid gar die Aufklärer, die Denker 
jo intolerant geworden find, daß fie auch den Pöbel mit Schimpfen, 
(mit Feuer und Schwert, wenn fies hätten!) zu ihrer geheimen Phi- 
er ihn zwifchen Apollonius und Orpheus in feinem weiſen Götzen-Tempel⸗ 
chen hatte. Es war der elende Geſchmack der Zeit, alles, was nicht zufam- 
men gehört, Chriſtus und Belial zu paaren, ein Geihmad, ven bie Aleran- 
driniſche Schule aufgebracht hatte und der endlich in nichts, als Verwirrung 
aller Ideen, Berfälfhung der ſchlichten Wahrheit, in Unwiſſenheit und 
Barbarei endigte. Auch unfere Zeit liebt diefen Geſchmack fehr und Chriftus 
muß mit Sofrates — ich weiß nicht, mit wern mehr? — ewig verglichen 
werben und parabiren.“ 

1) pretiöfer Auffchneiderei und 

2) zulegt, ih mag nicht fagen, wie? 3) Chriſtenthum fo 

4) gepredigt; fei nur Kindheit des Chriftenthums, Anfang: 

5) Magiern, boppelfinnigen Betrligern 6) Klafien nie vereinigen 





loſophie, zu ihrem theurgifchen 1 Gnofticiamus zwingen wollen. Nach 
aller Geſchichte Chriſtlicher Jahrhunderte ſehe ich auf dieſem Wege fei- 
nen Segen. Betrügeret beiteht nicht, doppelte Lehre hält nie Stich; 
Verkleidung, Ueberkleifterung der Wahrheit, und endlich gar Schimpf 
und Kabale? hat immer geſchadet. Weder durch Gnoftiihe und 
136 Platoniſche, noch durch Scholaftiich - Ariftoteliiche Philofophie hat 
das Chriftenthbum gewonnen; die folgende Zeit mußte immer los⸗ 
reiſſen, was die vorige unnüß anbeftete und ich fehe fein Ende 
alles Zanks und Haders, ala offene Wahrheit, reine Aus- 
legung der Schrift, gefunde Einfalt.? Man lafle Chriftum 
nit mehr jagen, ald er gejagt bat; laſſe ihn aber auch das jagen, 
was er fagt, oder man entjage* fich feiner. Es ift Frechheit, 
jemand zu einer Hypotheſe Des oder jenes zwingen zu wollen; 
geſchweige zu einer neuausgedachten, allen Gejegen und Regeln 
gejunder Philoſophie und Auslegung mwiderjprechenden 5 Hypotheſe, 
wenn fie ung auch die klärſte dünkte. Nur gegenfeitige Toleranz, 
Beſcheidenheit, Freiheit und Wahrheit können mit der Zeit die 
Gemüther einigen, jo fern fie zu einigen find, und es ift lächer⸗ 
lid, wenn die, die vor kurzem verfolgt wurden, jet verfolgen 
wollen und menigftens auf gut Julianiſch höhnen oder ſchimpfen. 
Das find nit Waffen im Streit der Chriftlichen Wahrheit! auch 
taugen überhaupt Waffen nicht in einem Reich, mo Alles Ueber- 
zeugung, Liebe, und Ruhe jeyn fol. 
Noch wundert mid, daß man das Chriſtenthum immer allein 
137 in fogenannte Aufflärung des Spyitems, in Spekulation 
ſetzt; da es doch offenbar mehr ala dieſes oder vielmehr ganz etwas 
anders® feyn fol. Difputiren wird Chriftus freilich weder können, 


1) erhabnen 2) Zwang 

3) al8 Wahrheit, Auslegung der Schrift, NReinigteit, 
Einfalt. 

4) fagen, ober entjage 

5) neuausgedachten, den Gefegen und einem Jahrhunderte lang ange⸗ 
nommenen Lebrbegrif widerſprechenden 

6) doch ganz mad anders 


— 366 — 


noch wollen, er wird feine der Künfte verftehen, morinn unfre 
Zeiten ihre Meiſterſchaft jegen, und aljo gern ein Kind, ein Idiot 
gegen fie ſeyn und bleiben; wie aber? erſchien er dazu auf Erden? 
wies er dazu die Apoftel an? zeigte er nicht immer, daß fein 
Evangelium gerabe dad Gegentheil, eine Lehre für die Einfältigen, 
für die am Joch der Phariſäer und Dijputanten Abgematteten, 
eine Religion für Herz und That, nidt für Wort und Katheder 
ſeyn ſollte? Glaubt man aljo, daB das Chriftenthun jest 
in männliden Jahren fey, fo zeige man jeine Früchte, nit 
auf den Blättern des Syftens, ſondern in Werfen, in Berfaf- 
jungen, in der Geftalt der Erde. Dan zeige, daß es einfältigere, 
weiſere, beſſere Menſchen gebe, als Chriftus war, wirkſamere Lehrer, 
als e3 die Apoftel waren: man zeige die Chriftlicden Königreiche, 
Staaten und Gemeinen, wo das ftile Gute praftifch viel weiter 
ift, als es Chriſtus und die Apoftel in ihren armen Anfängen 
pflanzten. Kann man dies nicht zeigen, was rühınt man fich denn 
mit der bloßen Aufflärung in Buchftaben, in Sylben, die doch oft 138 
auch zweideutig anug if. Wehe Ihnen, m. Fr., wenn Sie das 
Reich Chrifti als ein ſolches Buchſtaben- und Sylbenreih anjchen 
lernten und an Chrifto feine andre Geſtalt, ala eine Materie zu 
prebigen, zu kritiſiren, zu polemifiren ſähen! Der Baum Ihrer 
Religion wäre damit verborret, vielleicht auf Lebenszeiten. Wahr- 
id, er hats nicht zum Zweck gehabt, daß jedes Jahrhundert ihn 
immer auf neue Weile aufpugen, mit frifhen Lumpen behängen 
und auf neue Manter Herr, Herr fagen ſollte. Cr haßte Leute, 
die dieſes thaten, und! entjagte fi) von ihnen; er wird fie auch 
am legten Tage nicht Tennen:? folde Herr-Herr-Sager verderben 
die Well. Wo aller Saft in die Blätter geht, können feine Früchte 
werden; wenn irgend eine arıne Blüthe ericheint, jo wird fie von 
drüdenden Blätter- und Wortkram erftidt. Wohlangebrachte, ein- 
fältige, mäßige Worte erzeugen Thaten; Gedankenloſe, üppige, 





1) haßte dieſe Leute bei Lebzeiten und 
2) fernen, ja 





— 367 — 


übermäßige Worte haſſen Thaten, vernichten fie von Grund auf. 
Gebe uns Jehovah bald die Periode, da niemand dein andern ing 
Ohr ſchreit oder ihn darüber ſchlägt! und höhnet: „wie er Gott 
erfennen ſoll?“ jondern fie ihn alle Tennen, klein und groß. Gebe 

139 er uns bald die Zeit, da die Geſchichte Jeſu eine lebendige Schrift 
in unjerm Herzen und für unfern Charakter? werde. 

Zu diefem Zwed, m. Fr., lefen Sie wenig und dies Wenige 
gut und tief: denn ich babe Ihnen ſonſt fchon gejagt, daß uns 
auch deßwegen die Alten an Stärfe und Zuverläßigfeit der Denf 
art jo fichtbar übertreffen, weil fie wenig und das Wenige oft und 
gut laſen. Sie ſuchten Gold und wandten es auch ald Gold an: 
wir wühlen im Staube, wo wir meiftens auch nur Staub finden.? 
Was Hilfts Ihnen, m. Fr., wenn Sie in Ihrer Lectüre täglich 
vom Tuch Petri, Reines und Unreines, ſpeiſen? wird dadurd Ihr 
Geſchmack, Ihr Magen, Ihre Gejundheit gut? oder nicht äußerft 
überladen oder verderbet?* Der gejunde Menſch braucht wenig, 
auch im Lejen; er lieſt leicht zu viel, zumal wenn er dur cin: 
ander liefet, wie ih an Ihnen merke. Prüfen Sie fih jelbft auf- 
richtig, und fagen Sie: ob Ihnen die unzähligen Journale, die 
vielen theologischen Streitichriften und Hetzereien nugen oder ſchaden? 
Wenn nichts weiter, fo verrüden fie den rechten Gefichtspunft, fie 
verderben Ihnen den erften, gejunden, ruhigen Anblid, den Sie 
nothiwendig von der Religion in Ihren Jahren haben follten, und 

140 haben fönnten. Seht tauchen Sie ſich jeben Augenblid ind Meer, 
ungewiß, ob Sie eine Perlen» oder Kothmuſchel, eine Korallen: 
ſtaude oder eine Ströte Hafen, wo Sie nicht gar einem Hayfıld) 
zum Raube werben. 

1) oder fchlägt 

2) und Charakter 

3) im Koth, wo wir meiftens auch nur Koth finde. 

4) In der älteren Rebaction folgt noch der Sat: „Ich nehme mich 
von bdiefer Regel nicht ans: denn auch ich babe viel zu viel, aus zu 
mancherlei Sprachen, unb weil ein Gebränge von Umſtänden und Pflichten 
e8 foderten, manches zu vermiſcht gelefen.“ 





— 368 — 


Was hats Ihnen z. E. geholfen, daß Sie das Buch vom 
Zweck Jeſu jetzt ſchon geleſen haben?! für Ste wars weder geſchrie⸗ 
ben, noch herausgegeben: Sie könnens weder berichtigen, noch 
widerlegen. Nicht wahr? als Sie von Kind auf die Gejhichte der 
Evangeliften laſen, ſahen Sie was anders darinn, als Ihnen. 
diefer? Autor zeigt; aber wo zeigt er falſch? wo und woher its 
nothmendig andere? Sie wiſſens nit: „bei ihm ift doch aud 
manches jo mwahrjcheinlih, fo vernünftig!“ und Gegentheild war 
Ihr erfter Eindrud fo einfacher, fo angenehmer, jo jchlicht- wahrer! 
Wo liegts nun? mo ift der Arzt für Ihre eiternde Wunde? und 
Ihr erſtes Gefühl ift — mwenigftens auf eine Zeit — manfenb 
gemacht, hr erfler Eindrud ift verlohren. Sehen Sie, das find 
die Schönen Folgen der zu frühen Lectüre durch einander. Wollen 
Sieg annehmen: jo will ih Ihnen nächſtens über den Inhalt des 
Buchs meine Meinung jagen. Leben Sie wohl. 


Luthers Vorrede zu feinen deutſchen 141 
Büchern 1539. 


Gern hätte ich8 gefeben, daß meine Bücher allefammt wären babinten- 

; blieben und untergangen. Und ift umter andern Urfachen Eine, daß mir 

grauet für dem Exempel: denn ich wohl fehe, was Nutzes in ber Kirche 
geihafft ift, da man hat aufjer und neben der heiligen Schrift angefangen, 

\ viel Bücher und große Bibliothelen zu fammeln, fonderlih ohne allen 

* Unterfcheid allerlei Väter und Lehrer aufzurafien. Damit nicht allein bie 
edle Zeit und Stubiren in ber Schrift verfäumet, fondern auch bie reine 
Erkänntniß göttliches Worts endlich verlobren ift, bis bie Bibel, wie dem 
fünften Bu Moſe geſchah, zur Zeit Joſiah, unter der Bank im Staube 
vergeſſen ift. 

Auch ift das unfre Meinung geweſt, da wir bie Bibel ſelbſt zu ver- 
deutſchen anfingen, daß wir hofften, e8 follte des Schreibens weniger und 
des Studirend und Leſens im der Schrift mehr werden: denn auch alles 
andre Schreiben, in und zu der Schrift, wie Johannes zu Chrifto weiſen 
fol, wie er ſpricht: „ich muß abnehmen, diefer muß zunehmen; bamit ein 
jeglicher ſelbſt möcht' aus ber friſchen Quelle trinfen, wie alle Väter, bie 


1) gelefen? 2) anders in ihnen, als biejer 


— 369 — 


142 etwas Guts haben wollen machen, haben thun müflen. Denn fo gut wer- 
dens weder Concilia, Väter noch wir machen, wenns auch aufs Köchfte und 
befte geratben kann, als die H. Schrift, d. i. Gott ſelbſt gemacht bat, ob 
wir wohl auch den H. Geift, Glauben, göttliche Rede und Wert haben 
möüfien, fo wir follen felig werben; als die wir müſſen die Propheten und 
Apoftel laſſen auf dem Pult fiten und wir bienieben zu ihren Füſſen hören, 
was fie fagen, und nicht fagen, was fie hören müſſen. — 

— Ueber. das will ich dir anzeigen eine rechte Weife in der Theologie 
zu ſtudiren, der ich mich gelibt Habe: wo bu diefelbe bälteft, follt du alfo 
gelehrt werben, daß bu felbft könneft (mo e8 noth wäre) ja fo gute Bücher 
maden als die Väter und Eoncilia. Und ift das die Weife, die David 
(ohne Zweifel auch alle Batriarchen und Propheten fie gehalten) im 119. Pfalm 
lehret. Da wirft bu brei Regeln innen finden, durch den ganzen Palm 
reichlich fürgeftellet, und heiſſen alfo: oratio, meditatio, tentatio. 

Erſtlich folltu willen, daß die H. Schrift ein fol Buch ift, Das aller 
andern Bücher Weisheit zur Narrheit macht, weil keins vom ewigen Leben 

143 lehret, obne dies allein. Darum folltu an deinem Sinn und Berfland 
firads verzagen, denn damit wirftu e8 nicht erlangen, ſondern mit folder 
Vermeſſenheit dich felbft und andre ftärzen vom Himmel (wie Lucifer geſchah) 
in Abgrund der Höllen. Sondern Iniee nieder in deine Kammer und bitte 
mit rechter Demuth und Ernft zu Gott, daß er dir durch feinen Sohn 
wolle feinen H. Geift geben, der dich erleuchte, leite und bir Verſtand gebe. 
Wie du fiebeft, daß David bittet: „Leite mich, Herr! Unterweiſe mich! führe 
„mich! zeige mir," und der Worte viel mehr: fo er doch den Tert Mofis 
und ander mehr Bücher wohl fonnte, aud täglich hörete und Tas: noch 
will er den rechten Meifter der Schrift jelbft dazu baben, auf baf er ja 
nicht mit der Vernunft brein falle und fein ſelbſt Meifter werde: denn ba 
werben Rottengeifter aus, bie fich laſſen dünken, die Schrift fey ihnen unter- 
worfen und leichtlich mit ihrer Vernunft zu erlangen, als wäre es 
Marcolphus oder Efopus Fabeln, da fie feines H. Geiſts noch Betens 
zu dürfen. 

Zum andern folltu meditiren db. i. nicht allein im Herzen, fonbern 
auch äußerlich die mündliche Rede und buchſtabiſche Wort im Buch immer 

144 treiben unb reiben, lefen und wieberlefen, mit fleißigem Aufmerlen und 
Nachdenken, was der H. Geift Damit meinet. Und bite dich, daß du nicht 
überbrüßig werbeft oder denkeſt: Du habeſt es einmal oder zwei gnug gele- 
fen, geböret, gejagt, und verfteheft es alles zu Grund: denn da wird kein 
jonderliher Theologus nimmermehr aus, und find wie das umgeitige Obſt, 
das abfället, ehe e8 Halb veif wird. 

Zum dritten ift da tentatio, Anfechtung: bie ift der Prüfeftein: bie 
lehret dich nicht allein wiflen und verftehen, fondern auch erfahren: wie 

Herders fümmtl. Werke. X. 24 


— 310 — 


recht, wie wahrhaftig, wie füße, wie lieblich, wie mächtig, wie tröftlich 
Gottes Wort ſey — Weisheit über alle Weisheit. Sobald Gottes Wort 
aufgehet durch dich: fo wird bi der Teufel heimſuchen, dich zum rechten 
Doctor machen, und durch jeine Anfechtungen lehren, Gottes Wort zu 
fuchen und zu lieben. Denn ich felber habe fehr viel meinen Papiften zu 
banken, daß fie mich buch bes Teufels Toben fo zerfchlagen, zerbränget, 
und zerängftet, d. i. einen ziemlichen guten Theologen gemacht haben, dahin 
ih fonft nicht kommen wäre. 

Siebe da haſtu Davids Regel. Studirefi du nun wohl diefem Erem- 
pel nach, fo wirft bu mit ihm auch fingen und rübmen: „Das Gefet deines 145 
Mundes iſt mir lieber, denn viel taufend Stüd Golde8 und Silbers. Du 
„machft mich mit beinem Gebot weifer, benn meine Feinde find, ich bin 
„gelebrter, denn alle meine Lehrer, ich bin klüger denn die Alten, denn id) 
„halte deine Befehle." Und wirft erfahren, wie ſchaal und faul dir ber 
Väter Bücher fchmeden werben; wird auch nicht allein ber Wiberjacher 
Bücher verachten, ſondern dir felbft, beide im Schreiben und Lehren, je 
länger je weniger gefallen. Wenn bu bieher kommen bift, fo boffe getroft, 
daß bu habeft angefangen, ein rechter Theologus zu werben, der nicht allein 
die jungen unvolllommenen Cbriften, fondern auch die zunehmenden und 
volllommenen mögeft lehren: denn Chriftus Kirche Bat allerlei Chriften 
in fi, jung, alt, ſchwach, frank, gefund, ftark, friiche, faule, alberne, 
meife u. f. 

Fühleſtu dich aber und läfſeſt dich bünken, du habeſt es gewiß unb 
kitzelft dich mit deinen Lehren ober Schreiben, als babeft bu es fehr köſtlich 
gemacht, gefället dir auch fehr, daß man did vor andern lobe, willt auch 
vielleicht gelobet feyn, fonft wiärdeft dur trauren und ablafien. Biſt bu der 
Haar, lieber, fo greif dir felbft! an deine Obren und greifeft bu recht, fo 
wirt du? finden ein ſchön Paar großer langer rauder EfelSohren: fo wage 
vollend die Koft daran und fchmüde fie mit güldnen Schellen, auf daß, mo 146 
du gebeft, man dich hören könne, mit Fingern auf dich weifen und fagen: 
febet, ſehet, da gehet das feine Thier, das fo Löftliche Bücher fchreiben und 
treflich wohl predigen kann. Alsdann biſt du ſelig und überſelig im — 
Himmelreich? — jal da dem Teufel ſamt ſeinen Engeln das Feuer bereit 
iſt. Summa laſſet uns Ehre ſuchen und hochmüthig ſeyn, wo wir mögen; 
hier ſey Gottes die Ehre allein. 


1) ſelber 3) wirſtu 


147 


— 311 — 


Fünf und dreiffigfter Brief. 


Kennen Sie, m. Fr., eine feinere Kritif und Philofophie als 
die über den Zwed eines Menſchen? über den geſammten Zwed 
der Handlungen feines Lebens? Wer fennetö bei fich felbit oft 
und allemal? wer immer bei andern, ſelbſt bei feinen geheimften 
und innigften Freunden? Wer endlih bei Menfchen, die Jahr⸗ 
hunderte, Jahrtauſende vor uns gelebt, die wir nur aus dem 
Zeugniß anderer, ihrer Mitgenoffen oder gar ihrer Nachkömm⸗ 
linge anjehn und Ichägen lernen?! Wer kennets bei ihren ver> 
flochtenſten Handlungen? wer injonderheit bei den verflochtenſten 
Handlungen ungemeiner, fonderbarer, gar wunderbarer 
Menſchen? und jagen wir nicht, indem wir ihnen diefen Namen 
zugeftehen, ober nachdem die Zeit fie als ſolche erwieſen hat,? daß 
ihr Zweck des Lebens, das Triebrad der innerften Wirkungen 
ihrer Seele, ſchwer zu erforfchen, ja beinah3 ohne Vergleihung 
ſey? Und mas läßt ſich denn, ohne dieſe Vergleihung mit uns 
oder mit andern, vom innerften, totalen Zmwed eines gefamm- 


148 ten Menfchenlebens und feiner angewandten Kräfte fiher beftimmen? 


Gefteht nicht ein jeder: hier ſey mwenigftens die größefte Behutfam- 
feit nöthig? „Das menfchliche Leben, jagt ein Schriftiteller, 
„ſcheinet in einer Reihe ſymboliſcher Handlungen zu beftehen, durch 
„welche unfre Seele ihre unſichtbare Natur zu offenbaren fähig tft 
„und gleichſam eine anſchauende Erkenntniß eines* wirkjamen 
„Daſeyns außer fich mittheilet. Der bloße Körper einer Handlung 
„tann uns ihren Werth niemals entveden; fondern die Vorftellung 
„ihrer Bewegungsgründe und ihrer Folgen find die Mittelbegriffe, 
„aus welden unjre Schlüffe mit Beifall oder Unwillen gebildet 
„werden.” Welche Sorgfalt haben wir aljo nöthig, über folche 
Schlüffe, ala über unfer eigen Stid- und Machwerk zu machen! 


1) gar Naclömmlinge anfehn Ternen? 
2) erwieſen, 3) erforfchen, beinah 4) ihres 
24* 


— 32 — 


Nur die rohen Materialien liegen vor uns; mas wir daraus berei- 
ten, ift unfre Geftalt, der Wahn und Traum unfrer Geele, 
und wenn Hume fogar zwiſchen der fimpelften phyſiſchen Urſache 
und Wirkung, zwiſchen einer vor uns liegenden Kraft und dem 
unmittelbaren fihtbaren Erfolg feine Kette findet, mithin genöthiget 
ift, die dem Anſchein nach offenbarften Bemerkungen unjrer Seele 
in ein bloßes Ahnen nad) der Analogie ähnlicher Fälle auf- 
aulöfen; ? wer wird bei einer ungleich feinern Verbindung zwiſchen 149 
Bewegurfahen der Seele und ihren äußern Verſuchen und 
Proben nicht zehnmal forgfamer jeyn? Der Eine, der wichtigſte 
Theil ift Hier völlig unſichtbar; und die fihtbare Probe, moraus 
wir auf ihn fchließen, ift unvollkommen, zerftüdt und mangelhaft 
in unferm Anblid. Der Eine von jo feiner; der andre von fo 
veränderlicher, taufend Zufällen? unterworfner grober Natur, das 
Band endlich zwiichen beiden mehr zu ahnen, ala zu erfaflen, 
mehr zu glauben, ala zu beweifen. ever Menjch fieht jede Sache, 
gejhweige ein fo vieljeitiges Ding, ala ein Menſchenleben ift, 
mit fo andern Augen an, prüft fie nach andern Grundfäten, ver- 
gleiht fie mit fo andern Fällen, beurteilt fie mit jo andern 
Launen; dag im eigentlichften Berftande Gott nur allein der 
Kenner und Richter unfrer Herzen und ihrer wahren fort- 
gehenden Abſicht if. Der den für uns felbit oft rätbfelhaften 
Zwed unſers Lebens erjann und feftitellte, Er überfieht auch 
unfern Zwed des Lebens, prüfet ihn bei jeder einzelnen Hand» 
lung, entwidelt unfer Herz bis auf feine verworrenften? Gefpinnfte 
und verfolgts bis in die Labyrinthe, Die wir gern vor uns felbit 
mit Nacht bededten. Er läutert ung, wie Gold im Dfen, 
und nimmt den Gerechten an, wie ein vollflommenes 150 
Dpfer. — Bor Gottes rihtendem Auge muß der Menſch aljo 
den Zweck feiner Handlungen prüfen; nicht fie einrichten nach dem 
Auge der Menfchen, feiner Zeitgenoffen ober der jo oft irrenden 


1) findet, alfo die dem Anfchein nad .... Fälle auflöfet; 
2) veränderlicher, Zufällen 3) auf vermorrenfte 


15 


Ne 


— 313 — 


und nie doch zur End- Richterin ! beftimmten Nachwelt. „Das 
„Syitem des heutigen Jahres, jagt der oben angezogene Schrift: 
„fteller, wird das Mährchen des morgenden ſeyn. Schöpft Muth, 
„ihr armen Sterbliden, die ihr unter den Nachwehen eurer guten 
„Abfichten verzweifelt und die Yerfenftihe eurer Unternehmung 
„Fühlt. Der Wille der Vorfehung muß uns angelegentlicher ſeyn 
„als der Dünkel unfrer Zeitverwandten und Nahfommen — — 
„Meberhaupt, laſſet uns nie die Wahrheit der Dinge nad der 
„Gemächlichkeit Ihägen, uns jelbige vorftellen zu können. 
„Es giebt Handlungen höherer Ordnung, für die feine Glei- 
„Hung durch die Satzungen der Welt herausgebracht werden Tann. 
„Eben das Göttliche, das die Wunder der Natur und die Dri- 
„ginal⸗Werke der Kunft zu Zeichen macht, unterfcheibet die Sit 
„ten und Thaten ausgezeichneter, ausermählter Menſchen. Nicht 
„nur das Ende, Sondern der ganze Wandel eines Chriften 
„(geichweige Chriftt) ift der Meifterplan des unbelannten, verborg⸗ 
„nen Werfmeifters, der Himmel und Erbe gemacht hat — —“ 

Glauben Sie nicht, daß ich fo fortfahren werde, m. Fr., 
denn fonft ſchiene e8 gar, als ob wir vom Lebenszweck eines Men: 
ſchen, geſchweige Chriſti gar nichts wiſſen könnten; und alsdenn 
hörte ſowohl bei mir, als bei den Gegnern meiner Meinung alles 
Urtheilen und Fragen auf, wie dies eigentlich? immer die Folge 
ſeyn muß, wenn man über Geſchichte zu ſtrenge metaphyſiciret. 
Meine lange Einleitung follte nur fo viel jagen: eine menjchliche 
Geſchichte müffe man menſchlich, nah ihrem natürliden Zu> 
fammenhange, in ihrer eigenen Farbe, nah ihrem eignen 
Geift beurtheilen; nicht ihr den unfrigen, und mit ihm den - 
Zufammenhang unſers Wahns, unſrer Willkühr, fo wie die 
Säfte unſers Herzens leihen. 

Und nun mwieberhole ich, m. Fr., die Frage: haben Ste wohl, 
ale Sie von Kind auf die Geſchichte Jeſu lafen und hörten, den 


1) fo oft auch irrenden und niemals zur Richterin 
2) und Schreiben auf, wie eigentlich 


— 314 — 


Zweck, den ihr der Verfaſſer des von Ahnen gelefenen Buchs*) 
giebt, fo gar! al fortgehenden Zweck des Lebens in ihr gehö- 
vet? Ich kann taufend ? mit Ihnen fragen, und bin gewiß, das 152 
entfchiedenfte Nein! zur Antwort zu erhalten. Wenn nun Binter 
taufenden ? Einer auftritt, und fagt: „ich Habs! ich Habe den 
„ächten, wahren Zweck des Lebens Jeſu gefunden. Er mar ein 
„moralifcher Betrüger, der König feyn, der das Synebrium, da 
„feine Gewalt Hatte, von feinen Stühlen ftürgen; fich aber und 
„die Seinen hinaufſetzens wollte -— —“ wird man nicht dieſen 
Einen ſcharf anfehn und fragen: „woher haft du das? woher 
weißt du's? Haft du etwa andre Nachrichten, andre Dofumente, 
„als wir? —“ Und menn er gerade fagen muß: „nein! die 
„babe ich nicht; ich fchließe es aber aus euren eignen“ Doku⸗ 
„menten!” wird man ihm nicht noch fchärfer ins Geficht fehn 
und fagen: „moher ? beweije deine Schlüffe. Denn NB. Schlüffe, 
„deine Schlüffe finds nur; buchftäblich fteht davon nichts gefchrie- 
„ben. Jene mußt du beweiſen, wie fi irgend Ein biftorifches 
„Mrtheil beweiſen läßt.“ 

Und wie beweijet der Autor dies fein Urtheil über den gan- 
zen Zweck eines Lebens? Damit, daß Chriftus auf einem Ejfel 
gen Jeruſalem reitet, die Wechsler aus einer der Vorhallen des 
Tempels treibt, einer herrſchenden Religionsjecte (gar nicht der 
Obrigkeit) ihrer Heuchelet in Religionsfadhen wegen Wehe zuruft 153 
und vielleicht Jahre® vorher feine Schüler ins Land umbhergejandt 
batte, die Ankunft eines ® Reichs Gottes zu verfündigen. Alfo 
aus einigen einzelnen, berausgerifjenen Handlungen, die 
theils ſelbſt nicht jagen, was fie mit aller ihnen erwieinen Gewalt 
jagen follen; theils, wenn fie felbit (mie e8 doch gar der Fall 


*) Ueber den Zwed Iefu und feiner Sünger.! 


1) hörten, biefen Zwed, fo gar 
2) taufend und zehntaufend 3) binaufpflanzen 
4) feldfteignen 5) unb Sabre 6) des 


1) „*) Weber — Yünger.” fehlt. 


— 395 — 


nicht ift) zweideutig wären, nach aller natürlichen Billigfeit mit 
anbern Tlärern, ja mit dem ganzen Leben in Zufammenbang 
geftellt und aus allen nun erſt gefolgert werben müßte: „was 
„ver Zweck und die Summe des Ganzen gemwejen ſey?“ Und mo 
bat dies der Autor gethban? wo in der Welt hat ers thun können ? 
Er Sieht fih im ganzen Geift und Yacit der Gejchichte Jeſu fo 
fehr widerlegt, daß er zu dem fchredlihen Nothzwange feine 
Zufludt nehmen muß: „wir haben ganz und gar Feine ädhte 
„Geſchichte von Jeſu. Die Evangeliften und Apoftel haben gedich⸗ 
„tet, feine Handlungen in einen ganz andern Zuſammenhang geſtellt, 
„ala in dem fie wirklich fich zugetragen u. f.” Iſt dies nun,? 
jo veißt der Faden aller Unterfuhung auf Einmal ab. So willen 
wir im adtzehnden Jahrhundert nichts Rechte von Chrifto und 
ber Verf. obgenannter philofophifher Unterfuhung muß, ftatt aus 
154 einem fo unfidern Grunde zu folgern, erſt felbjt eine Gejchichte 
Jeſu fchreiben. Er thut dies auch wirklich in feinem Bud; nur 
freilih, daß fie eine Gejchichte aus dem achtzehnden Jahrhundert, 
ohne und gegen alle Beweife aus dem Erften und alfo gewiß jeine 
Geſchichte d. i. ein erzwungner Wahn über einzelne, aus ihrer 
Drdnung und Abficht geriffene Umftände feyn möchte. ch halte 
es für äußerft unnüße Arbeit, Licht in die Sonne zu tragen und 
weitläuftig ermeifen zu wollen, mas ja alle Blätter der Gefchichte 
fagen: daß Chriftus e8 auf Fein irrbifches Reich angelegt habe, 
daß gerade das Entgegengeſetzte auf die entſchiedenſte Weiſe der 
Zweck feines Lebens geweſen ſey; oder daß er der äußerfte Thor 
hätte ſeyn müffen, wenn er auf ſolchem Wege zu ſolchem Biel 
ging — — Indeſſen, da auch Sie irre gemacht find: fo will ih 
nur einige Züge binwerfen, die feine andere Abficht haben, als 
Sie auf das zufammenhangende Ganze jelbft zu weiſen. 
Arm und in niedrigem Stande war? Chrütus gebohren, jo ward 
er erzogen, und fein Erempel eines großen Standes, nad dem Er 





1) Er fieht fich jo fehr im ganzen Geiſt .. Iefu wiberlegt, 
2) nun und wirds Einen Augenblid zugegeben, 3) wurde 


— 376 — 


hätte Streben follen, ftand ? ihm vor Augen. Nazareth war eine 
ſchlechte Stabt und Galiläa, eine arme, unterbrüdte Provinz, Er 


war feinen Eltern unterthban, heiſts, half feinem Vater im 155 


Handwerk, und ließ fih alio, (das iſt ermwiefen!) an ihren Stande 
bis zum dreiffigiten Jahr feined Lebens gnügen. Hätte ihm nun 
auch feine Mutter alle die Engelmährchen (jo wird und muß fie 
der Verf. nennen) frühe erzählt, Die vor und bei feiner Geburt 
fih zugetragen haben follten, daß aljo jtatt des Johannes feine 
Mutter die Ehrfüchtige aus dem Stamme Davids gemejen wäre, 
die ihm dergleichen Funken des Chrgeizes frühe in die Bruft gefäet 
hätte; fo konnte fie theila ohne neuen Unzufammenhang dieſer 
Erzählung nichts hineinfüen, als was ihr? der Engel gelagt, mas 
fie von den Hirten vernommen haben wollte, (und weder jene, 
noch dieſe, jprehen von einem weltlichen Weich oder geben dazu 
die mindeſte Hoffnung) theils jehen wir offenbar, daß ihre ehr- 
jüchtige Lüge auf ihren Sohn lange Zeit nicht? gewirkt haben muß: 
denn er blieb bis zum dreiffigften Jahr, was fein Vater mar, 
und in feinem Haufe. Ja, wenn noch fpäterhin feine Brüder zu 
ihm jagen: „gehe hin! in Serufalem, am Feſt iſt Schauplag eines 
„Propheten!” was antwortet er ihnen? 

Bis dahin ift aljo alles aus der Luft gegriffen; und nun, 
die Geſchichte, wie fie da liegt, betrachtet, geht Schritt für Schritt 
dem erfonnenen Wahn? entgegen. Einen Sohn Gottes, ein 
ewiged Reich auf dem Stuhl Davids fündigt der Engel an: einen 
Heiland, einen Erlöfer von Sünden, ein Neih des Friedens 
zwiſchen Gott und Menſchen verkündigen die andern; nichts 
aber, als arme Windeln werden den Hirten zum Zeichen gegeben, 
daß fie ja feinen* weltlihen König erwarten und fuchen follen. 


1) war 

2) Unzufammenbang der Lüge nichts bineinfäen, als was nach unfrer 
Erzählung ihr 

3) dem Wahn 

4) Menſchen, kündigen die andern und ihr gefammtes Chor an: 
und bie arınen Windeln .... gegeben, daß fie feinen 


— 37 — 


Zacharias in feinem Lobgefange erwartet einen geiſtlichen Erlöfer, 
wie fein Sohn ein Prophet, ein geiftlicher Vorbote feyn follte. 
Simeon fiehet ein Licht der Völker zum BPreife feiner Nation; 
aber feinen irrdiſchen König; vielmehr lieſet er in dem Scidjal 
des Kindes, daß es zum Fall, zum Aergerniß, zum Wider: 
ſpruch! in Iſrael geſetzt fey, eben weil e3 auf eine fo fonderbare, 
ungeglaubte Art das Reich Gottes verfündigen und alfo nothwen- 
dig allgemeinen Widerſpruch haben müßte. Halte man alle dieſe 
Umftände des Anbruhs feiner Erfheinung zufammen, bei 
der Doch nothwendig, wie bei einem aufgehenden Stern vom Evan- 
geliften die? Erwartung aufs höchfte gejpannt werben mußte, und 

157 fehe die durchhingehende Demuth, die gehaltne jtille Beſcheiden— 
beit und Geiftigfeit (wenn ih fo jagen darf) ſowohl des Hel- 
den jelbft als feines Berfündigers, jelbft in der Glorie des 
Anfangs diefer Geſchichte? — leſe man diefes und zwinge das 
Samenlorn des irrdiſchen Reihe hinein! Wo fand fid Chriſtus 
zum eritenmal zu Haufe? wo erwachte zuerjt feine jugendliche Seele 
mit ihren Lebensplane? Im Pallaft oder im Tempel? Und in 
diefem als ein irrdiſcher König oder ala Schüler, Lehrer, Pro- 
phet? Wie bier die aufbrechende, noch hakbgeſchloſſene Blüthe 
war, jo war die Frucht feines Lebens. Es ift die allgemeine 
Srfahrung, daß diefe fi immer in jener anlündigt, und daß 
man von jener ficher auf diefe, nicht auf ihr gerades Gegentheil, 
Ichließet. 

Er kam zur Taufe Johannes: noch eine verhüllete Knoſpe, 
offenbar ohne Unterſcheidung, ohne Erwartung der Begebenbeit, 
die vorging. Möge fein Better Johannes über ihn gedacht haben, 
was er wollte: wie beſcheiden antwortet ihm Jeſus! Möge er 
auh nachher von ihm und diefer Begebenheit ſprechen, was er 
will: immer fagt Jeſus: „ich nehme nit Ehre von Menfchen, 





1) Widerfprechungszeichen 2) Stern die 

3) darf) ſelbſt in der Glorie des Anfangs biefer Geſchichte, die ber 
Autor ohne Zweifel Roman heißen wirb und die bier alfo mwenigftens nur 
ein geiſtiger, himmliſcher Roman fein könnte 


— 318 — 


„ih bedarf nicht Kohannes Zeugniß!“ Und diefes jagt er nicht! 158 
etwa aus liftiger Ehrbegierde, wie ein Scythe, der fliehend fiegen 
oder wie Cäfar, der zurüdichiebend die Krone haben will: fondern 
eben, da er ſcharf für feine Ehre, für fein Anſehn, nur für fein 
rechtes Anſehn ftritt; und dies mar allerdings von ſolcher Natur, 
daß es des Vetters Johannes ? nicht nöthig hatte. Sey aljo die 
Erklärung bei der Taufe ein Geficht gemefen! (daran zweifelt nie- 
mand, denn die Taube ließ fi) wohl nicht greifen, faß ihm auch 
nicht auf dem Kopfe; die Zeit ift auch vorüber, da ſich ganze Länder 
darüber trennten, ob der Schein dabei erichaffenes oder unerfchaffenes 
Licht war) ſey es auch fogar Johannes Gefiht allein geweſen, ohne 
daß die Menge es ſah, oder eine Menge babei war; alles dies 
thut, dünkt mic), abermals nichts zur Sade:? denn gnug! bie 
gehörte oder erbichtete Stimme rief ihm nit zu: „jey König!“ 
jondern „ſey Prophet! Du bift mein Vielgeliebter!” So ver- 
‚ ftand fie Chriftus: denn fogleich nach der Taufe ſuchte er — nicht 
den Königspallajt, fondern die Wüfte, fih zum Propheten zu 
weihn mit Faften und Beten: und eben dahin führte ihn der 
Geift: derfelbe Geift, der bei der Taufe auf ihn herab fam und 
alſo doch der Geift "vom Zwede feines Lebens ſeyn mußte.* Der 
Better hatte es aljo vor der Hand übel ausgedacht, daß er die 159 
Stimme nichts anders fagen ließ und feine andre Erſcheinung 
ausſann; fie accrebitirted Chriftum gar nicht zu den Zweck, in 
bem er fih nach des Voll! Wahn ald Meßias darftellen mußte. 
Und welche Kühnheit ift endlich dies erbichtete Complot, zu dem 
doch Fein Schatte vom Schatten in der Geſchichte vorhanden ift!® 
Was Half denn Chrifto die ganze Lüge der himmlifhen Taube 
zu einem Königsfcepter? Hätte? er fie auch auf dem Kopf mit 
fih getragen; dabei aber den Geift, der ihn befeelte, den Cha- 


1) Und fagt biefes nicht 2) Vetters⸗Johanns 

3) war; thut, dünkt mich abermals nichts zu diefer Sache: 

4) Geift: der Geift, ber über ihn bei der Taufe berablam und aljo 
ein Geiſt dieſes Zwecks ſeyn muſte. 

5) Erſcheinung heckte: fie kreditirtete 6) vorhanden! 7) B: Hatte 


— 379 — 


rakter eines Bielgeliebten Gottes, der um ihn, wie Grazie, 
flog, nicht thätlich in feiner Perſon gezeiget:! fo war ja bie 
Züge belachenswertb. 

Sehen wir die Geſchichte abermals, wie fie dafteht, in ihrer 
unfhuldigen Beſcheidenheit von Seiten Jeſu, Johannes, des wun⸗ 
derbaren Symbols ſelbſt, nebſt allem, was vorging und folgte; 
welch einen gegenfeitigen Sinn verräth fie, als jene Betrugsge⸗ 
Ichichte Dichte! „Ein Gottes- Lamm, das die Sünden ber Welt 
„trägt!” das war Johannes erfte Anficht, fein erfter ? Winf und 
Bud auf Jeſum. Himmliſchen Geift erkannte er in ihm, zu 
dem alle feine (Johannes) Gaben nur Erdenfrüdhte wären. Auf 

160 ihm ruhe Prophbeten-Geift ohne Maas, ein auszeichnenbes ? 
Gottes» Siegel. Zu dem Zwecke wies er Jeſu Schüler zu — 
Schüler, nicht Unterthanen, nicht Knechte. Wer jagen kann, daß 
Johannes Predigt, wie er fie der gefammten Nation jomohl, als 
einzelnen Ständen that, ein irrdifches Weich habe vorbereiten 
können oder vorbereiten * wollen; der kann alles fagen! — 

Fürchten Sie nit, daß ich die ganze Geſchichte jo durchgehen 
und jebes verrenfte Glied, jeden verftellten Umstand zurechtftellen 
werde; nur noch wenige entjcheivende Hauptzüge! Als Jeſus in 
der Wüſte faftend und betend ſich zum Prophetenamt zubereitete, 
legte ihm Satan auch den Plan vor, ein Herr der Welt zu 
werben, und wofür hielt ihn Jeſus? Yür das, was er war, für 
einen ſchlechten Zweck feines ® Lebens, der durch Nieberträctig- 
teit, durch Teufeld- Anbetung erlauft würde und den Dienft 
Jehovahs, zu welchem Er dajey, gerad wideripredhe.” Laſſen Sie 
diefe Geſchichte für Gejchichte oder für Gefiht und Symbol ® gel- 
ten: (unter lauter Geſchichte fteht fie und ſoll zur Geſchichte berei- 


1) Hätte er .... getragen; und zeigte ben Geiſt, der ihn befeelte, 
den Bielgeliebten .... nicht thätlich: 

2) Anficht, erfter 3) das ausgeichnende 

4) können, vorbereiten 5) vor, Herr 6) des 

7) Jehovahs widerſpreche. 

8) oder Geſicht, für Symbol oder für Wahrheit 


ten!) ald Geſchichte der Seele Jeſu, ala Symbol Jeines 
nun öffentlih-angehenden Lebens müfjen Sie fie gelten 
lafien, und da iſts gerade die Herrlichfeit der Erde, die Diefer 
Süngling auf dem Scheidwege feines Lebens ausſchlägt. Die 161 
erfte That, die er begann, nachdem ihn Engel des Sieges nad) 
jeinem beftandenen Kampf umfingen,! war, daß cr ans Galiläifche 
Meer ging, und fih aus feiner Gegend, von feinen Bekannten, 
in feinem Stande Schüler wählte; einzelne erwachſene Schüler, 
wie fie damals jeder Nabbi, jeder Lehrer hatte Site begleiteten 
ihn, wie es bei den Jüdiſchen Lehrern Gewohnheit war; er trug 
ihnen fein Wort vor, wie mehrere ihr Wort vortrugen, in Para- 
bein und Sprüden, noch mehr in feiner ganzen Lebensweiſe 
und Ordnung Wer diefe Schüler mit den Unjern vergliche, 
ginge völlig aus jener Zeit heraus, in der man weder unjre Lehr⸗ 
methode, noch die Policei unfrer Staaten juchen muß. Im Füdi- 
ſchen Lande, fehen wir, waren dieſe erwachſnen Schüler nit auf- 
fallend; der wahren Weisheit find fie aud in andern Ländern nie 
auffallend geweſen: denn will dieſe nicht Männer? lehret fie fich 
nit einzig in Thaten und in ber ganzen ? Lebensweiſe? Wie 
wurde Socrates, wie wurden in Rom die Redner und Führer des 
Staats von erwachſnen Lehrlingen, die fih nah ihnen bilden 
wollten, täglich beſucht und begleitet ? | 
Und was jprad er nun zu diejen Sünglingen und Männern? 162 

worauf bereitete er fie? zu fiten auf zwölf Stühlen? oder zu 
leiden, zu dulden, fich felbft und alles verläugnen zu lernen, 
nah Ruhm vor Gott, nad feiner Gerechtigkeit, Liebe und Lohn 
zu trachten und alles dagegen zu verahten? Die Reden eu, 
die wir haben, find alle moralifcher, und von der höchften mora- 
lifchen Natur; infonderheit ift8 die jogenannte Bergpredigt, bie 
doch eigentlih als eine Einleitung feiner Jünger in ihre 
neue Schülerpflidt und aljo aud in ben ganzen Lebens⸗ 
zwed ihres Lehrers und ihrer ſelbſt dafteht. In ihr find 


1) des Siege umfingen, 2) und ganzer 


— 881 — 


offenbar die angezeigten Pflichten und Beſtrebungen nicht nur etwa 
vorläufige Erforderniſſe zum Reich Gottes, ſondern aufs augen⸗ 
ſcheinlichſe Seligkeiten des Reichs Gottes ſelbſt, dazu er ſie 
beruffen bat und einladet, das alſo unſtreitig geiſtiger Art 
it. Die Verläugnung alles Irrdiſchen tft jein erftes Erforderniß 
und mit ber Freiheit, die e8 der Seele verleihet, zugleich fein 
Haupflleinod. — Und genau ift dies der Geiſt aller Reden Sefu. 
Er jpriht von fih als einem Arzt der Kranken, einem Hirten 
verlohrner Schafe, einem Verkündiger des Evangelium für Arme, 
als einem geiftlihen Säemann, Fiſcher u. dgl. nie aber, aud 
163 feinem ins Ohr, von fi als einem fünftigen Ufurpator.! Lefen 
Sie doch alle Aeußerungen Chriftt über fich, über fein Wort, über ven 
Zwed feines Lebens ;? und laſſen den gefunden Sinn, die offenbare 
Billigkeit richten. Die haben wir nur, fie haben wir allein, fie 
ſchließen alle Erbenpolitil, wie Feuer das Waſſer aus; und wo find 
nun die politiihen Reden Jeſu? mo find die Matinees Royales aus 
feinem Munde??? Die muß man uns erft geben. Das wenige, 
das bieher gezogen wird, die paar Parabeln, die ausbrüdlich dem 
großen Haufen dunkel ſeyn jollten, erklären fi ja, mwenn man 
fie mit dem Klärern vergleicht, felbft, und Haben ihre Auslegung 
mit ſich. Chriftus z. B. will die Urſache“ angeben, warum jein 
fo reines, geiftiges Wort nicht überall fo rein falle? warum fo 
viel Same verlohren gehe und das Ne noch jo viel faule Fiſche 
ziehe. Dies war den nähern Schülern zu wiſſen und zu behalten 
nöthig; daher es Chriftus auch in einigen Gleichniſſen wieberholet. 
Er rechtfertigt damit fih und feine Lehre, er warnt,® ermahnt, 
tröftet, muntert auf — — Was foll ich Alles durchgehn? In 
diefem Geift wurden auch die Apoftel zur eriten Probe ausge- 
fand. Als Hirten zu verlohrnen Schafen, ala Arbeiter 
in die Ernte, wo fo wenig ächte Arbeiter wären. Sie follten 


1) Ufurpatoren. 2) fih, fein Werk, feinen Zweck bes Lebens; 
3) politifhen? Die Matinees Royales aus Ehrifti Munde? 
4) Chriſtus will Urſache 5) Lehre, warnt 


— 32 — 


aber freilih mehr zu ihrem Lehrer einladen, als daß fie felbft 
ſchon lehren konnten: fie follten nur verfündigen, daß das 164 
Reich Gottes in folden, vom Voll! verfannten und verfäumten 
Begriffen daſey: fie follten die vom “oc der Phariſäerei zerdrück⸗ 

ten Gemüther zum janftern Joh Jeſu, d. i. zu feiner erquidenden 
Lehre, laden. — — Daß diefes Punc für Punct dem Sprad- 
und Sadhengebraud der Zeit gemäß ſey, kann aus den Scrif- 
ten Jüdiſcher Lehrer deutlich erwiejen werben; Lightfoot, Schött- 
gen u. a. habens aud wirklich, ja ich möchte jagen, Wort für 
Wort ermiefen.? 

Und nun die Wunder Jeſu? Warum fie nicht mehr, nicht 
tiefer wirkten, gehört bieher nit; daß Chriftus fie aber nicht als 
eine Leiter zum Thron gebraudt Habe, ift augeniheinlid. Cr 
entfloh ihnen fo oft und allemal, wo er fie ala Marktichreierei 
thun follte: er that fie, fo viel möglich, geheim; verbot ihre Aus- 
breitung, entfloh dem Boll, das ihn eines Bauchwunders wegen, 
zum Könige machen wollte, und fagte ihm, er fagte® jeinen Yein- 
den, die Wunder foberten, darüber die ernite, bittere Wahrheit, 
daß er zu etwas Anderm und Beiferm gelommen fey, als ein 
Wunderthäter für ihre finnlihen Bebürfniffe zu werden Was 
folte, mas fonnte er mehr thun? its nicht fonderbar,® daß 165 
Chriftus, er made, wie ers will, es niemals zu Dank madt? 
Thut er Wunder; fo ift er Marktichreier und Betrüger; thut er 
fie nicht, fagt er, daß feine Lehre, fein Zeugniß, fein Wert 
und Zmwed auf Erden von Wundern unabhängig fey (mas jegt 
ja bei allem, mas Wahrheit ift, unfre ® Philofophen demonftriren) 
fo it er „Augen- und Wunderſcheu: er will feine Handlungen 
nicht laſſen prüfen.“ Läßt er jene Leute auf den Gafien ruffen, 
jo thut er nicht vet, er Hätte ihn gebieten follen, zu ſchweigen; 


1) ſolchen, von ihnen 

2) kann beutlich erwiefen werben. („Ligbtfoot — erwieſen.“ fehlt.) 
3) ihm, fagte 

4) als ihr Marktichreier und Wunberthäter zu werben. 

5) klaglich, 6) alle 


— 383 — 


verbeut er einzelnen Leuten (denen fich allein verbieten läßt: 
denn dem großen Haufen das Gefchrei unterfagen, heißt: ihn zu 
größerm Geſchrei auffobern und alle Steine fchreienb machen) ver» 
beut er einzelnen Menſchen, die er eben durch das Gefühl der 
Dankbarkeit in feiner Gewalt hat, das Auspofaunen feiner Wun- 
der: fo ift ihm das „Ehrgeizige Argliſt.“ Ohne Zmeifel fällt 
Ihnen die Fabel von jenem Mann, Sohn und Efel ein; und. nun 
rathen Sie dem Mann, wie ers mit feinem Sohn! und Ejel 
machen fol, um ja den rechten Zmed feiner Reife jedem Vorüber⸗ 
gehenden jo klar zu machen, ala Er, fein Sohn und das Laft- 
thier? felbft find — — 
Gnug für heute. Ich fehe, ih muß noch einen neuen Brief 
166 dran wagen, meil die wirklich wichtigern Bebenflichfeiten noch 
unberührt find. Glauben Sie nit, daß ich vom Verf. des Buchs 
ſchlecht oder gar hämiſch, läfternd und lieblos denke, meil ich bie 
Sache jo anders anjehe, als er fie angefehen bat. Vielleicht ift 
das mehr unfre Schuld, als die Seine. Warum fchrauben wir 
jeden Zug im Leben Jeſu jo oh? warum machen wir alles 
menſchliche in ihm fo un- oder übermenfhlih? Da fol er 
nichts, wie andre Menſchen, gethan, gedacht, gefühlt haben; Er, 
der doch nach dem fo öftern Zeugnik der Apojtel und nah dem 
. offenbarften Anblid feines Lebens ein Menſch, wie wir, an 
Gejinnungen und Gebehrden d. i. an Lebensplan? und Lebens» 
weile, ſelbſt am Mitgefühl unfrer Schwadheiten und alle 
der Seiten der Menfchheit, wo fie Mitleid und Erbarmen nöthig 
bat, ein Menſch wie wir war, doc ohne Sünde. Eben das war 
der Zweck und Knote feines irdifchen Lebens,“ um in Gehorſam, 
Geduld und Mitgefühl unfrer Schwachheiten geübt zu werben, und 
denn Richter und Borfprecher ſeyn zu können auf dem Throne der 
Gottmenſchheit. Wenn fo oft diefer laute Ton vom Zwed des 


1) mit Sohn 2) Er, Sohn und Eſel 3) d. i. Lebensplan 
4) war Zwed und Knote feines niebrigen Lebens, 
5) Ton bes 


— 334 — 


Lebens Jeſu verfannt, und Er auch im Geringften jo unüber— 
fehbar und unergründlich gemacht wird, daß ſich aller geſunde 
Anblick auf ihn verlieret; freilid fo drängt fich bei andern bas 167 
Gefühl, daß das doch nicht Alles, jo angeſehen, natürliche 
Anfiht fey, zur größten Schiefheit ihres Blicks zuſammen. Gie 
wollen durchaus nicht jtehn, wo jene ftanden, meil das unmöglich 
der rechte Geſichtspunkt ſeyn könne, und treten, wo fie noch übler 
jehen, auf die fchrägefte Gegenfeite.e a, mußten fie, da es noch 
Zeit war, mit ihrem Urtheil ſchweigen, lebten fie vielleiht an 
Dertern, wo fi nur jo etwas merken zu lafjen, ihr entichiebenfter 
Schimpf und Ruin geweſen wäre; mas bleibt ihnen übrig, m. Fr., 
ala gegen den jchreienden Wöbelverfiand, (mie fie es wenigſtens 
dafür halten) ihre bittre Galle zufammen zu drängen und wenn 
fie fie im lebendigen Leben bei Leibesgefahr bis zur Verhärtung 
in fih halten mußten, ihr wenigftens in Schriften und auf folche 
Weiſe Luft zu ſchaffen? Kein Kluger wird es aljo dem Heraus- 
geber verübeln, daß ‘er die Schrift, die in vielen Händen war, 
befannt gemacht und nad der Weije der alten Aegypter den Kranken 
an den Markt gelegt bat, da nun jeder, der da will, ihn furiren, 
oder an ihm doktern ober an und über ihm ftubiren Tann! — 
Was mich fchmerzt, it, daß man die Schrift (nicht auf eines jonft 
jehr verdienten todten Mannes, denn dem kann unſer Urtheil nicht 
mehr fchaden, ſondern) auf Rechnung eine eben fo verdienten 
lebenden Mannes*) ſetzt, defien? Denf- und Schreibart Doch mit 168 
dem Geift dieſes Buchs fo Iontraftirt, daß ich eher mich felbit, als 
ihn zum Verfaſſer angeben möchte. Aber fo tft die Deutungsfucht 
der Menſchen; fie findet e8 immer leichter, nach dem Autor zu 
rathen und ihn zu läftern, als das Buch zu widerlegen und zu 


*) Auch diefer ift jett in der Ewigkeit und bat in feinem Leben gnug- 
ſam bezeugt, daß er gegen das Chriftenthum nicht gefehrieben Habe und nicht 
ſchreiben mwollte.! 


1) Bat, daß nun jeder .... ftubiren könne. 2) deſſen Seele, 


13,,9 Auch — wollte.“ fehlt. 





169 


— 385 — 


verbefjern. Ich wollte, daß ftatt alles Gejchreies dagegen jemand 
in der Stille ein befjeres: vom wahren Zwed Jeſu und jei- 
ner Jünger gejchrieben hätte, von dem, als von einem Evan- 
gelium für unfre Zeit, ohne ein Wort Widerlegung, das Erfte 
wie die Nacht vom Tage verbrungen wäre. Sie fagen vielleicht: 
warum fchrieben Sies nit? meine Antwort iſt unverholen, meil 
ichs mir nicht zutraute und auf andre gefdhictere Schriftfteller, Die 
zu ſolchen Widerlegungen dafind,! warten konnte. Auch jetzt hätte 
ih fein Wort davon gefagt, wenns mir von Ihnen nicht abge- 
zwungen wäre. Leben Sie wohl. 


Seh und dreifligfter Brief. 


„Hats nicht aber edle Menfchen gegeben, die eine Reihe von 
„Sahren, die fchönfte Zeit ihres Lebens, gut durchlebt Hatten und 
„doch von ihrer Höhe fielen? Ihre reine Abfiht ward unrein, 
„ihr Eifer fürs allgemeine Befte ward Eigennug? und Habſucht, 
„ihr edelſter Stolz Eigenfuht und Hochmuth. Wäre es nun jo 
„mit Sefu — —“ Laflet uns fein wäre? fonderd wars? ſetzen: 
nicht was gefchehen feyn könnte, fondern was geſchehen jey? fragen. 
Und da ift von jener Suppofition® nichts gejhehen. Die uns 
feinen legten Einzug erzählt haben, jagen und aud: „ed war ein 
„Einzug zum Tode, er mußte e8 vorher, er kündigte ihn aufs 
„Ipeciellfte mit allen Umftänden an;“ ja, fie jagen zugleih: „woher 
„er folches gewußt habe?" Durchs Geficht jenes Berges nehmlich, 
da Mofes und Elias von feinem Ausgange zu Jeruſalem mit 
ihm ſprachen, und er von Stund an von Leiden, Kreuzigung und 
Tod redete. „Aber wenn ers eben darauf gewagt hätte?" Und 
was hätte er denn gewagt? Was unternahm, was that er? Die 


170 Taubenkrämer aus dem Tempel treiben, konnte ja nad Jüdiſchem 


— — — — — 


1) Widerlegungen in Amt und Solde ftehn, 
2) Befte Eigennuß 3) von jenem Wäre 
Herders ſämmtl. Werke. X. 25 


‘ 


— 386 — 


Rechte jeder Zelot, ohne dazu einen Schein von der Policei oder 
dem Synedrium zu bedürfen, die ihn auch wahrſcheinlich verſagt 
hätten. Den Heuchlern Wehe zugeruffen hatte er längſt; jetzt that 
ers lauter, weil ſeine Zeit kurz war und dringend ſeine Eile. Es 
war die letzte Stunde am Tage feines Lebens. Und noch, mie! 
hängt das Alles mit Thron und Königreih zufammen? Dorfte 
ers nicht dem Pilatus ins Gefiht jagen: „mein Reich ift nicht 
von diefer Welt. Wer bat mich dir überantwortet? nicht deine 
Römer!" Konnte ers nicht der Rotte, die ihn fing, ins Geficht 
jagen: „ihr fommt zu mir, wie zu einem Mörder. Bin ich nicht 
täglich bei euch im Tempel gewejen und babe gelehret und ihr 
habt mich nicht gegriffen; aber dies ift Eure Stunde.“ Und mo 
griff man ihn? Außerhalb der Stadt, im Garten: weil er fi 
in Jeruſalem nicht mehr fiher wußte für? Nachftelungen und 
erlauften Mördern. Worüber traf man ihn? Im Gebet. Wer 
war bei ihm? feine arme wehrloſe Jünger, die ihn fogleich fliehend 
verließen. — Wahrlich, wenn dieſe Umftände hiſtoriſche? oder 
gerichtliche Ermweife feines Aufruhrs, feiner Empörung gegen bie 
Landesobrigfeit waren; jo bewahre Gott einen jeden vor dem Blut- 171 
urtbeil folcher Deuter.* Nach achtzehn hundert Jahren wiſſen fie 
die Sache beſſer, als der Partheilofe Richter, Pilatus: denn der 
bezeugt Einmal über das andre und bis an fein letztes blutiges 
Wachen der Hände, daß Er feine Schuld an ihm finde. 

Iſts nicht ſchrecklich, feiner trüben Laune® fo freien Lauf zu 
laſſen, daß man die unſchuldigſten, beftgemeynten 7 Dinge, ärger 
ala die Feinde jelbft, zu Bergen des Verraths und ber finnlofe- 
ften Unternehmung thürmet? Sprach Chriftus nicht, wie lange 
vorher, jo auch infonberheit jego von feiner Zukunft zum Reich, 
als einem ganz andern Reihe? Sprach er nicht lange vorher 


1) Und mein! wie 

2) weil er lange in Ierufalem nicht ficher gewefen für 

3) wenn das hiſtoriſche 4) Philoſophen. 

5) bezeugt mal über mal 6) feiner Galle 7) beftgemeinteften 








ſo? Er mies feine eitlen Jünger und ihre närriihe Mütter mit 
ihren Rangjtellen ab und prebigte ihnen dagegen Knechtsdemuth. 
Auch eben jeht in ben letzten Tagen jagt er ihnen fein bittres 
Schickſal voraus, ein Schickſal der Kreuzigung und bes Todes; 
jagt der Stabt, dem Tempel, dem ganzen Lande Ruin und Unter- 
gang voraus und das noch eben in ber Generation, die Damals 
um ihn ftand, die ihn überleben und dies traurige Schidfal 
erleben würde; und dies Alles, wie wir aus ber Anklage ber 

172 Zeugen jehen, beförberte ja eben mit fein Ende. —! D, wenn 
wir die Sache fehen wollen, wie fie da ift: wie natürlicher Liegt 
Alles! Sind nicht die Nägel, die ihn ans Kreuz heften mußten, 
viel ungejucdhter vor und? und waren alle die Umſtände und 
Neben, wie fie die Evangeliften anführen, nicht eine viel mehr 
pragmatifche Beförderung feiner Gefangennehmung und feines 
Todes? Leſe man den Joſephus, und fehe ins Buch der dama⸗ 
ligen Seit: paßt etwas mehr hinein, als die Geſchichte, wie fie 
fih hier zutrug und genau, mie fie bier erzählt wird? Was 
ift jodenn aber unfchuldiger, als die letzten Neben und Schritte 
Jeſu? Gewiß, er lief nicht ins Schwert: er ftürzte fi nicht ins 
Verderben. Er fah den Kelh kommen und wünſchte, daß er 
vorüberginge; da es aber ſeyn mußte, jo nahm er ihn — aus 
den Händen nicht feiner Feinde, jondern des Vaters. 

Haben Sie je, m. Fr., am Scidfal eines Unfchulbigen in 
der Römiſchen, Griehifhen, ja jeder bürgerlichen Gejchichte Theil 
genommen, jo werben Sie's bier thun können, wenn Sie ben 
Gang des ſchändlichen Nachtgerichts und infonderheit die man 


1) Sprach er nicht Tange vorher fo? mies feine .... Knechts⸗ 
demutb? Sagte er auch jetzt nicht in dem letzten Tagen ihnen das bit- 
terfte Schichſal voraus, ein Schidfal bis zu Kreuzigung und Tode? 
fagte er nicht der Stabt, dem Tempel, dem ganzen Lande baffelbe, 
einen völligen Ruin und Untergang eben in ber Generation voraus, bie 
damals ſchon um ihn fland, ihm Überleben, aber auch dies traurige Schid- 
fal erleben würde? Und beförberte dies Alles, wie wir aus ber Anklage 
ber Zeugen feben, nicht eben mit fein Ende? — 

25 * 


— 388 — 


nichfaltigen Bemühungen Pilatus, den offenbar-Unſchuldigen 173 


[08 zu maden, verfolgen. Und wenn Sie je Simplicität, ein- 
dringende Wahrheit in der Erzählung eines Tumultmordes aner- 
fannt haben, fo ifts bier. Nennen Ste Einen Umftand, ber 
gegen den Charakter der Perfonen und der ganzen Zeitverbindung 
wäre! — 

„Aber noch vor feinem Ende hat Chriftus eine offenbare Un- 
„wahrheit gejagt, wo ihn die Zeit unmiderleglich Lüge geftraft hat. 
„Er wollte nehmlih wiederfommen, ſichtbar in der Generation 
„wiederkommen, die damals lebte und wie lange ift die tobt!” 
Ich muß fagen, daß eigentlich im ganzen Buche mir dies das auf- 
fallendfte gewejen, zumal da der Autor e8 auf eine jo ſchneidende 
Spige ftellt und von nichts Wenigerm jpricht, als von einem fo 
offenbaren Erweiſe der Falſchheit des Chriſtenthums, als wir nur 
immer den Mahomedanern vormwerfen könnten, wenn die Lüge 
wahr wäre, daß Mahomed am dritten Tage habe aufftehen mollen 
und noch bis jetzt nicht aufgeftanden ſey. Auch jeßt es der Verf. 
fehr ins Licht, warum diefer Lügen - Erweis dein Chriftenthum 
habe bleiben müfjen und nit aus feinen Büchern hinmeggetilgt 
jey? Gutherzig glaubte man immer: „er werde, werde kommen! 
„Er babe e8! zugelagt und die Zeit, die höchfte Zeit ſey da!” 
So ſey Einer nah dem andern, zulegt auch der alte Johannes 
mit feinem „Kinblein! es ift die lebte Stunde!” geitorben und 
nun ftehe der Fleden unausgetilgt, unaustilgbar da — —? Was 
wäre gegen das fürchterlihe Argument zu jagen ? 

Nichts, als was Chriftus jagt: „von dem Tage und von ber 
„Stunde weiß niemand, aud die Engel im Himmel nicht, aud) 
„des Menſchen Sohn nicht; allein der Vater!" Das jteht fo 
offen da, als jenes Verſprechen und, mid dünkt, dadurch wird 
das 3 fchneidende Schwert auf Einmal ſtumpf. Wußte Chriftus 
niht3 von dem Tage und der Stunde, befannte ers frei, daß 


1) Er hab's ja fo 2) unaustilgbar — — 
3) als jene Verheißung und, mid dünkt, fie macht das 


174 





— 389 — 


ers nicht wiſſe; fo darf ers auch nicht gewußt haben, eben meil 
erd nicht wußte. Er mußte auch nicht, ob auf jenem Feigenbaum 
Feigen waren, ja er irrte fi fogar, da er fie darauf ver: 
muthete, wie das unläugbar dafteht. Hier will ers ausdrücklich 
nicht wiffen und fo dorfte er ſich aud nit irren. Er ſpricht 
aber von einer doppelten Zukunft, die er ziemlich unterfcheibet: 
vom Untergange Jeruſalems und des Tempels, deſſen Zeit er 
175 weiß und die er mit ausgezeichneten ! Umftänden vorherfaget. Die 
gefchahe in der Generation, die um ihn ftand; dagegen ift aljo 
nicht3 zu fagen. Mit diefer verbindet er eine andre, höhere, von 
jeiner fihtbaren Ankunft und der völligen Revolution aller Sicht⸗ 
barkeit; deren Zeit aber weiß er nit. Er knüpft fie nur mit 
einem „bald nah dieſem!“ dem Ende Jeruſalems nehmlich an 
jene und läßt fie in diefem ungewiſſen Bald ſchweben. Die Apo- 
jtel desgleihen und find der abmeifenden Rede eingedenf, die ſelbſt 
der aufermwedte, erhöhete Chriftus, der jeßt ohne Zweifel in die 
Dauer und Revolutionen des Reichs Gottes tiefer hineinfah, ihnen 
noch unmittelbar vor feiner Auffahrt? gab: „es gebühret eud) 
„nicht zu wiſſen Seit oder Stunde, welde der Vater 
„Seiner Macht vorbehalten hat.” Hiemit weiſen fie die Yra- 
gen der Neugierde ab, beharren aber auf dem „Bald!“ ihres 
Herrn und knüpfen eben die Lehren und Beweggründe der Wach⸗ 
famfeit, einer augenblidlichen Treue und eines ftünblichen War- 
tens daran, die Chriftus in fo ernften * Gleichniffen daran knüpfet. 
Sie fegen alfo nad ihrem menschlichen und Jüdiſchen Geſichtskreiſe 
beide dicht zufammen oder gar unter einander, wie ed aud? 
176 die Evangeliften zu thun fcheinen; dies alle aber ift Bürge von 
ihrer Integrität? und Redlichkeit in Aufbehaltung dieſer legten 
Worte. Sie fegen fomohl das: „bald nah dieſem“ ala das 





1) den ausgezeichnetften 

2) auferwachte, erhöhete Chriſtus, der jetzt ohne Zweifel ſchon mehr 
wußte und in die Dauer des Reichs Gottes tiefer hineinſah, ihnen noch 
unmittelbar am Fußſchemel feiner Auffahrt 

3) rührenden 4) auch felbft 5) Ingenuität 


— 590 — 


„in diefer Generation” als dad „von dem Tage und ber 
„Stunde weiß niemad” treu zufammen, die fi) fonft zu wider- 
ſprechen ſcheinen; daß fie fich aber nicht widerſprechen, hat die Zeit 
erwiefen. Eine Zufunft, das Bild der andern, ift erfüllt zu ber 
Zeit, die Chriftus nannte; Die andre wird erfüllt werden. Er 
wußte nicht ihre Zeit: wir follen fie nicht wiſſen: das Einzige 
moralifhe „bald“ fol uns in Erwartung und Zubereitung halten. 
Wo ift nun, m. Fr., dieſes zweiſchneidigen Schwerts Schärfe? 
wo wäre fie jelbft, wenn wir gerade zu befennen müßten, Jeſus 
babe fi in der Nähe dieſes Bald, wie dort bei dem Feigenbaum, 
geirret? mas fchabete es, da ers ausdrücklich nicht willen, alfo 
auch nichts beftimmen wollte? Und wie matt wirb nun ber 
Spott des Verf. über die Rechnung Petri von taufend Jahr und 
Einem Tage! Sie fagt nicht ! mehr, ala: „ich weiß nit! und 
„ihr jollts nicht willen! Ahr follt aber ftünblich warten und den 
„Aufihub zu eurer Beſſerung brauchen.“ — 

Auf mande andre Kleinigkeiten und Nedereien lafje ich mich 177 
nit ein. Iſt Chriftus gerechtfertigt, fo finds aud die Apoftel 
nah ihrem Maaße. War der Lehrer fein Betrüger, fo mer: 
dens auch die Schüler nicht ſeyn, wenigſtens nicht ſeyn dörfen. 
Hat der Herr kein irrdiſches Reich begehret: ſo dörfens auch die 
Knechte nicht bemänteln und in ein geiſtlich Reich verwandeln. 
Sie waren die rechten Verwandler! ſie, denen noch bis zur letz⸗ 
ten Minute der Auffahrt hin, felbft da fie ihn auferwedt in einem 
jo neuen Leben gefehen und gehört hatten, der irrdiſche Traum 
ihrer Nation, immer im Herzen ftedte. Und wenn und mo ver- 
wandelten fie? wer hatte fie die? Kunft gelehrt, aus einer fo 
andern eine jo andre Sache berauszubringen, biefe in einen fo 
treflihen Zuſammenhang zu feben, ber doch jetzt in allen unfern 
Evangelien, vom erften bis zum lehten Zuge unläugbar ift, auf 
den fih von nun an ihre ganze Denk-Seh⸗ Schreib- und 
Wirkungsart, ja ihre Mühe, Arbeit, Noth und Tod beziehet, 


1) nichts 2) die’ Chymifche 


eine Wahrheit, für! die fie leben, für die fie fierben. So was 
erlügt fih nit: e8 wäre in ber Welt bie einzige Lüge. — Und 
fie verbergen ihre vorigen elenden, fleiichlichen Begriffe auch nicht, 

178 verſchweigen nicht die Mühe, die Jeſus fich mit ihnen, Unwürdigen, 
gegeben habe u. f. — Was in aller Welt wärs, warum man 
diefen Leuten alles Natürlide nicht glauben und alles Unnatür- 
liche Unzufammenhangende, Unbewieine und ewig Unermeisbare 
(wenn nehmlich feine neue Documente gefunden werben) aufbürben 
wollte! Mich dünkt, wenn die Geſchichte Jeſu verftimmt merben 
follte, fie hätte mit mehrerer Wahrſcheinlichkeit können ver- 
ftimmt werben. —? 

Auf die einzelnen Spöttereien über die Begeifterung voll füßen 
Weins, über die Apoftel- Kaffe und Gütergemeinichaft, über ihre * 
Citationen aus dem U. T., ihre Erweiſe und Predigten laſſe ich 
mi nicht ein; über Einen diefer Punkte habe ich meine Meinung 
ſchon gejagt, über die andern wird ein andermal Beit ſeyn. Es 
ift Zeit⸗widrig,“ fih die Jüdiſche Policei, wie die unfre zu den⸗ 
fen, und wenn die erften Chriften im Feuer bes eriten Eifers, in 
Furcht vor dem Drud ihrer Yeinde, vielleicht auch gar in trügen- 
der Erwartung bes nahe bevorftehenden Endes von Judäa, den 
Verſuch einer Platonifchen Republit machten, der fih in kurzem 

179 von felbft aufhob; wer ſahe die unnöthige Laft davon eher ein, 
als die Apoftel felbft und ® der fo bitter beurtheilte Petrus ? 
Sie ſchafften Rath, jo gut fie konnten und fagten: „es taugt 
niht! Wir find nicht zu Sekelträgern beruffen.“ 
Mid dünkt, die Integrität, womit das Alles erzählt und gar 
nicht verheelt ” wird, bürgt uns ja gnug für bie Unſchuld ber 
That jelbft und für einfältige Wahrheit auch diefer Geſchichte — ® 


1) beziebet, für 2) Unnatürliche, Herbeigezwungne, 

8) werben. Der Autor aber war zu aufgebracht, zu böfe — — 
4) Gütergemeinfchaft, ihre 5) lächerlich, 

6) Apoftel und 7) ibealifirt 

8) für Unschuld und einfältige Wahrheit — — 


Sage man endlich von ihren Citationen aus dem A. T. was 
man wolle; ihre Zuhörer und Feinde fagtene damals nicht, fie 
legten eben fo aus. Und wenn man nit fo ausleget, wenn der 
ganze Zwei „eines moralijhen, geiftigen, ewigen Reichs, 
„das aus Niedrigfeit und Armuth, eben durd einen 
„Mann, wie Chriftus war, entjtehn follte” — wenn dieſer 
Zweck aus dem A. T. verlohren ginge; was bliebe? Wie Hein 
würden die Propheten mit ihrem irrdiſchen und doch ewigen 
Davids » Heide? In Judäa und Serufalem ſolls jeyn und bis 
an die Enden der Welt reihen? Auf Erden? irrdifh? und 
ewig? Wem läge, wenn nichts mehr ift, an dieſer arınfeligen 
Subenhoffnung? follte aber ein „neues, geiftiges, moraliſches 
Reich” entitchen, wo ewige Wahrheit unjer Gut, Gerch- 180 
tigleit und Friede unfer innerer und ewiger Lohn feyn follte; 
jo zeige man den andern Mann, aus diefem und jedem 
andern Volke, durch den es in aller Reihe von Jahr— 
hunderten, dazu in folder Klarheit, in foldem! Um: 
fange entftanden fey, wie durh den armen Menſchen 
Jeſus Chriftus. Mid dünkt, der Zwed Jeſu und feiner 
Jünger liegt im großen Erfolg der Zeiten aller Welt vor 
Augen — 


Sieben und dreiffigiter Brief. 181 


Faft zu lange haben wir uns bei Widerlegungen aufgehalten: 
wir müflen eilen, und das Wenige, das id) von Behandlung ein- 
zelner Lehren allgemein jagen wollte, leider! mit biefem Briefe 
vollenden. 

Aus allem Vorigen merken Sie,? m. Fr., daß Sie faft nicht 
genau und fimpel gnug bei der Geſchichte Jeſu bleiben Tönnen. 
Sie ift für Einfültige und Kinder gefchrieben; werden Sie aljo 


1) Klarheit, ſolchem 2) Sie fid, 


— 33 — 


auch ein Kind mit Kindern. Machen Sie ihnen Jeſum Tiebens- 
würdig durch fich felbit, durch feine ächte Himmelsmeisheit, 
durch feine ftille leidende Geftalt und unfterblide Menſchen⸗ 
güte. Dazu find alle feine Handlungen, Reden, Gleihniffe und 
fein letztes Schickſal fo und nicht anders beichrieben: er follte uns 
mehr, als Sokrates, feyn; nicht nur das Vorbild, fondern aud 
der Vollender unſers Glaubens und der ausdaurendften Tugend- 
ftärfe.! 

Auch der zmeite Artifel Ihres Glaubensbelänntniffes weijet 
auf diefe Hiftorifche Schriftmethobde. Warum merden die Stuffen 

182 der Erniedrigung und Erhöhung da ausführlich erzähle? ala weil 
die ältern Jahrhunderte der Kirche fie bey Chrifto infonderheit 
über feine? Geſchichte für den ädten Glaubensgrund hielten. 
Folgen Sie diefer Methope, fo bier, als beim dritten Artife. So 
einzeln deilen Worte daftehn, jo ſchön gehören fie zufammen, infon- 
derheit wenn Sie dazu die Veranlafjungen in der Geſchichte der 
erften Jahrhunderte ſelbſt unterſuchen Kings Geichichte Diefes 
Glaubensbefänntnifiee, wie auch was Amyraut (Amyraldus) 
Parter u. a. drüber gefchrieben und die fonft vom Glauben der 
eriten Jahrhunderte Hiftoriih und dogmatiſch gehandelt haben, * 
müfjen Ihnen geläufige Bücher werden. Eine Reihe Autoren haben 
die Kirchenväter zu mancherlei Zwecken ercerpiret — doch davon 
Tünftig. 

Die Bemerkung Ernefti über die fogenannten drei Aemter 
Chrifti ift nicht ohne Grund, daß fie nehmlich, theild ala Meta- 
phorn, theils in ihrer Coordination mit fih und dem Wert 
Chrifti, nicht die beſte Lehrart für die dogmatiſche Theologie find;? 
er bat auch gezeigt, daß unfere ältere Theologen fie nicht 
braudten. Man kann aber diefem Mangel auf einmal ent- 


1) feyn: unfer lebendiger Glaubensedftein. 

2) da fo Reihab und auf erzählt? als weil die ältern Jahrhunderte 
bei Chriſto infonderheit feine 

3) die muthmaasliche Beranlakung in .... Jahrhunderte Yefen. 

4) gehandelt, 5) Lehrart find; 


— 304 — 


fommen ‚! wenn man allgemein zeigt: unter welden Namen und 183 
Bildern Chriftus im A. und N. T. in feiner Perfon und in 
feinem Wert abgebildet werde. Man zeigt fobann: warum ihrer 
jo viel find? weil feiner nehmlich alles fagt, was gefagt werben 
ſollte, und fo führt man fie auf einander, löfet die tropifchen: 
Lamm, Dpfer, Bürge, Hoherpriefter, u. f. auf und bildet 
fie in der Ordnung, bie jeber Lehrende fich 2 felbit ſuchen mag, 
zu Einem vollen Begriffe. Ich für mein Theil bleibe im popu⸗ 
laren Bortrage am liebſten bei Luthers Begriff in feiner Ausle- 
gung des zweiten Artikels: er ift, bünkt mich, der leichtefte, auch 
Kindern und Alten verftänblih und zugleih ein prägnanter,° 
frudtbarer Begriff, wie alle Worte diefer Auslegung zeigen. Man 
bat bier die beſte Gelegenheit, ſehr gemeine * und doch irrige Ideen 
von der Herren» Gewalt des Teufels, dem Chriftus uns abgefauft 
babe, von der magischen Kraft feines Bluts und viel andre unmür- 
dige Vorftellungen zu vermeiden und zu verbeflern. Die Gnug- 
thuung und Aufopferung Jeſu erfcheinen bier im reineften Geſichts⸗ 
punfte eines vettenden ® Freundes, ber fein Blut, fein ganzes 
Selbit, Leben und Tod an mich maget und der jett aus Gerech⸗ 
tigkeit und Liebe mein Herr iſt. Auch die Art feines Dienſtes, 
der Zwed feiner Erlaufung wird bier fo mürbig bejchrieben, 184 
daß Fein Mißbrauch der Lehre von der Verfühnung Jeſu leicht 
möglich ift, wenn man ber Simplicität dieſes Artikels folget. 
Jedesmal bewundre ih Luthern von neuem über die treffende 
Faßlichkeit und Stärke feines Heinen Katechiſmus.“ Auch ber 


1) Dan fan, da fie einmal noch in unfern Lehrbüchern leben, die⸗ 
fem Mangel entlommen, 

2) in einer Ordnung, bie jeber ſich 

3) Ih für mein Theil bleibe bei Luthers .... Artilels: er bat 
mid erworben, gewonnen u. f. Diefer, dünkt mich, ift der Teichtefte, 
Kindern .... ein jo prägnanter 

4) Gelegenheit, gemeine 5) eines Netter und 

6) Jeſu wohl möglich if, den fonft andre Borftellungsarten gern mit 
fih führen. Jedesmal bewundre ich Luthern über .... Katechiſmus von 
neuem. 


— 35 — 


dritte Artilel, der überdem mit dem zweiten auf eine ſehr gute 
Art gebunden ift, it voll von biefer Fräftigen ! Popularität und 
Wahrheit. Da ift von feinen Schwärmereien über Gnaben - Wir- 
tungen, fondern ? von mandherlei Gaben des Geiftes die Rebe, 
bie zuerſt Hiftorifch auf den Urfprung und die Gründung der 
Kiche zurüdgeführt werden müflen, jodann auf uns bezogen, ? 
in fo fchöner Ordnung fteben, daß die Erklärung dem Artikel 
felbft Wort für Wort, Schritt für Schritt folge. Es ift eine 
Freude, eine gute Katechefe darüber zu hören, mit der Kunftlofen 
Einfalt und Fülle von Wahrheit,* ala ob Täuflingen in der eriten 
Kirche das Glaubensbefänntniß abgefragt und erflärt würde; man 
genießt aber nicht immer die Freude. Es ift im Fortgang der 
Zeiten jo viel Spreu über beide Artikel gefchüttet, daß, wenn ber 
Lehrer Alles der Art mitnehmen will, oft die ſchönſte Saat, voll 
von lebendigen Früchten müßig und tobt wird. 

185 Ueber die Lehre von der Trinität, die aud in der Delo- 
nomie der Zeiten, jo wie in ber Heildorbnung felbft, die® drei 
Artifel bindet, jeyn Sie fein Neuesſuchender Grübler. Reden Sie 
mit Kindern und Alten die Sprache der Bibel, erflären diefe und 
zeigen den Einfluß und Zuſammenhang diefer mit allen andern 
Lehren.” Arianiſche und Semi - Arianijche Grübeleien dünken mich 
ein unnüges® Gefpinnft, meil fich jenfeit der Welt und Zeit von 
uns nichts mehr ergrübeln läßt: der Socinianismus ift offenbar 
der Schrift entgegen. Denn wie oft fpricht diefe vom Daſeyn 
Jeſu vor der Welt oder damit auch hier feine Metaphor ftatt fände, 
vom Daſeyn Jeſu vor Johannes, Abraham u. f. — Die Bücher,? 
die dies am llärften jagen, follten aljo von den Socinianern lieber 


1) ausgefuchten 2) Schwärmereien, fondern 

3) Kirche, dann auf uns bezogen werden und 

4) und Wahrbeit- Fülle, 

5) Lehrer ja Alles der Art mitnehmen will, oft die lebenbigfte 
Saat müßig 

6) Zeiten und Heilsordnung bie 7) allen Lehren. 8) unnüt 

9) entgegen. So oft fpridt .... Welt; die Bücher 


— 396 — 


ganz weggeläugnet, als eben jo armſelig verdrehet ! werden. Aber 
Unitarier, im guten Berftande des Worts, müſſen wir Alle 
feyn: denn die Lehre von Einem Gott ift der Grundftein des 
A. ſowohl als N. Teftaments und die Dreigötterei iſt klarer 
Unfinn.? 

Die Lehre des Gebets zu Gott jollte man nicht ala knecht⸗ 
liche Pflicht, fondern als ein Bedürfniß der menſchlichen Natur 
und als die höchſtes Wohlthat Gottes treiben. Wer bemeifen 
will, daß er nicht beten könne, nicht beten Dörfe; der bete nicht. 
Um eine Wohlthat * Zutrauensvoll, demüthig, kindlich zu bitten, 
dazu zwinget man niemand. Die Noth allein muß einen Harten 
diefer Art zwingen: denn in der Angit, in Befümmerniffen und 
Verwicklungen feines Schickſals, betet auch der Stoiker und Epi- 
furer. Chriftlides Gebet ift Zutrauensvoll, kindlich. Man 
Ipriht zu Gott als einem gegenwärtigen, vertrauten Freunde, der 
unfre Noth weiß und fie mit ung fühle. Auch bier wirfen Bei- 
ſpiele, infonderheit frühe Beifpiele und Erfahrungen am ınei- 
jten. Die Erempel der alten Patriarchen, denen die Vorfehung 
fo nahe war, die hohen Sprüde der Apoftel und Propheten, end- 
lih am meiften die Tiebreihen, andringenden Berheifjungen und 
das Beiipiel Jeſu, find der Vorſaal voller Gemählde zu unferer 
Ermunterung; Noth aber und das Gefühl der Bebürfni find die 6 
ächte Schule des Gebets jelbft. Erwecke im Menfchen einen freien 
kindlichen Geift zu Gott, und dieſer Geift wird, wie der Apoftel 
jagt, auch ohne Wort im Herzen beten;? fehlt jener dem Men—⸗ 
ſchen, jo erjterben ihm alle Worte des auswendiggelernten Gebets 





um 


1) eben verbrebet 

2) Berftande müßen wir Alle ſeyn: benn .... ift Grunbflein bes 4. 
und N. Teftamentes und der Tritheismus ift Unfinn 

3) als Bedürfniß .... und als höchſte 4) Wohlthat zu Bitten, 

5) muß ihn zwingen: in 

6) find die Gallerie zur Ermunterung; Noth und Gefühl ber Bedilrf- 
niß aber die 

7) Wort immerbar beten; 


186 


— 397 — 


auf feinen Lippen. Dies tft alſo die Bahn, auf der es der 

187 Lehrer zu treiben bat und das Gebet Jeſu bleibt der Edelge⸗ 
ftein aller feiner Gebete! Es enthält die Summe unſrer Bebürf- 
niffe und Ausfihten in den reinften, Türzeften, ganz kindlichen 
Worten — 

Bon den andern Mitteln der Gnade werden wir im prafti- 
Ihen Zufammenhange reden; laſſen Sie uns jest mit einigen Wor- 
ten von ben lebten Dingen der Welt jchließen. 

Hier leben wir nit ewig und follen bier nicht ewig leben: 
Pilger find wir auf der Erde, die ihr himmliſches Vaterland 
ſuchen. Eine Lehre, die ung alfo bier nur fo ruhig und zufrieden 
mit der Welt machen will, ift nicht die wahre Glaubenslehre der 
Chriſten, fie weiſet auh nicht zur ächten? Nachfolge Jeſu. Es 
ſoll uns hier gefallen, aber nicht zu ſehr: ſelbſt unſre Erdenglück⸗ 
jeligfeit und Tugend fol nur Erziehung, Reife und aljo das 
Mittel, nicht der lebte Zweck unſres irrdiſchen Daſeyns werben.’ 
Allerdings find in Gottes Reich alle Mittel auch Zwede, und dem 
Menſchen muß fein Erdenleben, wenn e3 zu einem höhern der 
Meg feyn foll, gewiß ein ganzer und jo weit es möglich ift, ein 
genau =-erforichter * Mittelzmed werden; jedermann fiehet aber, 
wenn er nit Sophift jeyn will, den großen Unterſchied zwiſchen 

188 beiden Abjchweifungen, in denen man entweder blos für die Erbe 
oder blos für den Himmel zu leben meinet.d° Wir fucden ein 
ewig NReih: im Himmel fol unjer Baterland ſeyn bei Chriſto 
bier aber follen wir uns dazu bereiten und es im Vorſchmack der 
Tugend felbft thätlich genießen lernen — —® 

Sie fehen alfo, m. Fr., Uniterblichkeit der Seele tft eine 
Hauptlehre des Chriftenthung; aber nicht ihre einzige Lehre. Noch 
weniger daß es fie von philofophifchen Erweiſen allein abhangen 


1) fein Edelſtein aller Gebete. 2) wahren 

3) nicht letzter Zweck feyn. 4) gewiß ein genau erforfchter 
5) beiden. („Abfchweifungen — meinet.” fehlt.) 

6) Chriſto. („bier — lernen — —“ fehlt.) 


— 398 — 


ließe, die oft zu viel und alſo nichts beweiſen, ob es wohl dieſe 
nicht verfchmähet. Auch Sie bemühen fi) nad ben beiten ber- 
felben,, infonderheit aus den fprechenden Wahrfcheinlichleiten, Die 
uns dad Schidfal, die Geftalt und Beſchaffenheit des Men- 
ſchengeſchlechts im feiner ganzen Zmweideutigteit giebt. Rei— 
marus, Mendelsfohne, Bonnets, und andrer Schriften 
hierüber find Ihnen befannt und find jedermann ? ſchätzbar, der 
die ebelite Hoffnung der Menichen » Natur liebet. Als Chriſt grün- 
den Sie bei und Hinter alle diefem unfre Hoffnung der Unfterb- 
lichfeit auf facta, die gewiſſeſten theuerften facta. Die ganze Dffen- 
barung, jede nähere Erweiſung Gottes auch im A. T. gründet fid 
auf eine Fortdauer der Menihen nah dem Tode, ohne die 189 
Alles Hienieden, ſelbſt das Göttlichfte in menfchlichen Seelen, ein 
Traum oder ein unvollendetes,® ja beinah Abfichtlofes Stückwerk 
wäre. Gott ift nit ein Gott der Todten, fondern ber 
Lebendigen, fagt Jefus; ihm leben fie alle und Er, der ewige 
Gott des Lebens, Hat dies mit einer dem menſchlichen Geichlecht 
angemefjenen, immer mehr entwidelten Klarheit im gan- 
zen Lauf * feiner Offenbarung erwiefen. Bald nahm er, als Adam 
des Todes geftorben war, den gerechten Henocd von der Erbe und 
zeigete den Menſchen, daß er für feine Lieblinge, auch alfo für 
den gejtorbnen Adam, für den erichlagnen Abel eine Welt habe, 
in der es befier jey, als bier. Der im Wafler untergegangene 
erfte Zeitraum ® fcheint bei vielen Vöolkern den Grund zum Tarta- 
rus gelegt zu haben; uud eine Verfammlung der Väter, ein 
Reich der Seelen ift auch den einfältigften Völkern nicht fremde. 
Dahin ging Abraham, ob er gleih in einem fremden Lande 
begraben ward; dahin foderte Gott von ihm feinen Liebling Iſaac 


1) Chriſtenthums; nur fo daß es fie nicht von phifofophilchen Ermei- 
fen abbangen läßt, 

2) und jedermann 3) Seelen Traum unb unvollenbetes, 

4) angemeßenen, Stuffenmweife immer .... im Laufe 

5) eine Stabt habe, wo es befer fei, als bier. Die im Waßer 
erfänfte erſte Welt 


— 399) — 


ab und Abraham traute eg, mie Paulus jagt, dem! Herrn zu, 
daß er ihn daher auch wiederbekommen könnte. Die Erwedungen 
der Propheten fowohl, als viele Stellen in Hiob, den Pfalmen ? 
190 u. f. zeigen ein. durchgängig geglaubtes Reich der Schatten, d. i. 
. der 3 abgeſchiednen menjhlichen Seelen; bis in den lebten Prophe- 
ten, wenn aud nur in Gleichniſſen, Bildern, Tröjtungen, der 
Begriff der Unfterblichleit, der Auferwedung, des Lohns 
und der Strafen der Zukunft allmählich immer * Tlärer gemacht 
wird. Das Beijpiel des aufermedten Jeſu geht wie eine Sonne 
binter dem Sternenheer hervor: er Heißt, der Erftling, der 
König der Ermwedten aus dem Todtenreihe, aus und nad 
deflen Erſcheinung fi) die Apoftel ihre Begriffe von der Gewiß⸗ 
heit und Beſchaffenheit des Fünftigen Zuftandes, des 
erwedten geiftigen Leibes u. f. offenbar bilden. Ich mwünfchte, 
daß, da wir einen Phädon, Cato, ja fogar einen Heman 
über Die Unfterblichfeit in Gefprähen haben, wir aud einige 
Geſpräche zu Entwidlung der eigentlih chriſtlichen Begriffe 
über diefe Materie erhielten; an Stoff zu einer angenehmen und 
ihönen Einkleidung follte e8 ® nicht fehlen. Urtheilen Sie darüber 
nad den ſchönen Stüden, die Lavaters Ausfihten in Die 
Emwigfeit und von ältern Theologen, Chyträus, Pb. Nicolai, 
Amyrauts, u. a. Schriften enthalten. 
Die Lehre vom künftigen Weltgericht enthält vieles in 
191 Gleihniffen und Bildern, die infonderheit zu unjrer Zeit, in ber 
der Kleinfte ® Theil der Menihen an ein fihtbares Weltgericht 
glaubt, behutſam entwidelt werden müfjen, damit man nicht mit 
Zügen der Einfleivung der Wahrheit ſelbſt ſchade. Dahin gehören 
die aufgeſchlagnen Bücher, der weiſſe Thron, die Trommeten u. f. 
Auch der Hauptſitz dieſer Lehre Mattb. 25. ift voll parabolifcher 
Züge: denn niemand wird fih doch Schaafe und Böde oder einen 
ſolchen Dialog am legten Weltgeriht denken, wie die Parabel 


1) traute e8 bem 2) Hiob, Pſalmen 3) Schatten, ber 
4) Zukunft immer 5) ſollts 6) geringfte _ 





Chrifti ihre bier fchildert; aus deren kleinſtem Zuge indeß die Lichte 
Wahrheit herrlich und unverkennbar ftrale.! Was brauchts der 
aufgeichlagnen Bücher, wo unfer völlig erwachtes Bewußtſeyn, 
Die ganze Summe unſers Lebens, die gleihfam in Iebendigen 
Funden? in uns aufglüht, ja endlich die ganze Geftalt unſres 
neuermwedten, geiftigen Körpers, der, wie er dafteht, ganz Aus- 
drud der Seele und ihres innerften Bewußtſeyns feyn muß,° 
aufgefhlagne Bücher gnug find? Was darf es eines langen Ber- 
hörs, wo Gute und Böfe ſich wie Schaafe und Böde unterfcheiden 
und die Entſcheidung des Richters , ja die verborgenfte Moralität 
oder Immoralität des Menſchen jet als ein helles? Natur- 
geſetz fo offenbar und allgemein wird, als irgend ein Naturgefet 
der Welt it? Alles wird Wiedervergeltung, natürlihe Ernte 192 
einer natürlihen Saat; auf dies? große Geſetz reducirt Chriftus 
auh in ben einzelnen, beftimmteften Fällen und Situationen des 
Lebens alles Widerſprechende deſſelben.“ Halten Sie fih aud in 
diefen Lehren an feine Gleichniffe, und Reden vorzüglid. In 
dem, mas fie jagen und nicht fagen, find fie voll Menſchenliebe 
und Weisheit. Der Sprud, nah dem Chriftus Matth. 25. urthei- 
len wird, ift der ächte Coder des Menjchenfinnes, der einzigen 
ächten Religion der Erde; wäre der Mann, der ihn ausſprach, 
nicht Richter der Menfchheit, fo verdiente ers zu ſeyn, weil er 
alfo richtet! 

Und nun, m. Fr., nehme id auf eine Zeit von Ihnen 
Abſchied. Sie haben gnug Materie zu Iefen, zu ſtudiren: ftudiren 
Sie fleißig, denn ein” Stubium der Dogmatif in und aus ber 
Bibel ift das mahre, veſte Gebäude des Körpers, den aller Vor- 
trag® nur befleidet. Auch von der hriftliden Moral ift Dog- 
matik der einzige Grund, ja fie ift felbft zehnfache Moral in jedem 


1) denfen, und aus jebem Zuge ftralt ja die lichte .... unverlennbar ! 
2) die in lebendigen Zahlen 3) Bewußtſeyns ift, 

4) als helles 5) das 6) Fällen Alles. 

7) ein ächtes 8) Vortrag ja 





ihrer lebendigen Glieder. Die Offenbarung ift das Herz, Glau- 
benslehre der Lebenzfaft des Chriftenthums; ift diefer gefund, find 

193 die innern edlern Theile, die ihn bereiten, wahre Gefäße! des 
Lebens, jo wird auch die äußere Geftalt feines Körpers blühend 
jeyn und Hände und Füße werden munter wirken. Grlauben Sie, 
daß ich mit einigen ſchönen Gedanken aus Bako ſchließe und leben 
indeffen mohl.? 


Das erite Geſchöpf Gottes war Licht: Licht in ber Geiftermwelt ift Wif- 
fenfohaft und Weisheit. Der Tag, da Gott alles überfab und anfchauete, 
war? der beiligfte der Tage. 

Ehriftus zeigte feine Macht mehr durch Wahrheit, al8 durch Wunber: 
er bezwang mebr die Unwiffenheit als bie Natur. Die Gabe bes Geiftes 
bildete fih in der Gabe der Spracden, der Hülfsmittel ber Wahrbeit. 

Der menſchliche Verſtand macht ſich ſelbſt Mühe und braucht nicht 
forgfam und bequem guug bie Hülfsmittel, die in feiner Sand find. Die 
Kräfte des Berftandes aus der Dialektik zu - beflern, ift feine Hoffnung: 
benn wenn bie erften Begriffe der Dinge zu leicht und verkehrt erfaßt oder 
undeutlih und leichtſinnig abgezogen find, fo können fie durch Reden, Bara- 
phrafiren und Difputiren nicht verbeffert werben. Die Arznei ift kleiner 
als bie Krankheit. 

194 Es giebt mancherlei Krankheiten im menfchlichen Wiffen: eine Schmink⸗ 
gelebrfamfeit, eine Zankgelehrſamleit, und ganze Willenfhaften voll Mei⸗ 
nungen und Falſchheit. Es giebt auch böſe Säfte des menschlichen Willens: 
eine ummäßige Liebe zum Alterthum ober zur Neubeit;* Miftrauen in den 
menſchlichen Berftand, daß alle® ſchon erfunden fey und nichts mehr erfun- 
ben werben fünne, oder eine Losſprechung und Gutbeifjung aller Meinungen, 
Ketzer und Selten — — u. f. 

Einige ſuchen in der Wiſſenſchaft ein Ruhebett, auf dem ihr braufen- 
der Geift fhlummre. Andre einen Thurm, von bem fie hochmüthig berab- 
ſchauen. Andre eine Burg, worinn fie ftreiten. Andre eine Werkftatt und 
Bude, worinn fie handwerken, verlaufen, verbienen. Wenige fuchen in ihr 
die reihe Schablammer, das große Rüftbaus Gottes zu feiner Ehre und 
der Menſchen Wohlfart. 

Borzeitige kecke Suftemenfucht fchadet der wahren Wiflenfchaft gänzlich. 
En bald des Jünglinges Glieder und Lineamente ausgebildet find, wächfet 


1) bereiten, Gefäße 2) ſchließe. Leben Sie wohl. 
3) Mſc.: ward 4) zu Alterthum oder Neuheit; 
derbers fänntl, Werte. X. 2b 





— 40 — 


er nicht mehr. So lange die Wiſſenſchaft in Aphorismen und Beobach— 
tungen ausgeftrenet ift, kann fie wachſen: vorn ber Methode umzäunt und 
umfchlofien, lann fie etwa erläutert, gefeilt, zum Gebrauch bequem gemacht 
werden, an Gehalt aber nimmt fie nicht mehr zu. Iſt fie in Klaffen und 195 
Handwerte gebracht: fo lebe wohl, allgemeine weitere Ausfiht! Diefe 
giebts nur auf Thürmen und Höhen; nicht auf ebnen Boden, in Werk⸗ 
ftäten oder in engen Gefängnißbölen. 

Der Meufh, wenn er fein Werk überficht, findet alles Eitelkeit, und 
leere Plage des Geiſtes. Du Gott, ber fein Werk überfah und ruhend ſich 
befien freute, du, der das fichtbare Licht zum Erftlinge der Schöpfung 
machte und das geiftige Licht, das Meifterftüd deiner Werke, dem Menſchen 
ind Angeficht hauchte; laß uns, wenn wir in deinem Werft arbeiten, auch 
feiner Ruhe theilhaft werden und unfre Wiflenfchaft wenigftens ein Allınofe 
ber Liebe für die Dürftigen! unfres Geſchlechts feyn. 


1) für Dürftige 


Ende des dritten Theils. 


Halle, Buchdruckerei des Waifenhaufeg, 





Herders 


Sämmtliche Werte 


Herausgegeben 


von 


Bernhard Suphan. 


Elfter Band. 


Berlin, 
Weidmannſche Buhhandlung. 
1879. 


Inhalt“ 


Seite 

Briefe, das Studium ber Theologie betreffend. Bier- 
ter Theil. 1781. 1786. . . 1 
Anhang. Drei Briefe aus der erften Ausgabe. 1780. nes 129 


Stüde aus älteren Rebactionen ber erften drei Sammlungen. 1780. 150 
Briefe an Theophron. (Briefe, das Studium ber Theologie 
betreffend. Fünfter Theil) (1781.) 1808... 155 
Bom Geift ber Ebräiſchen Poeſie. Eine Anleitung für bie 
Liebhaber berfelben, und der älteften Gefchichte bes menfchlichen 
Geiſtes. 1782. 1787. ... 213 


*) Die Bezeichnung der verfhiedenen Lesart in den „Briefen“ entſpricht bem unter 
dem „Inhalt” von Band. X gegebenen Nachweiſe. Bei ber Schrift „Bom Geiſt der 
Ebräiſchen Poeſie“ genligte es, den Originaldruck beider Auflagen mit X zu bezeichnen, 
ba bie zweite vom Jahre 1787 (B) eine bloße Titelauflage if. Bericht und Anmerkungen 
zu beiden Werten werden am Schluffe von Banb Xu zufammengefaßt. 


pa nee (AN a) 





Briefe, 
das Studium der Theologie 
betreffend. 


von 


J. ©. Herder.‘ 


Bierter Theil. 





Zweyte verbefferte Auflage. 


— —r — — — — — — —t—— — —- — — — — — 


Weimar, 
bey Carl Ludolf Hoffmanns 


fel. Witiwe, und Erben. 


1781. 1786. 


1) „von J. ©. Herder.“ fehlt in AB. 


Br. 


Br. 


Br. 


(II) Br. 


Br. 


Inhalt. 


38. Vom Bortrage überhaupt. Bon den mancderlei Gattungen 
befielben in ber Schrift. Was fie uns biemit habe fir ein Muſter 
feyn? was für Mannichfaltigleit verfchaffen wollen? ..... 
39. Bom Zufammenbange der Schrift, von ihrer fortgehenden 
Zeihen- und Thatenſprache. Philoſophie iiber Sprade und Bil- 
der ift die feinfte Philofophie, der Schlüſſel zur Symbolik, wie 
diefe zum Zufammenbange der Bibel. Summe ber Bibel. Bei- 
lage: einige Gedanken Luthers. . 
40. Ob die Schrift ein eigentliches Predigt⸗ Vorbild gebe? Was 
Predigt ſey? und movon ihre Form beftimmt werde? Bon 
der Homilie, ber älteften analytifchen Predigtweife, ihrem Wefen 
und ihren Vorteilen. Einige Gedanken Luthers. 


. 41. Kurze Geſchichte der analytifchen Prebigtmethove. Von der 


Barabel. Vom Tert aus der Geſchichte. Bücher unb Uebungen 
ierÜüber. onsesanssscnessnnsonnssunnesuonsconsunnnunsennnnsunsansnennnununstsossunnennassnsssnensnens 


. 42. Bon Lebrterten: Schwierigleiten bei denfelben. Gebrauch der 


Römiſchen Redner. Bon Regeln der Berebfamleit bei ben Alten 
und Neuern. Bon den vier Worten: hören, leſen, fprechen, fchreiben. 


. 43. Bon den Uebungen der Berebfamleit bei den Alten und 


Neuern. Praktifche Ausmalung der Parabel vom Weltgerichte. .... 


. 44. Entwurf der Anwendung eines biftorifhen Texts, von ber 


Ankunft der Weifen. Einige Mißbräude einzelner, berühmten 
Prebigtmufter. . 


. 45. Bon ber Difpofition. Vom tabellarifhen Bortrage. Vom 


Dialogen, als eier Uebung zur fließenden Schreibart. Bon 
Uebungen im öffentlichen Schulunterridt, als einer Vorübung 
des Predigerftandes. Nachſchrift. . 
46. Bon der Poefie, als einer Bilbnerin bed Vortraged. Vom 
Lehrgebicht, der Ode, dem geiftlichen Liebe. Bon ben neuen Ber- 
bejjerungen alter Lieber. ſchichte des Kirchengeſanges neuerer 
Zeiten. Kraft ber heiligen Mufil. ceeseeccssessessnnensanenonnsosnnennnensnnusennonenn 
47. Bom Gebraud ber biblifhden und Chriftlichen Epopee. Ob 
man ihre Sprade? ob man bie Empfindungen einzelner Per- 
fonen derſelben nachahmen müffe? Ob ihre Fabel biblifche Wahr- 


1* 


199 


206 


216 


230 


241 


254 


272 


282 


293 


Dr. 


Br. 


beit, Erflärung oder gar Verichönerung der Bibel ſey? Gren- 
zen im Gebraud ber linterfchiede beflen, was in ihnen Fabel 
und Wahrheit if, an Dante und Milton gezeiget. Charalter 
Klopflodd. Bon der Poefie, aus Baco. . 
48. Bon der Kirchengefhichte. Allgemeine Methode ihres Studium. 
Lebensbeſchreibungen einzelner Berfonen von ihnen felbft, von 
andern. Einige vorzügliche berfelben. Bon Briefen berühmter 
Männer. Methode zu Unterfuchungen einzelner Begebenheiten ber 
Kirchengefhichte, infonderheit Der Reformation. Bacons Gebanten 
über Geſchichte, Kirchengeſchichte, Lebensbeſchreibungen u. f. 


. 49. Ob die Menge von Büchern bie Welt gebeſſert babe? Worauf 


e8 beim Lefen anlommt? Ob man ba8 Geiftliche und Göttliche 
— unmittelbar treiben müſſe? Eine Paſtoral-Theologie in 

erſen. . 
50. Anzeige künftiger Materie. Ueberſicht einiger Vortheile bes 
neueren Studium der Theologie. Bom Treiben der Spraden 
und bes Literar-Tertd. Bom Ueberfeken. Bon Prüfung ber 
Beweisftellen. Bon Bereinigung der Partbeien. Vom äußerlichen 
Zufande unfrer Kirche. Empfehlung der Borbilder unfrer alten 
Theologen. Shaftesburi Briefe an einen Schüler ber Theo⸗ 
logie. Pythagoräiſche goldne Sprüde. Hemſterhuis Gebanten 
iiber den Gang der Wiflenfchaften, Religion und Gefetgebung. 


Seite 


323 


343 


375 


199 


Acht und dreiffigfter Brief. 


Weder Ihnen, no mir, m. Fr., fol unfre biöherige Feier 
geſchadet Haben: der Same der Willenfchaft bedarf auch in den 
beiten Gemüthern nicht minder Zeit zu feimen und bervorzublühn, 
als der natürliche Same in der Erde. Ihre Anfragen und Zwei⸗ 
fel über meine vorhergehenden Briefe find treu aufbewahrt und 
jollen zu rechter Zeit beantwortet werden; jetzt laffen Sie uns vor 
allen Dingen zu einiger Ründe unſers Werks Tommen, und da 
doch niemand die Wiffenfchaften, blos um fie zu wiſſen lernet; 
vom Gebraud, vom Nutzen, von der Anwendung reden, zu 
denen auch Sie! Theologie lernen und treiben: denn das Ziel 
beitimmt die Laufbahn. 

Es ift, außer Ihrer Selbftbildung, die Bildung und Beſſe⸗ 
rung andrer, durch Bortrag Ich fage: Vortrag, nit Pre- 
digt: denn das unſchuldige Wort ift verfchrieen und ich begreife 
unter meinem Ausdrud aud etwas mehr, ala man gemeiniglich 


200 Predigen nennt. So wie nämlich dur die Sprade unfre Geban- 


ken beftimmt und geordnet werden, wie wir durch das Lehren 
andrer am beften felbft lernen? und wie überhaupt das, was 
man Bildung der Seele nennt, nicht blos durch eine Reihe von 
Gedanten oder durh die Materie defien, was man meiß, 
geihätt werden Tann, fondern aud und vornämlid die Form, 
wie man es weiß und gegen Andre äußert, kurz, Denkart und 
Lebensweife dazu gehöret: fo ift, und zwar in einem weitläuf- 
tigern Verftande als Demofthenes das Wort brauchte, auch hier 


1) denen Sie 2) beiten lernen 





— 6 — 


das Erſte und Letzte Handlung Was bülfe ! Ihnen alles Stu⸗ 
diren der Bibel, der Dogmatik, Polemik, Moral und aller geift- 
lichen Wiflenfhaften, wenn fie wie todtes Kom in Ahnen ver- 
Ihloffen lägen und weder durch Sprade, noch durch Uebung 
nüglih würden? ? Leider verlieren mir heut zu Tage bei unferm 
gar zu vielen Wiſſen und Lernen oft den Zweck, wozu wir ler- 
nen? und ob etwas davon in unferm Leben zur Anwendung 
tauge? 

Die Bibel, das Buch Gottes aus fo vielen Zeit- und Men- 
ſchenaltern bat auch darinn etwas Beſondres, daß ihr Vortrag 
auf fo mannichfaltige ? Weife, gleihlam für alle Zeiten und Men- 
fhen wechſelt. Welh eine Gattung von Vortrage gäbe es, 
die nicht in ihr irgendwo angewandt wäre? Alle * Arten der 201 
Poefie und Profe, die verfchiedenften Vorträge fo verſchiedener Bücher 
und Zeiten über das ganze Einerlei und Mandherlei von Materien 
in ihrem reife, liegt vor ung: ein Garten voll Blumen und 
Früchte, da jede Biene faugen, jeder Wurm und Menſch jeine 
Nahrung finden kann. Was will uns der Schöpfer mit dieſem 
reihen Anblid jagen? Was anders, ala daß er jede Gabe ber 
Natur, jede unfhuldige Neigung einer menjchlichen Seele in ihrer 
Art ehre?® Selbſt mit feiner himmliſchen Kraft und Wahrheit 
bequemt er fi einem eben, wirkt in ihn, wie fein Bedürfniß 
es erfobert, reicht ihm Geiſtesſpeiſe, wie feine Seele, fein Geihmad 
und Organ fie Foften kann und mag. So wirkt die Sonne mit 
ihren Stralen, jo der Thau und Regen mit feiner befruchtenden 


1) Gedanken und Materie gefchätt werben Tann, fonbern aud 
Form, Außerung auf andre, georbnete Hanblung und Lebens- 
weise fobert: fo ift auch hier, in einem .... brauchte, Handlung das 
Erfte und Letzte. Was bölfe 

2) wenn es wie .... läge unb mweber durch Sprade, noch Uebung 
nuützlich würde? 

3) fo unendlich viele 4) „Alle* aus dem Mſe. ergänzt. 

5) irgendwo auch angewandt wäre? Arten .... über Einerlei und das 
ganze Mancherlei .... vor uns: ein bunter Garte 

6) Gabe, jede unfchuldige menfchlihe Neigung in ihrer Art ehret? 








— 7 ,— 


Erquidung ähnlih der Natur jeder Pflanze: ' fo handelt Gott in 
der Natur, fo wollte er auch in der Schrift handeln. Nichts iſt 
fremder ? dem Wort Gottes, als eine einfchränfende Clauſur von 
Morten, ein einfürmiger ‚3 bölzerner Vortrag für alle Seelen, der 
fodenn wirklich für feine Seele wäre: denn fie find ja von eben 
demfelben Gott und Schöpfer nit alle fo einförmig * gebildet. 
Alſo iſts eben die edle, große Manier, die wir der Bibel abler- 

202 nen follen, uns felbjt treu zu feyn im? Erfänntniß der Wahrheit, 
in ihrem Vortrage aber allen allerlei zu werden, weil man fonft 
feinem was recht? wird. So wenig Gott mit feiner Offenbarung 
dadurh an Wahrheit, Beftimmtheit und Einheit verlor, daß er 
fih jedem Zeitalter, jedem Schreiber und jeder Menfchenart 
bequemte: fo wenig lafjet ung glauben, daß bie fo mannichfaltige 
Schrift auf dem Wege der Mannichfaltigfeit durch und etwas ver- 
lieren werde. Je vefter ein Menich iſt, deſto mehr kann er fi 
andern bequemen; je reicher und ftärfer, deſto vielfacher und kräf— 
tiger andern dienen. 

Meg aljo mit der einzäunenden Methode, die gewiſſe Sylben 
itatt der Sachen feßt, die jene do nur bedeuten! Meg mit 
dem einförmigen Bortrage, der das Kind unſrer Schmachheit und 
Unmifjenheit, oder unfers Eigenfinnd und einer ftarren Gewohn⸗ 
heit, nicht aber® der Wahrheit und bes göttlichen Verſtandes ift! 
Bon dem, was wir Predigt nennen, liefert uns die Bibel, der 
Handwerksform nah, Fein Mufter, gejchweige daß fie uns ein ein- 
ziges unveränderlihes Mufter gebe. Dieſe wie jede andere Form 
eines Vortrages ift mit der Zeit und nah Bebürfniffen der Zeit 

203 entftanden: mit folden bat fie abgewechjelt, nach folden muß fie 


1) Jeden, fließt in ihn ein, wie... . erfobert, wie feine Seele . 
Dıgon Geiftesfpeife Toften kann und mag. So mobificirt fi} die Sonne 
. Erquidung jeder Pflanze: 
2) ferner 3) einförmiger, willkührlicher 
4) einförmig gleich 
5) Alſo iſts auch die größefte Methode, die wir... uns ſelbſt treu im 
6) Schwachheit, (oft Unwißenheit) oder unſers Eigenfinns, nicht aber 


_s— 
gemefien,! gebildet und beurtheilt werden. Moſes und die Pro- | 
pheten, Propheten und die Apoftel, dieſe und Chriſtus; alle jagen 
Gottes Wahrheit mit Gottes Kraft, nur jeder ſagt fie auf feine 
Meife, und keine zwei Propheten, Teine zwei Apoftel find fich ein- 
ander bierinn völlig ähnlich. Jeder fpricht, nachdem ihm der Geift 
gab auszufprechen, treu feinem Eindrud der Wahrheit. In die- 
jem, in der Materie jelbit, liegt der Same zum ganzen leben» 
digen Gewächs, die Beitimmung feiner Form und ganzen Erſchei⸗ 
nung, jo wie der Geift den Körper, wie jedesmal und in jeder 
Gattung der Schreibart ? der Sinn den Vortrag bildet. 

Wie erguidend und aufmunternd diefe reiche Abwechſelung des 
Bortrages der Bibel ? jey, werden Sie einmal in manden Ermat- 
tungen Ihres Amts fühlen. Wer wollte, wer könnte über eine 
hölzerne Metaphyfil, wenn fie * Autorität der Bibel hätte und ihre 
Scholaftif zum ewigen Wortwirbel aufdränge, Jahraus Jahrein 
Lebenzlang und immer auf einerlei Weife Ieiern? Wie warb bein 
menfchlihen Geifte zu Muth, als er Jahrhunderte lang an einer 
übelverftannnen Scholaftif des Ariftoteles fauen mußte? und mie 
ergehets noch fo manden, die ſich freiwillig ähnliche Ketten ſchmie⸗ 
den? Glüdlih, daß uns die Bibel ſolche nicht $ fchmieden wollte! 204 
Sie ift ein Garten,” kein Kerker; eine Welt voll Abwechſelung 
und Fruchtbarkeit der Gedanten,® fein Arbeitshaus, mworinn man 
immer auf Einerlei Weiſe rafpeln müßte. Jetzt erholen Sie ſich 
an dieſem, jegt an jenen Geifte, an feinen Sprüchen, an feiner ? 


1) ein einzige8 unausweichliches Mufter gebe. So wohl dieſes, als 
jedes andern Vortrages Form und Zufchnitt ift mit der Zeit .... bat er 
abgewechſelt, nach ſolchen muß er gemeßen 

2) liegt Same und Beflimmung ber Form, fo wie .... Gattung 
der Sprache und Schreibart 

3) und auffrifchend diefe reihe Abmechjelung ber Bibel 

4) Metaphyſik, bie 

5) Wie wards dem menſchlichen Geifte, al8 er Jahrhunderte unter 
einer übelverſtandnen Scholaftit des Ariftoteles erlag? 

6) daß fie ung die Bibel nit 7) Sarte, 8) Geifter und Gebanten, 

9) fih an dem, jett an jenem Geifte und feinen Sprüchen und feiner 





nn ——— 


— 9 — 


Einkleidung. Die alte Wahrheit wird Ihnen, wird ihren Zuhörern 
damit neu: die neue Situation des Mannes, die neue Anwendung 
ſeiner Lehre belebt Ihnen gleichfalls aufs neue! Herz und Seele. 
So erheitert uns die friſche Luft und ſo wird die todtgeathmete 
Luft durch neue Pflanzen und Kräuter lebendig. Es iſt kein Zwei⸗ 
fel, daß Sie jetzt dieſen, jetzt jenen? Schriftſteller der Bibel ver- 
trauter, näher, inniger fühlen werben; Gie finden 3 alfo im alten 
Wort Gottes immer einen neuen Freund, die Bürde Ihres“ Amts 
und Lebens mit Ihnen zu tragen, und werden über die mancherlei 
Kräfte, Gaben, Sprachen und Aemter, die Paulus ala Erweiſe 
und Kennzeichen des Einen Geiftes fo hoch rühmet, Gott preifen. 
Uebrigens laſſen Sie fih durch feine der Einkleivungen bes 
Bortrags der Bibel je von der Einen Wahrheit entfernen, die in 
205 ihnen allen als Seele lebet: denn wie jenes Sklaverei war, wäre 
diefes gar kindiſch. Allenthalben ift Einkleidung nur Mittel der 
Lehre; die Wahrheit felbit ift Zwei, und nur? Schwädlinge ver- 
gefjen dieſen über jener. Mich dünkt, diefe Warnung ift infon- 
derbeit zu unſrer Zeit nöthig, da man fich bei dem Einzelnen ber 
Bibel fo fehr aufhält und Kleinigkeiten oft jo 6 genau treibt, daß 
mande vor lauter Bäumen den Wald nicht fehen lernen. Sie 
werden viele Erempel Hiervon kennen und noch mehreres vielleicht 
auch an fih in ihrem fpätern Leben einfehen lernen. Nicht daß 
ih den Fleiß im Einzelnen ? gering ſchätzte: alles Ganze beiteht 
nur aus Theilen und meine Briefe haben bisher zur 3 größeften 
Sorgſamkeit bierinn ermuntert; nur muß man nicht, über dem 
‚Kleinen und Allerkleinften das Größefte von allem, den Inhalt? 


1) Zuhörern neu: die neue Situation des Mannes und der Anwen- 
bung feiner Lehre belebt Ihnen aufs neue 

2) diefem, jet jenem 3) feben 4) des 

5) durch die mandherlei Einfleibung nicht von der Einen Wahrbeit, 
die durchhin berrfäht, entfernen: denn das wäre, wie jenes Sklaverei war, 
gar kindiſch. Einkleibung ift nur Mittel .... Zwed; nur 

6) Kleinigteiten fo 7) Einzelnen verriefe oder 

8) unb alle meine Briefe bisher haben ja zur 9) Allem, Inhalt 


— 10 — 


der gejammten Schrift verfehlen. Nur! der Bid aufs Ganze 
macht im Kriege den Helden, im thätigen Leben den Mann von 
Geſchäften, in der Kunft den Künftler, in der Wiſſenſchaft den 
Weiſen, im Studium der Theologie den Theologen; ohne ihn ift 
der erſte nur ein Soldat, der zweite ein Taglöhner, der dritte ein 
Handwerker, der vierte, jo Gott will, ein Gelehrter und ber letzte 
ein Sylbenkrämer. 


Neun und dreilfigfter Brief. 


Site haben recht, m. Fr., daß, wenn nur die Summe deſ— 
fen, wa8 ung die Bibel lehrt, Theologie und in feiner 
Anwendung praftiihe Theologie ift, hierauf au der Haupt- 
blid eines Schülers und Lehrers derfelben gerichtet ſeyn müſſe, 
folglih e3 nicht darauf allein anfomme, was jeder ? Splitter und 
Nagel einzeln an feinem Drt bebeutet babe, fondern was er im 
ganzen Gebäude, darinn ihn die Vorſehung, über Zeiten und 
Völker hinaus, gefett hat, ung jeßt bedeute. Das erſte ift zur 
Känntniß? deſſelben allein betrachtet; das lebte zum Gebraud) 
defielben für unfre Zeit nöthig. Das erfte macht den Biblifchen 
Antiquar; das zweite den Biblifhen Theologen. Möge es feyn, 
daß jever einzelne Stein des Gebäudes, weder fi) ala Theil, noch 
das ganze Gebäude überfah, zu dem er als Theil gehörte;* (er 
borfte und follte e8 auch nicht; es war auch, der Natur der Sache 
nah, unmöglih;) mit und im Gegentheil, die wir vor dem 
vollendeten Gebäude ftehn, ifts anders. Da wäre es, dünkt 


mid, Kleinfinn, wenn mir nicht weiter fehen wollten, als jeder 207 


einzelne Theil fehen konnte: denn eben zur ganzen Anficht ftehet 


1) Allein 

2) Theologie ift, folglich hierauf der Hauptblid .... müße, es nicht 
allein darauf ankommt, was ein jeder 

3) Erforihung 4) überſah: („zu — gebörte;" fehlt.) 


— 1 — 


ja das! ganze Gebäude da. Mich dünkt, infonderheit bei der 
Typik follte Dies Hauptgefichtspunft werden. Es wäre nehmlich 
gar nicht die Frage mehr, ob ber und jener im U. 7. ſich ſelbſt 
als Typus deutlich erkannt? ob feine Zeit ihn dafür erkannt 
babe? fonden ob im DBerfolg der Zeiten auf ihn ala Vorbild 
geriefen jey? und ob (wie wohl das letztere mit großer Weisheit 
gedeutet werben müßte) nicht die offenbare Analogie der Sachen 
und Bilder ihn als foldhes zeige?? Nur die fpätere Auf- 
Härung, die beutlihe Entwidlung des fortgehenden Sinnes in 
der Zeitfolge, ſamt der Analogie? des Ganzen zeigt uns das 
Gebäude in feinem Lit und Schatten, aud da3 Maas des Lichts 
und des Verhältniffes in jedem Theile. Das Wort Bild, Figur, 
Vorbild wird beinah fo verändert in den Stuffen feiner Bebeu- 
tung, als die Farben» und Lichtbredungen eines Gemählbes; und 
Welt und Wort Gottes ift uns ja ein Gemählde — — Offen- 
bar ift feine Wiffenfchaft der Theologie fo fein, als dieſe über ben 
ganzen Zujammenbang der Bibel und die Berhältniffe 
ihres fortgehbenden Gebäudes. Sie erfobert einen Mann 
208 und feinen Schüler, einen Mann von gutem Beritande, von bel- 
lem Kopf und zugleih von gutem Herzen, der dazu im rechten 
Standpunft ftehet. Ich glaube, daß ohngeachtet manches Leber- 
triebenen einige ältere Zeiten, und zwar ungelehrte, aber richtig - 
fühlende Lefer * der Bibel weiter darinn geweſen, als einige fehr 
gelehrte Klüglinge jegt find. Dur Unglauben fowohl ala durch 
Aberglauben wird jede gute Sache übertrieben: 9 der eine fieht gar 


1) Da wäre e8 Blindheit und Meiner Sinn, wenn wir .... einzelne 
Ziegel fehen konnte: eben .... ſteht das 

2) Zeiten der Geiſt auf ihn als Borbild gewielen, ober ob ..... 
ihn als folchen zeige? 

3) Aufflärung, bie Deutung des Geifled oder bie Analogie 

4) von tiefem und zugleich hellen Kopfe, dazu von gutem Herzen und 
im rechten Standpunkt flebend. Ich glaube auch, daß mandhe ältere Zeiten 
und fonft ungelehrte, aber richtige Leſer 

5) Durch Unglauben oder Aberglauben übertreiben diefe die Sache öfters: 








— 12 — 


feine, der andre überall Bilder der Zukunft und beide werben 
meiſtens von einer Prunk⸗Gelehrſamkeit beftocdden, entweder einer 
alten Heiligen aus dem Kalender zu thun, oder! einen neuen in 
ihn thun zu können. Wir find jeßt in ber Zeit des Heraus⸗ 
thuns; es wird auch wiederum eine andere der Reftitution Tom- 
men, ohne doch daß man die Sade jo übertreibe, wie unläugbar 
einige Jahrhunderte vor uns fie übertrieben haben. Das Sichten 
it gut; nur wäre e8 fchlimm, wenn uns zulett gar nichts im 
Siebe bliebe. — Ueberhaupt kenne ih keine feinere Philoſophie, 
als die über Sprade und Bilder, über ihren abwechſelnden, 
und Doch immer fortgehenden, ſich immer mehr aufflärenden, im⸗ 
mer mehr verfeinernden Sinn im Auge? vieler fortgehenden 
Zeitalter. Es gehöret mehr dazu, als daß man die tropos ber 
Metaphor, Allegorie, u. f. aus der Rhetorik oder das Kapitel von 209 
der ſymboliſchen Erfänntniß in der Logik gelefen habe; und 
do find gerade die, Die jelbit weder Philofophen, noch Dichter, 
noch Redner find, die es menigftens in biefem Felde nicht find,? 
gemeiniglich die enticheidendften, abfagendften Richter. Chriftus 
und die Apoftel, die noh ganz in einer Symbolfprade lebten, 
Kirchenväter und alte, geprüfte Theologen, die auf Stubien ber 
Art fih Lebenslang wandten, find ihnen ein wegzuwiſchendes 
Pünktchen des Buchſtabs. Die fchönften Stellen der Propheten 
werden ihnen poetiiche Tiraden; alle Sprache der erften Welt durch 
Anftalten, Gebräuche find nichts, weil Wir ja nichts dergleichen 
haben und bei unſern Gebräuden nichts denken: ber Zufammen- 
hang des prophetifhen und apoftoliihen Worts* wird Flickwerk 
und fein Ausgang, wie eine übelverlöfchende, ausgebrannte Lampe. 
Hüten Sie ih, m. Fr., allen Menihen, Göttern und Beitaltern 
nit mehr Sinn, d. i. thätig- und fill -fortgehende Weisheit 


1) von ihrer Gelehrſamkeit beftocden, entweber ... ... Kalenber ober 
2) aufllärenden oder vertiefenden Sinn in den Augen 

3) e8 am mwenigften in biefem Felde find 

4) Zufammenkang des Worte Gottes 


zuzutrauen, als wir felbft in unfrem Hirn ober in unfrer Lehr⸗ 
ftube haben — —! 
Trotz alfo mancher abjchredenden Urtheile unſrer Zeit üben 
Sie fih, m. Fr., in dieſer Symbolik, als dem feinften Studium 
210 der Bibel. Treten Sie in die fihern Fußſtapfen Chrifti, der Apo⸗ 
ftel, auch des letzten Buchs der Schrift, und fchließen nad dieſer 
Analogie weiter. Es verftebt ? ſich felbft, daß Sie dies mit 
FZürfiht und Behutſamkeit thun; denn meiſtens hat der Mangel 
diefer der Sache ſelbſt geichade. Da man gar nicht unterſchied, 
was zur Erläuterung ober zum Erweiſe, als Zierrath ber 
Rede oder ala Weſen der Sache in den Schriften der Propheten 
und Mpoftel fand, oder in unjern Schriften baftehn jollte: fo 
mußte auf dieſer Schatten» und Lichttafel alles verwirrt und die 
befte, wahrefte Deutung, entweder zu einem Niefenmaafle erhöht ? 
oder mit den gröbften Farben vermablt, lächerlih und‘ widrig 
werden. Das war Fehler des Misbrauchs, nicht der Sade; und 
ein guter Gefhmad, fo wie ein ftilles richtiges Urtheil kommt 
diefem Mißbrauche zuvor. Hüten Ste fi dabei für jedem will 
führlichen, abgejchränften, ſowohl zu nahem als zu fernem Geficht3- 
punkt, und opfern ja nidt Einem Bilde, Einem Lieblingstropus 
alles auf. Das legte ift der Fehler geweien, der die ganze Sym⸗ 
bolif der Schrift, weil fie ſonach durchaus übertrieben wurde, 
vielen verhaßt gemacht hat; ein rechter, weiſer, fchöner Gebraud 
211 wird fie wieder zu Ehren bringen und in ihrer Naturvollen, blei- 
benden,d angenehmen und ans Herz redenden Sprache ins Licht 
fielen. Ih wollte, daß wir eine Schrift von ber Bilder- 
ſprache der Ebräer nur mit dem Geſchmack hätten, wie wir fie 
über Stüde der Griechiſchen Bilderfprade haben — — 
Die Summe des A. und N. T. ift Chriftus mit feinem 
unfihtbaren ewigen Reiche; was hätte die menſchliche Natur 


1) Sinn, thätig- und ſtille-fortgehende Weisheit zugutrauen, als wir 
felöR in unfrer Hirm- oder Lebrftube haben — — 

2) begreift 3) alles Verwirrung und .... Riefenmaaffe verzerrt 

4) oder 5) einzigbleibenden, 


— 14 — 


wohl anders, worauf ſie hoffen, wornach ſie ſtreben könnte, als 
eben dies Reich, das die Propheten verhießen, das Chriſtus der 
Welt brachte, worauf auch alle Guten und Wahren zu aller Zeit 
wirkten? Wenns eine Abſicht Gottes mit unſerm Geſchlecht giebt, 
(und ſie giebts gewiß!) ſo iſts dieſe, keine andre. Sie iſt das 
Herov, der einzige lebendige Funke im Menſchengeſchlecht, ders 
erhält und vor der Verwefung fiert. Hätten die Propheten es 
auf ein irrdiſches Neich des Meſſias angetragen; fie wären meine 
Propheten nicht: denn alles Irrdiſche ift zeitlich und vergänglid. 
Irrdiſche Ewigkeit ift ein folder Widerſpruch, als ewige Erden⸗ 
feligfeit oder nad unſerm jeßigen Zuftande vollflommene Erben- 
tugend. Hätten die Apoftel auf eben dergleichen Reich geftürmet ; 
mit Wundern und Sprachen wären fie meine Apoftel nicht, denn 
fie hätten dergleichen Reich wahrlich fchlecht angerichtet. Nun 212 
fie aber das file Senflorn des Himmelreichs, unter Leiden und! 
Beratung unter die Völker jäeten, und das Net zogen voll guter 
und böfer Fiſche, die auf einen fünftigen Tag der Auswahl war- 
ten: nun fie bie ftille Perle der andern Welt fuchten und das 
Blutkreuz, zu einem Baum des Todes und Leben, wie eine 
befchwerliche Himmelßleiter über unfre Welttheile pflanzten: fo folge 
ih ihnen, denn wo fie ihr Erbtheil fuchten, fuche ich das Meine. 
Wäre Jeſus nicht der Chriftus, fo verdiente ers zu feyn fchon 
durch feine Weisheit und ftille Tugend; nun ift ers, ohne unfern 
Wahn, durh das Werk feiner in die Ewigfeit fortgehenden Wir- 
fung und Geelenerrettung. — 

Was tft Schöner, als die Sonne? 

Geiner Wahrheit ewig Gut. 

Was ift ftärker, als das Schidjal? 

Seiner Liebe ftile Gut. 

Seine Demuth, feine Hoffnung, 

Die in Menfchenherzen ruht — — 
und einft aufgehen wird, das Heinfte Senflorn zum größeften Baume. 


1) mit Yeiden, mit 


213 


— 1 — 


Beilage. 
Einige Gedanfen Luther. 


Die Schrift ift wie ein Ring. Wenn der an Einem Ort bräde, 
wäre er nimmer ganz. | 

Es iſt fein Wort im N. T., das nicht Hinter fich fehe in das Alte: 
durchs Evangelium find die Propheten aufgethan. Wir follen binterrüd 
laufen und das N. aus dem N. gründen: wir müſſen zuridftubiren und 
aus dem N. das A. lernen. 

Was bilfts, daß wir die Schrift fo reichlich haben und hören, und 
nichts davon uns nütze machen? wie eine Magb, bie mitten in Blumen 
ſäße und feine wollt’ abbrechen, einen Kranz zu flechten. 

Ich babe nun etliche Jahr die Bibel jährlich zweimal ausgelefen und 
wenn fie ein großer, mächtiger Baum wäre und alle Worte wären Aeftlein 
und Zweiglein, fo babe ih doch an allen Aeftlein und Reislein angeflopft 
und gern wiſſen wollen, was daran wäre und was fie vermöchten und alle- 
zeit noch ein paar Früchte heruntergeflopfet. 

Dan muß aus der Schrift den rechten Schat, Kern, Saft unb 
Schmad nehmen, welches ift das Erempel des Glaubens und ber Liebe. 


214 Darauf folltu fehen, wo e8 Gott berausgefchrieben hat, da barfft du. nicht 


tief darnad graben. Darnach, wenn bu dies fürnehmſte Stüd haft, fo 
fannft du heimliche Deutung mit einführen und als ſchöne Spangen dazu 
heften. Die Figuren flreiten aber nicht, fondern fie ſchmücken ben 
Glauben. 

Es leidet fih nicht, daß ein jeber mit feinem Kopf in die Schrift 
falle und darinn grüble und mehre wie er will. Es foll ſich def niemand 
unterwinben, er babe denn den H. Geiftl. Hieronymus und Origenes haben 
dazu geholfen, daß man fo allegoriret bat: Gott vergebe e8 ihnen. Iſt 
eitel Lappen= und Kinderwerk, ja Affenfpiel, mit der Schrift alfo gaufeln, 
Als wenn ih aus Dietrid von Bern wollte Ehriftum machen und aus 
dem Riefen den Teufel und aus dem Zwerge die Demuth, aus feinem 
Gefängniß den Tod Ehrifti, oder fonft irgend ein Ritterfpiel oder Hiftorien 
vor mich nehmen, daß ich meine Gedanken an ilbet” und damit fpielet’, 
wie ber gethan hat, ber Ovidii metamorphoseos! V ganz auf Chriftum 
gezogen. Oder wenn id St. Georgen Legende nähme und fpräde: 
St. Georg wäre Chriſtus, die Iungfrau, fo er erlöfete, wäre die Ehriften- 


1) Metamorphosior 


Beit: der Drade im Meer wäre der Teufel, das Pferd die Menſchheit 
Chriſti. Wer fichet nicht, daß ſolche Deutung eitel Gaulelwert if? 

Als ich jung war, da war ich gelehrt und fonberlich, ehe ih in die 215 
Theologie am, da ging ich um mit Allegorien, Tropologien, Analogien 
und machte eitel Kunfl. Nun babe ichE fahren laſſen und ift meine befte 
Kunft, tradere scripturam simplici sensu: denn literalis sensus, ver 
thuts, da ift Lehre, Kraft, Leben und Kunft innen. 

Mit Allegorien fpielen in ber Chriſtlichen Lehre iſt fährlih. Die 
Wort find bisweilen fein Tiebli und geben glatt ein; es iſt aber nichts 
dabinter, dienen wohl für die Prediger, bie nit viel ſtudiret 
haben, wiſſen die Hiftorien und dem Tert nicht recht auszulegen, fo grei- 
fen fie zu den Allegorien,, barinnen nichts gewiſſes gelchret wird, darauf 
man fußen und gründen lönnte. Barum follen wir ung gewöhnen, daß 
wir bei dem gefunden und Haren Zert bleiben: fonft geben wir dem Läfterer 
redliche Urſach zu ſpotten, al® ob unfre Lehre eitel ſolch Deutelwerk wäre u. f. 


— — — —æ— 


Vierzigſter Brief. 216 


Mit Fleiß habe ichs bemerkt, m. Fr., daß die äußere Form 
unſrer Predigten in der Bibel kein Vorbild finde: denn welches 
wäre dies Predigtvorbild? Die Patriarchen ſegneten ihre Söhne, 
fie empfahlen ihnen des Herrn Weg; aber fie prebigten nicht nad) 
unjrer Weile. Moſes fünftes Buch ift eine Anrede ana Volk aus 
feinem und über fein ganzes Leben; die Berzlichite, ftärkfte, 
dringendfte Anrede, zulegt mit den lauteften Stimmen des Fluchs 
und Segens, denen fein ewiges Lied und fein demüthiges Segens⸗ 
gebet folget; es tft aber nicht das Mufter unfrer gewöhnlichen 
Predigt. So ifts mit den Anreden der Propheten: fte ftehen wie 
Berge Gotte da; wer vermag zu jagen: Berg, komme zu mir! 
Bon Chrifto Haben wir Sprüde und Barabeln, zum Theil mit 
ihrer Auslegung; auch einige herzliche Anreden an feine Schüler 
und an das Volk; die Form unſrer Predigt gebricht ihnen. “Die 
Briefe der Apoftel find — Briefe: zum Theil mit einer theore- 
tiſchen und praftifchen Abtheilung; fie find uns Texte zu Prebig- 
ten geworben, über die wir prebigen; wie unterfchieven ift aber 217 


— 17 — 


Brief und Predigt! Alſo bliebe und nichts, als die Relation 
Lucas von den Predigten ber Apoftel; diefe aber ift nur Relation, 
biftorifher Auszug; feine Form einer nachgefchriebenen Rebe. 
Meines Willens find auch alle diefe Vorträge von einander felbit 
verfchieden: und welcher unter ihnen wäre eigentlih unfre Predigt? 
Sie ſehen aljo, m. Fr., an der Form liegts nit: die muß 
von der Materie beflimmt werden: nur die Zeit bat fie gebildet. 
Das Wefentlihe, das alle Vorträge der Bibel gemein haben und 
auch unſre Predigten mit ihnen gemein haben follten, ift, daß fie 
den Willen Gottes verlündigen, daß fie Wort und Rath 
Gottes von unfrer Glüdfeligfeit menſchlichen Herzen und 
Gewiſſen darlegen. Das thaten fie alle, Patriarden und Pro- 
pheten, Chriftus und die Apoftel, jeder auf feine Weife; das follen 
wir auf unfere Weife thun, aus und gemäß der Bibel; dies 
ift Prebigt. | 
Je mehr wird alſo aus der Bibel, je gemäßer wirs ihr und 
uns felbft und unferm Kreiſe thun; deſto befler prebigen mir. 
218 Mid dünkt alſo, das erſte Geſetz einer guten Predigt jey, 
daß fie nicht Nede, Nebnerei in unferm Namen werde. Got- 
tes Willen predigen wir, nicht den unfern, fein Thema ftellen 
wir dar, nicht unfer Thema. Sobald Predigt, was fie im Munde 
der Apoftel eigentlih war, Botſchaft zu feyn aufbörte, ward fie 
Erflärung des Worts Gottes, ihrer Schriften und ihrer 
Lebre, Anwendung beifen, was vorgelefen war, in einem 
ftillen chriſtlichen Kreiſe. Dies hieß Homilie und war nicht 
eigentlih Dration, Rede. Dieſe ift erft ſpäter mit Kanzeln und 
Redeſtülen aufgelommen und noch unterfcheiden die blühenbiten 
Redner unter den Kirchenvätern,! Chryfoftomus ſelbſt, Homilie 
und Rede. Mich dünkt, Natur und Zweck unterjcheiden fie auch; 
und jene, die Homilie mar die Mutter dieſer. 
Auslegung der Bibel Halte ih aljo für die vornehmfte, 
befte Predigt uud das Wort post illa follte manchen heiligen Red⸗ 


1) von Kirddenvätern [So aud im Mie.] 
Herders fjümmtl. Werke. XI. 2 


— 1 — 


ner erinnern, wie fremde biefem Drt und dieſer Zeit der Pfauen- 
ihmud feiner Beredſamkeit ſey. Er gebt post illa verba Christi 
et apostolorum, wie der Pfau inter der Taube, wie der Markt⸗ 
fchreier hinter einem beſcheidenen Mann einher.” Wer die gericht- 219 . 
lihen Reden Demofthened und Cicero ſchlechthin zu Muftern 
unſrer Predigten nimmt, bat weder Begriff von Predigt, nod von 
gerichtlicher Rebe; beider Zwede bat er nicht verftanden. 

Da mit der Reformation das Wort Gotte8 und ber gute 
Geſchmack wieder auflan; fo gleih traten bie Confefioren in Die 
Fußftapfen der alten Kirche, fie hielten Homilien, fie erflärten 
das Wort Gottes und wendeten es an. So find die Predigten 
Zutbers, Chemnitz, Bullingers u. a. bis biefe gefunde, alte 
und populare Predigtart vom Dogmatiich » polemijchen Geift, zuletzt 
gar von Philofophie und Rednerei verdrungen warb und mans 
für befier fand, fich jelbft, als Wort Gottes und Chriftum zur 
predigen. 

Erlauben Sie, m. Fr., daß ich von diefer, der fimpelften 
und älteften Methode zu predigen, die Sie die analytiſche, ober 
biblifhe Predigtart nennen mögen, meine Gedanken weiter 
eröfne. Ich Halte fie, an ihrem Ort, zumal aud in unſrer Zeit 
für die befte; für junge Leute injonderheit ift ſie die ficherfte 
Pforte zu einer reihen guten ? Predigtübung. 

Wir haben ein Wort Gottes, das wir lejen, verftehn, anwen⸗ 
den und andern erklären jollen: zu deſſen Erflärung, Lehre und 220 
Anmendung Prediger eigentlih beruffen und angemielen werben; 
den meiften unfrer Predigten liegen gar Texte vor: — worauf 
weijet uns dies Alles, als auf Homilie, auf eine erflärende, 
anmwendende Predigtmethbode Wir follen nehmlich nicht ein 
Wörtlein des Texts, dag Wort Und etwa, wählen, daraus ein 
ſcholaſtiſches oder vebnerifches Thema [pinnen, dies abbaipeln und 
weiter Tert und Wort Gottes ſeyn lafien, wo fie find; dazu 


1) Taube, wie ber Affe binter dem Menfchen einber. 
2) die unausweichliche Pforte aller guten 





braucht e8 eine Bibel. Bibel wird in ſolchen Predigten nicht 
geprebigt, ber Tert in feiner ganzen, lebendigen Anficht nicht 
gebraucht; allenfalls könnte man da auch immer über ein Compen- 
dium der Philofophie oder wie Kaiſersberg that, über Brands 
Narrenſchiff predigen und die Predigten wären confiftenter. Sekt, 
fobald ein Redner der Art fein fauerfüßes Thema ankündigt, iſts 
nicht, als ob er die Schlummerkörner eines großen Mohnhaupts 
über die Verfammlung ftreute? Der Eine Theil dent: was foll 
mir das? Kann mir diefer über einen jo allgemeinen, in der 
Luft fchwebenden Sag, über eine in Predigtwinbeln eingefehnürte 
Pflicht ober Tugend fagen, mas ich nicht längft aus ficherern 

221 Quellen, mit beftimmtern Begriffen und Erfahrungen, befjer wüßte? 
Er predigt! und fo prebige er denn! Sein großes, ewiges Thema 
ift: Hilfts nicht, fo ſchadets nicht; ſchadets nit, fo hilfts 
nit; das er durch Theile und LUnterabtheilungen, nebſt introitu 
und exordio, jechlerlei usu und Application allemal ftrenge durch⸗ 
führt. Er beweiſets heute nud über acht Tage und über hundert 
Jahr, wenn er noch lebt, wird erö wieder bemweifen.! 

Nehmen Sie nun im Gegenteil das Wort Gottes, oder 
Ihren Tert, wie er dalieg. Das meifte davon ift Geſchichte, 
Parabel, und auch alle Lehre mit foldhen verwebet: was nun 
natürlicher, als daß fie diefe, ala das was fie tft, zeigen, ihren 
Tert oder feine Situation beleben und folde in jedem Heinen 
Bliede des Ganges und Fortganges anwendend verfolgen. 
Sie kündigen den Inhalt Ihres Terxts beicheiden an, ſuchen die 
Situation in ihm mit wenigen Worten intereffant zu machen, 
oder feine Lehre in Situation zu verwandeln. Diefe begleiten Sie 
nun durch alle Theile der vorliegenden Geſchichte, Lehre oder Para- 
bel kurz und lebendig: Sie generalifiren das Beſondre, partikula⸗ 
riſiren das Allgemeine, machen Ihren Tert zum Tert der Welt, 

2 Ihre Geſchichte und Parabel zur Geſchichte und Parabel des 
menſchlichen Herzens, die Situation, die fie anzeigten, in 


1) lebt, wieber. 
28 


— 20 — 


allen Krümmen zur Situation unſers Lebens. Da kann Ihnen 
Niemand entkommen, wenn er auch wollte: da darf niemand auf 
Application warten, weil alles Anwendung iſt: da ſoll niemand 
beim Thema verachtend einſchlafen, weil es kein trockner Satz, 
fein! universum in nuce iſt, ſondern alles bier Thema des 
menjhliden Sinnes und Leben? wird. De te narrätur 
fabula! heißt beftändig, wenn e8 auch mit feinem Wort gejagt 
würde: die Sade ſpricht, die Situation fommt an uns, fchlingt 
ſich um uns und läßt nicht eher ab, bis die Predigt aus tft, bis 
jeder fühlt, daß fie aus fey, und fie gern länger wünſchte. Ste 
führten den Zuhörer nicht auf der gefchlagenen, außgetretenen 
Zanditraße, wo es fo wenig eine Freude ift, andre zu leiten, als 
jelbft mitzugeben ,? zumal man ja immer nur wie das Sprüdmort 
jagt, der Nafe folgen darf. In natürlichen, ungefuchten, immer 
abwechſelnden und doch zufammenhangenden Labyrinthen führen 
Ste ihn zum Ziel Ihrer Wallfahrt und behalten den Leitfaden 
immer in Ihrer Hand; der Zuhörer muß folgen. Zudem wächſt 
Ihre Predigt von Anfange bis zu Ende aud in Intereſſe, im 2923 
Affelt; fie wird in ihrer Grundlage eine Fabel, eine leben- 
dige Situation, oft ein Drama des menjhliden Herzens 
(ih weiß, Sie ftoffen ih am Wort nit) mit Knote und Ent- 
widlung, fur; ein unzertrennbares Ganze Der Zuhörer 
bat den Vortbeil, daß er immer nur Bibel, für fi belebte 
Bibel böret, ja gemwiffermaaffe vor und um fich fiehet. Er Hat 
den Vortheil, daß er fih nachher Stüd für Stüd, Wort für Wort 
eines Jeden zu erinnern weiß, mas gejagt ift, infonderheit was 
für ihn gejagt ift; er darf nur den Tert vor fih nehmen und 

ihn wie einen fortfließenden Strom oder wie einen Luſtweg, mo 
überall erinnernde Denkmale ftehn, hinabwandeln. Er bekommt | 
auch auf dieſe Weiſe feine Bibel lieber, da er fie verftehen lernt 

und auf allen Seiten die: Gefhichte feines Herzens in ihr 
liefet; bei der andern Methode mag er alles lernen, nur nicht die 





1) Sat, als ein 2) ift, zu leiten, al® mitzugeben, 


— 21 — 


Bibel, die ſich ihm ja nur in ausgerupften, herbeigezwungnen 
Stellen darbeut oder in ewigen Hohltönen, die Sprache der Bibel 
ſeyn ſollen und es nicht ſind, um ſein Ohr ſchallte. Auch Sie 
bekommen die Schrift lieber, die ſich Ihnen auf ſolche Weiſe in 
einer Fülle und Mannichfaltigkeit darbeut, die Sie nie arm 
224 werden läßt, da Sie nach jener Mönchsmethode in weniger Zeit 
Blut- und Mäufearm find, weil Sie nad ihr ja immer nur vom 
Allgemeinen zehren ! und ſich dies Allgemeine zu bald aufißt. Hier 
werden Ste immer neu, wie Ihr Tert, wie Ihre Gefdidte: 
diefe läßt fih in verſchiednen Jahren auch verſchieden anſehen 
und hat überhaupt tauſend Geſichtspunkte, wenn die kalte, jcho- 
laſtiſche Abftraction nur Einen oder gar feinen bat. Die Mor- 
genröthe jedes Morgens gehet uns ja mit neuer Huld auf und 
jede Abendfonne mit neuer Schönheit unter: jever Frühling, jede 
wieder kommende Jahreszeit hat ihre neuen, unerjchöpflichen ? Reize. 
So ifts mit allen lebendigen Gegenftänden der Natur, jo ifts mit 
allen Situationen der Bibel. Sie verjüngen fih für uns und 
wir verjüngen und mit ihnen. Mich dünkt, man dürfe, man 
önne- feine zwo Predigten über ein Evangelium Halten, die in 
verfchiebnen Jahren ſich völlig gleich feyn dörften, glei jeyn könn⸗ 
ten: denn wir ſchwimmen ja immer im Strom der Zeit weiter, 
unsre Ausfiht, unsre Beberzigung wird aljo anderd. — Uber, 
wenns wäre, wenn man fih für dem Einerlei fürdhtete: ei welche 
Menge von Geſchichten, PBarabeln, Sprüden, Situatio- 
225 nen, liegt außer, liegt oft dicht am Text dar, die man mit ihm 
in Verhältniß ftellen, in Verbindung ziehen und dadurch fich 
und feinen Vortrag erneuen und beleben darf! Wer, als ein 
Tantalus, wollte in diefem Strom dürften? Und da in der 
Bibel wiederum fo viele und vielerlei Denkarten von PBerjonen, 


1) Fülle, im unerflärbarften Reichthum, in einer Mannid- 
faltigleit barbeut, die Sie... .. find, weil Sie ja immer nur im: Allge- 
meinen leben 

2) jede auch wieder kommende Jahrszeit hat ihre neue, unerichöpfliche 





— 1) — 


Büchern, Zeiten find und man diefen ganzen Garten voll Blu- 
men und Früchte vor fih, zu feinen Gebrauh frei, ja zur 
Benugung des ganzen Gartens fih verbindlihd gemadt hat: 
können es und die Himmlifhen und Irrdiſchen vergeben, daß wir 
ftatt alle deſſen Spinnegeweb theilen, fremde faljchglängende Rhe— 
torif oder enge Scholaftit predigen und damit die Welt einihlä- 
fen? Wo bleibt das Wort Gottes, das mir den Menfchen in 
allen feinen Theilen lieb machen jollen? wo bleibt unfer 
Gewiflen und unfre Pflicht? 

Bon frühauf, m. Fr., üben Ste fi aljo in dieſer analy⸗ 
tifhen Lehrmethode, die Sie auf das Einzelne wie auf das 
Allgemeine, aufs Alte und Neue aufmerkſam macht und Ihnen 
alle Schätze der Bibel und des menjchlichen Herzens öfnet. Das 
befte Symbolum jenes tauben Allgemeinen wären etwa bie übel 
verftannnen Worte Davids:*) „all mein Heil und Thun ift, 226 
„wo nichts wächſt;“ das Symbolum diefer Methode ift Frucht⸗ 
barkeit, Nutze, lebendige Gegenwart in jedem Momente. 
Zu Anfange wird diefe Lehrart ſchwer: denn fie fobert Mate- 
rialien, immer neue, frifhe Materialien und ja immer Gegen: 
wart des Geiftes und Herzens. Sie will einen muntern 
Geift, der immer vom Allgemeinen aufs Befondere bliden, im 
Bejondern das interepantefte Allgemeine auffinden kann: fie läßt 
fih alſo nit durch Regeln, aber wohl durch Beispiele, dur 
lebendige Uebung lernen und am meiften fobert fie den freien, 
willigen Geift, der Gott von Herzen, mit ganzer Seele zu dienen 
Luſt hat. Sie Hafjet alles Wortgeklingel, alle nachgemacte, aus- 
wendiggelernte Perioden » Fragmente und Sylbenweiſen: kurz, fie 
bafjet die Imechtifhe Drefchmethode, da man immer und ewig 
leeres Stroh fchläget. Aber eben durch ihre Schwere und Schwie- 
rigfeit lohnt fie. Sie zwingt, fih um Materie zu bemühn, die 
Schrift, den Lauf der Welt, die Geſchichte des Reichs Gottes 
fennen zu lernen, gute Mufter infonberbeit des Alterthums, die 











*) 2 Sam. 28,5. 


— 23 — 


gern immer das Beitimmte, Bejondre, Facta, Situationen; 
lebendige und bargeftellte Anſicht Liebten — diefe zu leſen, fid 


227 mit ihrem Geifte zu nähren und aus ihrer Wirkung wenigſtens 


den edeln Zweck zu lernen, ja nicht unnüte Worthelden jeyn zu 
wollen auf der Erde! Hüten Sie fih, m. Fr., frühe vor diefem 
Abgrunde ohne Erlöfung. 


Einige Gedanfen Luther?. 


Laß deinen Dünlel fahren und Halte von der Schrift, als von ber 
reihften Bundgrube, die nimmermehr gnug ausgegründet werben mag. 
Es ift der größten Plagen Eine, daß die Schrift jo verachtet ift, auch bei 
denen, die dazu geftiftet find; und es find doch nicht Leſewort, wie fie 
meinen, fonbern eitel Lebewort drinnen, die nicht zum Speluliven unb 
hoch zu dichten, fonbern zum Leben und Thun dargeſetzt find. Mir if 
alfo, daß mir ein jeglicher Spruch die Welt zu enge madt. Ein Sprud 
der Schrift gilt mehr, denn aller Welt Bücher. 

Der Harnifh ift gut: wer ihn weiß zu brauden. Wer mit 
dem Zert wohlgefaßt ift, der ift ein rechter Paftor und das ift auch 
mein befter und Chriftlicher Rath, daß man aus der Quelle Waſſer ſchöpfe, 


1) Im Mie. folgt Hier durchſtrichen: „Nur im Befondern ift Heil, 
nur im Einzelnen, genau Beftimmten if Freude und Anmuth. So— 
lange ich (denn freilich kann ich auch hier aus eigner Erfahrung für Schaden 
warnen) folange ich, wie es junge Leute meiftens pflegen, aus Mangel ber 
Materie oder nach verlodenden glänzenden Borbildern im Allgemeinen 
blieb und ſchön berrbetorifirte, fehlte e8 mir zwar nicht an Zuhörern; biefe 
drängten fi aber des glänzenden Vortrags wegen, wie zu einer Komödie 
um mich: umringt waren bie Kirchen von Roß und Wagen, aber vielleicht 
die gute Srucht fehlte. Ich lernte es immer mehr, infonderbeit einzig aus 
Luthers Schriften, den Himmelweiten Schleier abzumerfen, und baflir das 
Einzelne zu erfaffen, zu beleben; das Prebigen warb mir immer ſchwe⸗ 
rer und — leichter. Bis mir jet nichts in ber Welt ſchwerer ift, als 
allgemeine Worte zu fagen, bie feinen beftimmten Sinn haben, die man 
wie eine wächlerne Nafe drehet. Mir wirds oft ſchwindlich im eigentlichften 
Verſtande, wenn ich fie von andren hören [muß], mein Kopf wird ftumpf und 
dumm, auf ganze Tage. Und wenn man folhe von Jünglingen leſen und 
hören muß: wer möchte nicht meinen? Die verberben fich damit auf Lebens⸗ 
zeit. Sie fahren ihren Vätern nach und ſehen das Licht nimmermehr. 





— —4 — 


d. i. die Bibel fleißig leſe und treibe. Da liegts an einem guten Prediger, 


daß er könne eine Sache für ſich nehmen und kurz, mit zweien, dreien 228 


Worten faflen und fchließen; darnach, wo es noth if, auch ausſtreichen 
und erflären mit Sprüden und Erempeln, daß aus einer Blume eine 
ganze Wiefe werde. Gleichwie ein Goldſchmied einerlei Stüd Silbers 
dicht und did über einander in einen Klumpen fchlagen und wiederum 
breit, aus unb zu bünnem Blech fchlagen kann, baß es beide eine lange 
und kurze Prebigt und doch einerlei und nicht wiberwärtig fey: denn Got⸗ 
tes Wort foll reichli bei und wohnen, daß man ber Schrift gewaltig fey. 
Sonft kommts enbli dahin, daß ein jeber predigt, was er will, und flatt 
des Evangelii und feiner Auslegung wiederum von blauer Enten 
wird geprebigt werben. 

Ach, fie wollen nun alle nach der Dialectic und Rhetorik prebigen, 
machens alfo raus und bunt, baß weder das Boll, noch fie ſelbſt etwas 
davon verftehen. Kinfältig zu prebigen, ift eine große Kunfl. Chriſtus 
thuts felber: er redet allein von Aderwert, vom Senflorn und braudt 
eitel gemeine Gleichniſſe. Wer feine Gleichniß in Predigten berfürbringen 
kann, ſolches behält der gemeine Dann. Der befte Prediger ift ber, von 
dem man kann fagen, wenn man ihn gehört bat, das bat er 
gefagt; wenn er gleich nicht viel Sprüche führet und anzeucht, wenns nur 
recht iſt, das er predigt und dem Glauben gemäß. 


Eines Lehrers fürnemſtes Amt iſt, recht, richtig, ordentlich zu lehren, 229 


daß er ſehe auf den Haupthandel, Argumenta und Gründe, Summa, wor⸗ 
auf er ſtehe und alſo den Zuhsörer lehre und unterrichte, daß ers recht ver⸗ 
ſtehe und lönne ſagen, auf dem ſtehts eigentlich. Wenn das geſchehen iſt, 
alsdenn mag er rhetoriſiren, ſpatzieren, mit Worten ſchmücken ꝛc. 

Richtet euch nicht allerding nach andern, ihnen nachzuahmen und zu 
folgen: ihr könnt meine und eines andern Predigt von Wort zu Wort nicht 
erlangen; ſondern faſſet aufs einfältigſte und kürzeſte zuvor, worauf 
die ganze Sache und Predigt ſtehet und befehlets darnach unſerm 
Herrn Gott. 

Wenn ihr ſehet, daß die Leute mit großem Ernſt und Luſt zuhören, 
fo beſchließet: zum nächſten kommen fie deſto lieber wieder. 


Ein und vierzigſter Brief. 
Sie fragen, m. Fr., wie Sie ſich vor dem angezeigten 
Abgrunde Scholaſtiſch⸗rhetoriſcher Nichtsſagereien hüten könnten? 
welche beſſere Muſter Sie zu befolgen hätten? Ich habe Ihnen 


— HH — 


fhon einige genannt, und das befte ift, Tein Mufter nachzu— 
ahmen, fondern auf dem Wege lebendiger Uebung fich felbft 
Mufter zu werden. Damit Sie mich inbeflen nicht mißverftehn, 
jo erkläre ich mich weiter. 

Die Apoftel waren Boten einer neuen Botſchaft in alle Welt; 
fo neue, unerhörte, vom Geift infpirirte Boten zu ſeyn, müfjen 
wir nicht affectiren: mir predigen aus ihnen, nach ihnen und 
jedermann fann fie ja leſen. Die beiten SKirchenväter waren 
zugleich die fimpelften Homileten. Ich laſſe manden ihren Wit, 
ihre Allegorien, ihre glänzenden Tiraden ; aber ihre Kürze, Ein- 
falt, ihr Anſehen, ihren herzlichen, oder wenn ich jo jagen darf, 
Bruftvortrag (eloquentiam pectoris)! beneide ih mandhem. Es 

231 tft eine Schande, daß viele Prediger unter Poftillen alt und grau 
werben und menigitens einen Baſilius und Chryfoftomus nie 
fennen gelernt haben; bierin beſchämet uns vielleicht die Römiſche 
und Griechische Kirche. Die Franzöfiihe Kanzelberedſamkeit hat 
fih ſehr nah Chryfoftomus gebildet; und in der Griechiſchen 
Kirche find in den feltnen Predigten, die fie aufgiebt, noch von 
Baſilius Einfalt Spuren. Wenn die eigentlich » hriftliche Epoche 
wenigſtens ein filberneß Zeitalter gehabt hat, fo wars das Jahr⸗ 
hundert, da diefe Männer und neben ihnen ein Eujebius, Atha- 
nafius, Gregorius, Ambrofius, lebten. -— In den Mönds- 
jahrhunderten verjchlimmerte fi die Beredſamkeit jehr und aud 
Tauler ift außer feiner freilich fehr bejtimmten, veften und ich 
möchte fagen, ehernen Myſtik, außer feiner nervichten Sprache, 
fein Mufter. Wer zwo Predigten von ihm gelefen bat, bat fie 
alle gelefen: er zieht zufammen mit feiner Myftil und die Geele 
ihrumpft mit Gewalt über ihn ein. Luthers freie Herzensſprache 
und reiche biblifche Analyfe Habe ich Ihnen ſchon empfohlen ; mir 
bat fie zuerft den beſſern Weg gezeigt, ohne daß ich fie je hätte 
nahahmen können oder wollen: denn er ſpricht auch in ihr als 
Luther, der fih nichts übel nimmt und übrigens auf Predigten 


1) ;‚(eloquentiam pectoris)‘ fehlt. 








— U — 


nicht viel Zeit wenden fonnte. In feinem Jahrhundert predigten 232 
mehrere 3. €. Jonas, Matthefius, Weller, Chemnik u.a. nad 
feiner Weife; die analytifhe wurde ! damals die erſte Proteftan- 
tifche, allgemeine Lehrart. In neuen Predigten bin ich fehr unbe- 
wandert. In unfern berühmten brei Predigt - Nationen, Englän- 
dern, Franzofen und Deutichen giebtö fehr viel, viel gute analytifche 
Predigten: wie ich mich denn über die Parabeln Chriſti und über 
andre Biftorifche Terte einiger ? trefliher Mufter erinnere; ver- 
zeihen Sie mir aber, daß ich mein Gedächtniß nicht martere. Auf 
Nahahmung oder gar auf Plünderung folder Stüde käme es doch 
überdem gar nicht an; fondern auf Unterfuhung des Weges, 
den ihre Berfafler gingen und auf dem? fie zu ihrer Vollkom⸗ 
menbeit gelangten. Lafien Sie uns aljo nad dieſem umberfchaun. 
Der ſchönſte, rundefte Tert, über den zu predigen tft, ift * 
eine Parabel, und ich bin baher ben Vätern gut, daß fie fo 
viele in die Evangelien brachten: fie hätten ftatt mander ſich wie 
berholenden Wunder noch mehrere, ala bie vom verlohrnen Sohn 
und fonft einige Matth. 13, 21. Luc. 18, 21. Bineinbringen kön⸗ 
nen. Die Fabel Halte ih für die Perle des Bortrages in 
der Moral, Beredſamkeit und Dichtkunſt. Gewiſſermaaße ift 233 
fie der Keim aller ſchönen Einkleidung, alles wahren Shmudes 
der Rede. Die beiten Wortblumen, das Bild und die Alle- 
gorie find eine verkürzte Yabe. Auch der wahre Gang der 
Geſchichte und Erzählung, fo wie die fürzefte Anfchaulichkeit 
aller Moral und allgemeinen Lehre liegen in ihr. — Chri⸗ 
ſtus jelbft fand es gut, feine jchönften Lehren und Geheimniſſe 
des Reichs Gottes in Parabeln zu kleiden; aus ihnen muß alfo 
auch der Keim bes ächten hriftlihden Predigtvortrages, wie 
vielleicht alles guten Vortrages, bervorgehn: denn wozu anders ® 
wählte Jeſus eine Parabel, als daß er fie zur gefchlanfen, Ieben- 


‘ 


1) Weife, es wurde 2) und fonft einiger 
3) den fie ſelbſt gingen unb durch ben 4) ift wohl 
5) Anichaulichleit von Moral und allgemeiner 6) denn warım 





— 97 — 


digen Fabel feiner Lehre und der Situation machen mollte, 
die in ihr liegt? Diefe gehe alfo aus ihr hervor: aus dem 
Samenkorn fprofle der ganze Baum mit feinen Weiten und Zwei⸗ 
gen; und je geſchlanker fi die Parabel um uns ſchlingt, je 
mehr fie mit fortgehender, wadhjender Stärke uns immer 
mehr umfafjet, die Tiefen ihres Inhalts oder unfrer Seele 
öfnet und zulegt, als eine fabula morata voll großen Aufſchlufſ⸗ 
ſes und ächter Lebensmweisheit! in uns bleibet; deſto befier 
war die fie dahin einführende Predigt. Sie muß ein jo ganzes 
231 Werk feyn, als ihr Tert es üft: fein Wort in ihr weder zu viel, 
noh zu wenig; voll Abwechſelung und Fortgang, voll Sit- 
ten und Entwidlung Der Knote werde in ihr fo angezogen 
und interefjant gemadt, ala überall, wo in der Erzählung, Hand⸗ 
lung und Geſchichte ein Knote ift; denn um ihn fchlingt, in ihn 
verſtrickt fih die Aufmerkfamleit des Zuhörers. Nur Einige Pre- 
digten von biefer Art über die reichiten Gleichniffe mit größeftem 
Fleiß und Wetteifer ausgearbeitet, prägen der Seele eine gute 
Form ein, bie nachher auch bei der verjchiebenften Materie ihren 
ftrengen Umriß, ihre tühtige Wirkung zeiget. Hier gewöhnt 
man fih zu einer Einheit des Blicks bei der größten Abwech⸗ 
felung des Ganges, zu einem fräftigen, vielfahen und 
immer beftimmten Ausdrud, zu einem Reihthum der Materie 
an Sitten, Gedanken, Schilderungen u. dgl. endlich zu einem 
bis ans Ende wachſenden Numerus der Rede. — Scheuen Sie 
fih nit, um bier zur Vollfommenheit zu gelangen, vor ben 
Regeln und Vorbildern der Griechen; denn dieſe find, in allem, 
was Ausführung und Ausbildung, Einfleidung und Fabel 
ift, allein Meifter. Homer und Sopholles find in thätiger 
Entwidelung des volllommenften Mythiſchen Gebäudes, jo wie 
235 Ariftoteles in den feinften Bemerfungen und Regeln darüber, 
die ewigen Mufter, die auch der H. Baſilius felbft anpreifet. 
Niemand in der Welt hat befier, als Homer, bemiejen, wie man 


1) vol Simmelsauffhluß und Lebensweisheit ganz 


— 213 — 


die einfachfte Fabel mit der reichften Natur beleben, mit der 
größeiten Einfalt fo vielfah maden Tann, als die weite 
Schöpfung. Wie einfadh leitet er den Plan fort und läßt ihn 
am Faden feiner Hand immer wachſen! wie weile vertheilt er 
Liht und Schatten, führt jeden Gott und jede Begebenheit zu 
rechter Zeit herbei, und eilt immerdar zum Ziele. In biefem 
großen Anblid feine Iliade ala ein Mufter der einfaden und 
pathetijhen, die Odyſſee als ein Vorbild der verwidelten 
Sittenfabel zu lefen, frühe zu leſen und von einem Lehrer, wie 
Ariftoteleg war, darüber ftrengen Unterricht zu hören, gewöhnt, 
dünkt mid, die Seele zu Bildung eines einfachen und reidh- 
abwedjelnden Plans auf Zeitlebens. Sophofles, mit feiner fur- 
zen, geründeten Darftellung einer menſchlichen Fabel, führt 
eben des Weges, und da! er überdem auch die Affekten ganz 
in feiner Gewalt Hat und fie mit jedem Fortfchritt der Scene, 
wie aus einem Knäuel hervormwindet: fo ift aus ihm für den, 
der zu lernen weiß, viel zu lernen.” Glüdlich ift der, dems gege- 
ben ward, diefe Eindrüde von Entwidlung der [hönften und 236 
mädtigjten Form der Rede frühe zu empfangen und fi in 
den jchönften Jahren darnach zu bilden; denn alle Redekunſt hat 
fih an Poefie und Fabel gebildet. 

| Zunädft an der Parabel fteht die Gefchichte und da dieſe 
in der Schrift auf morgenländifche Weife, d. i. einfältig und 
findlich bejchrieben fteht, fo kann ein guter und ſchicklicher 
Abſchnitt derfelben an Fruchtbarkeit der Materie oft wirklih für 
eine Yabel gelten: man kann ihre fo einfahe Züge aufbellen, 
als obs Geſchichte der menjhlihen Seele wäre. Im N. T. erzählt 
Johannes zu diefem Zwed die Gefhichte am Iehrreichften. Eben 


1) hören, bilvet, dünkt mich, die Seele zur Einfalt und Abwed- 
felung des Plans auf Zeitlebend. Sophokles ift dies alles in kurzer, 
geründeter Darftellung und da [„gegrändeten“ in B ift Drudfehler.] 

2) fo ift er zu biefer zufammengebrängten, fanften Bewe- 
gung des Herzens, mit wenigen Worten, in fo weniger Zeit das größefte 
und einfachfte Muſter. 





— 29 — 


durch Bemerkung der kleinen Umſtände und daß er ſie, wie 
einen ſanften Bach zwiſchen Blumen und engen Ufern ſich fort⸗ 
winden läßt, dadurch macht er auf jedes Moment des Fort- 
gangs aufmerffam: unvermerkt wird feine Erzählung zum ſchönen 
Ganzen, gleihfam zur Yabel! des menihliden Lebens, zum 
Spiegel menihlider Gefinnungen und Geftalten. Verſuchen 
Sie in diefem Geſichtspunkte feine Geſchichte vom Täufer, fein 
237 Geipräh Jeſu mit der Samariterin, den Inquiſitionsproceß des 
Blindgebohrnen, die Auferwedung Lazarus, die Leidensgeſchichte u. f. 
zu lefen:? wer, indem er bie feinen Züge nur halb bemerft, über 
eine ſolche Geſchichte nicht predigen, und die Saiten des menid- . 
lichen Herzens berühren fönnte: der wäre zu dieſem Geſchäfte wohl 
unbraudbar — Ihm zunächſt ftünde Lukas, der in feinen beiden 
hiſtoriſchen Schriften feine Züge des Geſprächs und der Bemerfung 
dem Gefchehenen einmebt, deſſen fich injonderheit einige Feſtlectio⸗ 
nen zu erfreuen haben.? So hat Klopftod den Gang der Jünger 
nah Emahus aus ihm ſchön nachgebildet: jo find die Geſchichten 
der Ankündigung und Geburt Johannes und Jeſu, wie aud) einige 
andre, die die andern Evangeliften nicht Haben, erzähle. In den 
Büchern Mofes find viele dergleihen Erzählungen; nicht minder 
in der Lebensgefhichte Samuel, der Könige, ‚der Propheten. Wer 
über die Gejhichte Kain und Abels, Abrahams und Melchifebets, 
Iſaaks Aufopferung, Jacobs und Joſephs Schickſale, über Stüde 
aus Mojes, Aaron, Samuels, Sauls und feiner Nachfolger, 
Elia, Daniels, Jeſaias u. f. Leben oder Schriften nicht * zu pre- 
238 digen wüßte; worüber follte der predigen? So hat Lavater bie 
Geſchichte Jonas und der erften Apoftolifhen Kirche; andre, 
(Engländer infonderheit) haben merkwürdige Charaktere, Gefpräche, 
Situationen des A. und N. T. gleihfam nur lebendig auf- 


— 


1) zum fhönften Ganzen, zur Fabel gleihfam 

2) Blindgebohrnen, am meiften aber die Auferwedung Lazarus zu lefen: 

3) Züge bes Dialoge und der Bemerkung mit einmwebt, daß fich 
infonberbeit einige Geſchichten der Fefte deßen zu erfreuen haben. 

4) u. f. nicht 


— 80 — 


genommen; und Charakterſtücke der Menſchheit an ihnen 
gezeichnet. Yoriks Predigten, wo er nicht feiner komiſchen Laune 
zu ſehr den Bügel läßt, find voll feiner Züge in dieſer Gat- 
tung — — 

Auch Hier, m. Fr., rathe ich Ahnen zum Studium ber Grie- 
hen. Lehrender und feiner ala Plato und Zenophon den Sofrates 
aufnahmen, wird Taum eine andre, nur menſchliche Hand zeichnen. 
Die Geſpräche? des erften find den beiden größeften Rednern der 
Welt, dem Demofthenes und Cicero, die Duelle? ihrer fhönften 
Lebend- und Sittenmweisheit gemefen: und von dem legten werden 
. fein Cyrus, Agefilaus u. f. als fhön-entworfene Gemählde ewig 

Ieben.° Ob Voltaire gleich nicht ganz mit Unrecht jagt: der Mono» 
log baflet den Dialogen; denn auch Cicero war glüdlicher in feinen 
Reden ala Gefprädhen; fo ift doc gewiß, dab aus Geſprächen, 
wie Plato’8, Cicero's u.f. (ih* wollte, man könnte auch 239 
fagen, Menanders) der Styl eine Gelenkigkeit, eine Biegfam- 
feit belommt, die ſonſther ſchwerlichd zu erlangen ftehet. Auch 
Plutarhs, und unter den Neuen Addiſons Schriften find zu 
diefer Abficht fehr nüglid. Plutarchs moralifche und hiſtoriſche ® 
Auffäge*) haben eine Honnetetät (nalorayadıar), die ich außer 
den Sokratiſchen Schriftftellern faum irgend kenne; aud die Aber 
von Religiofität (desaudauuorın), der ih den harten Namen Aber- 
glaube bei ihm nicht gern geben möchte, ift für einen Theologen 


*) Bon einigen jeiner beiten moralifchen Stüde haben wir eine gute 
Ueberfetung: Auserlejene moralifde Schriften von Plutard, 
Züri, 1769. 3 Bände. Addiſons Zufhauer und andre Schriften ſind 
durch Ueberſetzungen gleichfalls gnugſam befannt.‘ 


1) Dialoge 2) Cicero, Duelle 

3) letzten wird fein Cyrus, Agefilaus u. f. ewig leben. 

4) aus Dialogen, wie Plato's (id 5) fonft wohl nirgendber 

6) Infonderheit empfehle ich Ihnen auh Plutarchs Schriften: feine 
moraliſchen und hiſtoriſchen 


1) „*) Bon — belannt.” fehlt. 








— 31 — 


lehrreich Seine Philoſophie iſt gewiſſermaaße nur belebte 
Geſchichte, mit der jene? auch ganz durchwebt iſt; und ich weiß 
nicht, ob es nützlichere Schriften gebe, als die, ſo Weisheit und 
Geſchichte in Einen Kranz flechten. 
Sie werden ſich wundern, daß ich Ihnen immer noch von 
feinem Griechiſchen oder Römiſchen Redner ſage; hören Sie aber 
240 Cicero ſelbſt erzählen: woran er ſich zum Redner gebildet babe? > 
An Philoſophie und Geſchichte. Er an Plato und Demofthes 
ned; Demofthenes an Thucydides und Plato; die Poefie ging allen 
vorher, jonft hätten fie ſämmtlich nicht werben können, was fie 
geworden. Mich dünkt, dies ift der Weg der Natur, den 
auch die Schrift in der Einkleivung ihres Vortrages beftätigt. Die 
Zeiten der Poefie gingen voraus: die Geſchichte folgte: Lehre 
und Rede entwand fih aus diefer * und blieb ihr, als Freundin 
zur Seite. Gnug für Beute. Leben Ste wohl. 


241 Zwei und vierzigfter Brief. 


„Wenn nun aber nothwendig der Tert ein Yehrtert wäre?“ 5 
So ift fein andrer Rath, ala daß Sie ihn zur Gefhichte machen, 
zur Geſchichte ihres und jeden Herzens, zur Situation 
der Menſchheit: auf Einmal haben Sie wieder das große, freie 
Feld vor fih. Sie generalifiren und vereinzeln, bliden über Zei⸗ 
ten und Völker hinaus und ſchränken fich wieder aufs menfchliche 
Herz ein; — andre Auskunft giebt? nicht. Das Herz ift die 
Triebfeber von allem: ihm zu gut erleudten Sie den Berftand 
und müflen alfo das Licht vefielben bis zu feiner Wärme leiten. 
Mögen Sie über eine Lehre oder über eine Pflicht prebigen; 
(ih erblöde, wenn ih nur die allgemeinen Namen Lehre, Pflicht 
und denn da3 arme Wort Predigt binfchreibe) die allgemeine 


1) Aber von demdauorıa, .... ift angenehm und lehrreich. 
2) fie 3) gebilbet? 4) ibr 5) if?“ 


Lehre und Pfliht Tann nur im Befondern, im Einzelnen 
eriftiren, aller zu ferne und feine Dunft! Hilft nichts. Auf dies 
Beiondre müfjen Sie alfo dringen, die Philofophie und Dogmatif 
fo ſehr vom Himmel berabruffen, daß fie jegt nur in dieſem 
Kreife wohne und feinen andern Raum zu baben, zu begehren 
ſcheine. ft Ihre Predigt fo ganz und eigen für ? Ihre Berfamm- 242 
lung, daß fie nirgend anders, als bier gehalten werden Tann: 
behandelt fie ſowohl Lehre als Pfliht nur als AInterefje und 
Situation diefer Menjhen, entwidelt die Hinderniffe, die 
beide bier finden, lehret diefe Zuhörer und niemanden ® in ber 
Welt fonft, berathichlagt mit ihnen, muntert fie auf, treibet fie 
an u. f. deito befjer ift die Lehr- die Pflihtenpredigt und bie 
beſte ift die, die im Allgemeinen, Unbeftimmten gar nicht umber- 
taumelt. Sie fehen aber, daß dieſer Vortrag der fchwerfte und 
Ipätefte ift, wenn er rechter Art jeyn fol. Er erfobert die Er- 
fabrung jo mohl, als das Anſehn eines Vaters, eines Weiſen, 
nit den Leichtjinn eines Jünglinges,“ der mit allgemeiner 
Lehre und Altflugheit oder gar mit feiner frechen Beftrafung 
und Anmunterung, ftatt Erbauung, vielmehr Edel und Verdruß 
erregt. Und doch find ſolche gewäßerte Lehrprebigten die häufig- 
ften von allen in Schrift und Sprade. Erröthen muß man, wenn 
Jünglinge fo lehren und zurecht weiſen oder gar donnern und zer⸗ 
ſchmelzen! Was würde ein alter Römer und Griede, mas gar 
ein Morgenländer jagen, wenn er in unjre Verfammlung träte, 
und den unbärtigen Knaben im Prieftergemande vor alten, mwür- 
digen Männern und Greifen ſolche Täfterlihe Jugendübungen 5 243 
halten hörte! Gehe, würde er ihm fagen, in den Wintel, in 
den Schatten der Schule, du Lehrling, und entweihe nicht - mit 
Knabengeſchwätz ben Kreis einer heiligen Berfammlung! — Ernefti 
bat es mehr als einmal bemerkt, mie wenige auch jonft berühmte 
Leute Glaubenzlehren auf die rechte Art zur Chriſtlichen 


1) zu ferne Dunft 2) fo fehr für 3) lehret fie umb niemand 
4) Jünglinges und Thoren, 5) Iugenblibung 





— 33 — 


Diſciplin machen; und Lebenspflichten aus den rechten Glau⸗ 
bensquellen herzuleiten wüßten. Schon Luther bat darüber 
oft geklaget. Nichts iſt dabei eckler, als die allgemeinen Schil⸗ 
derungen von ſogenannten Charakteren, Tugenden und Laſtern. 
Witzige Franzoſen und unwitzige Wochenſchriftſteller haben ſie in 
Gang gebracht und zur Kanzel paſſen ſie, als ob dieſe mit Augs⸗ 
burgiſchen Pfennigbildern behangen wäre: denn Bilder dieſer Art 
find meiſtens die Ideale ſolcher Predigten an Farben! und Zeich⸗ 
nung... Wers bedenkt, was es für ein verflochtnes Ding ſey mit 
dem Wort Tugend, Later, Sitten, Gemüthsart, menjd- 
liher Charakter: wers gelefen Bat, daß Gott der Herr felbft 
jagt: das Herz des Menſchen ift ein trogig und verzagt 
Ding, wer kanns ergründen? Yh allein fanns ergrün- 
den, der Herzen und Nieren prüfet; ber wird fchaubern, 

244 wenn er die leichtfinnigen, elenden Schilderungen höret. Kein 
Schüler Ariftoteleg, der nur feine Ethik und Moral, oder nur 
Eicero’3 Buch de officiis gelefen, würde jo ſchwätzen; und ein 
Chrift, über Sachen, die das emige Heil angehn und unfre Bil- 
dung dazu befördern follen, darf fich nicht der Sudeleien ſchämen? 
D Freund, Yreund, eilen Sie nicht zu jung, zu leichtfinnig, zu 
oft auf die Kanzel. Sie haben ja andre Uebungen für fi in der 
Stille, die Sie weiter bringen werden; und müflen Sie ja pre 
digen, jo legen Sie das Gewand der Beſcheidenheit an von Kopf 
zu Füſſen. Nichts fteht einem jungen Redner beſſer, als dieſes; 
zumal einem jungen geiftlihen Redner. Ueben Sie fi vorher in 
allen andern Gattungen des Vortrages, und lafien Sie biejen, 
den eigentlihen Lehr⸗ oder Strafvortrag bis auf die Zeit, da 
Ihnen Amt, Pflicht, Bedürfniß und Gewiſſen Anlaß ? und Gele 
genheit gnug geben werben, in ihm zu reden. Go lange lehren, 
befiern und ftrafen Sie ſich ſelbſt — — 


1) als ob fie... . bebangen würde; biefe find auch meiſtens ihre 
Ideale an Farben 
2) Anfehn 
Herbers fänmtl. Werle. XL 3 


} 
un | 
Ich fahre fort, Ihnen einige Schriften und Uebungen zu 

nennen, die zur äußern Bildung dieſes Wortrages dienen und 
fange abermals von den Griehen an. Hier mögen nehmlich num 

die eigentlihen Redner der Griehen und Römer ftehen, deren 245 
Namen und Rubm überall befannt, deren Borzug von fo großen 
Männern zergliebert und dargeftellt ift. Ich habe fie zulekt gelaſ⸗ 
fen, denn fie erfodern die größefte Vorfichtigleit in der Anwen⸗ 
dung. Um uns ift fein Griechenland, fein Rom: wir reden weber 
vor dem Senat, noch auf dem Markte; eine falihe Nachahmung 
alfo, infonderheit deſſen, was man die Figuren und Blumen 
des Vortrags nennet, wäre! eher lächerlich als rühmlid. Es 
gehört eine genaue Känntniß der Sachen, der Geſchichte, des 
Zuftandes der Republik, in der der Redner fprah, des 
Geſchäfts, über welches er fprah u. f. dazu, um das Einzige 
und Beſte von allen, den Geift des Redners, mit dem er bie 
lebendige Situation, die vor ihm lag, erfaßte, ſich zu eigen 
machte und fie in feinem fchönen, rührenden Wortgebäude dahin- 
ftellte — um diefen zu erreichen. Hier iſts billig, daß wir von 
den Römern zu den Griechen gehn und jene erft kennen lernen; 
wenn auch aus Feiner andern Urſache, jo aus ber, daß wir ihre 
Republik, infonderbeit zu der Zeit befler fernen, da ihr größefter 
Redner, Cicero, lebte Diefer bat fich felbft fehr ins Licht 
gejett: von feinen Neben und Werken haben wir eine weit vollen- 

detere Ausgabe, als von feiner Griechiſchen Vorgänger Schriften: 246 
feine Werfe erflären fi auch einander, da niemand befier, als 
er, über die Redekunſt gefchrieben und jeine Briefe, deren zum 
Glück fo viel überblieben, der Schlüffel feines ganzen Lebens find. 
Ich wünſchte, m. Fr., daß Sie diefen großen Republifaner, und 
unermübeten Geſchäftsmann jo merthgewönnen, als ers verdient, 
und dazu, bitte ih, Middletons Leben von ihm vorläufig zu 
Iefen ; eine Xebensbefchreibung, wie wir fie von allen großen Män- 
nern des Altertbums haben ſollten. Sie werben in ihr mit bem 





1) würde 


— 36 — 


Geiſt ſeiner Briefe, ſeiner Geſchäfte, ja mit allen großen Römern 
bekannt, die zu ſeiner Zeit lebten: Ihr Geiſt wird erhoben, mit 
Römern Römiſch zu denken, Römer Römiſch zu leſen. Von dieſer 
Vorbereitung gehen Sie in Stunden der Erholung auf ſeine? 
rhetoriſchen Schriften, de inventione, de oratore, de claris ora- 
toribus, und infonderheit zu feinem ſchönen Redner ſelbſt ad 
Brutum: Sie lernen in ihnen wie Rom überhaupt, fo auch infon- 
derheit das? hohe Ziel kennen, das dieſe des Nachruhms merthen 
Seelen ſich zur Beredſamkeit aufſteckten. D wie entfernt find unſre 
trägen, kriechenden Zeiten von ber unabläßigen Uebung, von der 
immer thätigen Gefchäftigkeit, von dem edlen Durft nach öffent- 
247 lihem DVerbienft . und unfterblihem Namen, in denen fich jene 
großen Männer umberbrängten. Aus Gejchäften, in Geſchäfte 
floß ihre Rede: fie wandten auf beide Dinge,? (die von einander 
auch unabtrennlih find,) mehr Zeit und Mühe, ala wir davon 
nur Begrif haben. Die Gabe der Sprade und des Vortrags galt 
damals, was jebt das leidige Geld oder ein höchftvenerirliches 
Reſcript gilt, die zu unfrer Zeit alle Rede- und Beweiskraft mit 
fih führen. — Bon diefen rhetoriichen Schriften gehen Sie zu 
feinen philofophifchen Auffägen über, in deren Einkleidung Plato 
meiftens fein Mufter war. Sie werben fehen, was bei ihm bie 
Vhilofophie war, wie er fie als die Mutter der Erfindung, als 
die Schatlammer aller wahren Beredſamkeit preifet. Exit nad 
diefem allen, und infonderheit auch nach einer zuvorerlangten 
gründlichen Känntniß des Geiftes der Römiſchen Geſchichte, erft 
jet wagen Sie fih am feine Reden: denn nun find Sie vorbe- 
reitet, fie nicht falſch anzuwenden und etwa Ziegenwolle an dieſem 
goldnen Widder der Beredſamkeit zu fcheren. — Mit ihnen aus- 
gerüftet, werden Sie ſodenn, wenn Sie Zeit und Luft haben, zu 
ben Griechen übergehen können; wo ich aber befenne, daß ich, 
außer einigen Schulreven des Sokrates, ihre Redner felbit noch 


1) gehen Sie auf feine 2) ihnen Rom, wie Griechenland und das 


8) Sachen, 
3* 


— 36 — 


nicht gelefen habe? Die Laufbahn, die ich Ihnen vorgezeichnet, 248 
ift fo groß und einem Menſchen, der frühe in Arbeit ift, bleibt 
zum vechten Leſen fo wenig Zeit übrig, daß man fi oft das 
Befte verfagen und aufliparen muß. Sie werben ein Mann wer- 
den, ehe Sie mit gehöriger Reife und Auswahl in Ihren Neben- 
ftunden nur das Befte von dem gelefen, was ich Ihnen als gol- 
dene Grundlage des Denkens und Ausdrucks ſchon vorgeleget habe. 

Ich Schließe alfo noch mit wenigen Anmerkungen meinen 
Gefegichweren Brief. Zuerft: Regeln der Beredfamkeit fuchen 
Sie ja nur, vorzüglich wenigftend, in den Alten. Die Neuern 
können Wohlredenheit haben, und es find große Schriftfteller der 
Art in allen gebilveten Nationen; Beredfamteit aber wohnte 
nur da, mo Republik war, wo Freiheit herrſchte, wo öffentliche * 
Berathſchlagung die Triebfeder aller Gejchäfte und endlich mo Rei⸗ 
nigfeit und Anbau der Sprade in der Würde war, in ber fie 
außer Rom und Griechenland nirgend geweſen. Was man aud 
fage, mir find Barbaren und tragen noch gnug Zeichen unirer 
Abkunft an und. Das Ohr unfers Volls ift ftumpf und nur nad 
dem Ohr der Hörer bildet fih Zunge und Rebe. Unfre Sprade 
ift gegen die Römische und Griechiſche unperiodiſch, zerftüdt, mit 249 
Confonanten und Hülfsmwörtern überladen; es ift fo unmöglich, 
daß fie fih zur Griehifhen Ründe, zum Römiſchen Numerus 
erhebe, als es ja bewieſen ift, daß fie eigentlich gar feine Perio⸗ 
den bat, nehmlid was jene Sprachen periodum nannten. Da wir 
nun überdem außer der Kanzel, auf der die Beredſamkeit in fo 
falter Luft ift, faft gar Teine Gelegenheit zu öffentlihen Reden 
haben: da unfre Spiele, und gefellihaftlichen Uebungen gewiß nicht 
oratoriſch, am menigiten politifch - oratoriih find: da von jeher 
Deutihland das Vaterland des Geremoniels, und einer hölzernen 
Knechtſchaft gemejen; jo iſts ja Thorheit, Regeln einer Kunft zu | 
Juden, mo bie Kunſt ſelbſt fehle, fie mit Pflaftern falben zu 
wollen, wo fie nicht athmen Tann und nie geathmet hat. — Seyn 








1) Redner noch nicht gelefen. 2) berrichte, öffentliche 





Sie alfo ſicher, daß fo wie wir feinen Demofthenes und Cicero- 
weder gehabt haben, noch haben werden, wir auch feinen Pro- 
feflor der Redekunſt haben können, der Cicero und Duintilian 
überträfe. In Feiner Dratorie können Sie aljo etwas beßers finden, 
als was diefe, und zwar aufs beftimmtefte, gründlichite, jchönfte 
gefagt haben. Sie und Ariftoteles, Dionyfius von Halilar- 
naß in feinen Urtbeilen über einzelne Redner, Longin über das 
250 Erhabne und der Verf. des Geſprächs über den Verfall der 
Beredfamkeit Haben an Oratoriſcher Anmeifung beinah alles 
erihöpfet; fo, daß den Erasmis, Vossiis, und ihres gleichen wohl 
nichts übergeblieben ift, als fie zu erläutern und etwa anders zu 
oronen. Gehen Sie alfo immer lieber gleich zur Quelle und halten 
die angezeigten Schriftfteller ala Schäge der Vernunft, Kunft und 
Sprade lieb und werth. — Auch die Anmeifungen zur geiftlichen 
Beredfamkeit haben ihr Gutes aus ihnen, wie ich das nur noch 
neulih, da ih PB. Gisberts Anweifung zur geiftlihen Berebfam- 
feit durchlief, beinah mit Verbruß wahrnahm. Was er aus ben 
Alten, auch etwa aus den Kirchenvätern, anführt, ift gut; was 
er felbft dazu und darüber jagt, ift Franzöſiſcher Flitterftaat, der 
Dunft ! einer onction (ein Lieblingswort ber Franzöſiſchen Kanzel- 
redner!) den ich nicht begehre. Am beften haben die gethan, bie 
von diefer Art der Wohlredenheit nur kurz, in Geſprächen etwa, 
geredet und das Auszeihnende berfelben ? bemerkt haben. Unter 
diefen find mir Fenelons Gefpräde von der geiftliden 
Beredſamkeit bie liebiten: ich gebe ihm völlig Beifall und er 
bat feine Gedanken mit einer Wärme und Lieblichleit gefagt, die 
ih ihm beneide. Ich liebe diefen Mann beinah vor allen feinen 
251 Landaleuten, aud wo ich nicht mit ihm übereinftimme: alle feine 
Schriften fliefjen wie Milch und Honig: es mar eine große, reine 
und zarte Seele in ihm. — In ziemliche $ Entfernung hinter ihn 
ftelle ih ein Engliſches Geſpräch: Theodor, oder bie Kunft zu 
predigen von David Fordyce: es ift angenehm und fein 


1) Duft 2) und ihr Auszeichnendes 8) große 





— 38 — 


geſchrieben, Hinten aber von einem ſehr ſchlechten, zugeipigten 
Mufter des Jacob Fordyce begleitet. Sonft find Dyporins, 
Dfterwalds, la Blacette u. a. Anmweifungen befannt und beliebt; 
dem letztern find in ber Deutfchen Weberfegung Mosheims und 
anbrer Gedanken von ber geiftlihen Berebjamleit beigefüget. Leber 
mehrere fehen Ste, wenn Sie Luft haben, in ben Anweifungen 
zur Theologischen Bücherkunde, in Homiletifen,! Baftoral- 
Theologien u. f. nad. Unter den jehtlebenden Theologen Deutich- 
lands find infonderbeit Miller, Jacobi und Seiler auch wegen 
ihrer Popularität in Vorſchriften dieſes Faces berühmt, jo wie 
fie anderweit mancherlei Verdienſte haben. Vielleicht kennen Sie 
diefe und andre Autoren beßer, als ich, der wenig neue Schriften 
zu lejen Zeit bat; wenn ih daher manche übergangen hätte, fo 
rechnen Sie mirs nidt zu — — 
Zweitens. Das Kunftwerk aller Redeübung Liegt, dünkt 
1 W389, mich, in den vier Worten: hören, lejen, ſprechen, ſchreiben. 
Nachdem diefe von Kindauf vet beftimmt und geordnet mer- 252 
den, nachdem ftehet man entweder auf einem feften Cubus, in 
Sprade und Denlart, oder auf abrollendem Sande und immerbar 
gleitenden Steinen. Der Züngling, und fhon das Kind, müßen 
zuerſt hören lernen, ebe fie fprechen, lefen ober gar fchreiben: je 
befjer ihnen erzählt und zugeſprochen wird, je reiner fie dieſe 
erfte gute Form in Ohr und Seele faflen, defto ſchöner wird ihre 
Denlart und Sprade werden. Wer bier immer Penelons zu 
Bildnern der erften Jugend hätte! Auf dies Hören folgt Nach⸗ 
erzählen, freie Selbftäußerung und Wiederholung. Hier 
bemerkt man bald den Umriß der Form, ber in ber Seele des 
Kindes und Jünglings Liegt, der man alfo dadurch zu Hülfe 
fommen muß, daß man die Aufmerkſamkeit hie oder dahin lenket. 
Aufs Erzählen folgt das Lefen, dies fo wie jenes. Das Vor⸗ 
lefen geht vor dem eignen Leſen, das laute vor dem ftillen 
Leſen lange vorher und Eins wird aus dem andern nur langfam. 


1) Bücherkunde, Homiletifen, 


— 39 — 


Se befier hier gewählt wird, je mehr aud die Stimme und ber 
Wohlklang des Vorlefenden ind Ohr fließt: deſtomehr bilvet fich 
das Nacherzählen, das Nachſchreiben, das eigne Schreiben 
felbft im Perioden und in der Form der Rede. Es giebt Schrift» 
253 fteller, deren Perioden ich nicht ertragen, nicht vorlefen Tann und 
für Gelb nicht auswendig lernen möchte; ed giebt andre, wo Form 
und Inhalt aus meiner Seele genommen fcheinen, aljo auch 
gleihfam unmittelbar in mich flieflen und das Saitenfpiel meiner 
Gedanken regen. Die erften lesbaren Schriftfteller einer Nation 
haben auf die ganze Denk» und Schreibart derfelben Einfluß; jebe 
neue Mode des Geſchmacks kann ihn überfpülen, ſchwer aber weg⸗ 
thun. Die Schreibart und Gedankenreihe jebes ſelbſtidenkenden 
neuen Schriftfteller8 bat auf einen Kreis feiner Lejer und Hörer 
Einfluß. Es Hat Einfluß, ob viel gehört und vorgelefen? 
oder nur ftille durchlaufen wird u.f. Das Schreiben endlich 
ift das Schwerfte von allen und follte billig, (auch nur dag Nach⸗ 
fhreiben und jede Privatübung) das fpäteite und folibeite Bau⸗ 
wer? werden. — Doc davon, wie von mehrern Saden, künftig. 
Leben Sie wohl. 


254 Drei und vierzigfter Brief. 


Ich vermuthete es, daß meine Regeln und Claſſen geiftlicher 
Vorträge ohne Beilpiele Ahnen wie gemahlte Wollen ! vorlommen 
_ würden; allein was laſſen fih für Beilpiele in einem Briefe geben? 
Hier iſt am beiten, daß Sie felbft Leute, deren Vortrag und 
Charakter Sie liebgemonnen haben ,? hören, fi ihnen anvertrauen, 
fie befragen und bei eignen Aufjähen und Uebungen das Urtbeil 
derjelben, wie Gold, werthachten. Wählen Sie darinn nad ihres 
Herzen? unbeftohnem Rathe; nur überlaflen Sie? ſich alsdenn 


1) Himmelswolten 
2) Vortrag, Charakter und Amtdotreue Sie Tiebgewonnen, 
3) Mfe.: „Sie” durchſtrichen. 


— 40 — 


einem ſolchen Vater Ihrer Seele ganz und unverbolen. Auch 
bierinn waren die ältern Zeiten klüger und emfiger, als unfre 
Tage, in denen ein jeder noch ungebilveter Yüngling, ber Herr 
und Meifter feines Geſchmacks if. Griechen und Römer gaben 
fih erwachſen, oft ſchon als Männer, die Geſchäfte verwaltet hat- 
ten, in die Schule ber Weifen und Reber: fie lernten bis an 
den Tag ihres Todes. Dadurch erhielten fie ſich eine Jugend ber 
Seele, die unfre Jünglinge oft, wenn fie von Alademien kommen, 
ſchon verlohren haben: fie fanden fi oft und frühe bei ihrem 255 
Meifter und Lehrer in Geſchäften ein, ber außer eignen Verrich⸗ 
tungen, die ihm der Staat auftrug, fein größeres Verbienft kannte, 
ala mit ihnen zu berathſchlagen, ihnen Rath zu geben und durch 
fie zu wirken. Die Lebendart der angejehenften Römer, ihrer Hel- 
den und Senatoren, war dazu eingerichtet, und wie viele Beifpiele 
haben wir, daß Kriegs» und Staatsmänner, die die Welt ewig 
mit Hochachtung nennen wird, vom Feld» oder Triumpbzuge, von 
einer Amtsverwaltung, in der fie Königen geboten und Welttheilen 
Befehl gaben, fill ! in die Schulen der Weiſen fehrten, ja beiderlei 
Sachen zu Einer Zeit beididten. Seine beiten xhetorifhen und 
philofophifhen Schriften jchrieb Cicero unter den verworreniten, 
gefährlichiten Staatsläuften, ald Mann, nicht als Züngling: er 
fchrieb fie an lauter Männer von Geichäften, die ihn darum 
befragten, die darauf antworteten, die fih daraus belehrten — 
Himmel, in wie andrer Zeit leben wir jet! Schon auf Schulen 
wird der Jüngling ein Autor, auf der Akademie ift er Recenfent, 
und wenn er nah brittehalb Jahren zurüdlommt, ift er auf 
Lebenszeit überfüllt mit Weisheit. Jenes belannte Gedicht, wie 
man r fein Leben eintheilen fol, 

Vitam vivere si cupis beatam — — 256 

viginti studiis dabis severis, 

triginta pete litium tribunal, 

quadraginta stylo polita dicas, 

quinquaginta velim diserta scribas — — 

1) ftille 





— 4 — 


iſt jetzt völlig eine Fabel; wir leben .zu frühe und alſo leben wir 
gar nicht — — 

Bei allen, die etwas geleiftet haben, werden Sie finden, daß 
fie das Beſte nur in reifern Jahren leifteten; und immer mehr 
duch Erfahrung,! dur den praftiihen Rath von Männern in 
Geſchäften, ala unter der Schulruthe und in den flüchtigen Jahren 
des fie überfüllenden Akademischen Lebens lernten. Die erfahren- 
ften Leute fuchten e8 immer bei ihren Lieblingen zu verhüten, daß 
fie nicht zu früh veiften, und die, in denen eine gute Saat war, 
ließen fih warnen. Ich glaube daher, daß die Jahre nach ber 
Alademie mit die entjcheidendften find aufs ganze Leben. Da wird 
der Jüngling ein Mann und fteht, wie Herkules zwifchen zmween,? 
oft viel mehreren Wegen. Welchen Weg er nun wählt, mworinn 
er fih übt, welche Schriften er lieſet, welchen Yreund ober Anfüh- 

257 ver er jetzt erhält, der ihm zeige: „unter dem Vielen, zum Theil 
„MWideriprechenden, was bu in zu kurzer Zeit ohne Reife und 
„Metheil gehört haft, kannſt du diefe Saat füglich untergehn laffen, 
„jene mußt du mit Gewalt ausrotten, denn es ift Unkraut; aber 
„diefe baue an, jenem Exempel folge, bies übe, verjuche jenes! 
„u.f.” Hierauf kommt es, wenn ih nach meiner Erfahrung 
wenigſtens fchließen foll, enticheivend an. — — Suden Sie fid, 
m. Fr., einft folden Freund, und wie Shakeſpear jagt: 


grapple him to thy soul with hooks of-steel — 


Er ſey Ihnen Beifpiel, Rath und lebendiges Mufter — Meine 
Beifpiele Tönnen bier nichts, als trodne und todte Erläuterungen 
ſeyn, wie man einen dunkeln oder allgemeinen Sat erläutert — 

Ich ſchlage die Bibel auf, mie fie fällt und nehme aljo das 
letzte Gleichniß Chrifti, die Parabel vom jüngften Gerichte. *) 
Daß fie anziehend -hön, voll Abwechslung und hohen Sinnes, 
dabei ganz menſchlich und moralifh, zur Bildung der Gefinnungen, 


*) Matth. 25. 
1) Erfahrung, und 2) zwei, 


— 1 — 


ja felbft Erregung der Affecten (fofern diefe ! nehmlich die Predigt 258 
erregen fol) geſchaffen, voll Schreden und Liebe ſey, darf ich nicht 
erweilen. Sie fühlens felbft und werdens ganz zu fühlen fuchen, 
ehe fie darüber ein Wort reden. Iſt nun bie ganze fürchterlich - 
Ihöne Darftelung in Ihrer Seele: jo ftellen Sie fie auch als eine 
ſolche dar. 

Sie bereiten ſich und bie Gemeine zuerſt durch ein dahin 
gehöriges ernft » beiliges Lieb vor: Ihr Gebet ift eine flille Anrede 
an den Unfichtbaren, der einft fihtbar, an den Gebuldig » tragen- 
den, ber einft Richter und Enticheiber ſeyn wird und fo kurz das 
Gebet ift, (ich liebe keinen ſtürmenden Auffchrei zu Anfange der 
Predigt) jo zeige ed, daß Sie durchdrungen von Ihm find, ben 
Sie, den wir alle einft fehen werben und mit Ihm den Lohn 
unſrer Thaten. Diefer ftille Schauder, wenn er in Ihnen Wahr⸗ 
beit ift, wird fich mittheilen,? wird Ihre Gemeine ergreifen und 
fie aufmerffam machen auf die Stimme deß und von dem, ber 
kommen foll, auf den unfre Hoffnung ober unſer geheimes 
Schreden wartet. 

Seht verlefen Sie Ihren Tert mit ebrerbietiger und natür- 
licher Stimme. Sie zeigen mit kurzem Nachbrud an, was im 
Evangelio liegt, was die legte Stimme des hinwegſcheidenden 259 
Menjchenarztes den Seinen, feinen vertrauten Freunden, für einen 
Auffhlup der Tegten Weltentwidlung Hinterlafien wollte. 
Sie enthüllen fogleih in wenigen Worten die Sprade ver Wahr- 
beit, des reinen, umfaflenden Menfhenfinnes in diefer Bara- 
- bel und daß folde gleihfam von den legten Bliden Chriſti 
auf die, fo er verließ und auf die Welt, in ber er fie ließ, ver- 
anlafjet worden. Sie zeigen unsre Unwiſſenheit und Neugierbe 
über diefen Ausgang ber Dinge: daß derfelbe gewiß fey, in ber 
Natur aller Sichtbarkeit und Welt» und Menſchenverfaſſung liege ; 


1) fie fhön, anziehend, voll .... Sinnes, ganz .... moralifch, zu 
Erregung der Affecten (fofern fie 
2) fortpflanzen, 





— 43 — 


daß ihn aber die Vorſicht unſrer ahnenden Vernunft mit einem 
Schleier bevedt babe, und nur die Hand eines Vaters, eines 
Bruders der Menfchheit, einft unſres Genoflen hienieden und künf⸗ 
tig des großen Entſcheiders jelbft, folden für Yreunde, für Lieblinge, 
für Brüder, die in feinem Namen noch viel thun, viel leiden follten, 
babe megziehen können, wegziehen dörfen. Sie fagen kurz: warum 
Chriftus über ſolche Sachen der fernften Zukunft in Bildern, 
auch bier halb in einer Parabel geſprochen; daß er biemit auch 
für uns ben Grad des Lichts und der Dämmerung, der Neu- 

260 gierbe in Fragen und Zweifeln und ber Gewißheit in Gefinnungen 
und Thater habe beftimmen mollen. Weil dies Alles Wahrheit 
ift, der unfer eigner Gefichtöfreis, dad Bebürfnig unfrer Empfin- 
dungen und Ausfichten in jede, zumal die allgemeine letzte Zukunft 
beiftimmet, fo können Sie ficher feyn, daß wenn Sie diefen 
Standpunkt mit der Beſcheidenheit zeigen, die Ihnen die Sache 
felbft an die Hand giebt, auch der Leichtfinnige und Zweifler vor» 
jest darauf werbe beftehen müſſen. — 

Sie geben zum Gleichniß felbft, und da Ihnen ſogleich 
der Anfang von einer feierlichen Gerichtserfheinung zum Aus- 
einanderthun, zur Scheidung ſpricht: fo werben Sie nothwen⸗ 
dig dahin gewiejen, den jetigen Zuftand des Miteinanderfeyns, 
der fcheinbaren Verwirrung des Guten und Böfen zu bemerfen.! 
Sie zeigen: daß er ſey? und warum er ſeyn müffe? Hier haben 
Sie in Ausfprücden der Bibel felbft, injonderbeit in Ausfprüchen 
Chrifti, fo? dringendwahre, menſchliche und rührende Auffchlüffe, 
daß jeder, der auch noch fo ſehr darüber ſeufzete und zweifelte, ein - 
nothwendiges Bedürfniß unfres jehigen Zuftandes der Menſch⸗ 

261 beit, und einen Zwed?® Gottes dabei erfennen müßte. Tugend 
und Lafter, Leid und Freude, unfre ganze Erziehung und Uebung 
und Wirkung auf andre ift dazu eingerichtet, fo daß alles auf- 
börte, wenn (maß Schwärmer oft haben bewirken wollen) biefe 


1) Böfen zurüdyunehmen. 2) fo fchöne, 
8) zweifelte, nothwendiges Beblrfniß ..... und Zwed 





— 44 — 


weiſe, gütige, väterliche Vermiſchung der Vollkommen⸗ und Unvoll⸗ 
kommenheiten, der Schwachheit und Stärke, bes Lichts und ber 
Schatten aufhört. Wir find bier alle ſämmtlich noch nicht, was 
wir feyn follen und feyn wollen; wir follens aber werden und 
bier zu werben ftreben; dieſe drei Worte beſtimmen bie ganze 
Bahn unfrer Wallfahrt hienieden mit allen pofitiven und negativen 
Kräften. — 

Wenn Sie diefe Wahrheit zur größten Anfjchaulichleit gebracht, 
wenn Sie alle Saiten der Hoffnung, Yurdt, Freude, des Seuf⸗ 
zens, Leidens, der Schauervollen großen Erwartung geweckt haben, 
die Töne der Welt vollen gleichſam im! wilden und doch weilen 
Tumult unter einander; fiehe! fo wird Stille! Der Entſcheider 
fommt und löfet fie auf.? Sie laſſen ihn in Ihrer Rede auch in 
ber Stillen Herrlichleit und Majeftät erjcheinen, mie er im 
Tert erfcheint, im ſchweigendlauten Triumph eines getöbteten Men- 
ſchenſohns und Menſchenrichters. Sie erflären kurz dahin die 262” 
Bilder und befreien fie von den irrigen Vorftellungen des Pöbels. 
Sein Verl ift ftille Entſcheidung: wie ein Hirt die Schafe 
von den Böden ſcheidet. Ich beuge mich vor der alles ? durch⸗ 
faflenden Majeftät in einem Hirtenbilde. Nothwendig wird hier 
Ihr Vortrag bimmlifcher, erhabner. Sie zeigen, daß Gutes und 
Böfes feine vefte Natur, feine unwanbelbaren, ewigen Gejete 
babe, wie die ganze Schöpfung; denn das Reich deflelben ſey das 
unfichtbare Neih der Kräfte, und aljo die eigentlide vor Gott 
gegenwärtige Zeiten-Vermaltung. Sie ziehen dem Betruge feinen 
. verhüllenden Schleier weg und entblößen ihn dem untrüglidhen 
göttlichen Auge; ja fie ruffen unfre wahre Natur, das ewige 
Unfidtbare in uns, unfer innerftes Bewußtfeyn auf, daß es 
als Abglanz des göttlichen Auges felbft in fidh jehe und mitzeuge. — 
Der Beweis diefer veiten, ewigen Wahrheit kann wieder zu einer 
Stärke gebracht werben, daß Alles um und an uns Licht, Auge 





1) Welt — rollen im 2) und bringt fie auseinander. 
3) erhabnen, alles 


— u — 


Gottes, ein aufgeſchlagnes, allleſerliches Buch werde, und auch 
in unſerm Gefühl die ſcheidende gerecht⸗ allmätptige Hand des ” 
Weltrichters ſich offenbare. 

263 Auf diefem Punkte, der fo gewiß if, als alle Gefehe ber 
Natur, auf denen Himmel und Erde ruhen, ſchlagen Sie das 
Buch der innerften Wahrheit tiefer auf und verfünbigen den 
Grund der Entfcheidung von den Lippen des Weltrichters: denn 
ih bin hungrig gemejen u. f. Hier läßt fi Ihre Ueberrebung 
vom richtenden Thron auf die innerften Bedürfniſſe der Menſch— 
heit, den Grund aller ihrer Pflichten und Brubderverbindung nie⸗ 
der und entwidelt das Herz-ergreifende, freundfchaftliche und bei- 
nah ! nachbarliche Geſpräch unfers Freundes und Mitmenfchen 
Jeſu. Sie zeigen, mas dad Herz feiner Religior, das Weſen 
feiner Niederlunft auf Erden und alfo auch nothwendig der ein- 
ige Entſcheidungsgrund feines ? künftigen Urtheils ſey, nehmlich 
die in alle Krankheiten, Schwähen, Bedrückungen und Dürftig- 
fetten der menfchlihen Natur verbreitete Mitempfindung? 
Jeſu. Sie zeigen, wie er fi nicht habe wollen durch tobten 
Götzendienſt anbeten laſſen: fondern, fo wie Gott, der Weltfchöpfer, 
die ewige Quelle alles Lebens, in alles Lebendige verbreitet, jedem 
bürren Zweige,“ jeder Blatt» und Fruchtknoſpe Leben, Saft, 

264 Gebeihen zuführet und in Allem Er felbft Iebet; fo fey ber große 
Menſchenarzt und Menfhenheiland in allen Krankheiten, 
Shwähen, Unterdrüdungen und Leiden ® feines Brubervolfs, 
der Menfhennatur gegenwärtig. und wolle und begehre von 
jebem, ber helfen kann, Hülfe Sie zeigen, daß Gott bewegen 
feine Schöpfung gleihfam fo unvollendet gelaffen und in jedem ® 
menſchlichen Exrbenzuftande Leid und Freude, Kraft und Schwad- 
beit, Reichtum und Armuth, Finſterniß und Belehrung, Unfchuld 
und Unterbrüdung fo wunderbar ? gepaart, fo veft zufammengefügt 


1) und erflärt das Herzdurchſchneidende, beinah 2) bes 

3) Dürftigleiten allverbreitete Natur und Mitempfinbung 
4) dirren Äft- und Zweiglein, 5) Unterbrädungen, Leiden 

6) gelaßen, daß er in allem 7) genau 


— 4 — 


babe, daß Eins dem Andern helfen, daß der arme mit Unvoll- 
kommenheit umgrenzte Menſch die Schöpfung Gottes volllommner 
machen, felbft dadurch volllommmer werden und mit feiner ſchwachen 
Hand das thun fol, was die Allmacht felbft hier nicht thun konnte. 
Sie zeigen, daß Gott deßwegen unfre Kräfte, Aemter, Plätze, 
Gelegenheiten, Bebürfniffe, felbjt unfer Urtheil, Gefühl und 
Mitgefühl fo vertheilt, fo verfhieden gemacht Habe, daß 
jeder die Welt gleihfam von einer anbern Seite fiehet, die Bebürf- 
niffe der Menfchheit anders empfindet, kurz in einem eignen Kran- 
kenhauſe feines Geichlehts, wo Er Arzt feyn ſoll umd es feiner 265 
für ihn ſeyn Tann, lebet. Auch diefe Wahrheit kann zu einer 
Innigkeit gebracht werden, daß gleihfam der ganze Baum unſers 
Menichenfinne® und Mitgefühls in allen Aeften und Zweigen fich 
bis zur Wurzel beweget. Und nun machen Sie den Chriftum 
gegenwärtig, deſſen höchſter Name auch auf dem Richterthrone ber 
Welt Menſchenſohn ift; ber nur deßwegen vom Himmel kam, 
um biefe allumfaflende Menſchenliebe, Menſchenempfindung 
und Mitwirkung durch Lehre, That und feine ftille Aufopferung 
zu vollführen, den Baum zu pflanzen, der voll hülfreiher Arznei 
und Erquidung durch Menſchen, als feine Glieder, für Menfchen, 
als feine Glieder, zum Himmel, zum ewigen Reich fich jelbft lohnen⸗ 
ber Früchte emporblühn, an und durch welchen Alles gefund, Beil, 
gerettet, geftärkt, getröftet, erquidt werben fol. Mein Sinn erliegt 
unter biefem großen, lieblihen Bilde! welcher Menſchenverſtand 
wärs, der ihm widerſpräche! welches Menſchenherz, das dies nicht 
als einzige Summe aller Religion, als höchſten Zweck aller 
Verbindungen auf Erben anerfennte und ausruffen müßte: 
„wäre er nicht Menfchenheiland, Menichenrichter, fo könnte, fo age 
„ollte nur Er es ſeyn! Nur durch ſolche Bemühungen Tann 
„daB Menfchengefchleht gerettet, nur nah ſolchen Gejehen von 
„einem väterlichen Echöpfer gerichtet werden!" — ! 


1) ‚Nur nah ſolchen Gefeten, nur durch folhe Bemühungen 
2... gerettet und gerichtet werben!” — 


— 47 — 


Abermals gehen Sie von dieſer umfaſſenden Höhe in die ſtille 
Kammer des menſchlichen Herzens: denn Sie entwickeln im Geſpräch 
Chriſti weiter, daß feine That der Menſchenhülfe bei ihm Lohn ! 
und Andenken finde, wenn fie nicht mit der beſcheidnen Demuth, 
mit der einfältigen, freudigen Unfhuld und Willigkeit gefchah,® 
daß es der Wohlthäter Chrifti jelbft nicht weiß, daß ers gethan 
babe. Sie führen dieſen ftillen Sinn abermals ins Leben Chrifti, 
in feine Lehre, feine Thaten, feine lebte Aufopferung und ſchmel⸗ 
zen ben auf feine Werke, ja gar auf feine Empfindungen hoch⸗ 
müthigen Lohndiener gleihfam ing? Nichts bin. Sie entwideln 
feine Anmaaſſung aus der Antwort dieſer Selbftgerechten und 
brüden ihm nad Ausfprücen Chrifti das * Siegel auf die Stirn, 
daß fein Lohn dahin ſey. Dagegen richten Sie vie gebeugte 
Pflanze, die verborgne Grafesblume auf, bie weder ihre Geftalt, 

267 noch ihren Tieblichen Duft kennet, die aber der Weltheiland Tennet, 
der einft auch eine zertretne Blume war, wie fie! und fie ſich zu 
feinem ewigen Kranz des Lohns und einer untrennbaren Himmels- 
gemeinschaft ® ſammlet. Kommt ber zu mir, ertönt die Liebliche 
Stimme und in ihr wirb jedes Wort von Gewidt und Fol- 
gen. Hier beginnet, auch ungenannt ber dritte Theil, Lohn 
und Strafe. 

Wie zart und menſchlich, daß das Urtheil des Richters Ein- 
ladung, brüberlide Einladung wird ins gemeinfchaftliche 
Reih des Vaters! Er nennet fie Lieblinge, Gefegnete 
Gottes; denn giebt wohl eine liebreihere Auszeichnung, als 
wenn Gott einem Menſchen den ftillen, zarten Sinn giebt, dies 
unfihtbare Reich des wahren, verfchwiegenen Guten zu ſuchen und 
dagegen alle Eitelfeit der Welt als ein Nichts aufzuopfern? ® 


1) im Dialog weiter, daß feine That der Menſchenhülfe Lohn 

2) geſchehe, 3) hochmüthigen Menfhen ind 4) brüden ibm das 

5) kennt und aus ber der Weltheiland, (auch einft eine gertretene Blume 
wie fie!) fich feinen ewigen Kranz bes Lohns und feiner Himmelsgemeinſchaft 

6) als wen Gott ben ftillen, .... Reich zu ſuchen und dagegen alle 
Eitelleit, als Nichts aufzuopfern? 


— 48 — 


Welchen großen Begriff giebt ein Reich, das von Grund⸗ 
legung ber Welt auf fie gewartet hat!! Sie waren gleich⸗ 
fam ber med, die Perle der Schöpfung; das Unfichtbare und 
Ewige, in dem fie lebten, war gleichlam ber Kern und Inhalt 
alles vergänglichen Sichtbaren der Erbe: der Kern gebt jetzt her⸗ 
vor, die Schale fällt: die Blume wird gewonnen, die Pflanze, 268 
auf der fie beroorging, verborret — ? 

Alle edlen und ſchönen Begriffe der Emigfeit, die auf uns 
wartet, liegen ® in diefen bolbeinladenden Worten. Nähe Got- 
tes, innige Gemeinſchaft mit Ihm, Genuß ber Gefellfhaft 
aller Edlen und Guten, die fein Bilb* trugen, die der armen 
Menfchheit, jeder auf feine Weife, halfen, Er mit ihnen und 
fie mit Ihm. — Sie werben gleichſam bie Glorie der Herrlich- 
feit des Welt⸗Erlöſers, feine Mitbulder bienieben find feine ewige 
Gefpielen im Reich der Freude: genieflend die Schönheit Gottes, 
als feine Lieben: fein höheres Erkänntniß ift ihre Wonne; feine 
Liebe und ihre Dankbarkeit, die Harmonie mit ihm in feinem 
neuen Reihe wird ihnen ein ewiger Quell neuen Gehorfams, neuer 
Freude. Keine träge Muße ift bie Seligkeit der Mitherrſcher 
Chrifti, fo® wenig fie e8 bier war; ſondern ermeiterte Thätig- 
feit, Pflege der Gottesfhöpfung, wie fie bier die Menfchheit 
pflegten. Hier ein Blid auf das PVerbältniß ihres Heinen Ver⸗ 
bienftes hienieden zu ihrem großen Lohne; und doch betrachtet es 
Chriftus als Berbienft und ehrt es und giebt ihm alle feine Herr- 
lichkeit und Freude nur aus Erkänntlichkeit gleihfam, ala das 269 
dankbare Andenken eines Fremdlinges, der einft arm, verbannt, 


1) gewartet! 

2) das Unfichtbare Ewige war ber Kern und Inhalt des vergänglichen 
Siätbarn: der Kern .... fällt: die Perle wirb gewonnen, e8 verborrt bie 
Muſchel. — 

3) Ewigkeit Tiegen 4) die feiner Seele Bild 

5) Sie werben bie Glorie feiner Herrlichkeit, feine Mitbulber bienieden 
werben ihm ewige Geſpielen.... Harmonie mit ihm ift ihnen ewiger Brunnquell 
neuen... Freude. Seligleit ber Mitberrfher Chriſti ift nicht Muße, fo 





— 49 — 


gefangen, nackt, dürftig war und ſich, da er jetzt zu Ehren 
gefommen, wegen ihres. guten Willens um ihn, abfindet!! ch 
jage, ein Bid auf das Verhältnig ihrer einen That bienieben 
zu feinem großen ? Lohne — wie beugt, wie erhebt er die Seele! 
Siehe gen Himmel und zähle die Sterne, und ſchwinge di durch 
die Unermäßlichkeit bin; denn komme auf dein Staublorn, die 
Erde, zurüd und miß die wenigen Schritte von der Wiege zum 
Grabe, miß deinen armen Naupengang und fhäte den Becher 
Taltes Waſſers, den du dem Durftenden, die Hüllen, die du dem 
Nadten gabeſt. Miß und mäge die Leiben biefer Zeit und ihre 
nichtswürdige Schmach und ihre an fi ſchon lohnende Mühe, 
gegen das, was dir bereitet iſt von Anbeginn der Welt und wach— 
jend in Ewigkeit dauret — Sie fehen, m. Fr., die Fülle des 
Segens und Sie merlen es leicht, wie hart. der Fluch der Ver— 
dammten dagegen fallen werde. Da die Worte einander entgegen- 
gejegt find, fo darf und mill ich nicht weiter paraphrafiren; 
glüdlih, wenn Sie einen Funken jener brennenden Fadel, einen 
Schauer jener von Gott entfernten, in die Abgründe der Schöpfung 
verbannten, unter Fluch und Quaal der Verführten und Verführer 
270 lebenden, ewig vermundeten Seelen und ihter furdtbaren Gejell- 
Ihaft in das Herz derer werfen können, die rings um Sie 
figen und mit Ihnen fühlen. Freilich find unfre Organe von 
Fleiſch und Blut nit für daurende Empfindungen aus jener 
Welt. Wenn diefe Empfindungen aber nur der Zuftand unfrer 
um einen Schritt meiter entwidelten * Menfchheit find; und dieſer 
Schritt mit aller Wahrheit, aller Ueberzeugung, die in uns liegt, 
entwidelt würde — wenn Sie diefe Situation ” in den Umkreis 
dieſes Lebens brächten, einen jeden an die erinnerten, die ſchon 
vor ihm bingegangen, die er gefannt, geliebt, beleidigt, verachtet, 


1) Verhältniß ihres Verdienſtes bienieden (fo nennt e8 Chriſtus und 
ehrt ed. ... nur als Ertänntlichleit, als .... abfinbet!) 
2) großen ewigen 
3) in bie werfen können, bie um Sie fiten, um Sie fühlen. 
4) nur die einen Schritt weiter entwidelte 5) Situation ganz 
Herders fänmtl. Werke. XI. 4 


— 50 — 


vernachläßigt, geärgert, gepflegt und emporgehoben habe und die 
alle jetzt, wie ein verſchwundner Traum, im Reich der Wahrheit 
auf ihn ! warten, jo daß nur unſre eingeſchränkte Sinnlichkeit, die 
im Nu aud wie ein Traum dahin feyn wird, es verhindert, daß 
wir ihre Geftalten nicht fehen, die Stimmen ihres Schickſals nicht 
hören können — ? wenn Sie endlich einen jeden auf den Augen- 
blid führen, da beim Ausgange aus diefer Welt ihm fein innerftes 
Bewußtſeyn wie ein eröfnetes Buch feyn wird und ers ala Stimme 
in Sich felbft mitnimmt, was er geweſen ſey? was er feyn 
werde? — — mitten im Gefühl dieſer Ueberzeugung abgebrochen, 
die ganze Predigt mit einem Gebet und einem Liebe verfiegelt, das 271 
des legten Eindruds, den Jeſus nachlaſſen wollte, werth 
ift — — o Freund, wäre ein ſolcher Vortrag, ein dargeitell- 
tes Wort Gottes, eine belebte Barabel Jeſu, die in jedem 
Worte nur Wahrheit fucht und ewige Wahrheit findet, märe fie 
nicht auch ein labender Waſſertrunk dem dürſtenden menſchlichen 
Geift und Herzen im Namen deß gegeben, deß das Wort ift? 
Leben Sie mohl. 


Bier und vierzigfter Brief. 272 


Ich glaubte neulich nicht, daß der Umriß eines einzigen Ter- 
tes meinen Brief füllen würde und batte mir vorgenommen, in 
den Parabeln rüdmärts zu gehen und wenigſtens noch das Gleidh- 
niß von den betrauten Knchten, von den wartenden $ung- 
frauen u. f. praltiih auszumalen. Sie werdens mir jeßo zu 
thun erlafien: denn ich kann doch in Briefen feinen Vorrath geben, 
und zum Beilpiel mag Eines gnug ſeyn. Jedes Gleihniß muß 
endlich Doch auf feine Art, als eine eigne Welt von Situation 
und Lehre behandelt werden; und der durchgehende, jo ganz 
reine und menjhlide Sinn Chriſti ift ? in allen augenſcheinlich. — 


1) auf ihn, auf ihren Lohn ober Strafe 2) hören — 
3) Sim ift 





Ich wende mich aljo jogleich zur zweiten, der hiftorifchen Gat- 
tung und nehme dazu ein jehr fchlichtes Beifpiel, die fogenannte 
Ankunft der Weifen aus Morgenlande. 

Wollen Sie ein kirchliches Lehrthema daraus zichen, fo ifts 
der Ruf der Heiden zur Kriftliden Religion, von melden 


273 nad der uralten Meinung diefe Geſchichte ein Vorbild war.! Ich 


27 


an 


bleibe indeſſen, infonderheit zum erftenmal, gern bei der natür- 
lichſten? Anwendung und da doch die ganze Gefchichte, ſelbſt in 
des Zweiflers Augen, als der außerordentlihde Fall und 
Gang einer göttliden Vorjehung baliegt; fo ift, dünkt mich, 
am leichteſten und augenjcheinlichjten auch dahin das Ganze zu 
binden. a, da die Lection beim Anfange eines neuen Jahres 
vorlommt, mo ein Jedweder gern wie auf einem Grenzitein feines 
Weges? fitet, und zurüd und vormärts blidt; warum follte man 
nicht Diefen Zeitpunkt nußen und ihn mit dem ebengenannten 
Geſichtspunkt vereinen? 

Um hiezu zu gelangen, ſetzen Sie die Gejchichte zuerft in ihr 
jonderbares Licht. Jeſus, gebohren zu Bethlehem, zur Zeit 
des Wüterichs Herodes, der ſelbſt nicht feines Weibes, nicht 
feiner Kinder, bei dem mindeften Argwohn ſchonte; und fiehe! da 
müßen Fremblinge, man weiß nicht, woher? man meiß nicht, 
wozu? kommen, um feinen Argwohn zu erregen. Der Stern, ein 
jo ungewöhnlicher Weder und Leiter, muß fie berbringen, muß 
fie nah Jeruſalem führen: mit einer Frage, worüber Serufalem 
erfhridt, das, nach der damals allgemeinen Erwartung vom 
Meſſias, über folde Nachricht nicht erfchreden ſollte Herodes 
erichridt gleichfalls und rüftet in der Stille jogleich feinen Arg- 

1) Im Mic. folgt bier durchſtrichen: „Sie haben dazu auch groffen 
Stof im Evangelium, zumal, wenn fie die ſchöne Epiftel des Tages aus 
Jeſaia: mache dich auf, werde Licht! dazu nehmen; und ba wir alle 
Heiden geweſen, zum Theil es noch find, oder gem wieder werben möchten, 
fo kann es Ihnen an vielfadher Belehrung und Anmenbung nicht fehlen.“ 


2) natürlichſten, menſchlichſten 


3) Grenzſtein des Vergangenen 


48 


— 2 — 


wohn.! Er läßt feine Weifen verfammeln und fragt fic um Rath; 
fie geben ihm denjelben, fie zeigen ihm die Straße, die fie jelbft 
nicht gehen. Aus dem Schriftforfcher wird der Staatsmann, der 
jene Fremblinge heimlich zu ſich fodert, mit großem Fleiß bie 
Chronologie des Sterns lernet, fie an den rechten Ort weilet, 
ihnen die fhönften Aufträge giebt und fie freundlich wieder zu fich 
ladet. Welche Gelegenheit haben Sie bier, bei jedem Schritte die 
Dürftigkeit des menſchlichen Raths, zumal menſchlicher Stla- 
verei und politifher Arglijt gegen den reichen, hohen Nath 
Gottes zu zeigen! "Die Unfhuld der Weifen gegen die Ber- 
ſchmitztheit Herodes, ihre Freimüthigkeit gegen die Sklave: 
rei Jeruſalems, die im Traum erſchrickt und wieder einſchläft, die 
thätige Einfalt jener, gegen die unnütze Weisheit der Schrift⸗ 
gelehrten, ihre Ruhe mitten in der Gefahr gegen Herodes 
Unrube, der ganz ohne Gefahr war u. f. f. — Alle dies läßt 
fih ? in ein Licht ſetzen, das den Zwift menfchlider Gefinnungen 
und Handlungswetfen, ihre Größe und Kleinheit, gnug zeiget. 
Ueber allem Halten Sie nun gleihjam den Stern, das wadhende 


Auge der Borfehung Gottes und feiner Abſicht Ihren 275 


Hörern gegenwärtig: find? jene Weifen aus dem Tumult des 
Erſchreckens, Fragens, Willens, Betrügens heraus: fo erfcheinet 
ihnen wieder ihr * fichrer Himmelsbote. Er giebt ihnen, was ihre 
Reiſe begehrte, den Anblid des Kindes, und die liebreihe Anbe- 
tung feiner. — Hier find Sie nun wie in der Mitte des Kno⸗ 
tens. Was follte der Stern? mas follte die Reife? was will 
die Anbetung? indem Sie über diefe Fragen die kurze, Zeit- 
und Ortmäßige Auskunft geben, die über außerordentliche Begeg- 
niſſe der Art jedem Beſcheidnen gnug ift, fo haben Sie Gelegen- 
beit, die jonderbaren Schickſale mander Menſchen ins Licht zu 


1) ſollte, Herodes erfchridt und in .... Argwohn rüftet. 

2) u. f. f. laßen ſich 

3) gegenwärtig: Sie erheben ſich zım Sprache der Propheten, bie 
immer alfo Göttliches und DMenfchliche® paaren. Kaum find 

4) ihr Stern, ihr 


— 535 — 


ftellen, die ihnen und andern jo oft Thorheit fcheinen. Sie 
betrachten die mancherlei Wege, wie Gott auf Menſchen wirkt, 
wie er zu jebem auf feine Art ſpricht und jedem feine Freude, 
den unſchuldigen Wunſch feines Herzens ! gemwähre. Sie ſetzen 
dabei das einzige Kennzeichen feit, das einen Menjchen auch bei 
den ſonderbarſten Urtheilen andrer über fih beruhigen kann und 
muß, nehmlich Ruf Gottes, Ueberzeugung feines Gemif- 
ſens. Sie zeigen, daß hierüber niemand Richter fey, als der 
276 Menih, deſſen der Ruf, deſſen die Pflicht iſt; daß feine zwei 
Menſchen bierinn völlig Einerlei Wege in der Welt haben, und 
wie vorfichtig man überhaupt jeyn müfle, einen andern auf feiner 
Lebensbahn durch Bedenklichkeiten oder Nachläßigkeiten zu irren. 
Ja indem Sie die Folgen diefer Reife und Anbetung, die auch 
die Weiſen felbft nicht überfahen, entveden, daß dadurch unſchul⸗ 
diges Blut veranlaflet und abermals wieder durch die dargebrach⸗ 
ten Gefchente für die Bedürfniffe des kleinen Ylüdtlinges 
gejorgt ward, jo ziehen Sie den Knoten jo mander fürdhterlid 
und doch Schuldlojen Schidjale recht veft ums menfchliche 
Herz. Das Weinen Rahels und ihrer Töchter, das Sllagge- 
ichret der Mutter und Säuglinge auf Bethlehems Gefilden fchreibt 
uns die Warnung mit blutigen Zügen ein, aud bei unihuldi- 
gen Handlungen und Abfihten Vorſicht zu gebrauden und 
manche klagende Folge zum Voraus zu fühlen, ehe fie felbft unver- 
. meiblich und unmiberruflich da ift. Aus der Schrift und aus dem 
thättgen Leben, zeigen Sie den Natternbiß fpäter, vergeblicher 
Neue in feinen fürdterlihen Wunden, und beveftigen dagegen das 
menichlihe Herz, wenn fein Weg rein und gemiß ift. Gie 
bringen e8 vor das Auge des ewigen Richters, der nicht nad) 
277 Folgen, jondern nah Abſichten richtet, der die wohlgerathenite, 
lautefte That oft mie faljhe Gold verjchmähet und dagegen die 
redliche Einfalt wie ein edles Weihrauchopfer annimmt, ja oft aus 
denen dem Anſchein nah mißrathenen Folgen einer guten 


1) Freude, feines Herzens Wunfch 


— 54 — 


löblichen Handlung zu rechter Zeit andre hervorbringt, an denen 
der Urheber ſelbſt verzagte. Indem Sie auch dieſe dem ſchwachen 
Gefäß der Menſchheit fo nothwendige und tröſtende Wahrheit aus 
Bibel und Geſchichte enthüllen, bemerfen Sie eben in dieſer 
Geſchichte die Schonung des väterliden Gottes, ber dieſe 
Fremdlinge die Folgen ihrer Ankunft nicht jehen, nit erleben 
ließ und fie dur einen andern Weg in ihr Land zurüdleitet. 
Unvermerit fommen Sie bei diefer in vielen Lebensläufen jo oft 
erfahrnen Milde, auf die Sie die Menſchen nicht aufmerkſam gnug 
machen können, zur Entwidlung bes Knotens, den! wunderbar - 
errettenden Ausgang. Die Fremdlinge fomohl als das Kind 
werben gefichert;? Herodes Liſt und Blutvurft wird an beiden 
thöriht zu Schanden. Nachdem er fein graue Haar und Die 
wenigen Tage, bie er zu leben Hatte, noch mit dem Blut dieſer 
Unſchuldigen befudelt, ftirbt er erjchredlih und muß dem flüchtig- 
geworbnien Kinde Land und Welt räumen. — Wunderbar:erret- 
tende, fchredlih-rächende Vorſehung! Ste räht Sünden dur 278 
größere Sünden, Argwohn durch Mord, Lift durch PVereitelung 
bes Rathes, durch blutige und doc unnütze Verzweiflung. Schred- 
lihe Exempel ber Nache jprechen hierüber blos durch den Fort⸗ 
gang der Frechheit, dur das Gelingen des Lafters, das fich 
zulest doh mit Ohnmacht und Berzweiflung ftrafet. Und 
wie nahe können diefe Beiipiele dem menſchlichen? Herzen, auch 
wenn es fein Herodes» Herz tft, gebracht werden! In jeder Leiden» 
Ihaft und Falſchheit ftedt ein Keim dieſer göttlichen Hache: * der 
erfte Schritt iſt unſer, der zweite und taufendfte? nimmermehr. 
Endlih die ſchöne Errettung diefer unjchuldigen Lieblinge Got- 
tes zeigt: wie Gott taufendmal errettet babe und tauſendfach 
erreiten fünne © und werde. Hier erheben Ste die Seele zu bem, 





1) Mſe., AB: den 2) Fremdlinge, das Kind wird geficert; 

3) Erempel fpreden .... der Frechheit, des Lafters, der Ohn— 
macht, ber Verzweiflung. Und wie nahe können fie dem menfchlichen 

4) ftedt cin Herodes: 5) taufenbe 

6) Lieblinge zeigt: wie Gott . . bat, tauſeudfach erretten kann 


— 55 — 


der die Sterne zählt und uns kennet, ſie in ihre Bahnen wies 
und auch unfer Schickſal, fo verwirrt es ſcheinen möge, lenket. 
Hebet eure Augen in die Höhe u. f. el. 40, 26-31. — 
Indem Sie diefe Wahrheit, wie einen Wanberftab des Lebens, 
Ihrem Zuhörer in die Hand geben, daß er weder vermeflen, noch 
Heinmrüthig werden kann, noch darf, noch will; und ihn mit diefer 
Sicherheit, die fo veft, als fein eignes Dafeyn tft, ins neue Jahr 


279 ſenden; mich dünkt, jo hätten Sie Ihre Geſchichte, Ihre Stunde, 


\ 


Ihren Ort fo wohl genuget, daß niemand vor der Hand eine ahbre 
Anwendung des Evangelium begehren würde. — — ' 
Und nun, ın. Fr., erlaffen Sie mir weitere Beifpiele, injon- 
derheit über Lehrterte; auch Dies war Einer, und jeder in ber 
Welt muß es billig ſeyn. Wir haben an Ichönen Lehrprebigten 
fo eine Menge, daß ich Eulen nad Athen trüge, wenn ich hinter 
Spalding, Serufalem, Sad, Ernefti, Zollilofer, Teller, 
Cramer,? Maifillon, Bourdaloue, Tillotfon, Clarke, 
Foſter, Barrom u. f. f. mit Lehrvorträgen fommen wollte. Ich 
fenne die wenigften diefer berühmten Männer ganz; die ich aber 
fenne, überheben mid) meiner Mühe völlig, Spaldings Prebig- 
ten 3. B. haben eine fo redliche Einfalt und Würde, die 
Predigten Ernefti eine dogmatiſche Beftigkeit und Beftimmtbeit, 
Jeruſalems eine jchöne philoſophiſche Klarheit, Cramers einen 
Strom der Beredfamleit u. f.? Es find, jagt Paulus, verſchiedne 
Gaben, verſchiedne Kräfte, verſchiedne Aemter; an jedem brauche 
man da3 Seine und tadle ihn nicht über dag, was Er nicht bat, 
und das ja eben deshalb andre haben. Ein Necenfenten - Wahn 


250 diefer Art ift für den Lernenden kleinlich‘ und kindiſch. Sad 


1) und unfer 

2) hinter Ernefti, Spalbing, Sad, Jerufalem, Zollitofer, 
Cramer, 

3) haben eine Einfalt uud Ründe, Ernefti eine bogmatifche 
Beftigleit und chriftlihe Difeiplin, Jeruſalems eine philoſophiſche Klar- 
beit, Eramers einen beredten Strom von Worten u. f. 

4) Diejer Recenjentenwahn wäre kleinlich 


— 56 — 


predige als Sack, Spalding als Spalding; und Sie lernen von 
beiden. 
Noch ärger iſts, wenn man einzelne Vorträge, als Glau- 

bensbelänntniffe anfiehet und gar von dem, was ein Menſch in 
diefen paar Predigten nicht gejagt hat, d. i. nicht jagen fonnte, 
nicht jagen wollte, fogleich frech ſchlieſſet, daß ers nicht glaube. 
Fliehen Sie, ala eine Peſt, dies Inquifitionsurtheil. So ifts z. €. 
Crugott gegangen, deſſen Predigten an Klarheit und hellem, 

ſchönem Umriß menige ihres gleichen haben; er ift, ich weiß nicht 
weßwegen?! verfehrieen und das Gute feiner Schriften wird bes 
etwa Mangelnden megen nicht gebraudt. — Hüten Sie fih über- 
haupt, m. Fr., für aller ausſchlieſſenden und einförmigen 
Behandlung Einer Lehre, Einer Situation, Eines Textes. 
Wie ich über die Vorjehung bei Gelegenheit dieſes Terts, dieſer 
Situation rede, kann und werde und muß ich ja nicht bei jeder, 
der verjchiebeniten andern reden: fonft thäte ich weder mir, noch 
der Lehre, noch dem Wort Gottes ein Gnüge, und würde in kurzer 
Zeit ein tönendes Erz, eine Hingende Schelle. Wer immer ber- 
ſelbe ift, ift immer derſelbe, d. i. ſehr wenig; die reichfte Manier 281 
ift die gelentjte, die biegſamſte, die fich jeder Gejchichte, jedem 
Tert anfchmiegt, die dem überfließenden ? Reichthum Gottes in der 
Natur und Schrift nachſtrebet. Glauben Sie nit, daß hierdurch 
die Einheit leide: fie leidet gewiß nicht, wenn Sie — recht und 
ftreng difponiren. Leben Sie wohl. 


Fünf und vierzigfter Brief. 282 


Difpofition ift allerdings das Hauptwerk der Rede; ſie ift 
das Gebäude, ohne welches alle äußere Belleivung nichts ift; 
deshalb, m. Fr., habe ih Sie für allem Ausmwendiglernen ſchöner 


1) weßmwegen? als Socinianer 
2) Tert anfchlingt, die dem überfließenbdften 





— 57 — 


Ausdrücke, bunter Floskeln und Sentenzen jo ernſtlich gewarnet. 
Dieſe loden ungemein ab vom Wege und der Jüngling, der ſol⸗ 
hen Irrlichtern folgt, ift verloren. Ein Menſch, der ſchöne 
Worte haſcht, der halbe Seiten von Mobefentenzen ausjchreibt, hat 
faum mein Vertrauen mehr: er thut eine Kopflofe, kindiſche Arbeit. 
Alle Blumen des Vortrags müflen aus der Sache felbit, an bie- 
fem Ort, an diefer Stelle, wie Blumen aus dem Schoos ihrer 
Mutter Erde hervorgehn; die Kunft des Gärtners pflanzte und 
wartete fie nur eben an der beiten Stelle. Da muß fein Bild, 
fein Sat, fein Comma ſeyn, das nicht aus diefem Thema, wie 
ein Alt und fein Zweig, ober wie eine Blüthe und ein! Blatt 
des Baums, aus folder Wurzel, an joldem Stamm gleichfam 

283 nothwendig erwüchſe. Wenns Hier’ nicht fteht, ſtehe es nirgends 
und die Rede ift unvollftändig: fie hat, was man an Gemählden 
fagt, ein Loch, eine Lüde. Deßhalb bin ich eben von ver Fabel, 
der Parabel ausgegangen, um Ihnen Gefühl von biefer Einheit 
im Ganzen, von dieſem Raftlofen Gange einer Einzigen Hand» 
lung, von diefem in allen heilen lebendigen wirlſamen Gan- 
zen zu geben; ? babe ich diefen Eindrud verfehlt, fo war meine 
Mühe vergebens. Alle Fehler verzeihe ich gern, nur bie Fehler 
der Diipofition nit. Steht, was unter einander gehört, neben; 
was neben einander gehört, unter einander; wiederholen fich 
die Theile auf die ſchnödeſte Weife, fo daß, wenn „von ber 
Gefangennehmung Chrifti“ geredet werben joll, gefragt wird: 
.1) wer ihn gefangen genommen bat? 2) von wem er ift gefangen 
genommen morden? und wird doch friſch darüber als über zwei 
Himmel» weit verſchiedne Theile gepredigt: weiß endlich der Conci⸗ 
pient gar feine Sätze berauszuziehen, fie weder unter» nach neben 
einander zu orbnen; weiß er durchaus nicht, was dieſer, was jener 
Theil der Rede fey oder ſeyn foll — o weh! weh! gehe er hin 
und lerne Logik! 





1) aus feinem Thema, wie ein Aft, Zweig, ja wie eine Blüthe, ein 
2) allen lebendigen Theilen wirkfamen Gebäude zu geben; 


— 58 — 


Wenn Baumgartens tabellariſche Methode (die unſtrei⸗ 
tig übertrieben ward) etwas Gutes hat: ſo iſts dieſes, daß fie zur 284 
Diſpoſition gewöhnet; dazu iſt die frühe Erlernung einer oder 
der andern Wiſſenſchaft, die es nehmlich am füglichſten erträgt, in 
wohlgefügten Tabellen die beſte Methode. Dem Auge und 
ver Seele giebt fie unvermerkt einen logifhen Anblid. Ach 
weiß es fehr wohl, daß fraufe Köpfe auch durch alle tabellarijche 
Form nicht glatt werden, wie ed Erempel von Baumgarten Schü- 
lern jelbft bemeijen; ich weiß es auch wohl, daß, wenn man in 
jedem Perioden wieder unendlich Hein biponirt, man ein moleste 
sedulus, ein improbe artificiosus, ein Müdenfeiger und Kümmel⸗ 
jchneider werde, der vor lauter Deutlichfeit Stockdunkel, vor lauter 
Ordnung vermotren wird und zulest das Ganze gar aus dem 
Geſichte verliert. Mißbräuche einer Sache heben aber die Sache 
nicht auf; ja je feiner und nothwendiger diefe ift, deſto mehr kann 
und wird fie gemißbraudt werden. So iſts mit der Logik und 
Difpofition gegangen;! immer aber bleiben fie Grundlage des 
Vortrags. Die Natur hats nicht mangeln lafien an ſchönen 
Formen; vefte Formen aber, richtige? und gerade Linien 
machte fie überall zum Weſen der Sache, das? fie mit Schlänge- 
lungen und Krümmen nur überfleivet. Wenn Wolfs und infon- 
derheit des Philofophen Baumgartens Schriften aud fein Ver- 285 
dienft hätten, jo wäre e8 das, daß fie Ordnung in den Begriffen 
und die legten eine Spartanifhe Kürze und Strenge in Worten 
ehren. So fehr Baco ben Wis liebte, jo genau bifponirt find, 
feine beiten Schriften, injonderheit dad Organum und de augmen- 
tis scientiarum. Ariftoteles ift ein veiter Knochenmann, wie 
der Tod: ganz Difpojition, ganz Ordnung Wenn Wintel- 
manns Geſchichte der Kunft fein ander Verdienſt hätte, jo wäre 
ed das, daß man in ihr, wie in einem Griechiichen Tempel zwi- 
ihen Säulen und ſchöngeordneten Ausfichten über Zeiten und 


1) Logit, Philoſophie und Difpofition ergangen ; 
2) ridte 3) Wefen, das 





— 59) — 


Völter wandelt; fie ift das ſchöne Ideal einer wohlausgetheil- 
ten, hochangelegten Kunſtgeſchichte. Sole Bücher leſen Sie, 
m. Fr., excerpiren diefelbe und lernen darnach Ihre Gedanken 
ordnen. Wer nicht difponiren fann, kann weder lernen, nod 
behalten, noch wiederholen; noch weniger werdens bie können, 
die ihn hören. Es ift arena sine calce; bie geflügelten Worte 
verfaufen — — 

Eine ganz andre Frage ift: ob man die Difpofition mie ein 
nacktes Geripp binftellen jol? Das -thut die Natur nicht umd 

286 die arme, eingefchränkte Nachahmerin derfelben, die Kunft, ſolls 
noch weit minder; am mindften fol es aus Urjachen, die ich bereits 
angeführt babe, eine Predigt. Natürlide Orbnung und eine 
fortgebende Analyje des Worts Gottes ift ihr die beite 
Difpofition ; ſonſt Schütt fie fih, bei jo oft gehörten Saden, kaum 
für langer Weile. Auch bier, dünkt mid, find die philofophifchen 
Vorträge der Griechen Muſter. Wie natürlih ſpricht Plato, 
Kenophon, Marimus Tyrius, u.a. und doch wie orbentlidh! 
wie gebunden! So iftö mit Cicero, unter den neuern Lateinern 
mit Erasmus, Grotius, Ernefti u. a. Frankreich hat in ſei⸗ 
nem Boffuet, Fenelon, Roufjeau, Buffon, jhön- oder gar 
erhaben » fortitrömende Schriftfteller; England bat fie an feinem 
Addifon u. a.; wogegen jedermann doch gewiß den fpigen Witz, 
die unlogiiche Verwirrung oder das abgejchnittene Geiſtweſen andrer 
Schriftiteller unjanft empfindet. 

Die befte Methode, wie man die Eden des Lehrvortrages 
abründet, ift, dünkt mid, die Form des Geſprächs, in der! 
fih die Alten daher jo fleißig übten. Sie entlamen damit beim 
Lehroortrage nicht blos der einförmigen, eintönigen Steifheit, fon- 

287 dern auch dem anmaaflenden Egoismus; dem fonft, wenn ber 
Lehrer immer allein ſpricht, kaum zu entlommen if. Mancherlei 
Meinungen und Einmwürfe konnten fie im Gefpräd vortragen, 
ohne daß die Rede abgerifien und hödericht erſchien: fie konnten 


1) mid, der Dialog, in dem 


— 60 — 


abwechſeln, ohne in Declamation zu verfallen, die, wenn man 
immer allein ſpricht, beinah unvermeiblih wird: fte konnten end- 
lich die Haltung der Sadhen und Gründe fo fein, Licht und 
Schatten in einander fo verfhmwebend maden, daß dagegen 
der arme Monolog vom SKatheber, wie jein hölzernes Satheber 
felbft daftehet. In den neuern Zeiten haben Fenelon, Shaftes- 
buri, Littleton, Hurd, Diderot u. a. diefe ſokratiſche Methode 
erwählet; auch dem Theologen find Uebungen in ihr nit nur 
zur Katecheſe, ſondern überhaupt den Lehrton ſclicht, 
ſanft, eben zu machen, eine ſehr nützliche, obwohl nicht leichte 
Mühe! Mit Frag und Antwort iſts nicht gethan, ſondern wie 
gefragt, mie geantwortet, wie Wahrheit, Lehre und Unterricht 
gleihlam aus der Seele hbervorgeholt werde?? Verſuchen Sies 
jelbft einmal, m. Fr., nur eine Predigt durchaus zum Geſpräch? 
zu machen und ſich dabei ftrenge Geſetze des leichten Ueber— 
ganges, der fanfteiten piyhologiihen Form zu geben: Gie 
werben, wie ſchwer es fey, fühlen, aber doch wird Sie eine öftere 288 
Uebung der Art nicht gereuen. 

Sch Tomme mir jelbft, wie ein Pedant, vor, da ich in Einem 
Briefe über fo mancherlei Mebungen des Vortrags rede, To viele 
Schriften und Schriftfteller nenne und fie dem Scheine nad nur 
von den Lippen fließen laſſe; welches ich fonft nicht liebe. Wie ift 
ihm aber zu thun, m. Fr.? da das Brieffchreiben eine jo lang- 
weilige Sade ift und fi über alle diefe Dinge der beſte Unter- 
riht nur mündlich oder noch beffer thätig geben läßt.“ Ver⸗ 
zeihen Sie daher au, daß ih vom Leſen, Ercerpiren, vom 
Memoriren deſſen, was man liefet u. f. gar nichts fage; es 
kommt jo jehr darauf an, was man, wozu man liefet? daß ich 
bie meiften, auch die genaueften fchriftlichen Anweisungen hierüber 
immer unbeftimmt und mangelhaft gefunden babe. Wir 

1) Theologen ift fie zur Katechefe und liberhaupt .... machen, ber 
befte, aber nicht leichte Weg. 

2) Seele geholt wird? 3) Dialog 4) mündlich, thätig giebt. 

5) Ercerpiren, gat Memoriren beffen, was man liefet, gar nichts 





brauchen Heut zu Tage zu viel, und find mit zu viel ſchlechtem 
umgeben. Wir wollen und müflen alfo in compendio Iefen und 
Doch ift Dies compendium für viele fehr ſchädlich. Alſo non multa, 
sed multum! tft bier die goldene Negel und die zweite vielleicht 
noch güldnere: Iefen und lernen Sie jo leicht nichts ohne Uebung, 
289 ohne Anwendung, wie fih diefe nur immer nah der Natur 

jeber Lectüre nehmen läßt. Suchen Sie daher auch, fo bald Sie 
fönnen, in Lehr⸗ und zwar in öffentlide Lehrübung zu 
fommen. Auf Schulen, nit in der Kirche; nicht des lieben 
Brot3, jondern Ihrer eignen Bildung ! wegen, fobald Ihnen nur 
einigermafien bie Lehre anftehet. Ich fehe es als ein Glüd mei- 
ner beiten Jünglingsjahre an, daß ich lehren mußte,? lehren 
fonnte und zwar würdige Sachen an lehrbegierige Schüler, öffent- 
lich, nah meiner eignen Auswahl lehren konnte. Ich weiß, 
jo wenig ih Habe, was ih damit gewonnen — etwas, das 
mir das emige Lefen und Zuhören fchmerlih würde gegeben 
haben — 3 

„Schulen, jagt Luther, find kleine, doch ewige und nüßliche 
Concilien: fie haben ein köftlih Amt und Werk und find die evelften 
Kleinode der Kirche. Ich wollte, daß feiner zu einem Prediger 
ermwählt würde, er märe denn zuvor Schulmeifter geweft. Seht 
wollen die jungen Gefellen von Stund an alle Prediger werben 
und fliehn der Schulen Arbeit.” Sie fliehn fie aber oft, weil fie 
ihr nicht vorftehn fünnen und noch öfter flieht die Arbeit fie: denn 

2% zu einem Schullehrer wird doch, aud nur der Oberfläche nad), 

mehr erfobert, als zu einem fogenannten Kanzelredner. Bon bdie- 
fern heißts oft nach dem befannten Räthjel: „Es fteht ein Männ⸗ 

1) Im Me. ſteht zuerft: „Ermedung“ 2) mußte und 

3) Lefen und Hören nicht geben konnte. Im Dife. folgt hier noch durch⸗ 
firigen: „ich erinnere mich diefer Zeiten, ohmgeachtet des Nebels, der um 
fie lag, al® ber angenehmften Tage meiner Jugend. Yeben Sie wohl und 
nehmen beute mit einem fo fchulmeifterlichen Briefe vorlieb, den ich nicht 
würbiger vertreiben und abwechfeln kann, als mit folgenden gewiß golbe- 
nen Sprüchen eined Pythagoras unferer Nation.” 








„lein im Holz: es fchreit und fchreit und darf ihm niemand ant- 
„mworten.“ 

In Unterweifung der Kinder lernt man dad einfältige 
ChriftentHum erfennen und ſchätzen; in Unterweifung ebelgearteter 
fleißiger Jünglinge lernt man die Blüthe jeder Wiffenfchaft ſuchen 
und finden. Dan wird jung mit jungen Geelen, gleichſam 
geſchlank und munter, die Welt noch einmal als Jüngling anzu» 
jehen und zu koſten; nur freilich gehören dazu nicht Jahre, in 
denen Körper und Seele eintrümmt. Prediger, die gute Schulleute 
waren, (wenn fie e8 nur nicht zu lange blieben) lernt man bald 
unterjcheiden, an Drbnung, Wiſſenſchaft, reeller, praftifcher Kännt⸗ 
niß; denn nach unſrer Lage des geiftlihen Standes können es 
nur Schulen feyn, die dem Gandidaten candidam vestem ciner 
woblbeftandenen Prüfung, eines öffentlichen guten Verdienſts geben. 
Die gemöhnliden tentamina ermweifen wenig; bie homiletifchen 
Uebungen nad der gebräuchlichen Art fodern und geben auch nit 291 
viel. In Leſung guter Autoren und in lebendiger Uebung, zumal 
auf Schulen; da liegt Stof zur Lehrart, zum öffentlihen or: 
trage, zur feineern Bildung der Seele. Folgen Sie meinem Rath 
und Sie werden die Früchte Davon genieflen. 


Nahihrift. Die paar Proben von Predigtentwürfen, bitte 
ih, betradten Sie nicht ala Difpofitionen (die mir leichter, aber 
Ihnen unnüßer gemwejen wären) nod weniger als vollftändige 
Reden, darnach Sie etwa meinen Vortrag beurtheilen wollten. 
Es find nichts als Schattenriffe, bie und da gezeichnete Punkte, 
die nun erft in der Ausarbeitung oder lebendigen Behandlung zur 
Geftalt, zum Geihöpf werden müſſen. Es kann manches in ihnen 
weit bergeholt jcheinen, was es im lebendigen Vortrage, in der 
Bindung aller Glieder zum Ganzen nit ift. Alia legentes, alia 
audientes magis adjuvant. Excitat, qui dicit; spiritu ipso, nec 
imagine et ambitu rerum, sed rebus ipsis incendit. Vivunt 
enim omnia et moventur excipimusque nova illa velut nascentia 


— 63 — 


cum favore ac solicitudine. Von einer durch die Rede belebten 
292 Situation, wie z. E. eine Parabel, eine Geſchichte ift, läßt ſich 
im Ton des Referenten wenig fagen, fo wenig als von dem Gange 
einer jeden menſchlichen oder moralifden Handlung.! Uebrigens 
paſſet injonderheit auch auf Predigten jener Ausſpruch des Pli- 
nius: ardua res est vetustis novitatem dare, novis auctoritatem, 
obsoletis nitorem, obscuris lucem, fastiditis gratiam, dubiis fidem, 
omnibus vero naturam et naturae suae omnia. Schreiben Sie 


ihn fih in Ihre Homiletif. 


293 Sechs und vierzigfter Brief. 


Bon Zeit zu Zeit babe ich Ihnen poetische Stüde gefandt, auch 
von einigen Gedichtarten, 3. E. von Hymnen, Liedern, der Parabel, der 
Fabel? u. ſ. w. einige Worte mit einfließen lafjen; ich glaube doch nicht, 
daß Sie diefe Dinge für Lüdenbüßer angefehen haben: denn ich wüßte 
nicht, was bei einem Briefwechfel unſrer Art für Lüden zu büßen 
wären? Der Briefihreiber hört zu fchreiben auf, wenn er will, 
und der Leſer zu leſen auf, wenn der Brief aus ift; auch kann 
ed und bei der übergroßen Menge von Gegenftänden und Materien, 
über die mir reden, gewiß an einigen Reihen mehr nicht fehlen. 
Ihr guter Sinn und Genius wird Ahnen längft gefagt haben, daß 
die PVoefie die Bildnerin des, Vortrages, die Schatzkammer 
großer Gedanken und rührender Befhreibungen, endlich 
die fünftlihfte Form der Einkleidung fey, an der die Rebe 
und überhaupt die Profe zu lernen habe. Wir bemerken daher 
vielfach, daß ſowohl in der Schrift, aus den Liedern und Gefängen 

294 Gottbegeifterter Propheten, als auch in der Gejchichte aller Völker, 
die Profe aus der Poeſid bervorgegangen ſey und gleihjam an 


1) eine Parabel, Geſchichte ift, läßt fih als bloßer Referent wenig 


fagen, fo .. ... einer menfchli oder moralifch belebten Handlung. 
2) Ausſpruch Plimus: 3) 3. E. Hymnen, Liedern, Parabel, Fabel 
4) bemerften 


— 6A — 


und um ihr Geftalt gemonnen habe. Auch Kritik und Rebekunft 
begann an ihr, wie die Lehren des Plato, Ariftoteles, Cicero, 
Duintilian, unter den Neuen Roffius, Rolling u. a. zeigen. 
Poeſie ift die Blüthe der menſchlichen Seele, jo wie die bil- 
denbfte Ergögung ? der Jugendjahre unſeres zu bald verblühenden 
Lebens. 

Damit ich indeflen die Grenzen des theologischen Gebrauchs 
derjelben richtig beftimme, fo merken Sie leiht, daß bier nicht 
von eigner Poeterei die Nebe feyn kann, nach der der Jüng⸗ 
ling etwa ftreben müſſe: mi dünkt, ich babe Sie hievor, mie 
vor allem Diebital fremder, poetifh- und proſaiſcher Blumen, 
und eines jeden üppigen Schmuds der Rede längjt und oftmals 
gemarnet. Wäre die Poefie zu nichts brauchbar, ala daß man 
mit bunten, glänzenden Lappen aus ihrem Trödel feine Blöße 
deckte, oder gar damit feine einfache, ehrbare Kleidung verungierte; 
welcher befcheidne Menſch wollte nicht diefe Tröbelbude, fo weit er 
könnte, fliehen? Unglüdlih aber, wer die Poeſie dafür anfieht! 
Sie tft, wie gefagt, der vollkommenſte Ausdrud, die Fünft: 
lichſte Form? ver Rede, die bei aller fcheinbaren Freiheit die 295 
ftrengften Gefege über ih, die bejtimmteften Regeln um 
fih bat und auf die treffenpfte ? Weife Gedanken und Worte 
paaret. Indem fie nun die edelſten Gedanken meden und fie 
mit den beften Worten paaren fol: jo gewinnt man an ihr 
durh Anhalt und Form ein Gutes, was jonft nirgend zu 
erlangen ſtehet, man erhält Regeln und Vorrath, beides auf 
die angenehmfte, Teichtefte Weile. Wie die Fabel, das Geipräd, 
die Parabel für einen jungen Theologen zu brauden jey, * babe 
ih mit menigem angedeutet; lafien Sie uns jet von andern 


— — —— 





1) A. und Mſe.: Ergötzung; B: Ergetzung 
2) Ausdruch, die erhabenſte, ſchönſte Form 3) treffendſte, beſte 
4) auf die liberalſte, leichteſte Weiſe. Ich weiß nicht, wofür 
Ihre Seele mehr geſchaffen iſt, ob für den Inhalt oder die Form? für 
den Vorrath oder die Regel? ich dächte aber, Sie verbänden beides, wie 
Körper und Seele. Wie Fabel, Dialog, Parabel zu brauchen ſei, 


— 65 — 


Gedichtarten, zumal der! bibliſchen Epopee, dem Liede, dem 
Lehrgedicht reden. 

Das Lehrgedicht iſt, wie ſeiner Form nach, ſo auch in 
ſeinem Gebrauch, wohl das leichteſte. Niemand wird weder in 
der Geſellſchaft, noch auf der Kanzel in Alexandrinern reden, wenn 

er bei gutem Verſtande iſt; auch wird er mit feinem Einzigen 
Verſe (es müßte denn eine jonderbare Veranlaffung feyn) weder 
im Umgange, nod vor der Gemeine prangen; an ihnen aber 
lernen, wie ftarfe, wahre, große Gedanken in die fürzefte, ftärkite 
296 Sprache gefaßt werben, um als Edelgefteine in Golde zu glänzen, 
das wird Er. Dazu ftellet ihm die Schrift felbft fo erhabne Lehr⸗ 
gedichte, ala das Buch Hiob, der Prediger und einige Pro- 
pheten find, vor; dazu? find auch die Dichter erhabner Lehr- 
gefänge, Mofes, David, Jeſaias, begeiftert. Die wahre Ode, 
ja jelbft der Hymnus ift nur ein höheres Lehrgedicht mit 
einem beftimmteren Plane, in einem höheren ? Fluge der Begeifte- 
rung. (Wollen Sie mir bierinn nit glauben, fo lefen Sie _ 
Zwingli’s ſchöne Vor- und Nachrede zu feinem Pindar, und 
Sie werben fehen, mie er jelbft diefen jo mythologifhen Dichter 
einem “Theologen lehrreich finde.) Sie werben aljo die uns ange- 
mefjenern Lehr- und Odendichter jo unfrer, wie andrer Nationen, 
dadurch ehren, daß Sie wahre edle Gedanken in der erhabenften, . 
Ihönften, Türzeften Sprache von ihnen ausdrüden lernen. * 

Was das geiftliche Lied betrift, fo ift der Gebrauch davon, 
wie ich ein andermal bereit? bemerft habe, dem popularen, praf- 
tifhen Theologen noch ungleich nüslicher, als die erhabenfte Ode. 
Das Gefangbuh ift die verjificirte Bibel für den gemeinen 


1) der Epopee, der 

2) Lehrgedichte an den Schriften Hiob8, Salomo's und ber Pro⸗ 
pheten vor, und dazu 

3) ein erhabneres Lehrgedicht mit beſtimmterem Plane, im 
höhern 

4) die gründlichen und und angemeßenern .... ehren, daß fie wahre 
edle Gedanken von ihnen in der .... Sprache lernen. 

Herders fümmtl. Werte. XI. 5 





— 6 — 


Chriſten: fie iſt fein! Troſt, fein Lehrer, feine Zuflucht und 
Ergötzung zu Haufe; in öffentlider Verſammlung follen Gejänge 297 
und die Töne, die fie begleiten, wie aufichwingender Aether, wie 
erquidende Himmelöluft ſeyn, die Seelen der Verfammleten zu 
vereinigen und zu erheben. Was hiezu die Muſik, injonderheit 
die höchſte von allen, Heilige Muſik, thun kann, läßt fich nicht 
beichreiben, fondern empfinden. Sie rührt durch ihre Einfalt, fie 
erhebt durch ihre Würde. „An der Muſik, fagt ein Autor, find 
„wir weiter, als in der Poeſie, befonders nachdem Gott das 
„erftaunenswürdige Inſtrument, die Orgel, bat erfinden laſſen; 
„fe, die alle Sprachen redet, die mit der fühlen Lodftimme der 
„Liebhaberin die Liebe Gottes in das horchende Ohr der Andacht 
„haucht und feine Schreden in das Ohr des Tyrannen brüllt: fie, 
„die vielftimmige Poſaune des Lobes Gottes, feiner jchallenden 
„Wunder und ihrer eignen Majeſtät, der Ewigkeiten würdig.“ 
Wenn dies ift,? welden Gebrauch follten wir von ber Kirchen- 
muſik machen! mit welcher Feierlichkeit und Würde jollten wir — 
nicht die H. Cäcilie, fondern die himmliſche Andacht felbft auf 
ihrem unfichtbaren Aethertbrone zu uns berabziehen und in unſre 
heilige Berfannlung laden! ? — Erlauben Sie, m. Fr., daß ic 
über Kirchenlieder und Kirchenmuſik, (emem Theologen doch immer 
wichtige Gegenftände,) nad ber Lage unſrer Zeit Ihnen meine 29% 
Gedanken etwas ausführlicher herſetze; ich weiß, Sie gehen gern 
diefe nicht unnöthigen Schritte mit mir. 

So wie bei allen Völfern der Gottesdienit eine Art Würde 
und Feierlichkeit des Alterthumes gehabt und zu erhalten gefucht 
bat, jo* follten aud bey uns die Spuren, die davon etwa noch 
vorhanden ſeyn möchten, nicht gänzlich meagetilgt werben. Die in 
der Mufif wie im Gefange, im Liebe wie in der Predigt bie 


1) nütlicder und mannidfalter. Das Geſangbuch ift die belchte 
Bibel für den gemeinen Ehriften, fein 

2) ift, (und wer kanns läugnen ?) 3) berabziehen, herabladen! 

4) Sottesdienft Altertbum, Würde, Feierlichkeit gehabt bat, fo 











Sprache des Gottesdienftes und der Religion üppig und weiblich 
machen wollten, follten eher verwiefen werden, ala jener Grieche, 
der einige Griffe der Tonart weicher machte; — verwieſen nehm- 
lich, nicht aus der Welt, fondern vom öffentliden Gebraude. 
Was follen ung Gejänge, die der größefte Haufe nicht mitfingen 
fann und — nicht veritehet? mas follen ung andre, die Nie- 
mand ! fingen fann, meil fie zerhadt und durch fogenannte Ber- 
ſchränkungen, (Enjambements) Reihab Reihauf geflidt find? Der 
Kichengefang geht langſam und feierli daher; was follen 
ihm Sprünge? Der Kirchengefang ift für die Menge; alfo 
299 auch für die Bebürfniffe derfelben; für ihre Denk- und Schart, 
für ihre Situation und Sprade. Sie follen bier zu Gott beten, 
wie fie aus ihrem Herzen beten würden; nur veredelte Sprache 
ihres Herzens. Ein Mufter? foll der Geſang feyn, das fic fi 
aus eignem Triebe zum Mufter nähmen, weil fie allenfalla fo 
innig fühlen, aber es nicht fo gut fagen könnten. Was follen fie 
nun mit der gezierten Bücherfprahe?? mit der poetiſchen, oder 
gar abitraften Tändelei? Und würden ihnen dazu ihre Lieber, 
Gefänge, die von Jugend auf die Gefährten ihres Lebens und 
wirtlih einmal, wie es aus ber Geſchichte ihrer Verfaſſer oft 
bewiefen werden fann, die treuen Kinder der Noth, eine wahre 
Herzenzfprache des Dichters felbft waren, würden biefe ihnen genom⸗ 
men oder gar verftümmelt; und ihnen dafür poetifche Exercitien, 
müßige Reim- und Yugendübungen, die ohne Veranlaffung und 
Beruf, ohne Noth und Trieb des Herzens, aus Muße, zur 
Ergekung, oder gar aus Ruhm- und Modeſucht und für den Druder 
zum Lohn gemacht wurden, in die Hände gegeben; * wäre Dies 
ein billiger Taufh für Leute, denen doch eigentlih (denn Vor⸗ 
nehme, Reiche, Ueppige, Gelehrte, finden wenig Geſchmack an 


1) fein Menfh 2) Herzend. Mufter 3) mit ber Bücherſprache? 
4) und wirklich einmal ihrem Wefen und Urfprunge nad die treuen 


Kinder der Noth und Herzensſprache waren; würden .... ober verflüm- 
melt; und ihnen .... Jugendübungen, die ohne Veranlagung, Beruf, Noth, 
Trieb .... gemacht wurben, gegeben; 


5* 


— 68 — 


Kirchenliedern) denen doch eigentlich das Geſangbuch gehöret. 
Sie trauen mir zu, daß ich hierüber ohne den mindeſten Reid ! 
ſpreche; ich glaube auch, Sie halten mich nicht für den Barbaren, 30 
der manden Wuft unfrer Gefangbücher nicht mit Veradtung und 
Mitleid fühlte; viele find ein zufammengefloffener — mas foll id 
jagen, See? oder Sumpf? wo das Beite unter dem Schlechteften, 
die Perle im Unrath? liegt. Man fchaffe aljo manden alten 
Unrath 3 weg! feinem vernünftigen Menſchen wirds einfallen, 
Dagegen zu ſeyn, daß Ochſen- und Taubentothhändler aus Dem 
Tempel vertriebın und das Heiligthum gefäubert werte. Auch 
iſts ganz ohne Zweifel, daß die beiten Gefänge der beiten Meifter 
oft Stellen, Ausdrüde, Berfe haben, die für ung nidt mehr 
jangbar find; Diefe thue man auch weg, oder befiere fie; aber 
unvermerft gleihjam und gelinde Unvermerkt und gelinde; 
nidt, daß man ftatt Ein Glied einzulenten, den ganzen Mann 
alle Gelenke und Glieder, aus bloßer Wortziererei zerbricht, ihm 
nit nur Bart und Haar, wie Hanon den Gejandten Davids, 
fondern Nafe und Ohren, Daumen und Zehen, wie Og zu Baſan 
feinen funfzig Königen verfchneibet und fie nun unter feinem Tifch 
mit Brojamen ſpeiſet. Wie beicheiven waren die erjten Verfuche, 
Spaldings, Zollilofers u. a. einer Sammlung feinerer Men- 
ſchen aud ein feinercs Geſangbuch, infonderheit zum Privat- 
gebrauch zu geben! und was für Licenzgen find darauf bie und 301 
da erfolget! Habe ich doc ein Geſangbuch gefannt, wo es dem 
Sammler erfter Grundjag war: „fein Lied ungeändert zu laffen, 
nichts! aufzunehmen, was nicht geändert jey oder geändert würbe.“ 
Gar nicht die Frage mehr: ob zu ändern noth jey? ob es zu 
ändern lohne? ob Leute, Die nichts, gefchmweige einen Geſang 
Luthers befjern können, die Lebenslang nie von Poeſie geträumt 
haben, ob Leute diefer Art die gewiſſermaaßen ſchwerſte Arbeit, 
dem Geifte eines andern zu dienen und ihm ſanft aufzubelfen, 


1) Neid oder Privatabficht 2) Strom 3) Mift 
4) nichts dahin 5) ob fie bie 


— 69 — 


übernehmen können, übernehmen dörfen?! Bon allem feine Frage: 
fie ändern aus gnäbigfter fpeciellee Commißion und man führt 
ein. — Nun: wahrlih, chriftlicher und poetiſcher Geift läßt fich 
nicht committiren, und die Sade Tann feine andre Folgen haben, 
als die fie ſchon hat, nehmlih, daß Deutichland ein Babel wird, 
wie von Dialekten und Herrfchaften, jo von Gefangbüdern und fo 
Gott will, auch bald von neu überfegten Bibeln.? 

Laſſen Sie fih, m. Fr., durch diefe neue Liebergeburten 
nicht abfchreden,® den alten Gefang in feiner Würde und Einfalt 
zu ftubiren und fortzulicben. Wir haben an ihm einen Reichthum 

302 an Sprade und religiöfer Empfindung,* der ſich faft von den 
Kirchenvätern beraberbet; und ich wünfchte, daß wir noch mande 
von ihren Hymnen, nicht den Worten, fondern dem Geift nadh,® 
in unfrer Sprade hätten. Selbſt das Mönchlatein der mittlern 
Zeiten hatte manche Gejänge von einem Ton der Andacht, eier 
und Demuth, der beinahe in unfern Spraden feinen Ausdrud 
findet, wovon ich Ihnen ja nur das fonft elende: stabat mater 
dolorosa, das jchredliche: dies irae, dies illa und mande andre 
befannte Cantionen zu nennen brauche. Einige unjrer Lieder, Die 
Luther u. a, überjegten, find aus ſolchem ältern Latein, und wenn 
der Ausdrud bie und da zu veraltet ift, fo follte man ihm, dünkt 
mich, nadhelfen, ohne, jo viel möglich, feine Kraft zu ſchwächen 
und dem ganzen Liede® die Geftalt feines Alterthums zu nehmen. 
Wer mird ein Strasburgifches Münfter oder eine notre Dame in 
Paris zerftören, um ein lichtes Opern - und Lufthaus an feine 
Stelle zu pflanzen? — --- In den Gefängen der Böhmischen Brüber ? 


1) können, dörfen ? 

2) Bibeln. Warum follte fich nicht auch jeder summus episcopus 
in feinen brittehalb Meilen Landes feinen eignen Chriftus und Luther in 
Proſe und Reimen felbft beftellen und fabriciren ? 

3) neue Glättungen nicht hinweglocken, 4) und Empfindung 

5) dem freien Geift und Ton nad, 6) B: Leibe (Drudfehler) 

7) Bier folgt im Dife. durchſtrichen: „die ich Theils aus einer fchön- 
gebrudten Ouartausgabe von 1566. theil® aus einer andern mit Horns 
beſcheidnen Peränderungen kenne,” 





ift oft eine Einfalt und Andacht, eine Innigkeit und Brüber- 
gemeinjhaft, die — wir wohl laſſen müffen, weil wir fie nicht 
mehr haben. Es ift Schade, daß aus biefen Bergen! nicht wenig- 
ften® das Gold geſucht und etwa nah unferm Bebürfniß zum 
gemeinen Nugen verwandt ? wird; doch vielleicht ifts auch beſſer, 303 
daß ed für wenige Liebhaber aufbewahrt bleibe. Die Gefänge 
Luthers, (ob einige gleich, melches ich jehr bevaure, zu Zeitmäßig 
und perfönlih find,) einige ſehr ſchätzbare Lieder aus dem vorigen 
und dem Anfange diejes Jahrhunderts find voll Melodie ,? und 
Herzensſprache; man jpüret aber, daß es mit dem Kirchengejange 
von Zeit zu Zeit abwärts gehe: er wird feiner und bie Kraft ver- 
liert fi; lieblicher, und er hört faft auf, Chorgefang zu werben. 
So, dünft mid, bat infonberheit eine befannte fromme Schule 
Deutſchlands den Kirchengefang zuerſt entnerut und verderbet. Sie 
ftimmte ihn zum Kammergeſange mit lieblichen weiblichen Melodien, 
voll zarter Empfindungen und Tänbeleien berunter, daß er alle 
jeine Herzen = beherrfchende Majeftät verlor; er warb ein ſpielender 
Weichling. Ach fchreibe dies immer no mit Hochachtung gegen 
Einige große Männer diefer Schule, die fih auch durch Gefänge 
verdient gemacht haben; aber im Ganzen — auf Tändeleien ber 
Art Tonnte wohl nichts als philofophiihe Kälte und poetifches 
Schnigwerf folgen. Es ift übel, daß bei der großen Menge 
ſchlechter Lieder, die in unfern alten Gefangbüdern find, die 
guten faft nirgend in Einem zulammen, jondern hin und wieder 
in Provinzialgefangbüchern abermals unter Wuſt fteden; ‘ und 301 
viele ſolcher Art haben gar Nationalmelodien, ohne die fie Halbtobt 
find. Eine Biene des chrifilihen Geſanges müßte alſo zuerft die 
beiten aus allen Provinzen, felbft ohne den Unterſchied der Pro- 


1) ®ruben 2) Nuten anders verwanbt 

3) einige noch ſchätzbare Lieder .... voll von Melodie 

4) Im Mie. folgt bier durchſtrichen: „So find die meiften von 
S. Dad in Deutichland faft unbelannt, die doch, wenn man ihnen einige 
Härten nähme, den beften neuern gleichfommen würden, ob fie wohl nicht 
eben ganz im Evangelijchen Geift find. So iſts mit Alberti u. a. Liedern. 





teftantifchen Religionen, mit ihren Melodien, alt und neu jammlen 
und dies wäre die Grundlage eines guten Geſangbuchs für 
Deutihland. Die ſchlechten müßten, ohngeachtet des Namens und 
Standes ihrer Verfaffer weg- und auch aus den guten müßten 
ſchlechte Verſe wegbleiben, denn viele find überdem zu lang und 
das Schlechte weglaffen ift beffer, als jchleht verändern. Selbft 
bei B. Gerhards, Speners, Franke, Scriverß, Freiling- 
baufens u. a. Liedern wäre dies zuweilen nöthig; noch mehr bei 
Angelus, Rifts, Heermanns, Hermanns u.a. Aus den 
Neuern müßten nur die binzugethan werden, die ſangbar und für 
die Gemeine verſtändlich; nicht aber die blos gereimte ! Abftractio- 
nen ober poetifhe Tiraden find. Alle Aenderungen müßten nur 
dahin abzweden, daß das Anſtöſſige weggethan, nicht aber dem 
Berfaffer feine Farbe genommen, noch weniger das Lieb in unjre 
Gedankenweiſe umgejchmolzen werde.“ Einige der neuen Berbeßrer 
ſcheinen fich dies ftrenge Geſetz vorgefegt zu haben; ob es überall 
305 glüdlich befolgt fey? 3 ift eine andre Frage. Kurz, einem praftifchen 
Theologen iſts nöthig, daß er die beften alten und die beiten, oder 
beftveränderten neuen Lieder Tenne; die Gegeneinanderhaltung beider 
ift ein großes Stubium der Sprade und Empfindungsart über geift- 
liche Gegenftände und die eindrüdlichiten Materien * der Predigt. 
Was die Kirchenmufif anbetrift, jo haben wir ohne Zweifel 
befiere und mehr befjere Kirchenftüde in Tönen, als in Worten ; 
denn bei den gemeinen Kirchenfantaten ift der Text meiftens mit» 
telmäßig oder elend. Hier haben wir noch vieles für die Andacht 
zu wünſchen, ehe der goldne Traum Klopftods*) erfüllt wird. 
Lejen Sie die Vorreden Luthers zu feinem Geſangbuch und was 





*) ©. Klopftods Open, S. 227. die Chöre. 


1) fangbar, für bie Gemeine verftändlich; nicht gereinte 

2) nur feyn, das Anftößige mwegzuthun, nicht dem Verfaßer feine 
Farbe zu nehmen, no .... umzufchmelzen. 

3) ob ſie's überall glüdlich befolgt haben? 

4) Gegeneinanderaltung iſt . ... Empfindung über geiftlide Gegen- 
fände und die fchönften Materien 


— nn — 


er ſonſt bei aller Gelegenheit von der Muſik ſpricht, wie er ſie 
nächſt der Theologie, als eine zweite Theologie preiſet, und 
ſagen, was nach dieſem Begriff unſre Muſik des Gottesdienſtes 
für eine andre Sache ſeyn könnte! Noch neulich habe ich dies an 
Händels Meſſias aufs neue gefühlt und geahnet. O Freund, 
welch ein großes Werk iſt dieſer Meſſias, eine wahre chriſtliche 
Epopee in Tönen! Wenn Sie gleich von Anfange die ſanfte 
Troſtesſtimme vernehmen und zur ! Ankunft des Meſſias in der 306 
ganzen Natur Berg und Thal ebnen bören, bis fih Die 
Hoheit, die Hoheit des Herrn offenbaret und alle Welt 
ihn Shaut mit einander: wenn Sie die ſchauerliche Arie: wer 
mag ertragen den Tag, wenn er fommt? und fein Läute- 
rungsfeuer durch Ihr ganzes Weſen fühlen: und nun ber frö- 
liche belle Bote erjcheint,? der mit feinem Lerchengefange Froh⸗ 
loden in Zion bringt und die Völker, die fo tief in den 
Kreuggängen des Dunkels wandeln, nun jehn ein groß 
Licht, bis der ganze helle Morgen anbridt; wenn ® ſodann das 
Einzige Chor in feiner Art: es ift ung ein Kind gebohren, 
alle Namen des Neugebohrnen wie Silbertropfen * vom Himmel 
berabzählt, und plöglich alles fchweiget, und die fanftefte Hirten- 
mufif Naht und Schlummer verbreitet — ? Sie wiſſen, m. Fr., 
mit Worten läßt ſich über alle dies nichts jagen. Hören Sie die 
Arie: „er wird Hirte ſeyn: kommt her zu ihm, die ihr 
mübjelig ſeyd“ hören Ste das Chor: „Sieh da ift Gottes 
Lamm” und darauf denn das Herzdurchdringende Solo: „er 
war verfhmähet: deine Schmach zerbrad fein Herz: ſchau 
an und ſieh, ob irgend ſey ein Jammer glei jei- 
nem Jammer“ und Alles, Alles was folgt, bis zu dem in 
die Ewigfeiten hbineingehenden Hallelujah! ewig und emig! 
Vernehmen dann nach einer furzen Pauſe das fanfte, gewiſſe: 307 


1) TZroftesftimme, fodenn zur 2) und der .... Bote kommt, 
3) Morgen da ift; warn 4) Xhautropfen 
5) Schlummer macht und die Anlunft vorbereitet -- 








„ih weiß, daß mein Erlöfer lebt” und fühlen den allgemei- 
nen Todesjhlaf und die Auferftehung und wenn bie liebliche 
Trommete tönt, die ſchöne Frühlingsverwandlung, und hören 
das Geſpräch jenfeit des Grabes:! Tod, wo ift dein Pfeil? 
und abermal Alles, Alles, bis alle Chöre aus allen Welt- Enden 
dem Preiswerthen Lamm Dank und Hoheit zu Füſſen legen, 
auf ewig und ewig — hören Gie dies und haben nur einiges 
Gefühl für Religion und Töne; wie werden Sie an mande 
unſrer Kirchenmuſiken denten? Und doc ift alles jo einfach! und? 
Worte aus der Bibel — ja Gottlob! nur Worte aus der Bibel; 
feine |hön-gereimte Gantate. Leben Sie wohl. 


308 , Sieben und vierzigfter Brief. 


Das Wichtigſte und zugleich Gefährlichlte der ® Gedichte für 
einen Theologen ftehet mir noch bevor, nehmlih die biblifche, 
die hriftlihe Epopee. Wie bat ein Süngling unfers Zeit- 
alters dieſe Dichtungen, die die gerühmteften Werke unferer Mufe 
find, zu leſen, zu gebrauden? -Trauen Sie mir zu, m. Fr. daß 
ih aud bier unpartheiiich nah meinem beſten Gefühl der Wahr» 
heit reden werde. 

Am menigften liefet man fie dazu recht, wenn man die Blu- 
men ihrer Spracde lernen, und diefe in Liedern, Oden, Gebeten, 
gar in Abhandlungen und Predigten anwenden will. Die epifche 
Mufe Hat ihren eignen Gang, ihre eigne Sprade; zumal die 
neuere Epifhe Mufe. Homer ift gegen fie ein Sind und bie 
Profe riecht ihr zu Füſſen. Wollen Sie fi hievon überzeugen: 
jo leſen Sie Klopftods Proſe. Nichts ift beſcheidner, fanfter und 
wie ein Schriftiteller Sagt, Lammesfrommer als fie: fie fliegt nicht, 
fie geht einfältig an der Erde. Ein gleiches ifts mit der Profe 

309 Miltons und beiden großen Schriftftellern, die in beiberlei Styl 


1) den Dialog über dem Grabe: 2) und nur 3) Das wichtigfte der 


— 74 — 


Mufter ſeyn können, geſchieht das empfindlichſte Unvecht,! wenn 
unverſtändige Jünglinge die neugeſchaffne, hohe Götter- und 
Empfindungsiprache derfelben zu einer Pandorenbüchſe maden, aus 
der fie Scilvereien, lyriſche Gedichte, geradbrechte Lieder und 
Empfindungen jhütteln, die ihren Verfaflern jelbft und ſodenn 
einer Reihe, wie es heißt, fympathifirender Leſer allen gefunden 
Blick über Sachen diefer Art und den eignen Ausdrud ihres Her- 
zens rauben.? Im Felde der Theologie, im einfältigen Zuſpruche 
der Homilie, des Gebets, des Kirchengejanges haſſe ich dieſe glän- 
zenben Lappen auf den Tod. Sie find fremder Bettelftaat: Die 
Worte kommen nicht von Herzen und gehn nicht zu Herzen: fie 
find lau Waſſer, das jeder Gejunde von fich ſpeiet. — 

Ein gleiches ifts mit den nachgeahmten Empfindungen einzel=- 
ner Berfonen der poetifhen Fabel. Fühle fie mit, indem * 
du fie Tiefeft: mache dir draus eigen, was, als Summe des 
Eindruds, dir in der Seele bleiben fol; in deinen PVortrage 
aber, von welder * Art er auch wäre, tändle, juble nicht nad). 
Du bift feine der Weiber am Kreuz oder in der Arche, weder 
Maria noh Eva, weder Cidli noch Kerenhapud. Der Erlöfer 310 
will von dir nicht bejammert, bemeint, bejauchzet; jondern ver» 
ftanden, geliebt, verfündigt und befolgt ſeyn. Laß Teufel und 
Seraph, Eloah und Adramelech, den wimmernden und die wüten- 
den Teufel ihre Sprache reden, rede du die Deine. Wie Gott 
im Himmel befungen, wie der Erlöfer in der Hölle angefehn wird, 
wife der Dichter; du lerne ihn anfehn und preifen, wie er fi 
uns auf Erden, in feiner Natur, in feinem Wort offenbarte. 

Eben jo ifts mit dem eigentlihen Fabelwerk des Dichters. 
Als Dichter wars ihm nöthig; die Epopee muß Begebenheit in 
Fabel verwandeln, fie mit Fabeln ausfüllen, rund maden, 
beben und fränzen: der Theolog und Chrift muß das aber von 


— — — 


1) geſchieht die empfindlichſte Schande an, 
2) Blick und eignen Ausdruck rauben. 
3) indeß 4) aber, welcher 


— 75 — 


ihr nicht lernen. „Der Dichter, ſagt Klopſtock ſelbſt, mahlt einen 
„hiſtoriſchen Grundriß nach den Hauptzügen aus, die er in demſel⸗ 
„ben gefunden zu haben glaubet. Zugleich weiß man von ihm, 
„daß er dies für nicht mehr als Erdichtungen ausgiebt.“ Er 
will alſo ſelbſt, daß wir, was er zu finden glaubte, ſuchen 
ſollen, ob auch wir es finden? und ja, (wie er bald in der Folge 
hinzuſetzt) Erdichtung und Wahrheit von einander ſondern. 
311 Ein ſchwacher Kopf iſts, der beides für Eins nimmt, der aus 
Klopſtock lernen will, wie Chriſtus gen Himmel gefahren ſey und 
die Welt erlöſet habe? ein ſo ſchwacher Kopf, daß Klopſtock kaum 
glaubt, daß ſo was im Ernſt geſagt oder in ſeinem Gedicht geſucht 
werden könne. Er will, daß man auf ſeiner Hut ſey, Geſchichte 
und Gedicht, ſelbſt nicht im Leſen, im Feuer der Einbildung 
und Mitempfindung ſelbſt! nicht, zu verwechſeln, geſchweige im 
bleibenden Eindruck; und es iſt ein läſterndes Lob, das ? ihm ein 
Epigramm gemacht hat, daß Gott zwei große Tage der Welt gege- 
ben, Einen, da der Meffias erlöfete, den Zweiten, da SKlopftod 
feine Erlöfung fang. Hätten wir ftatt Vier, nur Einen Evan» 
geliften; er würde das Lob verachten und gewiß verachtets ber 
beſcheidne, edle Dichter, der Dichter und kein Evangeliſt ift.? Er 
vergleicht fih*) nur mit dem dogmatifchen oder moralifhen 
Denker, der aus den biftorischen Wahrheiten der Religion Folgen 
berleitet: „fie dachten, jagt er, auf verſchiedne Weiſe, über bie 
„Religion nad.” Wie ih nun den Dogmatiker prüfe: ob er recht 
312 folgert? jo Tann, jo darf, fo muß ich den Dichter prüfen, ob er 
für mein Auge recht jah? Wie bei jenem zwiſchen Wahrheit und 
Folge allemal ein Unterſchied bleibt; fo bei diefem * zmifchen der 
biftorifchen Wahrheit, wie fie dafteht, und der Dichterifchen 5 
Fabel, die er erfann; gefegt, daß er fie ſich auch als mögliche, 


*) S. Abhandlung von ber heiligen Poeſie vor dem Meſſias. 


1) Feuer der Einbildungstraft felbfi 2) läfternder Wib, den 
3) beſcheidne Dichter, der Dichter und Fein göttlicher Evängeliſt ift. 
4) dieſem (Hier hinkt die Bergleihung ziemlih) 5) AB: bichtrifchen 





wahrſcheinliche, ja wenn gar ala wirkliche Wahrheit dachte. Was 
fann der Lefer dafür, wenn er fih etwa folden! Satan und 
Adramelech, ſolchen Triumph Chrifti über diefelben, ſolchen Eloah 
und Ababonna ſolche Verrihtungen und Geſandſchaften derſelben, 
ja fogar einen ſolchen Verjöhner und Verſöhnten, Gerichteten 
und Richter, eine ſolche Erlöfung und Verföhnung nidt denken 
könnte? Gnug, daß er fich dies alles zu denfen bemühte, wie 
Er es in der Bibel fand und über alle das furchtfamer denket, 
wovon er nichts in? der Bibel findet u.f. Der Dichter Bat ihm 
alles dies zugegeben, ſobald er jein Werk, die Ausmahlung bib- 
liſcher Gegenftände, Erdichtung nannte: als ſolche will er 
fie aud allein gelefjen und beurtbeilt haben? Das ſchöne 
Gemählde 3. €. der Angelila vom Befeflenen und dem milden 
Sohannes ift Klopftods und ihr Bild; nicht ein Gemählde Lulas, 
des Mabhlers.* 

Wenn aljo ein Lobrevner faget: „Rlopftod babe die Bibel 313 
„verfhönert! Jener Prophet, diefer Evangelift würde, wenn 
„er feinen Meſſias läfe, ihm danken, daß er diefen Gefang, jene 
„Geſchichte alſo verfhönert habe:“ jo achten Sie, m. Fr., auf 
den Aberfinn nicht, den jeder gejunde Verftand und der Dichter 
jelbft verſchmähet.“ Bibel und Gedicht, Filtion und Geſchichte 
jtehen in feinem Betracht auf gleihem Grunde: der Dichter jelbft 
wird erwürgt, wenn man ihn als Verbeſſerer der Bibel, als 
Gefchichtichreiber behandelt. Sie, bitte ih, leſen Klopitod, 
Lavater, Bodmer und mer fonft über Geſchichten der Bibel 
gedichtet Hat, ja nicht, damit Sie die Bibel aus ihnen ver- 

1) ſich ſolchen 

2) Gnug, daß er ſich die letzten Stücke dächte, wie Er ſie in der 
Bibel findet und über die erſten furchtfamer dächte, weil er nichts davon in 


3) alles zugegeben, wenn er .... nennet: als folde will er fie aud) 
allein geleſen, beurtheilt haben. 
4) it Klopſtocks, nit der Bibel — — 5) Hat 


6) alfo verſchönert:“ fo Hören Sie, m. Fr., einen Aberfinn, den 
jeder gejunde Verſtand verfchmähet. 





— 7 — 


ſchönern; ſie aus- oder vielmehr mit dem Dichter anſchauen und 
betrachten lernen — ! das mögen Sie, wenn ſich die Vorſtellungs⸗ 
art des Dichters mit der Ihrigen paaret. Vergeſſen Sie aber 
auch bier nit, daß es nur Borftellungsart, d. i. Ihre? und 
des Dichters Einbildung fey, wenn Sie, was nicht daſteht, 
binzuthun, wenn Sie, was im eignen Umriß der Evangeliften 
daftebt,? jo und nicht ander ausmahlen. Meine Warnung 
biebei erſtreckt ſich auf Alles, was zum Gedicht gehöret, aufs Thema 
und den Gang der Handlung, auf Perjonen und Meinungen, 
auf Empfindungen und Charaktere. 

314 „Alſo auch auf den Gang der Handlung, den dod die 
„Bibel felbft dem Dichter vorzeichnete?" Mich dünkt, ja: ich fage 
aber nur meine Meinung. Wenn ih mir 3. B. an der Ber- 
fühnung, der Erlöfung, dem Gebet Chriſti in Gethjemane, dem 
Richter, dem Satan u. f. nicht das dächte, mas der Dichter an 
ihnen fchildert: wenn ich mir am Leben Chrifti bei jedem Umſtande 
auch nicht die Farbe dächte, die Lavater daran fiehet: jo bin 
ich hierüber ganz ruhig und nehme blos und allein die Bibel zu 
meinem Gewährömann. Im Gange der äußern Begebenheit hat 
die Epopee der Geſchichte folgen müflen: * Klopſtock fonnte die Bege- 
benbeit nicht herkommen laſſen, wie fie Homer herlommen Täßt, 
der über eine mündliche Sage, eine felbft fchon zur Fabel gemordne . 
Geſchichte dichtete. Beſcheiden ließ er alſo ftehen, mas fteht, und 


1) Klopftod ja nit, damit Sie die Bibel aus ihm verſchönern; 
fie aus⸗ oder vielmehr mit ihm empfinden lernen — 

2) Borftellungsart, ihre 3) im Umriß baftebt, 

4) Meine Warnung erftredt fih auf Alles, Wert, Thema, Gang ber 
Handlung, PBerfonen, Meinungen, Empfindungen, Charaftere. 

„Alſo auch auf Wert? Gang der Hanblung, den doch die Bibel 
vorgezeichnet?” Mid; dünkt, ja: ich fage aber nur meine Meinung. Ich 
vente mir nicht an der Verſöhnung, .... dem Satan, was ber Dic-. 
ter am ihnen ſchildert: fo kanns, fo wirds mehrern feyn; bierüber ift die 
Bibel allein Gewährsmann. Im Gange der äußerlichen Begebenheit 
bat die Epopee einer fehr genau und umftänblich befchriebenen Geſchichte 
folgen müſſen: 





— 78 — 


wollte ſeine Dichtung der Geſchichte! nur anfügen, nur zmifchen- 
ſchieben. Dies ift jo auffallend, daß man die bibliiche Begeben⸗ 
beit ? aus ihm berausheben könnte und die Dichtung, das Werk 
feiner Mufe, ftünde in einzelnen Situationen beinahb ganz da 
Cidli und Semida, Abdiel und Abadonna, die fterbenbe 
Maria, Porcia und Solrates, die auferwedten Eriheinen- 


geriht, Himmel und Hölle endlich, gejchweige die einzelnen 
Gejänge und Thaten der eingeflodhtenen Perfonen fönnen allein 
gelejen werden, weil fie fo eigentlich doch an dieje biblifche Geſchichte 
nicht ? gefnüpft find, daß diefe ohne jene nicht verftändlid wäre. 
Kurz, m. Fr., Sie fehen, die Handlung, d. i. der ganze Gang 
der Epopee des Dichters und die bibliide Geſchichte find zwei 
ganz verfchiebene Dinge, die nur ein ſchlechter Leſer verwirrt und 
verwechfelt. Sn der Republil des Plato — 

Doch wir find ja beide nicht in ber Republik des Plato; 
lofien Sie mid alfo Hinter diefen Warnungen aufrichtig jagen, 
wie ih das Leſen Klopftods, Miltons, Bodmers und welches bib- 
lichen Dichters Sie mehr wollen, jedes in feiner Maaffe, gut 
und nußbar glaube. Der erſte Epifche Dichter des Chriftenthums 
in einer neuern Sprade, Dante, zeigt und, mie mid bünlt, 
ziemlih genau die Shwäden und Kräfte dieſer poetifhen 
Gattung, meil wir ihn, als einen alten Mönchspichter, jebt 
ganz * unpartheiiſch anſehn und beurtbeilen. jedes Kind und jeder 
Weiſe Ipriht von ihm: „Schade der vortrefliden Stellen! fie 


1) Er mußte freilich alfo ftehen laſſen, was fteht, und die Dichtung 
ber Geſchichte 

2) Geſchichte 

3) gefchmeige ihre Sefänge und Thaten, können allein gelefen werben, 
weil fie fo eigentlich an dieſe biblifche Geſchichte Doch nicht 

4) Miltons, Dante, Bobmers .... in feiner Maaffe herrlid-nutbar 
glaube! Dante, der erfte ...., Sprade zeigt uns, dünkt mich, bie 
Shwäden und Kräfte diefer Gattung im unzmweifelbafteften Lichte, 
weil wir ihn, als einen alten Mönchspichter, ganz 


den, das Gericht auf Thabor, Adams Traum vom Welt⸗ 315 


— 79 — 


316 „machen fein Ganzes. Seine Beſchreibungen, Charaktere, Natur- 
„gemählde, Gleichniffe, einzelne Geſchichten leben: feine Sprade ift 
„einzig, fie fchlingt fich jedem Gegenftande, hoch und niedrig, gut 
„und ſchlecht an, fie geht. mit ihm durch Fegfeuer, Himmel und 
„Hölle. Ueberdem ift der Dichter voll Gelehrfamfeit, voll der 
„treflichſten moralifchen Gefinnungen; beinah eine Encyklopädie des 
„Wiffens feiner Zeit — 1Schade aber, es macht Alles für uns 
„fein Ganzes. Sein Fegfeuer ift blos unter dem Tritt der fort- 
„gehenden Zeit in Aſche verfunfen: viele feiner Situationen im 
„Himmel und Hölle gleichfalls, in denen er fich doch dem frengften 
„Ueblichen feiner Zeit bequemte. Die Zufammenfaffung, 
„die Haltung, gejchweige der Rahme vom Bilde, kurz die damals 
„geglaubte religiöſe Wahrheit vieler Gegenftände ift für uns dahin; 
„nur einzelne Stüde, Figuren und Situationen daraus intereffiren 
„uns, ala ob fie noch vor uns fünden und dies find die ewig - 
„bleibenden, fich immer miederholenden Situationen der Menſch⸗ 
„beit; das andere ftudiren wir der Gelehrſamkeit, der Kunft, des 
„Ausdruds wegen, wie man ein altes Kunftwerf ftubiret u. f.* 
So urtheilen wir jebt alle ziemlich .einftimmig über den Epifchen 
Dichter der Hölle, des Fegfeuerd und des Paradiefes und mie 

317 über ihn das Urtheil der Zeit zur völligen Rechtskraft gekommen 
ift: jo follen, jo dürfen wir auch bei neuern Dichtern, Milton, 
Klopftod u. a. feinem Wink folgen. „Nuge nehmlich, fpricht es 
zu uns, im Einzelnen das viele, zerftreuete Gute, Große und 


1) „Schade aber, es macht Alles kein Ganzes. Sein Fegfeuer ift für _ 
‚uns 5108 unter dem Tritt ber ftillfortgehenden Zeit burchgefallen: unzähliche 
„feiner Situationen in Himmel und Hölle gleichfalls, in denen er ſich doch 
„nach dem firengften Ueblichen feiner Zeit bequemte. Die Zufammen- 
„fFaffung, die Haltung, gefchweige der Rahme vom Bilde ift für uns 
„dahin; wir Iefen nur einzelne Stüde, Figuren, Situationen, daraus, 
„das andre fludiren wir, um daran zu lernen u. f.“ Wie nun in biefem 
Fall das Urtbeil der Zeit zur völligen Rechtskraft gelommen ift: fo follen, 
fo bürfen wir ihm auch bei neuern Dichtern, Milton, Klopftod u.a. 
(Taßo gehört gar nicht hieher) folgen: nehmlich, „nuße im Ginzelnen das 
unendlich viele, zerftreuete, fihere Gute, Groſſe und Schöne; um das 





— 80 — 


Schöne, das beine Dichter dir darreihen; um das Andre, was 
du mit deinem Lehrbegriff, mit deiner Schriftauslegung nicht zu 
verbinden weißt, befümmere dich nit, thue als obs nit Da 
wäre. Das Ganze aber ſtudire ale Kunftwerf, als Dichtung. 
Bon Milton z. E. darfft du nicht eben lernen, wie Gott philoſo⸗ 
phirt, wie Engel zu Felde ziehn und der Teufel Brüden ſchlägt; 
du Haft anug an feinem menſchlichen Gefichtäfreife, an feiner 
paradiefifchen Seligleit und Liebe, feiner traurig» frölichen Ausſicht 
in bie fihtbare, uns geoffenbarte Ferne, endlich an feiner berr- 
lichen Sprade und Versart, wie an dem durchhingehenden männ⸗ 
lich = eveln Geift des alten Barden. So ift Bodmer voll Moral: 
er bat die vielfachften Kenntniſſe, Sinnfprüde, Fabeln und Dich⸗ 
tungen aus fremden Landen und Köpfen in feine Gebichte ver- 
webet: jo daß man fie bierinn oft als mofaifche Arbeit betrachten 
fönnte.! Klopftod endlich — leſen Sie feine Vorrede von der 
heiligen PBoefie und jehen, worauf Ers felbft anträgt. Mora- 
liſche Schönheit, ftille Erhabenbeit, die die ganze Seele 318 
beweget, einfältige Würde und ernfte Lieblichkeit, bie 
den mädtigften Eindrud nadlafien, find fein Zmed; und wo 
er ihn erreichte, bat ihn vielleicht feiner, wie Er, erreihet. Die 
Anlage feines Gedichts ift ein Werk der Jugend; aber auch bie 
beiten Scenen feiner erften Gefänge find ein Werk derjelben, die 
erfte friſche Blüthe feines Geiftes, die erſte überftrömende ? Fülle 
eines fanften, zarten Herzens. In den folgenden Gefängen wird 


Andre, was bu mit deinen Ideen, mit deinem Lebrbegrif, .... thue als obs 
nicht in ber Welt wäre; das Ganze aber ftubire als Dichtung, als Roman. 
Die neuere Epopee ift überhaupt mehr dem Roman, als der alten Epopee 
ähnlich. Siehe fie alfo als eine Jagd, oder als einen Markt an, wo bir 
Alles zwar nicht in der firengften Verbindung zu Einem daſteht, doch 
aber fo viel Angenehmes, Nutzbares, Vortrefliches aufſtößt. Bon Mil- 
ton 3. €. 

1) Geift des göttliden Sänger. So iſt Bodmer voll Moral und 
eingewebter vielfacher Känntnig, wie Sulzer in feinem Wörterbud oft 
gezeigt bat. 

2) derjelben, voll erfter Blüthe und überſtrömender 


die Sprache vefter, der! Umriß firenger; und poetifch ftubirt hat 
der Dichter feine Geſchichte, wie fie gewiß menige ftubirt haben.* 
Einzelne Scenen aus der Bibel, 3. E. die Jünger nah Emahus, 
die Neue Judas u. f. find faft bis zur? Täuſchung auögemahlet: 
Sprade und Bersart find neugefchaffen, taufendgeftaltig, ernft und 
lieblih. Die dem Meffias eingemwebten Hynmen voller Begeifterung, * 
und im Ausdrud der ftillen Majeftät, der janften Güte ift Klop⸗ 
jto vielleicht der erfte Dichter. Leben Sie wohl. 


319 Beilage. 
Bafo’3 Gedanken über Poeſie und Theologie. 


Alle menfchlihe Lehre theilt ſich nad dem drei Kräften unfrer ver- 
nünftigen Seele, die ihr Sit ift, in Gefchichte, Poefie und PBhilofophic.> 
Die Gefchichte gehört dem Gedächtniß, die Poefie der Einbilbung, die Phi- 
Tofophie der Bernunft. Auch die Theologie, ob fie wohl höheren Urſprungs 
und Inhalts ift, lann doch von ber menſchlichen Seele nicht anders als in 
diefen drei Eellen und Behältniffen gefaßt werden, wie ein und daſſelbe 
Gefäß verſchiedne Säfte, durch verſchiedne Deffnungen, in fih aufnimmt. 
Sie beſteht alfo aus der Beiligen Geſchichte, aus göttlihere Poeſie, 
wie 3. E. die Barabeln, und aus einer ewigen Philofophie, welches ihre 
Pflichten und Lehren find. 

Die Poeſie gehört der Einbilpungstraft, die fehr freie Trennungen 
und Verbindungen der Dinge Tiebet. Sie ift nicht Geſchichte, fondern eine 
willkührliche Nachahmung berfelben, historia ad placitum confieta. Die 
erzäblende Dichtung ahmt gefchehene Dinge bis zur Täufhung nad, erhöht 
fie aber öfters über die Glaubmwürbigfeit. Denn da bie finnliche Welt unter 

390 der Würde unfrer Seele bleibt, fo giebt ihr da8 die Poefie, was ihr bie 
Geſchichte verfaget; befriedigt ba8 Gemüth mit Schatten der Dinge, ba bie 
arme Wirklichkeit es nicht befriedigen kann. Eben die Poeſie zeigt, daß 


1) Sprade und ber 
2) gewiß niemand zu unferer Zeit flubirt Bat. 
3) find beinahe zur 
4) Seine auch dem Meßias eingewebten Hymnen find VBegeifterung 
5) Poeſie, Philofopbie. 6) Geſchichte, göttlicher 
Herders fännmtl. Werte. XI. 6 


— 82 — 


unſre Seele zu einer hellern Größe, zu einer volllommenern Ordnung, zu 
einer? ſchönern Mannichfaltigkeit gemacht ſey, als ihr die Natur nach dem 
Fall gewähret. Deßwegen bichtet fie größere Thaten, gerechtere Folgen, 
eine fehönere? Abwechſelung, als die Geſchichte zeiget. Es ift etwas Bött- 
liches in ihr, meil fie die Seele erhebt, den Lauf der Dinge uns unterwirft, 
nicht aus dem Lauf der Dinge, wie Vernunft und Gefchichte fodern. Sie 
fhmeichelt alfo dem menfchlihen Gemüth und infonderbeit mit der Zon- 
tunft® vereinigt, bat fie große Gewalt über daſſelbe. — Die Dramatifde 
Boefie it eine anſchaubare Geſchichte; fie hat einen Schauplag, der fo groß 
als die Welt ift und Könnte ſehr auf die Sitten wirten, wenn fie bazu* 
gebraucht würde. Kluge Männer und große Philofophen haben fie für ein 
Saitenfpiel der Seele angefehen: denn es ift ein Gebeimniß ber Natur, 
daß die Menfchen in der Berfammlung mehr bewegt werden, und ben Ein⸗ 
drüden offener ſtehen, als wenn fie allein find. — Die Parabolifche Poefie 
endlich iſt gleichlam mas Heilige8 und Erhabnes, wie fie denn auch bie 
Religion felbft gebraucht, den Menſchen Göttliches mitzutbeilen. Sie ift 
indeffen auch durch Teichtfinnige, üppige Köpfe befledt morben. 

Die Allegorie ift von einem zwiefacdhen, einander entgegenftebenden 321 
Gebrauch: bald dient fie zur Hülle, bald zur Erläuterung: bier ent- 
hüllet und lebret, dort verbüllet fie und Eleibet ein. Als Lehre haben fie 
infonderbeit die Alten häufig gebraudt; denn, da die Erfindungen und 
Schlüſſe der menſchlichen Vernunft, die uns jett befannt und geläufig find, 
damals neu und ungewohnt waren, und faum gefaßt wurden, wenn man 
fie nicht ſinnlich machte: fo erfchienen fie in folden Bildern, Fabeln, Para⸗ 
bein, Räthſeln und Sprüden,5 wie z. E. Menenius Agrippa durch eine 
Fabel das Römiſche Bolt zufrieden ftelltee Wie die Hieroglyphen älter 
find, als die Buchſtaben; fo find die Parabeln älter ale die Beweisgründe. 
Noch jetzt und immerhin wird diefe Kraft den Parabeln bleiben: denn kein 
Beweis, kein wahres Erempel ift fo deutlich, fo anfchaulich mie fie. 

Der zweite Gebrauch der Parabolifchen Boefie ift zur Hülle; zur 
Einhillung der Saden, deren Würbe einen Schleier fovert. So bat man 
Geheimnifje der Religion, der Politit und Pbilofophie in Parabeln und 
Sabeln gekleidet, und die Schriften diefer Art finb von menſchlichen Merten 
bie älteften; auch die, die fie aufgefchrieben, haben fie nicht erfunden. Es 
ift ein zartes Lüftchen, das aus ben Trabitionen älterer Völker die Flöte 322 
der Griechen berührt Bat. — Sonft ift die Poefle eine Pflanze, die von 


1) Größe, einer .. Orbnung, einer 2) Folgen, ſchönere 
3) und mit der Tonkunſt infonberheit 

4) Schauplatz, fo groß als die Welt und Fönnte ..... wenn fie fo 
5) Räthieln, Sprüden, 





— 83 — 


0 


der üppigen Erbe ohne Samen hervorſchießt, ſich weit ausbreieet und über 
andre Wiſſenſchaften emporwächſt. Sie iſt ein Traum der Wiſſenſchaft und 
Wahrheit: ſüß, mannidfaltig,t fie hat mas Göttliches in ſich, wie alle 
Träume; aber man muß auch aufwachen und in den Aether ver wahren 
Wiſſenſchaft Hinaufftreben. 

Die wahre Wiffenfchaft if, wie die Waſſer, eines doppelten Urfprung®: 
vom Himmel umb von der Erde: jenes ift die Theologie, dies die menfch- 
lihen Wiſſenſchaften. Das Meer der Theologie befährt man nur fidher im 
Schif der Kirche, mit dem Magnet der Offenbarung: die Sterne ber Pbilo- 
fopbie find bier nicht hinreichend u. f. 


323 Acht und vierzigfier Brief. 


Aus den ätherifhen Feldern der Poefie Tommen wir wieder 
zum fihern Boden der Geſchichte. Baco vergleicht, ich weiß nicht 
melde Hiftorie mit dem Bilde des Polgphemus, dent fein Auge 
fehlt; der Kirchengefchichte fehlt die Auge gewiß, wenn fie nicht 

- ala lebendiger Commentar des Wortes und der Regierung 
Gottes betrachtet, und lebendige Menſchen kennen Iehret. Alle 
Saffificationen von Kaifern, Königen, Biſchöfen, Kebern; Die 
leeren Titel von Concilien, Synoden, Lehren, Schriften find 
Fächer, in die man etwas legen, aus denen man aud nchmen 
fann, wenn — etwas drinnen ift, wenn Lehrer und Buch es 
darein legen. Nicht der ift ber beſte Leſer der Kirchengefchichte, 
der alle diefe Saden auf der Schnur hat; (auch Spielzeug und 
Glasperlen fann man auf der Schnur haben) fondern der Kleinode 
befist, (falls er fie auch nicht immer bei der Hand hätte,) der fie 
uns zu zeigen nicht vorenthält, aber auch das Beite mit ihnen, 
ben Geift? der Geſchichte, Regeln ihres Gebrauds uns 

394 mitſchenket. Ein lebendiger Lehrer ift bier inſonderheit nutzbar: 
denn die beite Lehre ift fein mündlicher VBortrag,? die Art, 

1) mannicdfalt, 

2) ihnen, Geift 3) Bortrag felbft, . 

6* 


— HA — 


wie Er Monumente, Begebenheiten, Perſonen, Schriften, Sachen 
behandelt und anſieht. Die Bücher, die in unſern Händen 
find, ſind meiſtens nur Compendien, trockne Auszüge und Weg- 
weiſer. Selbſt kann der. Zehrling no nicht zu allen Quellen, 
Geſchichten, Begebenheiten und Ketzern laufen oder fie prüfen: ! 
ein ſchriftliches Urtheil in ein paar Worten hilft auch nicht viel 
und ift oft kaum dem Weifern,? der felbft gelefen und geprüft 
bat, verftändlid. Alfo gehört zur genaueften und vielfachſten aller 
lebendigen Wifienfchaften, der Hiftorie, au ein zcopwr db. i. ein 
Einfehender, der ? erfenne, durchſchaue, lehre. 

Die Compendien dieſer Art, größere und Hleinere, über das 
A. und N. T. Tonnen Sie in allen mehrmals angezeigten Bücher- 
regiftern finden; dahin will ih Sie hierüber, wie über* die 
Schriften von Gonnerion der Bibel mit der weltliden 
Geſchichte, über die Hiftorien der Kaifer, Könige, Con— 
eilien, PBatriarden, Päbſte, Keger und Kirhengebräude 
Einmal für alle verwiefen haben. Mosheims Kirchengeichichte 
bat ein paar gute Ueberfeger und litterarifche Bereicherer erhalten; 325 
Baumgartens, Pfaffs, Jablonski, Walde, Cotta u. a.’ 
Kirchengeſchichten find bekannt und aud in ihren literariihen An- 
zeigen nützlich.“) Auch einzelne Fachwerke ber SKirchengefchichte, 
Päbſte, Concilien, Duellen bat Wald mit feiner befannten 
literariichen Genauigkeit abgehandelt,* und feine Geſchichte der 
Keger ift, wenn fie vollendet wird, das vollitändigfte, deutlichite, 
ficherfte Buch, das wir über diefe Materie haben. Semmlers 





2) Spittlers Grundriß der chriftlichen Kirchengefchichte (Göttingen 
1782.) verdient vor allen vorbergenannten das Stubium eines jungen Theo- 
logen. Auch in ven Fleinften Zügen ift er ein reiche® Gemählde voll Gelehr- 
famfeit und feinen Urtbeile. 


1) Begebenheiten, Ketzern, Schriften laufen und fie prüfen: 

2) oft dem Weifern nur, 3) ein Wißer, (150000), der 
" 4) bierliber,, über 5) erhalten: Jablonsti, Eotta u.a. 
. 6) Walch Bat eimelne .... Quellen, abgehandelt, 





— 868 — 


Verdienſte in der Kirchengeſchichte, zumal in der Geſchichte der 
Meinungen, Lehren, der Auslegung u. f. find unverkennbar; 
feine meiſten Schriften aber fodern einen gejeßten, prüfenden Leſer, 
der fie um fo reichliher nuten kann, meil er in ihnen einen 
Vorrath von Excerpten und vielen Anlaß! zum Denken zugleich 
findet. Arnold warb der Geſchichte nützlich, nicht allein durch 
das, was er fchrieb, ſondern noch vielmehr durch das, mas er 
veranlaßte: ein Gleiches hat Semmler bemwirtet.? 

326 Zuerſt, m. Fr., halten Sie ſich in der Kirchengefchichte recht 3 
veft an das Compendium, das Sie mählen und an ben Vortrag 
Ihres Lehrers darüber: bei der Geſchichte ift Memoria localis des 
Hauptbuchs oder der Hauptbücdher vorzüglich nöthig.* Frühes Um⸗ 
beripagieren macht fonft auf Lebenslang Verwirrung. Wenn Sie 
fh auf dieſe Weife in den vornehmften Gängen des Gebäubes 
auch chronologiſch veſtgeſetzt und fich Die rechten Denkzeichen ficher 
gemacht Haben: jo können und mögen Sie einzelne Ausſichten 
verfolgen, denn freilich das Bildendfte der Geſchichte ift nicht ihr 
Allgemeines , fondern das Beſondre. Da wird fie harafteri- 
ſtiſch: da fiehet ınan Fußftapfen Gottes in Begegnifien, Zufällen, 
Gaben, Tugenden und Fehlern: da ftärkt man fein Urtbeil, fei- 
nen Glauben und Charakter. Einzelne Lebensbeſchreibungen 
merfwürbiger Perfonen, wenn ihr Leben gut, treu, tief, zumal 
von ihnen felbft beichrieben ift, dienen biezu am meiften.d Man 
macht fih nehmlih aus dem allgemeinen Abriß der Gefchichte 
befannt: wo die Perfon ftand? und was fie etwa im Zufammen- 
bange des Gemähldes der Gefchichte, menigftens nah ® Angabe 


— —— — 


1) Leſer, fie find auch wegen ihrer Fülle und Trockenheit ohne Com⸗ 
mentar für einen Anfänger nicht wohl zu brauden. Gin Geübter kann 
fie um fo reichlicher nugen, weil er in ihnen Vorrath und Anlaß 

2) veranlafßte. („ein — bewirtet.” fehlt.) 3) Sie ſich recht 

4) bei der Gefchichte ift dies infonberbeit und beinahe Memoria...... 
Hauptbücher nöthig. 

5) ift, find bier wohl das Erſte, was anzuratben wäre. 

6) des ganzen Gemähldes nad 








— 86 — 


dieſes Buchs, dieſes Lehrers, bedeutet haben ſoll? und betrachtet 
fie ſodenn als Portrait einzeln. Man wohnet mit dem Manne 327 
eine Zeitlang, lernt feine Beweggründe und Triebfedern, aus eig- 
nen Schriften und Handlungen, wohl gar aus jeinem 
Selbſtbekänntniß fennen, ſtudirt injonberheit an ihm die Flei- 
nen Züge, mo fi der Menſch, der einzelne Menſch, verräth: 
hieraus bildet fih allmählih ein Bild und Urtheil. Man lemt 
bafien oder lieben, bewundern oder verachten; allemal aber lernt 
man. Sie fehen, m. Fr., Elogia, Lobreden und Leichengedichte 
find hiezu nicht tauglid. Da fit der Mann auf einem Trag- 
jefjel oft ohne Beine, oder liegt in feinem Leichenhabit im Sarge: 
da kann man ihn nidt, wie er ift und war, kennen lernen. 
Hiſtoriſche Ideale find als Romane nusbar: fie firengen an, fie 
muntern auf, fie zeigen injfonderheit die Seele deß, der fie aus- 
dachte; ich Liebe aber! ungleih mehr Portraite als ideale, 
beftimmte Handlungen ala Allgemeinfäge, kleine, unvermerfte 
Charalterzüge, als alles Gerede darüber. ft eine Lebensbe- 
jhreibung enblih gar von der Art, daß fie weber Ideal noch 
Bild giebt, jo wird fie fehr langweilig, oft unausftehlid. Man 
weiß nicht, was man liefet und je weiter man fommt, je mehr 
füngt e8 an zu fehlen. Für den Regifter - Lericon= und Chroni- 
fenjchreiber ift ein ſolches Leben jehr brauchbar; aber nit für 328 
den Schüler der Theologie, für den unbefangenen Philofophen 
einer Geſchichte der Menjchheit.? 

Einige jehr merkwürdige Leute jchrieben ihr Leben ſelbſt; und 
es ift zu beflagen, baß wird von einigen, felbjt Griechen und 
Römern verlohren haben. Ich will nur von der chriftlichen Epoche 
reden; dod mich nicht eben an die Theologie binden.” Augu— 
ftins Confeßionen, die Ihnen ohne Zweifel jchon belannt find, 
wurden auch dadurch nütlih, daß fie Petrarka's Confeßionen 
veranlaßten, welche letzten eine intereffante Schrift find. Sie haben 


1) indeßen 2) brauchbar. („aber — Menfchheit." fehlt.) 
3) reden. („do — binden.“ fehlt.) 





— 87 — 


mit zu ben lehrreichen Memoires de Petrarque beigetragen, aus 
denen man dieſen für alle Wiflenfchaften merkwürdigen Mann von 
fo vielen Seiten Tennen lernet.*). Cardans, Buchanans, 
Thuans, noch mancher andern eigne Lebensbeſchreibungen gehören 
zwar nicht hieher; die erfte aber ift für einen geſetzten Mann, 
wenigſtens als eine pſychologiſche Seltenheit merfwürbig.! Huetü 
commentarius de rebus ad eum pertinentibus find bie und da 


329 kleinlich; aber Iehrreih und angenehm, ſowohl für den Theologen 


. 12,493. 


als PHilologen.? Peterſens Leben von ihm felbft beihrie- 
ben (ich fchreibe, wie mirs ing Gedächtniß kommt) zeigt den lie- 
benswürbigen, Geiftvollen und kindlichen, nur über gemifje Punkte 
ſehr ſchwachen Mann in feiner ganzen Geftalt und dabei lernt 
man mande andre neben ihm fennen, denen es nicht eben zur? 
Ehre gereichet. Don des Antiſtes Breitingers Leben hat Pfen- 
ningers Chriftlihes Magazin einige merkwürdige * Aufläge 
gegeben; es wäre gut, mern es mehrere der Art liefern Fönnte.**) 





*) Sie find in einen jehr guten Auszuge überfett: Nachrichten 
zu dem Leben des Kranz Petrarka aus feinen Werten und 
ben gleichzeitigen Schriftftellern, Lemgo 1774. u. f.1 

**) (58 bat einige andre 3.8. Detingers Leben, fo wie das Wir- 
tenbergifche Repertorium Johann Balentin Andreä Leben aus befien 
eiguer Beſchreibung geliefert. Es wäre gut, wenn ein eigned Buch bie 
LebenShbeichreibungen, die merkwürdige Menſchen von fich felbft gefchrieben 
haben, entweder ganz oder in Auszügen, zweckmäßig fammlete. Sie find 
jet zu zerftreut und oft an Derter begraben, wo man fie zu fuchen nicht 
eben Luft bat.* 

1) gehören nicht hieher; laſſen Sie mich aber von einigen andern 
ſchwätzen. 

2) angenehm, weil der vielgelehrte Mann in mancherlei Verhältnißen 
ſtand und in einer merkwürdigen Zeit lebte. 

3) lommt) iſt für einen Theologen intereßant: man lernt den Tiebens- 
würdigen, wirklich gelehrten, Geiftoollen und recht kindlichen, nur über 
gewiße Punkte ſchwachen Mann in feiner ganzen Geftalt und mande andre 
neben ihm fennen, denen es nicht fo zur 
4) Magazin merkwürdige 


1) „*) Sie — u. f.” fehlt. 2) „**) Es hat — Luft hat.“ fehlt. 


— BB — 


Noch eine Reihe eigner Lebensbeichreibungen minder merkwürdiger 
Theologen, 3. E. Franz Junius, Urfinus,! Joachim Lange, 
Breithaupts, u. a. könnte ih Ihnen anführen; und ich möchte 
faft jagen, auch bei dem unmerkwürdigſten Manne wird ſchon die 
Art, wie? er fich jelbft anfiehet und von fi) redet, nützlich. Noch 330 
mehr Hleine Aufſätze und Diarien eigner Lebensbefchreibungen, 
3. B. des verdienten Kemnig u.a. fann’ ih Ihnen einmal zei- 
gen. Intereſſant ift aud) das Leben der Shwärmer und Selbft- 
peiniger,* von ihnen felbft gefchrieben; nur muß man heiter und 
geſetzt ſeyn, um es zu lefen, und auch bei den beften wird es dem 
Lefenden® oft warın und enge. So giengd mir noch neulich mit 
bes berühmten Hieronymus Wolfe Leben von ibm felbit fo arm- 
jelig und traurig geſchrieben; der berühmten und gelehrten Schur- 
mannin euuAnoıa habe ih, Troß ihres ſchönen Anfanges, faft 
nie 6 zu Ende bringen können. Sehen Sie meine Anmerkungen 
nit für eitle Gelehrjamkeit an; fie fünnen Ihnen einmal, wenn 
Sie auf Lebensbefchreibungen geftellt find, nüglich ” werden. Wie 
einer ift, jo thut er: wie er denkt, fo fchreibt er; am meiften, 
wenn er von fi ſelbſt fehreibet. In ſolche Spiegel menſchlicher 
Gemüther 6 und Lebensweiſen zu ſehen, ift nüßlicher, als bei 
ſchlechten Journalen und Romanen feine Zeit zu verlieren.? Dies 
Lefen bringt Neuheit ins Leben; es ift, als gewinne man täglich 
einen neuen Freund 19 oder Warner — — 
Da die menigften merkwürdigen Männer, (da8 Auge ber 331 

Gedichte!) von fich felbft gejchrieben baben; jo muß man ben 


1) 3. E. Urſinus, 2) wird es ſchon, wie 

3) Lebensbefchreibungen, bie und ba zerftreut, Tann 

4) Unglüdliden, 5) e8 einem 

6) Leben fo gut und fo armfelig und traurig gejchrieben”*) und der 
berühmten, gelebrten .... habe ich nie 

7) einmal nütlich 8) Gemütber, Gaben 

9) zu verlieren oder zu verderben. 10) einen Freund 





*) ©. Reisk. Orator. graec. 





Nachrichten andrer von ihnen trauen, und nur die beften aus 
jolden wählen. Bon bem Leben der Apoftel willen wir menig; 
vom Leben der Kirchenväter mehr, wo Cave, Arnold,! Eleri- 
tus, Stolle, noch befjer aber einige Franzoſen zu brauchen find, 
die das Leben einzelner Kirchenväter gejchrieben haben. Won biefen, 
wenn Sie die wichtigſten kennen gelernt, werden? Sie mohl über 
bie dunkeln Jahrhunderte, ob es gleih auch in ihnen äußerft 
interefjante Männer giebt, zuerſt fortipringen und fih ums Jahr⸗ 
hundert der Reformation und um die neuern Zeiten befümmern. 
Hier wird der berühmten Männer und ihrer Leben viel; man 
muß alfo auswählen und unwichtigere flüchtig Iefen. Luthers 
Leben fteht Ihnen billig vor andern? vor und da wir fo viel 
Beihreibungen von ihm haben, mag ich Ihnen nichts als die ein- 
fältigfte, Keilg merkwürdige Lebenzumftände Luthers vor- 
ſchlagen. Thun Sie des Mannes eigne Briefe Hinzu; (o daß 
wir dieſe in ihren urkundlichen Sprachen vollftändig gefammlet 
hätten!) jo kennen Sie ihn gnug: denn er mahlt fi in jeber 
332 Zeile. Melanchthons Leben von Samerarius, Huttens von 
Burkhard, Zwingli’s von Nüfcheler, Chytraei von Schütz, 
Occolampadii von Grynaeo, Arminü von Brand u. f.f. find 
befannt; von andern z. E. Carlſtadt, Flacius, Reudlin, 
Beza, J. Gerhard u. f. f. find* fie fchlechter, aber doch zu 
brauchen. Bon den beiden auch in der Theologie fo großen Män- 
nern Erasmus und Grotius ift Burigny’s wohl das befte 
Leben; nur ift die deutſche Weberfegung vom Leben des letztern oft 
unverſtändlich.“)* Ihnen diefe Männer empfehlen, hieſſe unnüte 








*) Das Leben Erasmus dagegen bat im Deutfchen auch durch bie 
Zufäge des Herausgebers viel gewonnen, unb ift einem jungen Theologen, 
der das Jahrhundert der Reformation kennen will, zu leſen faft unentbehr- 
lid. Erasmus Leben von Burigny, herausgegeben von Henke, 
Halle 1782.1 


1) wo Arnold, 2) können 3) allen 
4) Grynaeo u. f.f..... Reudlin, find 
5) nur ift des Teßten Deutſche Ueberfeung nicht die befte. 





— 80 — 


Arbeit: ſie und eine Reihe anderer Philologen, Theologen und 
Philoſophen, von denen man, zum Theil auch in Sammlungen, 
jehr ! gute Lebensbeſchreibungen hat, find billig die Weder unſres 
Fleiſſes und unfrer Kräfte. Wer wird nicht einen Savonarola, 
Bembo, Galiläi, Sarpi, einen Baco, Locke, Carteſius, 
Copernikus u. f. f. kennen lernen? und wer fie nicht wollen ken⸗ 
nen lernen,‘ wenn unter ihren Lebenäbeichreibern ein Picus, 
Caſa, Biviani, Grifelini, ein Mallet, Clerk, Borelli, 
Gaſſendi iftu.f. Schade, daß wir Deutichen hier abermals jo 333 
bintenan ftehn! Unſre berühmteiten Männer, felbft Keppler, 
Leibnig u. a., deren Wiflenfchaften doch mwenigitend dem Namen 
nach gerühmt werden, liegen nad dem Ausdrud Eines ächt deut⸗ 
ſchen Mannes, noch unbegraben: und was fol nun gegen fie 
ein armer Theolog erwarten? Man ſcharrt ihn ein und ftraft ihn 
mit einer Leichenrede, die billig Abdanfung heißt. Unſer Weft- 
minfter ift leider! das legte Blatt jchmußiger Journale — — 
Giengs gelehrten Männern fo: fo fann man auf das Leben 
frommer Männer noch weniger rechnen. Unfre Arndt, Spe- 
ner, Franke u. f. haben feine Lebensbejchreibung erhalten, bie 
ihrer werth ſey: defto reicher find wir an Geſchichten der Erweckten, 
Miedergebohrnen und öfter erbärmliden, als erbauliden legten 
Stunden. Und do ift das Andenken eines unermübeten, recht: 
ſchaffenen, edeln Mannes wie ein ſchönes Räuchwerk, wie 
eine lindernde Salbe Sein Name tft füß, wie Honig im 
Munde und wie ein Saitenfpiel beim Wein. Dies ift 
Sirachs Ausdrud und er hat ſelbſt in den legten Kapiteln feines 
Buchs ein ſolches Weirauchopfer den Edelſten feines Volks ange- 334 
zündet. Fenelons Name 3. B. lebt er nicht in feinen eignen 
Schriften und ſelbſt in Ramſays jonft ſehr unvollitändigem Leben 
erquidend und ſchön? aud die? Britten haben ſowohl ihren from- 


1) man zum Theil fehr 
2) Name lebt.in feinen Schriften und im Ramf ays fonft unvoll- 
ſtändigen .... ſchön: bie 





— 1 — 


men als gelehrten Männern ſchöne! Denkmale errichtet. Im 
Brittiſchen Magazin find ihrer eine Reihe überſetzt; und andre, wie 
3.8. Berfeleys, Hammonds, Herbert, Herveys, Watts, 
Doddridge? u. f. eriftiven einzeln. In Deutichland find Nach⸗ 
rihten von guten Predigern und ihrer Amtsführung 
geſammlet; aber vol zu gemeiner unmerkwürdiger Dinge, bie ihren 
Zweck jchwerlich erreichen. Es jcheint, daß bei den Deutichen alles 
platt ſeyn ınüfle.° 
Für Sünglinge ift der Nuge guter Lebensbefchreibungen ein- 
leudtend. Sie mögen fromme oder gelehrte, weije ober arbeit- 
fame Männer darftellen; (und die beften waren nicht Eins ohne 
das Andre) fo find fie ihnen Lehrer und Yreunde, die fie auf- 
weden, treiben, warnen, oft mit Schaam und Wehmuth zerichmel- 
zen. Wenn alles um einen Jüngling ſchläft, und er nicht das 
Glüd oder den Muth hat, einem ihn unterftügenden, erhebenden 
335 Mann befannt zu werben: fo wird der Zug einer Lebensbeſchrei⸗ 
bung, die ihm zu rechter Zeit in die Hand kommt, ihm Stimme 
der Unfichtbarfeit, entweber einer beſſern Vorwelt, oder einer für 
ihn befiern Zulunft, ein Engel des Raths und Troſtes. Immer 
wurden die wirkſamſten Dienfchen nur durch Betipiele, durch Muſter 
gebildet, durch Lebendige und dur tobte — — * 
Inſonderheit zeigt das Beifpiel der meiften und ich möchte 
jagen, aller großen Männer, baß 5 feine den Geift bildende Wiſ⸗ 
ſenſchaft eigentlih von der andern abgetrennt jey, fondern alle 


1) viele 

2) und bie beiern, wie 3.6. .... Herbert8, Doddridge 

3) Statt: „ES ſcheint — müffe.” gibt das Mſe. zuerft durchſtrichen: 
„Der Sammler (ich weiß nicht, mer er ift?) hätte im den Fitteraturbriefen 
die fcharfe aber wahre Critik über Panli's Helden Iefen unb anwenden 
follen; denn feine Helden erfodern noch mehr Auswahl, Fleiß und 
Zuthat als jene, die oft ihr Name, oft allein das Feld ihres Berufes 
ſchon bebet.” oo. 

4) Beifpiele, Mufter, Vorbilder gebilbet; durch lebendige oder 
tobte — — 

5) zeigt das Leſen aller, daß 





einander helfen, alle auf einander mweijen und wie mehrere Blumen 
aus einer Wurzel wachſen.! Große Fortfchritte in der Theologie 
find zum Theil von ſolchen bewirkt worden ,? die eigentlich nicht 
Theologen waren, wie Eradmus, Reuchlin, Grotius, Boyle 
u.a. zeigen; oft thaten bie Theologen nicht? dabei,’ als neiden, 
hindern. Ueberall, m. Fr., Tommts auf Luft und Liebe, auf 
willigen Dienft und freien Blid an; Handwerkerei und Knechts⸗ 
bienfte fördern den guten Geift feiner Wilfenfchaft und Kunft auf 
der Welt, babe fie einen Namen, welchen fie wolle.* 

Zum Leben merkwürdiger Männer gehören auch ihre Briefe; 
nur muß man jenes ſchon zum Theil inne haben und dieſe müffen 
intereffant ſeyn. Der Welt liegt davon ſchon ein Berg vor Augen, 
daß es jetzt jehr noth thut, zu wählen, und irgend ein guter, 
belejener Theolog - follte eine Mantifje machen, wo die beiten 
anzutreffen und wie fie zu lejen wären? Davon künftig. — — 

Doh mo will ih bin, wenn ich in der Weitläuftigfeit fort- 
führe und mie von Lebensbeichreibungen und Briefen von 
allen Theilen der Geſchichte fprähe? Ich wills auch nicht und 
merfe nur Eins überhaupt an. Wollen Sie, m. Fr., einen Zeit- 
punkt, eine Begebenheit und Veränderung in der Geſchichte näher 
fennen: fo wenden Sie ſich gleich zu den Quellen, zu gleich— 
zeitigen GSchriftitelleen und wo möglih, zu Denkwürdigkei— 
ten, Memoires, Conmentarien, Relationen der Augenzeugen oder 
derer, bie in die Handlung verflocdhten waren. Wären einige 
davon auch einfeitig und partheiiſch: das entdedt fich bald: von 
der Gegenfeite wird fodenn auch jemand dafeyn, der die Stimme 








1) Im Mic. folgt bier durchſtrichen: „Der ftatiftifche Theolog Sarpi 
konnte fi nie auf Phyſik, Mathematik, Aftronomie, Anatomie ausführlich 
legen; die größeften Entbedungen dieſer Wißenſchaften äußerte er aber, che 
fie gemacht wurden, und trug fie als Keime in feiner Seele.” Dazu das 
Citat: „Sarpi Leben von Grifelini.” 

2) ſolchen gemacht, 

3) u. a.; oft thaten die Theologen nichts dagegen, 

4) fördern guten, willigen Geiſt nicht. 


336 





— s3 — 


erhebt; und kurz, Sie gewinnen durch Augenzeugen immer veſten 
Fuß und Standpunkt. Gehen Sie aber hinterrücks und hören 
zuerſt, was unſere Zeitgenoſſen ſagen, ſo ſtoſſen Sie oft von einem 
Blinden auf den andern Blinden: denn zuletzt! ſchöpften vielleicht 
337 ale aus Einer — unfihern Quelle. Ueberhaupt ift das Hinter- 
vüdsgehen weder der anftändigfte, noch der bequemfte ? und ficherfte 
Dep. Für uns 3. €. giebts in den neuern Jahrhunderten feine 
merkwürdigere Begebenheit als die Reformation; und fie allein bis 
auf alle Heine Umstände zu fennen, foderte Jahre, ja vielleicht 
ein Leben. Des lebten ift bie Begebenheit, jo groß und unſchätz⸗ 
bar fie tft, wohl nicht werth. Aber fie aus den Hauptquellen 
der damaligen Zeit, nad ihren Trichfedern, den vornehmiten 
Urfaden und Hinderniffen, die ihr folde und feine andre 
Richtung gaben, enblih nah den Folgen und den Hauptver- 
änderungen der Folgen bis auf unjre Zeit kennen zu lernen, 
das muß und fann man ohne Riefenmühe, jobald man fi nur 
aus bem Gerede unfrer Zeit wegmadt und an bie Quellen ber 
Begebenheit felbft wandert. Ohne diefe edle Kühnbeit bleibt felbft 
ein Geiftliher der Proteftantifchen Kirche immer halb blind. Er 
fennt weder die Reformatoren, noch die ſymboliſchen Bücher, 
noch die Form und Einrihtung feiner Liturgie, noch den 
Standpunft gemiffer Streitigfeiten und Glaubenslehren recht, 
wenn er dies Studium nit für fi ſelbſt mit * einigem Fleiße 
getrieben. Er weiß weder, was fie wollten? noch warum fie nicht 
weiter Tamen? noch warum Er in der Livrei daftehet, in welcher 
338 er daftehet und was Er jetzt fol? Er wird aljo entweder ein 





1) dafeyn, kurz, Sie gewirmen Fuß und Standpunkt. Geben Sie 
aber von hinten zurüd, und Hören, was Ihre Zeitgenoffen fagen; fo ftoßen 
.... andern: zulekt 

2) das Nüdlingsgehen weder der kürzeſte, noch anftändigfle, noch 
bequemfte 

3) Rieſenmühe. Ein Geiftliher der Proteftantifhen Kirche iſt ohne 
die Studium immer balb blind. 

4) Studium nicht mit 





— 4 — 


bloßer Sklave von Hörenfagen oder er macht mit feinen Zmeifeln, 
mit feinen Berihtigungen des proteſtantiſchen Lehrbegriffs, mit 
feinen neuen Entdeckungen zu Wiedervereinigung der Kirche u. dgl. ! 
oft fehr unnüge Irrung. — Ein gleiches ift, wenn Sie Luft 
haben, eine Lehre, Meinung, Methode, Wiflenjhaft bis 
auf die Quelle zu verfolgen. Immer nur von der Duelle ange- 
fangen, das ift der fürzefte, obgleich nicht immer ber leichtefte und 
alatteite Weg. Sie gehn ſodenn mit dem Strome hinab und jehen 
und lernen vielerlei auf dem Wege, bis Sie vielleiht das Ende 
des Stroms als einen ftehenden Zufammenfluß finden, an weldem 
Störde, Raben und Eltern fi rings umber freundlich beiprechen ? 
und zur lieblihen Zeitkürzung Fröihe und Würmer leſen. Ein 
anbermal mehr hierüber. Leben Sie wohl. 


Deilage. 


Einige Gedanfen Baco’8 über Geſchichte 
und Kirchengeſchichte. 


Ohne Geſchichte der Wiflenfchaft ift die Gefchichte der Welt, wie dic 
Bildfäule Bolyphems, ohne Auge. Im Einzelnen bat man etwas von jener, 339 
nüchterne Erzählungen nämlich von? Selten, Schulen, Büchern, Autoren, 
Succeſſionen der Wiffenfchaften; auch einige arme Abhandlungen von Erfin- 
dern; aber die wahre Geſchichte der Wiflenjchaft, was vom erften Gebächt- 
niß an für Künfte und Wiffenfchaften geblüht und wo fie geblübet? ihr 
Altertum, ihre Fortfchritte und Wanderungen ‚+ (denn Wiffenfchaften man- 
dern wie Völker) wie fie gefunfen, vergefien, wieder aufgerichtet find: im 
jeder Wiſſenſchaft die Gelegenheit der Erfindungen, ihre Lehrart, die Art 
des Anbaues, Selten, Streitigkeiten, Käfterungen, Lobſprüche, Ehren: die vor- 
nehmſten Autoren, Bücher, Schulen, Alademien, Gefellfchaften: vor allem aber, 
was die Seele der bürgerlichen Gefchichte ift, daß Urſachen und Folgen ver- 


1) tamen? noch was Er jett fol? und wird entmweber .... ober er 
macht mit feinen Zweifeln, Berichtigungen, neuen Entbedungen u. dgl. 

2) vielerlei, da der lebte fiehende Zufammenfluß oft nur für die 
Störde, Raben und Eiftern ift, die fi rings umber beſprechen 

3) Erzählungen von 4) Fortſchritte, Wanderungen 5) Lehrart, Art 





— 985 — 


tnüpft, die Natur der Gegenden und Völker, ihre Schiklich- ober Unſchik⸗ 
lichleit zu dieſer oder jener Wiflenfchaft, die günftigen oder ungünftigen 
Zufälle der Zeit, Eifer und Mifchungen der Religionen, die Bosheit oder 
Gunſt der Geſetze, treflihe Verdienſte einzelner Menfchen in Betracht gezo- 
gen würben! — eine foldhe Gefchichte ift noch zu wünſchen. Sie muß nicht 
fritifch, mit unnützem Lobe oder Tadel der Zeiten gefchrieben werden, fon- 

340 dern biftorifh mit fparfam untermiſchtem Urtheil. Die Materialien nehme 
man nicht von Krititern, fondern aus ben vornehmften Büchern jeber Zeit, 
tofte ihren Inhalt, ihren Styl, ihre Methode? und ruffe den Genius der 
Zeit, wie durch eine Beſchwörung von den Todten hervor. Der Zweck 
einer ſolchen Geſchichte fey nicht leeres Gepränge der Wiſſenſchaften, fie in 
fo vielen Bilbniffen prächtig einherzutragen, nod aus zu großer Tiebe auf 
jede Kleinigfeit in ihmen begierig zu feyn, fie zu willen, zu unterfuchen, zu 
erhalten; fondern Klugheit der Gelehrten zu befördern, wie die bürgerliche 
Geſchichte die Staatsmänner Klugheit Iehret: denn aus der Kirchengefchichte 
lernt ber Theolog mehr geiftlihe KRiugheit,? als aus des heiligen Augufti- 
nus und Ambrofius Werfen. 

Die Kirchengefchichte ift entweber bie eigentlich=foldhe, die die Schick— 
fale der Kirche befchreibt, wie fie bald als“ Arde auf ben Wogen bes 
Weltmeers ſchwebt, oder wandert, mie bie StiftShütte in ber Wüſte, ober 
rubt, wie bie StiftShütte im Tempel. Oder fie ift die Gefchichte ber 
Prophezeiungen und ihrer Erfüllung, die aber mit großer Weis- 
beit, NRüchternheit und Ebrerbietung bebandelt werden muß, oder man 
unterlaffe fie gar. Die Erfüllungen Gottes find fortgehenb und pilnftlich 

341 zugleich: fie werben Gradweife den Zeitaltern zugetbeilt, zugewogen, obgleich 
Ein Zeitalter ihr höchſter Punkt if. Sie haben bie Natur ihre® Urhebers, 
dem Ein Tag, wie taufend Jahre und taufend Jahre, wie ein Tag find. 
Die Geſchichte der Rache und Providenz Gottes ift enblich bie 
dritte Kirchengeſchichte; denn obgleich bie Rathſchläge Gottes unerforichlich 
dem Menfchen find, felbft wenn diefer® auch aus dem Heiligthum nad 
ihnen blidte; fo find fie doch zuweilen mit fo großen Buchftaben argezeich- 
net, daß auch der Vorüberlaufende fie leſe. 

Die bürgerlihe Geſchichte ragt unter menſchlichen Schriften hoch 
hervor: denn ihrer Treue find bie Beifpiele der Vorfahren, ber Wechfel ber 
Dinge, bie Grunbfteine der bürgerlichen Klugheit, der Menfchen Name und 
Ruf anvertrauet. Es ift aber ſchwer, die Vergangenheit fo zu befchrei- 
ben, daß das Gefchehene noch einmal gejchehe. — Die allgemeine Geſchichte, 





— 


1) würbe 3) Inhalt, Styl, Methobe, 
3) lehret und aus der Kirchengefchichte der Theolog . . Klugheit lernt, 
4) fie als 5) er 6) Vergangenheit zu 


— 96 — 


die nur das Große zeigt und das Kleine übergehet, weiſet oft mehr Pomp, 
als den wahren Zunder der Dinge und ihr feineres Gewebe. Wenn ſie 
auch Marimen einmiſcht, fo giebt fie den menſchlichen Handlungen vielleicht 
mehr Wichtigleit und Klugheit, als fie in der That haben: fie wird eher 
eine Satyre aufs menfchlihe Leben, als eine Geſchichte. Nur Gott iſts, 
ber das Größefte and Kleinfte hänget. — Wenn aber einzelne Leben mit 
Fleiß und Urteil beichrieben werben, wo Großes und Kleines, Wichtiges 342 
unb Unmichtigeß bei einander feyn ınuß, fo hat man eine treue Erzählung, 
bie man fi zum Vorbilde ftellen darf. Es ift zu vermunbern, daß unfre 
Zeit fo wenig ihren Bortbeil tennet und bie Leben ihrer beften Menſchen 
untergeben läſſet. Ein neuerer Dichter bat davon dies ſchöne Bild. Am 
Haben der Parce hängt eine Gedächtniß⸗ Münze mit bes Berftorbnen 
Namen. Sobald die Parce fchneidet und ber Faden fällt, raubt bie Zeit 
Münze und Namen, fie in den Strom ber Bergefienheit zu werfen. Am 
Strom fliegen unaufhörlid große Schaaren von Bögeln; die piden, was 
bineinfält auf, laſſens aber meiftens bald wieder finten. Die einzigen 
Schwäne finds, bie, was fie erbafchten, zum Xempel ber Unfterblichteit 
tragen; es giebt aber nicht viel folder Schwäne — — 


Neuu und vierzigfter Brief. 343 


Es dünkt Ihnen, daß ih zum Stubium der Theologie viel 
fodere. Es kann feyn! aber, m. Fr., ich fodre ja nicht alles auf 
einmal, ih warne Sie ja, in jedem Briefe beinah, vor dem zu 
vielen, unordentlichen und übereilten Leſen. Ich glaube nicht, daß 
die Menge der Bücher die Welt, auch nur die Wiſſenſchaft, fo 
verbefiert habe, ala wenn nur wenige, fernbafte, gute Bücher 
wären, die deſto fleiffiger, einfältiger, tiefer gelefen würden; viel- 
mehr bedaure ich einen jeden, der unter einer zu großen Laft von 
Buchſtaben daherfrieht und nie ſelbſt zum Verſtande der Wahr- 
beit fommt. Wenn Ihnen bierüber ein? Buch voll ädter, alter 
Grundſätze, Temple's moralifhe und Hiftorifhe Denk— 
würdigfeiten vor Augen kommt: fo lefen Sie die Abhandlung: 
ob die Menge der Bücher und das ungeheure Wachsthum der 


— 





1) wären und 2) ein fehr ſchones 





— 97 — 


Erkenntniß, der Frömmigkeit und der Liebe zum allgemeinen 
Beſten ſonderlich zuträglich geweſen? Die Erfahrung Ihres Lebens 
muß Ihnen, ſo jung Sie ſind, längſt ein Gleiches gezeigt haben. 

344 Wären Sie in meiner Nähe, ich hätte Ihnen lange, lange 
nicht fo viel Lefereien genannt, als ich Ihnen jet auf dieſe ober 
jene Ihrer Anfragen nennen mußte. Unfre Zeit ift einmal! das 
Leje-Fahrhundert: Sie hören diefe Bücher, (ſehr oft Die unrech⸗ 
ten) fo oft nennen, rühmen und gewöhnlich das Neuefte am höd- 
ten preifen. Da mußte ich nun meine Briefe an das Fnüpfen, 
was vor Ihnen, was um Gie liegt, und wie jener Geſetzgeber 
(verzeihen Sie die thörichte Vergleihung) nicht gerade immer bie 
beiten Gelege gab, fondern nur, die für das Zeitalter ihn die 
beften dünkten, jo babe ich aud Ahnen manches genannt, wovon 
ih für mich gefhwiegen hätte; um Ihnen nun auch bei dieſem 
wenigſtens den beften Gefichtspunft zu zeigen und Sie für etwas 
Hergerem ? zu bewahren. Niemand vielleicht wünjcht ? mehr ale 
ih, daß wir nod mit Apoftolifcher oder Pythagoräifcher Einfalt 
ftudiren fünnten; Fünnen wird aber? zu unfrer Zeit? 

Ueberdem, m. Fr., wenn Ste näher ſehen und meine Briefe 
ordnen, werden Sie finden, daß ich Sie, verglichen mit andern 
Anweiſungen, eben fo ſehr nicht überhäufe. Bibel, Dogmatil, 
Vortrag find meine drei Hauptgegenftände, denen Alles andre 

345 nur dienet. Zu dieſen dreien fünnen und dörfen Sie fi den 
fürzeften Weg wählen, alles meglafien, was * Sie gleich im Anfange 
finden, daß es Sie nicht fürdre, fondern hindre. Hier hat jeder 
Menſch fein eignes Gefühl zum ficherften Wegweiſer: der Lehrer 


1) zuträglich gewefen? Diefer und feine andre Auffüte werden Sie 
auf eine fehr einfache Bahn führen. — Wären Sie ganz in meiner Gewalt, 
ich hätte... .. Ihnen jest nennen mußte. Es ift unfre Zeit einmal 

2) Briefe wenigflend an Etwas Inlipfen und wie jener .... dünkten, 
babe ich auch manches genannt, wovon ich filr mich Ihnen gefchwiegen 
hätte, um Ihnen nehmlich auch bei diefem den beften .... Sie wenigftens 
für etwas Ärgerm 

3) winfchte 4) wo 
Herbers fämmtl. Werke. XI. 


— O8 — 


und Freund zeigt nur dic allgemeine Straße. Ein aufmerffamer, 
fleißiger, edler Menih kann an Einem Buch mehr lefen, als andre 
an hundert Büchern und das befte Buch bleibt doch immer unfer 
innerer Sinn, der nur erwedt werben kann, und ſodann praf- 
tiiher VBerftand, Erfahrung. 

So bitte ih Sie auch, im Anfange fehr darüber wegzuſehen, 
was nur Mühe, nur Fleiß in einem Bude tft und ben Geift des 
Autors dafür zu koſten. Jenes merfen Sie fi, ala Fachwerk, als 
Repofitorium, zu dem Sie im Falle der Noth wallfahrten können; 
der Geift des Autors allein ift die bildende Form, ftärft die 
Kraft der Gefundheit, oder wird Arznei der Seele! Mid 
dünkt, es ift Klopjtod, der da jagt, daß er nur wenige Freunde 
von Büchern babe; die Knechte der Gelehrſamkeit aber beijeit 
thue und zu fünftigem Knechtes⸗-Gebrauch bewahre. Yür einen 
Süngling iſts nothwendig, daß er einen gleichen Unterfchied mache, 
fih zuerft um die Freunde bewerbe und mit ihnen wie mit einem 
Chor von Liebhabern vertraulich werde.? In biefe ermählte Zahl, 
die Sie lefen und wiederlejen, laſſen fte feine Weberläufer, feine 
Stuger mit Zeitungspäſſen ausgerüftet, eine Gaufler und Skla⸗ 
ven oder Sie werden unvermerkt in ihrer Gejellichaft ſchlechte — — 
Einheit und Ruhe ift die Mutter der Glüdfeligfeit des Men⸗ 
chen, die Yorm aller Stärle, Größe und Schönheit; aber freilich 
Einheit mit Mannichfaltigfeit gepaart, Ruhe in Wirkung. 
Alfo laſſen Sie fih auch nit von denen hinreiffen, die Ihnen 
Trägheit für Ruhe, d. i. Nichts ? für Etwas verlaufen, und immer 
rufen: Chriftum lieb, haben ift befjer ala alles wiflen. Alles 
wird fein Menſch willen wollen und nur ein Thor* es zu willen 


1) können, das legte ift bildende Form, Kraft der Geſund— 
heit, Arznei der Seele. 


346 


2) zu fünftigem Gebrauh an Ketten lege. Für den Jüngling ifts - 


gut, daß er fich zuerfi um Die Freunde bewerbe und in fie, wie zu einem 
Griechiſchen Phalanx und unüberwindliden Chor von Fiebhabern, feine 
Zeele mit ftelle. 

3) Ihnen Faulheit fir Ruhe, Nichts 4) Narr 


— 99 — 


glauben; mit dem Nichtöwifien und Nichtlernen aber gewinnt man 
Chriftum nicht lieb, fonft wäre jeder Ignorant der größeſte Chri⸗ 
ftus » Liebhaber. Was wäre ed, wenn ich Ihnen durch alle Briefe 
zugeruffen hätte: „haben Sie Chriſtum lieb! und lernen Sie nidt 
viel;" das Letzte lernt ſich freilich eher, als das Erfte. 
Zu allen Zeiten hat? Leute gegeben, die die Gelehrjamteit 
347 ala einen Buchſtabenkram veradhteten; der Geift kehrete aber des⸗ 
halb bei ihnen um fein Moment eher over lieber ein. In unſrer 
Melt ift, fo viel wir wiſſen, fein Geift ohne Körper wirkſam; 
feiner, auch nicht der geiftigfte Endzweck, läßt fih ohne Mittel 
und Uebung erreihen. Wer immer aufs Göttlide, Unmittelbare 
ftürmt, fommt nicht weit; er verbraucht in kurzer Zeit feine Kräfte 
oder wird hundertfach betrogen und haſcht Dunftwolfen ftatt feiner 
ätherifchen, himmliſchen Schönheit.! Wer ſuchte das Reich Gottes 
unmittelbarer, als Chriftus? und doch veradhtete er fein Mittel 
einer wahren, lebendigen Erlänntnig. Er nahm zu an Weisheit, 
jo wie an Alter, an Gnade bei Gott und bei den Dienfchen. ° 
Inſonderheit rathe ih Ihnen, m. Fr., beim Ueben Ihrer 
Seelenkräfte nicht alles unmittelbar haben zu wollen und nicht 
jeden Augenblick auf den Zweck dieſes Gelernten für Ihr Amt 
loszugehn; ſonſt wird unſer Lernen überhaupt fehr ® enge und 
fleinlid. Julian nahm den Chriften die heidniſchen Schriftiteller, 
und fagte: fie follten dafür das Evangelium treiben: er thats 
gewiß nicht in guter Abfiht. Und eine beßre fünnen duch die 
nicht erreichen, die immer von Geift Gottes, Neih, Evangelium 
348 reden und beinah nicht willen, woher fies nehmen? ober wohin 
fies thun jolen? Der Geift Gottes wirkt dur das Wort und 


1) Dinft-Wolten für feine himmlische Schönheit. 

2) und doch ſprach er nicht: „wirf das Neb, fo wirft bu das Reich 
„Gottes finden, fondern Fifche und den Stater.” Uebel gnug-aber, wer 
blos für Fiſche und den Stater in der Welt iſt! — 

3) Infonderbeit beim Yernen, beim Ueben der Seelenträfte kann man 
nicht alle8 unmittelbar haben und muß nicht jeden Augenblid auf ben 
letten Zmed der Sade losgehn: fonft wirb unfer Lernen jehr 

7 * 





— 190 — 


mit dem Worte: er wirkt pädagogifch durchs ganze Leben, aber 
auf unsre Gedanken, mittelſt unjrer Gedanken, zu unjrer und 
durh unfre Seelenbildung Er wirkt durch uns auf andre nad 
der Form, die ihnen erfaßbar ift, d. i. durch bie ihnen ein- 
leuchtendfte Gedanken- und Handlungsmeile. Wer da will, daß 
feine Frucht im Keim, in der Blüthe, in einer Hülle mache, jon- 
dern uns lauter Manna vom Himmel regne; der kann lange war- 
ten! Alles Erfenntniß, wie aller Vortrag, kurz alle Fertigkeit 
wird nur durh Hebung, und aud die Schule des Geiftes Gottes 
iſt Schule. | 

Ich weiß fehr wohl, daß aud feine Uebung ohne Kräfte 
etwas Hilft; ſie iſt nicht einmal, wenn mir uns verftehn mollen, 
möglich. Sch weiß auch wohl, daß die beften Kräfte fich Leicht 
üben, ja gar?! manche Uebung überfpringen und fi der Welt 
wie das, was fie aud find, als Gottesgabe, oder in auſſer⸗ 
ordentlichen Fällen mit dem Gepräge einer himmlischen Sendung 
und Begrifterung zeigen; mögen fie ſich ala foldhe zeigen und 
nicht erft lange davon reden! noch weniger müffen fie andre bere- 349 
den wollen, daß auch fie Himmelspropheten feyn und dafür Kännt⸗ 
nifje und Gaben der Erde verläugnen dürfen.” Ein Menid 
fann ihm nichts nehmen, es werde ihm denn gegeben! 
das fagt der Größte unter allen, die ein Weib gebahr und hielt 
das Beite, was er hatte,? doch nur für eine Erdengabe. Chri- 
tus preijet den Eugen, Schriftgelehrten Haushalter, der aus fei- 
nem Schatz Altes und Neues hervorzubringen mußte;* ein gleiches 
lobt Paulus am Zimotheus und ftellet ung im ganzen Laufe nad 
Gottjeligfeit und Weisheit, die Griechiſchen Läufer, Ringer und 
Kämpfer zum Mufter dar. 


1) üben, gar 

2) Gottesgabe, als ein vom Himmel gefallenes Bild, wie himm⸗ 
liche Sendung und Begeifterung zeigen; nur zeigen fie fich als folde 
und fprechen nicht! noch weniger bereden fie andre, Himmelspropheten zu 
ſeyn und dafür .... zu verläugnen. 

3) was er war, und ſprach, 4) Mie.: wüßte: 


— 101 — 


Uebrigens gehörets allerdings zu jeder Laufbahn, fein Ziel 
zu wiffen und Ihr Amt muß Ihnen allerdings der legte, nur ! 
nicht immer der nächſte Zwed bleiben. Discendum, jagt der 
weife Geßner, deſſen Isagoge voll trefliher Regeln zur Wiſſen⸗ 
Ihaft ich Ihnen fehr anrathe, discendum, quidquid discendi occa- 
sio offertur, licet non statim scias, quorsum prosit: sic pecunias 
colligunt homines. Non? multum discent, qui diligenter nimis 
computant: das iſt wahr und ermeifet fih in vielen Exempeln. 
Bako Flagt an mehr ala Einem Ort, daß die meiften bei ihrem 

350 Studiren nur immer glei) usum, usum haben wollen und alfo — 
lafjet und doch dem Dinge nur feinen rechten Namen geben — nicht 
für8 Amt, fordern für Yaulheit und Brot ftudiren. Was hätte 
ed Ihnen geholfen, m. Fr., wenn id in allen diefen Briefen Ihnen 
von nichts als fogenannter PBaftoral- Theologie, d. i. wie 
Sie fi zur Bocation melden, eine Probprebigt fabriciren, gegen 
den Superintendenten und patronum fich betragen, auf der Kan- 
zel ftehen, zur Beicht fiten, und wenn Sie mübe find, zu 
Bett liegen Sollen? und ja ihre jura? für fih und für den Nad- 
folger zu wahren haben — wenn ich Ihnen bievon hundert goldne 
Kegeln vorgeichrieben hätte? Das Allgemeine davon finden Sie 
in Bundert Büchern, das Bejondre müflen Sie in jedem Lande 
aus der Kirchenordnung, der Agende, endlih aus dem großen 
Tröſter, usu, lernen und wahrlich da lernt ſichs ja endlich. Es 
wäre auch jchlimm, wenn das nur Waftoral-: Theologie wäre. 
Da Ichriebe man ſodenn fidher auf jedes Compendium: wem 
Gott ein Amt giebt u. f. und hätte gerade für Die, Die 
nichts als jura stolae einfodern können, das beite Motto 
gejchrieben. * 





1) gehört® mit zu diefer Laufbahn, daß Sie ihr Ziel wifen; Ihr 
Amt muß Ihnen letzter, nur 

2) homines. Er fest auch gleich das Richtmaas hinzu, wie er feinen 
Rath verftanden haben will: non 

3) iura, inra stolae und coloniae 

4) hätte in feinem Yeben fein beßeres Motto gefchrieben. 








Ich hätte große Luft Ihnen eine eigne, vollftändige Paſtoral⸗ 
Theologie in Berfen zu geben. „In Verſen?“ allerdings und 351 
dazu in Reimen, die Troß ihrer Rauhigkeit recht für ihren Gegen- 
ftand gemacht find und ich gewiß nicht befler machen fünnte.! 
Dazu eine Paftoral- Theologie, die nicht vollftändiger, vielfeitiger, 
wahrer, lehrender? feyn könnte. Sie glauben, ich fcherze? ich 
ſcherze nit. Und dazu ift fie von einem der angejehenften, gelehr⸗ 
teften, frömmften, verdienteften ° Theologen unfrer Kirche; von 
demfelben, von dem ich Ihnen vor geraumer Zeit einige Parabeln 
gab und ihn nicht nannte, weil ich ihn hier nennen wollte. Cr 
bat in ihr beinah alle Erfahrungen feines Lebens, (und in ‚Seinen 
Aemtern fonnte er deren viel haben) den ganzen Schab feines 
Herzens über das, was geiftliches Amt,‘ was dieſes Standes Leid 
und Freude, Schimpf und Ehre ift, ausgefhüttet. Und in einer 
Sprache, die ih ihm beinah in jedem ® abgebrocdhnen Artikel, in 
jeder verfürzten Sylbe, in jedem Reim und Nichtreim beneibe. 
Und mit einem Salz! einer Wahrheit! wo es fein feyn fol, mit 
- einer Feinheit! mo es gerabe heraus feyn fol, mit einer Deutic- 
beit! — Kurz, m. Fr., bier ift das Gedicht. (Denn ich weiß, 
Sie würden jett doc nichts weiter in meinem Briefe lefen!) 
Leſen Sie, aud mo es Ihnen, wegen jeiner abgelommenen Form, 
zuweilen etmas langmeilig jeyn jollte, mit Ruhepunkten fort und 352 
ja zu Ente. Mo Sie Mitbrüder finden, die Stüde aus dieſer 
Paftoraltheologie, in gutem und böſem Verftande, nöthig haben, 
jeyn Ste damit nicht karg. 


1) die recht dazu gemacht find und ich gewiß nicht machen könnte. 

2) lehrender, berzlicher 

3) verbienteften, gröfieften 

4) Erfahrung feines Leben® .... baben) allen Schay .... Amt 
und Pflicht, 


5) ibm in jedem Brovinzialwort, in jedem 


353 


Das gute Leben eines entigaftenen 


Dieners Gottes. 
von 
Johann Balentin Ardreä, 


Würtembergifchem Hofprebiger, Abbt, Eonfiftorial- Rath, Gene Generalfuperintenbenten u. f. 


gebohren 1586. geftorben 1654. 


ALS ich in meinen jungen Tagen 

Oft Hört’ von guten Pfränden jagen, 

Wie daß nit feiftre Suppen wären, 

ALS die man geb’ geiftlichen Herren, 

Die möchten! mit geſchmutztem Mund’ 

Umgaffen mande gute Stund’: 

Da dacht’ ich, hats die Gelegenheit, 

So muß ich au ins lange Kleid 

Und ſehen, wie ichs dahin bring’, 

Daß ih um lange Bratwärft fing‘. 

Denn follt’ ich viel umgehn mit Rechten, 

So müßt ich erſt mein'n Kopf ausfechten. 

Sollt' ih denn jeden Bauren falben, 

So wär’ ich fehmedend *) allenthalben: 

Hie will doch auch feine Feder glüden — 

Meine Sad wird fih auf bie Kanzel ſchicken. 

Da reb’ ich, muß ein ander ſchweigen, 

Da poch' ich, muß ein ander leiben, 

Da geb ich vor, ein ander nad, 

Da fchlaf ich zu,**) ein ander? wahl! 
Hiezu war ih nun mohlgerüft: 

Dann alle Künft’ in mich genift. 

Ich hatt' durchlernt der Logik Strid, 

Und der Rhetorik Büchlein dich, 

Ich hatt erlernt des Himmels Sphär’ 

Und was die Phyſik fürbringt mehr, 

Und was von Sitten Ethik ſagt, 

Und was Homerus einhertagt — 

Das kunnt' ich gar, als wärs nur Kraut, 

Kein Baur hätt' mir das zugetraut. 


*) Riechend. **) dormito. 
1) B: mochten 3) Mic.: andrerx 





Vi ld] 5 





— 10 — 


Drauf fiel ich ins Compendium, 
Und kehrt mich auch drinn dreimal umt, 
Bis ih von Kunſt ganz lberging 
Und mir die Wig zum Maul aushing: 
Auch mir mein Rödlein raufcht daher, 
als ob ich ſchon Decanus wär”. 
Was ih nun ſah, das konnt’ ich richten, 
Was mir fürkanı, das konnt’ ich fchlichten, 
Was mir aufgeben, warb vollendt, 
Was die Augen gfeben, machten die Händ. 


Rod war fein’ Stell’ mir ausgeleert, 
Wiewohl ich wol der beften werth. 
Jedoch dacht' ich: nit jede Pfarr 
Wird für dich feyn bie lange Harr'. 
Gleichwohl muß feyn diaconirt, 
Und dann bald drauf wohl paftorirt, 
So g’räth® denn auf das Decanat, 
Bi8 daß du wirft nein Herr Prälat: 
Wil man did) denn zum Probft auch haben, 
Sp mangelt3 dir nit an den Gaben. 
Doch b'hüt mich Gott vorm Harzen- Wald, 
Den Bergen und ben Klüften kalt: 
Dann mein Baud ift an Wein gewöhnt, 
Darum bed Bachus- Sau mir ziemt. 
Da kann ich noch mein Glück erfchleichen, 
Inzwiſchen mich mit Wein bereichen: 
Es geht doch fo, wer wenig bett 
Der kommt mit von feiner ringen Stät. 
Soll ih meinen Karren weiter führen, 
So muß nichts mangeln an dem — Schmieren. 


Noh mußt’? einen Paß ich thun quittiren, 
Daß ich auch möcht' die Kanzel zieren. 
Es gſchwand mir manchmal vor den Leuten, 
So ging mir aus die Red zu Zeiten:? 
Da mußt’ ich andre zu mir bringen, 
Die mehr umgangen mit den Dingen, 
Ale die, fo gute Poftillen gemacht, 
Und fonft dern Namen hochgeacht, 


1) Mic: mußt A: mußte 2) Hiernach zwei Zeilen ausgelaffen, 


355 


Die mußten mir wol unter die Preß, 
Bis ich davon brächt' alle ER, 

Und käm' in mich die Quint-Eſſenz, 
Auch manch' unaufgefucht' Sentenz: 
Damit ich wär' für Groß und Klein 
Gewürfelt, wie ein Müllerſtein, 

Und ja kein Casus käm' auf die Welt, 
Dem ich nit hätt' ſein Thema g'ſtellt. 

Alſo hatt' ich mich ausgerüſt, 
Und fehlt nur, daß man es auch wüßt. 
Drauf 309 ich ine gelobte Land, 

Da Wein wie Wafler, Korn wie Sand, 
Und ſucht' mir aus ein’n feinen Platz, 
Da ih mich einließ wie eine Rap’. 
Ich fragt die Keut’, wo wär’ der Heerb, 
Da man hätt', wa® man nur begehrt: 
Da wär’ Wein, Korn, Obft, Holy und Weid'. 
Ich Hört’ nit allıweg guten! Beſcheid. 
356 So wollt! das Pflafter in den Flecken 
Mid auch zuweilen Taffen fteden: 
Da gfiel mir mit der Kirchenthurm, 
Dort waren nit recht gericht die Uhren. 
Bald wollt das Pfarrhaus mir nicht ein, 
Bei mir follt8 wohl noch anders feyn. 
In Summa was ich contemplirt, 
Das ward von mir all reformirt. 
Ih war der Daun, auf den gewart’t,? 
Was man fo lange Zeit gejpart, 
Ein’r jeden Laus ein’ Stelz zu maden -- 
So ging id) um mit Narrenfachen. 
Indem reift ich durchs grüne Gras, 
Beil da ein jchönes Wiefthal was: 
Da traf ih an eine alt’ Perſon, 
Bon Haaren weiß, von Gfidht noch fchon;*)? 
Die ging mit einem Recdenitil 
Im Gras um, thät doch nit gar viel — 
Cin’'m* Pfarrer fie ſich wol vergleicht, 
Doch hätt’ ich g’meint, fie hätt’ ſich gefcheucht 


*) Schön. 
1) Mic.: gutn 2) A: gewart, 3) A: ſchon; (ſchön) 4) Andrei nu. Mic: Eim (A: Ein) 











— 116 — 


Mit grober Arbeit fi zu plagen 

Und möcht dod wol ein Kunſtbuch tragen, 
Darinn lefen, wie mander Mann 

So meiflerlih in Bann getan — — 


Drauf mußt’ ich den Dann vegiftriren, 357 
Und in die Schul’ erſt wieder führen. 
Sprad: bona dies, alter Herr, 
Was habt ihr da für ein Gefcherr ? 
Er antwort: semper quies! fchnell, 
Mein Domine, das Gras ich zähl', 
Daß mir fein Hälmlein komm' davon. 
Ih dat’: „mit den Mann kriegft zu thun! —“ 
Darauf mich räufper’ und fo anfang’: 
„Ich weiß nicht, ob ich irre gang’ — 
Mid dünkt, Ihr feyb des Dorfs Paſtor?“ 
Er ſprach: „ih bins lang gweſen vor, 
Eh dann der Herr die Welt erfehn, 
Bor vierzig Jahren iſts gefhehn, 
Und möcht’ nun? wünſchen, daß ein Junger 
Auch unter meine Bauern donner. 
Denn mir entgeht alle? Kraft und Saft: 
Je matter Leib, je mehr man fchafft, 
Ye wen'ger Kunft, je mehr mans treibt, 
Je unwerther, je mehr man bleibt.“ 


Ih ſprach: „mein lieber alter Herr, 
Ihr habt euch nu gemäftet fehr 
Und babt der alten Baten viel, 
Drum wollt* Ihr lehren um den Stil. 
Das möchten doch wir Junge leiden, 
Die jetzund zehren auf bie Kreiben, 
Erwarten Glüd bei gefunden Leib’ 358 
Einen guten Dienft, und reiches Weib.” 
Der alte Herr ſprach: „mein Studio)”, 
Dich dünkt, Eur’ Kunft, die mach’ fich los. 
Die Logik wird fi in euch regen, 
Daß Ihr mit mir rebt fo verwegen. 
Wißt Ihe, was Luther in ber Sad’ 
Einsmals zu einem Nasweiſen ſprach? 


1) Ludreã: Sie 3) U: nur 3) Mic.: all 4) AB: wollt’ 


— 10 — 


„Wir Alte, die mit Angſt und Flehen 
Dem Teufel in ven H = = = gſehen, 
Grüßen vor Euch Gnad- Dolterlein 
Auf weiden Bolftern gfefien fein — ! 
Gudt vor fo lang’ darein als wir, 
Der Scherz wird euch geliegen fchier.” *) 
Der Filz war mir fehr ungewohnt, 
Sch wünſcht', ich hätt’ des Manns gefchont, 
Drum 309 ich bald ein’ andre Pfeifen, 
Sprach: alter Herr, laßt das flrftreichen, 
Es war mein Ernſt ja uimmermehr; 
Ih bin Euch zu dienen gwogen ſehr, 
Nu will ih was beſcheidners tagen, 
De illo tempore was fragen, 
Ihr könnt mir geben guten Beſcheid: 
Was warn zu Eurer Zeit für Leut, 
Die, feloft in Künften wohl fubirt, 
Die Jugend löblich angeführt?“ 
Er ſprach: „Ich denk der guten Tag’! 
Da war an Glehrten wenig Klag'. 
Sollt' ich die tapfern Leut' all nennen, 
Ich glaub’, ich wiirde viel nit kennen. 
Die ſeyn nun todt und leben noch — 
Nu lebeu viel und faulen doch. 
Ich dank ihn'n ihrer guten Lehr’; 
Doch, wie ich fommen bin bieber, 
Hab’ ich viel anders müflen lernen, 
Die Hülfen brechen und den Kernen 
Mit bitterm Schweiß berfürgewinnen — 
Das werbt Ihr auch noch einmal innen! —” 
Ich ſprach: „Ihr gabt aufs Geiftlich" Acht, 
Und der PBhilofophie nichts acht, 
Daber möcht e8 mohl fommen ſeyn, 
Daß Euch die Welt nit wollt ein.“ 
Er lacht' und ſah mid höniſch an: 
„Was meint Ihr denn, daß ich getban? * 


*) bald vergeben. 

1) Anbreä: fei A: „fein *)“ mit der Anmertung: „*) Es muß ein Schreibfehler 
in biefen zwei Berfen feyn; der angeführten Stelle in Luther entfinne ich mich eigentlich nicht.” 

3) Hiernach zwei Zeilen ausgelaſſen. 





— 10 — 


Ich war Grammartig*) und was fein 350 
Und pochet überzwerch binein. 
Ih redt tbörlih an mandem Ort 
Ind madt mid maufig immer fort. 
Im Kopf hatt’ ih manches Geſperr 
Und fonft viſirlich' Sachen mehr, 
Ih log did, daß bie Ballen floben 
Und edet aus, was krumm gebogen. 
Meint Ihr, daß man zu unfern Zeiten 
Hab’ Meifter gemacht? aus Eſelshäuten? 
Oder dab’ einen beißen treiben, 
Das er fein Lebtag wird verfchweigen ? 
Oder bab’ fo grob numerirt, 
Daß aus zwei über fieben wird?" 

Der alt! Herr hatt’ mich wieder gfchredt 
Und mir mein’n Meifterfchrei beftedt. 
Noch wehrt’ ih mich mit aller Kunft, 
Daß ih nit hätt’ ftubirt umfonft. 
Und Sprach: „dörft' ih ein Einges fragen ? 
Sp Yhr die Künſt Habt all’ getragen, 
Wie iſts doch möglich, daß ein Bauer, 
Der nur umgeht mit Arbeit fauer,® 
Euch Toll erft anders deponiren ? + 

Er ſprach: „ja freilich deponiren, 361 
Bis dag verfhwindt der Luft Gebäu, 
Bis daß verdaut der Bappenbrei, 
Bis daß verraudt des Hirnes Dampf, 
Bis daß vertobt der Witze Kanıpf, 
Und nun die Praktik kommt zu Haus 
Die all’ Theorit treibet aus. 
Da findt ſich erft, was wir gethaır. 
Daß wir uns haben — brauchen la'n.“ 

Die Ding’ mir Spanifhe Dörfer waren, 
Ich hatt’ dergleichen nie erfahren. 
„Wie? fagt’ ich, follt’ der geiftlih’ Stand 
Bon Bauren haben fein’n Berftand ? 





*) Im biefen Worten find Anfpielungen auf bie fieben freien Künfte ber damaligen 
Zeit: Grammatik, Poetil, Rhetorit, Mufil, Logik u. f. 

1) Mie.: gmadt 2) Hiernach zwei Zeilen ausgelaffen. 

3) A: Wie ift do .... Baur, Der .... faur, 4) Andrea: informieren. 





— 109 — 


Soll nit die hohe Schul’ uns weiſen, 
Wie wir bezähinen die Unweifen? 

Was wär’ denn bie Theologei 

Anders, al8 eine Bauern Kirchmeih ?"1 

Er ſprach: „ih muß Euch das verzeihen, 
Weil Ihr noch lauft unter den Freien: 

So Ihr einsmals kommt in den Karren, 
Sp wird man mit Euch anders narren.? 
Da müßt Ihr glauben, wiffen, thun, 
Leiden, laffen, fürdten und bon, 
Was niemand darf, kann, mag, noch will, 
Und diefe® alles in der Still’; 

369 Denn wer fich diefes will beichweren, 
Der mag feine Pfarr ein’m* andern leeren.” 

Ich bat durch Gott den alten Herren, 

Er wollt’ die Sache ınir* erflären, 
Denn ich fragt nicht aus Uebermuth, 
Sondern wie thät ein junges Blut. 
Könnt’ ih der Sachen ha'n Bericht, 
Mein Tag wollt’ ichs vergeflen nicht. 

„Gern, gern, gern, fprach mein alter Held, 
Die Weiſ' mir nu viel baß gefällt.® 
So hört mit Fleiß, was ihr nit gewußt 
Und büfjet denn den Pfarrersluft.2 
Höret zuvor mein's Dorfs Beſchwer, 

Judt euch die Haut, fo kommet ber. 

Ih hab gefagt, ein PBiarrer glaubt, 
Das kaum ein Menfh bringt in fein Haupt. 
Er glaubt ein’n Gott, deß niemand® adıt; 
Ein jeder nach ſein'm Götzen tracht. 

Er glaubt ein'n Himmel, der wird verfehmädt ;? 
Ein jeder gern bier? ewig zecht. 

Er glaubt ein’ Höll, die niemand fleucht; 

Ein jeder die breite Straſſe zeucht. 

Er glaubt ein Gericht, das niemand bejorgt; 
Ein jeder auf die Race borgt. 


1) Mic.: Bauren Kirchweih ?” 2) Hiernach zwei Zeilen ausgelafien. 
3) A: eim 4) U: Saden mir Andreä: Sade nur 
6) Hiernach ſechs Zeilen ausgelaffen. 6) Anbreä: Das niemands 


7) A wie Andrei: der verfchmächt; 8) A wie Andrei: bie 





— 110 — 


Er glaubt ein’n Lohn, den Niemand will; 

Ein jeder will bier Hül nnd Fül. 

Er glaubt ein göttlih Regiment; 

Ein jeder meint, das Glück ſey blind. 

Er glaubt ein'n Tod, der Alles fcheidt; 

Und jeder pocht auf lange Zeit. 

So glaubt er, was bie Welt verneint, ! 

Und ihren Augen ungereimt; 

Damit zeucht er den fchweren Karren 

Und wird gehalten für ein'n Narren. 

Darnach fo weiß ein Seelenbirt, 

Das die Welt ungern innen wird. 

Er weiß, daß großer Herren Pracht 

Bei Gott aufs äußerſt ſey veracht. 

Er weiß, daß großer Hirten Schlaf 

Dem Wolf liefert manch armes Schaaf. 

Er weiß, daß große Leutefchinder 

Berflucht ſeyn auf Kindeskinder.? 

Er weiß, daß große Federhanen 

No kommen in den Pfuhl zufammen. 

Er weiß, baß die groß’ Ueppigkeit 

Der Welt gereicht zu Schmach und Leid. 

Er weiß, daß jedes falfche Herz 

Sich ſelbſt noch flärkt zu ewgem Schmerz.* 

Das weiß er, wills ſchon niemand wiffen 

Und wird fehr oft darob gefchmiffen. 

Damit zeucht er den ſchweren Karren 

Und wird gehalten für ein'n Narren. 

Drittens, fo muß ein Paftor tbun, 

Das jedermann will überftehn. 

Er muß die Wahrheit jedem geigen, 

Darüber zeigt man ihm die Feigen. 

Er muß aufwifchen jebe Stunb: 

Darüber man ihm übels gunt. 

Er muß in die Pet und Lazareth, 

Da mancher weit fürüber gebt. 
1) Anbreä: vermein - 
2) Andrei: weiß, dei groffen Herren Pracht Bei Gott aufs Äußerfi wird veradht. 
3) Hiernad zwei Zeilen ausgelaffen. 


4) Andrei: Sich felbft noch ftedt in ewig Schmerz. 
5) Andrei: Darliber wird jm zeigt 


.-» 
or 


— 11 — 


Er muß zum Feur, Galgen und Rab 
Zum! Gefängniß*? und der Huren Bad. 
Er muß verzweifelt‘ Buben tröften, 

Die Ruchloſen durchs Geſetze röften: 

Er muß jedermann helfen, bitten, 
Rathen, warnen, kratzen und beſchütten. 
Er muß in alle Pfützen treten, 

All' Unluſt putzen und ausjäten — 
Das muß er thun ohn ſeinen Dank, 
Bis er drob wird alt, krumm und krank. 
Damit zeucht er den ſchweren Karren 
Und wird gehalten für ein'n Narren. 

Viertens ein Prediger muß leiden, 
Da ſonſt der Thurm zu iſt beſcheiden. 
Er leibt.der Leut' Abgötterei, 
Aberglaub, Fluchen,“ Zauberei.“ 

Er leidt Verachtung Gottes Lehr, 
Dafür Wolluſt wird trieben mehr. 

Er leidt Ung'horſam und Geſpött, 

Da mancher Pfaff vor Ohren gebt.” 

Er leidt Zorn, Neid, Rachgier und Grimm, 
Zant, Hader, Schelten, Ungeftiim. 

Er leidt Ehbruch, Unzucht und Schand, 
So nur geachtt für Narrentand. 

Er leidet groß’ und fleine Dieb, 
Finanz und was ihm fonft nicht lieb.“ 
Damit zeucht er 2c. ıc. 

Zum fünften muß ein Briefter Taffen, 
Das die Welt liebt ohn' alle Maaſſen. 
Er läßt dem Hof fein weiches Kleid 
Und bleibt ihm die Kameelhaut beſcheid. 
Er läßt der Schul’ ihr’ große Wit, 
Und übt fich in der Liebe Hit. 

Er läßt der Reihen Silbergefhirr® 
Und trinkt die Bächlein in der Irr. 
Er Täßt der Aufgeblafnen Wind, 

Und ſich bei Ehrifti Demuth findt. 


1) Andrei: Ohn 2) Mic.: Gfängniß 3) Unbreä: Aberglaub, Seg, und 
4) Hiernach zwei Zeilen ausgelaſſen. 5) Unbrei: Das mander Pfaff für Obren gebt. 
6) Mic.: Silbergſchirr 


— mm m 


— 11 — 


Er läßt des Fleifches Luft und Geilheit 

Und bindt ſein'n Rücken jederzeit. 

Er läßt ſein Recht, ſein'n Nutz, ſein'n Fried, 
Und gnügt ſich, daß er Chriſti Glied. 

Das alle8 muß er willig Laffen 

Und noch dazu fich felber haſſen. 

Damit zeucht er ac. ıc. 


Zum ſechsten fürcht ein geiftlih Dann, 
Das fonft bei andern leicht gethan. 
Er fürdt mit Scheu das End der Welt, 
Dafür mandyer fein Hauptgut*) zählt. 
Er fürdt der Kirchen böfe Feind’, 
Gewalt und Witz, die manches Freund. 
Er fürdt der Aergerniß Gefahr, 
Darinn fid) übt die größte Schaar. 
Er fürdt des Glückes gute Wort’, 
Daß nicht die Seele werd’ bethört. 
Er fürdt fein’s eignen Gewiffens Stimm’, 
Daß es nicht fehreie wider ih. 
Er fürchte der böſen Geſellſchaft? Schein 
Ohne welche mander nit fann feyn. 
Er fürchte der hoben Gaben Glanz, 
Die fonft auch Guts verblenden ganz. 
Das if fein’ Sorg, fein’ Furcht, fein’ Angft, 
Welchs alls die Welt verlacht vorlangſt. 
Damit zeudt er u. f. 


Zum fiebenten ein Cleriens, 
Was niemand will, wohl nehmen muß. 
Er nimmt wenig, al® niemand glaubt: 
Denn der thut wohl, der Pfründen beraubt. * 
Er nimmt das Schlechtſt' vom Pfleger. fein, 
Die ſchwächſte Frucht, dei‘ faurften Wein. 
Er nimmt mit Müb, das faur verdient, 
Noch hält man als für Gefchent die Pfründ', 
Er nimmt mit Schmerz von feinen Bauren, 
Die ihn bezahlen, wie die Lauren. 


*) Kapital. 
1) Hiernach zwei Zeilen ausgelaſſen. 3) Mic: Gſellſchaft 
3) N wie Andrei: b’raubt 4) Andreä: ond 





366 


367 


— 13 — 


Er nimmt als faul von falfcher Hand, 
Der gilft,*) als er den Tod empfand. 
Er nimmt mit Dank, was umgern gebt, 
Und bitt ein’n Dieb um Seinigs ftet.' 
Alfo muß er im Bettel reifen 

Und endlich laſſen arme Waifen: 

Damit zencht er 2c. ꝛc. 

Wie dünkt Euch nun, mein junger Hach? 
Iſt Euch zu Pfarr nochmal fo ga?! 
Gelüft Euch noch der Pfarrer Braten? 
Ober wollt’ ibr der gern entrathen ?” 

Ich ſprach: „o Tiebfter Water mein, 

Eur Red, die gehn ins Herz hinein. 

Ich bin erfhlagen und erflummt; 

Und dankt doch Gott für diefe Stund.! 

Doch bitt' ich, wollt mich weiter lehren, 

Ro ih mich nun hinaus foll kehren? 

Denn id einmal Gott bin verbunden — —“ 
368 Er ſprach: „der Weg ift längft gefunden. 

Ihr Habt gewählt den höchſten Stand, 

Der bat mehr Gfahr, denn Meeres Sand. 

Und wird durd die Welt ſtets angeramnt, 

Darım bebürft Ihr Gottes Hand. 


Kein Stand auf Erd je werther war, 
Als der durch Gott beruffen bar, 
Sein Wort und Willen zu verkünden 
Dadurch? zu pflegen Gottes Kinden: 
Sein’ Wahrheit und Gerechtigkeit, 
Sein’ Wahrheit und Barmberzigfeit, 
Sein’ Langmuth und auch großen Zorn, 
Sein’ Wunder und des Heiles Horn, 
Fürtragen durch des Geiſtes Sprach, 
Den Frommen zu gut, der Welt zu Rad: 
Da Gott ein’ Menſchen Zung’ und Hand 
Gebraucht gleihfam zu ſein'm Beiftand, 


*) Die Gebühren giebt, als ob er ben Tod Litte.! 
1) Hiernach zwei Zeilen außgelaffen. \ 
9) Andrei: Bnd dardurch 


1) „*) Die — litte.“ fehlt. 
Herbers fänmtl. Werte. XI. 8 





— 14 — 


Sein Geift und Pfand zu bifpenfiren, 

Damit in fein Reich einzuführen. 

Ihm wird vertraut Gott's liebſtes Gut, 

Und Jeſu Ehrifti Fleiſch und Blut, 

ALS auch des Geiftes Freubenst, 

Damit befeligt manche Seel’: 

Den Stand laßt Euch fein Menſch erleiden, 
Bor dem all’ andre Ständ’ ſich neigen. 


HM nun der Stand fo hoch und werth, 369 
So hat er billig fein’ Beſchwerd'. 
Der Teufel it keinm! Ding fo feind 
Als mo Ehrifti Pferch wohl verzäunt. 
Die Welt braucht nimmer mehr Betrug, 
Als daß der Pfaff werb gichweigt mit ug. 
Das eigen Fleiſch läßt nit fein’ Tüd, 
Daß e8 ein fromm, treu Herz berid. 
So bringt der Baalspfaffen Schaar 
Der Kirchen erft die größte Gfahr: 
Denn nie kein Blutvergiejfen bat 
Wie Heuchelei, der Kirch' geſchadt. 
Da man fi felbft, nicht Chriſtum ſucht 
Und mangelt ſtets an guter Frucht, 
Da man mehr wigt und Flügeln will, 
Als Chrifti Einfalt ftedt das Ziel, 
Oder fonft gebt im großen Haufen, — 
(Den Leitbämmeln all’ nah hinlaufen!) 
In Summa, wer nicht fleißig wacht, 
Der ift in manche Gfahr gebradit. 
Ye mehr Gefahr, je minder Sold, 
Ein® Gotte8=- Diener fol kein Gold. 
Wer bie fein’ VBefoldung will einnehmen, 
Den wird der Herr einmal nicht kennen. 
Hie ſolls feyn g’arbeitt, ghüt und gmacht, 
Dort wirds ſeyn belohnt* und hochgeacht: 
Hie ſolls ſeyn mühſam und unwerth, 
Dort wirds ſeyn ruhſam und geebrt.5 
Kein Frommer legt hie Gülten an, 370 
Wie der aus V, X machen kann.® 


1) 4: keim 2) Andrei: Dann 3) Mie.: Eim 4) Mic.: blohnt 
5) Hiernach zwei Zeilen ausgelafſen. 6) Hiernach vier Zeilen ausgelaffen. 





371 


— 15 — 


Fromm Geld läßt fi) nit 3’ Fuß ereilen, 
Wie böſ' Geld? von den’'n auf den Säulen. 
Fromm Geld? vergnügt, wie e8 Gott fügt; 
Böſ' Geld! verftiebt, mie viel man trägt. 


Wollt Ihr nun weiden Chriſti Heerd, 
So ſeht, daß Ihr beruffen werbt, 
Durch Chriſti Ordnung, nicht oblique 
Durch Gſchlecht, Weib, Geld, und fonft inigue. 
Gott ruft recht durch der Obern Mund, 
Er ruft? auch in des Herzens Grund, 
Und wie der fromme Luther meint, 
So ftünd’ auch fehr viel bei der G'meind'. 
Eilt nicht zu fehr, Gott weiß euch wohl, 
Eur Theil Euch noch wohl werben ſoll. 
Laß laufen, was nicht bleiben will, 
Gott findt Die Seinen in der Still. 
Wahrlich, dag man viel Mietbling’ duldt, 
Das ift des Lofen Laufens Schuld. 
Kein Wurm dem Körper ift fo gefähr, 
Als der gern an fein Stelle wär. 
Den Leichnam läßt man faum erfalten, 
So will fhon Ein'r fein’'n Dienft verwalten. 
O wenn Berfolgung reget fi, 
Wie mander [hrie nicht: bie bin ich! 


Seyd Ihr denn zu der Kirchen kommen, 
Den ſchweren Eid auf Euch genommen; 
So rüft Euh nu mit Herz und Muth, 
Daß Ihr All's nehmen wollt für gut: 

Ya wie Iener uns thät befcheiden, 

Müßt Ihr auch Ternen henken leiden. 

Weh Eud, fo man Euch zuviel lobt! 
Wohl Euch, wenn die Welt heftig tobt! 
Weh Euch, fo Euch der Dienft wird ſüß! 
Wohl Euch, fo Ihr findt viel Verdrieß! 
Weh Euch, fo Euch die Welt gefällt, 

Wohl Eu, fo fie Euch Fallen ftellt!? 


1) Anbreä: Bößgelt 3) Anbreä: Fromgelt 
3) Andrei: Gott brufft recht buch _ben obern Mund, berufft 
4) Andreä: noch werben 5) Hiernad zwei Zeilen auegelaffeı. 


8* 


— 116 — 


Weh Euch, fo Ihr auf Titel ſchaut! 

Wohl Eu, fo wenigs Euch vertrant.'! 

So könnt Ihr Gottes Haushalter feyn, " 
Der Welt ein Dran, ein’ Ruth und Pein. 


Noch müfjen wir das Hauskreuz tragen, 
Wie jeder Ehmann wirb beladen, 
Was jedem gefchieht, das kann und werben, 
AU täglich FAUL gehörn auf Erden. 
Wollt Ihr denn bie den kürzten Weg, 
Daß Euch begnüg göttliher Seg, 
So laßt nit z’viel auf Erden ga’n, 
Der Himmel fieht Euch befier an. 
Gewöhnt Eur’ Leut zu fchlechter Art, 
Nichts ehers lernt fih, als Hoffart. 
Laßt Arbeit tbun, was effen will; 
Zur Ruh bleibt Zeit noch überviel. 
TZraut nit zu wohl eim jeden Maul, 372 
Das Böſ' if friſch, das Gut’ gebt faul, 
Veracht nit leihtlih arm’ Gefalt, 
Gott viel Geheimniß babei vorbehalt, 
Glaubt auch nit Alles, was man leugt, 
Unzeitig Eifer manden treugt, 
Ih geb Euch noch das zu B’richt, 
Verlaßt Euch auf kein'n Menfchen nidt. 
Gott fey Euch einig Euer Scopus, 
Dazu der Menih Euch helfen muß. 
Sonf, wo ohn Gott der Menſch foll helfen, 
Da gilts laufen, ſchmieren und gelfen 
Und iſt doch nichts als Wort und Schein; 
Der g’winnts, ber über Euch kann ſeyn — —"? 


Ih ſprach: „mein lieber frommer Herr 2 
Wär’ ich vorlängften kommen ber, 
Dein’ Obren follten kürzer feyn, 
Mein Rüſſel abgelehrt und rein. 
Ich hab gefolgt der Narren Zunft, 
Da überherrſcht die Unvernunft;* 


1) Siernad zwei Zeilen außgelaffen. 3) Hiernach ſechzehn Zeilen ausgelafien. 
8) Andrei: Mein lieber frommer, weifer Herr, („Ib ſprach“ zwei Zeilen vorher.) 
4) Hiernach vier Zeilen ausgelaſſen 


— 17 — 


Legt mir nun ab! mein’n Ning und Hut*) 
Das Röcklein und das Sträußlein gut, 
Damit wenn ich fomm’ unter bie Leut', 
Ich nit umgeh, als der nit gfcheibt.“ 


Das ſchlug meim alten Herren zu, 
Er ſprach: ich nichtzit‘**) Lieber thu, 
373 Als jungen Leuten, bie noch jähren, 
Was ihnen noch weit fehlt, zu lehren. 
Es mag es aber, was nod glikt, 
Und noch wohl hintern Ohren ſchwitzt, 
Nit allmeg leiden, baf wir Geden® 
Ihn'n wollen ihre Kunft erfchreden.* 
Doch muß ich leider auch befennen, 
Und werd’ e8 mit mei'm Schmerzen innen, 
Das nit Alles, was ſchwarz, geiftlich ift, 
Daß nit All Geiſtlichs lauter Ehrift, 
Daß nit All Lauters ift gefund, 
Daß nit All Sfundes if fürn Mund. 
Hierauf bat mich der ehrlih Dann 
Ih wollt mit ihm zu Haufe gahn, 
Daſelbſt ein Süpplein helfen cfien 
Das Schwäten wird fich nicht vergefien. 
Er muß beimtragen an der Stangen, 
Den bübfchen Vogel, den er gfangeı 
Und ihn ſein'r alten Mutter bringen, 
Die weiß doch auch von biefen Dingen 
Und fagt mandem umfonft den Tert — — 
Das Haus, das ſey ba allernädft, 5 
Da er mit feinem Holderftod 
"Oft fpalten manden biden Blod, 
tieb’ und Leid williglich gelait,® 
Mand tiefe Hauswunden geheilt 





— - — — 


*) Die alademiſche Magiſterzierde **) Nichte. 
1) Andrei: Bud legt mir ab 3) Hiernach zwei Zeilen ausgelaffen. 
3) Andrei: gewhen 4) Hiernach ſechs Zeilen ausgelaffen. 


5) Anbreä: von biefen Dingen Darumb fie auch den jungen Tropffen Die 
Bänffedern weiß auszu pfropffen, End fag ihn vmbſonſt ihren Text, Das Haus, 
das ſey doch allernechſt, 

6) Andrei: gelailt, [getailt?) 


1) „’*) Nichte.” fehlt. 





— 118 — 


Bor mandem Sturmmind fih gebudt! 
Bor mandem Unglüäd fi entzudt — — ! 

Alfo ging ih mit Scham und Freud’ 374 
Mein Herz mar eng’ und ſich ausbreit. 
Mein’ Kunft war Mein und bört’ doch viel 
Mein’ Reu war groß, eilt doch zum Ziel. _ 
IH wollt nit, daß ich welſche Land 
Dafür hätt giehn allefammt: 
Denn ein Deutfh Herz, fo man das findt, 
Iſt wertber als viel fremb Gefind.? 
Der fagt, was fehlt, und räth dazu, 
Hiemit fommt man mit Gott zur Ruh. 
Was aber nur ſchwätzt: mum! mum! mum! 
Und wirft den Brei im Maul berum, 
Das braucht viel Zeit, Geld, Müh und Sorg, 
Daß man im Eitlen gar erworg. — — 

Nun wünſch' ih, dag all’ meine Gfellen 
Ihn'n auch abtrennen Ian die Schellen, 
Und geben fi in Chriſti Orden, 
Der nie keim Frommen füß ift worden. 
Hiemit folg’ ih mein’m Alten nah — 
Wer beſſers weiß, der befler' die Sad. 


Funfzigſter Brief. 375 


Es ift ein Kennzeichen Ihres richtigen Verftandes und guten 
Herzens, daß Sie das überjchidte Gedicht aufgenommen, wie es 
aufzunehmen war, nicht ala Gefpött, fondern zur Beſſerung, nicht 
lachend, jondern ernſtlich. Die ernfthaften Stellen der letten 
Hälfte find Ihnen, fagen Sie, vorzüglich lieb gemejen und eine 
Reihe Priefterlehren, die nicht ſchöner gedacht, gefühlt und gejagt 
: werden können,“ follen Ihnen güldene Regeln bleiben. Mögen ® 
fie es! denn gewiß das Schlechte, Niedrige, Erbärmliche bei unſerm 


1) Hiernach cine Zeile auögelaffen. 2) Andreä: fremdes Sfind, 3) &: biezu, 
4) Löunten 5) Bleiben 


— 19 — 


Stande ift eher zu beweinen, als zu beladen, eher zu ! bemitlei- 
den, als zu veradten,; zumal der arme Geiftlihe an manchem 
nit Schuld hat. 

Wir werben alfo manche Sprüche dieſes Gedichts zum Grunde 
legen, wenn wir künftig von Amtsführung, Amtspflicdten, 
von Berlündigung des Wortes Gottes, Katecheſe, Zu- 

376 ſpruch der Kranten, Beiht, Taufe, Abendmal, Seelen- 
forge, äußerlider Situation eines Predigers u. f. reden mer» 
den. Zu alle diefem aber ift noch Zeit, und wir brauchen neue 
Kräfte, friſche Erholung; jetzt laflen Sie ung noch mit ein paar 
Bliden das große Feld der neuern Theologie überjehen und denn 
auf eine Zeit berzlichen Abfchied nehmen: denn auch viel Schrei- 
ben, wie viel Predigen, macht den Leib müde. 

Das unläugbare? Gute unjrer Theologie ift mohl das fleißige 
Treiben der Spraden und des Litterar-Terts: bierinn 
find wir wahre Lutbheraner, denn auch Luther ging bievon in 
Widerlegung feiner Feinde und SHervorbringung der reineren 3 
Lehre au. „Die Sprachen, fagt er, machen für ich jelbit feinen 
„Theologen, aber fie find eine Hülfe: denn fol einer von einem 
„Dinge reden, jo muß er die Sache zuvor wiflen und verftehen. 
„Wenn ich jünger wäre, wollte ich die Ebräiſche Sprache ex professo 
„lernen: denn ohne fie fann man die Schrift nimmermehr vecht 
„verfteben.. Auch das N. T. ift voll Ebrätfcher Art zu reden: 

377 „darum haben fie recht gejagt: Die Ebräer trinken aus der Brunn- 
„quelle; die Griehen aus den Wäflerlein, die aus der Quelle 
„fließen; die Lateiniihen aber aus der Pfügen. Die Ebrätjche 
„Sprache ift die befte und reinfte, fie bettelt nicht und bat ihre 
„eigne Farbe. Sie ift wohl vor andern einfältig, aber majeftätifch 
„und herrlich; fchleht und von wenig Worten, aber da viel hinter 
„it, alfo daß ihr es feine nachthun kann. Die andern betteln, 
„haben viel Compofita, deren die Ebräifche feine bat u. f.“ Wie 
viel er auf den reinen, veiten Wortfinn alte, bat er in ganzen 


1) beladen, zu 2) unläugbarfte 3) reinen 


— 120 — 


ZTractaten gewiefn — — Sie hierauf und auf die natürliche 
Geftalt der Schrift zu meilen, war meine erfte Sorge: denn feine 
wahre, ächte Theologie wird ohne Wortverftand und Bibel. Es 
wäre finnlos, wenn wir die vielen Hülfsmittel und Bemühungen 
unſrer Zeit dazu nicht brauchten. 
Nur, m. Fr., machen Sie fih nit zu früh ans Weber- 
ſetzen oder gar Kritifiren und Verſtümmeln des Tertd. Zur voll: 
ftändigen Kritif haben mir noch eine Reihe von Vorbereitungen 
nöthig und zum Weberjegen fcheint mir unfer neueftes Zeitalter 378 
nicht das bequemfte. Wir verftümmeln die Sprache, fehreiben Kraft 
[08 oder geziert; kurz, das reine, ächte Deutih, das unsre Vor⸗ 


1. 2,909. fahren jchrieben, ehe fo viele fremde Sprachen in Deutfchland 

befannt waren, bat fih in der neuelten Zeit ziemlich verlohren. 

af} 2.38. Es wird fich wiederfinden und vielleicht aus unſerm Verderbniß 
‘ j} 


eine reihe, ſchönere Sprache hervorgehn; warten Sie alfo und 
üben fi) in der Stille. Vor der Hand lafien Ste Luthers Ueber- 
fegung gelten und tragen in Ihr Exemplar die Berichtigungen bei; 
oder wenn Sie fih, zumal in den poetiſchen Büchern des A. T., 
üben wollen, jo arbeiten Sie für fih ſelbſt. Das N. T. ift in 
den Lehrichriften noch ſchwerer zu überjegen, als das alte; damit 
fönnen Sie nah den angenommenen Begriffen unfrer Zeit noch 
weniger Ehre einlegen, es ſey denn, daß Sie paraphrajiren 
wollten, wie alles paraphrafiret. Verſtändniß aber ift die beite 
Paraphraie. 

In der Glaubenslehre nugen Sie injonderheit den Fleiß 
unjrer Zeit die Beweisftellen zu prüfen, ihren richtigen Sinn im 
Zufammenhange zu beftimmen und die Begriffe ſelbſt fich verftänd- 374 
ih machen zu wollen. Ich nehme den Mißbrauch und manche 
Mebertreibungen aus; ſonſt war aber auch diejes die ächte Methode 
Luthers und der Reformatoren, die einem Lehrlinge der Theologie 
infonderbeit anftehet. Nur hüten Sie fich biebei für unbegrünbeter 
Neuerungsſucht, für Bartheilichkeit und Edel gegen gewiſſe Lehren, 
die die Schrift Doch offenbar enthält und für denen mande ſich 
mehr jhämen und fie nicht jehen wollen, ala daß fie jo ungewiß 


— 121 — 


jeyn follten. Seyn Sie auch hierinn einfältigen Auges und lafjen 
fih ja, fobald über Theologie geftritten wird, auf feine Seite ein. 
Bleiben Sie in Ruhe und nutzen beide Partheien in dem, mas 
fie recht ober beſſer fagen: die Hißigjte, wie jener Bauer im Diſpu⸗ 
tationsfaal fagte, hat wahrjcheinlich Unrecht. 

Es ift übel, daß es Partheien in der Religion giebt; wenn 
man fie aber zu früh ober überhin und durch Schleichwege ver- 
einigen will, thut man ficherlihd minder Nugen ala Schaden. 
Man ſchmiedet neue, vielleicht feinere Fefleln, die aber eben ihrer 


30 Feinheit wegen unauflöslicher werben, als die alte vaflelnde Kette. 


Eine halb»erfannte Wahrheit, wenn man fie zum Geſetz macht, 
ift oft brüdender, als eine vumme plumpe Lüge; und jobald Fürften 
fih bei der Religion ins Spiel mifchen, iſts um Vereinigung und 
freie Unterfuhung gethan. Nur die Wahrheit kann uns ver- 
einigen; nur eine gleihmäßige, ungezwungene, belle und richtige 
Auslegung des Worts Gottes kann jeder Parthei die Schup> 
pen von den Augen nehmen. Hierauf laflet uns alfo arbeiten, 
biernad überall ftreben und das übrige Gott und ber Zeit laffen. 
Was wir uns fo lange jhuldig find, ift Toleranz und gegenjeitige 
Freiheit — amici usque ad aram. Unſre Zeit ift, dünkt mich, 
bierinn nicht fo weit, als ſie e8 zu ſeyn vorgiebt, und die am 
meiften von der Toleranz reden, üben fie oft am menigften aus. 
Der äußere Zuftand mander Kirchen und Religionen ift 
von der Art, daß die Hoffnung einer Verbefierung oder die Furcht 
eines völligen Verfall beinah unvermeidlich fcheinen. Die tiefe 
Verachtung, die die fogenannten Pfleger und Säugammen der 
381 Kirche gegen ihren Säugling haben; die Armuth, und Knechtichaft, 
in die der Stand der Geiftlihen hie und da gefallen ift und von 
Zeit zu Zeit mehr fällt, zufammt dem herrſchenden öfonomifchen 
Geift, der alle Stände belebet; die kalte Gleichgültigfeit, Die fich 
gegen alles, was Religion ift, ſchon bis auf den Pöbel hinab 
verbreitet; Ddiejes und noch manches mehr muß mit ber Zeit noth- 
wendig eine Aenderung ! bewirken. Ins Beſſere? ins Schlechtere? 


1) Zeit Anderung 


— 12 — 


was weiß ih? — Gnug, mein Freund, auch aus dem Schlech⸗ 
teften muß endlich das Beſſere werden. Die Hefen des trüben 
Tranks ſenlen fi endlih: der Trank wird helle. Der Gang der 
Vorſehung fchreitet weiter. 

Kümmern Sie fi hierüber nicht anders, als daB Sie fi 
frühe die Gefchidlichkeiten erwerben, die auch in dieſer Rückficht 
Ihre Zeit fodert. Die Kirche Gottes ſchwimmt auf dem MWelt- 
meer, und jo muß man biejes mit feinen Untiefen, Klippen und 
Brandungen kennen lernen. Stubiren Sie alfo das Kirchenrecht, 
die weltlihe, die Staatengefchichte, ſofern fie infonderheit Ihren 
Stand angehet und ſuchen fih, worinn es feyn kann, die praf- 882 
tiſche Klugheit zu verfchaffen, die auch einen Theologen nicht miß- 
jieret. Oft ftiftete Ein Dann für ein ganzes Land Gutes; oft 
that Einer der ganzen Kirchenverfaſſung deſſelben unmwieberbring- 
lichen Schaden. Es ift nit gut, wenn ein Geiftlicher ſich in 
weltliche, ihm freinde Händel miſchet; es ift aber auch eben fo 
ihlimm, wenn man ihn in Geſchäften, woran er Theil haben 
fol, nur immer als das fünfte Rad am Wagen mitführet. 

Auch zu diefem Zweck ſeyn Ihnen die Vorbilder unfrer alten 
Theologen und NReformatoren vor Augen. ever arbeitete nad 
feinen Kräften, nad feinen Gaben und Einfichten, jeder nach dem 
Zuftande feines Landes mehr oder minder, glüdlich oder unglüd- 
ih; alle aber wie arbeitfam,! wie muthig und entjchlofien! 
Müßiggänger find wir gegen einen Luther, Melandthon, 
Zwingli u.f. Sie banbelten, fie veranftalteten? mehr, als fie 
jchrieben: fie Ichrieben mehr, als wir zu lejen vermögen. Sie 
ſprachen aus der Bruft, aus dem Herzen, über Saden und nicht 
über Worte; felbft über Worte, als obs Sachen wären. Unire 
Stimme ift ermattet und Heinlaut: unsre höchfte Gabe ift Vorfid- 
tigfeit * und unfre Schriftftellerei jo oft müßige Kunft. Welche 383 
Menge Lumpen wird, zumal in unferm Baterlande, von Geift- 


1) Kräften, Gaben .... Landes; aber alle, wie arbeitfam, 
2) bandelten, veranftalteten 3) Gabe. Borfichtigkeit 


— 13 — 


lichen beſchrieben; und wer jchreibt mehr Makulatur, wie fie? 
Hüten Sie fih, m. Fr., daß bei Ihnen die Schriftftellerei je eine 
Tagarbeit, ein Brotfiubium ! werde. Es ift dies Eine der unehr- 
barften Profeffionen unfrer Zeit, mit der man mehr als das 
Papier verderbet; ? lieber wählen Sie fi eine Hände» Arbeit, bei 
der Ihnen Kopf und Herz gejund bleibe. Es ift nicht auszu⸗ 
lagen, wie elend ein Menih daran ift, wenn Wahrheit, Wiflen- 
haft und Menſchenbildung bei ihm QTaglöhnerei ° werden — — 

Endlich, m. Fr., die Theologie ift nicht Wort» nicht Sylben- 
und Bücher Studium, fondern Erfänntniß der Wahrheit zur Gott- 
feligfeit, aljo Sache, Gefchäft, Uebung. Hiezu gewöhnen Sie fi) 
täglid mit Gottesfurcht und Lebensmweisheit; und auch hiezu find 
Ihnen die ältern Schriften thätiger Theologen bejonders zu 
empfehlen. Sehen Sie ihre Uneigennüßigfeit, ihren Eifer, ihre 
Reinheit in Befolgung deflen, mas fie für wahr und recht hielten. 
Das Leben derjelben war furz, wie das unfere; aber fie ver- 

384 längerten es durch Mühe, dur Thaten, wir verfürzen das unjere 
duch unnüße Gelehrſamkeit, Weichlichfeit, Feigheit. Ste leben 
noch, ob fie gleich geftorben find; mir, bie wir oft bei Leibesleben 
todt find; wer wird uns nennen? welche menjchliche, chriftliche 
Anstalt, welch errungenes Gute, welcher unfterbliche ſchöne Same, 
wird fih, wenn wir wie ein Traum dahin find, unſres Namens 
und Dafeyns freuen? — 

Leben Sie wohl. Ach Iege Ihnen, da wir vielleiht auf 
lange Zeit jcheiden, zwo Beilagen bei, die meine Briefe fehr erſetzen 
können. Die erfte beiteht aus Shaftesburi’s zehn Briefen an |. 2, 27} 
einen Lehrling der Theologie.*) Sie find furz, hie und da etwas . 
Lordmäßig, auh von Shaftesburi’s Privatblid, wie Er bie 


*) Sie find bier nicht abgedrudt, weil fie im Brittifhen Theo— 
logifhen Magazin (Band 3. S. 521.) bereits überſetzt zu finden. 


1) Schriftftellerei Zagarbeit, Brotſtudium 
2) Brofeßionen, womit Sie mehr als das Papier verderben; 
3) wie elend es ſei, wenn .... Menſchenbildung Taglöhnerei 





— 1211 — 


Theologie anſah, nicht frei: überdem find fie im Anfange diejes 
Jahrhunderts und für einen Engländer geſchrieben, der auf Eng: 
lands Weiſe ftudiret. Indeſſen, was er von der wahren Philo⸗ 
fopbie, der leeren Spekulation, der Akademiſchen Polyhiſtorie, der 
geiftlihen Ehrfucht und der wahren Freiheit zu denlen, von den 385 
Schriften der Griehen und dem Schönen und Reinen, wornach 
man im Studium aller Art ftreben müfje, mas er vom Geift der 
Duldung und Chriftlicden Einfalt, von feinen und Locke's Schrif- 
ten fagt, u. f. ift vortreflih. Vielleicht vergefien Sie meine Briefe 
über den feinigen und ich bins nicht unzufrieden; bei meinen Bei- 
lagen Batte ich dies mehrmals zum eigentlihen Zwecke. 
Die zweite Beilage follten Pythagoräiſche Sprüche und 
goldne Regeln ſeyn, die ih Ihnen jeden jungen Zag als neue 
Entſchließungen wünſchte. Sie find von dem Dichter, dem Sie 
Ihr Vergnügen über das Gedicht, Sokrates oder von der mora- 
liſchen Schönheit zu danfen haben, und den Sie, Trog mander 
Härten feiner Versart für einen Plato - Shaftesburi in dieſer fchö- 
1, gg.nen Begeifterung erkannten, Witthof. Das Gedicht, das ich 
jegt meyne, war das Erſte! in feinen fittliden Gedichten;*) 
juden Sie fih die Sammlung felbjt auf. — Was ih Ihnen g86 
gebe, find einige Gedanken Hemfterhuis in feiner Ideenreichen 


*) S. Witthofs Anfmunterung in fittliden Gedichten. Dortmund, 
1755. Im der neuen Ausgabe feiner fogenannten Alademifchen Gedichte 
ficht e8 Th. 2. S. 112. aber bis zum Unfänntlichen und nad meiner Mei⸗ 
nung nicht immer glidlich veränbert.' 


1) dem vortrefliden Dichter, dem Sie ... . Schönheit ſchuldig 
find, Witthof. Iſt es nicht Schande für uns, baf die fo lang angetün- 
digte neue Ausgabe feiner Gedichte noch nicht zu Stande gekommen ift, ja 
vielleicht gar nicht zu Stande kommen wirb? und melden Lehrdichter haben 
wir, der, wie er, mit fo richtigen Gedunten bie fehöne VBegeifterung eines 
Blato- Shaftesburi verbände? ob wir gleich an vortreflien Lehrdichtern 
nicht arm find, und ihm freilich bie und da Umriß, Berfification und 
Wohlklang fehle. Kurz, dies Gedicht ift das Erfte 


1) „*) In der — verändert.” fehlt. 





Schrift: sur ’homme et sur ses rapports; Sie merfen leicht, 
wo ich nad einer Reihe meiner Briefe damit binausmill. 


— m 


Einige Gedanfen Hemfterhuis über den Gang 
der Wiffenfchaften, Religion und Geſetzgebung. 


Die Wiflenfchaft des menſchlichen Geiftes ſcheint fi um bie Vollkom⸗ 
menbeit, wie die Kometen um bie Sonne in fehr eccentrifchen Krümmen zu 
bewegen. Sie bat, wie diefe, ihre Peribelien und Apbelien; wir kennen aber 
durch die Geſchichte faft nur anderthalb Hevolutionen, zwei Peribelien und 
das Aphelium zwiſchen ihnen. 

Ich merke an, daß in jedem Berihelium ein allgemeiner Geift regierte, 
der feinen Ton und Farbe auf alle Wiſſenſchaften und Künfte oder auf alle 
Zweige menfchliher Känntniffe verbreitete. Im unferm Beribelium ift® ber 

387 Geift der Geometrie oder Symmetrie: diejenigen Wifienfchaften werben in 
ibm volltommen, die und nah ben Maas fie fihb auf Geometrie und 
Arithmetik beziehen Taffen Im Perihelium ber Griechen könnt' es Geiſt der 
Moral oder der Empfindung beißen: die Ideen von Liebe, Dankbarkeit, 
Undankbarkeit, Haß, Nahe, Eiferfucht waren ihnen faft eben fo klare, voll« 
fommene und beftimmte Beziehungen als uns Dreied und Eirkel. Betrach⸗ 
tet man endlich den Styl ber Künfte bei den Aegyptern und Etrustern, 1 
fo wirb man bald gewahr, daß der Allgemeingeift ihres Perihelium Geift 
des Wunderbaren gewefen, ber eine rohe Erhabenheit mit fich führte. 

Solcher allgemeine Ton nun in jedem Perihelium ift nicht allen 
Zweigen der menſchlichen Känntmiffe gleih günſtig. Werft einen rothen 
Fichtftral auf verfchiebene Karben: das Rothe wird er verfhönern, bie 
andern Karben wird er verfchlimmern, ſchwächen, mehr oder weniger ändern. 
Bergleicht 3. E. in unferm Perihelium bie Linie mit dem Sonnenftral, dem 
Hebel: die Zahl mit dem Beſitzthum, beide mit Dauer und Bewegung; 
Optil, Mechanik, Delonomie, Aftronomie, werden fidh veroolllommen, aber 
Moral, Bolitit, die fchönen Künfte — zarte Blumen, die einft auf Xtti- 

gss Them Boden fo frifh, fo blühend fanden — fie erblafien, fie mwelten in 
unfern trodnen Klimaten, Trotz ber gelebrteften und forgfältigften Wartung. 

Die Stärke dieſes allgemeinen Tons in jedem. Perihelium wird durch 
die fruchtlofen Arbeiten ber ſonderbaren Menfchen offenbar, die von Zeit 
zu Zeit in einem Perihelium gebohren werden, dem ffle remde fcheinen. 


1) Etruriern, 


— 1% — 


Demokritus und Hippokrates hatten denfelben Zweck, den wir haben, bie 
Philoſophie auf genaue Erfahrungen bauen zu wollen: Archimedes wandte 
fhon feine bemundernsmwürbige Geometrie auf bie Mechanik an; aber weder 
Einer noch der andre vermochte etwas gegen die Herrichaft bes Allgemein- 
geiftes. — Gegentheils bie Lieblingswillenfchaft der Zeit, die dem berrfchen- 
ben Geiſt berfelben ähnlicher ift, als die andern alle, wird auch auf alle 
andern ohne Unterfchieb und Rüdficht angewendet. Dies bringt eine unge- 
beure Menge neuer Ideen hervor, die nad dem Maas, als die Anwen⸗ 
dung ungereimt war, auch bifparat, falfch und fo entfernt won einander 
ſeyn müfjen, daß die Anſchauungskraft fie nicht zu vergleichen vermag. So 
fommt ein gewiffes Falſche auf, aber der Menſch, ein natürlicher Freund 
der Wahrheit, haſſet zuletzt das Falſche. Das giebt ihm benn Edel am 
Ganzen und führt ihn durch Frivolität zur Indolenz, die ihn werbindert, 
bie Wahrheit von neuem bervorzugraben, bie durch eine ungeheure Dienge 
unnüter Ideen fo gräulich verftellt warb — 

Hätten die Menfchen mit Fleiß Anftalt gemacht, eine Geſellſchaft 
einzurichten, worinn es die möglichitwenigfte Religion und Tugend gäbe: 389 
augenſcheinlich hätten fies nicht beſſer machen Können, als fies jett gemacht 
haben. Und noch betümmert fi die Gefetgebung nicht um die Natur 
diefer Religion und Jugend; bringen fie nur nicht phyſiſche Wirkungen 
bervor, die die einförmige Bewegung ihres großen Mechaniſmus binbern 
könnten. Religion entfpringt nur aus Beziehung jedes Individuum aufs 
böchfte Wefen, und dieſe Beziehung offenbaret fih nur durch ben mora- 
tifhen Sinn. Der moralifde Sinn ſchwächet ſich aber von Tag zu Tage, 
nah dem Maas, als die Wirkfamleit der Menſchen eingefchräntt, beftimmt 
und durch die Geſetze verwaltet wird. 

Will man von den angenommenen Religionen urtbeilen, infonber- 
beit in Jahrhunderten, wo bie Gefetgeber fie mit politifhen Satzungen 
vermifcht oder verwirrt haben: fo merke man zuvor, baß fie fi in ſolchem 
Zuftande nicht wie die Wahrheit nackt zeigen, fondern bald durch Wilfen- 
fhaften und Tugenden der Menſchen verziert, bald durch Geſetze, Gebräuche, 
Sitten, Künfte der Zeit verunftaltet, bald durch Fanatismus, Lafter und 
Leidenſchaften entweihet und verunreiniget find. Vom Chriftentbum nad 
dem gemeinen Schlage der Chriften heut zu Tage urtbeilen, wäre Die 
ungereimtefte Sade. O quamı contemta ros est homo, nisi se supra 
humana surrexerit._ Glücklicher Weife ift biefe Kleinheit des Menfchen 
mir fein Werk, die Folge vom Mechaniſmus der Gefellfhaft — 

Nimmt man der chriftlihen Offenbarung alles weg, was ihr ange- 390 
hängt und falfch ſcheint: wirft man alle unverfchämte Auslegungen weg, 
die Menſchen über das gaben, was fie doch ſelbſt als Wort des böchften 


— 127 — 


Gottes anklimdigten: fo wird man finden, baß fie die einzige Religion 
fey, die ben Menſchen zur Glüdjeligleit, al8 Individuum, ruft, bie ein- 
zige, die ihn von den Banden ber Gefellichaft losmacht und ihm felbft 
wiebergiebt, bie einzige endlich, die die Pflichten gegen die Gefellichaft 
nicht anders betrachtet, als fofern fie Beziehung haben auf die Pflichten 
zum böcften Wefen, die boch allein die wahre Glüdfeligleit jedes ein- 
zelnen Geſchöpfs find. — Ich denke nicht daran, baß die chriftliche Religion 
no bie veftefle Stütze der gegenwärtigen Geſellſchaft in Europa fei. 
Diefer Gebante allein follte ven? Ungläubigen binreichen, fie als ehrwürdig 
zu betrachten und zu bebanbeln. 

Es ift nicht ehrwürdigeres in ber Welt, ald Theologen und Philo- 
ſophen, wie's deren auch noch heut zu Tage giebt. Aber von einer Seite 
die fogenannten Orthoboren, deren Härte, Eigenfinn, Dummheit, wenige 
Känntniß und ungemeffene Ehrſucht ihnen die Anmaafjung giebt, „ale 
Menfchen follen fo venten und begreifen, wie fie;" und von der andern 
Seite die Schwärme der fogenannten Philoſophen, bie eben fo eitel und 
unaufgeflärt als die Ortbodoren, durch Unorbnung, after oder Sopbis- 
men ihr moralifches Bewußtfeyn auf eine Zeitlang zum Schweigen gebracht 

391 haben und bie? Irreligion noch mit mehr Eifer, als jene anbre ibre 
Orthodoxie predigen, die gern alle Menſchen belehren möchten, bamit 
ihnen nur niemand einen allgegenwärtigen Gott zeige, den fie fürchten, 
oder fie an ein Organ erinnere, das auch nach biefem Leben bleibt und 
gewiß in dem Maas beunrubigen wird, ald mans vernadläßigt bat; 
diefe fogenannte Orthodoren, fage ih, und dieſe vworgegebne Philo- 
fopben find zwo fchäbliche Gattungen, die fih einander grauſam bekriegen. 
Wäre ber Krieg noch von der Art, daß er ewig dauern könnte, fo würde 
das Uebel wenigften® nicht fchlimmer. Wie aber der, ber feinen Gegner 
läherlih machen kann, in unferm Jahrhunderte ohne Zweifel viel Bor- 
tbeil bat über ven, ber ihn nur ſchwarz machen kann; fo folgt, daß die 
zweite Gattung wahrſcheinlich das Mebergewicht haben dörfte. Xrauriger 
und abſcheulicher Anblid einer Verſammlung Menſchen, in der es weber 
Sitten noch Religion mehr geben wird; es fei dem, daß man auf ber 
einen Seite dahin komme, die Kirche von biefen harten Köpfen zu reinigen, 
indem man niemand zur Priefterfchaft läßt, als Männer, die erleuchtet 
und durch überlegte Erziehung menſchlich und ihres Standes werth geworben; 
und daß, auf der andern Seite man dahin komme, die Wahrheiten ber 
Bhilofophie fo belle und popular zu machen, daß die elenden Sopbismen 
der Philoſophen von der zweiten Gattung felbft Kinder nicht mehr über⸗ 
reden — 


ı) für bie 2) gebracht, bie 


Welch ein Reichtum von Ideen, über die wir fünftig zu 392 
reden haben! Laſſen Sie und, m. Fr., unter dem traurigen 
Zwift von Meinungen, der jeßt die Theologie zerreißt und in 
dem Falten Apbelium, in dem die Religion vielleicht überwintert, 
dennoch getroften Muths nad der wiederlehrenden Sonne bliden 
und auch in der dunfeln Nacht brenne unfre Lampe! ! 


1) A: in dem vielleicht bie Religion überwintert, zum Licht, zur Sonne 
ſtreben. Mſe. in dem vielleicht Die Religion überwintert, zur Sonne, zur 
Sonue ftreben. 


Ende des vierten Tbeils. 


Anhang. 
Drei Briefe aus der erſten Ausgabe. 


Stücke aus älteren Hedactionen. 


1780. 


Herbers fümmtl. Werte. XI. 9 


335 


Zweiter Theil. 


. I. 


Zwanzigſter Brief. 
(Bgl. Bd. X, 2281.) 


Sie meinen, m. Fr., daß wenn auch die nadte Geichichte 
der Evangeliften nicht Epiſcher Stoff ſei; jo fünne ja der Dichter 
durh Beiwerke, durch feine oder andrer eingewebter Perjonen 
Empfindungen, endlich daß er den Briefen der Apoftel zu Folge 
die facta der Evangeliften mit ihren groffen, ewigen Folgen beflei- 
det — dadurch könne und dörfe fih der fruchtbare Dichter Epopec 
ſchaffen. Es fei eben feine Kunft, durch einen Bauberftab Blu- 
men heroorzuruffen, wo feine find, und eine Wüſte in Paradies 
zu verwandeln. Ih weiß, Sie meinen nit allein fo; es ift 
dies das gewöhnliche Lob der Zeitungsjchreiber, und cinige gute 
Köpfe find daher gar auf den Abmweg gelommen, Cpopeen über 
Dinge zu ſchreiben, wovon fie gerade nichts wuſten und fein Sterb- 
licher etwas weiß, 3. E. die Schöpfung der Hölle, den Abfall der ver- 
dammten Geifter u. f. Das ſey Epifche Kunſt! Dichtung! Dichtung, 
in der endlih das berühmte Heldengedicht „Nimrod“ das größefte 


336 deal bleibt, und meinen Wunſch nah immer aud bleiben 


möge. Laffen Sie uns fehen, wiefern Ihre Grundfäge Beftand 
haben? — — . 

Sie jeßen eine Epopee, deren Hauptperſon und Hauptge- 
ſchichte durch keine willführliden Dichtungen bereichert werden 
fönne no dörfe; und pflanzen nun poetiihes Beiwerk umher; 
aber was wäre dies poetifche Beiwerk? Perſonen? Sm unfrer 


9% 


— 132 — 


Geſchichte giebts Feine, die am facto eigentlich Theil hätten; Jeſus 
ftehet allein da und muß vollenden. Auch Biftorifch thun feine 
Jünger nichts: fie entlaufen. Der Eine verräth feinen Herrn; 
der andre verläugnet feinen Herrn: der dritte fieht ihn am Kreuz 
— mas thut dies, daß aus der Geichichte Poem werde? Laſſen 
Sie diefe Perfonen über ihre Yehltritte, ja über die Begebenheit 
ſelbſt, Empfindungen haben und äußern, bie fie wollen; es find 
Dinge, die als facta betrachtet, wegbleiben fünnten, ober zum 
Theil, wollte Gott! meggeblieben wären. Lehrreiche, nützliche, 
rührende excursus mögen fie werden, an denen man fi) allenfalls 
erholet, die aber, Ihrem Ausdruck zu Willen, aus der Wüſte 
fein Paradies ſchaffen. Je mehr der Dichter fie nöthig Hat, je 
öfter er fie berbeiholen, je länger er fie reden lafien muß; deſto 
mehr zeigt er, daß die Haupthanblung feines Gebichts ihn an Stof 337 
arm ließ. Es wird zulegt lauter Rand am Gefäße und man fieht 
nit, mo das Gefäß fei. Empfindungen, die die umftehenden 
Perfonen, Engel, Teufel, Menihen, über den Vorgang der 
Gefhichte äußern, find gut; noch beffer aber, wenn fie fie nicht 
äußern dörfen, wenn jene aus dem facto ſelbſt zu uns fprechen 
und fih in unjer Herz lagern. Wäre dies nicht; jo würde man 
jener bald matt und müde. Wenn alles im Himmel und Erbe 
empfindet, und das Meifte Einerlei empfindet, alfo auch Einerlei 
äußert, fiehet man ſich jo umringt, daß man zulegt felbft nicht 
empfinden mögte, zumal wenn die Sache nicht mithülfe. — End- 
lih die in den Vorgang gelegte Folgen — fie wären freilich das, 
was auf Einmal alle meine Zweifel aufhübe, wenn fie nur in 
der Begebenheit, im Borgange jelbft ſichtbar zu machen wären. 
Es ift leicht zu jagen: ich finge Erlöſung, aber wie ſchwer, fie zu 
fingen und zu zeigen! Es ohne ein Dogmatifches Wort darüber thätlich 
darzuftellen, wie in diefem Blut Verſöhnung Gottes und ewiges 
Menfchenheil floß. Es ald Handlung zu zeigen, wie durch die 
Kreuzigung Menſchen erlöft find? wovon fie erlöft find? welche 
Menihen? und mas davon genau jeder Moment des Ganges ber 
Handlung bewirkt habe? Gefchieht dies nicht (und ich zweifle, obs 338 


— 13 — 


geſchehn könne?) fo bleiben alle Worte nur Worte; ja fie machen 
vieleicht, wenn wir ihren Grund in der Handlung ſelbſt nicht 
ſehen, und mit ihr bie und da feinen Zufammenhang in der Dar» 
ftellung des Dichter gewahr werben, eher einen unangenehmen 
Eindrud, ala, wie mans oft nennet, ein heiliges, myſtiſches Dun⸗ 
tel — — Kurz, Beiwerke als Beiwerke betrachtet, erdrüden und 
bindern die Handlung, aus ber fie nicht folgen, mit der fie nicht 
Eins find. Bringe der Dichter Hundert Nebenperfonen hinan, 
verwidle er fie in Händel, gar in Liebesbegebenbeiten unter ich, 
wie er wolle; fie nehmen fo lange an der Hauptperfon nicht Theil, 
zerftreuen von ihr und ftehen ihr im Wege. Fremde Zierrathen, 
Vielbeit der Köpfe, goldner Schmud in einem Gemählde hilft 
nid. Ob ein Engel den Kreis ums Kreuz macht, oder ein 
Menſch; ob zwei oder Fein Todesengel umher fliege; Kreuz ift 
Kreuz, Tod ift Tod und in der Sade, der Handlung muß ihre 
Wichtigkeit liegen, anfhaubar, durch ſich anſchaubar, wirfend, 
tbätlid — — So denke ih, und fage nur meine Meinung, 
nit von Seite eines Gedichts und feiner Talente, fondern von . 
339 Seite der Religionsgeſchichte, alfo des Inhalts, als Inhalts, 
wegen. Mein Zwei ift nit, Sie zum Critikus der Dichtkunft 
zu bilden, da ich Briefe über das Studium der Theologie 
ſchreibe; über jene habe ich jet Fein Urtheil. Der größefte Dichter 
der Welt kann feine Talente an einen Gegenftand wenden, ber 
diefe Talente nicht nöthig Hat, fie vielleicht auch, andrer Rückſich⸗ 
ten wegen, nicht wünjchet; die Talente bleiben indeß, was fie find, 
Schüler der Poefie werben fie immer ſuchen, finden und fchäten. 
Set habe ich mit dem Schüler der Bibel zu Schaffen in einer 
Sade, die fein Gedicht ift und auf diefem Wege willführlicher 
Dichtung auch wohl nicht werben fol. 
Sie verzeihen alfo auh, m. Fr., daß ich Ihre zweite Bitte 
nicht erfülle und über Klopftods Meßias rede. 





II. 
Ein und zwanzigſter Brief. 353 
(Bel. Bo. X, ©. 238 1.) 


„Die Wahrheit, fagt ein Chriftliher Schriftiteller, iſt nicht 
„eine äußerlice Rede, noch äußerliches Zeugniß; fie ift Werk und 
„Wefen. Hiervon wiflen nichts die Schwäzzer, die feufche Tochter 
„tehret nicht bei ihnen ein. Sie haben was von ihr gehöret; aber 
„nichts von ihr gefehen; ſie haben fie nennen hören, aber fie nie 
„gelannt; denn würden fie etwas davon erfennen, fo würde man 354 
„an ihnen fehen, mas Geift und Weſen tft.” . 

Wie mißlich überhaupt es mit Erläuterungen des N. T. 
jet, wie mißdeutet und mißbraucht fie oft werben, der eigentlichen 
Abſicht des Schriftitellers zumider, will ich Ihnen lieber an mei- 
nem eigenen Beilpiel zeigen. Daß der Sprachgebrauch, ſelbſt der 
heilige Spracdhgebrauh der Juden ſich feit der Babylonifchen 
Gefangenſchaft merklich verändert habe, willen Sie und weiß ein 
jeder; ob man gleich die eigentliche Duelle dieſer Veränderung jo 
genau und in beitimmten Fällen nicht weiß; aus feiner Urfache, 
ala weil man die Sache entweder noch nicht jo Icharf unterfucht 
bat oder weil uns hiſtoriſche Data dazu mangeln. Ein gelchrter 
Abenteurer *) ging nach Dften und brachte Bücher**) der alten 
Chaldäiſch-Perſiſchen Religion mit, die zwar niemand in ber Welt 
für Urbücher des Mannes halten wird, deſſen Namen die angegebne 
Religion führet, die aber eine mweitläuftige Liturgie, mithin auch 
das Syftem derjelben enthalten, jo fern es in einer Liturgie liegen 
fann. Ob dieſe Liturgie die urälteite fer? können mir ſchwerlich 355 
enticheiven, noch weniger von welchem Dato jedes Kirchenbuch, 
jedes Miffal, jede Agende jei, (denn anders find doch dieſe Bücher 
nichts) : dieſe können und werden mwahrjcheinlich von weit fpäterer 





— — 


*) Perruu d'Anquetil. 
**, Zend-Avcsta, Ouvrage Je Zorvastre. Par. Lil. 


— 135) — 


Zeit und Abſchrift ſeyn, als die Verfaffung dieſer Liturgie, 
geſchweige als die uralte Religion felbft. Hierüber tft feine Frage; 
es braucht auch feiner jo gelehrten Erweiſe, da die Vernunft, die 
Analogie aller Liturgieen und Kirchenbücher in allen Religionen, 
ja endlich der Anblid einiger diejer Bücher felbft, es offenbar erge- 
ben. Von dem Allen war, wie gejagt, die Nebe ganz und gar 
nicht. Die Frage war: ob diefe Bücher nicht noch in ihren trüben, 
Ipäten Nachläßen, felbft wenn fie in dem groflen Zmifchenlauf von 
Jahrhunderten mit andern Sekten vermischt worden, etwa eigen- 
tbümlichere, urjprünglichere, einheimilchere Nachrichten von dieſer 
alten Religion und Gefetgebung gewähren fünnten, als wir, von 
ben entfernten, fremben, verfälfchenden Griechen her haben? Die 
zweite Frage war: wirft diefe Entdeckung, es jei nun einer Duelle 
oder eines Morafts, nicht Licht auf Völker und Selten, die diefer 
alten Sitteneinrihtung näher gemohnt, gar, wie manche Gnoftifche 
356 Selten, aus ihr ausgegangen, vielleicht wieder in fie zurückgefloſſen 
find, wenigſtens von der Denfart derer, die nad jener Religion 
gebildet waren, Yarbe und Anftrih angenommen haben? Mid 
dünkte, ja! und ich denfe noch immer ja, wenn ih, ohne alle 
Hypothefe und Deduction offenbare Gleichheit bemerfe. Von 
manden Secten Orientaliſcher Philoſophie iſt dieſe Aehnlichkeit 
unläugbar: ſie mögen dorthin gegeben oder dorther genommen 
haben: die Aehnlichkeit iſt auffallend, ſie iſt da. Daß von dieſen 
Secten nun auch vor Chriſti Geburt bereits Judäa nicht befreiet 
geblieben, iſt bewieſen; obwohl niemand genau zeigen kann, ſeit 
wenn? wie? und wo ſie ſich verbreitet? Gnug, ihre Spuren ſind 
da und zur hiſtoriſchen Deduction fehlen uns — Data. Nun 
dünkt mich, drittens, eben jo augenſcheinlich, daß manche Ver⸗ 
änderung im Sprachgebrauch der Juden und im Lehrbegriff ein⸗ 
zelner von ihren Secten, eben mit dieſen jo genannten Heilig⸗ 
thümern des höhern Aſiens, d. i. ihrer ſo verbreiteten Philoſophie 
hie und da keine geringe oder flüchtige Aehnlichkeit habe, daß in 
einigen Grundbegriffen, die vom Geiſt der Commentatoren ſelbſt 
den älteſten und ſo anders geſinnten Schriften des A. T. frühe 


— 13 — 


angebildet wurden, auch manches daber gefloffen jeyn mag. Spu⸗ 357 
ven in den fo genannten Apokryphiſchen Schriften follen in Pro⸗ 
grammen*) gezeigt jeyn, die ich nicht geleſen; bei einigen Lehrſätzen 
der Phariſäer, (und fie waren doch die eigentliche bogmatifche 
Secte der Juden) noch mehr bei dem Chaldäifchen Paraphraſten 
u. f. ift die Aehnlichkeit unverkennbar. — Nun ift die Frage: 
breitete fich nicht daher auch einiger Schimmer jelbft auf den Sprad- 
gebrauch der N. T. Schriften? Dieſe Tonnten doch in feinen andern 
Ausdrüden reden, als üblih waren, als verjiunden wurden: felbit 
Chriftus konnte fih ja feine neue unerhörte Sprache vom Himmel 
bringen, daß feine Zeitgenoſſen, Menſchen, ihn verftünden. Er 
iprach die gewöhnliche Sprache feiner Zeit, wie die Evangeliften fie 
uns aufbewahrt und fo viele fie aus Jüdiſchen Schriften, zum 
Theil viel fpäterer Zeit, nicht unglüdlich erläutert. Alle dies 
find nur Ausflüffe, ſpäte Abflüffe; wie wenn wir die Quelle fän- 
den? wenn wir fie auch nur in einem trüben Sumpf, vermijcht 
mit vielem Unrath fünden? Schadete nichts. Sie follte nidt 
Sachen, fondern Worte, nicht Geheimniffe des Himmels, fondern 
die Bilder, die Ausbrüde der Zeit erläutern, in die fie, bie und 
da, weils Sprahgebraud war, eingelleivet werben mujten. Hät⸗ 358 
ten fih nun auch diefe fremden Urbegriffe jpäterhin mit andern 
Secten vermifcht; ſchadete wieder nichts: man ſähe ja die Ver- 
mifhung, die Ableitung und die Punkte, wo ſich beide zufanı- 
mengebogen haben. Kurz, bier wäre in der Welt von nichts, als 
von Spradgebraud die Rede, die hier in einem fpäter- früher - 
bieber = dorther⸗ zujammengeflofienen Religions- und Philoſophie⸗ 
Iyftem, (von dem der Name Zoroafter und Zerbufcht ganz und 
gar wegbleiben könnte) etwa Erläuterung fände, wie man fie zu 
Erklärung des Chaldaiſmus Helleniimus, Phariſäiſmus, Gnofti> 
ciſmus (oder wie mans nennen will) bie und da vergebens gejucht 
batte. Da begriffe es ſodenn ein jeder, daß jeder Ausdrud nun ! 





*) Des Herın Prof. Fabers zu Anſpach. 
1) nur (2) 


— 1317 — 


von der Weise abhange, wie er jet gebraucht fei? daß Jeſus, 
wenn er Phariſäiſche Begriffe anführt, er dieſe ja widerlegen, um⸗ 
bilden, ihre Nichtigkeit zeigen Tönnen, mie ers, bei Johannes 
infonderheit, fo oft thut. Es verftünde fi von felbft, daß wenn 
jene ein falſches Wort, ein falfches Licht, ein falfches Leben, 
ſuchten; er fie auf die rechten Ideen diefer Art führen könnte, eben 
indem er ihre Ideen berichtigt und miberleget: denn Ausdrücke 
bilden fich ja erft in Gebrauch deffen, der fie mit Ideen 

359 begabt und verbindet — — So dachte ih;*) aber, ich weiß 
nicht, woher eine Reihe Freunde und Feinde anders dachten. 
Diefe glaubten aus Gründen, die fie felbft wiffen mögen, da ich 
das gerade Gegentheil jage, „ich hätte Chriftum aus Zoroaſter 
(dem einfältigen Fabelnahmen!) debuciren wollen und ihm Zoroafters 
Philoſophie Schuld gegeben“ — eine Thorbeit, von der ih im 
ärgften Fieber nicht zu träumen vermödte, jo fehr ift der ganze 
Anblid der Evangeliften, die ganze Lehre und Abficht Jeſu 
dem fremden Gemisch von Ideen entgegen. Phantafiereiche Freunde 
find gar weiter gegangen und haben in den reiniten, klärſten 
Begriffen Jeſu eine Art Philoſophiſch⸗Orientaliſcher Myſtik gejucht, 
vor der ich ſchaudere, und mir, ftatt ihrer, lieber jene gehäffige 
Deutung, die doch endlih nur auf mid fällt und andern nicht 
ſchadet, zurüdwünfdhe. Wenige haben ben reinen Zweck des Buchs, 
der blos ein factum, Aehnlichteit, Sprachgebrauch anbetrift, ein: 
gejehen und meines Willens niemand ihn litterariih, unbefangen 
fort» oder zurüdgeführet. So wird man verftanden! 

360 Eine andre Probe des Erläuternd. Sie wiflen, mie viel 
man über die Yebensumftände der Apoftel, über die Ver— 
anlajfjungen, Drt, Zeit, Schriftftellerei ihrer wenigen 
Schriften gejchrieben und gerathen bat! Die beiden Briefe Jacobi 
und Judä find auch in dieſer Mufterung geweſen; und ich habe 
gerade nicht Luſt anzuführen, was darüber difputirt fei. Cinige, 
wie mid noch jetzo dünckt, ganz offenbare Stellen des N. T. 


*) S. Erläuterungen des N. X. aus einer Diorgenländifchen Duelle. [1775] 


— 1385 0 — 


(Matth. 13, 55. 56. verglichen mit Matth. 10, 2.3. Matth. 1, 25. 
Luc. 2,7. 505. 7,3. 5. Apoft. 1, 13. 14.) und andre Urfachen, 
die ich in dem unten benannten Schriftchen *) angeführet, bewogen 
mich meine Meinung zu jagen, wen ich für Verfafler diefer zwo 
Briefe halte? Es ift nur Meinung, die ich niemand aufdringe, 
die auch zum Lefen und Gebrauch der beiden Briefe nicht gehört: 
(denn Brief bleibt Brief, welder Jacobus, „ein Knecht Gottes 
und Jeſu Ehrifti“ ihm auch gejchrieben habe und der Name macht 
weder Brief noh Werth.) ine Reihe unbefangener Lefer find 
meiner Meinung geworden; von denen, die ihren Kopf von eig- 
nem Syſtem ober von ihrem Lardnner voll hatten, habe ichs nicht 
erwartet, gräme mich auch nicht darüber: denn was liegt über- 
baupt an der ganzen Meinung, fic werde bahin- ober bortbin 361 
entſchieden? Nun hören Sie aber, was kommt? „ft der Brief 
„von feines Apoftels Hand: fo geht er Uns Hier nicht an und 
„ih kann nicht begreifen, warum wir ihn für canonifch halten 
„wollten.“ Da erichrede ich, nicht über meine Hypotheſe, (bie 
babe ich noch) fondern über die fchredlihe Folgerung, die aus 
ihr und fo entichetdend gemacht wird. Iſt denn Markus, ift Lucas 
ein Apojtel? und find ihre Schriften deßwegen nit canoniſch? 
Und wer in der Welt hat je Dies Zeichen der Canonicität geftellt ? 
Und wie viele Schriften des A. T., deren Verfaſſer wir gar nicht 
wien, find do im Canon! Und denn, zu allem Ueberfluß, 
fteht diefer Jacobus, als Bruder Jeſu, nicht ausdrüc— 
lich (und von den Jüngern und den zween Jacobis unter ihnen, 
eigentlich unterjchieden) unter der Zahl derer, die bei der 
Himmelfahrt waren und alfo aud (denn der Contert ber 
Nede Apoft. 1, 13. 14. Apoft. 2, 1. geht fort) den Geiſt em— 
pfingen, mit allen feinen Gaben? Und er fol feinen cano- 
nifhen Brief ſchreiben können, Ichreiben müfjen und dörfen, der 
Uns hier anginge? da er doch offenbar mit den Apofteln vereint, 
der feierlichiten Begeifterung genieflet, an der Marcus und Lucas 





*) Briefe zweener Brüder Jeſu in unferm Canon, Lemgo 1775. 


— 139 — 


362 und Paulus nicht Theil nahmen und doch Kanoniſche Bücher ſchrie⸗ 
ben — -- Sie jehen, jo wird man gedeutet! 

Aller guten Dinge find drei; alfo des Mißverjtandes drittes 
und Gott gebe! letztes Beiſpiel. Bereit3 vor 6. oder 7. Jahren 
entwarf ich eine Erklärung — nicht der Offenbarung Johannis, 
jondern ihrer Bilder, als ſymboliſche Sprache, ala Poeſie 
betrachtet. Dieſe ſchien mir, (jo wenig ichs übernahn, fie auf 
Saden zu deuten, die fie ausfchlieffend und unfehlbar bedeuten 
müßten) fo leicht und dabei jo ſchön, fo groß, jo edel: die Bilder 
der Propheten erjchienen bier neu,! fein und Lehrreih; daß ich, 
begeiftert vom Bud, es ganz in Jamben fleivete und mit einem 
leichten Commentar verſah, der die Bilder, infonderheit aus dem 
A. T. nur entwideln, in ihrem ſprechenden Zuſammenhange 
nur vorführen folltee Das Mier. ward durch Zufälle von einer 
Reihe jehr verfchiedener Perjonen gelefen und ich an feine Heraus- 
gabe mehr ala Einmal erinnert. ch nahms nach Jahren vor, 
ftrih zuerft Die Jamben weg, und ließ den Commentar, wie er 

363 gemejen.*) Se mehr ich die Bilderreihe des Ganzen mit der 
Weißagung Chrifti Matth. 24. 25. und ihrer fchredlichen Erfül- 
lung nad Joſephus verglich, deito mehr dünkte mih Aehnlich— 
feit, Analogie, Aufſchluß der Gefihte und ihrer Bilder. Ich 
wagte es, dieſe zu bemerken, ließ mir aber unmöglich in den Sinn 
fommen, zu meinen, daß hiemit das Bud „ſchon durchgängig 
erfüllet fei,“ und glaubte nit, daß jemand auf Erben mir bie 
Meinung andichten fünnte. Die ganze Zerſtörung Jeruſalems ſah 
id an, mie Chriftus fie anfieht, als Zeihen, Unterpfand, 
Vorbild des lebten größeren Ausganges der Dinge und eben 
diefen in jenem Zeichen und Unterpfande zu entwideln, bielt 
ih für den Endzweck diejer Weiſſagung und ihrer Gefichte, wenig- 
ſtens mie ich fie, ohne Prophet zu jeyn, erläutern könnte. Ber: 
törung Jeruſalems an fi war von Ehrifto ſchon geweißagt; dazu 

*) Diaran — Atha, das Buch von der Zukunft des Herrn: 1779. } 2,403. 

1) jo neu, (7) \ 





— 140 — 


börfte eö feines neuen Propheten. Selbſt das Ende der Welt 
hatte Jeſus mit ihr verbunden und feine Ankunft in jener erften 
Zukunft, nur noch einfah, in Gleichnißen vorgebilbet. et 
gefhah dem „Johannes in eben bdiefer Verbindung bie höhere 
Aussicht: fein Bild geht mehr auf Serufalem allein; alles 
befommt Rieſenmaas, wird Ausficht höherer, endlicher, allgemeiner 
Zukunft, obwohl in Bildern von jener. Dies fage ich fo deutlich, 364 
jo oft und wiederholt, als es fih, ohne Edel, wiederholen ließ; 
jchreibe und ruffe bei jedem Bilde: „dies ift feine Genefis, fein 
„eriter Umriß; aber dies ifts nicht allein, dieſe ganze fchredliche 
„Seihichte ift nur Unterpfand, Symbol, Zeichen einer andern 
„Erfüllung!“ erkläre zuletzt diefe Verbindung, wiefern ich die Eine 
Begebenheit ald Symbol der Andern glaube (die zweite betailliren 
fann und mag ich nicht: denn ich bin fein Prophet:) Ieite eben 
daher, daß die Offenbarung nicht an die Gemeinen Judäas geſchickt 
jet, ſondern nah Afien, an Städte, die die Zerſtörung Jeruſa⸗ 
lems nicht traf; zeige, daß jene zum Anjchauen und Empfang dieſer 
böhern, freiern Weifjagung nidt fo fähig waren, daß fie 
den Gefichtspunft verengert haben würden, zeige, (jo fern es ſich 
ohne Zeichen⸗ und Zeitendeutung thun ließ) daß, und wie es ein 
Buch für alle Zeiten fei u. f. Das alles fteht nun jeit 7 Jahren 
gejchrieben (denn im erften Mier. hatte ich wenig oder nichts von 
Jeruſalems Berftörung), jebt liegts gedrudt da: die eriten Briefe 
des Buchs ala Eingang, die legten Kapitel des Ausgangs, meine 
Zugabe des Gelichtspunfts zum Ganzen, alles ift darauf gerichtet: 
es ift Nerve und Zwed der ganzen Arbeit, den ich unverkennbar 
glaubte. Und fiehe, da erichallen Stimmen: „ic babe dem Buch 365 
„Seine Nußbarkeit für unſre Zeiten benommen, da ichs auf eine 
„längft verlebte Begebenheit gedeutet. Ich babe diefem jeinen 
„Zroft, jenen feinen Gott geraubet, dies Bild entjehlich verklei⸗ 


„nert, jenes — — u.f. f.“ Ich ftehe erftaunt da, jehe die an, 
die das Buch mit mir gelefen; dieſe haben mich verftanden, auch 
der, der — — nur bie nit; die lefen das Buch durch und leſen 


gerade das Gegentheil, von allem, was ich gejchrieben babe. Was 





— 141 — 


ift da zu thun, m. Fr., wenn man fi nicht ewig felbft erklären 
will? Beinah, möchte ich jagen, nicht ſchreiben, ſondern Iprechen 
und antworten; nicht druden laſſen, fondern zu leſen geben, dem, 
der Iefen mag. Das gebrudte Zeug kommt Jedermann, oft zur 
unrecteften Zeit in die Hände; man fliegt? durch und fpricht nun 
drüber: andre ſprechen nah: jo macht fich die Mähre. Zu mei- 
nem Zwed gehörte ed nicht einmal, zu unterfuhen: ob das Bud 
vor oder nad Jeruſalems Zerftörung gefchrieben fei? wenn ich ' 
nit eben eine Stelle des Buchs damit zu erklären gedacht hätte. 
Bor oder nad der Zerftörung gefchrieben, für Anhalt und Zweck 
bleibtö immer bafjelbe, ein Bilderbuh vom Ausgange der 

366 Sichtbarkeit und der Zufunft des Reichs Jeſu in Bil- 
dern und Gleichniſſen feiner erften [hredlih-tröftlichen 
Ankunft. Möge ich die Zahl des Thiers getroffen oder nicht 
getroffen haben; es gehört nicht zur Reihe der Symbole, d. i. der 
dur fich fpredenden Bilder; Johannes ſetzt fie, als eigent- 
liches Räthſel nur hinzu, und Buch bleibt Bud, wenn man aud 
das Räthjel nicht riethe. Wer kann, rathe beffer; nur er thue es 
und gebehrde fi nicht, als obs längſt gethan fei, oder er es, 
fobald ihm nur die Luft ankomme, unftreitig beſſer thun könne. 
Weber dieſe jest fo gemöhnliche Goliathsſprache werben in kurzem 
die Kinder laden — — Doch wo fomme ih bin? Gerade als 
ob Sie Zeitungsfchreiber und ich der arme Beklagte wäre, der fi 
vor Ihrem Tribunal über Leben und Tod vertheidigt. Die Iete 
Mühe halte ich für fehr unnütz, und jedes Wort dabey verlohren. 
Was man fchreibt, muß fich jelbft vertheidigen, oder es iſt bes 
Advokatenlohns nicht werth. Leben-Sie wohl und erfrifchen fich 
an beiliegenden treflichen Vorſchriften, wie man das Geſetz (zu 
anderm Zweck, ald Kunftrichter darüber zu werden) ftudiren müffe. 
Sie find aus der Sammlung der Jüdiſchen Pirfe-A both, und 
machen Ihnen vielleiht Luft die ganze Sammlung zu lejen: [X, 
254, s60 - 256, 368. 


— 142 — 


IH. 


Zwei und zwanzigfter Brief. 
(Bol. Bd. X, ©. 2481.) 


Sie kommen auf Ihre Lieblingsmeinung zurüd: „auch die 
„Offenbarung Johannis „zeige, mie Poefiereih das Chriftenthum 
„ſei!“ und ic antworte gern: „allerdings, wenn Chriftliche Poefte 
„ift, wie bie in Johannis Offenbarung.“ In ihr ift feine will- 
kührliche Dichtung; die Dichtung ſelbſt it Sade, ift Wahr- 


370 


beit. Nur dadurh, daB Sade und Wahrheit in allem Glanze 


von Hoheit, in aller Majeftät wichtiger Folgen ericheint, wird fie 
Poefie oder gar Lobgefang der Chöre. Faſt gichts Feine mefent- 
liche Lehre des Chriſtenthums, die bier nicht in allem Zauber 
herrlichſter Ausficht erſcheine; und doch tft diefer Zauber abermals 
gröfte Einfalt, fimple Wahrheit. So erfcheinen die hohen Lehren 
der Auferftehung, der Erhöhung Jeſu, der Erlöfung der 
Menſchen durd fein Blut, ihrer Auferftehung, ihrer Herr- 
lichfeit mit ihm, und des ftillen Chriftuslebens, in dem fie 
ihm bier leben und feine Zufunft erwarten. Ein großer Poetifcher 
Commentar wäre zu jchreiben, wenn man die Bilder der Dffen- 


barung mit den Bildern der Vropheten, mit den Worten und 371 


Gleichniſſen Chrifti verglihe, und in beiden die hohen Lehren, bie 
wie ewge Firfterne des Chriſtenthums daftehn und glänzen, zeigte. 
Sie ftehn und werden daſtehn in ewigen Jugendlichte. 

Hierüber find wir alfo Eins; und nun fragen Sie mid, wie 
ih mit meiner Hypotheſe auszukommen gedächte, wenn das Bud 
nah der Zerftörung Jeruſalems gefchrieben wäre? Mich dünkt, 
jehr wohl: das Gefiht nähıne Züge einer verlebten Begeben- 
beit, um die größere, deren Vorbild jene jeyn follte, dem 
Seher und Lefer, zumal der erften Seit, deſto furchtbarer, 
aber auch deſto kenntlicher zu malen. Johannes ſollte bleiben, 
bis Chriſtus kam: er blieb ſo lange, und erlebte in den Schick⸗ 
ſalen der untergehenden heiligen Stadt, ſo wie die ſchrecklichſte 





— 13 — 


Erfüllung von dem, was Chriftus gejagt Hatte, alfo auch die 
fürdhterlichften VBorboten von dem, iwas noch gefchehn follte. Mit 
Feuerflammen grub ſich alles in fein Herz, in fein Gedächtniß: 
lange trug ers vielleicht, wie Daniel feine Gefichte, bei fi; bis 
der Pofaunenhall und die Ericheinung am Tage des Herrn ihm 
nun plötzlich den Sinn dieſer Bilder, höhere Zufunft wies. Sonad) 

372 waren alle Züge des Gefichts ihn verftändlih: cr hatte fie als 
Glieder einer Begebenheit, ala Ahndungen einer Zukunft feines 
Herrn lange in ſich geheget; der Geiſt Jehovahs kam jebt und 
wehte die Funken an und machte fie zum Feuerbilde einer höhern, 
weitern, allgemeinern, eben jo gewiſſen, ihm eben fo gegenwärtigen 
Zukunft. Mich dünkt, m. Fr., diefer Standpunkt mache die Hypo- 
theje, oder befjer zu jagen, den Anblid des Buchs felbit leichter; 
und noch immer bliebe, fo wie die Weiffagung Chrifti, fo bie 
erlebte Zerftörung Jeruſalems Stof der Farben und Umriß der 
Bilder. Auf diefe Weife trennte fih nun die Deutung ganz von 
Harenberg und feinen Genofien, ohne deßwegen Bengeln einen 
Schritt näher zu treten; wer überhaupt jenem und dieſem in Aus- 
legung einzelner Bilder folgen, ober gar fagen will, „man müße 
„von Deutung einzelner Bilder auf einzelne Begebenheiten anfangen, 
„die Offenbarung Johannis auszulegen,” mwohlan! der folge, der 
zerftüde und deute. Ich gehe nicht mit, lafje mir auch den Haupt- 
anblid des Buchs nicht rauben: denn in allem, was Bild, Sym- 
bol, Gedicht ift, ift der Anblid des Ganzen Gemwährsmann und 
Wegweiſer zu Allem. 

373 Das kann Einmal niemand läugnen, daß ed Inhalt des 
Buchs ſei: Ein Serufalem geht unter, Ein andres geht 
auf, und in beivem fei Zukunft des Herrn. Auf diefe wird 
bereitet durh Ankündigung, Erfcheinung, Briefe, Stimmen und 
Namen, in Verheiffungen und Drohungen, liebreich und fchredlic. 
Die Erjcheinung defien, der auf dem Thron fißt mit dem ver- 
ſchloſſenen Buch, die Symbole der Entfiegelung,, die drauf folgende 
Trommeten und lebten Zeugen bereiten bierauf und führen in 
ihrer hieroglyphiſchen Sprache allmälig dahin. Ehe die Tepte 


— 14 — 


Trommete ertönet, ftehet der Engel mit dem Buche der neuen 
Verheißung da; fobald fic ertönet, find die Stimmen und Sym⸗ 
bole des neuen Königes und Reihe da, und von jebt an wett- 
eifern Boten und Gefichte, Engel und Chöre, um über dem Sturz 
des Einen den Triumph des andern zu zeigen: fo gehets bis zu 
des Buchs Ende. Das Lamm und die Ungeheuer, die Hure und 
bie erjcheinende neue Braut find offenbar dieſelbe Gegenſätze in 
andern Bildern; alles geht aljo an jo wenige und zarte Ende 
zufammen, daß es ein Tod des Buchs wäre, zu zerreifien, zu 
dehnen, aus= und durch einander zu werfen; alles aber jpricht für 


fih felbft, wenn man die Züge zuſammen ſetzt, und in Einem die 374 


Erklärung des Andern liefet. Erlauben Sie, indem ih das Buch 
blog als Poefie, ala Epopee der Ankunft eines höhern Reichs 
betrachte, noch einige Worte zu verlieren. 

Daß alle Chriften die Wiederfunft ihres auferwedten, gen 
Himmel genommenen Königs hofften, willen wir aus Evangeliften 
und Apofteln. Welche Anrede, welh ein Gruß fonnte nun erwar⸗ 
teter und berzlicher feyn, als 

— Gnad’” und Frieden Euh von dem, der ift 
und war und Tommt! 

Und von den fieben Geiftern feines Throns, 

und von dem treuen Zeugen, Jeſu Chrifto, 

dem Erjterwedten aus der Todten Schaar, 

dem Fürften aller Erdefürften, der 

uns liebete und wuſch mit feinem Blut 

von Sünden ung, und ftellet’ uns vor Gott 

ein Priefter - Königreih. Ihm ſey der Ruhm 

die Macht der Emigfeiten. Sieh er kommt 

in Wolfen, ihn wird fchauen jebes Aug’ 

und die ihn ftachen; meinen wird ob ihm 
jedwedes Boll der Erde. Amen Ya! 

Ich bin das A. und D., Anfang und End’, 
ſpricht Gott der Herr, der ift und mar und kommt, 
der Allbeherrfcher. 


375 


— 15 — 


Nun legt der Adler feine Schwingen, um ſogleich prächtiger auf- 
zufliegen, wenn die Erfcheinung deß, der tobt war und lebet, felbft 
anbebt: 


Ich war im Geift an meines Herren Tag’ 

und hörte hinter mir Trommetenſchall, 

der ſprach: Ich bin das A und O, 

der Erft’ und Letzte. Schreib’ — — Ich wandte mid, 

zu fehen, wer mir ſprach: und ſah, als ich 

mich wandte, fieben Leuchter Gold und fah 

in ihrer Mitte, wie des Menfchen - Sohn. 

Gekleidet war er im Zalar, die Bruft 

mit Gold gegürtet. Weiß fein Haupt und Haar 

wie Wolle, weiß mie Schnee. Es flammeten 
376 die Augen Feuerflammen. Silbererz 

im Ofen glühend, glühete fein Fuß: 

Die Stimme raufchete, jo raufcht das Meer, 

und fieben Stern’ bielt feine rechte Hand, 

und aus dem Munde baudht’ ein ſcharfes Schwert, 

zweifchneidig. Und fein Angeficht 

war, wie die Sonne glänzt in ihrer Macht. 

Ich jah und ſank zu feinen Füßen Bin, 

ein Todter. Da kam auf mich feine Hand: 

Erzittre nicht, ſprach er, ich bin der Erfte 

und Letzte und der Lebende. 

Todt war ich, fiehel und ich lebe 

von Ewigkeit zu Emigfeit. 

Des Todes und der Hölle Schlüßel 

find mein! — 


Wenn nun ber Alllebende weiter fpricht, und fich jedem der Sei- 
nen innig nahe und gegenmwärtig zeigt in feiner Kirche: er läßt 
das Schwert feines Mundes blinden und fchneiden, jeine Stimme 
rauschen, feine Augen bligen, feinen Fuß zermalmen; aber auch 
377 feine Hand aufrichten, die Sterne in ihr glänzen, und die Sieges⸗ 
Herders fämmtl. Werte. XI. 


— 1 — 


fränze aus der andern Welt, Paradies und Manna, SYerufalems 
Thore, und Pfeiler, das Buch des Lebens und den Thron von 
ferne herſchimmern — welch ein Eingang ift dies! melde Zube- 
reitung zum Buch voll feiner Gegenwart und Stimmen des Gei- 
fies! Was kann auf foldhe fiebenfahe Glanzpforte anders als 
folgender Tempeleintritt folgen: 

Ich ſah und fieh! im Himmel öfnete 

fih eine Thür, und jene Stimme fprady, 

die als Trommetenhall einft redete: 

Steig’ her, ih will dir zeigen, was nachher 

gefchehn fol. Alfobald war ich im Geiſt 

und fieh, e8 ward gejegt ein Thron im Himmel! 

Und auf dem Thron ſaß Einer. Der da faß 

war anzujhaun, wie Jalp- und Sardisglanz. 

Ein Regenbogen mar rings um den Thron, 

zu fhauen, wie Smaragd. Und um den Thron 

da waren vier-und zwanzig Stühle. Auf 

den Stühlen vier und zwanzig Xelteften, 

mit glänzenden Talaren angethan, 

auf ihren Häuptern güldne Kronen. Blite 

und Donnerftimmen gingen aus vom Thron 

und fieben Yadeln brannten vor dem Thron, 

bie fieben Geifter Gottes. Vor dem Thron 

war ein Gryftallmeer. Und in Thronesmitte 

und Thronesfreife, des Lebendigen 

ein vierfah Bild voll Augen um und um: 

Das erite Lebende dem Löwen gleich, 

das zweite gleich dem Stier, das dritte Menſch 

am Antlitz und das vierte Adlersflug. 

Sechs Flügel hatte jedes rings umher 

und Augen um und an; und Ruhe nie, 

nicht Nacht und Tag. Sie rufen: beilig, heilig, heilig 

ift Gott, der Herr, der Allgemwaltige, 

ber war und ift und kommt. — 


378 


379 


380 


— 147 — 


Ich vergeffe aufzuhören, denn der Geſang hebt fi immer mehr. 
Das vierfache Lebendige fällt nieder und preifet. Das verfiegelte 
Buch erjcheinet: der Aufruhr zmifchen Himmel und Erden, bie 
Angft geht an, daß niemand es zu Öfnen vermag, und fiehe, da 
tritt da3 Lamm hervor 

— ber Löw' 

aus Judah Stamm, der überwunden hat! 

Die Wurzel David, aufzuthun das Buch 

zu brechen ſeine Siegel. 


Es nimmt das Buch und die ganze Schöpfung erſchallet in Lob⸗ 
geſängen ſeiner Wohlthat: es bricht die Siegel und Erſcheinungen 
gehn hervor, Eine fürchterlicher als die andre, bis eine Höhe des 
Wehklagens, der Furcht, der Angſt wird, für der meine Hand 
ſchauert. Nun wird Stille, nun gefchieht die Auszeichnung, nun 
erfcheint die groſſe Schaar Erretteter 

— aus allen Völkern, Heiden, Sprachen, 

Sie ftanden vor dem Thron und vor dem Lamm 

mit weiflen Kleidern angethban und Palmen 

in ihren Händen, riefen allefammt 

mit groffer Stimme: Heil ſey unferm Gott, 

der auf dem Throne figet und dem Lamm! 

Und alle Engel ftanden um den Thron 

und um bie Aelteften und um die Vier 

Zebendigen, und janten vor dem Thron 

aufs Angeficht und beteten Gott an! 
Einer der Xelteften erklärt dem Seher die groffe Schar: 

— Sie find es, die entlommen find 

der groſſen Trübjal, denn fie reinigten 

und belleten ihr Kleid im Blut des Lamms. 

Drum find fie nun vor Gottes Thron, 

ihm dienend Tag und Nacht in feinem QTempel. 

Der auf dem Throne fitt, wird fie befchirmen, 

fie werden nicht mehr hungern, 

10 * 


no dürften: auf fie brennt nicht mehr die Sonne 
noch Eine Glut. Denn dort im Thron das Lamm 
wird weiden fie und leiten fie 

zu frühen Waflerquellen. 

Und Gott wird trodnen alle Thränen 

von ihren Augen. 


Erwarten Sie nit, daß ich fo reichlich fortfabre, denn fonit 
müßte ich alles abjchreiben, die fchöne Stille vor dem Kriegstumult 
und die fürdterlihen Kriegstrommeten, den ſchönen Friedensengel, 
der vor ber legten vorhergeht, und die heiligen, mächtigen, berr- 
lihen zmween Zeugen. Seht da die fiebende Trommete erjchallet, 
wird gleihfam das Thema des Buchs laut. Die Stimmen ruffen 
das kommende Reich im Himmel aus; Symbole am Himmel zeigen 
e8 der Erde. Das Weib erjcheint und gebiert den Tünftigen 
groffen König: der Drade ericheint und verfolget ihn bis zum 
Thron feines himmliſchen Vaters. Nun wird Streit im Himmel, 
auf Erden: nun verändern ſich die Bilder und alles ift wider ein⸗ 
ander, das erhabne, heilige Lamm und die unten mwütenden Unge⸗ 
heuer. Der Zornkelch wird eingefchenkt: die Sichel fchlägt zur 
Weinlefe, zur Ernte: die legten Pfannen voll Glut aus dem Tem⸗ 
pel Gottes, voll Angſt und Noth fallen nieder: die Stadt geht 
im fürchterlihen Brande unter. Sogleich nad allen vorherge- 
gangenen tröftenden Zwilchenftimmen und Symbolen wird Lobge- 


fang im Himmel, der Sieger erfcheint, hinweggeräumt werben bie 382 


Feinde, die erften Tobten erftehn, das Gericht wird gehalten, 
Serufalem kommt vom Himmel, die neue felige Zeit geht an. 


Sieh da, die Hütte Gottes bey den Menfchen, 
Er wird bey ihnen wohnen und fie werden 
fein Bolf ſeyn: 

Und er, der Gott bey ihnen 

ihr Gott jeyn. 

Und Gott wird trodnen alle Thränen 

von ihren Augen: Tod wird nicht mehr feyn, 


— 149 — 


noch Trauer, Müh und Klage wird mehr ſeyn, 
denn alles Erfte ift vergangen. 

der auf dem Thron ſaß, ſprach: 

Ich made alles neu! 

Und ſprach zu mir: 

Es ift gefhehen! — Ach bin A und O, 
Anfang und Ende. Ich, dem Durftenden 
geb’ ich vom Lebenswaſſerquell umfonft. 
Mer überwindet, wird dies Alles erben, 
ich werde Gott ihm feyn, 

Er wird mir Sohn feyn. 


Beliebts Ahnen, jo fteht Ihnen das ganze Mier. in diefem Syl⸗ 
benmans zu Dienft. Für heute gnug. 
lest, wie dem zu Muth ſeyn muß, der den ganzen Sinn und 
Zweck des Buchs auf Serufalem deutet, oder der im ganzen Werf 
nichts Schönes findet, weil e8 — einmal einige zweibeutige Urtheile 
gegen fich gehabt Hat, oder ber es in heiliger Wuth deßhalb gar 


baffet und verachtet. — 


Vetabo, sub iisdem 
sit trabibus, fragilemque mecum 
solvat faselum — — eben Sie wohl. 


Und denken Sie zu guter 





IV. 
Stücke ans älteren Nedactionen der erfien drei Sammlungen 1780. 


1. 
[Nachſchrift zu Theil I. IL] 


Doch was tommt mir da? Ein Bund gebrudter Bücher und unter 
biefen auch Briefe, das Studium der Theologie betreffend — 
meine Briefe. Nun m. Fr. da baden Sie für Ihr Stubium der Theologie, 
wie foll ich ſagen? fchlecht oder gut geforget. Die Zeit mags lehren! ich 
wollte indeß, ich läugne e8 nicht, das Wort ſchlecht und nicht gut fchrei= 
‘ben, nad meinem erften Eindruck. WPrivatbriefe mit freien Meinungen bie 
und da, zumal über eine folche Sache, als in unfern Zeiten die Theologie 
ift, leſen fich gebrudt nicht, wie fie fich gefchrieben Iafen. Es fehlt ihnen 
Sand und Siegel, der Bein und gleihfam die Gegenwart des Freundes: 
fie ſtehen als Anfchlagezettel auf dem Markt, oder gar als ein kritiſches 
Allgemeingefhwäp da, woran es und beiden doch gewiß micht gelegen war: 
fie werden jett nicht vom Freunde, fonbern eher vom Feinde, vom Auflaurer, 
furz von jedermann mit allerlei Sinn und Blid gelefen. — — — — — 

Wir find Gottlob in die Zeiten gerathen; ba es kein ärgere Schimpf⸗ 
wort giebt, als daß jemand noch Chriftentbum babe und fi von Bibel 
und Evangelium, als von Wort und Lehre Gotte8 zu reden getraue. So⸗ 
gleich ift er aller Läfterung wertb, bie auf ihn auch mit einer Kühnheit 
und Kedheit geworfen wird, von ber faum eine andre Zeit Begriff hatte. 
Man verzeibt ſich dabei die ungereimteften Lügen, Unwahrheiten, über bie 
jeder errötbet, nur micht der, der fie ins Publicum fchreibt. Man bat von 
mir eine Reihe dergleichen gefchrieben, und noch neufich habe ich mit Erftau- 
nen lejen müſſen, daß ich ven Grotius für einen Buben halte. Den Gro— 
tius? ich? der diefen Mann bei jeder Gelegenheit (Sie haben mid ja auch 
mündlich von ihm fprecdyen gehört!) nicht anders als mit der größten Hoch⸗ 
achtung nerme und wo ich auch nicht feiner Meinung bin, z. &. über feine 
Lehre von ber Gnugthuung, u. bgl., die ja feine beften Freunde nicht 
befriedigte, ihn für einen Mann balte, der und auch in der Theologie jo 


— 151 — 


viel, viel Licht gegeben — — Aber, fo gehts! man fchreibt Ted in die 
Belt, und gerade die fchreiben am kedften, die wohl wißen,. daß man 
ihnen nicht antworten werbe — — interim aliquid haeret und unfer 
Bublitum nimmt alles auf. 

In alle diefem Betracht haben Sie mich mit Ausgabe biefer Briefe 
ſchlecht berathen: denn wißen Sie, woflr man fie halten und muftern 
wird? für etwas, dem Sie bei Ihrem beſcheidnen Titel: 

Briefe, das Studium ber Theologie betreffend 
gewiß vorbauen wollten u. ſ. f. IX, 272.) 

Indeſſen Hoffe ich, wird und mag aud bie Bekanntmachung bdiefer 
Briefe ihr Gutes haben, infonderheit wenn fie unbefangenen, jungen Lejern 
in die Hände kämen, und bie und da das Glüd bätten, ihre Freunde und 
Begmweifer zu werden. Aus einer Reihe von Erfahrungen mwenigftens find 
fie gefohrieben und wenn fie ſich feinen Lobſpruch anmaaſſen, wünſchten fie 
fih den, den Bafcal fo hoch⸗hält, daß man in ihnen feinen Autor, ſon— 
dern einen Menſchen fände,! einen Menfchen, ber ſich zeigt wie er ift, 
mit Tugenden und Fehlern. Ihr Berfaßer, der die Theologie für die höchſte 
Wißenſchaft eines Sterblicden hält, bilbet ſich nicht ein, bie Theologie, auch 
nur die Bibel ausftubirt zu haben, noch weniger fie in einige Briefe faßen 
zu tönnen: das wißen Sie, m. Fr., und wißen, wie wenig ich überhaupt 
von meiner Autorfhaft halte Web Babe ich in dieſen Privatbriefen gewiß 
niemanden tbun tünnen ober thun wollen; und wenn wir über manche 
Punkte anber® belehrt werben, (die Kunftrichter merben nicht ermangeln, 
uns des ihren zu belehren) fo haben wir vielleicht, wenn es der Rebe wertb 
ift Materie zu einem neuen Bändchen von Briefen, das Studium der 
Theologie betreffend: denn dieſe Herren fchreiben ja ihre Recenfionen 
eigentlich zu unferer Belehrung, daß wir von ihnen Theologie lernen. Und 
fo wollen wir denn lernen: fammeln Sie alſo die Recenfionen, als Briefe 
an Sie, den Herausgeber, fleißig. Ueber die beften Materien bin ich Ihnen 
ja überbem noch meine Meinung ſchuldig. Für beute und vielleicht ein 
Jahr gnug! Erlauben Sie, baß ich mit einigen fchönen Gedanken Baco's 
fhliefie: [X, 401 3.5 —402.] 


x 
1) Die erſte Reaction enthält das vollſtändige Eitat: „On w’attend peut-otre 
de voir vn auteur et on trouve vn homme, au lieu quo ceux qui ont le gout 
bon et qui en voyant vn livre, croyent trouver vn hLommıe, sont tout -surpris de 
trouver vn auteur. Ceux-la honorent la nature, qui lul apprennent, quelle 
peut parler de tout, m&öme de Theologie, Pascal.“ 





— 11 — 


2. 
Bier und dreiſſigſter Brief. 


Sie legen mir die Laft auf, von einigen neuern Schriften, bie in 
unfre Materien ſchlagen, meine Meinung zu fagen; gewiß eine Laft! Einige 
Schriften, die Sie nennen, babe ih gar noch nicht gelefen; von denen, bie 
ich gelefen babe, will ich fchreiben, do nur — meine Meinung, feinen 
Urtheilsfprucd, weder der Berbammung noch Seligpreifung. 

Steinbarts® Syſtem der reinen Bhilofopbie — er hate 
Glückſeligkeitslehre des Chriſtenthums nennen wollen — ift, wie 
mid dünkt, feinem Philoſophiſchen Theil nach ein ſchätzbares Buch, das 
manche wohl nicht fchreiben könnten, die es veradten. Gin ſehr klarer 
Blid auf die Dinge, bie er vor fi nimmt, eine bündige Kette von Bemer- 
fungen und Schlüßen, eine gewiße freiheit des Geiſtes und Leichtigleit des 
Stil unterfcheiden den Schriftfieller fehr: daher er auch fo ausgebreitet 
gelefen und gelobt worben.- Das Principium feiner Moral, freie, kind⸗ 
liche Liebe zu Gott, unferm Vaterl ift unmwiderfprechlich nicht nur 
für die Vernunft das edelfte, fondern auch fo jehr aus der Lehre und dem 
Sinn Ehrifi. Noch auffallender bat der Berfafler dies Alles gemacht, da 
er feine natürliche, kindliche, freie Moral den brüdenden, engen Grund- 
fügen ber Schule entgegenfetst, in der er, nach feinem Borbericht, erzogen 
worden und aus welcher er fich zu biefer freien, Lichten Gottesanficht, wie 
er jagt, nicht ohne Milde beroorgearbeitet. So weit ift, dünkt mich, das 
Buch unwiderſprechlich ſchöͤn und braudbar. — — 

Nun aber wundert® mid, warum ber Berf. nicht, ohne fich weitern 
Anftoß zu ſuchen und berzubolen, fein Gebäude auf die freie lichte Höhe, 
die er erftiegen zu baben glaubt, frei aufführt? warum er immer in bie 
Tiefe des Nebelthals, wie e8 ihm dünkt, vom Athanafifch- Auguftinifch= 
Anſelmiſchen Syſtem zurüdblidt, und die nicht an dem ruhigen Orte läßet, 
wo ibm fo wohl iſt? Die meiften diefer Lehren find, nabe betrachtet, 
wirklich nicht das, wofür fie der Berf. anfteht; wenigſtens. find fies nicht 
im Bortrage beßerer, ältern und neuern Theologen, und gewiß 
nit im Munde der Schrift, die uns endlich ber erfte Theolog feyn 
muß. Auch nah der Geſchichte find die Dogmata nicht fo verftanben, 
wie fie der Autor vorftellt, und den beften Gefichtspuntt zur Anwendung 
bat er ihnen nicht gegeben. Bom U. T. Hält ber Berf. fo wenig, baß 
manche Ausdrüde darüber ärgerlich find, felbft wenn er daſſelbe aud nur 
al® zubereitende Gefhichte zur Erſcheinung Ehrifti betrachten wollte. 
Auch als folches verbient es ftubirt zu werben: denn Chriſtus ftudirte es, 
und in jeder weltlichen Wißenfchaft Hält man die gemetifche Geſchichte, 





— 153 — 


die zu⸗ und vorbereitenden Schritte zum Syſtem für den wahren Kern 
ber Entdeckungen, für die bildendſte, lehrreichſte Lektüre. Im Schimmer ber 
Morgenröthe und bei jedem Schritt der fteigenden Sonne gibts Regungen 
und Schönheiten der Natur, die bei der höchſten Mittagshöhe nicht find; 
buch jene muß das Auge auf diefe bereitet und fortgeführt merben. 
Barum, warum ließ uns Gott biefen ganzen Gang einer lebendigen 
Geſchichte? etwa weil fie unnütz war? und follte fie unnütz feyn, weil biefer 
und jener fie nicht benugen mag, und beffen nicht werth findet? Bezieht 
fih nicht alle Folge auf die Borzeit, fo wie bie Vorzeit auf bie Folge 
umb alle Theile eines Gebäudes auf einander? und follte man bie Geſtalt, 
jelbft den Zmed Chriſti recht fehen können, wenn alle Anftalten und Zube- 
reitungen auf ihn in den Schatten gebrängt würden? Durch folche Dinge, 
m. Fr., laßen Sie fih nicht irre maden, das Syſtem bes A. und N. X. 
feinen Dnellen, ben Stuffen feiner Zubereitung, dem Faden 
feiner Entwidlung nah zu lieben und zu fludiren. Auch kehren Sie 
fih an feine Klaffifitation der Dolumente des Chriſtenthums nicht; 
fie find nicht fo verſchieden, als fie der Autor angibt. Diefe und andere 
Aenferungen der Art haben mir wehgethan, wie blutende Wunden im 
Buche ober im Geift des Autors; und fie gehörten doch alle zu feinem 
eigentlihden Zwede fo wenig. Da biefer eigentlih nur philopbile Moral 
feyn fol, warum fland biefe nicht allein? warım mifchte fie ſich in bie 
Geſchichte und in ein Syftem, das nur aus Geſchichte befteht und 
auf ihr ruhet? — Uebrigens ſchätze ich den Scarffinn und Bortrag des 
Verf. fehr, jo daß ich, was er verfproden bat, Unterrichts⸗ und Lehr⸗ 
bücher in mehren Wißenfchaften (mur nicht theologiſchen Inhalts), von 
ihm wünfde. Nicht tbeologifhen Inhalts: denn das eigentliche Syſtem 
der Schrift hat, dünkt mich, das Buch nicht berührt, vielmeniger umge⸗ 
floßen oder etwas an bie Stelle gelekt, was in jenem nicht urfpränglicher, 
beßer, kräftiger erſchiene — — — 


1) Im Mic. ſchließt fih Hier eine Beipreihung an von Leß Dogmatit, bann bie 
nadymals in Brief 34 aufgenommene Gtelle Über das Buch Bom Zwed Jeſu. 


Briefe | 


an 
nf YhAten, 
ee Cheophrom ve mizn 
fies ıb3 4 
(Briefe, das Studium der Theologie betreffend. Fünfter Teil). 


(1781.) 1808. 








ou 








Borberidt. 


— — — 


In den Briefen, das Studium der Theologie betreffend, 
die von den verſchiedenſten und der Sache verſtändigſten Rich⸗ 
tern wohl aufgenommen find, hatte ihr Berfaßer den . Zwed, 
dem ftudirenden Jünglinge während jeiner Akademiſchen Jahre 
zu Hülfe zu kommen und bie und da fein Urtheil zu leiten. 
Ein Syftem oder einen cursum Academicum zu geben,! deren 
wir ſchon ſehr viel und freilich für unſer Decennium feinen 
haben, war dabei feine Abficht nicht. 

In den vorangezeigten Briefen, die mit dem vorigen Bud) 
nicht anders zufammenhangen, als wie fih der Tag aus der 
Dämmerung des Morgens hebet, wird der Inhalt allgemeiner, 
und auch für foldhe, die nicht Theologen find, aber Religion 
und Theologie kennen wollen, wie der Verfaßer hofft, nicht 
unbelehrend feyn. Er führt feinen Theophron jetzt zur Ueber- 
fiht deßen, was er gelernt bat, zur freien Beurtheilung 
beßelben und allmählih zur Webung, infonberheit bei dem 
bildfamften und wichtigften Theile der Menichen, der Jugend. 


1) Die Worte „zu geben” fehlen im Mic. Sie ergeben ſich aus einer 
Stelle der Nachſchrift (vgl. ©. 150): „Wer möchte Bier ein Syſtem? 
wer lönnte e8, wem es ber Briefſchreiber geben wollte, andy nur ertragen?" 


A 12,8. Er begleitet ihn zulett in fein Amt und lehrt ihn die ver- 
ſchiedenſten Verhältniſſe der Menfchen kennen, auf welde 
Religion wirkt, und auf welde fie nicht wirkt: welche Lehren 
und Gebräude durch Mißbrauch und Unverftand gemein gewor- 
den und melde uriprünglide Achtung und Ehrfurdt jie ver- 
dienen; jo daß er feinen Zweck erreicht fühlte, wenn Diele 
Schrift ein Handbuh des Jünglinges, der von Alademien 
fommt, des angehenden Predigers und aud ein Lieblingsbuch 
derer würde, die Religion, Theologie, und ihre äußere Ein- 
richtung zu ſchätzen geſetzt oder zu lieben geneigt find. 


Inhalt 


Seite 
Briefe an Theophron. . 155 
Br. 1. Ueber Bollendung der Alabemifchen Laufbahn. zen. 161 
Br. 2. Wie die Bibel ald Gottes Wort zu lefen ſei? Bon 
der Ehräifchen Poeſie. Entwurf zu einem Werte, vom Geifte v 
derſelben. ..... 166 
Br. 3. Fortſetzung. Antwort auf Vorwürfe, betreffend das 
Unfittlide und Wilde mancher Ebräiſchen Poeſien. 173 


Br. 4. Ob Gott unmoraliſche Dinge in der Bibel befohlen habe? 
Ueberſicht der Geſchichte Iſraels nach dem Zwecke Gottes. Bon 
den ſpätern (apokryphiſchen) Schriftſtellern der Juden. Wie 
die in verſchiednen Zeiten ſo verſchiedne Auslegung der Schrift 
und fo verſchieden aus derſelben gezogene Lehre mit dem Zweck 
Gottes in Anfehung feiner Religion und Offenbarung beiteben 


lönne? ..... —R& 181 
Br. 9. Fortſetzung, die Geſchichte der Kirche hindurch. Bemer⸗ 
tungen über das fruchtbarſte Studium der letztern. „essen 194 


Br. 6. Bon der vermeinten Gefahr für das Chriſtenthum in 
unfern Zeiten: ob für daßelbe 8 fürchten ſei. Proteſtantiſche 
Religionsfreiheit. Toleranz. merkungen über die Natur 
von Religions⸗Revolutionen. 201 


[Aaus Br. 60 — Theil 5, Br. 10.] .... 210 














Erfter Brief. 


Ihre Akademiſche Laufbahn ift alſo geendet, glüdlich geendet. 
Ich freue mid, mein Freund, mit Ihnen; und wie gern möchte 
ih der Brabevta ſeyn, der Ihnen den Kranz reichte, wenn bier 
ſchon Kranz zu reihen wäre. Aber daran ift noch nicht zu geben- 
fen. Sie treten jet erft in die Schranten und find alfo noch 
fern vom Ziele. Nicht was Sie gelernt haben, fondern mozu 
Sieg lernten? wie glüdlich oder unglüdlihd Sie es durchs ganze 
Leben bin anwenden? Das ift ächtes Studium der Theologie, 
Sinn Gottes und göttliher Dinge, R0000orvn. 

Den Siegesläufern fteht der Kranz am Ende 
Der Laufbahn vor: 

Den Kämpfern um die Weisheit wird ihr Kranz 
Im Tode und in andrer Welt. 

Aus vielerlei Urſachen find unfere Akademien nicht dazu ein- 
gerichtet, daß fie praftifche Weiſe Einer Art, geſchweige ausge⸗ 
bildete Theologen hervorbringen fönnten, zu denen, wie mich dünkt, 
viel Meisheit des Lebens gehöret. Kinder fommen hinauf: unveife 
Sünglinge gehen meiftens hinunter. In fo kurzer Zeit lernen fie 
alles; haben aljo auch nad jo Furzer Zeit alles gelernet, und 
swar hörend alles gelernt, ohne Frage, ohne andringenden ein- 
zelnen Unterricht, ohne Gefpräh und Uebung. Dazu alles unter 
und durch einander gelernt, nachdem die Glode ſchlug, nachdem 
der KLectionenzettel es anlündigte, nachdem der Profeßor Beifall 
batte oder nahe wohnte. Und nicht immer in einer Form gelernt, 
die zum Vorbilde der Denkart des Jünglings, zu feiner Anwen⸗ 
dung, Weisheit und Glüdjeligleit diente: oft mit Gezänt und 
Gewäſch, verbrämt mit Zoten und Poßen, die für einen Weilen, 

Herders fänmtl. Werke. XI. 11 


— 12 — 


geſchweige einen Lehrer der Jugend, nicht gehören: oft mit ſcho⸗ 
Taftiicher Spigfündigfeit und kritiſcher Trodenheit, die für Den 
gröfieften Haufen der Hörenden ſchwerlich nutzbar feyn möchte; 
endlih doch immer entfernt von praktiſcher Anſicht, vieljähriger 
Uebung und der goldnen geprüften Lebensweisheit, die ſich nie 
aus Büchern, geſchweige durch ein Syitem, erlernen läßt. Wir 
Ihiden alle unſre Gerechtigkeit über Land, jagte jene Fakultät, 
darum haben und üben wir felbit feine; von wie manchen anderen 
Fakultäten möchte dies (ich ſpreche völlig ohne Neid und Misgunft) 
gelten. „Wir jchiden unſre Meisheit und Religion über Land; 
balbjährig kommen neue Zugvögel, die aufpiden, mas wir ihnen 
vormwerfen, und wieder wegziehn: wir reden und aus, oder fie 
faugen und aus, und in wenig Jahren werden wir bei den ewigen 
Mieberholungen und Ausleerungen unſer jelbft veraltete bürre 
Gebeine.” Das ift nun eben das traurige Schidfal unfrer Aka⸗ 
demien, das fih zum Theil nicht ändern läßt, zum Theil gewiß 
geändert werden wird, wenn unjern Guratoren die Augen auf. 
gehn und fie audh über Wißenfchaft und Bildung der ſchönſten 
Jugendjahre menſchlich denken lernen. Jetzt jucht jeder gute, 
infonderheit junge und muntre Lehrer gegen dieſe Austrodnung 
feiner Geiftesfäfte als feinen gefährlichiten Feind zu ftreben und 
jeder Lehrling von feinen Sinnen wird weit entfernt ſeyn, die 
enge Alademifche Form für das Mejen der Wißenfchaft zu halten 
und fi dieſe von feinem Lehrer und Catheder unabtrennlich zu 
denfen. Die Alademie ift ein Marftplag, wo Allerlei gum Ber- 
auf fteht, und wo er nun aud Allerlei, Gutes und Schlimmes, 
erwifcht hat; jegt Fehrt er in feine Heimath und dent: wozu kann 
ichs anwenden? was babe ich erhandelt? 

Unendlich hats mich gefreuet, mein Freund, daß Sie fchon 
während Ihrer Akademiſchen Jahre meife und vorfichtig an den 
fünftigen Gebrauh dachten. Sie wählten fih alte und junge 
Lehrer, und nugten beide auch in Anfehung der ausfchliefjenden 
Eigenſchaften und Bolllommenpheiten ihres Vortrags. Von jenen 
lernten Ste jung und munter benfen, frei urtheilen, erfinden, 


— 18 — 


wünjchen ; von dieſen weile ordnen, bejcheiden Hoffen und was ſchon 
da ift Iehrreih nugen und anmwenden. Und o wie liebten, wie 
ehrten Sie Ihre Lehrer! Wie dur einen Kuß des Zutrauens 
und der Freundſchaft Bingen Sie an ihrem Munde, an ihrer Seele! 
Als Sie mich zum letztenmal bejuchten, wie froh, mie beicheiden 
und gutmütbig ſprachen Sie über alles, was Sie und Ihre Lehrer 
anging! Theile Ihres Herzens waren diefe, und von Ihrem lieb⸗ 
ften und vertrauteften Lehrer ſprachen Sie ja, als ob ih den 
Perſius von feinem Cornutus ſprechen hörte. Die Fehler der 
ſchlechtern, mit denen Sie alfo auch weniger Gemeinschaft hatten, 
bededten Sie oder erflärten Sie mit einer jugendlichen Güte und 
Billigfeit, ald ob ein mwohlgerathner Sohn von böfen Eltern oder 
Blutsfreunden ſprechen müßte. Und endlih, mie entfernt waren 
Sie von jenem Gaßen- und Bubenftol;, von jener unmißenven 
Anfgeblafenheit, mit der fo viele verdorbne und kaum mehr gut 
zu machende Jünglinge von Akademien kommen. Sie jagten nicht: 
„ih babe bei dem Apoſtel Baulus, ja bei Einem, ber mehr als 
„Baulus ift, weil er ihn beßer verfteht, ala Paulus fich jelbft 
„verftanden bat, logirt! beim Sankt Johannes habe ich geſpeiſt! 
„beim S. Chryjoftonus bin ich im Seminarium gewefen, und 
„Luther und Melanchthon waren meine Herzensfreunde;“ wie ich 
dergleichen oft mit Entjegen und Abſcheu gehört habe. Die groffen 
Geftalten der Vormelt jchwebten Ihnen als Sterne vor, die den 
Lauf Yhres Schiffes lenkten, die Sie aber nicht Heftweife in Fächer 
gepadt und in Tonnen gefalzen mit fich führten. D Freund, biefe 
ftile Gluth, dies warme, unjchuldige, beſcheidne und doc fo hoch 
und edel emporfchlagende Herz, wie ſehr habe ichs in Ihnen gelie- 
bet, ja wie oft in Ihnen beneibet und aud meinen Söhnen 


gewünſchet! Ziehen Sie aljo glüdlih in Ihr Vaterland, in Ihre 
einfame Landheimat ; jeder ſchöne Hain wird Ihnen Akademie und | 


Tempel, hr Kleines Zimmer Stoa und Pöcile jeyn. Die Hülfe, 
die Sie Ihrem alten Bater ermweifen, der Unterricht Ihrer jüngern 


Geſchwiſter, der auf Sie wartet, der Kreis Ihrer Verwandten 
und Freunde, auch der Umgang der Freunde Ihres Vaters, von ; 


11* 


RR ‚el 





— 164 — 


denen Sie mir ſo viel Hochachtungswürdiges, Gutes und Rühren- 
des erzählt — alles dies ift die ſchönſte Laufbahn, die Sie ſich 
nah der Akademie wählen und wünſchen lünnen, und ich möchte 
mit Ihnen wieder jung feyn, um die Freude zu empfinden, wenn 
Sie Ihre grünen vaterländiichen Berge und Auen und Fluren? und 
Seen und Hütten wieberfehen, die Sie an lauter Auftritte Der 
ſchönſten Zeit Ihres Lebens, der Kindheit und Jugend erinnern 
werden. Meine Briefe, wenn Ihnen etwas daran liegt, jollen 
Sie oft beſuchen, und die reiche Ausfaat derer, die ih noch zu 
beantworten babe, foll Ihnen, wie ich hoffe und mwünfde, eine 
glüdlihde Ernte werden. Vorzüglich wollen wir und an unfer 
beiverjeitiges Tag - und Lebenswert, Studium ber Theologie, der 
Religion und Amtsführung halten. Nun läßt fich überfehen, was 
Sie gelernt haben: denn der Gang ift vollendet: ich kann zu Ihnen 
viel freier reden, als ich damals reden mußte. Nun läßt ſich auch 
berzbafter reden, was fünftig Ihr Werk fegn wird: denn Sie 
fangen es an, Sie legen die Hand an den Pflug und merden, wie 
ih hoffe, nie zurüdiehn. Wie angenehm wirb es mir feyn, in 
alle Ihre verjchiednen Situationen einzugehen und Ihre erften 
Empfindungen bei jedem Verſuch, bei jeder Uebung, mit der 
jugendlichen Offenherzigkeit in mein Herz gegoßen zu fühlen, wie 
ichs von Ihnen gewohnt bin. Ich werde Ahnen in diejer nicht 
nachbleiben und oft um Sie feyn, wenn Sie meine Briefe em- 
pfangen, lejen und auch in Anwendung berjelben an mich denten. 
Vergeßen Sie nit, m. Fr., Sie find jet in der Blüthe des 
Lebens. Auf der Univerfität mußten Sie oft Ameife ſeyn, jetzt 
jeien Sie zurüd- und vorwärts- und auf allen Seiten umber bie 
honigſuchende, unverbroßene, alles wohlordnende, fleiſſige, nügliche 
Biene. Leben Sie wohl. 





1) 8.: Flur 








weiter Brief. 


Ich merkte e8 wohl, daß Ihre eriten Zweifel die Saite treffen 
würden, die Sie auch während Ihres Aufenthaltes auf Akademien 
zumeilen berührten, nämlih, daß Ahnen das Lejen der Bibel fo 
geftört und entweiht fei. Sie können den kritiſchen Blick nicht los 
werben, zu dem fich einmal Ihr Auge gewöhnet: die Bücher bes 
A. T. dringen fih Ihnen unvermerft ala alte, vielleicht unvoll- 
ftändige, unkritiſch geordnete oder gar verftümmelte, dem größten 
Theil nad) poetifche Nefte des Morgenlandes auf, an denen wir 
immer noch zu fliden und auszubehern hätten oder die wir nicht 
dichteriſch und poetiſch gnug darzuftellen wüßten. Im N. T. gebe 
es Ahnen faft noch übler. Der kritiſche Gefichtspunft bei den 
Büchern deßelben made fie beinah zu kahlen Stoppeln und Ueber- 
bleibfeln der Ernte von falfhen Evangelien und Schriften ber 
Idioten, die die erjte Kirche überdedt Hätten. Sie wißen nicht 
gnug zu jagen, wie jehr der Eindrud Ihren Geiſt verwirre und 
Ihr Herz zerreiffe. Sie wollen mande Fritiiche Gelehrſamkeit Ihrer 
Hefte aufgeben und wünſchen fi dagegen die Unſchuld, die Rein⸗ 
beit und Einfalt wieder, mit welder Sie in Ihrer Kindheit 
Moſen und Hiob, die Palmen und die Propheten, Johannes und 
Chriftus laſen. 

Fühlen Sie ganz, m. Fr., den Mangel Ihrer Seele und 
machen fich denſelben nicht leicht; faßen Sie aber auch Herz, alle 
Schiefheiten zu überwinden, Berg und Thal zu ebnen, und wieder 
zu dem geraden Sinn zu gelangen, der Sie in Ihrer Jugend 
einft beglüdte und ohne den wir nie glüdlich werden können. 
Kein Bub in der Welt Tieft fih gut ohne innere Luft und 
Freude. Mer den Homer nur kritiih, als Pedant oder Schul- 
meifter lieſt, lieft ihn gewiß fchleht und wird nit, was er in 
fid hat, empfinden; gejchweige wer ein miorgenländifches Bud, das 
zur Critik nicht gefchrieben ift, wer Gottes Wort fo liefet. Wie 
ein Kind die Stimme feines Vaters, mie ber Geliebte die Stimme 
feiner Braut, jo hören Sie Gottes Stimme in der Schrift und 





— 166 — 


vernehmen den Laut der Ewigkeit, der in ihr tönet. Sch gebe 
Ihnen einige Rathihläge an die Hand, die ich bewährt gefunden 
babe, da ich auch an diefer Krankheit lag und mir das Wort Got- 
tes, wie Sie fih ftarf und wahr ausdrüden, in der Hand ber 
Eritit vorlam, wie cine ausgebrüdte Citrone; Gottlob! es ift mir 
jegt wieder eine Frucht, die auf ihrem Lebensbaum blühet. 

Zuerft. Lejen Sie die Bibel nicht vermilcht, Jondern in ein- 
zelnen Büchern, in denen Sie eine Beit lang, die beften Stunden 
des Tages, gleihjam ganz leben. Wählen Sie dazu die heiterften, 
etwa die Morgenftunden, und trinken tief, jo viel möglich jeßo 
ohne Critik, den Geiſt des Autors. Vermeiden Ste, jo viel Sie 
Iönnen, bie fchönen neuen holprigen Ueberfegungen, zumal in Jam⸗ 
ben, oder in noch fünftlichern Sylbenmaaſſen, die meiftend ben 
Sinn und Geift des Driginals rein wegnehmen. Hören Sie bei 
poetiichen Büchern den einfältigen wiederholenden Chorgejang; bei 
biftorifchen Schriften gehen Sie gleichfalls zurüd in die Kindheit 
ber Welt, in die Armuth und Dürftigkeit ihrer Verfaßer. In 
diefer armen Hütte wohnt Gott: zu diefer Kindheit ſpricht ihr Vater. 

Zweitens. Suchen Sie do ja nicht in diefen Büchern Kunft, 
Schminke, erbettelte Schönheit, jondern Wahrheit, Empfindung, 
Einfalt, und erinnern Sie ſich hiebei an viele meiner Briefe. So 
manchmal Sie mid) damals nicht begreifen fonnten und mir wider: 
ſprachen; fo fehr werden Sies jetzt, und für diefe Wahrheit und 
Einfalt Gott preifen. Die höchſte Natur ift immer Poeſie: bie 
tieffte Empfindung fpridt immer erhaben. Die Wilden verftehen 
fih alle bei ihren ſtarken fortreißenden Bildern, und die Leiden- 
Ihaft braucht feine Poetik, ſich, wie fie ift, darzuftellen und zu 
ſchildern. Oft wenn Ihnen Bilder diefer Art fern zu liegen und 
weit bergeholt fcheinen: fo erinnern Sie fih, es ift ein altes, 
morgenlänbifches Buch, das Sie lefen. Diefe Leute hatten einen 
andern Gefichtöfreis, eine andre Sprache, ala wir; mas ung fern 
dünkt, konnte ihrem Herzen und ihrer Einbildungskraft am nächften 
liegen. Ein Gequälter ſpricht und jeufzet noch immer, wie Hiob 
feufzet, wenn auch nicht in dem Fortgange von Bildern und hoher 














— 167 — 


Sprache. Mögen es Einvrüde meiner Kindheit ſeyn oder ein 
Traum der Gewohnheit, die frappanteiten Stellen in der Bibel 
dünfen mir von der höchſten und zugleich fo einfahen Natur zu 
ſeyn, daß ih auß aller Welt nichts an ihre Stelle zu ſetzen 
wünſchte. Wenn ih da in gelehrten Kommentaren und Para⸗ 
phrafen oder gar auf der Kanzel viel von Bilderſprache und Bil- 
derſprache ſprechen höre, die man in unser gutes, reinverftänbliches, 
d. i. metaphyſiſches, abftraftes und verftändliches Deutich überjegen 
müfle: fo weiß ich oft nicht, wo ich bin ſoll. Jene Sprade ver- 
fteht alle Welt, weil fie die Sprade des menſchlichen Her- 
zens ift; dieſe Sprache verfteht niemand. 

Dritten. Um fih in die Einfalt, Stärfe und Würde ber 
Schrift zu erheben, nehmen Sie bisweilen einen der ältern Kom- 
mentare zur Hand, injonderheit aus dem Jahrhundert der Refor⸗ 
mation. Nicht eben um in jeder Stelle alles das zu finden, mas 
damals eine jede der Religionspartheien in fie legte: denn bei dem 
damaligen euer des Streits traf eine jede derſelben ihr Syftem 
an, mo fied nur antreffen wollte; jondern weil man damals noch 
Sachen im Worte Gottes fuchte, nicht blos Sylben und etwa 
den literarischen Sinn in der dürftigften Anſicht. Es fteht Ihnen 
frei, Hinweg zu thun, mas Sie fremde und ungehörig finden; 
aber die Wahrheit verfündende, herzliche Manier der Kommenta- 
toren machen Sie fih zu eigen, und wenn nicht mehr, jo ſtehen 
die gemeiniglich gröffer gebrudten Worte des bibliichen Tertes unter 
den fleinern Buchſtaben des Kommentars da, wie Palläfte unter 
Hütten, wie Niefen unter den Zwergen. Das opposita juxta se 
posita kommt da Ihrem Auge und Gemüth zu Hülfe, und es ent- 
wideln fih Gedanken Ihrer Seele, die oft weit gnug von bem 
oft nur einfeitigen, zeitmäffigen und individuellen Kommentar 
abgehen. Der Paraphrajen aber entwöhnen Sie fih gänzlich. 

Viertend. Inſonderheit laßen Sie fih dur alles Flittergold, 
das man neuerer Zeit den biblifchen Poeſien anheftet, nichts von 
dem, was Gang der Geſchichte, hiſtoriſche Wahrheit oder gar gött- 
liche Offenbarung iſt, rauben; ſonſt haben Sie nichts gewonnen 


N 


— 18 — 


und alles verlohren. Die jungen Poetafters , die einer hriftlichen 
Gemeine nichts als ein Füllhorn poetiiher Blumen am Wort 
Gottes vorzubalten wißen, find arme Tröpfe, und verlieren Sie 
für fi die innere Ueberzeugung, daß Sie an allen Anftalten Got- 
menschlicher Seelen haben, was hülfe Ihnen die buntefte perfiiche 
Tapete? Wird alle Sprache Gottes, werden alle Erſcheinungen 
und Wunder, die erhabeniten Charaktere der Menſchheit, die reich- 
sten Weißagungen und fchönften Ausfichten für unſern Geiſt in 
poetiihen Schaum und willführliche, menigftens abgelebte Dichtung 
aufgelöft: fo wünſchte ih, daß Sie dafür lieber Griehen und 
Römer läfen. Deren ihre Poeſie ift unftreitig runder, und die 
Kunft an derjelben beitimmter; die heiligen Dädalus - Säulen 
Drients find dagegen roh Werk, wenn man nämlih nidts als 
Menſchenwerk in ihnen zu juchen Luft bat. 

Ich muß mich über den lesten Punkt mehr erklären: denn 
hier liegt der Leichnam. Die ülteften Stüde der Bibel find 
unftreitig in der Urſprache der Menſchheit d. i. in Bildern, in der 
Sprade der Leidenſchaft und der Anfchauung beichrieben; es wäre 
nicht gut, weder jo rührend noch jo urkundlich treu und ficher, 
wenn fic anders befchrieben wären, Alfo muß man fie auch in 
diefer Iefen und fühlen; ja alles zu Hülfe nehmen, was uns in 
den Ton derſelben bringt, wie ich Ihnen früher oft gezeigt babe. 
Aber wenn e3 nun auch Poeſie ſeyn foll, daß Gott die Welt, daß 
er Menſchen im Paradieſe gefchaffen, daß dieſe ſich durch den erften 
kindlichen Ungehorſam daraus entfernt, daß er jelbft oder durch 
Engel den Menſchen erſchienen fei und ihre Erziehung und Bil- 
dung von früh auf fortleitend geführt habe: wenn es poetijcher 
Styl feyn fol, daß er Abraham erſchienen, daß Sodom und 
Gomorrha untergegangen find, daß er Mofen erwelt und bie 
Siraeliten durchs Meer geführet, daß er auf Sinai fein Gefeh 
gegeben und durch die Propheten geredet habe: m. Fr., wenn dem 
fo ift, verwünſche ih diefe ganze Poefie und wünſchte mir an 
ihrer Stelle die nadtfte, trodenfte Geſchichte. So müßte ich Doc, 





— 169 — 


was gefchehen und wie es gejchehen fei? jetzt weiß ich, wenn 
die Hypotheſe gelten joll, nichts rechtes mehr. Leſen Sie ein- 
mal die Bundert Hypotheſen, mit denen man an der Gefchichte 
des Falls, der Sündfluth, Bileams fchraubet. Leſen Sie ein- 
mal die neueften Dffenbarungen, der Walfifh, der den Jonas 
verſchlang, ſei ein Schiff geweſen, dad Wallfiſch geheifien, und 
von Gott gefandt, wie der König von England die Schwalbe 
oder den Pelikan ausfchidt; Elias fei nichts als vom Donner 
erihlagen; Elia habe das Eifen ſchwimmend gemadt d. i. er habe 
es durch ein Stüd Holz vom Grunde heraufgeholet, er habe bie 
Koloquinten eßbar gemacht, dadurch daß er Mehl dazu gerühret, 
weil das Mehl die Koloquinten fehr eßbar made; Bileam fei jelbft 
die Eſelin gewefen, wit der er den Dialog gehalten: „wie fommts, 
„daß meine alte Eſelin plöglich jo ſcheu wird? mag fie ſich nicht 
„etwa gar einbilden, einen Engel Gottes zu ſehen?“ u. dgl. un⸗ 
Statthaftes kindiſches Gewäſch mehr, wogegen man fi gern bie 
Hardtiſchen Hypotheien, daß Jonas im Wirthähaufe, zum 
Wallfiſch genannt, übernachtet, wieder zurückwünſchte: leſen 
Sie diefe Dinge, die von Meße zu Meße Parade nahen, Sie 
werden gern wieder in die Einfalt zurüdfehren, mit der Sie in 
Ihrer Kindheit diefe Gejchichten laſen und an feine Poeſie dachten. 
Lefen Sie die meiften neuen geichraubten Weberjegungen des A. 
und N.T., die auf Stelzen gehen und ordentlich nicht wißen, wie 
hoch fie ihre Füße ſetzen follen: Sie werden gern zur alten fimpeln 
Ueberjegung Luthers zurüdiehren. Das ift leider! das 2008 ber 
Menſchheit: man_übertreibt alle, auch_die beten Saden und Hypo⸗ 
thejen; und eben dadurch daß man übertreibt und zu beiden Seiten 
ausfchweift, findet man endlich die glüdliche Mitte der MWahrbeit. 
Wahrli es ift ein feiner Faden, der bie Bibel A. und N. T. 
infonderheit an denen Stellen durchgehet, in denen fih Bild und 
That, Geſchichte und Poeſie mifhet! Grobe Hände können ihn 
jelten verfolgen, noch meniger entwideln, ohne ihn zu zerreifien 
und zu vermwirren, ohne entweder der Poefie oder der Gefchichte 
wehe zu thun, die fih in ihm zu einem Ganzen fpinnet. Die 


J_12, syn. 


— 170 — 


Geſchichte der Ausleger, inſonderheit des A. T., beweiſet dies 
gnugſam, wie es auch ſchon Hieronymus und Erasmus erlannt 
haben. Da heißt es recht: auslegen gehört Gott zu, oder dem 
Mann, auf dem der Geiſt der Götter, der Genius alter Zeiten 
und gleichſam der Kindheit des Menſchengeſchlechts ruhet. Kom⸗ 
men Leute dazu, die von ihm nichts wißen, denen nichts fremder iſt 
als poetiſches Gefühl, inſonderheit des Morgenlandes: und wenn ſie 
die gröſſeſten Dogmatiker und Critiker von der Welt wären, die Pflanze 
entfärbt ſich von ihrem Anhauch, ſie verwelkt unter ihren Händen. 

Sie fehen felbft, m. Fr., daß ich Ihnen im kurzen Raume 
dieſes Briefes feine Anmweifung geben kann, mie biefer Faden bib⸗ 
liſcher Poeſie und Auslegung zu verfolgen if. Alles kommt auf 
Lolal - Umftände, auf Zeit, Ort, Zufammenhang, Abfiht und 
Genius des Schriftftellers, und am meiften auf den inneren guten 
Sinn deßen an, der da liefet. Das Leſen niorgenländifcher Poefien 
und Neifebefchreibungen, das Leſen anbrer Dichter überhaupt, 
erwedt den Sinn, mo er da ift; wo er nicht ift, kann er nicht 
erwedt werben, und es wäre beßer, manche Perſonen hätten feinen 
Dichter und feine Reifebefchreibung gelefen. Sch gebe Ihnen einige 
wenige Proben und Merkmale, die Sie in Entwidelung biejes 
freien Gewebes weiter verfolgen werden. — — —! 


* * 
* 


Ste _wünfchen eine Ausgabe der Bibel zu haben, in ber jedes 


Bud; und jedes Stüd eines Buchs ohne Kapitel- und Bersab- 
theilung in fein urfprüngliches Licht geſetzt, Poefie und Geſchichte 
forgfältig abgetrennt, und auch wo ihre Farben zujammenflieflen, 
diefe durch den Drud oder durch furze Anmerkungen richtig unter 





1) „Bon bier an [>= Theil 5. Brief 51, 8 Seiten 4° Miſe.] eregefirt 
ber Berfafier eine Reihe biblifcher Poeſien oder poetiich erzählter Geſchich- 
ten, von Lamechs Lied, Henochs Hinnahme, dem Thurmbau zu Babel, 
dem Stillftand ber Sonne auf Joſua Befehl u. a. Da aber biefe alle 
in dem fpäter erfehienenen Geift der Ebräifhen Poefie ausführlicher 
vorlommen, fo bleiben fie bier filglih weg." Anm. ©. Müllers. 








— 171 — 


ſchieden wären. Ich wünſche es auch, und noch mehr, ich muß 
Ihnen ſagen, daß ich ſeit Jahren ſchon mit dieſem Gedanken um- 
gegangen bin, und, wenn nicht, wie ich ſchwerlich glaube, durch 
den Druck und für die Welt, wenigſtens für mich und meine 
Freunde, ſie nicht als Bibel, ſondern als Sammlung alter Schrif⸗ 
ten alſo zu überſetzen und zu vollenden wünſche. Zum Voraus 
aber gehört ein Werk dazu, das ich Ihnen näher bejchreiben muß, 
weil es theils Ihre Zweifel ſehr auflöft, theild Sie überhaupt auf 
eine Bahn lenket, die es Ihnen nie gereuen wird, betreten 
zu haben. 

) ? Dies Werk nämlich handelte: von der Poefie der Ebräer, 

12,789! und würde fih mit dem grofjen und fehr verdienten Lowth nur, 2,57 
wenig begegnen, wie Sie aus der nähern Anzeige felbft einjehen 
werben. 

Zuförberft ginge eine Unterfuchung über die Sprade ber 
Ebräer voraus: was in ihrem Bau und Gebraud vor andern 
Poetifches fei? woher es fo jei? und mas falich hineingetragen 
werde? Dies wäre eine Philofophie nicht bloß über ihre fimple 
Form und Grammatik, jondern auch über die reihen Fundgruben 
und Origines der Sprache, dazu wir fehöne Vorarbeiten haben. 
Denn ih muß Ihnen nur fagen, daß ich gar nicht von der Mei- 
nung bin, daß die Ebräiſche Sprache zu heiligem und poetiſchem 
Gebrauh jo arm gewejen, ala man gemeiniglich annimmt. Site 
war nad) den wenigen Büchern über jo wenige Gegenftände, die 
wir haben, reich, jehr reich. Ihre Fundgruben find reich und 
vol tönenden Metalla: alles in der Spradhe ift Verbum, und 
alles was Verbum ift, mahlt, Handelt, tönt und lebet. Man 
glaubt lauter Chor und Rhythmus zu hören, jo wie man in ber 
Form und Beugung lauter Bilder und Hieroglyphen fiehet. Wüßten 
wir noch etwas von ihren Ton, von dem lebendigen Rhythmus 
der ccente, die auf ein finnliches Volk fo lebhaft wirken, meil 
fie vom Tanz oder von den Gebehrden unterftügt werben, die Die 
Stelle aller unfrer feinen und ftummern Linterfcheidungszeichen 
vertreten; gingen wir nur nicht meiftens durch eine jo überfeine, 


— 12 — 


fünftlide Grammatik, die ihrem urfprünglichen Bau oft ſehr frembe 
und ein junges Nabbinifches Machwerk ift, zur Sprade: wie 
ander8 würde uns von Jugend auf alles werden! Wüßten wir 
uns nun überdem von unfrer Denkart voll Beichaffenheiten und 
Abftraftionen zu entfernen, und in die Fülle jener Sinnlichkeit, 
jenes Lebens vol Anſchauung und Leidenſchaft zu wandern: wie 
anders würde fih Ohr und Geiſt zu einen fogenannten Hebrais- 
mus, der damals nichts als Ausprud der vollen Natur war, 
gewöhnen! Welch ein poetifches Wörterbud, wie eine ächt pbi- 
loſophiſche Grammatif und Poetik würde fih unfre Seele zu ihr 
ſchaffen! Sie find noch jung, m. Fr., und haben Beleſenheit, 
Genie und Fleiß gnug, helfen Sie mir zu dieſem Geſchäfte. 

Das zweite ‚rooAeyouevov wäre eine Art poetifher Kos= 
mologie aus den Urbegriffen der Ebräer, fo fern fie in ihren 
älteften Urkunden, ihrer Sprade oder in der Sprade und Bor- 
ftellungsart verwandter Nationen liegen: denn es ift ausgemacht, 
daß in diefer Fundgrube von Begriffen, mas ein Volt von Gott, 
der Welt, der Schöpfung, der Menfchheit und ferner nad feiner 
Sprache und älteften Traditionen denket, der Stof liegt zu feiner 
ganzen poetiihen Form und Weisheit. Nun iſts eben fo auöge- 
macht, daß viele dieſer herrlichen Ideen dem Volk Sirael nicht 
ausfchlieffend eigen find, fondern durch mehrere verwandte Völker 
und Dialekte laufen, wie ich zur Probe deffen dad Bud Hiob 
und bie Arabifche Sprache anführe. Auf viele folder alten Grund - 
und Urideen bauete noch Mahomed bei feiner Nation fort und 
Ihmüdte fie aus in feinem Koran. Diefe würde ich, auch bei 
mehreren Völkern, vergleichen, unterfuchen, welche Vorſtellungs⸗ 
arten aus den eriten Kapiteln Moſes am reichften fortgegangen? 
welche durch die Moſaiſche Geſetzgebung und die fernere Geſchichte 
abgebogen und minder urbar gemacht find? womit fie fo nachge- 
blieben? womit fie etwa erjegt find? u. f. 

Hiernach käme die dritte Vorbereitung, die eigentlichen 
Geſchlechtsnachrichten dieſes Volks von Abraham. bis 
zu Moſes. ch würde unterfuhen, mas zu ber fonberbaren 


— 13 — 


Auszeihnung dieſes Volks Gelegenheit gegeben; mas die Ideen 
von dem Bunde, den Gott mit den Vätern gemadt, von ihrer 
Lebensart, Reifen, Schickſalen, Segensſprüchen, Berbeifiungen u. f. 
theild auf Mofen, theils fpäterhin auf Dichter und Propheten 
gewirkt haben. Hieher käme die Entwicklung des Segens Jakobs 
und die ganze Geftalt von Hirtenpoefie, die die Sprache und 
Dichtkunſt dieſes Volks früh angenommen und nie verloren hat. 
Bergleihung mit andern, injonderheit morgenländifhen Völkern 
sthut auch bier das Befte, und die Einleitung des Sale zu feis 
nem Koran und das mandherlei Gute, womit Homer, Oßian 
und die Dichtkunſt andrer Völfer eingeleitet ift, mögen bier zur 
Probe dienen. Nächſtens rede ih Ihnen vom Werk felbft und 
beginne alsdann ſogleich mit Gottes erhabnem Knechte Moſes. 


Dritter Brief. 


In einem Bude von der Poeſie der Ebräer kommt 
Mofes als Dichter, als Geſetzgeber und als Held in Betrachtung; 
in dieſem dreifachen Charakter hat er auf den Getft feines Volks 
gewirtet. Sein Gefang am rothen Meere ift der Vorklang aller 
iſraelitiſchen Stegslieder, fein Lied am Ende des Lebens das 
Vorbild, ja ich möchte jagen die poetiſche Summe aller Propheten 
Iſraels, im Ton und Anklange, in feinem Inhalt, in feiner 
Hauptwendung. Sehen Sie nur den Anfang Jeſaias, des erha- 
benften der Propheten: warum ift diefes Stück vorausgefegt, als 
weil es wie Mofes Lied anfängt, und gleichſam das Crebitiv bez 
Propheten it? Segen und Fluch, Drohung und Verheißung, 
kurz Garizim und Ebal find der Inhalt aller Propheten, und 
wenn Mofes der Verfaßer des 90ten Pfalms ift, fo bat er das 
Mufter göttlicher Weisheit im ftillen Blick über das menfchliche 
Leben gegeben, dem auch die Weisheit der Propheten nachftrebte. 

Als Gefeßgeber wirkte Mofes auf den Geift feines Volks mit 
Rieſenſtärke. Daß er fie zum Ader- und Hirtenvolf made, 


— 14 — 


und jo viel es feyn konnte, Handel und Eroberung ausſchloß: daß 
er Theofratie, Tempel, PrieftertHum unter ihnen gründete 
und Iſrael zum Volk Gottes zu maden fuchte: daß er endlich 
das Recht der Propheten feftfegte, und neben den Prieſtern, 
ja felbft unter den Königen auf fie ald Dratel Gottes, ald Ret— 
ter des Staats wies; dies alles hat den Gang der Poefie unter 
den Ebräern ziemlich geleitet. Land- und Hirtenmäffig ift 
ihre Poeſie dem größten Theile nah. Länblid find ihre Bilder, 
im Hirten» und Aderleben der gröffefte Reichthum ihrer Sprache» 
(ih nehme die Sprade des Heiligthums aus); felbft die Sieges- 
lieder der Ebräer find urfprünglic landmäſſig, und die Prophe⸗ 
ten dem größten Theile nah noch mehr. Diefe Sproße ift bei 
den Ebräern hoch binaufgeblühet, wie viele Pfalmen und das 
Hohelied, ja das Siegslied der Deborah felbit bezeugen. Es müfte 
fehr angenehm und aufllärend feyn, dieſen Geift der Ebräiſchen 
Land» und Hirtenpoefie durch Die verfchiedensten Schriften des 
A.T. zu verfolgen. Aber noch ſchöner, daß fih der Palmzmeig 
des Heiligthums mit dem friedlichen Delzweige der Landpoefie 
zufammenjchlang: heilig ward ihre Pocfie, eine ehovah - Dpfer- 
und Tempelpoefie bis auf ©leichniße, bis auf die gemeinften 
Bilder. Bis zur Verwundrung groß tft der Reichtum der Sprache 
an Ausdrücken dieſer Gegenftände; und cs kommt nun auf treue 
Unterfußung an, melde Borftellungsarten unter dem Wolf herr- 
ſchend zu machen, es dem Moſes gelungen? welde andre er ver- 
drängen wollte? wie weit er fie verbränget habe? u. f. Hier wird 
von Jehovah, jeinem Geſetz, Tempel, Opfern, dem heiligen 
Lande, feiner Providenz, Engeln, dem Scheol die Rede: wie 
weit fein religiöfer und politiicher Entwurf je zur Ausführung 
gelommen? Wie weit ihn einzelne Propheten befolgt und erneuert 
haben? Die Erfiftenz der Propheten im Bolf nah Mofes Geſetz 
befommt bier jhre grofje Stelle: dies Geſetz rief fie auf, ſchränkte 
fie ein und gab ihren Gottes - Orafeln Zweck, Geift und Leben. 
Endlid die Geſchichte der Thaten Mojes. Sie fehen, 
m. Fr., wo id hinaus will, und ich darf mich nicht weitläuftig 


= 1 





— 15 — 


über alle Zeiten erklären. Bon melden Bildern und hohen 
Gedanken diefe Geſchichte eine Duelle gemefen? Was für Bor- 
ftellungsarten fie von andern benachbarten Völfern und Gegenden, 
3. E. Aegypten, Sinai, Arabien, Moab, Midian, Amalek, ver- 
anlaßt habe? Dieſe Gejchichte durch die Zeiten Joſua, der Rich⸗ 
ter, Samueld verfolgt und mit Jothams Fabel geihmüdt, mit 
der Deborah Siegögefange gefrönet, kommen wir zu ben Prophe- 
tenfhulen, die Samuel anlegte, der aber felbft nicht Dichter war, 
und endlih zur zweiten Blüthe der Ebrätfhen Poeſie. David 
und Salomo mit ihren unvermelflihden Pſalmen, Sprüden, 
Weisheits- und Hirtenliedern. Fürchten Sie nit, daß ich hier 
jo weitläuftig feyn werde, wie bei Mofes: der Boben ift zube- 
reitet und nun kann, was darauf wachen will, ſproßen und wach⸗ 
fen. Hier ift ein fchöner Garte morgenländifcher Dichtkunft: nur 
muß er nationell, zeitmäffig, und bie und da gar indivi— 
duell betrachtet werden: ſonſt verwüftet man ihn, ftatt ihn zu 
geniefien und anzubauen. Daß bei beiden Königen ſowohl ihre 
Thaten und Anftalten ala ihre Poefien jelbft in Betracht kommen, ! 
und überhaupt berubet das Intereßanteſte dieſer Periode auf ber 
Darftellung fchöner oder auf der Erklärung dunkler Stellen ihrer 
Schriften, wo noch bie und da die Arbeit fehr belohnet. 

Und fo kämen wir auf die dritte Periode, die Zeit Hiskia 
und der Propheten. Hier fommt der große Jeſaias ind Licht, 
auch mit der Wirkung, die er auf die folgenden gethan bat. Jeder 
Prophet würde in feinem Kreis, auf feine Vorbilder, Zeitum⸗ 
ftände, Zwede, Folgen zurüdgeführt, feinem etwas Binzugelogen, 
was er nicht bedarf; feinem etwas aus einer jüngern ober gar 
aus unfrer Zeit angebichtet, was ihm fremd if. Auch im finn- 
lihen Kreife feiner Ausfichten und feiner Zukunft wird feiner 
geftört und etwa mit geiſtigen Ideen, mit Metaphyſik überhäufet ; 
der Gang Gottes wird ſchlicht hinab verfolgt, wie er felbft bie 
Zeiten ordnete, die Geifter medte, die Welt in diefem neuen Kreife 


1) Ausgefallen ift etwa: „verftehet fich“ 








7.12, 703 * 


— 176 — 


allmählich aufklärte, aber immer auf ſeiner Hoffnung, in ſeinem 
Troft beveſtigte, ſtärlte. Sie merken leiht, m. Fr., daß Moſes, 
David und Jeſaias die Hauptformen ſeyn, auf die das Meiſte hier 
zurückkommt, und die ich inſonderheit wohl ausgebildet wünſchte. — 

Um Sie bei meinem grofien Plan, der vielleicht immer Plan 
bleiben wird, nicht darben zu laßen, will ich einige Folgen daraus 
ziehen, die Ihre Zweifel über das Unfittlihe und Wilde 
mander Ebräiſchen Poefien angehn, und wie ich hoffe, zur 
Ruhe legen. 

1) Der Ausdrud der Poeſie geht mit den Zeiten, 
den Sitten, der Denkart der Nation Eines Weges. Die 
Beichreibung muß der That felbit entipredden: der Ausdruck ridh- 
tet fich jebesmal nad) der innern Empfindung. Da nun die Sit- 
ten aller Nationen ober auch die Sitten einer Nation in verſchied⸗ 
nen Beitaltern einander nicht gleich feyn können, jo wäre es 
ungereimt, von den furdtjamen Hirtenvätern blutige Kriegslieber, 
und von einem umberirrenden, verwilderten Volke Geſänge des 
Hofs zu fodern. Zeiten des Kriegs bringen andre Gefänge hervor 
ala Zeiten des Friedens; und der Gejang der Heldin Deborah 
kann nicht Mingen, wie der 23fte Palm, oder wie das Hohelied 
Salomonis. 

2) Noch behutiamer muß man feyn, alte Nationen über ihren 
Grad des Wohlftandes und der gemeinen Moral nidt nad 
unſrer Zeit zu richten: denn fie haben ja nicht zu unfrer Seit 
gelebet, und beides find die feinften Blüthen und Refultate von 
den Verhältnißen der Zeitumftände. Griechen und Römer haben 
fo viel Unanftändiges, als es die Ebräer nicht haben; bei ihnen 
legt mans zureht und verhüllts, bier deckt mans auf und ver- 
ſpottets. Wer von einem morgenlänbifchen Wolfe die Sitten des 
Abendlandes, und von Amos dem Kuhhirten oder von Ezechiel in 
der Gefangenfchaft die Yeinheit an Ausdrud fobern will, die in 
der Geichichte der Urmwelt oder in den Salomonifchen Schriften, 
zumal im Hohenliede herrſchet, der weiß nicht, was er fobert. 
Die Schriften wären nicht aus der Zeit, von dem Voll, von den 





— 177 — 


Verfaßern, wenn ſie ſich alle gleich oder alleſammt wie das 
ausſähen, mas wir jährlich zur Meße tragen. 

3) Ueberall alfo muß man auf individuelle und Beit- 
umftände fehen, unter benen etwas zum Vorſchein fam und ja 
nicht alles in Alles miſchen und werfen. Abrahams Furchtſamkeit 
in Aegypten gehört fo gut an Ort und Stelle, als Simfons 
Kühnheit. Moſes Gejehgebung war jo verhältnißmäſſig und rela» 
tiv gut, ala jede gute Gefehgebung feyn muß und nicht anders 
als alfo jeyn kann; fie paßt nicht auf jedes andre in ber blinden 
Menge, das jagt Chriftus felber: Um eures Herzens Härtig- 
feit willen bat euch Mofes folde Geſetze gegeben; märet 
ihr gejcheuter,, zarter, williger geweſen, ihr hättet andre empfangen, 
denn au die euern habt ihr ja nicht gehalten. Das jagt 
Chriftus, und was würde er fagen, wenn er uns an biefen 
Gefegen hangend und in feinen Chriftengemeinen Davids Fluch⸗ 
pjalmen noch berfingend befuhte? Wo find eure Sebufiter, eure 
Philifter und Königsfeinde, die ihr verflucht ? und wie getraut ihr 
euch, das mir in den Mund zu legen, ber felbit, wenn er geichol- 
ten ward, nie wiederſchalt und fluhte? Laßet einen bedrängten, 
heftigen König, dem Thron und Leben fauer gnug ward, feinem 
Herzen Luft maden, und ihn in feinem Kreife, im Drange feiner 
Noth, fluchen, beten, hoffen, wünſchen, wie erö für gut findet; 
wer jeyb ihr aber, daß ihr, ganz aufler feinen Umſtänden, aufler 
feiner Welt von Empfindungen, ihm die Worte nachplerret, und 
damit nicht nur die Heiligkeit eurer Andacht ftöret, ſondern gar 
meine Perſon läftert? Aus allen Zeiten und Sitten jollt ihr 
lernen, dazu find fie euch und zwar fo treu vorgezeichnet; lernt 
ihr aber daraus, wenn ihr fie nachbetet? 

4) Der gröfiefte Mißbrauch von Allen ift, wenn man Gott 
zufchreibt, was in ber Bibel gethan und erzählt wird, follte es 
auch Satan in ihr thun oder erzählen; es fteht ja, jagt man, in 
der Bibel. Diefer Mißbrauch wird wirklich zum Unfinn, und doch 
begeht man ihn öfter, ald man denket. Weil David ein Mann 
nah dem Herzen Gottes, d. i. ein in feinen meiſten Hand» 

Herders fünmtl. Werfe. XI. 12 





— 1718 — 


lungen und Abfichten reblicher und fehr löblicher Yürft beißt, To 
muß er alles im Namen Gottes gethban, fo muß aud Gott burd) 
ihn die Sünde mit Urias und Bathjeba getan haben, über Die 
der Schuldige jo Bart büſſen mufte! Was fehlte Verdrehungen 
folder Art zur Gottesläfterung, wenn fie nicht offenbar ungereimt 
ind Auge fielen? Im Buch Gottes, der Bibel, fteht alles beichrie- 
ben, wie im Bud Gottes, der Natur, zwilhen Erb und Himmel, 
allerlei, Gutes und Böfes enthalten if. Annalen müßen treu 
befchrieben werden, und dieſes find Annalen der Menschheit. 

D, mein Freund, wenn Sie die Bibel mit menſchlichem 
Blick und Herzen durchgehn, wenn Sie aud den Faden der Ent- 
widlung Gottes nach Zeiten, Lebensart, Perſonen, Sitten ver- 
folgen, welche Wahrheit werden Sie finden, und bei allem Wun⸗ 
derbaren mancher Geſchichte welche aufpringende Wahrheit! Hier 
ift fein wunderbares Gemiſch von Yabeln und Dichtungen, wie in 
andern alten, zumal DMorgenländer - Sagen. Wie fimpel ift die 
Erzählung von den erſten Zeiten der Welt bis auf die Patriarchen, 
wo doch nah der Art aller andern Nationen die kühnften Lügen 
und Wundergeſchichten ftehen follten! Hier ift nichts dergleichen, 
ja zu mander jener ungeheuren Traditionen, wie 3. E. von Nie- 
fen, Himmelsftürmern u. dgl., finden wir bier den beſcheidnen fo 
natürlihen Aufſchluß. Die Art, wie Gott mit den Menfchen in 
diefem Zeitraum umgeht, Tann nicht natürlicher gedacht werben; 


aller Prunk, alles Ieere Blendwerk iſt fo entfernt von ber 


Erzählung, daß ja nicht einmal gejagt wird: wie Gott erfchienen 
ſei? in welder Geftalt er zu Menfchen geredet habe? Ein Blei- 
ches ifts mit der fimpeln, jo hirtenmäſſigen Erzählung von den 
Patriarhen. Nichts wird verfchönert, nicht? übertrieben; auch das 
Wunderbare wird fo natürlih, daß man in ihrem Zelt, bei ihren 
. Hütten und Heerben felbft fiten und Engel erwarten möchte. Wie 
ausgeipart ift überall die Erfcheinung! Abraham, der Vater des 
Glaubens, geniefjet fie oft; er zieht ald Fremdling umher und 
mit ihm follte der Grund des Bundes und der Verheißung gelegt 
werden. Dem Iſaak erfcheint das Geficht feltmer, nur bei dem 


— 19 — 


Altar feiner Opferung; cr muß gleihfam auf den Glauben feines 
Baters bauen und von ihm leben; dem Jakob nur in der Nadıt, 
nur im Traume. Ihr Zutrauen indeß zu dem Engel Gottes, ber 
fie begleitete, ift unerſchütterlich, wird ihnen gleihlam natürlich: 
ed iſt fchlichter Glaube ihrer Lebens- und Jugenderfahrung. Bei 
der Gefchichte Mofes fängt das höhere Wunderbare an; biefe 
Geſchichte mar aber auh Grund der ganzen Gefebgebung, die auf 
Zeiten und Jahrhunderte hinab feierlih gemacht werben follte. 
Nur durch folde Mittel konnte dem harten ungebilveten Wolf 
Auge und Ohr gleihfam mit Gewalt geöfnet werden. Die Aegyp- 
tiihen Wunder und Plagen richten ſich genau nad) den Begriffen 
des Negypterlandes, das feiner Gefehgebung, feinen Clima und 
Aberglauben nah in ciner Naht von Wunderkünften feiner Zau- 
berer lebte. Die Ausführung aus der Knechtſchaft und die Reife 
durchs Meer jollte jo wunderbar und aufferordentlich jeyn, damit 
es eine eigentliche Loskaufung wäre und Sirael feinem Gott und 
Herrn gleichſam Leibeigen zugehörte. Sie wurden aus dem Glut- 
ofen der Sklaverei errettet, wie fie fich felbft nicht erretten konn⸗ 
ten: im Meer wurden fie, wie Paulus Träftig und fcharffinnig 
jagt, auf Mofen getauft: in der Wüſte ala Kinder ernährt, damit. 
Iſrael Gott als fein Eritgebohrner, verirrter und wiedergefundner 
Sohn diente. Mofes bat alle diefe Umftände in feinem fünften 
Bud, zumal in feinem herrlichen legten Liede, jo treu erflärt, fo 
erhaben und andringend genußt, daß man ſieht, auch hier ift nichts 
verichönert, nichts durch die ſpätere Fama vergrößert worden. 
Alles muß zur Zeit Mofes aufgefchrieben feyn, denn feine Gejeße, 
feine Reden beziehen fi drauf und wideln fich gleihjam in bie 
Gefchichte ein. Die gröbiten Fehler und Ausfchweifungen des 
Volks find mit aufgeichrieben, fie werden dem Volke fo oft ins 
Angeficht wiederholet, die wunderbaren Wohlthaten der Ausführung, 
ber Gejebgebung, des Manna, des Tranks immer dabei angeführt, 
daß es gar nicht denkbar ift, wie fie ſich ſolche Sachen hundertmal 
ins Geſicht jagen laßen, wenn fie nicht vor ihren Augen gefchehen 
wären. Sie werden zu Tode gequält: fie fterben in der Wüſte: 
12* 


— 10 — 


Mofes felbft ftirbt auf das Bekenntniß — o freund, ſolche ganze 
Zeiträume von Geſchichten und ihren unläugbaren biftorifchen 
Folgen laßen ſich nicht erdenken; fie tragen auch bei alem Wun⸗ 
derbaren das Siegel der Wahrheit, des Orts, der Zeit, des 
Zwecks zu offenbar und urfundlih an fih. Wie die Ausführung 
aus Aegypten, fo follte auch der erfte Eintritt ins Land, ber 
Mebergang über den Jordan, die erfte Eroberung wunderbar wer⸗ 
den, fürs feige Volk ein Zeichen, daß Gott fie ins Land einführe, 
dag der Schall feiner Gegenwart bie Feinde bezwingen werde, Daß 
es aber auch nicht ihrer- fondern um feines Heiligthums willen 
gefchehe, wenn er ihnen diefe Stätte gönnet. Nun aber, nach 
diefer erjten Berfiherung fehmweigen auch alle Wunder. Ihr Arm 
muß für fie ftreiten, und fie felbjt die Folgen ihrer zu baldigen 
Ruhe und Gemädhlichkeit tragen. Späterhin werden ihnen Helden 
gewedt, aber auch Helden mit natürlichen Kräften; die Lade Got- 
tes erjeht ihnen ihre Schwachheit und Ohnmacht nit. Sie befom- 
men Könige, und wie natürlich bier alles zuging, mögen Sie 3. E. 
in Schuppius Salomo oder Regentenfpiegel Iefen: ein Schrift- 
fteller, der von Deutichland mit Unrecht vergeßen und voll ver- 
ftändiger vielfacher Bemerkungen if. Tout est comme ches nous, 
ift hier das Nefultat der Geſchichte. Der Staat blübte, ſank und 
verfant mittelft jehr natürlicher Urſachen, und die Propheten konn⸗ 
ten nichts als leider die Urfachen zeigen. Wenn ein Wundermann, 
wie Elias oder Elifa, dazwiſchentritt: wie ausgezeichnet ift feine 
Erſcheinung! Wie genau in die Zeit, die Umftände, unter die 
Könige und zu den Zweden, die fie felbft angeben, gehörig! Es 
waren die Testen himmlischen Stimmen, ein verjunfnes Boll zu 
retten: Baals Reich war im höchſten Flor: das Land im gröften 
Drud von innen und außen: der völlige Ruin nabte: fonnte noch 
etwas König und Volk vom PVerberben zurüdhalten, jo mußte es 
die Macht Elias ſeyn, aber auch diefe war jest ohnmädtig. Er 
ward verfolgt, war jeines Lebens überdrüßig, und Gott nahm 
ihn zu fi; mie auch die Offenbarung dieſen Zwed feiner als eines 
legten Zeugen in ihrem majeftätiichen Bilde darſtellt. Der Ruin 


—— *“ 


— 181 — 


alfo beider Königreiche folgte, und o wie traurig - natürlich iſt alles 
bei diefem Ruin! ſowohl bei der Gefangennehmung ald Rüdkunft 
von Babel. Da bauen fih feine Mauern auf den Klang der 
Harfe wieder! Die Geſchichte der Hohenpriefter, der Makkabäer, 
der Herodianer ift ja die natürlichfte Gejchichte der Erde. Nur 
Alles ift auch bier nationell erzählt, jede Begebenheit in der Farbe 
gezeichnet, die man an ihr ſah und mit dem Namen Yehovah 
Glück und Unglüd, Lafter und Strafen, Lob und Tadel, Alles, 
Alles gebunden. Er verftodt Pharao und ermedt Simfon: er 
läßt David das Volt zählen und firaft ihn darüber; er heißt 
Simei fluchen und bezahlt ihm die Bosheit; wer fieht nit, daß 
dies alles prophetiſch⸗ theokratiſcher Styl, Nationalton, kurz die 
eigne Farbe der Begebenheiten fei, die auch zur Treue ihrer Dar- 
ftellung gehöret. Doch ich weiß ja fein Ende und mie viel hätte 
ich noch über die poetische Geſchichte dieſes Volles, über das Wun- 
derbarsNatürlide in ihr, über den offenbaren Zweck Gottes bei 
und mit demjelben zu fagen! Ein andermal. Leben Sie mohl 
und ftubiren mit Kindern die Geſchichte, fo werden Sie überall 
ihren jchönen Aufſchluß finden. 


Bierter Brief. 


Was wollen Sie damit jagen, m. Fr., daß Gott unmoralifche 
Dinge in der Bibel befohlen habe? Welches find diefe? Kann 
ein Menſch von fo zartem Gemüth, wie Sie, einen Sieg, ein 
Opfer der Liebe, mie offenbar die Foderung an Abraham war, fo 
verfennen, daß fie Ihnen Lafter werde? Hatte ihm Gott den ein- 
jigen, geliebteften Sohn nicht lange verſprochen und endlich als 
das Ziel feines PVerlangens, ala den Grund des ganzen Bundes 
fünftiger Verheißungen, kurz als ein eigentliches Freundſchafts⸗ 
und Liebesgefchent gegeben? Da er ihn nun von ihm foberte, 
was ward anders, als Kampf der Liebe, ein Opfer ber Freund 
haft, das Gott dem Scheine nad foderte, um es ihm nit nur 


— 152 — 


zu laßen, (denn was mollte Gott mit dem Anaben?) fonbern als 
ben höchiten Sieg ber Treue gegen ihn aufs reichlichfte zu belohnen ? 
Das ift ja ganz in die Gejchichte verwebt, daß ich beinahe nichts 
Frecheres und Menſchlichkeitsloſeres kenne, ala die Einwürfe der 
Deiften gegen diefe Geſchichte. 

Der Befehl Gottes gegen die Kananiter ift Bart, aber fteht 
geradezu da; er war eine fürchterlihde Ausnahme und läßt ſich 
durch alle erbettelten politiichen Gründe nicht wegftreichen aus Der 
Geſchichte. Er ift ein harter Fall, wie bier ein Erbbeben, dort 
eine Waßer- und Hungersnoth, eine Dürre, Krieg und Peftilenz, 
die auh in Gottes Neid, nah feinem Befehl und Zulagen, 
gefchehen und fi nicht wegraiſonniren laßen von ber Erbe. 
Jene Eroberung geihah durch menjchlihe Hände; aber wie ungern 
gingen dieſe daran! fie jündigten ja nicht in excessu, jondern in 
defectu, und mußten jelbjt dafür büſſen. Alfo fieht man, daß 
biefe Reihe durchaus nicht in die Reihe blos menſchlicher Begeben- 
beiten gehört oder gehören fol, die fih durch ein altes Anrecht 
der Väter an ein Land, das fie vor Jahrhunderten jelbft geräumt 
batten, oder durch die Alternative, daß den Einwohnern ja noch 
die Beichneidung oder die Flucht möglih mar, ober durch das 
barte Kriegsrecht der damaligen Zeit, oder endlich gar durch bie 
übermadten Sünden der Nation pur menschlich rechtfertigen lieſſe. 
Wehe dem Volke, das ein anderes Volk austilgen will, um feine 
Sünden zu ftrafen! Wehe dem Götenpriefter, der ein Buch de 
optimo imperio s. commentarius in librum Josuae, ala eine Boli- 
tik für unfre Zeit jchreiben wollte! Dazu Steht das Faktum nicht 
da! Dafür habens die Iſraeliten ſelbſt nicht angefehen. In ſei⸗ 
nem Kriegsrecht befahl Moſes, der grünen Bäume aud in Feindes 
Land zu fohonen, und Menſchen jollten nicht geſchont werben? 
Dadurch daß ein Frembling, wie Abraham, einigemal das Land 
durchzieht, ſollen feine Nachkommen das Recht erhalten, nachdem 
fie fih Jahrhunderte in ein ander Land gewandt, es mit flürmen- 
der Hand zu crobern und feines Säuglinges zu ſchonen? Nim- 
mermehr! Und Redtfertigungen diefer Art, zu unfrer Zeit, wären 








— 18 — 


eine Schande der Menſchheit. Das harte Kriegsrecht der dama⸗ 
ligen Zeit kann entichuldigen, nicht‘ rechtfertigen: denn die Iſrae⸗ 
liten griffen an, und jene in ihren vermauerten Städten wohnten 
frieblih. Daß Mofes die Abgdtter feiner eignen Nation des Todes 
werth bielt, war eine andre Sache: dazu hatte er ala Gejehgeber 
Recht, aber über diefe Völker war er nach menſchlichem Rechte 
nicht Geſetzgeber. Ich rathe Ihnen alfo, daß Sie alle diefe Bet- 
telgründe, die eher die Sache verderben ala gut machen, fahren 
loßen und fih an das halten, was über die Begebenbeit in der 
Schrift felbit gefagt wird. Sie wird als ein hartes Fatum vor- 
geftellt und anbefohlen; ja das Volk muß dazu gezwungen werben, 
denn es will mit aller Gewalt zurüd und lieber nach Aegypten. 
Sie wird von Gott angeordnet, nicht vergangne Sünden der Nation 
zu ftrafen (mie viel andre Sünder lebten damals auf der Erde!) 
ſondern das Land von einer abgöttiſchen Nation frei zu machen, 
damit fein Heiligtum daſelbſt wohnen und biefes nicht durch jene 
verunreiniget werden möchte, wie ja, da Gottes Befehl nicht ganz 
in Erfüllung kam, fo oft geihah. Ausftoffen wollte er die Völker 
vor Sfrael ber durch ein panijches Schreden; er übernahm alfo 
felbft die Sache und will ſich zur Verantwortung fodern laßen, 
wie er fich über Peft und Erbbeben verantworten wird. MIN er 
aber das Land nicht auf einmal ausräumen, damit es nicht zu voll 
von Thieren werde: giebt er in feinem Geſetz die zärteften Befehle 
über die Armen und Fremdlinge, über Wittmen und Waifen, ja 
jelbft über die Jungen ber Vögel; wahrlih, jo wird es bem 
' Befehlshaber, der die Dijpofition nimmt, weder an Barmherzigkeit, 
noh an Urſachen des Verftandes gefehlt haben, jo und nid - 
anders das Schidjal für jet zu ordnen. Gut, daß es uns nicht 
traf! daß wir weder die ſeyn dürfen, bie dabei litten, noch bie 
Hände, die es ausführten! Offenbar jehen wir indeß, daß es 
Grund aller der Abfichten war, die Gott mit und durch Iſrael 
ausführen wollte! Dies Land gehörte fo fehr dazu, als feine 





1) Im Mſe. [- Theal5, Br. 53] fchließt ſich bier folgender 
Abſchnitt au: 





— IH — 


Lage und leſen Sie einmal, wie der Verfaßer bes Buchs der 
Weisheit den Gütigen rechtfertigt, der diesmal jo hart ift; es ifl, 
bünkt mich, alles, was fi) darüber jagen läßt. 


Sie fragen mid, m. Fr., „ob es wohl einen größern und eigenthüm⸗ 
lihern Zwed ber Offenbarung geben lönne, als eben die Richtung der 
Sittlihleit der Menſchen?“ Ich getraue mich nicht, hierüber zu 
enticheiden, da ich das Decorum Gottes nicht überſehe und e8 dem höchſten 
Weſen nicht vorzufchreiben wage, wie er das menſchliche Geſchlecht führen 
und leiten fol? Darf id aber nad dem, was Gott gethban bat, auf 
das fohließen, was er thun konnte und wollte, fo bünkt mid, er fing 
von dem Punkt au, von dem auch alle nahre Sittlichleit anfängt, ber 
Aufflärung des menſchlichen Geſchlechts durch fein Erlennt- 
niß. Mit diefem Grlänntniß hatte er das menſchliche Geſchlecht ausge» 
flattet, wie mit dem koftbarften Schatz der größeften TWahrbeit, aus ber mit 
der Zeit alle den Menfhen nöthige Wahrheiten der Weisheit und 
Sittlichleit entwidelt werben follten. Dieſe Wahrheit blieb vor der Sünd- 
fluth rein; der Menſch konnte in Lafter, nicht aber in Ab- oder Ungöt- 
terei verfallen, weil er dem Urfprunge ber Offenbarung näher war und 
das Leben der Väter des Geſchlechts länger währte. Nach der Sündfluth, 
da Gott die Wildheit und Verwirrung der Erdbewohner voransfah, gab 
er die Noachiſchen Gebote und ficherte nur infonderbeit das Leben ber 
Menfhen, ja er hemmte auch nur den Blutdurft der Menjchen gegen lebende 
Thiere. Je mehr die Nationen wuchſen und jede ſich auf ihren Mittelpuntt 
zufammenbrängte, beflo rauber wurben fie gegen Fremdlinge, gegen eine. 
Die Milde, mit der noch zu Abrahams Zeiten die Kriege geführt zu feyn 
fcheinen, und die man meiftend antrift, wenn Eleine Haufen des Raubes 
und Tributs wegen mit einander fämpfen, ſcheint abgenommen zu haben, 
je mebr die Böller in großen Schaaren auf einander drängten und vor 
einander die Thore fchloffen. In diefen Zeitpunkt traf Iſraels Krieg und 
viel fpätere Kriege der Griechen und Römer zeigen, wie entfernt noch 
damals die Ideen eine Natur- und Völkerrecht geweſen. Wie jung 
find fie felbft in Europa noch und wie jelten if ihre Ausübung! Gott 
mufte bei dem vermilderten Bolt, das er erwählte, noch mit ber erften 
Katehiimusfrage, daß mur Ein Gott fei, anfangen und auch diefe nicht 
als Lehre fondern als erſtes Staatsgeſetz, durch Verbote und Stra- 
fen, durch einen ganzen Gottesdienft, da er als König unter ihnen, 
zwar nicht in Geflalt, aber in einem Pallaſt erſchien und durch Alles, 
Alles an fi erinnerte, einfchärfen. Noch zeigt die Geſchichte, wie hart 
und ſchwer e8 ihm Jahrhunderte Hin fiel, diefe Xehre, nur als Inſtitut, 





— 155 — 


Es ift faum zu läugnen, daß aud die Lage dieſes Landes 
zu den Zwecken Gottes mit feinem Volk gehörte. Aus dem höhern 
Aften rief er den Abraham herab, und es hat alle Anzeichen des 
Altertbums und der Naturkunde vor fih, daß fih das Menſchen⸗ 
gejchleht von der Höhe Aftens herab, und feine Cultur von Dften 
nad Weften verbreitet Habe. Iſrael mußte in Aegypten dienen, 
und mie feine güldne Kleinode, fo aucd einige Schäße feiner Geſetz⸗ 
gebung und Einrichtung zum Raube erbeuten; nun bildete er fein 
Volk in der rauben Wüfte, nun pflanzte ers, wie Mofes fagt, 
zwiſchen feine heiligen furchtbaren Berge: unfern vom Meere, aber 
nicht bis ans Meer, auch war ihm der eigene Handel unterfagt: 
unfern von der Wüfte, aber nicht in ihr, nur durch fie wie durch 
eine Mauer gefihert. Auf der andern Seite war Libanon dieſer 
Zaun, und jo war die Gegend, nah Mojes unerfülltem Plan, 
rings umſchloßen von Wüfte, Meer und Gebirgen. Der milde 
Weinftod ward in den Mittelpunft der alten Welt, nah an die 
Küfte verpflanzt, von der Griechenland kurz vorher die Buchſtaben 
empfing, die Ufer Europens und Afrifas Golonien, und aus 
deren Thale die ganze Welt einft Weisheit und Religion empfangen 
jollte; denn gewiß, das haben wir doch von diefem Bolf empfangen, 


durch fo viele Gebräuche, Opfer und Strafen aufrecht zu erhalten unb bas 
ſinnliche Bolt nur für Abgötterei, Hurerei und Laftern zu bewahren. Dem 
unſchuldigen Beleibiger mußten Freiftäbte errichtet werben: felbft das Geſetz 
fonnte ibn nicht vor der Rache des Bluträchers ſchützen. So langſam 
gings mit der Sittlichkeit bes Menſchengeſchlechts in feinen großen Berbin- 
dungen des mancherlei Intereße unb der vielfachen heftigen Leidenſchaften; 
ja was ift endlich alle Sittlichleit ohne Erkenntniß? Sie ift nicht mög⸗ 
lich; fie ift micht daurend. Gott fing alfo vom rechten Anfange an, und 
pflanzte Ertenntniß, damit e8 durch fich felbft triebe und rechtichaffne 
Früchte brächte. Auch Sittlichleit gehörte zu diefen richten; bie Gott dem 
Baum nicht aufbängen fonnte, wenn fie der eigne Saft des Baums nicht 
lebendig hervortrieb. Das Geſetz hielt den Menſchen nur gefangen und 
umfchränfte ihn von außen, bamit er fi aus innerer eigner Beſtimmung 
mit ber Zeit befer und freier äußern könnte. Gott fing auch bier bie 
Schöpfung mit Licht an; aus welchem zus rechter Zeit bie Lebensvolle Sonne 
wurde. Leben Sie wohl. 





— 156 — 


fo verachtet uns auch fein Name feyn mag. Die Lehre des Einen 
Gottes hat dies Volk gegründet auf der Erde, und fie ift der 
Grund aller gejunden Theologie und Weltweisheit; Abgötterei und 
Götzendienſt hat die klügſten Völker bethört und Sahrtaufende bin 
in Lüften, Sinnlichkeit und Abfcheulichkeiten feitgehalten. Dies 
Volk bat die einfachſten und meileften Nachrichten vom Urjprunge 
bes Menſchengeſchlechts erhalten und gleihlam aus der Nadt der 
Zeiten und den Trümmern der Völkerwanderung gerettet; es giebt 
uns die ältefte Charte der Menſchenwohnungen und Erdengeſchlech⸗ 
ter. Sein Mofes wagte es zuerft, eine metaphyſiſche Lehre zur 
Grundfäule feines Staats zu maden, die Unfichtbarfeit, Einheit 
und höchſte Güte des Schöpfers der Welt für ein Volk zu natio- 
nalifiren und dieſem groffen Gedanten alles unterzuordnen. Als 
Griechenland noch in der tiefiten Barbarei lag, wagte er3, einen 
Freiftaat zu gründen, deſſen Oberherr, ein unfichtbares Wefen, 
nur Opfer der Xiche, des Danks und der Neinigfeit verlangte, 
und feine Befehle durch Licht und Recht ſpräche: deßen lieber 
brüderliche, von einander unabhängige Stämme, und ihr genaues 
beiliges Band Religion, Ein Gott und Ein Tempel wäre. Die 
Diener dieſes Gottes und Königs machte er von allem Eigenthum 
los, vertheilte fie überall umher, daß fie mit Gottesfurdt, Gefeten 
und Wißenſchaften alles Volk berathen, allen Stämmen zu Hülfe 
fommen follten. Einen irrdiſchen stönig ſchloß er zwar aus; er 
jahe ihn aber vorher und gab auch ihm feine Schranken, fein 
Königs» und Kriegsrecht. Den Verfall in Sitten dur Priefter 
jah er vorher; er gab ihnen aber die Propheten ala aufjerordent- 
liche Stimmen, als dicetatores und censores morum zu Hülfe; 
‚und welch ein Bolf in der Welt bat in fo frühen Zeiten eine 
Reihe jo mächtiger, jo reiner Stimmen gehabt, als Iſrael an ſei⸗ 
nen Propheten? Welchen Dichter Griechenlands oder Roms wagen 
wir, in Anfehung der erhabenen reinen Moral und des umfaßen- 
den Nationalgeiftes, neben einen Jeſaias zu ftellen? Und weld 
ein König der Aegypter, Scythen und Indier Bat wie David 
gejungen und gelehrt? Der Entwurf Gottes durch Moſen ift nie 


— 13171 — 


zur Vollkommenheit gelommen; was aber in Uebung fam, tft vor- 
treflih und für die ganze Welt erjprießlich gewefen — gerade ber 
Segen, zu welchem Iſrael in Abraham gefett ward. 

Als es feiner Abweichungen megen verfiel und nah Chaldäa 
und Babel zerjtreuet ward, breitete es feine Lehren von Einem 
Gott ſchwächer umher, weil es ſelbſt noch fo lange der Abgötterei 
und dem Aberglauben gedient hatte; als es aber, durch Züd- 
tigung klüger geworden, zurüdfam und jetzt felbft über feine 
vorigen Gögenbilder erröthete, ging auch mit ihm eine andre Zeit 
an. Man fing an, über das Geſetz und bie Propheten zu alle- 
gorifiren, einen neuen, vielfahen Sinn hineinzulegen, ber freilich 
dem alten Geſetz fremd war, der aber immer eine Erweiterung 
und Verfeinerung ihrer been, wenn aud am unredten Dit, 
zeigte. Man ſuchte das finnliche Gebot, die Geſchichte, Gelege 
und Hofnungen des Volks zu vergeiften, erfann fubtilere Deus 
tungen und Traditionen, um, menn fie das Geſetz nicht ändern 
fonnten, rationem legis zu verändern; je mehr man fich bei fei- 
nen Erwartungen trog, deſto höher jchrob man fie und legte fie 
immer in die nahe Zukunft: bis endlich Gott, wider ihr Erfen- 
nen und Wollen, auch dies gut machte und den in die Welt 
fandte, der den Zaun bes Geſetzes brach, der Geift aus dem 
Buchſtaben zog, und Leben aus dem Tode. Alle Allegorien, Hof: 
nungen und Berheiffungen hatten nur auf ihn bereitet; die Heiligen 
Gefäße, die man Chaldäern und Griechen geraubt und ala Deu- 
tungen in die fimple Stiftshütte des Geſetzes Gottes getragen hatte, 
wurden nun, zum Nutzen der ganzen Erde, ein Raub dieſes 
demüthigen Ueberwinders. 

Die Sache kommt mehr ins Licht, wenn wir die griechiichen 
Juden, ihre Ueberfegung, Auslegung und zulegt die Apokryphen 
betrachten, die fie den Ebräifhen Büchern zur Seite febten. Die 
fogenannte Ueberfegung der 70. Hat viel und weit umher gewir⸗ 
fet. Bor den Zeiten Chrifti war eine grofie Menge derer, bie 
oeßouevorı Tov Yeov, Gottesfürdtige hieſſen, ohne die Befchnei- 
dung und das ftrengere Geſetz Mofes anzunchmen. Ihre erhabenen 





— 188 — 


und reineren Begriffe von Gott, als die meiſten und ſelbſt die 
beſten der griechiſchen Weiſen gehabt hatten, breiteten ſich umher, 
wirkten auch in andern Geſtalten, und die Alexandriniſche Philo⸗ 
ſophie, die jüdiſche, heidniſche und chriſtliche Begriffe zufammen- 
miſchte, war ſpäterhin das Phänomenon dieſer groſſen Gährung. 
Die Allegorieſucht der griechiſchen Juden, die ſich auch ins Chri⸗ 
ſtenthum mengte, zeugte von einer Menge feinerer Ideen, bie 
man nur nicht zu laßen wußte und dem ſimpeln bibliſchen Text 
ſehr unzeitig anſchob. Sie wurden indeß verarbeitet: die Denkart 
erweiterte und verfeinte ſich; und ſelbſt unter den neuern hebräiſchen 
Commentatoren iſt eine Menge ſcharfſinniger Gedanken, die nur 
dadurch lächerlich werden, daß ſie auf einer unrechten Stelle ſtehen 
oder daß man ſie lächerlich anſieht. Die Apokryphen endlich — 
ſo ſehr man neueres Tages auf die Dummheit, den Stolz und die 
Betrugsſucht ihrer Verfaßer zu ſchelten gewohnt iſt (woraus nicht 
viel kommt, und was man ſchon oft gehört bat) — To nützlich 
und lehrreich waren für ihre Zeit die Einkleidungen und der Inhalt 
mancher. Das Buch Sirach iſt ein ſchönes Buch: eine Blüthen⸗ 
menge von Moral, wie man in der damaligen Zeit nirgends ſonſt 
findet. Das Buch der Weisheit bat ſchöne Stellen, und ſchon 
das, daß fein Verfaßer die Perfon Salomos annahm, zeigt, daß 
er alle Weisheit ausfhütten und an diefen Namen heften mwollte, 
die nur in feiner Gewalt war. Alle Bücher diefer Art unter 
fremdem Namen find gewiß nicht Betrug, wenigftens nicht immer 
ftolzer bösartiger Betrug geweſen. Man rief einen ehrmürbigen 
Schatten hervor, in deßen Munde die Wahrheit Autorität hatte: 
man gab jeinen Gedanken eine Einkleivung, die damals gang und 
gäbe war und bis in bie eriten Jahre des ChriftentHums hinunter 
dauerte. Auch ift diefe Mode nicht jüdiſchen ober chriftlichen 
Scäriftftellern allein bräuchlich geweſen, wie man bisweilen anzu- 
nehmen jcheint; fie war auch heidniſchen Philoſophen gemein, und 
e8 it nur Fehler des Zeitalter und der bald einbredenden Bar- 
barei geweſen, daß man echtes und Unächtes nicht zu unterjchei- 
den wußte und beides für Eins annahm. Wenn diefe Barbarei 








— 189 — 


nad Europa wiederläme, und man die Begebenheiten Telemadhs, 
die Reifen Cyrus oder den Phädo unfers deutſchen Plato für ächte 
Weberbleibjel der Griechen anfähe, hätten ihre PVerfaßer daran 
Schuld? Hatten fie diefen Betrug zur Abfiht? — Wenn man 
alfo auch in der damaligen Zeit Einkleidungen und Romane liebte, 
die wir heut zu Tage fo ſehr lieben und für unſchuldig halten, 
wenn fie nur gut find; warum mollen wirs nicht leiden, daß man 
Dihtungen, wie das Buh Tobiä, Yudith find, machte, oder 
dem Salomo, Eſra, Barud u. a. eine beftimmtere Sittenlehre, 
eine entwideltere Weisheit in den Mund legte, als man zum 
Bedürfniß der neuern Zeiten in dieſen ältern Büchern zu finden 
glaubte. Das Buch der Weisheit follte eine Art von Cyropäbie, 
dad Bud Tobiä ein Emil feiner Zeit, Jeſus Sirad ‚eine Sit- 
tenlehre und Erempelbud aus der Jüdischen Gefchichte, die Bücher 
der Makkabäer Heldenbüder der fpätern Zeit, und felbft das 
verfchriene vierte Buch Eſra eine Art Theodicee feyn, mie fein 
BVerfaßer fi den Ausgang der Verheiſſungen Gottes über Iſrael 
dachte, und fich feine Zweifel über die zögernde Erfüllung derſel⸗ 
ben aufzuflären ſuchte. Ob er ſich diefelben ſchlecht oder gut auf- 
Härte? darüber haben wir unſer Urtheil frei: denn alle diefe find 
nur menfchliche Bücher; aber an ihrer Nutzbarkeit in der damaligen 
Zeit haben wir um fo weniger zu zweifeln, da mir ihren fo weit 
umber verbreiteten Gebrauch nicht abzuläugnen vermögen. Im 
N. T., und ſelbſt von Chrifto, werden apokryphiſche Stellen ange- 
führt; dieſe Bücher waren damals allgemein befannt, ihre Bor: 
ftellungen waren Volksmäßig, dem Bebürfniße und der Hofnung 
der Zeit näher: ihre Sprache verftändlicher, als die ältern, zumal 
Ebräiſchen Schriften, und in der Einkleidung der meiften ift eine 
offenbar moraliſche Abficht unverfennbar.! Wir müßen fie alfo 


— 


1) Im Mic. [> Theil 5, Br. 57] fchließt fih bier der Sag an: 
„Der Verf. der Offenbarung Johannes, wer er auch feyn möge, bat gewiß 
das vierte Buch Efra vor ſich gehabt; ober dies Buch ihn; oder beide nutz⸗ 
ten eine gemeinfchaftlidye Quelle: Eins von allen dreien ift unläugbar. —” 








nit aus unſrer, fondern aus ihrer Zeit beurtheilen, und als 
Brüde des Ueberganges vom A. zum N. T. find fie ſowohl der 
Sprade ald Dentart nach vortreflih zu gebrauden. Auch Sie, 
mein Freund, lagen fi nicht vom neuern Gefpött über die Juden, 
ihre Hoffnungen und Betrügereien abhalten, die beften dieſer 
Schriften kennen zu lernen. Gamerarius und Drufius haben ſich 
um einige verdient gemadt: doch iſt für fie noch nidt alles 
gefchehen, was fie verdienen. Der große Bibliothekar Deutich- 
lands, Yabricius, ift auch hier Hauptwegweiſer, miewohl nicht mit 
vollendetem Urtheil. Inſonderheit wünſchte ich, daß Sie das fchöne 
Buch Sirachs im Griechiſchen liebgewönnen (mas im Ebräiſchen 
den Namen trägt, iſt ein ſchlechteres Flickwerk) und daß wir von 
einem Manne, der Belefenheit, Gleihmuth und Scharffinn dazu 
hätte, eine gute kritiſche Geſchichte ſämmtlicher Apokryphen 
erhielten. 

Ich habe mich weitab verirret, und komme zurück — zu 
Chriſto. Auch er war ein Iſraelit, und das himmliſche Reis fet- 
ner Religion, das alle Völker befeligen follte, war ja auf den 
wilden und dürren Weinftod der Jüdiſchen Religion gepflanzet. 
Ich beuge mi vor feiner ftillen und erhabnen Geitalt, die mit 
reinem und hellem Blid die Schriften des A. T. las und injon- 
derbeit auf das, was Leben in ihnen ifl, auf das Wort Got- 
tes als Zeugniß von ihm und feinem höhern Reich zeigte Er 
fuchte den Geift und ließ den todten Buchftab liegen. Den Sad⸗ 
ducäiſmus kritiſcher Freigeifteret ſowohl als den Phariſäiſmus kri⸗ 
tiſch⸗ dogmatiſchen Aberglaubens ging er vorbei, und drang durch 
die Mitte beider auf That, auf rein zu erfaßende göttliche That, 
auf menſchliche Veredlung und die fimple fchlichtefte Wahrheit. 
Erfänntniß Gottes, des Vaters der Menſchen, war ihm Geligfeit 
und das ewige Leben; mit biefem Evangelium, mit diefer Philo- 
ſophie und Moral fandte er die Apoftel in alle Welt aus: ber 
Leihnan des Mofatfchen Geſetzes konnte und borfte nun vermo- 
dern, denn die Zeit feines Lebend war vorüber: fein Geift war 
in alle Welt gegangen alle Völker zu lehren. 





— — MUebrigend lags weder in Gottes Zweck, noch in Chrifti 
Beruf bier auf Erden, die Hermeneotif und Dogmatif der Juden 
gelehrt zu verbeßern. Die Apoftel citiren nad der Weife, mie 
damals alles citirte. Plötzlich änderte Gott den Lauf der Dinge 
und des menschlichen Geiftes nit. Auf fpisfündige feine Gelehr- 
ſamkeit fonnte und follte die Religion Jeſu nicht gebauet werden; 
ihre beſte Wirfung entftand eben daher, daß fie fih von folder 
entfernte. Ahr Weſen war That, anichaubare, fimple, unwider⸗ 
ftehliche Wahrheit. 

MWundern Sie fih alfo auch nicht, daß Gott den Lauf der 
Dinge jo fortgehen ließ und der gelehrten Auslegung ber 
Schrift, der künſtlichen Schuldogmatif durh Wunder nicht zu 
Hülfe kommen modte. Keine Gabe des Geiftes beftand in der 
erften Kirche darin, daß ein Kirchenvater, der fein Ebräiſch mußte, 
e8 auf einmal verftand und jett allwiflend gleichſam, mande 
Theile der Bibel plöglic anders anjah. Origenes, Chryfo- 
ftomus, Hieronymus, Theodoret legten beßer aus als andere, 
weil fie beßer auszulegen gelernt hatten; feine Wundergabe hin- 
derte den heiligen Clemens, daß er nit, nad. der gewöhnlichen 
Art feiner Zeit, allegorifirte und die Gefchichte des Vogels Phönix 
erzählte. Um Gottes willen aber, dies war auch der Zmed des 
Chriftentgums nicht. Lefen Sie einmal die fimpeln, ächten 
Stüde der erften Kirche; an Gelehrſamkeit werden Sie dabei nicht 
denfen; ber Geift der Einfalt, Mäſſigkeit, des herzlich brüber- 
lichen Zutraueng, der Gottes» und Chriftusliebe wird Sie 
ergreifen, und eben der ward, der die Kirche baute und erhalten 
follte. Nicht feine Gelehriamfeit und Dogmatiimus; die gingen 
den Gang aller übrigen Wißenjchaften und Künſte. Es iſt ſchlimm, 
wenn man nur dies im N. T. und in der chriftlihen Kirchen 
geichichte ſucht; das findet man fehr ſpät, und leider! in Zeiten, 
denen zum Chriftentbum mwieberum viel Anderes fehlte. 

Irren Sie fih aljo nit, wenn Sie die Auslegung der 
Schrift in der eriten Kirche bald Jüdiſch, bald Alerandriniich 
finden, nachdem biefe ober jene Schule herrſchte: das ging alles 





— 182 — 


ſeines natürlichen Weges. Wären Origenes und Hieronymus 
Biſchöfe geweſen, ſo würden ſie für das Sprachſtudium der Bibel 
auch mehr gethan haben; nun waren fie unterdrückt ober einge- 
ſchränkt. Dogmatifche, ftolge, bald auch verfegernde und verfolgende 
Biihöfe erhoben das Haupt, und es wird ſchon eine traurige 
Geſchichte, die vom vierten und den folgenden Jahrhunderten. 
Selten waren die Synoden Werkftätten des h. Geiftes; oft ward 
der befere, beſcheidnere, gelehrtere Theil unterbrüdt, und der 
ſchreiende, betrügerijche, pöbelhafte, unmißende Theil, der Hof und 
Mönche auf feiner Seite hatte, fiegte. Leſen Sie die Thaten des 
heiligen Cyrillus; Ihnen wird fhauern! Leſen Sie das Leben 
des guten verjagten Chryfoftomus, die Geſchichte der Verdam⸗ 
mung Drigenes, der Entjegung Photius u. f£ Ihnen wird 
ſchauern! Gewiß auf folde Punkte, auf die ſcheußliche Art, 
wie fi) der Lehrbegrif der Chriften bisweilen entwidelt und ihre 
Bibelgelehriamleit zu- oder abgenommen bat, Tann der Haupt- 
zweck des Geiftes Gottes in Leitung feiner Kirche nicht gegangen 
fegn! Uber freilich alles tft bet ihm Ein Zwei, Eine Wirkung. 
Auch aus dem ärgften Böjen Teimt ein Gutes, woran die Werk⸗ 
zeuge jenes nicht dachten ; oder wenn es fein höchſtes Maas erreicht 
bat, veibet es fich jelbit auf und macht einem Beßeren Platz. Da 
die Subtilität der griechiſchen Mönche und ihre häßliche Wuth nicht 
weiter fteigen fonnte, zerfiel fie durch fich ſelbſt Auf die ſpitzeſten 
Wortitreitigkeiten folgte dummer Aberglaube, dem nachher felbft 
Mahommed recht kam. Die Barbarei Occidents ward der naße 
Schleier, mit dem der dampfende, eritidende Mönchsgeift Orients 
wie mit einer Wolfe bededt wurde, daß ſich der menſchliche Geiſt 
nur wieder erholte und, wenn aud nur fpät, nad Jahrhunderten 
wenigſtens, zu fich jelbft kam. 

Sn Deeident gings nicht andere. Der gröbere Dogmatifmus 
diefer gröberen Nationen ward Kirchengeſetz, Ritual, Hierar- 
hie, Ariſtoteliſche Philoſophie, zuletzt der kühnſte, beinah 
atheiftiihe Scholaſticiſmus; bis auch dieſer in ſich zerfiel und 
feine eignen Waffen gegen fich felbft vichtete oder abftumpfte. Das 


— 13 — 


Gebäude der Hierardie erlag unter feiner eignen Laft von über» 
Ipannten Mißbräuchen und Laltern; der Scholafticiimus gleid- 
falls. Im Reiche Gottes ift eine ewig rege Duelle von Wahr- 
beit: wenn fie am gewaltjamften verftopft wird, bridt fie am 
ftärfften hervor; nur ſuche man fie und jede Gute am rechten 
Drte. Wer die Kirhenväter lefen will, um aus ihnen beftimmte, 
reinbeftimmte Dogmatil, Auslegung der Bibel oder gar, wenn fie 
orientalifhe Mönde find, Hoffitten zu lernen, ber ginge einen 
weiten Ummeg und Täme jchwerlid zum Ziele. Als Kirchen⸗ 
väter Iefe ex fie, d. i. als Väter, Vorfteher, Negenten der Kirche. 
Bon den meiften find ihre Briefe und ihr Leben am lehrreid- 
ften, aus dem man dann den Plag lernet, in dem fie in ber 
Kirche ftanden. Clemens von Alerandrien, Origenes, Hie- 
ronymus und menige andre lebten als eigentlide Gelehrte; 
Ambrofius, Chryfoftomus, Baſilius waren Redner, und 
die beiden legten, ehe fie Bilchöfe waren, Mönde: fo muß man 
auch ihre Reden Iefen. Tertullian und Cyprian, Atha- 
naſius und Auguftinus waren mit Kegereten beichäftigt; fie 
muß man aljo am vorfichtigften lejen. Und vielleicht am vorfich- 
tigften unter allen den Auguftinus. Sein Wiz und Scharffinn, 
jeine Gelehrſamkeit und fein Eifer find zu blendende, jcharfe und 
ipite Waffen, als daß man fie nicht ſehr behutſam gebrauchen 
müßte. Sein Bud de civitate Dei und de doctrina christiana, 
die auch häufig allein und mit vielen Noten gebrudt find, find 
wohl die angenehmften und lehrreichſten feiner Schriften. Die 
Apologeten des Chriftenthums, zumal die ältern, find unjchuldig 
und nüblih zu lefen: man lernet aus ihnen, infonderheit aus 
Yuftin und Drigenes, das Chriſtenthum auf eine fimple, vor- 
theilhafte Weiſe fennen; und o daß es in Manden zu dieſer 
Geftalt zurückkehrte! Gelehrfamteit allein thuts nicht, ewige Ver⸗ 
feinerung fcholaftiicher Begriffe noch weniger. Das Amt des 
Lehrers ift Hirten- Treue: das Chriftentfum Lauterfeit, That 
und Wahrheit. Es werde nun aus vielen oder wenigen Stellen 
der Schrift gezogen, ja gejebt, es hätte auch im Syſtem mande 
Herdere fänmtl. Werte. XI. 13 








— 14T 


unbeftimmte Säge und in der Auslegung mande faljche 
Allegorien mit fih; diefe find in der Geſchichte der Wißenſchaft, 
nicht aber immer fo fehr der praftifhen Wahrheit oder ber 
ganzen Geftalt des Chriſtenthums mwidtig. Leben Sie wohl 
und erwarten Sie nod eine lange Hälfte eines fo langen Briefes. 
Die Materie geht über alle Jahrhunderte hin und beſtimmi ja den 
rechten Blick zur ganzen Kirchengeſchichte. 


Fünfter Brief. 


Auch in den dunkeln Zeiten des Papſtthums müßen Sie, 
m. Fr., den vorigen Geſichtspunkt beibehalten: „der geſammte 
„Zwed des ChriftentbHums fei etwas anders als gelehrte 
„Erxregetit und Dogmatik, fo unſchätzbar dieſe feyn mögen.“ 
Auch in den dunkelſten Zeiten gabs fromme Chriften, die vielleicht 
mit weniger Erfenntnig, als wadre brave Barbaren, die fie waren, 
mehr Gutes als die hocherleuchteten Chriften andrer Zeiten thaten. 
Sie ftehen nicht alle eben unter den Zeugen der Wahrheit: 
unter diefe famen nur die, jo Auffehen machten, und der gröffefte 
Theil redlicher Chriften lebt zu allen Zeiten thätig file und ver- 
borgen. Selbft das gröbfte Papſtthum konnte hiezu viel Gutes 
Ihaffen. Mit dem Anjehen, das damals im ganzen Europa der 
nordifhen Nationen die Bifchöfe Hatten, was konnte gethan wer- 
den! Wie viel Gutes ift auch getban, wenn nicht von Päpften 
und Geiftliden, jo von Kaifern, Königen, Fürften und Laien, 
deren viele e8 in ihrer dumpfen Herzlichleit gut meinten. Sie 
braudten, ſie genoßen felbft nicht jo viel, und konnten alfo 
mehr thun, mehr geben: denn das Meifte, wovon auch bis jekt 
noh Kirchen und Wißenfchaften erhalten werden, ift ja aus jenen 
Zeiten. Die dunkle Pracht der Ceremonien, die hohe Andacht des 
katholiſchen Gefanges, Klöfter und Altäre, und felbjt die Sparſam⸗ 
feit der Lehre; alles ohne Zweifel trug bei, den Eindrud in etwas 
harte Gemüther defto tiefer, ftärfer, rührender zu wachen; 








— 19 — 


fie fonnten dabei, (was fie ja auch nicht einmal gefaßt hätten,) manche 
Feinheit und Schlüpfrigkeit des Lehrvortrages gern entbehren. — 

Dabei ſchlich fih durch alle diefe Jahrhunderte die Myſtik 
dur; eine Art fimpler Theologie für den gemeinen Mann, 
auf den überfeine Dogmatit und Scholaſticiſmus nichts vermochte. 
Gene war eine Sammlung weniger, aber ftarfer Wahrheiten, 
dumpfer und unentwidelter, aber deſto mädtigerer Gefühle, die 
von denen, die fie predigten, immer wiederholt, auf die, und zwar 
mit mehrerer Aufrichtigfeit, Redlichkeit, Macht „gebrungen wurde, 
als der ſcholaſtiſche Dilputirgeift zu feinen müffigen! Abfichten 
brauchte. Es kommt bier gar nicht darauf an, was diefe Myſtik 
und ihre dunkle Pfychologie für unfre Zeit fe? ob fie fih zu 
unferer Philoſophie rein und gut entwideln laße; fondern was 
fie in jenen dunkeln Zeiten war und ſchafte? — Und da fchafte 
fie unnennbar vieles Gute dur ihre Simplicität, Herzlichkeit und 
Stärke. In allen europäiſchen Sprahen ift Dichtkunſt und 
Myſtik das Erſte geweſen, das fie emporgebradt Hat. Wenn 
in der Theologie alles lateiniih war, und der Scholafticiimus fich 
jogar in feiner andern Sprade erflären fonnte, fo predigte und 
Ichrieb die Myſtik in der Sprade des Landes, und de ge- 
meinen Mannes: in allen europäiihen Sprachen find ihre 
älteften und noch zum Theil fehr merkwürdigen Produktionen 
Erbauungsbüder, Gefege, Lieder. In Deutichland darf ic 
Sie nur an Tauler und die deutihe Theologie erinnern; 
nennen Sie mir viel neuere, auch nur der Sprache und dem Syftem 
nah jo jtarle und fimple Erbauungsjchriften! Auch Luther liebte 
fie und gieng gewißermaffen von ihnen aus. Eben daß aud er, 
wie die Myſtiker getdan hatten, in der Landesſprache und für 
den gemeinen Mann fchrieb, das- machte ihn zum Mann Gottes 
für die Nation und half feinen gelehrtern Verbeßerungen unjäg- 
ih. — Sie ſehen alſo, e8 bat auch in bunleln Zeiten und in 
der katholiſchen Kirche nicht fo an Licht gefehlt, daß alle Menfchen 


1) V.: mäffigen 
13* 





aus völligem Mangel der Erlänntniß Gottes hätten verlohren gehen 
müßen. Obne feine Schuld wird Gott gewiß feinen einzigen verlohren 
gehen laßen: er wird fein Erkänntniß und feine Frömmigkeit genau 
nad dem Grade des Lichts prüfen, das er gehabt, und nad der 
Neblichleit, die er bewiefen. Tag und Naht, Morgen» und Abend- 
Dämmerung find fein Werk und alle gehören zur Drbnung feiner 
Geſchöpfe. Konnte wohl ein armer Laie dafür, daß Irrthümer, 
Duntelbeit und Lafter in feiner Kirche herrichten? und wie leicht fomımt 
ein rebliches Gemüth zu der Erkänntniß, die ihm zur Seligfeit noth if ! 

Sie denken leicht, daß ich damit bie unſchätzbare Wohlthat 
des mehrern Lichts, der wahrern, gewißern Schriftauslegung, 
der reinern, jfimplern Moral und Dogmatif aufs höchſte ſchätze 
und verehre; wollte Gott, daß fie auch fogleich die mehrern Früchte 
gebracht hätte, die fie hätte bringen follen. Wer klagte darüber 
mehr, als die, die und dies mehrere Licht brachten? Wie oft klagt 
Luther: daß mit der mehrern Belanntmahung, Leichtigkeit und 
Klarheit des göttlichen Wort? auch die Geringihäßung und Ber- 
achtung deſſelben wachſe! Wie bald gerieth die proteftantifche Kirche 
von der Herzlichleit Luthers, von ber Haren Faplichleit Melan- 
chthons aufs neue in die unverftändliche bittere Polemik, wie fie 
nur zu den Zeiten der griechiihen Mönche geweien feyn Tonnte; 
fogar dag man viele eigentliche Streitigfeiten und Unterſcheidungen 
derfelben, nur jest zu andern eben fo geift- und berzlofen Zwecken, 
aufnahm. Eigentlie Religion des BVerftandes und Herzens blieb 
auch in diefen Zeiten, wie fies immer geweſen, von der blofjen 
Streit» Theologie gefonbert, in guten, ftillen Menſchen wohnend. 
Viele bückten ſich unter das Joch elender Sophiftereien, weil fies 
nicht abzuſchütteln vermodten, und lehrten und thaten Gutes, wie 
und ſoweit fie fonnten. Es ft die Erfahrung aller Jahrhunderte, 
daß die beften Männer immer zugleih bie verträgliditen und 
praktiſchten geweſen; fie und nur fie allein nennt man mit 
Hochachtung und Liebe und wünjcht fie feiner Zeit wieder. Denten 
Sie in den neuern Sahrhunderten nur an Arndt, Spener, 
MWerenfels, Arminius, Grotius, Lode, Boyle u. a.; ſetzen 


— 197 — 


Sie die ſpitzeſten Dogmatiker, die gröſſeſten Streithelden und Ge⸗ 
lehrten, die ihnen das Leben oft ſauer gnug machten (geſetzt auch, 
daß alles Recht auf der Seite der Letztern geweſen wäre und ſie 
für Wißenſchaft und Lehre unſäglich viel gethan hätten,) ihnen 
entgegen; ſtehen Sie wohl einen Augenblick an, welche Seite, 
welchen Namen bei der Nachwelt Sie wählen würden? — 

Sie ſehen alſo, m. Fr., wie Sie Kirchengeſchichte, den 
Gang der chriſtlichen Theologie und Religion, zu betrachten 
haben; verbinden Sie im Leben, wie in der Betrachtung, die bei⸗ 
den letztern, und vergeßen eine über der andern ja nicht. Die 
gemeine Kirchengeſchichte vergißt oft Religion über der Theologie 
und wißenſchaftlichen Känntniß. Sie verfolgt nur immer Gelehr⸗ 
ſamkeit, Lehrbegrif, höchſtens fügt ſie Kirchengebräuche und Kirchen⸗ 
herrſchaft dazu, und es iſt vollendet; herrſchende Sitten, Einfluß 
der Religion in Begebenheiten, Stände, ſelbſt in Irrthümer 
und Ketzereien, vergißt ſie oftmals. Das Vorbild, das die 
Magdeburgiſchen Centurien nach Beſchaffenheit ihrer Zeit 
gaben und geben mußten, iſt, auch bei veränderten Zeiten, geblieben: 
ſelbſt Mosheim ſchreitet noch nach dem Zuſchnitt einher. Arnold 
bahnte ſich einen andern Weg; Schade aber, daß er ihn zum Ab- 
wege machte. Er thut der eigentlichen, nicht blos ber herrichen« 
den Theologie wehe, wo er ihr wehe thun Tann, und nimmt 
gemeiniglich die Parthie aller Ketzer und Schwärmer. Myſtiſche 
Theologie und Religion ift ihm einerlei, bie doch auch beide noch 
ſehr verſchieden find, denn jene, bie er oft in Sümpfen und 
Pfühlen auffuht, bat unläugbar auch viel Elend, Krankheit, Be- 
trügerei, Verwirrung und andre üble Folgen mit fich gehabt. Ein 
Leſer und Schriftfteller der Kirchengejchichte muß Feine Vorliebe für 
ein Spftem, eine Wißenfchaft, irgend eine Theologie, ein Land, 
ein Volt, eine Sekte haben. Wo Wahrheit und Güte, Aufklärung 
des menjchliden Geiſtes und Verbeßerung des menjchlichen Herzens 
ift, fie möge dur Orthodoxie oder Heterobogie, (wies dieſe oder 
jene Parthei nennen möchte) beförbert worden feyn; überall wo 
dieſer Schag ift, muß auch fein Herz ſeyn. — Darum mißrathe 





ih Ihnen nicht, wenn Sie einmal im Amt find, Arnold zu lejen. 
Sie werden viel, fehr viel aus ihm lernen; nur müßen fie mit 
prüfender Aufmerkſamkeit und veften Charakter zu ihm geben, und 
bie, fo ihn über einzelne Kirchen und Selten verbeßert haben, 3. €. 
Groſch, Pfanner, Cyprian über die Iutherifche Gejchichte mit 
ihm lefen. Leider ift fein Buch in dem, mas er Gutes bat, 
(3. E. Darftellung wirklich frommer Perfonen, praktiſcher VBerdienfte, 
Auszügen aus guten, bei ihm meiftens fchlecht überjegten Schrif⸗ 
ten u. f.) noch unübertroffen; und für einen Geiftlihen find biefe 
doch bei der Kirchengeichichte fehr nusbar, angenehm und bildend. 
Ein Mann ift ihm in der lutherifchen Kirche gefolgt, deßen Kirchen⸗ 
geichichte hie und da mit vielem praktiſchen Urtbeil gefchrieben ift: 
MWeismann; nur ift fie einförmig und auch im Styl unangenehm 
gejchrieben. Semler ging einen andern Weg und fieng injonder- 
beit mit Unterfuhung bes Lehrbegrifs in verſchiednen Zeiten an; 
feine selecta capita und fein fruhtbarer Auszug der Kirden- 
geſchichte find eine Vorrathskammer von vorgeräumten Materialien 
zu einer infonberheit gelehrt richtigen Kirchengeſchichte; Materialien, 
aber noch faum die Geſchichte jelbft. 

Der Vorarbeiten, m. Fr., müßen überhaupt noch viele jeyn, 
ehe wir zur ganzen pragmatifhen Ueberſicht der Geſchichte 
des ChriftentbHums kommen. Nicht bloß die Geſchichte Der 
Wißenſchaften, und zwar einzelner Wißenfchaften, z. €. der 
Dogmatif, der chriftlihen Moral, der Schriftauslegung, Myſtik 
und Aſcetik müßte (nicht etwa nur lehrenweife, ſondern mie fie 
zufammenhängend in ganzen Perioden geherricht und gewirkt haben) 
philofopbifch getrieben werden: der Einfluß äußerer Umftänbe, 
des Rituals, der mweltlihen und Kirchenherrfchaft müßte zufammen- 
bängend und philoſophiſch betrachtet jeyn; fondern auch wiederum 
die Gefchichte einzelner Meinungen, Selten und Kegereien, 
wie fie fih und was fie in der Welt verändert haben, die Reli 
gionsgeſchichte einzelner Länder und Menſchen müßte zum allge- 
meinen Zufammenhange eingeleitet und infonderheit die Gefchichte 
der Sitten der Völker viel mehr bearbeitet ſeyn, als fie bisher 


— 19 — 


vielleicht bearbeitet worden. Es geht mit der chriftlichen Kirchen⸗, 
wie mit der gelehrten und politiichen Geſchichte: das Haupt gilt 
uns für den Körper, die Gedankenreihe einzelner Menſchen 
für den herrichenden ganzen Zuſtand. 

Erinnern Sie fih alfo, m. Fr., woran id Sie fonft ſchon 
erinnert habe: wenn Sie mit dem allgemeinen Anblid der chrift- 
lichen Kirchengejchichte in dem Autor, über ben Sie gehört ober 
an den Sie fi gewöhnt haben, fertig find, fo maden Sie fih 
an die Einfiht der Geihichte einzelner Partheien, Kirchen, 
Selten, Länder, oder auh Wißenfhaften und Lebrformen: 
buch das Bejondre gewinnen Sie am meiften. Cine Geichichte 
der Dogmatik z. E. zuſammenhängend und philoſophiſch gefchrieben, 
wie aufllärend, bepernd und angenehm iſt fie? Sie zeigt die Ver- 
änderungen der Lehre nach dem Gange und Fortgange der Zeit, 
den Wahsthum und die Abnahme des Lichts und der Wahrheit. 
Sie giebt uns alſo Kriterien von beiden, zeigt Eine Lehre in 
vielen Meinungen, vielen Geftalten, madt aljo unpartheiifch, Tühl, 
tolerant, und lehrt ung Gott für die Zunahme des wahren Lichts, 
der wahren Einfalt und Seelenfreiheit von Herzen und praktiſch 
danken. — Hätten wir nur eine folde Geſchichte der Dogmatik! 
Es haben ſchon mehrere gewünſcht, daß Semler feine zerjtreuten, 
theil3 Borreden, theils Anmerkungen von der Geſchichte der Glau- 
benslehren, nur etwas beftinmter und deutlicher geordnet, zuſam⸗ 
men bruden lieſſe. — Eine Geſchichte der myſtiſchen Theologie 
haben Poiret und Arnold geſchrieben; beide aber waren ſelbſt 
Myſtiker, und behielten aljo nicht freien Kopf und Standpunft. 
An eine wahre Geſchichte der Moral ift, meines Wißens, noch 
gar nicht gedacht: fie ift äußert ſchwer, wenn fie alles, Grund⸗ 
füge, Sitten, Natur-, Gefellfhafts- und Völkerrecht 
umfaßen will, wie fie fol. Selbit die Geſchichte der Scrift- 
auslegung, die bie fleinfte von allen wäre, tft noch kaum beifam- 
men und vollendet. Was Richard Simon in ihr geletftet, ift 
nur bie und da zeritreut von Wetftein, Ernefti, Michaelis, 
Semler u. a. fortgeführt worden: Heels Geſchichte der Critik 





— 20 — 


it unvolllommen, aber doch als Negifter der neuen Schriften 
nützlich. 

Die Geſchichte einzelner Partheien iſt zum Theil mit 
groſſem Fleiß bearbeitet worden; meiſtens aber von ihnen ſelbſt ober 
von Feinden: zwifchen beiden ift ein freier, mittlerer Standpunkt 
nöthig. Ich will an alle die Ordensgeſchichten der Katholiken nicht 
denfen, die von ihnen jelbft gefchrieben find; auch die befern von 
ihnen, wenn fie von den Proteftanten reden, wie gehen fie ſchief 
und irre, Boßvet von den Beränderungen ber Kirche; vollends 
gar ein Maimbourg und Catrou von Lutheranern, Cal— 
viniften, Anabaptiften — mer wirb, mer kann ihnen glauben? 
Hier übertreffen wir Proteftanten an Unpartbeilichkeit fie offenbar. 
Sleidan, Sedendorf, Salig u. f. find wahre und geprüfte 
Scähriftfteller: der erfte wird, fo lange Latein gefchrieben und ge» 
Iefen wird, einer der fchönften Schriftfteller bleiben — Schade, 
daß Böhm die Ausgabe von ihm, die er dem Thuan der Eng- 
länder entgegenfegen wollte, nicht ausgeführe. Eine Geſchichte 
des Proteftantiimus, wo er und etma Salig aufgehört haben, 
fehlt und. Comenius und l'Enfants Gefchichte der Hußiten, 
Neals Geichichte der Puritaner, Sewels der Duäder, Regen⸗ 
boogs der Nemonftranten, Schyns der Mennoniten, Cranz der 
Herrnhuter u. f. find befannte Bücher; vollftändige gute Geſchichten 
der Socinianer, Wiedertäufer, Freidenter, Shwärmeru. f. 
baben wir, meines Wißens, noch nicht, ob wohl Vorarbeiten und 
einzelne Beiträge dazu gnug find. Colbergs platonifch  herme- 
tiſches Chriſtenthum taugt nichts, Füßli Beiträge zur Kirchen» 
geſchichte, die injonderheit Schwärmer, Myſtiker, Manichäer u. f. 
dur alle Jahrhunderte betreffen, ift ein Werk voll Materialien, 
aber unorbentlih und jauer zu leſen. Beauſobre Geſchichte der 
Manichäer und älterer Sekten ift eine fehr lesbares nur gelinde- 
partheitiches Werl. Wenn wir einmal zufammen find, mollen wir 
Miller und Nößelt durchgehn, und ich kann Ihnen ſodenn furz, 
was ich fenne und nicht kenne, fagen: den alles zu wißen und 
gelejen zu haben, ift Wind; dazu reicht nicht das menjchliche Leben. 


— u — 


Sin der Reformationsgefchichte fremder Länder fteht Burnet von 
England, NRobertfon von Schottland oben an; die Deutichen 
haben bei der Reformation ihrer Provinzen, Fleden und Stäbte 
meiftend zu weitläuftig und ausführlich erzählt. Wir haben über 
die Reformation einzelner Länder Deutſchlands ungleih mehr 
Documente, Beiträge, Urkundenjammlungen als gute Geſchichten. 
Auch das ift vielleicht gut, denn jeder befümmert fi vog um ſeine 
Provinz am meiften. — 

Gnug und mehr als gnug. Sie fjehen, m. Fr., mie entfernt 
wir noch find, eine wahre, vollftändige, pragmatifhe Geſchichte 
des ChriftentHums mit alle dem Einfluß, den es gehabt oder 
nicht, zu befiten. Hätten wir fie, fo wären Ihre Zweifel, „wie 
„jo verfhiedne Meinungen und Auslegungen der Schrift 
„mit dem Zwed Kriftlider Offenbarung beftehen fön- 
„nen?“ gewiß gehoben. Sie würden jehen, daß dieſe Verſchieden⸗ 
beit gelehrter Meinungen entweder lange nicht fo viel Einfluß in 
die Geftalt der Menſchheit gehabt bat, ala man fich vorftellt, 
und das ChriftenthHum dabei feinen Schritt immer fortgegangen 
jet, weil es auf etwas Weſentlicheres gejtellt war; ober daß es 
nad) der Natur der Dinge nicht ander8 habe feyn können, und 
daB auch jede Dämmerung, jede Eflipfe ihren guten Zweck 
erreichte. — 


Sechster Brief. 


Fürchten Sie nichts, m. Fr., auch für unfre jegigen Revo- 
Iutionen und Gährungen in der Chriftenheit, zumal im Lehrbegrif 
und in der Schriftauslegung: nah allen ältern Beifpielen ber 
Geſchichte, nach aller Analogie der Haushaltung Gottes auf Erben 
haben Sie fürs ganze, wahre Chriſtenthum nichts zu fürchten. 

Iſt Chriſtenthum und Gelehrfamteit, Scholafticimus und 
Chriftenthun nicht einerlei, wie ich Ihnen, dünkt nich, fehr belle 
‚gezeigt habe, und der Anfang des Chriftenthums, fowie das N. T. 





— 22 — 


ſelbſt, es Sonnenklar weiſet: ſo können jene dies auch nicht um⸗ 
ſtürzen und vernichten. Es ſteht zu ſeiner Zeit richter und ſchöner 
wieder da, und jene Bemühungen des menſchlichen Geiſtes, ſie 
mögen nun Kämpfe oder Krämpfe heiſſen, haben ihm, wie es 
ſodenn offenbar wird, zu dieſer richtern und ſchönern Geſtalt, wenn 
auch auf ihre eigne Koſten, mitgeholfen. 

Nichts iſt bei dem menſchlichen Verſtande fürchterlicher, als 
wenn er ſtillſteht; ja es iſt dies gänzliche Stilleſtehn beinahe 
nicht anders als unter dem äuſſerſten Druck der Barbarei und 
Thierähnlichkeit möglich. Der Druck äuſſerer Gewalt hält den 
menſchlichen Geiſt nicht auf; er ſpornt ihn vielmehr an, daß er 
ausreißt und über Felder und Gärten ſetzet. So lange Europa 
wirklich barbariih war, wollten ihm feinere Begriffe nicht ein: 
man brutalifirte diefe vielmehr nad feiner Weiſe. Da es dur 
hundert und taufend Stöſſe einmal etwas in Gang kam, bielt 
niemand diefen Gang auf, weder Bann noch Inquiſition, weder 
Schwert noch Kegerfeuer. Vielmehr trieben dieſe thörichten Zwangs⸗ 
mittel aus dem Aeuſſerſten ins Aeufferfte, aus dummer Bar- 
barei zu dummer Sophifterei, aus grobem Aberglauben in 
den Atheismus, der ja befanntermaafjen auch in dunklen 
Jahrhunderten des Kirchenzwanges und in ihnen vielleicht allein 
berrichte. 

Freiheit muß der menjchliche Geift haben; geſetzt er mißbrauche 
auch die Freiheit. Das Wort Gottes muß er verftehn und aus- 

- legen fönnen, wie ers für recht und mahr findet; gejegt er lege 

| auch falfch aus. “Gott fah voraus, daß Adam fallen würde, und 
dennoch ſchuf er ihn frei; und mußte ihn frei ſchaffen, wenn er 
‘fein Bild, ein Menſch ſeyn ſollte. 

Freiheit iſt der Grundſtein aller proteſtantiſchen Kirchen, wie 
ſchon ihr Name ſagt. Freiheit iſt der Grundſtein des geſunden 
Verſtandes, aller willigen Tugend des menſchlichen Herzens, aller 
Wohlfahrt des Weiterſtrebens. „Aber doch eine Freiheit mit 

.WEGeſetzen?“ Allerdings mit Geſetzen; nur die der geſunde Verſtand 
I dafür erfennet, die die Freiheit ſich ſelbſt wählet. Auf ihnen, 


4 








— 03 — 


d. i. auf Wahl und Orbnung zur Glüdfjeligfeit, beruht Freiheit: 
Geſetze find ihr Weſen und müßen ihr Wefen bleiben; ober fie ift 
des Mortichalles nicht mehr werth. 

Als Deutichland die Ketten des Papſtthums brach, was hatte 
ed für Recht dazu? Das Recht der Menjchheit, Freiheit. 
Nicht weil der Fürft es wollte, reformirte Luther; oder er wäre in 
Saden der Religion ein jchlechter Reformator gewejen, der alte 
Mahrheiten und Auslegungen, über die der Yürft nichts ordnen 
fonnte, aus Sflavengemalt aufhob. Er reformirte, weil ihn Ge⸗ 
wißen und Weberzeugung trieb: und die Fürften lieſſen refor- 
miren, theil3 weil fie auch überzeugt waren, theils weil fie, mie 
es die Vorficht ihres Amts erfoberte, politifhgut fanden. Der 
Menſch, der im Lutherthum oder in einer proteltantifchen Kirche 
Gewißen und klare Weberzeugung aufheben will, ift der ärgite 
Anti-Lutheraner. Er hebt das Principtum der Reformation, ja 
aller gejunden Religion, Glüdfeligkeit und Wahrheit, nämlich 
Freiheit des Gewißens auf; er verdammet Luther, alle feine 
Gehülfen, alle freien, wahren Männer der Vorzeit in ihren 
Gräbern. 

Auch laßen fich Hier feine äufferen Klaufuren ſtecken, „jo weit 
fol die Freiheit gehen und weiter nicht.” Wahre Freiheit muß 
fih von innen felbft befchränfen. Und wahrlih fie beſchränkt 
fih ſchärfer als alle Klaufuren, weil fie nur aus innigfter 
Ueberzeugung, nah Wahl und Prüfung des Beten handelt. — 
Bon äuffern Beziehungen, Pflichten und Obliegenheiten ift bier 
nicht die Rede, jondern von innerer Natur der Wahrbeit. 

„Aber, wie diefe geäuffert werden? fteht da night der Fürſt, 
der Stand, das Amt entgegen?” Der Fürft, der proteftantifche 
Fürſt nicht; ſonſt wäre er ärger, als der katholiſche Papft, und 
wir Tehrten lieber unter diefen. Sein Proteftantiimus beruht auch 
auf Ueberzeugung, alfo auf Freiheit; fonft würde er fein proteftan- 
tiſcher Fürst haben werden können; er läge noch unter dem Papft- 
thum. Nach allen Begriffen der proteftantifhen Lehre ift er auch 
fein Richter, kein Entjcheiver über das Wort Gottes (dies tft fein 


// 








— MM — 


eigner, unabhängiger, höchſter Richter) er ift Fürſt, d. i. Ent- 
Scheider über äufferliche politiſche Ordnung. Glaubt er, daß irgend 
Eine Meinung in der Welt diefe aufbebe, jo kann, fo muß er 
fie, ſeines Amts wegen, einfchränfen und ihren böfen Einfluß 
hindern — aber nur als äufjern, böfen Einfluß, und aud dies 
nach Regeln der gefunden Bernunft und Ichärfften Ueber- 
jeugung, in der er, wie der geringfte Unterthan, unter Gott ftebt. 
\ „Aber follte nit der Stand Hindern?” Das glaube ich 
„| leider! d. i. alte Vorurtheile des Standes. Aber haben dieſe, blos 
weil fie alt find, auch Recht? follen fie nicht mit möglichftem Be⸗ 
ftreben von jedem reblihen Mitgliede des Standes geprüft und zur 
Wahrheit gebracht werden? ift ihre Procraftination nicht lächerlich 
und ſchädlich? — Kein Vorurtheil kann gegen Wahrheit beftehn; 
feine Ueberzeugung fann und fol nad Vorurteilen des Standes, 
Alters, Rangs oder weßen es fei, gemuftert werben. — Das 
Amt endli kann gar fein Hinderniß freier Ueberzeugung werden, 
oder cd müßte Diener ver Unredlichkeit und Lüge, d. i. Heud- 
ler, und zwar feinem erften Grundfage nah, Heuchler fodern. 
Der thut der Religion und dem proteftantifchen Lehramt viel Ehre 
an, der jo von ihnen denfet! — 
Unläugbar gut iſts alfo, daß eine billige, niemand vervor- 
theilende Toleranz auch in mehrern Ländern Deutſchlands Platz 
‘ | nimmt; es wäre ja endlich Zeit dazu, Wie jhön wäre es, wenn 
Kr Tray auch die Tatholiichen Länder Deutichlands "uns näher cücten,, "und 
If za Ne 4 alle Deutfchen als Brüder, als Glieder Einer Nation und 
Sprade fih einander mehr fennten und auf Ein Gutes gemein- 
Ihaftlih wirkten! Ich ſage gemeinihaftlih, nicht identisch: 
denn das ijt unmöglich. Ich kenne feine gröffere Intoleranz, als 
die neue, die alles in Eine Lehrform des Nichtglaubens werfen 
und mit Gewalt werfen will. Laß jeden nad feiner Leber- 
zeugung glauben; und wenn du ihn ändern willſt, jo fobre nicht, 
fo table und Eritifire nicht, jondern überzeuge du ihn. 


{ 


Auch ehe ih von ben neuen Unterfuhungen über bie 


Religion feine fo gefährlichen Folgen, als Sie, mein Freund, ver- 





* 12, 39, 


— U — 


muthen. Taugen fie nicht, fo gehn fie von felbft unter: fie find 
Spreu, die der Wind zerfireuet. Taugen fie etwas, fo nutzen 
fie der Religion; fie hellen fie auf, fie maden fie grünblicher, 
geprüfter, rein. Das Schif auf dem Meere braucht Wind; der 
menfchliche Verſtand will fortgefehte, auch gegenjeitige Unter- 
juhung und Prüfung. Mich dünkt, mande gute Folgen diejer 
Unterfuhungen find ſchon jegt unverkennbar. Hat? Deutfchland 
genußt oder gejchadet, daß Spalding, Yelir Heß, Sad, Bam- 
berger u. a. ung mit Fofter und Shaftesbury, Buttler und 
Law, Benſon und Lode befannt gemadt haben? Zuerſt fchrie 
alles: „Naturaliimus! Deiſmus! Arianer! Socinianer! Das Chriften- 
„thum geht unter, wenn den Ueberjegern nicht mit Gewalt gefteuert 
„wird!“ Der Erfolg hats anders gewiefen. Das Chriftenthum 
ift, mo es war; aber Gottlob! ein deutſcher Scholaſticiſmus tft 
zum Theil untergegangen, der in Predigten, Lebrvorträgen, Er⸗ 
bauungsbüdern und überall herrſchte. Das Gift, das diefe Schrif- 
ten zu uns bringen follten, bat in Deutichland nirgends, oder bei 
ſehr ungefunden Perjonen gefaßt, vielmehr find manche dieſer 
Schriften, 3. E. Shaftesbury, Hutdhejon, Law, Benjon in 
Deutihland ſchärfer und wahrer beurtheilt worden, als in Eng- 
land felbft, oder werden es noch werden. Wir haben dagegen 
Schriften erhalten, die wir an jchöner Einfalt und Gründlichkeit 
jenen vorziehen oder an die Seite feßen können; unſre theologiſche 
Belanntihaft mit England bat Deutihland genutzt und nicht ge- 
ſchadet. Irre ich nicht, fo wars die Bekanniſchaft mit Engländern, 
Locke, Benfon, Lardner u, f., die Michaelis z. E. aus der 
engern Bahn feiner Vorgänger zog, und bat feine tiefere Critik, 
feine Gelehrſamkeit, fein Scharffinn Deutſchland genugt oder ge- 
ſchadet? Thun Sie doch einen Blid ind alte Etymologifiren des 
Texts, ins Allegorifiven des Geſetzes Moſes und urtheilen! Er 
bat gelernt und gelehret; von andern genommen und weiter mit⸗ 
getheilet. Die Wißenſchaft ift aljo fortgegangen und die Critik 
gejundern Berftandes worden — ift Dies Nutzen oder Schaden? 
Mit Heilmann ward ein Gleiches. Der Neid gegen ihn bat fi 


— 206 — 


gelegt, und man erkennet ſeine Verdienſte, oder wenigſtens die 
Hofnung, die er mit Recht veranlaßte. 

Hierüber iſt nun ziemlich entſchieden; ſollte über manches 
andre, das uns näher liegt, es weniger ſeyn? Sollte Semler 
ſich immer verantworten dörfen, daß er, als Lehrer theologiſcher 
Gelehrſamkeit, ſolche ausbreiten, auch wo ers glaubt, erweitern 
müße? Die meiſten feiner Probleme find hiſtoriſch und litera— 
rich; über die kann für und wider geſprochen werden, unb ber 
beßte Ermeis muß gelten. Das wibrige Betragen gegen ihn bat 
den widrigen Effeft hervorgebracht, daß bei ihm die Schreibart ſich 
verwidelt, und bald zu viel, bald zu wenig faget. Nutze man 
die Materialien, die er zufammenträgt, und wähle fie aus und 
ordne fie beßer; bei mwenigerm und beferm Widerſpruch würde ihr 
BVerfaßer jelbit fte vielleicht ruhiger georbnet haben. — Die allge: 
meine D. Bibliothet (die meine Yreundin nicht ift und der zu 
Liebe ich alſo nicht urtheile), follte fie wohl ganz ohne Nutzen, 
ganz ſchädlich geweſen ſeyn? Ich Habe fie nur in ben erften 
Bänden gelefen: der Ton, in dem fie damals anftimınte, war 
allgemein verfchrieen; ich möchte indeß jagen, jelbft bis auf fein 
Tehlerhaftes bat er Gutes bewirket. Daß der Hauptrecenfent B. 
damals fo wenige een hatte, fich jo fehr wiederholte, aber 
fehr deutlih, plan und gemeinnüßig es immer aufs neue vor- 
trug: „unnüße Spekulation fei nicht Religion, fie folle und könne 
„nicht Religion des Volks ſeyn,“ daß er bei Gelegenheit biefe 
und jene Lehre zu fimplificiren fuchte, u. f. — jollte dies nicht bei 
Vielen, infonderheit Laien und Meltlihen, ſein Gutes erreicht 
haben? Auch bei Geiftlihen, fogar bis zum Uebermaaſſe. Allee 
will jetzt popular feyn! alles in der D. Bibliothek gelobt werben! 
Man_beftrebt fi heterodor zu ſeyn, wie man einft orthobor zu 
ſeyn ſich beſtrebte. Diefer Schaum wird weggehen; die allgemeine 
Bibliothek wird vergeßen und auf ihren Werth zurüdgejegt werben, 
wie man Clerfs, Baile, Löfhers Nournale auf ihren Werth 
zurüdgefett bat; das Gute inbeßen, das fie ftiftete, feis wenig 
oder viel, furz, was Werth in ihr bat, wird bleiben. So auch 


— 207 — 


mit Eberhards, Steinbartz u.a. Schriften. Wer kann läug- 
nen, daß in jenem mande feine Philoſophie über Moral und 
Glaubenslehren, fo wie in diefem eine Art von popularem Syftem 
der Glüdjeligfeit ſei. ft dies nit neu, nicht vollftändig, 
nicht völlig chriſtlich; ift jene Philofophie zu enge und thut man- 
chen Lehren des Chriftentbums Unrecht — wohlan, man zeige e8! 
man liefere was befers! man fee ftatt des fchlechten ein gutes 
Bud. Nur ftillftehen kann der menjchliche Verftand nicht, damit 
dogmatiſche Mönde Muffe und Ruhe haben. Noch weniger richten 
fie etwas aus, wenn fie in dummer Trägheit nur Hagen, feufzen, 
fluden, verläumden; da zeigt man nur immer, daß man feine 
Arme und Waffen zur Bertheidigung habe oder zu brauden Luft 
babe; und beides ift übel. 

— — Ich feße Ihnen, mein Freund, einige Erfahrungen 
ber, die ich in ber ganzen Kirchengefchichte bemährt finde: menden 
Sie fie zu Ihrer Ermunterung, Hoffnung und Troſt auf unfre 
Zeit an. 

Erſtlich. Jedesmal, wenn eine Gährung war, wenn eine 
Revolution der Wißenſchaft oder Religionägeftalt bewürkt wurde, 
war nicht? fchmerer, ala ih in Grenzen zu halten: man ſchritt 
leiht von Einem Aeuſſerſten aufs andre. Sie wißen, als die 
Reformation entftand, brach der Socinianiſmus ſowohl, als bie 
Schmärmerei mit hinein: zwei Uebel, an denen die edlen Refor- 
motoren nur ſehr zufälliger Weile Schuld waren. Die feinen Köpfe 
Stalieng wollten, da Einiges der Vernunft näher gebracht war, 
ihr Alles gleihförmig machen, und fingen aljo in der Theologie 
von vorm, vom Artikel der Dreieinigleit, an. Sie kamen nidt 
viel: weiter, und ſchadeten auch fo fehr nicht; damals und jet 
erfennet ein Jeder, der richtige Schriftauslegung liebt, da, wenn 
Eine Parthei in der Welt dem N. T., infonderheit dem Evan- 
gelium Johannes, offenbar zuwider lehret, .jo ſeis der Socinia⸗ 
niſmus. Zuletzt hat er ſich ſeiner ſelbſt geſchämt und ſeinen Lehr⸗ 
begrif, ſo viel es angieng, verfeint und bemäntelt; vielleicht würde 
ers eher gethan haben, wenn man ihn nicht verfolgt hätte und 


l 


\ 


\ 
) 


8 








— 208 — 


mit Servet und andern jo hart umgegangen wäre. Ein Gleiches 
ward mit den Wiedertäufern, Duädern, Schwärmern. Ihre Hibe 
ift abgegährt; Duäder und Mennoniten, Schwenkfelder und Puri- 
taner leben ruhig und haben ihre ausjchweifenden, übertriebnen 
Meinungen felbjt aufgegeben. Wie würde For fih wundern, 
wenn er Barklays gelehrte, ruhige Apologie läſe. Laßen Sie 
uns die auf unjre Zeiten anwenden. Welcher unſrer jetigen 
eifrigen Aufklärer hat fich eines Damme, Reihe u. a. nit ſchon 


‚jebt zu ſchämen; in kurzer Zeit wird man über mandes andre 


nod mehr erröthen. 

Zweitend. Wenn eine PBarthei im erften Eifer ift, wirft 
fie am meiften. Eine neue Zunft greift fi mehr an. Wer 
Mideripruh befürchtet, rüftet fich zum Miberftande oder kommt 
ihm zuvor. Wer angreift, iſt meiftens fühner, als mer blos ver- 
theidigt. Die ganze Geſchichte ift hierüber Zeuge. Die Patres bes 
Orstorii ſchoßen bald nad ihrer Stiftung am blühendſten hervor: 
da gabs einen Morin, Malebranche, R. Simon, die fie jegt nicht 
mehr haben. Was die Jeſuiten thaten, thaten fie im Anfange bes 
Ordens. Jede neue Alademie betätigt daßelbe u. f. fe Mit der 
Zeit legen fih die ftolzen Wellen der Jugend; der Mann jchämt 
fih der Ausfchweifungen derfelben und wenn er Hug tft, wendet 
er auch fie zum Beften. Glauben Sie gewiß, jo wirds aud in 
wenigen Jahren mit der Criſis unfrer Zeit gehen. Auf mandes 
fürdterlihe Eisgebäude wird man hinbliden und fragen: wo tft 
e8? Das gute Waßer indeßen, woraus es beitand, und das Die 
freundliche Frühlingsfonne mit ihrer mächtigen Gluth nur auf- 
löste, dies blieb und fließt erquickend weiter. 

Drittend. In jedem Zeitpunkt des Strebend und Fortitre- 
bens giebt3 immer Gegenpartheien, die für und wider ein- 
ander gebohren zu feyn feinen und bie ſich einander oft nahe 
gnug leben. Die Oottheit hat fie in Einen Zeitraum gejeht: ihre 
Kräfte mäſſigen einander, daß ein drittes mittleres Gute aus ben 
zufammengejetten Bemühungen beider herauskommt. Denken Sie 
an die Independenten und Katholiken, an die Freidenker und Burita- 





— 20 — 


ner in England, in Holland an den Carteſianiſmus und Cocce⸗ 
jiſmus, die auch zu Einer Zeit waren; in Frankreich an die 
Jeſuiten und Janſeniſten; endlich an Wolf und Lange, Wolfianer 
und Herrnhuter in Deutſchland. Ich mag zu unſrer Zeit niemand 
nennen; mich dünkt aber, der beſcheidne kluge Mann und Süng- 
ling bleibt in der Mitte und lernt, wenn etwas zu lernen ift, 
von beiden. Je unpartheiifcher und verträglicher ers thut, deſto 
mehr ift er jener Ruhe, feines Beften und de Ruhms der 
Nachwelt verfichert. 

Endlich am allerwenigften laßt uns uns aufbrängen, ober 
andre verdrängen und verfolgen. Schämt fich jet Holland nicht, 
daß es feinen Grotius verfiieß? Sachſen nicht, daß es feinem 
Melandihon jo trübe Stunden madte? Jetzt chen wir jebes 
unwürdige Werkzeug der Verfolgung in feinem Licht und nennens 


bei jeinem Namen. Sobald aljo die Sache verwidelt ift, jo fage , 


man: non liquet und überlaße ed dem Sönige, der Licht und 
Finfterniß Schaft und ändert Zeit und Stunde Er giebt 


den Meilen ihre Weisheit und den Perftändigen ihren. 


Verſtand. Er fähet die Weifen in ihrer Spigfündigfeit 
und ftürget der Verfehrten Rath. Er weiß, was in Fin- 
fterniß lieget, denn bei ihm ift eitel Licht! 


Herders fümmtl. Were. XI. 14 


Sechzigſter Brief. 


— — Sie wißen, m. Fr., man bildet fi nur in gewißen Jahren: 
denn bleibt die Denkart, wie fie ift und auch das ift Wohlthat bes menfch- 
lihen Lebend. Man foll nicht immer Knabe und Kind feyn und fidh wie- 
gen laſſen von allerlei Winde der Lehre; einmal foll man doch auch unter- 
fucht, ausgelernt haben und wenigftend durch ftille, vefte That lehren. — 
Dies ift die Moral der Männer; bie der Jünglinge ift aber zu lernen, 
aus ihrer und für ihre Zeit zu lernen, fortzugeben mit dem Schidfal, das 
ung, wenn wir nicht freiwillig folgen, fortreißt. Wie lächerlich iſts, daß 
wenn Diefes, Jenes nicht vor einigen Jahren gejagt warb, es and nun 
nicht gefagt werden Lönne und börfe? Und gewiß! manches warb gefagt, 
was wir nur vergeßen oder überhört haben. Sie fagen, 3. E. meine 
beicheibnne, mit Gründen, wie id glaube, unwiderleglichen Gründen gefagte 
Meinung: wie Klopftods Meßias von einem jungen Theologen zu lejen 
fei? babe einige befrembet. Ich glaube e8 wohl, denn ein junger Menſch 
im erften euer feiner Einbildbung und Liebe zu ibealifhen Gefchöpfen 
läßt fih nicht gern darinn flören: er fieht ben für feinen Feind an, ber 
ibm den Eindrud ſchwächt oder raubet; auch ift das meine Wbficht nicht 
gewefen. Sie war nur, Wahrheit und Dichtung zu unterfcheiden ober wenn 
Sie wollen, dichteriſche und biftorifche Wahrheit. Wenn mir der Süngling 
hierüber nicht dankt, wirb mir der Mann danken; wenn nicht die jeßige 
Zeit, fo die folgende. — — — 

Erimen Sie fih, m. Fr., an bie Zeit, da Klopſtocks Meßias zuerft 
erihien. Sollte Alles, was man damals über ibn, liber die Zuläßigkeit 
biblifhder Epopeen und Religionsfictionen fagte, falfch gemefen feyn? Alles? 
Ich zweifle. Freilich vieles war nicht nur falſch gefagt, ſondern gerabezu 
elend; mich dünkt aber, das Behere, was Prüfung verdient hätte, warb 
mit jenem zu fehr überjehen und verworfen. Die binreißenbe Sprache, bie 
überaus ſchöne Sinnlichkeit Überwand: fie bezwang den Berftand damals, 
ob fie ihn aber immer bezwingen möchte? Gnug, die wahre Schönheit bes 
unfterbligen Gedichts muß durch alle Prüfungen gewinnen: durchs Boliren 
und Läutern glänzt das Gold neu und fchöner hervor. [Bgl. ©. 74 fag.] 





— 21 — 


— — lieberhaupt, fagt ein Gelehrter, vielleicht ber pbilofopbifchte 
Gelehrte, den Deutſchland feit Leibnitz Zeiten gehabt bat, Leßing; „über- 
„haupt weiß ein jeder, der mit den Wißenfchaften ein wenig befannt gewor- 
„der, daß es mit der eingebilbeten ftrengen Ordnung, nach welcher bie 
- „verfohiebnen Disciplinen und Studien mit ber Jugend getrieben werben 
„ſollen, eine Grille if. Alle Wißenfchaften reichen ſich einander Grunbfäße 
„dar und müßen entmweber zugleich ober eine jebe mehr als Einmal getrie- 
„ben werben.” Ich bitte, leſen Sie die ganze Stelle S. 535 — 61.1 des erfien 
Theild der Titeraturhriefe und Sie werden mich, wenn Ihnen ber böfe 
Feind je den Gedanken eingiebt, mit einem Alabemifchen Tages⸗ und 
Stundenkalender verfchonen. 

Uebrigens einen ſolchen Kalender für alle Welt, für bie verfdiebenften 
Subjecte an Fähigkeiten, Zwecken, Hilfsmitteln, Erziehung, Umftänben 
u. f. f. zu fchreiben, wie Ihre Freunde zu wünfden fcheinen; ift das wohl 
Auftrag für einen beſcheidnen, vernünftigen Menfchen? Sie kannte ih und 
fonnte alfo an Sie fchreiben, an die ganze Welt Briefe, vertraute Briefe, 
mit Einlaßung aufs kleinſte Detail, mit allmißenbem und allweifen Rathe — 
das kann man nicht, wenigftens ich kanns nicht, mein Lieber. Kür alle 
Theologen auf allen Akademien Deutfchlands, rei und arm, dum und 
Hug, faul und fleißig, alt und jung, Zug- oder Sitodgel ein Lectionarium 
zu fohreiben — das fohreibe der, der nichts beftimmters, beßers zu geben 
weiß. Ich könnte nichts drüber, als etwa wie Luther vom Reichstage 
der Doblen und Krähen, dahinter bod ein groffer Ernſt ift, 
ſchreiben. 

Mir ſelbſt fallen einige Blätter in die Hand, die nicht vor gar langer 
Zeit, wie mich dünkt, fo kurz, wahr und bündig geſchrieben find, als es 
bei Allgemein- Dingen der Art nur immer möglich feyn möchte. Gefällt 
Einem Ihrer Freunde der Blan: fo mag er ihn mit Gott befolgen. [X,4 
„Entwurf der Anwendung breyer alabemifher Jahre für 
einen jungen Theologen.”] 


1) (8. Br. 1, 10, Schriften 6, 31 8. Freies Gitat.] 


14* 


Vom Geift 


der 


Ebräiſchen Poeſie. 


Eine Anleitung 
für die Liebhaber derſelben und der älteſten 
Geſchichte des menſchlichen Geiſtes. 


— — — — — — 


von 


6 Herder. 


Erfter Theil! 


Laden⸗Preiß 20 Grofden. 





Deßau, 1782, 


Auf Koften der Verlags-Kaſſe, und zu finden in der 
Buchhandlung der Gelehrten. 7,2, m. 


1) Zweite Auflage: 


Erfter Theil. 





Leipzig, 
bei 305. Philipp Haugs Wittwe, 1787. 


4m % (Himueme) 


fir 280, 250.292.24 
bein Mfg mat Fir PT Yon bye 13,957 
U Sun Mr ir Bgm 12,006. 


a Er ee 
Mgmt 245 PEN 280. 


Urs nf 


pn Meittuh "12,008 nf Vafenı 
„ai Jap gl A mn Tran I wre ” BP 9,203 (fi 12, yır). 


Entwurf des Buchs, 


‚ nach feiner erjten Ankündigung in ben Berichten 12,382, 0 
der Buchhandlung der Gelehrten. —— 


— — wo. Karben fm 


Jedermann ift des Biſchofs Lowth fchönes und allgepriefenes +77. 7. 
Bud de sacra poösi Hebraeorum befannt; man wird aber aus 
dem nähern Inhalt der obengenannten Schrift fehen, daß diejelbe 
weder eine Ueberſetzung noch Nachahmung deflelben fey, und neben 
oder hinter ihm für Liebhaber der älteften, fimpelften und erhaben- 
ſten Poeſie überhaupt, vielleiht aud für alle, die dem Gang 
göttliher und menjchlider Kenntniffe in unſerm Geſchlechte nach⸗ 
forſchen, nicht unangenehm oder unnütlich ſeyn dürfte. 

In einer vorläufigen Einleitung werden die drey Haupt- 
ftüde unterjucht, auf die fich die Poefie der Ebräer in ihrem 
Urfprunge gründet. LZuförderft das Poetifhe im Bau und Reich⸗ 
tum ihrer Sprade: ſodann die Urideen, die fie von ben älte- 
ften Zeiten empfangen Hatten, und die gleihlam eine fo erhabne 

(IV) als fimple poetiihe Kosmologie find: drittens die Geſchichte 
ihrer Väter bis auf ihren Gefeßgeber, und was in ihr Grund 
zur Auszeihnung ſowohl des ganzen Volks, ala beſonders 
der Schriften und Poefien derjelben gemeien. 

Das Werk jelbft fängt vom groſſen Geſetzgeber des Volks 
an: was er durch feine Thaten, durch feine Gefetgebung, und 
drittens durch die Darftellung beyber in Geſchichte und eigner 


— 216 — 


Poefie auf den Geift des’ Volls und jeiner Nachkommenſchaft 
gewirkt oder nicht gewirkt bat? Melde Ideen der Borwelt er 
weiter geführt ober verändert ? welchen Anblid des Landes, der 
Nationen rings umher er ihnen einprägen wollte? und endlich 
wodurd er die Poefte diefer Nation zu einex Hirten- und Lan⸗ 
despoefie, zu einer Stimme des HeiligtHums und der Pro- 
pheten gebilbet? Die Urſachen diefer Dinge werden aus der 
Geſchichte entwidelt und ihre Wirkungen in den lebhafteften Bey- 
jpielen der folgenden Zeiten gezeiget. 

Es wird fodann die Gefchichte felbft vom Geſetzgeber bis 
zum blühendften und mächtigſten König des Volks fortgelcitet, 
unter welden und deſſen Sohne auch die zweyte Blüthe der 
Poefie eintritt. Die jchönften Erſcheinungen derjelben werben aus 
den Urſachen ihrer Entftehung erklärt, in ihr morgenländiſches (V) 
Licht gefegt, und was fie auch, im Fortgang der Zeiten gewirkt 
haben, entwidelt. Es verfteht fih, daß die angenehinften und 
lehrreichſten Stüde in einer leöbaren, ihrem Geiſt angemeßnen 
Veberfegung dem Werk eingeichaltet werben. 

Sp gehts zur dritten Periode der Dichtkunſt hinab, längft 
vor dem VBerfalle des Volks, nämlich zur Stimme der Propheten. 
Die Charaktere diefer patriotifchen und göttlichen "Demagogen’ 
werden entwidelt, Aufſchluß und Einleitung zu ihren Schriften 
gegeben, und die erhabeniten, jchönften und rührendften Stüde 
berjelben abermals dem Werk einverleibet. 

Es Tommen jet die klagenden Stimmen bey und nah dem 
Verfall der Nation, die Hoffenden und aufmunternden zu 
Wiederaufrihtung berfelben: die Wirkungen der gefammten 
Schriften des Volks, da fie fich jet mit andern Spraden, injonder- 
heit der Griechiſchen vermifchten: die Wirkungen derſelben durch 
die Schriften und Lehrer des Chriftenthbums bis zu unſern 
Zeiten. | 

Einige Abhandlungen zum Ende des Buchs unterſuchen die 
Geſchichte der Behandlung diefer Poefieen von Juden und (VI) 
andern Bölfern: das verſchiedene Glück der Nahahmungen 


—” 


— 


_ — 


— lt — 


derſelben zu verſchiednen Zeiten und in verſchiednen Sprachen; 
endlich was das Phänomenon und das Reſultat dieſer 
Schriften und ihres Geiſtes in der ganzen uns belannten 
Gefhichte der Kultur und ihrer Weltveränderungen jeyn 
möchte ? 

Man fehe diefe Ankündigung nicht für Ruhm ober „Groß- 
ſprecherey, ſondern für das Ziel an, das ſich der Verfafler des 
Buchs vorſetzte. In magnis voluisse sat est, iſt auch bier fein 
Wahliprud.. 


Der Berfaffer. 


— 


Vorrede. 


Die vorgeſetzte Ankündigung überhebt mich der Mühe, über 
den Zweck und Plan dieſes Buchs weitläuftig zu werden; ich zeige 
alſo nur im kurzen an, wie er im erſten Theil ausgeführt ſei. 

Es ſollte dieſer erſte Theil die allgemeinen und characte⸗ 
riſtiſchen Grundzüge der Ebräiſchen Poeſie faßen, ihre Cosmo- 
logie, die älteſten Begriffe von Gott, der Schöpfung, der Vor⸗ 
ſehung, von Engeln und Elohim, den Gherubim, einzelnen 
Gegenftänden und Dichtungen der Natur u. f.; zufammt injon- 
berheit den Sagen der Väter, bie, wie überall, fo vorzüglich bei 
biefem Volk, die Anlage zum Gebäude feiner ganzen Denkart, 
mithin auch der Genius feiner Boefie find. Diefe recht darzu- 


jtelen und zu entwideln, war hier um fo viel nöthiger, da die vIII 


meiſten Sagen diejer Art felbft poetiiche Farbe haben und leider! 
oft ſehr verkannt find. Ihh habe mich hiebei der mühjamften 
Kürze befligen, nicht etwa unmöthig zum hundertften mal zu 
jagen, was ſchon neun und neunzig mal gejagt war, und wo 
ih8 der Verbindung megen thun mußte, ging ich jo fchnell 
brüber, ala möglih: denn wo bei alltäglihen Sachen das Lefen 
ſchwer wird, wird das Schreiben noch viel jchwerer. 

Dafür juchte ich lieber, dunfle- oder misdeutete Geſchichten, 
bes Paradiefes, des Falls, des Thurmbaus, des Kampfs mit 
Elohim u. f. nebſt einzelnen mythologiſchen Dichtungen und Ber- 
fonificationen ins Licht zu ſetzen, die jomohl den Charakter der 
Ebräiſchen Poeſie aufs deutlichfte in Proben zeigen, als aud 
fünftighin ung vom nupbarften Gebrauch ſeyn werden: denn 


— 219 — 


ehe man viel von Schönheit oder Häßlichkeit einer Sache ſpricht, 

IX muß man ſie erſt verſtehen lernen. Rechter Verſtand der Worte, 
Bilder und Sachen giebt benen, bie Gefühl haben, ohne viele 
Rede und Anpreifung, Begrif der Schönheit. Wers nicht hat, 
dem Tann es duch Ausruffungen, durch Herbeiholung vieler 
ähnlichen Stellen aus andern Dichtern, geſchweige durch allge- 
meine Betrachtungen über die Poefie und ihre mandherlei Arten 
ichwerlich gegeben werben. Bon biefem allen hielt ich alfo mein 
Buch frei. 

Und überfegte lieber _fchöne Stellen, fo viel ich Tfonnte; 
biefe mögen feinem zu viel dünken, denn fie find der Zwed 
meines Buchs. Sie find die Sterne diefes fonft öden Raums: 
en, ver He find bie Frucht und mein Buch nur Schale. Wäre mirs 

Map ?! gelungen, die Proben, die ich bier gab, in ihrer alten Würde 
und Einfalt ſchön und gut darzuftellen, fo hätte ich mein Biel 
wenigftens nicht ganz verfehlet: denn ich bin auch hierin von 

x Luthers Meinung, „daß wir die Propheten müßen laffen auf: 

dem Pult fiten, und wir hienieden zu ihren Füßen hören, was 
fie fagen, und nicht fagen, was fie hören müßen.” In dieſer 
frühen Zeit fam mir vorzüglich dad Buch Hiob zu Hülfe, und: 
ih wünſchte, daß ih nur etwas von dem ausgebrudt hätte, 
was meine Seele bei diejer hohen, einfältigen, vielleicht älteften 
Kunftcompofition empfindet. Ardua res est, vetustis novita- 
tem dare, novis auctoritatem, obsoletis nitorem, obscuris 
lucem, fastiditis gratiam, dubiis fidlem, omnibus vero natu- 
ram et naturae suae omnia — wie wünfchte ich, etwas davon 
bei meinen Patriarchen, bei meinem Hiob und Moſes erreicht 
zu haben! Mit Gelehrſamkeit und fremden Buchſtaben habe ich 
meinen Text nicht überſchwemmen mögen; für den Ungelehrten 
find fie nicht und der Gelehrte, der die-Urſprache und die alten 599. 
Ueberjegungen zur Sand nimmt, kann ſie fich leicht fuppliren; 
xı ja es ift eine Freude für ihn, infonderheit den jungen Gelehr- | 
ten, wenn er fi die Gründe fuppliten darf, wenn ihm aud | 
etwas übergelaßen ift, aufzuſuchen, zu vergleichen, zu benfen. 


) Ark ah Ffm 12,907, 


— ZN) — 


Daher habe ich auch die reiche Beihülfe neuerer Philologen — 
gebraucht, wo ich konnte, ohne damit zu prangen oder ſie 
widerlegend Schau zu führen. Denen, die ich genutzt, wird 
mein ſtiller Gebrauch Dank ſeyn; wo ich nicht ihrer Meinung 
ſeyn konnte; — da war ich meiner eignen Meinung. 
Und um auch dieſe jedesmal im mildeſten Licht vorzutragen, 
habe ich den bei Materien dieſer Art ſonſt ungewöhnlichen Weg 
2. der Geſpräche )gewählet. Wie ſchwer es mir ward, weiß id) 
7 n ag 44. ſelbſt, und um die Grazien des Platoniſch⸗ Shaftesburi- 
oder Diderotihen und Leßingſchen Geſprächs zu bublen, 
v wäre bei Sachen dieſes Zweds und Inhalts Thorheit der Thor- 
7 heiten gewejen. Hier waren weder ausgefuchte Situationen 
anzulegen, noch neue Charaktere zu entwideln, noch enblih XII 
Ideen aus der Seele des Antwortenden hervorzufpinnen; worinn 
die größefte Kunft injonderheit des lehrenden Geſprächs beftehet. 
Zu erfinden war bier überhaupt nichts, jondern zu erklären, 
zu zeigen, zu finden: alſo Demonftrator und dem demonftrirt 
wird, Freund mit Freund, Lehrer mit Schüler mufte und konnte 
bier allein iprehen. Mein Borbild in groffen Stellen der Ge⸗ 
ſpräche war nicht Plato, fondern das Buch Cosri oder gar 
ber Katechismus. 
Aber warum wählte ich denn die Form der Geſpräche? 
Aus mehr als einer Urſache. Zuerft und zuförderft der Tieben 
Kürze wegen. Im Geſpräch drüdt ein Buchſtab, der Abfah einer 
neuen Reihe, ein kurzes Wie? oder Woher? aus, wozu man im 
bogmatifchen Vortrag Perioden und halbe Seiten noth bat. Bon 
jenen breiten Formeln und Webergängen: „dagegen fünnte man 
fagen, hiewider ift gejagt worden u. f. f.“ blieb ich verjchonet. 
Zweitens. Auch vom einförmigen, fteifbehauptenden oder gar 
widerlich deflamirenden Katheber- und Kanzelton fonnte ich ver- XIII 
Ihont bleiben, dem fonft der dogmatiſche Vortrag über Sachen 
diefer Art, ein ganzes Buch durch, fchwerlich entgehen möchte. 
Auch der fchlechtefte Dialog macht die Sache lebendig, vielfeitig, 
menſchlich, wenn er nur nicht (wie hier manchmal der all war) 


3 224, 


— 2211 — 


zu trodne Dinge betrift und zu lange währet. Drittens ent- 
fam ich mit ihm, wofür ich Gott herzlich danke, der Nothmwendig- 
feit, widerſprechen, ftreiten, citiren zu müßen; und damit ent» 
fam ich einem grofien Uebel. Hier fprecden Alciphron und 
Eutyphron: jener fpriht manchmal wie das Publicum von 
hundert Köpfen; aber fie fprechen unter einander, fie belehren 
und widerlegen niemand in der Welt außer ihnen. Wer nicht 
von Eutyphrons Meinung feyn will, bleibe von Alciphrong ober 
von — feiner eignen Meinung. — Darf ichs endlich bekennen: 
je älter ich werde, je ſchwerer wird mir der Ton der Lehre. 


XIV Wen lehrt man, wenn man ein geſammtes Publikum lehret? 


wo wohnt dies? und in welchem Ton foll man zu ihm reden, 
daß man nicht zu hoch, nicht zu niedrig rede? Alſo ſprechen 
hier zwei einzelne Menſchen; wer will, höre ſie an, beſſere ſie, 
lerne oder lehre. 

Darf ich ſagen, wen ich mir am liebſten zu Leſern wünſche? 
Aciphron ift_ein Jüngling; er ſtudirt dieſe Poeſie nicht aus 
Zwang, nicht des leidigen Berufs und Brots wegen, ſondern 
aus Liebe; alſo Jünglinge und Liebhaber der Schrift, Liebhaber 
der älteften, einfältigften, vielleicht _herzlichiten Poeſie ber Erbe, 
Liebhaber endlich der älteften Geſchichte des menichlichen Geiftes 
und Herzens — unbefangne, frifche, muntre Menfchen der Art 
wünjhte ih mir vorzüglih zu Leſern. Bon der Kinpheit und 
Jugend des menſchlichen Geſchlechts läßt fi mit Kindern, mit 
Sünglingen am beiten fpredhen; Zeiten vor dem Moſaiſchen 


XV Knechtsdienſt fühlen die am beiten, die noch fein och der 


Regeln erbrildt hat, denen die Morgenröthe der Welt Morgen- 
vöthe der Seele feyn fol. Wenn etwas an meinem Bud) ift, 
jo ift der mein Freund, der es ohne Lob und Zabel Lejern 
folder Art in die Hände fpielet. Jeder kann ja auslaſſen, 
was ihm nicht gefällt, dazu ift der Inhalt der Geſpräche vor- 
gezeichnet. 

Und wenn, wie id wünſche, unter biefen Junglingen 
Theologen find, darf ich fie mit Einem Wort befonders anreden? 


| 


ri. 245” 


J.f Ga 5 


7.90,3 


— m — 


Der Grund der Theologie ift Bibel und der Grund des N. 7. 
ift das alte. Unmöglich verftehn wir jenes recht, wenn wir 
dieſes nicht verftehen: denn Chriſtenthum ift aus dem Juden⸗ 
thum hervorgegangen, der Genius ber Sprade ift in beiberlei 
‚ Büchern berfelbe. Und den Genius der Sprade können wir 
nie beßer, b. i. wahrer, tiefer, vieljeitiger, angenehmer ftudiren, 
als in Poeſie, und zwar fo viel möglich in den älteften Poelien 
derielben. Es ift falih und verführend, wenn man jungen 
Theologen das N. T. mit Ausſchließung des alten anpreifet; 
ohne diefes ift jenes auf eine gelehrte Weife nicht einmal ver- 
ftändlid. Dazu ift in ihm, dem A. T., eine jo reiche Abwechſ⸗ 
lung von Geſchichten, Bildern, Charakteren, Scenen: in ihm 
jehen wir die vielfarbige Dämmerung, der ſchönen Sonne Auf- 
gang; im N. T. fteht fie am höchften Himmel und jedermann 
weiß, welche Tageszeit dem finnliden Auge die erquidenbfte, 
die ftärkendfte ift. Studire man alſo das U. T., auch nur als 
ein menſchliches Buch vol alter Poeſieen, mit Luft und Liebe; 
fo wird ung das Neue in feiner Reinheit, feinem hohen Glanz, 
feiner überirrdifhen EC chönheit von jelbit aufgehn. Sammle 
man den Reichthum jenes in ſich; und man wird auch in diefem 
fein leerer, Gejchmadlofer oder gar entweihender Schwäßer werben. 
Weimar, den 9. April 1782. 


Herder. 


08 





— 24 


J. - 
Inhalt des Geſprächs. Zt Ay gem” 221/ 


Borurtbeile gegen bie Ebräiſche Poefie und Sprache. Urfachen berfel- 
ben. Bom Hanblungsvolley in ihren Verben; durch biefe wirb eine 
Sprache poetiſch. Auch die Nomina ſtellen Handlung dar. Ihr Neich- 
thbum an Namen: in welden Gattungen er zu fuchen ſei? Heichthum 
an Naturnamen, Synonymen, Zahlwörtern, Wörtern des Schmud$ 
und der Ueppigfeit aus benachbarten Bölkern. Warum fi das 
Ebräiſche nicht wie das Arabifche fortgebildet? Bon Wurzeln der Ber- 
ben: fie vereinigen Bild und Empfindung Namenbildung der Norb- 
und Siüdländer. Unterfchied der Ausſprache beider. Bon Ableitung 
ber Wurzelwörter. Wunſch eines philofophifhen Wörterbuchs. Bon 
den Zeiten der Verben, und dem poetifchen Genius berfelben. Zuſam⸗ 
menfegung vieler Begriffe in Ein Wort. Buchſtabengemählde. Wie 
man ſich an ihre Entziffrung zu gewöhnen babe? Vom Paraflelismus, 235 
Grund befielden im Ebenmaafie, das auch das Ohr Liebe. Vom 
Barallelismus in Griechiſchen Sylbenmaaſſen. Wie fern er in ber 
Natur der Rede und des Affelts Liegt? nach mancherlei Inhalt. Aehn⸗ 
lichkeit deſſelben auch hei norbifhen Bältern. Warum ihn infonderbeit 
die Ebräiſche Sprache ausgebildet? Wirkung und Nuten beflelben. 
Ob die Ebräiſche Sprache ohne Vocalen geichrieben worden?! Ob fie 
von Anfange an fo viel regelmäffige Conjugationen gehabt? Stubium 
berfelden, als einer poetiſchen Sprade. Studium ihrer Gedichte. 
Beilage eines Gedichts über Schrift und Sprache. J. 242. 


2 Alciphron. Finde ich Sie doch mieber bei dieſer armen 
barbarishen Sprade! Da fieht man, was Yugendeindrüde thun 
und wie unumgänglich nöthig e8 fei, daß wir von frühauf mit 
dem alten Unrath der Zeiten verjchont bleiben: man wird feiner 
nachher im Leben nicht los. 








1) „Ob — worden?” aus dem Mic. ergämt. 


— mM — 


Eutyphron. Sie ſprechen ja wie einer der neuen Aufklärer, 
! bie die Menſchen von allen Vorurtheilen der Kindheit und mo mög- 
lich pon der Kindheit ſelbſt frei machen wollen. Kennen Sie diefe 77. 22.. 
. arme barbarifhe Sprade? und warum dünkt fie Ihnen alfo? 

A. Leider kenne ich fie gnug, bin in der Kindheit mit ihr 
gequält worden und werde noch gequält, wenn ich in der Theologie, 
Philofophie, Geſchichte und mo weiß ich mehr? den Nachhall ihres 
hohen Unfinns höre. Das Geflapper der alten Cymbeln und Pau- 
fen, kurz die ganze Janitſcharenmuſik milder Völler, die man den 
orientalifchen Parallelismus zu nennen beliebt hat, ift mir babet 
im Ohr und ich fehe no immer den David vor der Bundeslade 
tanzen oder den Propheten. einen Spielmann ruffen, daß er ihn 
begeiftre. 

E. Es fcheint, Sie haben fih mit der Sprade befannt 
gemacht, aber nicht aus Liebe. 

A. Dafür kann ich nidt; gnug, recht nach der Methobe, mit 3 
allen Danziſchen Regeln. Ich habe gar die Regeln citiren können 
ohne daß ich ihren Inhalt mufte. 

E. Defto ſchlimmer! und ich begreife, warum Sie ihr fo 
abgeneigt find. Aber, m. Fr., muß man einer übeln Methode 
wegen die Wißenſchaft haßen, die wir das Unglüd hatten, zuerft 
in folder Form zu ſehen? Schätzen Sie den Mann blos nad 
feinem Kleide? zumal wenn es ein fremdes ihm aufgezwungenes 
Kleid mar? 

A. Das nit! und ich bin geneigt, alle Vorurtbeile fahren 
zu laßen, fobald Sie fie mir als folche zeigen. Mid dünkt aber, 
es wird ſchwer halten: denn ich habe beides, Sprache und Inhalt, 
ziemlich geprüft. 

E. Wir wollen verſuchen und Einer von uns foll den andern 
(ehren. Es wäre traurig mit der Wahrheit, wenn Menſchen ſich 
nicht über fie vereinigen könnten; und ich verwünſchte alle Ein- 
drüde meiner Jugend, wenn fie mir Zeitlebens nichts als Sklaven- 
feßeln jeyn müßten. Wißen Sie aber, e8 find bei mir feine Jugend⸗ 
eindrüde, was ich vom poetiſchen Geift diefer Sprache halte. Auch 





— 225 — 


ich habe ſie gelernt, wie Sie; es daurete lange, ehe ich wiederum 
Geſchmack an ihr gewann, bis ich allmählich in den Geiſt kam, in 

4 dem ſie mir jetzt eine heilige Sprache, die Mutter unſrer edelſten 
Kenntniße und jener frühen Menſchenbildung iſt, die ſich nur auf 
einem ſchmalen Strich der Erde fortgebreitet und ohn unſer Ver⸗ 
dienſt auch zu uns kam. 

A. Das geht ſtark auf eine Vergötterung los. 

E. Auf keine Vergötterung. Wir wollen ſie als menſchliche 
Sprache, auch ihren Inhalt nur menſchlich betrachten; ja, damit 
Sie noch gewißer werden, daß ich Sie nicht überſchleiche, wir wol⸗ 
len nur von ihr als einem Werkzeuge alter Poeſie reden. Gefällt 
Ihnen dieſe Materie? ſie iſt gar nicht verfänglich. 

A. Vielmehr, ſie iſt mir in hohem Grad erfreulich. Ich rede 
gern von alten Sprachen, wenn man von ihnen nur menſchlich 
redet. Sie ſind die Form, in der ſich menſchliche Gedanken, gut oder 
ſchlecht, gebildet haben: ſie geben die unterſcheidendſten Züge vom 
Charakter und der Sehart einzelner Völker, mo man aus der Ver⸗ 
gleihung mit andern immer lernet. Heben Sie aljo immer! an, aud) 
von diefer Mundart morgenländifcher Huronen zu reden; menig- 
ſtens wird una ihre Armuth bereichern und auf eigne Begriffe führen. 

E. Was halten Sie einer poetifhen Sprade, fie möge Huro- 
nen oder Dtabiten zugehören, am nothwendigſten? Nicht wahr, 
Handlung, Darftelung, Leidenihaft, Gejang, Rhythmus? 

5 U Allerdings. 

E. Und welche Sprache diefe Stüde vorzüglich ausgebilvet 
bat, die ift eine vorzüglich poetische Sprade. Sie wißen, m. Fr., 
daß die Sprachen ziemlich ungebilbeter Völker dies im hohen Grab 
jeyn können, ja daß fies vor manchen neuern zu fein gebilbeten 
wirklich find, Ich darf Sie nicht daran erinnern, unter welchen 

94 3 Volk — ja zu welchen Zeiten ſelbſt der Griechiſche Homer ſang. 
. Daraus folgt noch nicht, daß jede barbariſche Nation ihren 
Homer und Oßian habe. 


1) „immer” aus dem Mfe. ergämt. 
Herders fünmtl. Werte. XI. 15 


— 226 — 


E. Vielleicht hat manche mehr als dies; nur freilich für ſich 
und nicht für andre Sprachen. Um von einer Nation zu urthei⸗ 
len, muß man in ihre Zeit, ihr Land, ihren Kreis der Denkart 
‚und Empfindung treten, ſehen, wie fie lebt? mie fie erzogen wird? 
was für Gegenſtände fie fieht? was für Dinge fie mit Leidenichaft 
liebt ? wie ihre Luft, ihr Himmel, der Bau ihrer Organe, ihr 
Tanz, ihre Muſik fei? Dies alles muß man nicht ala Frembling 
oder Feind, jondern ala ihr Bruder und Mitgebohrner kennen 
lernen; und denn fragen, ob fie einen Homer oder Oßian in ihrer 


225} 


Art, für ihre Bebürfnipe Habe? Sie fehen, bei wie merigen - 


Böllern der Erde wir dieſe Unterfuhung angeftellt haben, ober 
jegt erſt anftellen fönnen? Bei den Hebräern fünnen wird gewiß; 
ihre Poeſien find vor uns. 

AU. Aber welche Poefien! und in welder Sprahe! Wie 
unvollflommen ift fie! wie arm an eigentlichen Namen und beftimm- 
ten Beziehungen der Dinge auf einander! Wie unftät und unge- 
wiß find die Zeiten ihrer Verborum, daß man ja niemals weiß, 
ob von heut oder gejtern oder von taujend Jahren rüd- und vor- 
wärts die Rede fei! Adjektiven, die doch fo fehr mahlen, bat fie 
beinah gar nicht, und muß fi mit Zufammenfetung einiger Bet- 
teleien behelfen. Wie ungewiß und weit bergeholt ift die Bebeu- 
tung ihrer Wurzelwörter, und mie gezwungen die Ableitung von 
denfelben ! Daher denn die jchredlichen Katachrejen, die meitherge- 
juchten Bilder, die ungeheuern Verbindungen der entfernteften 
Begriffe. Ihr Parallelismus ift eintönig; eine ewige QTavtologie, 
dazu ohne Maas der Worte und Sylben, das fih nur einiger- 
‚ maafjen dem Ohr empföhle. Aures perpetuis tavtologiis Jaedunt, 
fagt Einer der größten Kenner berjelben, Orienti iucundis, Euro- 
pae invisis, prudentioribus stomachaturis, dormitaturis reliquis 
und das ift wahr! Das fehn Sie bei allen Gefängen und Vor⸗ 
trägen, die den Geift diefer Sprache athmen. Endlich fie hatte ja 
gar feine Vokalen; denn diefe find ein neueres Machwerk: fie fteht 


als eine todte Hieroglyphe, jehr oft gar ohne Schlüßel und Gemwiß- 7 


heit ihrer Bedeutung, wenigſtens ohne fichere Ausſprache und 








— MM — 


Känntniß ihres alten Rhythmus da. Was iſt da von Homer und 
Oßian zu reden? Es wäre, als ob Sie dieſe in Mexico oder auf 
den beſchriebenen Felſen Arabiens ſuchen wollten. 

E. Ich danke Ihnen für den ſchönen Faden den Sie unſerm 
Geſpräch geben. Sie haben eine ſo reiche Materie hervorgelangt 
und wirklich auch ſo überdacht und ſchön geordnet, wie mans von 
einem Kenner mehrerer Sprachen erwarten konnte. Laßen Sie 
uns zuerſt vom Bau der Sprache reden. 

Nicht wahr, Sie ſagten, daß Handlung und Darſtellung das 
Weſen der Poeſie ſei, und welcher Theil der Sprache mahlt Hand⸗ 
lung, oder vielmehr ſtellt fie ſelbſt dar, das Nomen oder Verbum? 
| AU. Das Verbum!, 

E. Alſo die. Sprache, die viel ausprüdende, malende Verba 
hat, ift eine Poetiſche Sprade: je mehr fie auch die Nomina zu 

Verbis maden kann, defto poetifcher tft fie. Ein Nomen ftellt im- 
mer nur die Sade tobt dar: dad Verbum ſetzt fie in Handlung, 
diefe erregt Enpfindung, denn ſie ift felbft gleichfam mit Geift 
8 befeelet. Erinnern Sie fih, mas Lehing*) über Homer gezeigt 
bat, daß bei ihm alles Gang, Bewegung, Handlung jei, und daß 
darinn eben fein Leben, feine Wirkung, ja das Wejen aller Poeſie 
beftebe. Nun ift bei den Ebräern beinahe Allee Verbum: d. i. 
alles lebt und handel. Die Nomina find von Verbis hergeleitet 
und gleichſam noch Verba: fie find wie lebendige Weſen in ber 
Wirkung ihres Wurzelurfprungs jelbft aufgenommen und geformt. 
Bemerfen Sie in.neuern Sprachen, was für Wirkung es in der 
Poeſie thut: wenn Verba und Nomina noch nicht weit getrennt 
und jene zu dieſen werden können. Denfen Sie an das Englische, 
das Deutiche; die Sprade, von der wir reden, iſt gleichlam ein 
Abgrund der Verborum, ein Meer von Wellen, wo Handlung in 
Handlung raufchet. 
A. Mid dünkt aber, diefer Reihthum müße doch immer im 
Verhältniß mit andern Theilen der Rede bleiben: denn wenn alles 





— 


*) Leßings Laokoon: Berlin 1766. 
15 * 


— 228 — 


Handlung wird, ſo iſt ja zuletzt nichts, das da handelt. Sub- 
jectum, praedicatum, copula — fo heißts in der Logif. 

E. Für die Logif- ift diefe Ordnung gut und für das Mei- 
ſterwerk berfelben den Syllogismus ift fie nothwendig; für Die 
Poeſie nicht alfo, und ein Gedicht in Syllogismen könnte niemand 
lefen. In ihr ift die Copula das Hauptwerk, die andern Theile 
find nur Bebürfniß oder Beihülfe Wenn ih alfo zugebe, daß 
für einen abftraften Denter die Ebräiſche Sprache nicht eben bie 
befte wäre; fo ift fies dieſer handelnden Geftalt nach deito mehr 
für den Dichter. Alles in ihr ruft: „ich lebe, bemege mich, wirfe. 
„Mich erihuffen Sinne und Leidenſchaften, nicht abftrakte Denker 
„und Bhilofophen: ich bin alfo für den Dichter, ja ich felbft bin 
„ganz Dichtung.” 

A. Aber wenn Sie Nomina, zumal Abjektiven brauchen ? 

E. So haben Sie fie auch: denn jede Sprache hat, was fie 
brauddet; nur müßen Sie nicht jede nach unjerm Bebürfniß beur- 
theilen. Hundert Namen von Sachen bat diefe Sprache nicht, 
weil das Volk die Sachen felbft nicht Hatte und kannte; fo wie fie 
hundert andre bat, die wir nicht haben. An Abftraktionen ift fie 
arm, aber an finnlihen Darftellungen reich und fie bat eben deß⸗ 
wegen fo viel Synonymen von Einer und derfelben Sache, weil 
diefe jedesmal in ihrer ganzen Beziehung mit allen begleitenden 
finnlihen Umftänden genannt und gleihfam gemahlt wurde. Der 
Löwe, das Schwert, die Schlange, das Kameel haben in den 
morgenländifchen, zumal ber gebildeten berfelben, der Arabifchen 
Sprache fo viel Namen, weil jeder die Sache urſprünglich in eig- 
ner Anficht ſchilderte und diefe Bäche nachher zufammen kamen. 
Auch im Ebrätfchen iſt diefer Ueberfluß an finnlichen Bezeichnungen 
jehr merkbar und dod wie wenig haben mir von ihr übrig! Mehr 
ala 250 botanifhe Namen in einem jo Heinen Bud als unſre 
Reſte der Ebrätfchen Schriften find; Schriften fo einfürmigen 
Gegenftandes, meiſtens Gefchichte oder Poefie des Tempels; denken 
Sie, wie rei die Sprache wäre, wenn wir fie in Pocfien über 
das gemeine Leben und alle Scenen beßelben, ja wenn wir nur 


9 


10 


— 29 — 


das noch hätten, mas in dem übriggebliebenen genannt wird. Viel⸗ 
leiht gings hier, wie faft bei allen alten Völkern; aus der Sünb- 
fluth der Zeiten ift nur foviel, als Noah im Kaften retten fonnte, 
gerettet worden. 

A. Mih dünkt, wir haben gnug, da in dieſen wenigen 
Büchern ſelbſt Eincerlei mehrmal vorfommt. Aber wir kommen 
von unfrer Nede. Ich glaube es wohl, daß die Sprache von ber 
wir reden in Händen andrer Völker reich werden fonnte: wic bt - 
ih die Arabiſche vorgebilvdet! und auch die Phönicier mögen 
Woaaren- und Zahlausprüde gnug gehabt haben; dies arme Hirten - 
und Bettlervolf aber? Wohin fonnte das die Sprache bilven ? 

E. „Wohin fie ihr Getft rief und ihr Bebürfniß wandte. Es 
wäre ungerecht, von ihnen ein phöniciiches Waarenverzeichniß oder 
Arabiihe Spekulation zu fodern, da fie weder hanbelten noch ſpe⸗ 
fulirten; indeß in der Sprache muß dieſer Reichtum da geweſen 

11 ſeyn, denn phöniciſch, arabiſch, chaldäiſch, hebräiſch ift im Grunde 
nur Eine Sprade. Das Hebräifche hat große Zahlwörter, Die es 
uns kurz auszudrüden fchwer wird: es bat eine Menge Namen zu 
Bezeichnung der Naturprodukte, ja ſelbſt der Arten des Schmuds 
und der Ueppigfeit mit denen fie zeitig gnug befannt wurden. 
Den Phöniciern, Iſmaeliten, Wegyptern, Babyloniern kurz den 
gebildetiten Völkern der alten Welt nahe und gleihjam im Mit- 
telpuntt der damaligen Kultur ward die Sprache geredet, fie nahm 
alſo von allen Umliegenheiten gnug an. Hätte fie fortgelebt; es 
hätte alles an fie gereihet werben können, was an die Arabijche 
gereihet it, die fih mit Recht rühmen kann, eine der reichften 
und gebilbetften Sprachen der Welt zu jeyn. 

A. Die Nabbinen haben ja an fie gereibet. 

E. Nicht eben Perlen, auch leider nit nad dem Genius 
ihrer uralten Bildung. Das arme Voll war in die Welt zer- 
ftreuet: Die meiften bildeten alfo ihren Ausdrud nach dem Genius 
der Sprachen unter denen fie lebten und es warb ein trauriges 
Gemifh, an das wir bier nicht denken mögen. Wir reden vom 
Ebräiſchen, da es die lebendige Sprache Kanaans war und aud 








— 20 — 


bier nur von ihren ſchönſten reineften Zeiten, ehe fie mit der 
Chaldäiſchen, Griechiſchen u. a. vermifcht ward. Da laſſen Sie fie 
doch wenigitens als ein armes, aber ſchönes und reincd Landmäd⸗ 
den, als eine Land- und Hirtenſprache gelten: Den Bug, den fie 
von ihren Nachbarinnen annahm, hätte ich ihr gern verziehen. 
A. So mag fie gelten! Die einzelnen Züge ihrer Einfalt 
infonderheit bei Naturfcenen habe ih ala Kind mit Freude gefühlt. 
Aber, m. Fr., mid dünkt, Diefer Züge ift doch fo wenig: es 
fommt alles fo eintönig wieder: nichts bat Umriß: ſchildern end- 
lich, fein ausmahlen können ihre Dichter gar nidt — 

E. Mid dünkt, fie fehildern, wie wenige unjrer Dichter, 
nit fein und überfein, aber ftarf, ganz, lebendig, Bon ihren 
Verbis haben wir geredet: fie find ganz Handlung und Bewegung: 
die Wurzeln derjelben find Bild und Empfindung Die Nomina, 
noch halb Verba, find oft handelnde Weſen und erfcheinen in einer 
ewigen Perfonendihtung. Ihre Pronomina ftehen hoch hervor, 
wie in jeder Sprache der Leidenſchaften. Den Mangel der Adick- 
tiven erjegen fie ſich durch Zuſammenſetzung andrer Wörter, daß 
abermals die Beichaffenheit jelbjt Sache, gleichſam ein eignes ban- 
delndes Mefen wird; mich dünkt, durch alle das wird die Sprade 
jo poetiih, als irgend Eine auf der Exbe. 

A. Es wird am beften ſeyn, wir reden durch einzelne Bei- 
ipiele: fangen Ste von den Wurzeln, den Verbis an. 

E. Die Wurzeln ihrer Verben, fagte ich, find Bild und Empfin- 
dung und ich weiß feine Sprade, wo dic einfache und leichte Ver- 
fnüpfung beider fo finnlih und merkbar wäre. Freilich beſcheide ich 
mich: nicht finnlih und merkbar für ein Ohr, das nur an Töne Nor: 
diſcher Sprachen gewöhnt ift, aber Ihnen, m. Fr., die Sie die 
Namenbildung der Griehen Tennen, Ihnen wird es kaum ſchwer 
werden, einige Schritte weiter zu gehen und die freilich ftärfere, 
aber deßhalb nicht gröbere Wortichöpfung des Orients mitzufühlen. 
Ich wiederhole e8 nochmals, bei ihren prägnantiten Worten ift 
Bild und Empfindung: die Sprade ift mit voller Bruft, mit noch 
unausgebrauditen ftarfen Organen, aber unter einem reinen und 


12 








— 2331 — 


leichten Himmel, mit fcharfem Blid, immer gleihlam die Sache 
jelbft erfaßend und faft nie ohne Spur der Leidenſchaft gebildet 
worden. 

A. Bild und Empfindung? Stille und Leidenihaft? ſtarke 
und doc leichte Töne? Sie verbinden feltfam. 

E. Wir wollen alfo teilen. Alle Nordifhen Sprachen ahmen 
den Schall der Natur nad; aber rauh, gleihfam nur von außen. 
Sie fnarren, rauſchen, ziſchen, krachen mie die Gegenftänbe felbft; 
weile Dichter benugen dies mit großer Sparjamleit; jchlechte über- 

14 treibend. Der Grund hievon liegt offenbar im Clima und im 
Organ, wo und von wem die Sprache urjprünglich gebildet wor- 
den? Je ſüdlicher, deſto feiner wird die Naturnahahmung. 
Homers flingendfte Verſe Inarren und zifchen nicht: fie tönen. Die 
Worte find ſchon durch ein feineres Medium, die Empfindung, 
gegangen und gleihjam in der Region des Herzens gebildet. Sie 
geben alfo nicht grobe Bilder des Schalles, jondern Bilder, auf 
die das Gefühl fein fanfteres Siegel drüdte, die e8 im Innern 
modificirte. Von dieſer Verbindung des Gefühle von innen und 
de8 Bildes von auffen im Ton, in der Wurzel der Verben, jagte 
ih, find die morgenländifchen Sprachen ein Mufter. 

A. Um des Himmels willen, die barbarifchen rauhen Kehlen- 
und Gurgeltöne! Und Sie wagen fie mit dem Griechifchen Silber: 
laut zu vergleichen ? | 

E. Ich vergleiche nicht: jede Sprache leidet bei folder Ber: 
gleihung. Nichts iſt nationellee und individueller als das 
Vergnügen des Ohrs, fo wie die charakteriftiihen Biegungen der 
Sprachorgane. Wir z. E. feten eine Feinheit darinn, nur vorn 
zroifchen Zung' und Lippe zu reden, und den Mund als ob mir 
im Raub und Nebel lebten, wenig zu öfnen: Clima, Sitten 
und Gewohnheit fodern es, die Sprache jelbit iſt dazu allmälich 
gebildet. Der Staliäner, noch mehr der Grieche, denkt nicht jo: 

15 die Sprahe Jenes ift vol runder Bolalen, Dieſes voll Di- 
phthongen, beide fpreden ore rotundo und beißen die Lippen 
nit an einander. Der Orient holt die Töne tiefer aus der 





Bruft, aus dem Herzen bervor: er ſpricht gleihjam, wie Elihu 
anbebt: 

Der Rede bin ih voll! 

mich ängftiget der Othem meiner Bruft! 

Er gährt in mir, wie der zugeftopfte Moft, 

wie der neue Schlauch zerreißt. 

Reden will id und Luft mir machen, 

meine Lippen will ih öfnen und antworten: 
Wenn diefe Lippen ſich öfneten, ward es gewiß lebendiger Saut, 
Bid der Sache im Athen der Empfindung; und das iſt, dünkt 
mich, der Geift der Ebräiſchen Sprade. Sie tft voll Athems der 
‚Seele: fie tönt nicht wie die Griechiſche, aber fie haucht, fie lebet. 
Das ift fie und, die wir ihre Ausfpradhe zum Theil nicht kennen 
und ihre tiefiten Kehlbuchftaben ala unausfprehlich daftehn laſſen; 
in den ältern wildern Zeiten melde Fülle der Scele, welcher 
Hauch des lebendigen Worts muß fie begeiftert haben! Es war, 
wie fies nennen 

— Geiſt Gottes, der in ihnen fprad, 

Des Allmächtgen Othem, der fie belebete. 

A. Abermals fehlt nicht viel zur Apotheoje; doch es mag fo 
ſeyn ınit dem Laut der Empfindung im Anfchaun und Gefühl der 16 
Sade jelbft gebildet. Aber wie ſtehts nun mit der Ableitung aus 
diejen Wurzelmörtern? Sind fie nit ein verwachſnes Dornge- 
büſch, wie auf einer Inſel, die noch fein menſchlicher Yußtritt 
berührte ? 

E. In ſchlechten Wörterbüchern freilich und mande der gelehr- 
teften holländischen Philologen baben uns auch den Weg, mit Beil 
und Art in der Hand, ziemlich erſchweret; es wird aber eine Zeit 
fommen, da das verwadhine Gebüfh ein angenehmer Palmenhain 
jeyn wird. 

A. Das Gleihniß iſt morgenländiſch. 

E. Die Sache auch. Die Wurzel des Mutterworts wird in 
der Mitte daſtehn und um ſie her der Hain ihrer Kinder. Man 
wird in den Wörterbüchern durch Geſchmack, Fleiß, geſunden Ver⸗ 
ſtand und die Zuſammenhaltung mehrerer Dialekte dahin kommen, 


—— — —— — — .— - — 





— 233 — 


das Weſentliche und Zufällige in der Bedeutung zu unterſcheiden, 
die ſanften Uebergänge zu finden und auch in Ableitung der Wör⸗ 
ter, in Anwendung der Metaphern eine wahre Erfindungskunſt des 
menſchlichen Geiſtes, die Logik der Bilderſprache früherer Zeiten 
inne werden. Ich freue mich auf die Zeit, und auf das erſte 
Wörterbuch, das dies in vorzüglichem Grade thun wird; jetzt ſtudire 
ich die beſten die wir haben, Caſtelli, Simonis, Cocceji und 
17 auch ihre reichen Beihelfer, Schultens, Schröder, Storr, 
Scheid und wer ſonſt einzeln oder mit andern dazu beiträgt. 

A. Es wird alſo wohl noch, Zeit bedörfen, ehe man in Ihrem 
Palmenhain eines Morgenländiſchen Wörterbuchs luſtwandle. Wol⸗ 
len Sie indeß nicht eine Probe der Ableitung geben? 

E. Die finden Sie, auch wie die Wörterbücher jetzt find, 
überall. Schlagen Sie die erfte Wurzel nah, und fehen, wie fich 
das Wurzelmort „er ift hingegangen“ fanft ableitet. Eine Reihe 
Ausdrüde des Verlufts, des Verſchwindens, des Todes, des eitlen 
Raths, leerer Mühe und Arbeit gehet in fanften Uebergängen 
daher: und wenn fie ſich in die Zeit des Wanderns, bes Weg⸗ 
ziehens, in alle Situationen des Hirtenlcbens verfegen: fo tönet 
aud) noch in der entfernteften Bedeutung etwas vom Urflange bes 
Wort, dem Bilde der eriten Empfindung. Das macht denn die 
Sprade jo finnlih, den Ausdrud der Poeſie jo gegenwärtig und 
rührend! Solder Wurzeln tft diefe Sprache voll und unſre Com- 
mentatoren, die eher zu hart, als zu leiſe treten, zeigen fie gnug- 
fam. Sie fönnen nit umhin, fie müßen wo möglich alle Wurzeln 
und Adern jenes Baums entblößen, felbit wo man nur jeine Blüthe 
und Früchte fehen wollte. 

18 A. Das find alfo die Schwarzen Ihrer Polmenplentege 

E. Sehr nothwendige und nützliche Leutel Wir wollen fie 
linde Balten, denn aud wenn fie zuviel thun, thun fies in guter 
Abfiht. Haben Sie nod etwas gegen bie Ebräifchen Verba ? 

A. Ziemlih viel. Was ifts für eine Handlung, die gar 
feine Zeiten unterſcheidet? Denn im Grunde find doch beibe 
tempora der Ebräer Aoriſten, d. i. unbeftimmte Zeiten, die zwiſchen 





— 234 — 


der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ſchweben; alſo haben 
ſie ſo gut als nur Ein tempus. 

E. Braucht die Poeſie mehrere? Ihr iſt alles Gegenwart, 
Darſtellung einer Handlung, ſie möge vorbei oder zukünftig ſeyn 
oder fortdauern. Für die Geſchichte kann der Mangel, den Sie 
bemerken, ziemlich weſentlich werden; auch haben die Sprachen, 
die feine Zeitbeſtimmungen lieben, dieſe am meiſten im Styl der 
Geſchichte ausgebildet. Ber den Ebräern iſt die Geſchichte ſelbſt 
eigentlich Poeſie, d. i. Tradition einer Erzählung die auch als 
gegenwärtig gemahlt wird: alſo Hilft dieſe Unbeſtimmtheit oder 
Verſchwebung der Zeiten ausdrücklich der Evidenz, der hellen und 
klaren Gegenwart deßen, was beſchrieben, erzählt oder verkündigt 
wird. Iſt dies nicht im hohen Grad poetiſch? Haben Sie nie, 
m. Fr., im Styl der Dichter oder Propheten gefühlt, wie ſchön die 
Zeiten wechſeln? wie, was Ein Hemiſtichium in der vergangnen 
Zeit ſagt, das andre in Futuro ausſpricht? Es iſt, als ob das 
letzte die Gegenwart der Sache daurend und ewig machte, indeß 
das erſte der Rede eine Gewißheit voriger Zeiten giebt als ob alles 
ſchon vollendet wäre. Das Eine tempus vermehrt das Wort vor⸗ 
das andre rückwärts; alſo wird eine Art ſchöner Abwechſlung auch 
dem Ohr bereitet und die Gegenwart der Darſtellung auch ihm 
ſinnlich. Setzen Sie hinzu, daß die Ebräer wie die Kinder alles 
auf einmal ſagen wollen, daß ſie in Einem Schall Perſon, Zahl, 
Zeit, Handlung und noch mehr ausdrucken: wie ungeheuer viel 
trägt dies zur plötzlichen Darſtellung Eines ganzen Bildes bei! Sie 
ſagen mit Einem Wort, was wir oft mit fünf oder mehr Worten 
jagen müßen. Bei uns hinken dieſe in kleinen oft unaccentuirten 
Sylben vor oder nach; bei ihnen ſchlieſſt ſich alles als Anklang 
oder als ſonore Endung dem Hauptbegrif an. Er ſteht in der 
Mitte, wie ein König; ſeine Diener und Knechte, dicht an ihm, ja 
mit ihm Eins, ſteigen wie eine kleine metriſche Region vollſtimmig 
auf einmal hervor — dünkt Ihnen das nichts zur poetiſchen 
Sprache? Tönende Verba, die ſo viele Begriffe auf einmal geben, 
ſind die ſchönſte Gewalt des Rhythmus und der Bilder. Wenn 


—2 


9 





— 235 — 


20 ich die Worte „wie er mir gegeben hat“ in Einem ſchönen Laut 
hervortreten laſſen kann, iſts nicht poetiſcher und ſchöner, als wenn 
ich ſie ſo einzeln und zerſtückt herzähle? 

A. Fürs Auge habe ich dieſe Sprache bisweilen als eine 
Sammlung von Buchſtabengemälden angeſehen, die gleichſam ent⸗ 

ziffert werden müſſen, halb wie eine Sineſiſche Schrift. Ich be⸗ 

klagte oft, daß Kinder oder Jünglinge, die ſie lernen ſollen, nicht 
frühe zu dieſer Entzifferung, einer Analyſe mit den Augen, ge⸗ 
wöhnt werden, die ihnen beßer thun würde, als manche ſchwer⸗ 
fällige Regeln. Ich habe Exempel geleſen, daß junge Leute, 
inſonderheit von ſinnlicher Anſchauungskraft, in kurzer Zeit ſehr 
weit gekommen ſeyn auf dieſem Wege; uns beiden iſt dies Glück 
nicht geworden — 

E. Es wird uns allmählih, wenn wir Auge und Ohr zu- 
fammen noch dazu gewöhnen. Sie werden ſodenn merken, mie 
wohlllingend Vocalen und Conjonanten vertbeilt, wie anpafjend 
mande Partileln und vorklingende Schälle zu ihrer Bedeutung 
jelbjt find. Inſonderheit werden auch mit diefen wenigen viel- 
tönigen Wörtern die metriſchen Regionen zu einander beftimmt: 
beide Hemiftichten fommen in eine Art Symmetrie, wo Wort dem 
Wort, Begrif dem Begrif gegenüber ftchet; in einer Abwechſlung, 

21 die zugleih Parallele ift und einen zwar freien, aber ſehr ein- 
fahen und wohlllingenden Rhythmus giebt. 

A Da kommen Sie zu dem gepriejnen Parallelismus, mo 
ih fchwerlic Ihrer Meinung ſeyn werde. Wer etwas zu jagen bat, 
ſage e8 auf einmal oder führe das Bild regelmäßig fort; mwieberhole 
fih aber nit ewig. Wer jede Sache zweimal jagen muß, zeigt 
damit nur, daß er fie zum erftenmal Halb und unvollkommen ſagte. 

E. Haben Sie noch nie einen Tanz gejehen? und nichts vom 
Chorgefange der Griehen, der. Strophe und Antiftrophe, gehört ? 
Wie, wenn die Poefie der Ebräer ein folder Tanz, ein kurzer 
und einfacher Chorgefang märe ? 

A. Thun Sie die Siftern, die Paufen und Cymbeln Hinzu, 
jo wird der Tanz der Wilden volljtändig. 


0 
— 236 — 


E. Und wenn ers würde? Der Name muß uns nie ab- 
Ihreden, wenn die Sache felbft gut if. Antworten Sie. Beruht 
nit aller Rhythmus, Tanz und Wohlllang, ja ich möchte ſagen 
alle Anmuth jo wohl in Geftalten als Tönen auf Symmetrie? 
und zwar auf einer leicht zu fafienden Symmetrie, auf Simplicität 
im Ebenmaaſſe? 

A. Ich will das nicht leugnen. 

E. Und ift nicht der Ebräiſche Parallelismus das fimpelfte 
Ebenmaas in Gliedern der Gedichte, Bildern und Tönen? Die 22 
Sylben wurden noch nicht genau ffandirt und gemefien, auch nicht 
einmal überall gezählt; aber Symmetrie in ihnen ift dem blödeften 
Ohr vernehmbar. 

A. Muß fies aber auf Koften des Verftandes ſeyn? 

E. Wir wollen noh beim Bergnügen des Ohrs bleiben. 
Alle Sylbenmaafle der Griechen, die künſtlichſten und feinften die 
je eine Sprache Hervorbradte, beruhen auf Ebenmaas und Har⸗ 
monie. Der Herameter, in dem bie älteften Gedichte gejungen 
wurden, ift den Tönen nach cin fortgehenvder, nur immer ab- 
wechielnder Parallelismus. Diefen noch genauer zu machen jeßte 
man infonderheit bei der Elegie den Pentameter Binzu, der in 
feinen zwei Hemiftichien offenbar wieder Parallelismus ift: “Die 
Ihönften und natürlichiten Odengattungen finds durch den ‘Baralle- 
lismus, fo daß man beinah jagen kann: je mehr in einer Strophe 
nebft einer wohlklingenden Abwechſlung leichter Parallelismus hör⸗ 
bar wird, deſto angenehmer iſt die Strophe. Ich darf Ihnen nur 
den Sapphiſchen und Alcäiſchen Versbau oder den Choriamb zum 
Beiſpiel anführen. Alle dieſe Sylbenmaaße find künſtliche Rün⸗ 
dungen, ſchöngeflochtne Kränze von Worten und Tönen; in Orient 
ſind die beiden Perlenſchnuren noch nicht zu Einem Kranze gewun⸗ 
den, fie hangen einander einfach gegenüber. Bon einem Chor 
Hirten erwartet man feine Dädaliihe oder Theſeiſche Labyrinth: 23 
tänze: fie antworten oder jauchzen einander zu: fie tanzen einander 
entgegen. Mich dünkt, auch diefe Einfalt hat ihre Schönheit. 

A. Für den Sinn des Parallelismus, welche Schönheit ? 








24 


— 271 — 


E. Die beiden Gliever beftärfen, erheben, befräftigen ein- 
ander in ihrer Lehre oder Freude. Bei Jubelgeſängen iſts offen» 
bar: bei Klagetönen will es die Natur des Seufzers und ber 
Klage. Das Othemholen ftärkt gleihjfam und tröftet die Seele: 
der andre Theil des Chors nimmt an unferm Schmerz Theil und 
ift das Echo, oder wie die Ebräer jagen, die Tochter der Stimme 
unſres Schmerzes. Bei Lehroden bekräftigt Ein Spruch den andern: 
es ift als ob der Vater zu feinem Sohne ſpräche und die Mutter 
ed wiederholte. Die Rede wird dadurch fo wahr, herzlich und 
vertraulihd. Bei Amöbäiſchen Gefängen der Liebe giebts die Sache 
jelbft: die Liebe will füßes Geſchwätz: Wechſel der Herzen und ber 
Gedanken. Kurz, es ift jo ein einfältiges fchmwefterlihes Band 
zwifchen biefen beiden Gliedern der Empfindung, baß ich auch auf 
fie die fanfte Ebräifche ODde anwenden möchte: 

Wie Tieblich iftS und angenehm, 

daß Brüder mit einander wohnen! 
Wie fanftes Del aufs Haupt hinab, 
wie e8 hinab die Wange fließt, 
hinunter fließt die Wange Aarons — 
und rinnt zu feines Kleives Saum, 
wie Hermons Thau bernieber rinnt 
bie Berge Iſraels zu fegnen, 

zu fegnen ewiglid — 

A. Großer PVertheidiger des Parallelismus! aber, "wenn fid 
auch das Ohr daran gemöhnte, wie der Verſtand? Er wird immer 
zurüdgebalten und fommt nicht weiter. 

E. Für den Verſtand allein dichtet die Poefte nicht, ſondern 
zuerft und zunächſt für die Empfindung. Und ob diefe den 
Parallelismus nicht liebt? Sobald fi das Herz ergießt, ſtrömt 
Welle auf Welle, das ift Parallelismus. Es hat nie auögeredt, 
bat immer etwas neues zu fagen. Sobald die erfte Melle janft 
verfließt oder fi) prächtig bricht anı Feljen, kommt die zweite Welle 
wieder. Der Pulsichlag der Natur, dies Othemholen der Empfin- 
dung ift in allen Reden bes Affelts und Sie wolltens in der Poefie 
nicht, die doch eigentlich Rede des Affekts ſeyn foll? 


— 238 — 


A. Und wenn fie Rede des Berftandes ſeyn wollte und feyn 
müßte ? 

E. So wendet fie das Bild und zeigts von der Gegenfeite. 
Sie wendet den Sprud und erklärt ihn oder drudt ihn ins Herz: 
abermals PBarallelisınus. Welchen Vers halten Sie im Deutjchen 25 
zum Lehrgedicht für den beiten? 

A. Ohnſtreitig den Alerandriner. 

€. Und er ift ganz Parallelismus; ja forfchen Sie genau, 
warum er zu Einprägung der Lehre fo Fräftig jet, Sie werden 
finden er iſts gerade des Paralleliamus wegen. Alle jimplen Ge- 
fänge und Kirchenlieder find feiner voll, und der Reim, das grofje 
Vergnügen norbifcher Ohren, ift ja ein fortgehender Parallelismus. 

U. Den Reim haben uns die Morgenländer zugebradt und 
den einförmigen Gang der Kirchenlieder nicht minder.. Jenen haben 
die Saracenen, dieſen die Dorologien eingeführt: ſonſt würden 
und Tönnten wir beider entbehren. 

E. Glauben. Sie das? Lange vor den Saracenen find Reime 
in Europa geweſen, Affonanzen vor oder hinter den Wörtern, 
nachdem ſich das Ohr eines Volkes gemöhnt hatte und feine Sprache 
es ertrug. Auch die Griechen haben jo fimple Hymnen und Chor- 
gefänge, als unfre Kirchenlieder eben feyn Fönnten. Nur freilid 
hat der Ebräifche Parallelismus vor unfern Nordifhen Spraden 
das voraus, daß er mit feinen wenigen Worten die Region ſchön 
ordnet und zulegt prädtig in der Luft verhallen läßet; für uns 
alſo ift er beinah unüberfegbar. Wir brauchen oft zehn Worte 26 
wo jene drei brauchen, die Kleinen Worte fchleppen oder vermirren 
fid und das Ende vom Liede ift Härte oder Ermattung. Man 
muß ihn aljo nit ſowohl nachahmen, als ftubieren. In unſrer 
Sprache müßen wir die Bilder mehr fortleiten und ihren Wort- 
bau ründen. Denn wir find an den Numerus der Griechen 
und Römer gemwöhne. Bei Meberfegungen aus Drient aber 
laße man ihn: mit ihm verlöre! fih ein groffer Theil der 


1) Mfe.: verliert 


— 239 — 


urjprüngliden Einfalt, Würde und Hoheit der Sprade. Es 
beißt auch hier: 

Er fpridt, fo geſchiehts, 

er gebeut, jo ſtehets da! 

A. Die einjylbige Kürze dünkt mich aber doch auch erhaben. 

E. Der einfylbige Lakonismus ift weder freundſchaftlich, noch 
poetifh. Auch bei einem Monarchenbefehl wollen wir Wirkung 
des Befehls ſehen und fo ift wieder Parallelismus da, Befehl und 
Folge. a endlich der kurze Bau der Ebräiſchen Sprache macht 
ja den Parallelismus felbft beinah immer zum Monarchen » Befehle. 
Sie wuften nichts vom oratoriihen Numerus einer griechifchen 
oder lateinischen Redperiode. Wenige Worte ftieß der Hauch ihres 
Geiſtes hervor; dieſe bezogen fi) auf einander und weil die Sprache 

27 fo einförmige Beugungen hat, wurden fie einander ähnlich, machten . 
fih durch ihren Schall, jedes Wort durch jeine Stelle und das 
Ganze durch die gleihe Empfindung jelbjt zum Rhythmus. Die 
beiden Hemiftihien wurden Wort und That, Herz und Hand, 
oder wie es die Ebräer nennen, Eingang und Ausgang und fo 
ftand das leichte Tongebäube fertige. Haben Sie noch etwas gegen 
den Parallelismus ? 

A. Ih Habe fogar no etwas für ihn. Denn von Seite 
des Verſtändnißes habe ich dem Himmel oft gedankt, daß cr da 
war. Wo blieben wir mit unfrer Erklärung jo mander dunkeln 
Wörter und Stellen, wenn eben Er ung nicht auf die Bahn 
brädte? Er ift, wie die Stimme eined Freundes, der im wüſten 
Walde von weiten ruft: „hieher! hier wohnen Menfchen! aber freilich 
die alten Ohren find gegen dieſe Stimme taub. Sie gehn, die Echo 
jelbjt ala Perfon aufzuſuchen und wollen im zweiten Gliede ber 
Rebe immer einen neuen Wunderfinn finden. 

E. Laßen Sie fie gehn und uns nur auf dem rechten Wege 
halten. Was den wüften Wald anbetrift, den!’ ich, Sie übertreiben 
bie Sade, da Sie wenn Sie ſich erinnern, Anfangs unfer® Ge- 
ſprächs, die Ebräiſche Sprache eine tobte, Hieroglyphe ohne Voka⸗ 
len, ja naar ohne Schlüßel der Bedeutung nannten. Glauben 


— 240 — 


Sie wirklich, daß die Morgenländer ganz ohne Volalen geſchrieben 
haben ? 

A. Viele ſagens. 28 

E. So fagen fie etmas miberjprechendes. Wer wird Buch⸗ 
ftaben fchreiben, ohne Hauch, der fie befeelet? da auf den legten 
alles ankommt und er im Grunde auf eine allgemeine Art eber 
zu bezeichnen ift, als die mancherlei Schälle der Organe. War 
man über das Schwerere weg: jo ließ man gewiß das Leichtere 
nit nad, an dem doch der ganze Zweck der Arbeit hing. 

A. Wo find denn diefe Vokalen? 

€. Leſen Sie hierüber eine Schrift,*) die biefen wie mehrere 
Punkte des lg Alterthums in ein trefliches Licht fegt. Cs 
ift die erfte Einleifing über diefe Sprade und Sctiften, wo ſich 
Geihmad u lehrſamkeit in gleidem Grade vereinigt. inige, 
wiewohl wenige Vokalen (denn die unfern find allerdings ein junges 
Machwatk der Rabbinen) werden ſehr wahrſcheinlich; und die 
matres lectionis find, dünkt mid, von ihnen noch Reſte. Freilich 
auf grammatiihe Pünktlichkeit wars in ſo alten Zeiten nicht ange- 
jeben: die Ausiprache war vielleicht jo undifciplinirt, wie Otfried 
von der alten Deutfchen Sprache fagte. Wer hat noch ein Alphabet 
für jeden Vokal dieſes Dialekts unſrer Rede erfunden? und mer 
brauht3? Sie ftehen als allgemeine Merkzeihen da, und jeber 29 
modificirt den Schall nad feinen Organen. Eine Reihe feiner 
grammatiſchen Regeln über die Verändrung der Vokale, die Ab- 
leitung der Conjugationen u. f. find, fürdte ih, Wind. 

A. Und doch wird die Jugend damit gequälet. Ich habs 
mir nie einbilden können, daß eine fo rohe Sprade mie die 
Ebräiſche fo viel regelmäßige auch in der Bedeutung von einander 
unterjchiedne Conjugationen haben follte, ala man den Jünglingen 
bei jedem Wort zu finden einbläuet. Die vielen Anomalien und 
Defectiven zeigend. Der groffe Troß folder Eintheilungen ift aus 
andern Morgenländiichen Sprachen her, nad denen die Rabbinen 


*) Eihhorns Einleitung ins A. T. Leipzig 1780. Th. I. ©. 126. 





— 241 — 


auch diefe zu modificiren beliebten. Ins Eleine Ebräiſche Zelt trug 
man, was nur hinein Tonnte. 

E. Auch bier muß man nicht übertreiben. Die künftliche 
Form der Sprade gefaßt haben, ift gut und für uns jet nöthig, 
ob es gleih unwahrſcheinlich ift, daß fie von den frübeften Zeiten 
dagemejen und auch von jedem Ebräer jo gedacht worden fei. Wie 
wenige ſelbſt unfrer Schriftfteller Baben die ganze Form ihrer 
Sprache bis auf jede feine Biegung im Kopf, daß feine Abweichung 
ftatt fünde? Und denn, wie verändert fi) der Bau der Spracde 

30 mit den Zeiten! Es ift gut, daß wir endlid Männer befommen, 
die auch über die Grammatif diefer Sprache denen. 

A. Und mid dünkt, jeder müfte ſich feine philoſophiſche 
Grammatif felbft maden. Er laße bismeilen die Volalen und 
andere Lejezeihen weg, fo gehn die Conjugationen viel näher an 
einander; er braudt nicht erſt dem Wort fiebenmal den Hals um- 
zufehren, bis e8 in eine Form will. 

E. Er fannn aber auch ein zweiter Masklef over Hutdin- 
fon auf dieſem Wege werben. Am beften ift, daß man das Auge 
fleißig durch Paradigınen, jo wie das Ohr durch lebendige Schälle 
übe und beide an einander gemöhne So fommt man in den 
Genius der Sprade und verkürzt fich den Weg der Regeln. Die 
Spradhe wird und nicht mehr Schulmäßig und Rabbiniſch, jondern 
Alt⸗Ebräiſch, d. i. eine Dichterſprache werden. Mit Gedichten in 
ihr müßte der Knabe aufgeweckt, der Jüngling belohnt werden und 
ih bin gewiß nicht nur Knaben fondern aud Alte würden ihre 
Bibel wie einen Homer oder Oßian liebhaben, wenn fie wüſten, 
was in ihr fteht. 

A. Ich vieleiht auch, wenn Sie mit mir fortgingen, 
wie jebt. 

E. Wir wollen die Sache auf unjern Spaßiergängen, am 

31 liebften in der Morgenſtunde treiben. Die Poeſie der Ebräer 
gehört unter den freien Himmel und wo möglih, vord Auge der 


Morgenrötbe. 
4. Warum eben dahin? 
Herdere fümmtl, Werte. XI. 16 


— 242 — 


E. Weil fie die Morgenröthe der Aufklärung der Welt ge- 
weien, und wirklich noch jeßt eine Poefie! der Kindheit unfres 
Geſchlechts it. Man fieht in ihr die früheften Anſchauungen, Die 
fimpelften Borftellungsarten der menſchlichen Seele, ihre einfachfte 
Bindung und Leitung. Wenn ein Menfch nichts von ihrem wun⸗ 
derbaren Inhalt glaubte, die Naturſprache in ihr müfte er glauben, 
denn er würde fie fühlen; bie erften Anſchauungen ber Dinge 
müften ihm lieb werden, denn er würde an ihnen lernen. Ihm 
rüdte in ihr die frübefte Logik der Sinne, die einfachite Analytik 
und Moral, kurz die ältefte Gejchichte des menjchlichen Geifte und 
Herzens vor Augen; — wenn es Poefie der Kannibalen wäre, 
hielten Sie fie zu diefem Zweck nicht Aufmerlens werth ? 

A. Wir fehen uns aljo morgen. 

E. Und voraus lefen Sie etwa dies Gebiht: was es für 
Wunder und Wohlthat fei, daß und eine Sprade aus fo fernen 
frühen Zeiten her töne. 


Sprade und Sdrift.*) 


Heil dir! unfihtbar Kind des Menſchenhauchs, 
der Engel Schwefter, füße Sprache Du! 
Ohn' deren treuen Dienft das volle Herz 
Erläge unter der Empfindung Laft. 
Kein Lied von Alters ber befuchte je 
ein menfchlid Ohr: bie Vorwelt wäre flumm: 
verhallt des Menfchen wie bes Thieres Tritt: 
des Weifer Herz auch feiner Lieder Grab. 
Allmächtiger, der Herz und Zunge band, 
ber einem ſchwachen Hauch, bem leeren Schall 
Gedanten, Herzensregung, Allmacht lieh, 
zu tönen über ferne Zeiten bin, 


*) Zum Theil nach einem Englifchen Gedicht, ber Introduction zu 
den Works of the Caledonian Bards Vol. 1. Edinb. 1778. 


1) „eine Boefie” aus dem Mſe. ergänzt. 














— 1 — 


der dem Gedanken Flügel gab und Kraft 
auch ſeines Gleichen zu erſchaffen, Kraft 
des Bruders Seele mit der Worte Licht 
zu überſtrömen, zu erquicken ſie 

mit ſüßer Tön' unſterblichem Geſang. 


Verborgner Gott! in deiner kleinſten That 
ſo tief verborgen! Meine Zunge harrt, 
die Seele fortzuſtrömen, weiß nicht wie? 
Mein Herz verlangt ſich auszugieſſen, ſich 
zu Bilden in des Hörers Ohr; das Ohr 
empfängt den Laut und fagts ber Seele an; 
“und unerſchöpft bleibt meine® Herzens Duell. 
Ja höher wallt er aufl Der Worte Licht 
entflammet meinen Geift, der Töne Kraft 
erhebt mein Herz; und o ein leerer Hauch 
giebt flüchtigen Gedanken Ewigkeit! 


Denn Du, o Schöpfer, gabft dem Menfchenfinn 
bein zweite® Kunftgeheimniß, auch dem Schall 
Geftalt zu geben, ihn zu feßeln neu 
mit ſchwacher leifer Züge Engelsfchrift. 

Sie leſend weißagt, fpricht der ftille Geift 
mit frembem, fernem Geifte, weckt aus ſich 
Gedanken, die ibm Zug und Bild nicht gab, 
fliegt in entfernte Zonen, ahndet tief 

ih in der Vorwelt Herz: die göttlichften 
Geftalten fleigen vor ihm auf: er blickt 

in aller Weifen Bufen, böret noch 

bein hohes Lied Homer und Oßian. 


Und ſeyd denn ihr werfcharret, heilige 
Urväter unſrer Lieder, Sprach’ und Schrift? 
Ihr frühen Weifen, denen Gott zuerft 
den Mund befeelt’ und aufthat ihren Blick, 
zu ſehn den Unfichtbaren überall, 
ben Unnennbaren, Ziefverborgenen 
zu nennen, ihn gu bilden feinem Bolt 
nicht in Geftalten, in ber Töne Kraft. 
Seyd ihr vergehen, denen Gott zuerfi 
bie Hand gelentet, der Vergeßenheit 
Reich zu zerfiören? zu vertrauen uns 

16* 


was fie erblidten, was Gott ihnen fprad. 
Hat eure Harfe keinen Ton für uns? 
und euer Morgenroth für uns lein Licht? 


Sch ſeh, ich fehe fie. Sie fchlummern da 
in ihren beilgen Gräbern. Wag’ ich es 
den dunkeln Schleier anzurühren nur, 
der auf den Tobten liegt? Ich tret’ Hinzu: 
e8 glänzt ihr Angefiht: fie fchlummern fchön. 
Und o ein hoher Harfenlobgefang 
umringt mein Ohr! — Sie gehn baber vor mir 
in glänzendſchöner Pracht und Majeftät. 
Jeſaias, Hiob, Moſes und der Hirt, 
lieblich gelrönt mit Pſalmen Ifraels. 
Die Harfen in der Hand Tobfingen fie 
wie Morgenftern’ um ihres Schöpfer Thron, 
und Erd’ und Himmel ftaunen, fühlen neu 
die Hand, die fie, auch fie, zu Liedern ſchuf. 


Erzengel des Gefanges, ſchwebet ihr 
binweg? binauf? und laßet, laßet mir 
aus eurer Harfe feinen leiſen Laut, 
aus eures Bufens Fülle feinen Ton, 
fein Lüftchen von ber Gottesflamme Sturm? 
Sol der Gejang der Allmacht Tange noch 
in ftarren Bildern ſchlafen? fol der Kranz 
vom Lebenshbaum der Schöpfung, Moder feyn, 
verehrt und dumpfbenebelnd Aug’ und Geift? 


Kommt, beilge Schatten, fommt und beiliget 
mir Lipp’ und Sprade! Keine Spracde je 
tann eures Liedes Gott unbeilig ſeyn, 
den alle Zungen loben! Steht mir bei, 
daß ih von eurem Fußtritt nur die Spur, 
von euren Bildern, euren Tönen nur 
den Schatten, nur den Nachhall gebe, treu 
enträtbfelnb alter Züge Gottesfhrift 
und eured Herzens bocheinfältgen Sinn. 
Andeuten will ich, was mein Mund verſchweigt, 
und eure Kraft verfenfen in mein Herz. 














36 u. 
" Inhalt des Gefpräde. , 
229. 


Aufgang ber Worgenröthe. Bild ber Weltſchöpfung in ihr. Frühetter ud IST Ar 
Anblid der Natur. Erſtes Gefühl des groffen Geifte® als eines mäch⸗ fuhr Tem 
tigen Wefens. Ob dies Gefühl ſtlaviſche Furcht oder viehiſche Stu- 

pibität gewefen? Wahrſcheinlicher Urfprung ber Ideen bes Schredlichen 

in den alten Religionen. Probe reiner Begriffe von Gott bem Mäd- 

tigen: von ihm dem Webermächtigen aud in Gedanken der Weisheit. 

Bon den Elohim. Wahrſcheinlicher Urſprung des Begrifs berfelben. 

Ob er zur Mbgätterei Anlaß gegeben? Wie nothwendig und nügfic der 

Begrif von Einem Gott der menfchlihen Vernunft gewefen? Berbienft 

der Poefie, die ihm beveftigt und ausgebreitet. Winfaches Mittel dazu, 

der Parallelismus Himmels und ber Erde. Was die morgenlänbifche 

Poefie aus der Verbindung beider Begriffe gewonnen? Wie fie Gott 

ſchildere, in Ruhe und in That. Sein Wort. Frühere Begriffe von 

den Engeln. Bilder von Gott al8 dem immer wirkſamen Haushalter 

der Schöpfung. Beilage eines morgenländifcen Lobgefanges. 


Die Morgenröthe war noch nicht angebrochen, als die beiden 
Freunde fih am beftimmten Ort, einer angenehmen Höhe von 
ſchöner Ausficht, zufammenfanden. Noch fahen fie alles Formlos 
und in ben Schleier der Nacht gehüllt, vor fi liegen: da regte 

37 ſich der Hauch der Nacht, und es erſchien die liebliche Morgenrötbe, 
Sie ging hervor, wie der Blid Gottes auf eine zu erneuende 
Erde: um fie ſchwebte die Herrlichleit des Herrn und meihte ben 
Himmel zu feinem prächtigen ftillen Tempel, Je mehr fie ſich 
erhob, je mehr hob und läuterte fi das golbne Blau: es ſonderte 
fih von den Waßern, Nebel und Dünften, die zur Erde fielen, 
bis es wie ein himmliſcher Ocean, wie ein Sapphier mit Golde 
durchwebt, daſtand. Je mehr fie ſich erhob, deſto mehr Hob ſich 


die Erde: es theilten fi auf ihr die dunkle Maſſen, bis auch fie 
wie eine Braut dafland, geihmüdt mit Kräutern und Blumen, 
und mwartend auf den Segen Jehovens. Die Seele des Menſchen 
beitert fich wie der Morgenhimmel: fie hebt ſich aus dem Schlaf, 
wie die jungfräulide Erde; feiner aber diefer angenehmen Augen- 
blicke ift beiliger, al8 das Werden des Lichts, der Anbrud der 
Dämmerung, wenn, mie die Ebräer jagen, die Hindin der Morgen 
röthe mit den Schatten kämpft und mit zujammengebognem Haupt 
und Knien den Augenblid erwartet, der fie von der Angſt erlöfe. 
Es ift wie eine Geburt des Tages: janfter Schauer bebt durch alle 
Weſen, als ob fie die Gegenwart Jehovahs fühlten. Die älteſten 
Völker trennten das Licht der Morgenröthe vom Sonnenlidhte, und 
bieltens für ein unerfchaffnes Wejen, für einen Glanz, der vom 
Throne Jehovahs herſchimmre, aber zurüdgenommen werde, jobald 
die irrdifche Sonne erwadt. Sie tft der Statthalter der Gottheit, 38 
nachdem fi) Jehovah jelbft verborgen. 

Eutyphron. Feiern Sie, Freund, diefen einzigen ſchönen 
Anblick. Er ift die Morgenröthe des menſchlichen Wißens geweſen, 
und mar vielleiht die Wiege der erften Poeſie und Religion 
der Erde. 

Alciphron. Sie find der Meinung bes Verfaßers der 
ältejten Urkunde; denken Sie aber, was man ihm entgegen- 
gejegt hat. 

E. Zu unjerm Zweck nichts und wird ihm nichts entgegen- 
ſetzen können, jolange Morgenröthe, Morgenröthe ſeyn wird. Haben 
wir nicht eben jegt alle Scenen diejer groſſen Weltihöpfung geſehen 
und gefeiert? Vom ſchwarzen regen Nachtgemählde bis zum präch⸗ 
tigen Emporftcigen der Sonne, mit der alle Wefen, in Luft und 
Wafler, Meer und Erde zu erwachen ſcheinen. its Einwurf, 
daß mit der Sonne nicht zugleich Mond und Sterne aufgehen? 
und fehlte etwas, als daß man nod den zweiten Einwurf machte: 
jeden Tag jei ja ein ganzer Morgen und bier fei er in ſechs Tage 
und Tagwerke veriheilt: — Doch mas ftören wir uns die foftbare 
Stunde? Nicht nur der erfte kurze Bericht von der Schöpfung, 











— UT — 


fondern aud alle Ebräiſche Loblieder auf Idiefelbe, ja die meilten 
Namen der ſchönen Gegenftände, die wir jeßt vor und um uns 

39 jehen, find wie im Anblid diefer Dinge felbft gebildet worden: 
dies gab aljo die ältefte Naturpoefie der Schöpfung. 

A. Wenn? und von wem gebildet ? 

E. Das weiß id nit: in die Wiege des Menſchlichen Geiftes 
mag und kann mein Verftand nicht bringen. Gnug, bie fo poetifce 
Wurzeln der Sprade find da, die Lobgeſänge und glüdlicher Weile 
auch der erfte Umriß des Gemählber ift da,*) nad oder mit dem 
fi beide gebildet zu haben jcheinen. Wie? wenn wir bier bie 
erften been von Anſchauung der Natur, von Bindung und Fort- 
leitung ihrer jo manderlei Scenen auffudten, die in dieſer kind⸗ 
lichen ſchönen Naturpoefie liegen? Wir könnten unsre Morgenftunde 
faum würdiger feiern. 

. U. Sehr gen: und id) bin überzeugt, daß dem groffen Wefen, 
das ung umgiebt und_erfüllet, nichtö angenehmer fei, als ein Lob⸗ 
gejang unſrer unterjuchenden Gedanken. Der Morgen des Tages 
wird uns an die Morgenröthe der Welt erinnern und auch unirer 
Seele Jugend und Morgenröthe geben. — Ueberhaupt habe ichs 
bemerkt, daß die Poeſie jedes Volks fih nad dem Clima richtet, 
in dem fie tft gebildet worden. Ein niedriger, Falter, neblichter 
Himmel giebt au Bilder und Empfindungen der Art; mo er rein, 
frei, weit ift, befommt auch die Seele Umkreis und Flügel. 

40 E. Ich hätte dagegen mandes; laßen Sies indefien gut 
jeygn. Wir wollen weder auf Sinat no Tabor, fondern, mo 
möglich, auf den Berg der Berge, die erfte Höhe irrdiſcher 
Schöpfung treten und wahrnehmen, wie fih da Morgen gebar, 
wie_ba die erite Poeſie der Welt warb? Dünkt Ihnen aber der 

Flug zu hoch, die Gegend zu fürdhterlih und einfam; nun jo laßen 
wir und, wo wir wollen, nieder, und am liebften, dünkt mich, Bier. 
Nacht iſt überall Naht, und Morgen Morgen; überall ift Himmel 
und Erde und der Geift Gottes, der fie erfüllet, der den Menſchen 


) 1 Mof. 1. 


— 248 — 


anhauchte und erhob, der ihm mit dem Anblick Himmels und der 
Erde Naturpoeſie des Herzens und des Verſtandes eingoß. 

A. Fangen Sie alſo vom erſten der menſchlichen Urbegriffe an. 

E. Bon wem könnte ——— ala Dom Kamen Dh Der 
in diefer alten Poefie alles belebt und bindet. Sie nannte ihn 
den Gewaltigen, den Starken, deßen Uebermadt fie allenthalben 
ſahen, deßen Gegenwart fie ungefehn mit Schauer der Ehrfurcht 
fühlten, den fie alfo, wie das Wort eigentlich fagt, verehrten, bei 
dem fie ſchwuren, den fie vorzüglid Er, den groffen Geiſt nannten, 
den alle wilde und kindliche Nationen der Erde noch ſuchen, fühlen 

ı und anbeten. D Freund, aud bei den wildeften Völkern, wie 
erhaben wird Poefie und Empfindung dur das -allgegenmärtige 41 
\Gefühl dieſes groffen, unfichtbaren Geiſtes. Haben Sie in einer 
der neuern Reifen *) die Geſchichte jenes Amerikaners gelefen, der 
den groffen Waßerfall zu fehen reifte? Bon fern fchon, da er das 
erhabne Geräufch hörte, ſprach er mit dem groffen Geift: als er 
näher Hinzu Tam, fiel er nieder und betete an. Nicht aus Inechti= 
cher Furcht oder dummer Stupibität, fondern im Gefühl, daß in 
einem fo wunderbaren, grofien Werk der groffe Geift ihm gleidh- 
jam näher fei, dem er alfo auch das Befte, mas er an fich "hatte, 
auf eine kindliche Weife mit furchtlofen Bitten verehrte. Sein 
Gefühl ift die Gefhichte aller alten Völker, Sprahen, Hymnen, 
Namen Gotted und Neligionsgebräude, wo aus Trümmern ber 
Urmelt Ihnen eine Schaar von Dentmalen und Beweiſen befannt 
ſeyn wird. 

A. Sie find mirs; aber die Philofophen haben diefen Schauer 
der Ehrfurcht ganz anders erfläret. Furcht und Unmißenheit, 
jagen fie, haben Götter erfonnen: knechtiſches Entfegen, brutale 
Stupibität Habe ihnen zuerft, als mächtigen, aber Schabenfrohen 
Weſen, kurz als unfihtbaren Teufeln geopfert. In allen Sprachen 
babe die Religion von Furt den Namen und im Ebrätfchen führen 
fte eine Reihe der älteften Gottes-Namen zum Beweiſe an. 





*) Carver's Reifen. 


— 249 — 


42 E. Die Hypothefe ift alt, wie das meifte, was in diefer Art 
vorgebradht wird; ich fürchte aber, fie ift fo falfch als alt: denn 
nichts wird _vom falten, zumal fchiefen Denker leichter mißverftanden, 
als das ſchlichte Menſchengefühl. So viel ich Refte des Alterthums 
fenne, fo viel Zeugen, dünkts mich, vor mir zu fehen, daß bies 
Gefühl der Anbetung blos und zuerft nicht jHavifcher Knechtsdienſt, 
nod weniger viehiſche Stupibität gemein. Dadurch, daß alle 
Völker Götter verehren, unterfcheiden fie fih eben vom Thier und 
faft überall in der Welt ift die Empfindung übermädtig geweſen: 
unſer Dafeyn jet Wohlthat, nicht Strafe, das groffe Weſen fei 
gut, und der Dienft, den man ihm zu bringen habe, dörfe fein 
Entjegen feyn, das ihm wie dem Teufel opfre. 

A. Sind Ihnen aber nicht fo viel fchredliche Gebräuche be- 
fannt, und haben Sie die Bücher des Mannes*) nicht gelejen, der 
alle Religion aus Vermwüftung der Welt, Sündfluth, fchredlichen 
Ahndungen neuer Umftürze berleitet? 

E. Laſſen Ste ihn ſchlafen. Er mar Auffeher über Brüden und 
Deiche, und mußte alſo Amtöhalber eine Wapßerphilofophie haben. Seine 
Bücher find fo ſchlecht, feine Gelehrſamkeit jo unficher, feine Ein- 

43 bildungsfraft jo verworren, daß fie alle ziemlich den Waßern ber 
Sündfluth gleichen. Wir wollen auf veiten Boden treten und jagen: 
allerdings mifchte ſich die Religion vieler alten Völker mit Schreden 
und Furt, zumal der Völker, die in rauhen Gegenden, unter 
Felſen und brennenden Bergen, an einem wilden Meer, in Hölen 
und Klüften wohnten, oder dad Andenken fürchterlicher Begeben- 
beiten, groſſer Verwüftungen u. f. erhalten wollten. Das find 
aber offenbar Ausnahmen; denn die ganze Erde ift feine ewige 
Sündfluth, fein brennender Veſuv. Die Religion der Völker in 
janften Erbdftrichen finden wir fanft, und auch bei den fchredlichften 
Nationen ift das Dafeyn eines mächtigen guten Geiftes nie ganz 
ausgetilget, ja beinahe noch immer berrichend geweſen. Endlich 
ſcheinen alle dieſe Zufähe, das Werk des Schreckens, des Aber: 


elZ,N pm 


*) Boulanger. 





— 250 — 


glaubens und Pfaffendienfts, wirklich jpätern Zeiten anzugehören : 
die Begriffe der älteften Religion find groß und ebel. Das menſch⸗ 
liche Geſchlecht fcheint mit einem fchönen Schag einfacher, reiner 
Känntniße ausgeftattet zu feyn; nur die Abartungen, die Wande⸗ 
rungen, die Unglüdsfälle haben ihn mit falſchem Metall vermehrt 
und vertaujchet, bis denn die Vernunft allmälich ihr Geihäft ange- 
treten, den Scha zu muftern und zu jäubern. Laßen Sie indeßen 
diefen Tumult von Völfern; wir reden ja nur von Einem Boll, 
Einer Sprade — 

A. Mm der doch auch die älteften Namen Gottes nicht von 44 
Güte und Liebe, ſondern von Stärke und Verehrung fagen. 

E. Das müßen fie jagen: das ift das erfte Gefühl der Men- 
ihen von dieſem unbegreiflihen Urheber. Macht, unendliche Ueber- 
macht Seiner ift, was ein ſchwaches Erdengeſchöpf zuerft von ihm 
empfindet. Es fühlt fi fo tief unter ihm, da ja fein Othem in 
Gottes Hand, da fein Dafeyn felbft nur eine Folge feines Wil⸗ 
len, feiner uns unbegreifliden Kraft if. Das alte Bud Hiob 
ift bier der lautefte Beweis auf allen Blättern: 

Wohl weiß ich, daß das alfo ift:*) 

was iſt ein Menfch, entgegen Gott? 

Im Herzen weife, ſtark von Kraft; 

wer wiberftünde ihm; und bätte Ruh? 

Der Berge weghebt und fie wißens nicht, 
der fie umkehrt in feinem Grimm. 

Er bebt die Erd’ aus ihren Gründen auf: 
da zittern ihre Säulen. 

Er ſpricht der Sonne und fie geht nicht auf: 
bie Sterne fiegelt er in ihre Wohnungen: 
und fpannt die Himmel aus allein, 

und wanbelt auf des Meeres Höh. 

Den Wagen und das Nordgeftirn, 

die Siebenftern, bes tiefen Südes Kammern 
bat Er gemadt. — 

Macht große Dinge, unerforfhlich groß, 45 
thut Wunderbinge, unauszählbar viel. 


*) Hiob 9. 





46 


— 251 — 


Schau! mir vorüber geht er; ich ſeh ihn nicht: 
vorüber mir; ich werd' ihn nicht gewahr. 
Er reißt hinweg, und wer mag wiederbringen? 
wer zu ihm fagen: was madıft bu? 
Glauben Sie nit, daß dies hohe Gefühl, Gefühl der Natur fei? 
und daß je heller, je umfaßender ein Volk überall Kraft Gottes 
fiehet,, auch der Ausdruck davon regfanter jeyn werde? Selbſt die 
Weisheit dieſes Gottes, momit er alles, womit er das empfindende 
Geſchöpf gebildet Hat, ift ihm nur Uebermacht, ein ungeheures 
Meer von Beritandes - Kräften, in defien Abgrunde es verfinket. 
Wißen Sie davon in der Ebräifchen Poefie feine Probe? 
A. Sie meynen meinen Lieblingspfalm;*) er mag auch jetzt 
mein Morgengebet feyn: 
Jehovah du erforfcheft mich 
und fenneft mid. 
Ich fite oder ſtehe auf; fo weißt du «8, 
fiehft meine Gedanten weit von fern. 
Geh’ oder lieg' ih, Herr, bu bift um mich; **) 
al meinen Wegen bift du tiefvertraut. 
Ich hege nichts auf meiner Zunge; 
fieh, Herr, du weißt es ganz. 
Denn um und um baft du mich ja gebildet, 
haft ringsum deine Hand auf mir gehabt: 
Em Wunder ift dies dein Erkenntniß mir, 
ift mir zu hoch; ich reiche nicht daran. 
Wo foll ich hingehn, Herr, vor deinem Geiſt? 
Wo fol ih hinfliehn, Herr, vor deinem Anblid? 
Stieg’ ich gen Himmel; bu bift dal 
macht’ ich mein Bett im Abgrund’; da bift bu! 
ſchwäng' ih mid) auf der Morgenröthe Flügel, 
und wohnt’ am letten Dieer; 
Auch da muß deine Hand mich führen, 
auch da mich deine Rechte leiten. 


*) pſ. 139. 
**) Gigentlih: du fichteft mich: das im Deutfchen ungewohnte Bild 
ſchadet indeſſen auf dieſer Stelle ver Empfindung, bie durch ben ganzen 
pPſalm berrfchet. 


— 12 — 


Und ſpräch' ich: Finſterniß ſoll um mich lauren,“) 
die Nacht ſoll Licht mir ſeyn; 
Auch Finſterniß verfinſtert mich nicht bir! 
die Nacht iſt hell dir wie der Tag: 
Licht und das Dunkel iſt dir gleich. 
Denn du haſt inne mich im Innerſten: 
in meiner Mutter Leib' umgabſt du mich. 
Dich preis' ich, daß ich ward! ein hohes Wunder! 
Wunder ſind deine Werke alle: 
das fühlet meine Seele tief. 
Nicht war dir mein Gebein verhüllt, 
als in der Hülle ich gebildet warb: 
als ich in tiefer Erbennacht 
ein Kunſtgeweb', geftidt warb. 
Umwickelt noch, ſah fon bein Auge mid, 
auf deinem Buch war alles fchon gefchrieben, 
die Tage meines Lebens ſchon bezeichnet. 
Wie ſchwer find, Gott! mir deine Gebanten! 
es übermältgen ihre Summen mid). 
Sollt' ich fie überzählen; 
mehr als der Sand am Meer wär’ ihre Zahl. 
Aufwachend wie vom Traum, bin ich noch ganz bei bir. 

E. Sie haben mit dem Ausbrud des Originals tapfer 
gefämpft; wißen Sie aber, daß die herzliche Einfalt Luthers, felbft 
wo fie minder treu tft, mir zum Gebet der Empfindung rührender 
dünft? vielleicht weil fih mein Ohr frühe daran gewöhnt bat. 
Nennen Sie. mir einen ſolchen Hymnus vol ber fhönften Natur- 
theologie bei andern jo alten Nationen? Hier find die reinften 
Begriffe von Gott, feine Allwißenheit und Vorwißenſchaft, feine 
innige Känntniß der menjchlihen Seele, feine Allgegenmart, die 
Uebermacht feiner Gedanken in Bildung unſrer, wie in aller Dinge 
Bildung und Leitung mit Innigkeit gefchildert. Selbft der Gedanke, 
mit dem manche der neuen Philojophen jo groß thun, daß Gott 
feinem Dinge auf der Welt zu vergleihen, daß Nacht ihm hell 


*) Wenn 970 bier biefe Bedeutung bat, fo mirb ber finnliche Ein- 
drud der Finfterniß lebhaft gefchilvert. Der 11. u. 12. 2. foll dem Bau 
ber Berfe nach offenbar Gegenſatz ſeyn. 








— 263 — 


48 wie der Tag ſei, iſt in vielen Stellen Hiobs und der Propheten, 
ja endlich in dem bloſſen Wort Heilig! d. i. völlig unvergleichbar, 
fo eigentlich dargeftellet, daß ich feinen reinern Deismus wüßte, 
als der in dieſen Lobgeſängen des A. T. herrſchet. 

A. Erinnern Sie fi aber auch, wie jung dieſe ſchöne Stel- 
len find, und daß in dem älteften Lobgejange der Schöpfung *) 
noch die Elohim herrſchen. 

E. Ohne Zweifel fand Moſes ſie in dieſem alten Schöpfungs⸗ 
bilde; denn er, der große Verfolger der Vielgötterei und alles 
deſſen, was zu ihr führet, würde ſie gewiß nicht hineingeſetzt haben. 
A. Das glaube ih auch: und er ſetzte vielleicht zu ihnen das 
Wort ſchuf im Singulari, um der Pielgötterei vorzubeugen; deß⸗ 
wegen bleibt doch der erite Begrif der Elohim polytheiftiih. Es 
find die Elohim, nad deren Weisheit die Schlange die erften Men- 
ſchen lüftern machte,“*) und die mwahrjcheinlih nad der Meinung 
Eoa’3 eben von diefem Baum ihre Weisheit aßen. Sie willen, 
wie der Drient alles mit unfihtbaren Weſen bevöllert, wie er 

inſonderheit Ein Geſchlecht von feinen Geiftern bat, die von den 
Düften der Bäume leben, Kriege mit böfen Riejengeiftern führen 
und fih der Pflanzen, Bäume, Blumen, Berge, ja der Elemente, 

49 Sterne u. f. annehmen. Der MBolytheismus diefer Art ift allen 
ungebildeten Nationen eigen und fo fonnte die reiche Einbildungs- 
fraft der Morgenländer unmöglid davon frei bleiben. Sie jahen 
alles als lebend an und begabten aljo auch alles mit lebendigen 
Weſen; das find die Elohim, Adonim, Schabim der Ebräer, bie 
Jzeds der Parſen, die Lahen der Tibetaner, (ein Name, der mit 
Elohim ſelbſt Aehnlichkeit zu haben fcheint) die Dämonen der Orphi⸗ 
hen Hymnen, kurz die älteften Geifter und Götter der ungebil- 
beten Welt. 

E. Gefecht, dab das Alles fo wäre! Finden Sie etwas 
niedriges darinn, daß ein ſchwaches Geſchöpf von geftern, wie der 
Menſch ift, das die Schönheit der Welt bewundert und den Urheber 








1Moſ. 1. **) 1 Mof. 3. 





derfelben nicht fichtbar antrift, das überall Macht und Weisheit, 
eine fich wiedergebährende Schöpfungstraft fiehet und an einzelnen 
Schönen Dingen hangt, daß es diefen Dingen aud einzelne unficht- 
bare Schöpfer, Erhalter und Erneurer gebe? Dem finnlichen 
Auge ift der Schauplag der Welt leer von Urſachen und doc fo 
überfhwänglih voll von Wirkung; wie leicht alfo, daß man fi 
einzelne Urheber dachte, wo Einer dies, der andre jenes ſchöne 
Geſchöpf, einen Baum, eine Pflanze, ein Thier, gleihfam mit 
Liebhaberei am Werke, mit einem tiefen Gefühl deſſen, was jedes 
brauchte und in feiner Natur genieflen könnte, ausgebildet. Diele 
Schöpfer festen ſich in jedes Theilchen ihres Gefhöpfs mit Theil- 50 
nehmung und Liebe; und die gemeinere PVorftellung verwandelte 
alfo bald die Pflanze in fie, ober fie in die Pflanze Man glaubte, 
daß der Genius jedes Iebendigen Werks mit ihm untergehe und 
fih in ihm verjünge — kurz, dieſe Elohim wären ſodenn Genien 
der Schöpfung geweſen, denen die jpätere Mythologie eine Reihe 
Mähren anichuf, wovon der ältere Glaube mwahrjcheinlich nicht 
wuſte. Als die eigentlichen Engel auflamen, von denen wir bald 
eben werben, kamen diefe Elobim und Naturgenien berunter: 
jene fanden um Gottes Thron und waren Himmelsfürften; dieſe 
nur Schußgeifter der Gejchöpfe, alſo jubalterne Geifter. Die ſpätere 
Mythologie Orients Hat viele Fabeln über die Verhältnige und 
den Streit beider gegen einander, wie gern die Genien der Natur 
hinter den Vorhang des groffen Königs, in ben Rath der Engel 
laufen, wie fie bewacht und beftraft worden u.f. Wenn die 
Geneſis der Vorftelung von den Elohim völlig jo gemejen wäre, 
ala ich fie jegt gefchildert, war fie nicht unſchuldig? und könnten 
Sie etwas dagegen haben ? 
A. Menihlih und poetifh nichts: vielmehr thut fie der Ein- 
bildungstraft wohl. Dan ift gem in einer Welt, die ringsum 
belebt ift, wo fich jede Blume, jeder Baum, jeder Stern mit uns 
| freuet, feinen eignen Geift bat, und fein Leben fühle. Was 
indefien der Einbildungskraft wohl thut, dürfte dem Verftande 51 
nicht jo gar gefällig feyn. 


+ 


— 1 — 


E. Warum nicht? Zum Polytheismus ift dieſer Begrif auch 
in den älteften Zeiten bei diefen Völkern nicht geworden. Aus 
einem Pfalm Davids fehen wir, daß man fih die Elohim ale 
Geiſter gedacht, an deren Bortreflichkeit beinahe der Menſch reiche, 
und im eriten Schöpfungsbilde ift der Begrif der Einheit Gottes, 
des Schöpfer8 unverfennbar. Dies, dünkt mich, Hat der Poeſie 
diefer Morgenländer eine Erhabenheit und Wahrheit, eine Einfalt 
und Weisheit gegeben, die glüdlicher Weile die Leiterin der Welt 
ward. Es ift unfäglih, was für Schäbe der Erkenntniß und 
Moralität des Menſchengeſchlechts am Begrif der Einheit Gottes 
zu bangen beftimmt waren. Er wandte vom Aberglauben, mithin 
auch von Abgötterei, Laſtern und Sceujalen privilegütrter gött- 
licher Unordnung meg: er gemöhnte daran, überall Einheit des 
Zwecks der Dinge, mithin allmälih Naturgefege der Weisheit, 
Liebe und Güte zu bemerken, alfo aud in jedes Mannichfaltige 
Einheit, in die Unordnung Ordnung, ins Dunkel Licht zu bringen. 
Indem die Welt durch den Begrif Eines Schöpfers zu Einer Welt 
(xoouos) ward, machte fih auch der Abglanz derſelben, das 
Gemüth der Menſchen dazu, und lernte Weisheit, Ordnung und 
Schönheit. Welche Lehre und Poeſie der Erde Biezu beigetragen 


52 bat, Hat die nützlichſten Dinge bemirket; unfre Poeſie hats vor» 


züglid. Sie ift der ältefte Damm gegen die Abgötterei gemefen, 
den wir kennen: fie goß den erften fchönen Lichtftral der Einheit 
und Drbnung ins Chaos der Weltihöpfung. Und mißen Sie, 
wodurd fie dies alles bemwirfet? 

A. Wodurch? 

E. Durd ein fehr einfaches Ding, den Parallelismus Him- 
mel3 und der Erde. Auf Eine Weife muften die Geſchöpfe abge- 
trennt und geveihet werben; je leichter, wahrer, jchöner, und viel- 
faßender die Abtheilung, defto mehr Tonnte fie ewige Form werben 
und dieſe warbs. " 

U. Wo? 

E In diefer ganzen Poefie, die ich deßhalb beinah cine Poefie 
Himmeld und der Erde nennen möchte. Das ältefte Schöpfungs- 


bild ift ganz auf fie eingerichtet; die fogenannten Tagewerke find 
darnach eingetheilt. Wenn der Himmel erhöhet ift, wird die Erde 
aufgeführt und gezieret: wenn Luft und Waßer bevölkert find, wird 
die Erde bevölkert. Der Parallelismus Himmels und der Erbe 
geht nachher durch alle Lobgeſänge, die fih auf dies Bild von der 
Schöpfung gründen, dur die Palmen, wo die ganze Natur auf- 
geruffen wird, den Schöpfer zu preifen, durch die feierlichften 
Anreden Mofes und der Propheten, kurz fie macht den größeiten 53 
Ueberblid der Poeſie und Sprade. 
A. Die Eintheilung dünkt mich aber ohne Verhältniß. Was 
ift Die Erde gegen den Himmel und der Himmel gegen die Erde! 
E. Der Zweck diefer Poeſie ift au, das Unermäßliche Des 
Himmels gegen das Staublorn der Erde, Himmelshöhe gegen unſre 
Niedrigkeit zu ſchildern. Hierauf weiſen die Wurzeln der Sprade, 
alle ihre Befchreibungen und Bilder. Sind Ihnen davon feine 
Beifpiele im Gedächtniß? 
A. Beiſpiele über Beifpiele: 
Der Himmel ift mein Thron: 
Die Erde meiner Füße Schemel. 
E. Ein fo großes Bild, daß ich hinzuſetzen möchte: 
mein Saum ift die Unendlichkeit. — 
Dber bei Hiob: *) 
Willt du Eloahs Weisheit finden? 
Willt du Schaddai Urkraft gründen? 
Höhen der Himmel finds, was willt du thun ? 
Ziefen ber Tiefe finde, was weißeft du? 
Ihr Maas ift länger als die Erbe, 
ift breiter al8 das Meer! — 
Da jehen Sie den Begrif der Unendlichkeit einer finnlihen Welt. 
Das, was wir Univerfum nennen, Tannten diefe älteften Völker 
nit. Der Name Welt oder Aeon führte ihnen in fpätern Zeiten 54 
den Begrif alles Verächtlihen, Kleinen, Verjchwindenden mit fi. 
Die Himmel alterten und wechjelten wie ein Kleid: die Erde iſt 


*) Siob 11. 











en 


en 


— 237 — 


ein Schaupla der Phantome, Ieerer Erfiheinungen und eine Grabes- 
ftäte; aber der Gott Himmels und der Erde ifts, der vor den Bergen 
war und mit den ewigen Himmeln bleibet. Er iſt, der beide ſchuf 
und erneuet, vor dem die Himmel fliehn und die Erde ins Uner- 
meßliche verjtäubet. 

A. Ich fehe nicht, mas die Poefie mit diefem verhältnißlojen 
Paralleliamus gemonnen habe? 

E. Mid dünkt viel. Sie ward damit auf den Weg geführt, 
das Unendlide und Endliche zu vergleihen, das Unermeßliche und 
das Nicht3 zu paaren. Alles Schöne, Große, Erhabne ift bei den 
Morgenländern himmliſch; das Niedrige, Schwache, Kleine bleibt 
am Staube der Erde. Alle Kräfte fteigen vom Himmel; was unten 
ift wird von obenher durch unfichtbare aber mächtige Bande regiert, 
geleitet, geordnet. Oben glänzen bie ewigen Sterne, da fließt der 
reine Himmel, da mwölbt fih das heilige Blau; bienieden tft alles 
Wandelbarfeit, Erdenform , Staub und Verweſung. Je mehr die 
menſchliche Seele beides verband und in Einen Blid zu bringen 
lernte: defto mehr ward ihr Blick groß, richtig, weile. Sie lernte 
das Niedre durch das Obere beftimmen, meßen und zählen: fie 
befam einen Punkt über diefer Welt, die Welt felbft zu lenken 
und zu regieren. Glauben Sie nit, daß eine bloße Erdenpoefie 
ein jehr eines Infekt jeyn müßte, fo fein fie wäre? Alle erhabne 
und erhebende Moefie ift himmliſch. 

A. Mih dünkt, die Mutter Erde iſts, die allen Geftalten 
Umriß, mithin auch Schönheit verleihet. 

E. Die Morgenländer paaren alfo aud Himmel und Erbe. 
Bon jenem holt ihre Poeſie Erhabenheit, Umfang, Licht, Kräfte, 
fo wie unfre Seele fon den Eindrud des Erhabnen belommt, 
wenn wir die Augen gen Himmel richten. Die Erde wird des 
Himmels Braut, das Werkzeug und der Schauplaß feiner Wirkungen ; 
nur nicht fein ewiger Schauplag. Auh im Bau des Menfcen 
vereinen fih Himmel und Erbe; aus diefer ift fein Leib, von jenem 
weht fein lebendiger Athem. Wie das Staublorn, auf dem wir 
wandeln, vom Himmel umgeben tft: jo ſchwimmt unfre enge Sicht- 

Herders fämmtl. Werte. XI. 17 


— 288 — 


barkeit im unermeßlichen Ewigen, voll Glanzes, voll Kräfte und 
Reinheit. Mich dünkt, die Poeſie iſt groß, die uns im groſſen 
Anblick deßen, was wir ſind und nicht ſind, des Hohen und Niedri⸗ 
gen, der Schwachheit und Stärke feſthält; ſie wäre trügeriſch und 
täuſchend, wenn ſie uns nur Ein Glied dieſes Verhältnißes gäbe 
und das andre verſtümmelte oder verſchwiege. Alles Erhabne will 
etwas Unendliches und Unermeßliches, kurz Himmels-Höhe, ſo wie 56 
alles Schöne und Wahre beſtimmte Schranken will, das iſt Erde. 
A. Sie rechtfertigen ihren Parallelismus ſehr und ich bin 

begierig, ihn für mich durch die Poeſien Hiobs, der Pſalmen und 
der Propheten zu verfolgen: ob auch, wie Sie ſagen, ſo viel 
Groſſes und Schönes daran geknüpft ſei? daß es des öftern Zu⸗ 
rufs lohne: 

Vernehmt ihr Himmel, meinen Geſang! 

Und Erde, höre die Worte meines Mundes! 
Laßen Sie mich jet jehen, wie der Eine Gott Himmels und der 
Erde auch in der Poefie beide zufammenfaße und binde ? 
E. Er bindet fie, Theil in Ruhe, Theile in ‘Handlung. 
In Ruhe, wenn er ald ein König des Morgenlandes im Himmel 
thronet und mit Einem Wort Schöpfung gebietet. Auch hier ift aber- 
mals der erite und erhabenfte Paralleliamus die Grundform der 
Borftellungsart fünftiger Zeiten geworben: 

Gott ſprach: fei Licht! 

und es ward Licht. | 
Auf vielfahe Weile wird dies erhabne Sprechen Gottes in der 
Poefie der Ebräer die Form zu den fürzeften und ftärkiten Bildern, 
in denen e3 immer beißt: 

Er ſpricht, fo geſchiehts, 

er gebeut, fo ſtehets da. 
„se fremder und unerklärter die Sache war, die Gott gebietet und 57 
die auf feinen Befehl wird, defto wunderbarer, deſto fchöner: 


Er ſpricht dem Schnee: fei da auf Erben! 
Dem Regenguß; der Regen ſtrömt mit Macht. 


— 259 — 


Ein Bjalm ,‚*) der oft nur zu geiſtlich gedeutet worden, mahlt dies 
Bild aus: 

Er endet aus fein Wort auf Erben; 

fein Wort läuft fchnell. 

Wie Wolle ſendet er den Schnee, 

wie Afche ftreuet er den Reif. 

Er wirft fein Eis wie Biffen: 

vor feinem Froft, wer kam beftehn? 

Ausfenbet er fein Wort aufs neu: 

ba ſchmelzen fie: 

jein Othem webt; die Waßer rinnen wieder. 
Hier wird das Wort Gottes als Bote perfonificiret, und das thun 
die Ebräer oft. 

A. Sie thun mohl daran: denn wenn der Befehl und bie 
Wirkung nur immer wiederholt wird: jo müfte die erhabne Poefie 
in kurzem fehr eintönig und einförmig werben. 

E. €3 fehlt ihr nicht an Perjonificationen: eben hiezu ift 
der ganze Dienft der Engel in ihr regjan. Die ältefte Idee war 
nidt, daß fie um den Thron Gottes ala müßige Geſchöpfe ftehn 

58 und fingen; bie ganze Natur war vielmehr auf fein Wort Engel 
und belebtes Wejen: 
Die Winde fendet er als feine Boten: 
fein Diener iſt der flammende Blik. 
Das Bub Hiob ift voll diefer Perſonifikationen. Inſonderheit 
gaben die Sterne einen der frühften und fchönften Begriffe von 
den Boten Gottes, den Engeln. Ihre Erhabenheit und Schön- 
beit; ihr untrübbarer Glanz und emwiger Gang erregte bald bie 
Idee des Nubelganges, der Mufif, des Tanzes. Die Sterne 
wurden Töchter Gottes, die frohloden und um feinen Thron jauch⸗ 
zen: ſie wurden bald da3 Heer feiner Streiter, eine glänzende 
Schlachtordnung, bald auch das Sinnbild feiner Boten und Diener. 
In Hiob werben wir herrliche Beifpiele davon fehen, auch wiederum 
in Gegenfat feiner armen niedrigen Erden - Knete So ward 


— - 





*) Bf. 147. 
17* 








— HB — 


der Gott aller Elohim d. i. der Genien und Regenten ver Schöpfung 
noch in einem höhern Berftande der König der Engel und Him- 
meläheere, Jehovah Zebaoth; obgleich dies ein ziemlich fpäter 
Begrif mar. 

A. Warum fpät? 

E. Weil man fih in früheren Seiten Gott nicht ſowohl als 
einen müßigen Himmels - König, fondern als einen überall wirf- 
famen Hausvater und Haushalter Dachte, der, fo wie im erften 59 
Schöpfungsbilde ihm nichts zu ſchaffen zu Hein gemefen war, aud 
täglich alles neu fhafft und ordnet. Täglich fpannet er den Him- 
mel allein aus, wie er ihn zum erftenmal fpannte und geht deß⸗ 
halb auf den Wogen des Meers an die äußerfte Grenze des Hori- 
zonts, wo er fein Zelt aufrichtet. Täglich ruft er die Morgenrötbe, 
wie er fie zum erftenmal bervor rief und theilt den Regen aus, 
und öfnet die Schäge feiner Haushaltung. Er knüpft die Wollen 
wie Schläude, und zieht Kanäle im Himmel und giebt den Bliken 
Befehle, leidet die Blumen und nährt die Pflanzen, erzeugt den 
Thau, und forgt für Alles unter dem Himmel. Hiob und die 
Palmen find voll von Bildern, wo dem immer thätigen Haus- 
vater fein Geſchäft, feine Kreatur zu Hein if. Was dies ber 
Ebräiſchen Poeſie für eine Herzlichleit, für ein wachendes, immer 
neugeftärktes Zutrauen auf Gott gebe, läßt fich beßer empfinden 
als jagen. Und nicht der Ebräiſchen Poefie allein; alle Poefie 
Morgenlandes ift von Lobpreifungen Gottes voll, die fchwerlich 
zu übertreffen ſeyn möchten, fo wie finbliches Vertrauen auf ihn 
und Ergebung in feinen Willen der Grund ihrer Religion ift. 

A. ts ein guter Grund? Werden die Menfchen nicht träge 
und unwirkſam, wenn Gott überall, auch im kleinſten Dinge der 
Natur allein wirket? Lagern Gottes Heere fih überall und ver: 60 
fürzen uns bie Arbeit, mas brauchts menſchlicher Mühe, menſch⸗ 
licher Klugheit ? 

E. Auch Hiervon wird Zeit feyn, zu reden: jebt ift bie 
Sonne ziemlih hoch und damit e8 nicht auf uns treffe, was Sie 
eben diefer Poeſie vorrüdten,; jo auf! Wir gehen jest zu unſrer 





— 2361 — 


Arbeit und jehen und morgen wieder. Hier ift die Probe eines 
Lobgefanges, deren ber Orient unzählihe Bat: er befingt den großen 
Hausvater der Natur, den Schöpfer aller Weſen. 


Lobgeſang 
aus dem Perſiſchen.“) fl. /2, 364 


Im Namen Defen, Defen Name Zuflucht, 
deß Lob bie Zier ift hochberebter Zungen, 
ber Höchſte, Einige, Allwißend, Ewig, 
der Macht verleiht dem Schwachen, dem Verlaßnen. 
Die Himmel zierte er mit Sternenſchaaren, 
und ſchmückt die Erd' mit Menſchen, wie mit Sternen. 
Er wölbte das Gewölb' der rollenden Sphäre, 
und hob empor das Vier der Elemente. 
Der Roſenknoſpe Buſen giebt er Düfte 
und kränzt den Mutterbufch mit Blumenkindern. 
Er webt das Brautlleib für des Frühlings Bräute 
und lehret die Cypreß' am Seesufer 
ihr reizendes, ihr ſchönes Haupt zu heben. 
Mit Fortgang krönet er die gute Abſicht 
und niebriget den Stolz der Selbflanmaaffung. 
Er wachet Mitternacdhts bei des Einfamen Lampe, 
und bringt den Tag bin mit den Kindern der Betrübniß. 
Aus feinem Meer entipringt die Frühlingswolle, 
bie Rofen und den Dorn zugleich bewäßert. 
Aus feinem Garten weht des Herbftes Lüftchen, 
das wie mit Gold beftreut den grünen Raſen. 
Wenn Er erfcheint, fo flammt ber Kreis des Tages, 
ein jedes Stäubchen bolet von ihm Kräfte; 
Berbirg’ er fein Geficht; die mächtgen Sphären 
ber groffen Xichter ſänken fchnell ing Nichts Bin. 
Bom bimmlifchen Gewölbe tief zum Abgrumd, 
weß Weges wir Sinn und Gebdanten richten: 


*) Aus dem Specimen of the instituts of Timour by Hunter and 
White, 


— 262 — 


wir eilen aufwärt® ober fleigen nieber, 
tein Staub ift, den nicht feine Macht erfüllte. 


Weisheit verwirrt fih über feinem Wefen: 
das Korichen feiner Weg’ ift übermenfchlich, 
die Engel erröthen, daß fie ihn nicht faßen, 
die Himmel ſtaunen, daß fie fi) beiwegen.*) 





*) Es follten bier noch ein paar Lobgeſänge dieſer Art ftehn; fie find 
aber aus Mangel des Raums und wegen Aechnlichleit der Züge weggelaſſen 
worden. 


63 II. 
Inhalt des Geſprächs. 


Nacht und Dämmerung: das Reich der Ungebohrnen. Hiobs Befchrei- 
bung der alten Naht. Ob die Morgenländer fi ein Chaos gedacht? 
Ihre Bilder vom älteften Zuftande der Erde. Der Nachtgeift Über ben 
Waßern. Urfprung des finnlihen Begrifs vom Geiſte. Stimme eines 
Nachtgeiftes bei Hiob. Aufgang bes Fichte. Seine Freuden - Erfchei- 
nung. Reiche Bilder deſſelben in der Poeſie ber Morgenländer. Per- 
fonificationen bes Lichts und ber Morgenröthe. Poetifhe Bilder des 
Himmels, als einer Wölbung aus Waßern, als eined Vorrathshauſes 
der Erquidung, als eine® Sapphierd und hausväterlichen Zeltes. 
Boetifche Geogonie der Morgenländer. Wie angemeßen fie ber Narır- 
geſchichte unſrer Erbe jei? Belebung der Pflanzen. Was fie der Poeſie 
für zarten Geift und umfaßende Empfindung gebe? Warum bie Ehräer 
feine Hymnen auf die Sonne ober andre Gefticne haben? Perfoni- 
ficationen. Schöner und wahrer Gebraud derjelben in ber Ebräifchen 
Dichtkunſt. Bilder ber Sterne al® Engel, als Töchter Gottes, ale 
eines Kriegsheers, als einer Heerde Schanfe des oberften Hirten. Ein- 
zelne Dichtungen über dieſelbe. Bom lebendigen Mitgefühl der mor- 
genländifchen Poeſie mit Thieren. Bon Gott, al8 ihrem allgemeinen 
Hausvater. Warum in ihr Thiere zumeilen dem Menſchen vorgezogen 
werden? Vom Menſchen. Davids Loblied auf die Schöpfung. Mil- 
tons Hymnus aufs Ticht. 


64 Den folgenden Tag verfehlte Alciphron feine poetiſche Mor⸗ 
genjtunde nit. Ich werde Sie heut, fagte Eutyphron, vor ein 
veicheres Gemälde führen, als Gebes Tafel mar, denn mir werben 
uns bei einzelnen Begriffen nicht, wie geftern, verweilen börfen, 
Fällt Ihnen nichts bei diefer graufen Hülle ein, in welche Sie jett 
alle Weſen, ala ob fie des Lichtes warteten, eingehüllt fehen? 





— 24 — 


Alciphron. Sie meinen den Zuftand der Verſtorbnen bei 
den Morgenländern ? 

Eutypbron. Davon wollen wir unſer Geſpräch nicht begin- 
nen; ich dachte an einen Scheol, aber an den Zuftand der Unge- 
bohrnen, die aufs Licht warten, und mit demfelben nicht Unglüd, 
jondern Freude hoffen. Erinnern Sie fih an die Naht, in die 
Hiob feine Geburtsftunde verwünſcht. In ihr ſchlafen ungebohrne 
Nähte und Tage: Gott blidt von feiner Höh auf fie und ruft, 
wie es ihm gefällt, diefe oder jene: fie freut fih, wenn fic fich 
ans Chor ihrer Mitſchweſtern, in den Reihentanz des Jahrs 
anfhließen Tann: 

Es vergeh der Tag, da ich gebobren bin! 
Die Nacht, in ber man fprady: es ift ein Sohn gebohren! - 
Der Tag fei Finfternig! 

Gott frage von oben nie nad ihm, 
fein Licht glänz’ Über ihm auf. 

Es ergreif’ ihn Dunkel und Todesnacht! 
die Wollen wohnen über ihm! 
es erichred’ ihn alles Unglüd. 

Die Nacht! fie nehme Dunkel hinweg, 
daß fie ſich nie anfchließe den Tagen des Jahre, 
in bie Zahl der Dionden komme fie mie! 

Die Nacht! fie fei einfame Nacht, 
fein Freudegeſang tön’ in ihr auf! 
Es verfluchen fie, die den Tag verfluchen, 
die das Ungeheur zu erregen fertig ftehn. 

Und finfter werden ihrer Dämmrung Sterne! 
Sie hoffe des Lichts; es komme kein Licht; 
fie fhaue nie die Wimper des Morgenroths. 
Daß fie nicht zufchloß meiner Mutter Leib 
und meinen Augen all mein Leid verbarg — 

Haben Sie bie alte Nacht, in die der Unglüdliche feinen Tag 
zurüdwünjcht, oder überhaupt das Dunkel einer Sternlofen, ein- 
famen, traurigen Finſterniß, die vergeben? auf den Morgen wartet, 
ſchrecklicher gejchildert gelefen? Kein Freudegeſang kommt in fie; 
nur das Zaubermurmeln derer wird in ihr gehört, die den Tag 
verwünfden, daß er nicht aufgehen fol, damit er fie in ihrem 


⸗ 


u | 


66 


67 


"12, 92. 


— 265 — 


finſtern Geſchäft nicht ſtöre. Sie wißen, wenn Shakeſpear ſolche 
Nächte beſchreibt! — 

A. Er giebt dem Morgenländer nicht nah; aber, m. Fr., 
mich dünkt, vom Buftande ber ungebohrnen Kinder handelt die 
Stelle nidt. 

E. Das Reich der Ungebohrnen ift [Hl und Formlos, wie 
die Naht: fie werden in der Dunkelheit, im Mittelpunkt der Erbe 
gebildet, wie geftern der ſchöne Palm ſagte. Da warten fie des 
Lichts, wie jegt alle Gefhöpfe der Morgenröthe warten — denn 
ſchlägt ihre Geburtsftunde: Gott ruft fie. 

A. Die Vorftellung ift fo finnlid. 

E. Wie überhaupt alle Dichtungen der Ebräer. Sie kennen 
z. E. fein Chaos, in dem fih vor unfrer Welt die Atomen im 
Tanz umbergetrieben hätten; eine Fiktion, die wir den Griechen 
Ihuldig find. Uber ein finftreg Meer kennen fie, auf dem der 
regende Wind Gottes ſchwebet; und mich dünkt, dag Bild ift um 
jo viel jchöner, als es mwahr if. So war wirkli der erſte Zu- 
ftand unſrer Erde, wie der Bau derfelben lehrt: jo muß fie Aeonen 
bin unter Waßer geitanden haben, bis fie durchs Wunder ber 
Schöpfung neu bewohnbar ward. Das Bild hat Natur und 
Schranken; jenes Ungeheur von Chaos hat beides nid. 

A. Mich bat infonderheit immer der Geift durchſchauert, ber 
auf diefem öden und tiefen Nachtmeer ſchwebete. 

€. Er ift den Morgenländern das erfte und natürlichfte Bild 
von dem, was Leben, Kraft, Bewegung in der Schöpfung ift, 
gewefen: denn der Begrif des Geiftes fcheint urjprünglich aus dem 
Gefühl des Windes, zumal in der Nacht, vermijcht mit Kraft und 
Stimme, gebildet. 

A. Sie erinnern mid an jene Erſcheinung eines Nachtgeiftes 
bei Hiob — es ift Bild und doch fein Bild: ein vorüber liſpelnder 
Hauch, ein Murmeln wie die Sprache des Windes; aber aud 
Kraft des Windes, Geiftes- Kraft: er richtet die Haare empor: er 
erregt alle Schreden der Seele; he harrows up the soul with fear 
and wonder: 





— 26 — 





Es ſtal ſich zu mir hin ein flüſternd Wort, 
mein Ohr vernahm: es ſprach ein leiſer Laut. 
In der Nachtgeſichte Schrecknißſtunden, 

zur Zeit, wenn tiefer Schlaf auf Menſchen fällt; 
da ergrif mich Furcht und Zittern; 

all' mein Gebein fuhr Schauer durch. 

Ein Geiſt ging vor mir über, 

all meine Haare ſträubten ſich empor. 

Er ſtand: ich kannt' ihn nicht! 

Ein Schattenbild war mir vor Augen, 

da flüftert es mir leiſe zu: 

„Wie kann ein Menſch u. f. 

E. Es it, wie Sie jagen, Bild und fein Bild, Stille und 
Stimme; und mädtige Wirkung allein muß die formloſe Geftalt 68 
bezeichnen. Je gebundener, deſto ſchwächer wären die Züge. Man 
greift gleihfam nah dem Geift und fühlt, daß er Geftalt, alfo 
auh Schranken habe und das muß nicht feyn. Er iſt ein Sohn 
des Windes und muß mit dem Winde verfaufen. Aber fehen Sie, 
da ift der fchöne Morgen! wir mollen die Nachtgeſichte ruhen lafjen 
und den Vater des Lichts anbeten: 

Zehovah, bu mein Gott, bift ſchön und berrlich, 

bift prächtig ſchön geſchmückt. 

Er Hleidet fi in fein Gewand, das Licht, 

Er breitet aus die Himmel, wie ein Zelt. 
Als der erfte Morgenftral aufging, nannteft du felbit, Schöpfer, 
das Licht gut und weihteſt es ein, daB es uns ewig ein Sinnbild 
beiner Gegenwart und Gottesihöne, aller Freude und Reinigkeit, 
aller Weisheit, Güte und Seligfeit würde. Gott wohnt im Licht, 
und fein Antlig lacht VBatergüte, Vaterfreude. Er läßts in allen 
Guten, und um fie ber leuchten: in ihre Dunkelheit fandte Er den 
erften Stral: in ihre Nacht des Todes und der Trübjal fenbet Er 
den Stral ewiger Freude und Hoffnung. Sein Gottes - Ruhm ift, 
daß er das Licht ſchuf: fein Vaterruhm, daß ers auch in menſch⸗ 
lihen Seelen fchaffet und aus diefer Dämmerung in lichtere Woh- 
nungen binüber leitet. Gibts in der Schöpfung ein Geſchöpf, das 
würdiger wäre das Kleid Jehovahs zu feyn, der feinem Weſen nad) 69 





— 260 — 


ewig im Dunkel wohnet? Licht iſt ſein ſchnelleſter Bote, beinah 
mit Schwingen ſeiner Allgegenwart, ſo wie mit den Bildern ſeiner 
Gedanken, ſeiner Freuden, beflügelt. 

A. Die Poeſie der Ebräer wird ſchöne Lichtbilder haben. 

E. Keine Poeſie in der Welt hat vielleicht ſchönere: der 
Name des Lichtes ſelbſt tönt in ihr hoch und edel, ein Sinnbild 
aller Freude, aller Entzückung. Wie ſie die Finſterniß grauſend 
und fürchterlich mahlt: ſo reizend ſtellt ſie ihr das ſchöne Auge 
des Tages, die Wimper der aufbrechenden Morgenröthe entgegen. 
Alle Bilder der Dämmrung haben in ihr die Nebenidee des War⸗ 
tens, der Hoffnung, des Verlangens und die Morgenröthe erfüllt 
dieſe Freude. Der Morgenſtern den wir da vor uns ſehen, iſt 
ihr ein ſchöner Sohn der Dämmrung, denn wie Alles, ſo hat 
auch Licht und Finſterniß ihren Pallaſt, ihre eigne, unzugangbare 
Wohnung. Die Morgenröthe erſcheint bei Hiob als ein Held, der 
die Mißethäter aus einander treibt, den Räubern ihren Schutz und 
Arm, die Dede des Dunkels nimmt, allen Dingen Geftalt giebt 
und wie mit neuaufgeprägtem Siegel fie verwandelt. Aus dem 
Leibe der Morgenröthe wird der Thau gebohren, ein zahlreiches 
Heer ihrer glänzenden Kinder. Sehen Sie die jchöne Mutter da 

70 vor ih, die Licht und Dunkel fo lieblich mifcht und wie das Belt 
des Himmels fih über uns allgemach mölbet! 
Er fitet überm Erbentreife: 
Die Welteinwohner find Heufchreden vor ihm! 
Er dehnt die Himmel wie ein Fell: 
Er ſpannt fie wie ein Zelt zur Wohnung aus — 
Wollen Sie auch etwas von der Himmelsmythologie hören? 

A. Es fol ja eine große Streitigleit zwifchen den Orienta⸗ 
liſten obwalten, was Moſes mit feiner Ausbreitung zwiſchen 
Waßern und Waßern gemeint babe? Db fie ein Belt, eine Dede, 
oder gar ein gläferner Fußboden fei, in dem bie Vögel des Him⸗ 
mels fliegen ? 

E. Es brauchte feines Streits, denn die Bilder find alle 
gewöhnlich; recht verftanden aud alle paßend und ebel. Die ältefte 





— 268 — 


Idee iſt wohl nicht von einem gläſernen Fußboden, da man ja 
das Glas ſelbſt ſo ſpät kennen lernte, und noch viel ſpäter damit 
pflaſtern konnte. Die älteſte Mythologie wölbt den Himmel aus 
Waßern, ja ſelbſt den Thron Gottes beveſtigt ſie mit Dunkel 
zwiſchen ihnen. Noch im berühmten Lobgeſange Davids heißts: 

Er breitet aus den Himmel, wie ein Zelt, 

Aus Waßern wöolbt' er feine Säle ſich, 

Die Wollen find fein Wagen, 

Der Winde Flügel tragen ihn — 
Sie fehen, auch in fo fpäten Zeiten ift noch von feinem Glasboden 71 
die Rede, ſondern von einem Zelt, von überhimmlifhen Sälen, 
aus Waßern gewölbet. Und das ift auch die Tradition der 
Araber. Aus Waßern ruft Gott die Himmel Bervor und Hat 
diefelbe, mie einen Rauch gebildet. Bewundern Sie die ſchöne 
Wahrheit diefer Vorftellungen auch als Bilder der Naturgeſchichte. 

A. Ich habe fie immer geliebt und auch die Beichreibungen 
ber Wollen, der Blige, des Regens find mir ſchön gemein. Es 
ſcheint, die lechzenden Morgenländer ſuchten am Himmel nichts als 
ein Vorrathshaus ihrer Erquidung, eine Fülle des Segens, den 
ihnen jo oft ihr Land, ihre Erde verjagte. 

E. Und fie haben die jchöne Idee in eine Mannichfaltigkeit 
von Bildern gefleive. Bald knüpft der obere Hausvater bie 
Wolfen wie Schläude, und das dünne Luftgewebe zerreißt ihm 
nicht: in ihnen ift Waßer des Lebens für Menſchen und Bieh. 
Bald treibt er fie gefüllet biehin und dorthin, wo er ein Land 
ergquiden will; und er erquidts mit einer Yyreigebigfeit, daß auch 
die Wüſte überfließt, in der fein Menſch ift, in der fein Gräschen 
wächſet. Sein wunderbarer Gang in dieſen Waflern wird oft bes 
Schrieben, wie er bie und dort einem Lande zu Hülfe eilet und 
auf die fchwellenden Himmels - Fluthen tritt. Er bat Vorraths⸗ 
gemwölbe von Waßern droben und zieht Furden am Himmel und 72 
jpaltet Kanäle, damit er fie leite. Bald zerreißt er fein Zelt und 
läßt regnen, bald fpaltet er den Himmel oder öfnet die Fenſter 
feiner Burg und fättiget mit Strömen. Das Ilekte find wahr⸗ 








— 2%: — 


ſcheinlich ſchon fpäte Bilder, da man fi Gott als einen König 
des Himmels dachte. 

A. Mid dünkt, daß man ſich ihn frühe fo gedacht habe. 

E. Noch früher aber ala Hausvater, der Menihen und Vieh 
hilft. Sehen Ste fo viele Pjalmen und Stellen der Propheten: 
was für herzliche Gebete nad Regen, nad Waßern der Erquidung 
fteigen gen Himmel empor! Wie warten aller Augen! mie banlt 
ihm die verlechzte nun neu befeelte Zunge! Die fhönften Bilder 
der Freigebigkeit, der allgemeinen Güte und Vorforge Gottes find 
von Negen und Thau hergenommen; jo wie auch das herzlichite 
Gebet und Zutrauen zu ihm immer als Durft, ala brennender, 
ſchmachtender Durft gemahlt wird: 

Wie der Hirfch fich fehnet nach frifhen Quellen, 
fo fehnet meine Seele fih zu bir. 

Meine Seele dürftet bin zu Gott, 

zu dem lebenbgen ®ott! 

Wenn werd’ ich zu ihm kommen 

und ſchaun fein Angeficht! — 

73 Bilder der Art geben der Poeſie ein gemeinfchaftliches Mitgefühl 
zwifchen Thieren, Menſchen, Pflanzen und allem, was da lebt; 
der oberfte Hausvater ift ihr Aller Vater. 

A. Aber wie warb denn der Himmel eine Befte? 

E. Er wards wegen feiner fapphiernen Geftalt, wegen ſeines 
Glanzes, feiner PVeftigkeit und Schönheit. Vielleicht war Eine der 
älteften Ideen die, daB dieſe Vefte Eis fei, aus ber fich auch der 
Hagel herabſchlage. Die Araber haben Bilder, nad denen ber 
Blig aus diefem himmlischen Sapphier in Funken jprühet. Endlich, 
da man fih den Himmel als einen Tempel und Pallaft Gottes 
dachte, fo warb dieſer Heilige Azur gleichſam der Fußboden feiner, 
die Dede unfrer Wohnung. Doc jcheint mirs, war den Belt 
bewohnern immer das himmlische Zelt am liebften. Täglich laſſen 
fies Gott auffpannen, und e8 am Ende des Horizonts an Die 
Säulen des Himmels, die Berge, beveftigen; es ift ihnen ein Zelt 
der Sicherheit, der Ruhe, einer väterlihen Gaftfreundfchaft, in der 
Gott mit feinen Geſchöpfen lebet. 


— 270 — 


A. Und wie betrachteten fie die Erbe? 
E. Sie können ſichs felbft jagen, wenn Sie in dem Lobgefange *) 
fortfahren, in den David die Bildung der Schöpfung verfaßt Hat. 


1. Die Erd' bat er auf ihr Gewicht gegründet, 74 
fie wanlet nun und nimmermehr. 
Mit Fluthen, wie mit einem Kleid’ umhüllt er fie. - 
Ueber den Bergen ftanden die Waßer; 
vor deinem Schelten flohen fie. 
Bor deiner drohnden Stimme ftürzten fie hinab. 
Da ftiegen die Berg’ empor, 
da Tiefen Thale ſich nieder, 
nieder an ihren Ort, wo bu fie gründeteſt. 
Da fetteft du den Fluthen Grenze, 
daß fie nicht Überjchritten und kämen wieder, 
und überbedten das Laub. 


Du Tiegeft Brunnen quellen in ven Thalen, 
zwifchen den Bergen rannen fie bin. 
Sie geben Trank dem Thier des Feldes, 
Löfhen dem Wilde feinen Durft: 
Ueber ihnen fiben bie Vögel, 
fie fingen unter den Zweigen bervor: 
Die Berge wäßerft du aus deinen Waßerfälen; 
mit deiner Arbeit Yrudht**) erfättigft du die Welt, 
machſt Gras auffprieflen für das Bieh: 
und Saat, den Menſchen zum Gebraud. 
Daß fie das Brot fih aus der Erd’ erziehn,***) 
und ihr Geficht von fetter Speif’ aufglänze: 5 
auch Wein ſich pflanzen, der des Menſchen Herz erfreut, 
Brot, das da ftärkt des Menſchen Herz. 


*), Bf. 104. 

**) Mit der Frucht deiner Arbeit b. i. mit dem, was deine Schöpfung 
gutes beroorbringt. Gott wird als ein Hausvater vorgeftellt, der immerdar 
für die Erbe ſchaffet und waltet. 

**) Die Erziehung des Brots aus der Erbe geht nicht auf Gott, fon» 75 
bern auf den Menfchen. Gott bat Saat für ihn wachen laſſen, damit er 
fie nun füe und fi Brot verſchaffe. Ich babe die Dilticha des 14. und 
15. Verſes verſetzt. Sie belommen dabur mehr Symmetrie, und felbft 
in Worten eine Art von Zufammenflang und Ordnung. 





— 2711 — 


Es faugen Gottes Bäume fih voll Saft: 
die Cedern Libanons, die Er gepflanzt: 
damit darauf die Vögel niften, 
bie Geier, deren Haus bie Tannen find. 
Dem Steinbod ſchuf er jene hoben Berge; ' 
der Bergmaus jchuf er in dem Felſen Zuflucht. — 

E. Mit wie frölihem Blick überjchauet der Dichter die Erde! 
Sie ift ein grüner Berg Jehovahs, den er aus den Waßern hob, 
ein Zuftgefilde, das er zur Wohnung fo vieler Lebendigen über die 
Meere beveſtigte. Die Reihe von Bildern, die bier der Dichter 
fortführt, ift gerade die Naturgefhichte der Erde. Erſt ftehen 
Waßer über den Bergen: Gottes Befehl fchredt fie hinunter. Nun 
fteigen die Berge hervor; num laßen Thale ſich nieder, die die 
Maper durchbrechen und ebnen. Endlich fest Gott den Fluthen 
Grenze und beveftigt da3 Land. Nun quillen Brunnen in ben 
Thälern: nun rinnen Ströme zwiſchen den Bergen, fie haben ſich 

76 ſchon ihr Bette gegraben. An ihnen verfammlen fi Thiere, an 
ihnen fingen die Vögel; denn das Ufer der Flüße bedeckte fich 
zuerit mit Bäumen. Wir werden in Hiob erhabnere Bilder vom 
Bau der Erde jehen; mahrere und ſchönere find ſchwerlich möglich. 

U. Und freilih die Naturwahrbeit vollendet ihre Schönheit. 
Was wollen alle Mytbologien, wenn fie mich nichts lehren? Was 
bilfts mir, wenn die Nordiihe Edda von Himmel ala dem Hirm- 
ſchädel eines erfchlagenen Niefen redet, und daß die Erbe aus ſei⸗ 
nem Gebein, die Ströme aus feinem Blut entftanden? Die Poefte 
vereinige Schönheit mit Wahrheit, und belebe beide mit theil- 
nehmender Empfindung: fo ift fie Poeſie des Herzens und Des 
Veritandes. 

E. Die Naturpoefie der Morgenländer fcheint mir alle drei 
Stüde zu vereinigen. Welche Theilnehmung 3. E. giebts in ihr 
mit Blumen, Pflanzen und Kräutern! Weil fie allem gemifjer- 
maaſſe ein Leben zufchrieben, alles fo gern perjonificirten, jo warb 
Gott auch Vater der Pflanzen, der feinen Segen in fie gelegt 
hatte, daß eve ſich nach ihrer Art fortpflanze und befaame: Vater 
der Pflanzen, der fie mit Regen erquidt, mit feinem Frühlings⸗ 





— 24 — 


und als fie fahn wie beine Pfeile glänzten, 

wie deine Fichten Spiefle fchoflen, 

eilten fie weg. 
Eine erhabnere Perſonifikation halte ih Taum für möglich. Die 
ganze Natur horcht, die fchnellfte Natur fteht ſtill, die glänzendfte 
wird verbunfelt. Und fo find die! Sterne bie Kriegäbeere, Die 
jauchzenden Kinder Gottes: was rein, ſchön und unfterblih iſt, su 
wird mit den Sternen verglichen, und die Engel find oft in fie 


perjonificirt. 
A. Wozu aber werden dieſe glänzenden Heere gefandt und 
gebraucht ? . 


E. Wozu Gott feine Diener fendet. Die Sonne iſt ſchon 
ihrem Namen nad Bote; als Urquell des Segens und der Schön- 
beit wird fie nie verehrt. Auch die Erziehung der Pflanzen wird 
nicht ihr, jondern dem oberften Vater zugefchrieben, der fie durch 
Luft, Thau und Regen erquidt und tränfet. Sie führt nur bie 
Zeiten herbei: ein König der Erbe, aber unter Gott. Die Sterne 
als feine Kriegsſchaar zieht aus und ftreitet. Ihnen ſchrieb man 
die Waßergüße, die Ueberjhwemmungen zu und im Xiede Der 
Deborah ift eine fchöne Berfonification hierüber. Erſcheinen fie als 
Engel, jo können biefe Boten auch fehlen: auch fie ergreift er auf 
Irrbahnen, aud ihnen vertraut er nicht ganz: in ihrem Glanze 
findet er Flecken, die Himmel find nicht rein vor ihm. Endlich 
wenn zukünftige Tage der eigentlihen Regierung Gottes erfcheinen 
jollen: denn wirb die Sonne fiebenmal heller leuchten, denn wird 
des Mondes Licht wie der Sonne Glanz feyn. Jede Poefie, die 
die Natur der Dinge fo hoch zufammenfaßt, die alles in Regeln 
und einen großen Chorgefang bindet, die Gott, als den großen 
Hirten des Himmels vorftellt, der die Sterne als feine Schanfe 81 
fennet und bervorruft und fie in mandherlei Bildern auf der blauen 
Flur des Himmels weibet, der den Orion gürtet und die Nacdht- 
wandrerin über den Verluft ihrer Kinder tröftet, der das fchmeiter- 


1) „die” aus dem Mic. ergänzt. 








— a — 


liche Band des Siebengeſtirns band, und ſeine geheimen Schätze 
in Süden verhüllt hat: eine ſolche Poeſie iſt die Tochter Himmels 
und der Erde. Wenn wir zum Buche Hiobs kommen, welche hohe 
Sternenausſicht wird es uns geben! — 

A. Ich freue mich darauf, und werde immer mehr mit der 
älteſten Poeſie der Welt verſöhnet. Mit Thieren und lebendigen 
Geſchöpfen iſt fie ganz ſympathetiſch. Mich freute es in meiner 
Kindheit, wenn ich fand, daB fie die Thiere, (vom Stummfeyn 
benannt,) ald Brüber der Menfchen betrachtet, denen nur bie 
Sprache fehlet. Lebendige nennen fie die Thiere des Feldes, weil 
die Hausthiere gleihjam ftill und todt leben. Mich freute es, wenn 
ih die Ausbrüde vom Laut und den Sprachen ber Thiere fo 
energiih in diefer Sprade fand: wenn der Prophet mit bem 
Kranich oder der Turteltaube girret, mit dem Strauß in der MWüfte 
ächzt. ch freute mid, wenn ich die Geftalt des Hirfches, des 
Löwen, des Stiers; bei andern ihre Stärke, Pracht, Gejchwindig- 
feit; bei andern ihre ſcharfen Sinne, ihre Lebensart, ihren Cha- 
rakter, auch in Worten geſchildert fand, und wünſchte, daß wir 

82 Statt mancher heiligen Gejänge mehr Fabeln, Gleichniße, Räthſel 
von Thieren, kurz mehr Naturpoefie hätten: denn fie dünkte mid 
bei diefen Völkern die glüdlichite und reinfte. 

" €. Der Name Gottes gehört immer mit dazu: denn Er tft 
der Hausvater diefer ganzen lebendigen Schöpfung. Er giebt jedem 
Speife: er erfreut alle Augen, die auf ihn warten. Die jungen, 
häßlichen Naben erhört er und er wird fogar der Gemfe Hausvater, 
ber die Zeit ihrer Schwangerfchaft bemerkt und ihr in ihrer ein- 
famen, ſchweren Geburt aushilft. Cr lebt mit jedem Thier in 
feinem Kreiſe, fühlt feine Noth, erfüllt feine Wünſche, weil er 
allen ihre Natur gegeben. Ihm ift nichts wild, nichts dumm und 
veradhtet. Er brüllet mit dem Lömen nah Raub und blidt im 
Auge des Adler von feinem Bergichloß hinunter. Der Waldefel 
lebt auf feiner Weide und der Habicht fleucht durch feinen Ver⸗ 
ftand. Sein ift das Reich der Ungeheuer, die große Tiefe: das 
häßliche Crokodill liebt Er und Behemoth ift gar der Anfang ber 

18* 





— 276 — 


Wege Gottes, d. i. fein herrlichſtes Meifterftüd auf Erden. Kurz, 
diefe Poefte ift vol Naturgefühl, von allgemeiner Ordnung und 
Güte Gottes in feinem weiten Reiche. Sie ift- am Buſen ber Natur 
gefäugt, im Schoos der groffen Mutter erzogen. 

A. Jetzt merke ich (worüber ich mich fonft nicht ohne Anſioß SS) 
gewundert habe) woher in ihr den Thieren jo gar bisweilen über 
den Menſchen der Borzug gegeben wird, und Bileams Efclin Dem 
Engel mehr gilt ala der Prophet auf ihr? Im Buch Hiob erfreut 
fid) Gott über Roß und Löwen, er tft ftolz über Behemoth und 
den Leviathan, und fchmweigt vom Menſchen -- 

E. Auch der Menih wird in ihr nicht übergangen: er iſt ja 
das Ebenbild Gottes, das Meifterftüd feiner Werke, einer der ficht- 
baren Elohim bier auf Erden. Davon cin andermal. Bollführen 
Sie jeht Ihren Lobgefang,*) ih will mit dem Meinigen fließen : 

U. Er fchuf den Mond zur Theilerin der Zeiten, 

die Sonne kennet ihren Niedergang. 
Du ſchaffeſt Finfterniß, da wird es Nacht. 
Da regen fi) des Waldes Thiere: 
Die jungen Löwen brüllen nad Raub, 
fie fodern ihre Speife auch von Gott. 
Nun geht die Sonn’ auf und fie eilen fort, 
fie lagern fi in ihre Hölen wieder. 
Dann gebt der Menſch aus an fein Werl; 
er gebt zum Aderbau bis an den Abend. 
Wie viel find deiner Werke, Gott! 
und alle fie Haft weislih Du gefchaffen: 
Die Erd’ ift deines Haushalts voll. 
Das große Meer! fo weit, fo breit! 5 
Da wimmelts! da ift feine Zahl! 
Da ift lebendges, Mein und groß! 
Da geben Schiffe! 
Da ſcherzt der Leviathan, 
von dir gebildet, daß er im Weltmeer fpiele. 
Zu dir hofft alles auf! 
Daß du ibm Speife gebft zu feiner Zeit. 





*) Bf. 104. 








— 27 — 


Du giebſt: ſo ſammlen ſie. 
Du öfneſt deine Hand: ſie werden ſatt des Guten. 
Du wendeſt weg dein Angeſicht; 
die Kreatur erſchrickt. 
Du nimmſt den Othem ihnen weg: ſie ſterben, 
fie lehren wieder in ihren Staub. 
Du haucheſt deinen Otbem aus: 
fie werden neugefchaffen,, 
Das Angeficht der Erde formt ſich neu. 
Jehovahs Ruhm, er bleibt in Ewigkeit! 
In feinen Werten freut Jehovah ſich. 
Er blidt die Erd’ an und fie bebt: 
Er rührt die Berg’ an und fie rauchen. 
Id will Jehovah fingen mein Lebenlang, 
will meinen Gott lobpreifen, fo lang’ ich bin. 
Und füß wird tönen mein Gefang von ihm. ‘ 
Ih werde fröfich in Jehovah feyn. 
Preif ihn, den Herren, meine Seele, 
Hallelujah! 
E. Meinen Gegengeſang bleibe ich ſchuldig. Da Sie doch 
85 aber Hymnen wollten; bier iſt einer, ganz in morgenländiſchen 
Bildern. Meines Wißen⸗ giebts nur Einen Ton des Lobgeſanges 
in allen jetzt lebenden Europäiſchen Sprachen; und der iſt der Ton 
Hiobs, der Propheten und Pſalmen. Milton hat ihn inſonderheit 
in fein unfterblid Gedicht eingewebet; mit ſchwächern Tritten 
betrat Thomfon feine Spur und bei uns hat ihn Kleift jehr“philo- 
ſophiſch verihönert: Diefen Ton, diefe Bilder find mir der 
Ebräiſchen Einfalt ſchuldig.*) 


*) Es ſollte bier Miltons Hymnus auf alle Geſchöpfe der Natur oder Kun 
Adams Morgengeſang (Paradise lost B. VI.) ſtehn; er mußte aber weg⸗ 
bleiben, weil er zu lang ift und im Ganzen doch nur die Bilder des 104. 
und 148. Pſalms wieberbolet. 


9.9), vu. 


1 — 


Miltond Anrede ans Liht.*) Ss 


Heil, Heilig Licht, dir! Himmels erſtes Kind, 
oder des Ewigen mitewger Stral! 
(Dürft’ ih fo nennen dich:) denn Gott ift Licht 
und unzugangbar wohnt’ er ewiglich 
im Lichte; wohnet ewig da in bir, 
du Ausfluß- Glanz vom unerfchaffnen Glanze. 
Oder börft bu lieber reinen Yetber - Strom 
dich nennen? deßen Duell — wer zeigt ihn an? 
Eh diefe Sonn’, eh diefer Himmel ward, 
wart Du und Heideteft auf Schöpfere Wort 
die Welt, die aus der dunkeln Tiefe ftieg 
den Unding' abgewonuen, feftlid an. 
Dich feh’ ich wieder nun, mit kühnerm Flug’, 
entronnen jenem SHöllenpfule, ber 
mich lang in feinen dunkeln Gründen, lang’ 
in äußerfter und mittler Finfterniß 
aufhielt, als ich von Naht und Chaos fang 
mit anderer als Orpheus Leier: denn 
bes Himmel® Mufe hatte mich gelehrt 
hinab⸗ und wieder Aufzufchwingen mich 
ans Tagslicht. (Schwer! und feltne Rücktehr!) Dich 
befuch’ ich wieder unverfehrt und fühle 
bie grofie Lebenslampe. Du beſuchſt 
nicht diefe Augen, bie vergebens rollen 
zu finden deinen fcharfen Stral; fie finden 
fein Dämmerliht. So bat ein bider Tropfe 87 
verfinftert fie, verfchleirt mit Duntelbeit. 
Und dennoch Hör’ ich nicht zu wandeln auf 
da wo die Mufen ihren Silberguell, 
den Sonnenbligel und ben Schattenhain 
beſuchen; immer noch getroffen von 
dem Liebespfeil des heiligen Geſangs. 
Did, Sion, fonderlih und jene Blumenftröme 
die unten beine beilgen Wurzeln fpülen, 
und fingend flieffen; Such befuch’ ich mächtlich. 
Und denn vergeß’ ich auch zumeilen nicht 


*) Paradise lost B. II. 


— 279 — 


bie andern Zwei, die mir an Schidfal glichen, 
(0 gli ich ihnen auch an Ruhme fol) 

den blinden Thamyris, den blinden Mäoniden, 
auch den Tireſias und Phineus, die Propheten 
ber Borwelt. Und genährt dann mit Gedanlen, 
die wie von felbft in Sarmonien flieffen, 

fing’ ich, fo wie die wache Nachtigall 

im Schatten fingt und in dem dickſten Laube 
ihr Nachtlied flötet. 


Mit dem Jahre kehren 
Jahrszeiten wieder, aber mir nur lehrt 
der Tag nicht wieder, nod der füße Morgen, 
ber fchöne Abend; nicht der Frühlingsanblick 
mit jungen Blüthen; nicht die Sommer - Rofe; 
bie Heerben; ober gar bu göttlich Menfchen- Antlig! 
An deren flatt umringt mich eine Wolf‘, 
ein immermwährend Dunkel. Abgefchnitten 
bin ich von den lieboollen Menfchenpfaden, 
und ftatt bes Buchs ber fchönen Wißenſchaft 
ift vor mir nur ein großes leeres Blatt, 
auf dem bie Werke der Natur für mid . 
verlöfcht und ausgetilget find. Der Weisheit 
ift diefer Eingang zu mir hart verfagt. 


Um fo viel mehr, o du des Himmels Licht, 
ſchein' inwärts in mir und durchftrale mir 
den Geift in allen Kräften. Pflanze da 
mir Augen und treib’ allen Nebel weg 
von innen, daß ich Dinge ſchau und fage, 
die nie ein flerblich Auge fehen wird. 


IV. SH 
Inhalt des Gefpräde, 


Uebergang zum Buch _Hiod. Beſte Art es zu lefen. Schilderungen von 
Gott dem Richter über Sternen, dem Schöpfer der Welt, dem Stiller 
des Uingewitter8 auf dem Meer. Charakter Elihu's in feinen Schil⸗ 
derungen. Proben davon. Rede Gottes aus dem Ungewitter. Erläu- 


terung ihrer hoben Naturbilder. Bo der Naturpoefis überhaupt. Ob 2F 


fie feine oder eine todte Dichtlunft fei? Zweck der Raturpoefie. Erſtes 
Werkzeug derfelben, Berfonification, Belebung. Proben aus Hiob. Ob 
und warum bie älteften Zeiten bierinn fo großen Vorzug vor unfern 
Schilderungen haben? Zweites Werkzeug der Naturpoefie, daß fie Aus- 
legerinn der Natur werde. Probe aus Hiob. Einfluß der Naturpoeſie 
auf die Empfindung. Drittes Mittel, daß fie Entwurf und Wbficht 
babe. Probe aus Hiob. Beilage einiger Perfonificationen aus Oßian. 297 


Als Eutyphron ſeinen Freund beſuchte, fand er ihn beym 
Leſen des Buchs Hiob. 

Alciphron. Sie ſehen Ihren Schüler und ich leſe dies Buch 
mit Vergnügen. Zwar kann ich mich noch nicht an die langen 
Reden, an die einförmigen Klagen und Rechtferügungen, noch 
weniger an die Rettungen der Vorſehung, die wenig retten möchten, 
gewöhnen: vom Faden des Geſprächs im Buch weiß ich noch nichts. 
Aber die Naturbeſchreibungen in ihm, die hohen und doch ſo ein⸗ 90 
fachen Neben von Gottes Eigenſchaften und feiner Weltregierung 
erheben die Seele. Wollen Sie mir zuhören; fo will ih, (mie 
diefe Leute fagen,) die Schätze meines Herzens eröfnen und Ahnen 
einige Stellen lejen. Sie müßen mich nachher in Anfehung des 
Plans, Alters und Urhebers des Buchs auf den rechten Weg 

” führen: das babe ich für Sie verſparet. 





— 2831 — 


Eutyphron. Es iſt nicht uneben, daß Sie Stüde heraus 
heben; das Buch in Einem Athem fortzulefen, ift für uns viel- 
leicht zu ftarfe Speiſe. Wir lieben Kürze im Geſpräch, deutliche 
Fortleitung der Ideen, die bier nah unfrer Manier nicht fort- 
geleitet werden. Die Morgenländer hören fi in ihren Zuſammen⸗ 
fünften geruhig aus; ja fie lieben lange Reden, zumal in ſolchen 
Berfen. Es find Perlen aus der Tiefe des Meere ; leicht gereihet, 
aber köſtlich: Schätze der Wißenſchaft und Weisheit in Sprüchen 
ältefter Zeit — | 

A. Welcher Zeit? Man muß fih wundern, bier fo viel 
Erfahrungen voll reiner Naturideen zu finden; und doch find auf 
der andern Seite andre Begriffe noch fo findlih, jo arm — 

E. Lagen Sie Zeit und Urheber; und halten fih an das 
Werk in feiner Dürftigkeit und in feinem Reichthum. Ohn' alle 
Miderrede ift das Buch aus ſehr alten Zeiten, und jo nehme ichs 
mit einer Art von Ehrfurdt in die Hand, wenn ic) mir feine 
Begriffe zu entziffern wage. Ueber Länder und Zeiten denfe ich, 
über die Ruinen groffer Revolutionen des Geſchmacks, ja vielleicht 
dreier oder vier Jahrtauſende tönt mir eine Stimme entgegen und 
ba fage ih, flatt das Buch zu richten oder es gar nad meiner 
Zeit zu bequemen: 

Wir find von geftern ber und wißen nichts; 

Ein Scatte nur ift unfer Erdeleben. 

Die Väter Icehren uns und fagens ung, 

aus ihrem Herzen geben ihre Neben. — 
Fangen Sie alfo mit fchönen Stellen von Gott und der Natur 
an: mein Ohr ift frei, die Begriffe der älteften, Findlihen Welt 
zu hören: 

A. Gewalt und Schreden if um ibn; *) 

Entſcheider ift er in der Himmel Höhn! 

Sind feine Heere nicht ohn' alle Zahl? 

Und alle übermag fein Licht. 

Und fol der Menſch rechtfertig feyn vor Gett? 


9) Hiob 25. 





Und rein vor ihm beſtehn ein Weibesfohn ? 
Sieb, felb der Mond ift weg mit feinem Zelt: 
Die Sterne find nicht rein vor feinem Blick 
Und follt der Menſch e8 feyn, der Wurm? 

Ein Erbentind, die Made! — 

E. Große Porftellung von Gott, dem oberften Himmels- 
rihter! — Unter Stemen und Engeln entſcheidet er. Zahllos 
find feine glänzenden Heere; er überglängt fie alle: d. i. fein Licht, 7 
feine Reinigfeit, die Wahrheit feines Urtheilsfpruchs überwindet fie. 
Der Mond mit feinem Gezelt tft verfhwunden: bie Sterne find 
nit rein vor feinen Augen. Und nun von biefen lichten Him- 
melshöhen ein Blid auf den Menſchen, der ihn vors Gericht 
fodern will — 

follt’ der Menſch es feyn, der Wurm? 
Ein Erdenfind, die Mabe? — 

A. Ihre Erklärung der dunkeln Worte: „er machet Frieden 
„zwiſchen feinen Hohen: über wem fteht nicht fein Liht? Der 
„Mond zeltet nicht vor ihm” gefällt mir. ch fehe den Richter 
Morgenlandes, der zwiſchen Engeln und Geftirnen richtet. Wie 
ſchön ift der 'finftre Mond in die Dichtung gefaßt: fein Zelt ift 
abgethan vom Himmel; er bat fi vor des Richters Blick ver- 
borgen. 

E. Fahren Sie fort mit Hiobs Spruche;*) er übertrift jenen. 

A. Wem hilft du? Dem, der feine Stärke hat? 

Wen retteft du? der fich nicht retten kann? 
Wem giebft du Rath? der ohne Weisheit if? 
Und Haft ihn wahrlich reich und tief berathen! 
Wen lehren deine Reden? 

und weßen Othem weht aus dir? — 

E. Auf wen, meinen Sie, geht die Stelle? 

A. Mich dünkt: auf Gott. Hiob will ſagen: Gott bedörfe 93 
ſeiner Vertheidigung nicht; es ſei ja Gottes Odem ſelbſt, der aus 
ihm wehe, und das ſchwache Geſchöpf könne ſeinen Schöpfer nicht 
vertreten. 


*) Hiob 26. 





— 283 — 


E. Ich unterbreche Sie nicht weiter. 


A. Die Schatten regen ſich, 
der Abgrund und was ihu bewohnt. 
Entbdedt ift vor ihm die Verweſung! 
Enthüllt fteht die Vernichtung vor ihm da! 
Ausbreitet er den Nord nun Übers Leere, 
er hängt die Erb’ auf übers Nichts: 
Inäpft Waßer ein in feine Wollen, 
und ihnen reißt die Wolle nicht: 
beveftigt ringsum feinen Thron, 
legt ringsum feine Wolf’ um ihn umber: 
und zirtet ab der Waßerflächen Grenze, 
bis wo das Licht ind Dunkel ſich verliert! — 
Des Himmels Säulen zittern: 
fie beben, wenn er fchilt. 
Mit feiner Macht peiticht er das Meer: 
mit feiner Weisheit bändigt er 
der Wellen Stol;. 
Denn madt fein Hauch den Himmel wieder ſchön: 
den fliehnden Drachen nur traf feine Hand. 
Sieh, das it nur Ein Theil von feinen Wegen; 
ein flüfternd Wort, das wir von ihm gehört. 
Den Donner feiner Kräfte, 
wer faßet den? 

94 E. Sie find Dichter geweien, ih will Ihr Ausleger jeyn. 
Hiob übertrift diefen Gegner, wie er fie alle überwindet: er ſchil⸗ 
dert nur Eine Scene von Gottes Macht und Größe, aber er holt 
fie aus der tiefften Tiefe und führt fie zur fchönften Höhe. Das 
Reich des Undings tritt vor Gott: die Abgründe des Nichts und 
der Berweiung find vor ihm. Da diefe nun, wie wir fahen, als 
eine wilde Meerestiefe gedacht wurben: fo fteht diefe, das groffe 
Reich des Ungebohrnen, in wilder Tiefe, mit gräßlihdem Tumult 
vor ihm. Die Schatten zittern: die formlofen Geftalten vegen fi 
und warten: ber Abgrund, der nie das Licht ſah, fteht enthüllt. 
Nun beginnt die Schöpfung; abermald mit Himmel und Erbe. 
Den Himmel breitet er über dieſe ungeheure Tiefe; die Erde be- 
veftigt er über ihr, daß fie darauf rube und gleichfam über dem 





— u — 





Nichts Schwebe: (denn dieſe Reihe der Naht und des Schattens 
wurden unterirrdiſch gedadt.) Nun ordnet er den Himmel, Inüpft 
Waßer in Wollen und fchafft fih Raum: er baut und zimmert 
feinen Thron mitten unter Waßern ; er umklammert ihn von außen 
und legt den Teppich der diden Wolf’ um ihn ber. Jetzt mißt er 
bie Grenzen des Waflerhimmels und zirkt ihn ab, bis wo Licht 
und Dunkel fi) mifchen, das iſt, am Ende des Horizonte. Test 
wird feine Macht im Donner gefchildert, und zwar zur Erhebung 
der Scene im Wetter auf dem Meer. Die Wellen find bier die 35 
Rebellen, die er vor fi treibt, und plöglih zu bändigen weiß. 
Ein Haud von ihn — und das Meer ift ftill, der Himmel fchön, 
jeine Hand traf nur die fliehnde Schlange (entweder zu Folge ge 
wohnter Bilder in andern GStellen*) das Meerungeheuer diefer 
Gegenden, der Crokodill, oder vieleicht die flüchtigen Traufen Wellen 
jelbjt, die feine Hand glättet und ebnet;) Eins oder das andre, 
das Bild endet mit jo erhabner ſchöner Stille, als es mit fürdter- 
lichem Tumult anfing. Und das, fagt Hiob, ift nur Ein Laut 
von feinen Wundern; 
den Donner feiner Kräfte -- wer faßet den? 

Jeden Morgen, da aus Naht Tag wird, jedes Ungewitter, 
zumal auf dem Meer, bringt das prächtige Bild vor uns. Haben 
Sie eine andre Stelle? 

A. Es mag der LXobpreis des begeifterten Elihu feyn, un- 
mittelbar vor dem lebten und prächtigen Gottes - Drafel. 

E. Bemerken Sie aber, daß er nur alg Schatte daflcht, dies 
Gottes-Drafel zu erheben. So viel fih Elihu dünkt, fo ſchön er 
ſpricht: fo ift er, wie er auch felbft fagt, noch junger braufenber 
Mein, der die Schläude zerreißt und ausbridt. Er macht herr: 
liche Bilder; weiß aber fein Ende, und die fchönften find Erwei⸗ 
terungen derer, die Hiob und feine Freunde fürzer fagten. Daher 96 
antwortet ihm auch niemand; er bereitet die Zukunft Gottes vor 
und fündigt fie an, ohne daß ers felbft weiß. Indem Elihu ein 


— [m — — 


*) Bi. 14, 13. Eſ. 27, 1. 








97 


— 285 — 


auffteigendes Wetter in allen feinen Phänomenen bejchreibt, ſchildert 
er, ohne daß ers weiß, des Richters Ankunft 

A. Ich babe diejen zubereitenden Fortgang der Bilder nie 
bemerfet. 

E. Er ift, dünkt mid, die Seele der ganzen Scene; ohne 
welde Elihu durchhin Tavtologie reden würde. Fangen Sie, weil 
feine Rebe zu lang ift, nur von biefer Stelle an: Sieh, Gott ift 
groß!*) — ich will Sie zumeilen ablöfen. 


A. Sieh, Gott ift groß in feiner Macht! 

Wo ift ein Weifer, gleichwie Er? 

Wer mag ihn prüfen feine Wege? 

Wer jagen: bier haft du gefehlt! 

Daran gebent und preife feine Thaten, 

denn alle Menfchen fingen fie 

und alle Denfchen ſehen fie; 

nur fiebt der ſchwache Menſch fie nur von fern. 
Sieh, Gott ift groß; wir wißens nicht: 

und feiner Jahre Zahl, die forfcht niemand. 

Er zieht die Waßertropfen, 

die Regen träufeln, im Dampf empor; 

die flößen nun die Wollen nieber, 

fie träufeln fie auf Menſchen weit und breit. 
Und wer begreifts, wie er bie Wolf’ ausbreitet 

und kracht in feinem Zelt? 

Sieb, er umdeckt e8 rings mit feinem Blig, 

und dedt des Meeres Wurzeln mit ber Fluth. 

So firafet er die Völker, 

und giebet Speiſ' im Weberfluß. 
Mit feinen Händen faßet er den Blit 

und giebt Befehl ihm, wen er treffen ſoll? 

Er zeigt ihm an den Böſewicht: 

des Zornes Raub ift der Boshaftige. 

E. Alle diefe Bilder werden in der Rede Gottes Fürzer und 
Ihöner vorlommen. Seht erhebt fi das Ungemitter und Elihu 


fährt fort: 


*) Hiob 36, 22. 


— 286 — 


Darob erbebt mein Herz, 

es zittert ˖ anf in meiner Bruſt! 

hört, höret bebend ſeine Stimme, 

die Rede, die aus ſeinem Munde geht. 
Den ganzen Himmel umziehet ſie, 

die Fittige der Erd' ergreift ſein Licht. 

Und hinter ihm brüllt laut ſein Donner: 
es tönt die Stimme ſeiner Macht: 

wir ſpähns nicht aus, wie feine Stimme tönt: 
Gott tönt mit feiner Stimme Wunberlaut, 
tbut Wunderdinge; und wir wißens nicht. 
Er ſpricht zum Schnee: fei da auf Erben: 
zum Regenguß, den Strömen feiner Macht; 
und alle Dienfchen können nichts bawider, 
daß alle Menſchen fehn, e8 fei fein Werk. 

AM. Mir gefällt die Erklärung der Worte: auf die Hand aller 98 
Menichen drudet er das Siegel, d. i. fte ftehn erftaunt und erftarrt 
da; fühlend, daß fie nichtö vermögen. Eine Empfindung, die jedes 
Donnermetter in ung erreget — 

E. Die Schreden des Ungemwitter® werden weiter geſchildert: 

Es geht das Wild in feine Hölen, 

es hält in feinen Wohnungen fi ftill. 
Nun kommt aus Süden ber der Sturm, 
von Nord ber kommt der Froſt. 

Hauch Gotte® weht, fo wird e8 Eis, 
das weite Meer wird bichte® Land. 

Und jetzt zertreißt der Glanz die Wollte: 
fein Licht zerftreut die Wolke weit umber: 
fie wirbelt fih in Gängen, wie er will, 
geht auszurichten, was fein Wink gebeut, 
auf diefes Reis, auf jenes Land, 

was er Erguidung finden laßen will. 

Wir müflen Morgenländer feyn, um die Wohlthaten des 
Regens zu ſchätzen und die Züge der Wolfen, ob fie hier oder 
dahin reihen? mit folder Aufmerkjamkeit zu mahlen. Es ift 
lauter Gegenwart, die Elihu ſchildert. 


A. Hör’ an, o Hiob, dies. 
Steh’ und begreife Gottes Wunbertbaten. 











— 2317 — 


Weißt du, was Gott mit ihnen fchafft? 
Wie er anzlindet feiner Wolle Licht? 

99 Und weißt es, wie die Wolfe fchwebt? 
Die Wunderbinge des Allweifelten! 
Daß deine Kleider heiß bir werben, 
wenn er von Süden aus die Erbe wärmt? 
Du wirft wohl mit ihm jenen Aether breiten, 
der veft ba fieht mie ein gegoßnes Erz! 
Zeig’ an uns, was wir zu ihm fagen follen? 
Wir finden feine Wort’ nor Duntelbeit. 
Wird ihm erzäblet werben, wenn ich rede? 
und ſpräche jemand — fieh! fo ift er weg! 
Unſichtbar if fein Licht! 
Sein Glanz ift Hinter Wollen dort! 
Jetzt weht der Wind und läutert fie. 
Nun kommt von Norden Gold, 
Eloahs furdtbar ſchöner Schmud. 
Der Mäcdhtige: wir können ihn nicht finden. 
Der grofie, ftarle Richter, unausſprechlich 
in feiner Allgerechtigfeit. 
Darum verehrt ihn Menichen, 
fein Weifer fchaute ihn. — 


E. Sie fehen, wohin der junge Weile kommt, daß er für 
unmöglich erflärt, was eben jetzt gefchehn fol. Eben da er glaubt, 
daß die dunkle Wolfe Menſchen und Gott ewig trenne und ein 
Sterblider des Unendlichen Stimme nie vernehmen werde, erfcheint 
Gott und redet. D wie verjchieden ift Jehovahs von Elihus Rede. 
Schwaches, meitläuftiges Knabenwort ift dieſe gegen die kurze, 

100 majeftätifche Donnerſprache des Schöpfere. Er dilputirt nicht: eine 
Reihe lebendiger Bilder führet er vor und umringt, betäubt, über- 
wältigt Hiob mit feiner tobten und lebendigen Schöpfung.*) 

A. Jehovah fprach zu Hiob vom Ungewitter hinaus: 

ex fpra zu ihm: 
Wer ift der Dann, der Gotted Rath verbunlelt, 


mit Worten ohne Wißenfchaft? 
Umgiirte deine enden wie ein Mann. 





*) Hiob 38. 





— 288 — 


Ich will dich fragen, lehre mich. 

Wo wareſt du, 

als ich die Erde gründete? 

Sag' an mir, wenn du's weißt! 

Wer hat ihr Maas beſtimmet, weißt du es? 
Wer zog die Meßſchnur über ſie? 

Worauf ſtehn ihre Grundveſt' eingeſenket? 
wer bat den Editein ihr gelegt? 

Im Chorgefang der Morgenfterne, 

und alle Kinder Gottes jauchzten drein. 

E. Wir vergeßen alle Phyſik und Erbmeßung neuerer Zeiten 
und betrachten die Bilder als alte Naturpoefie der Erde. Wie 
ein Haus wird fie gegründet, gemeſſen, das Richtmaas über ihr 
gezogen, und da ihre Grundvefte eingefenkt, da ihr Edftein gelegt 
ift, ſtimmen alle Kinder Gottes, ihre Schweitern, die Morgen: 


‚sterne einen Freudengeſang an, zur Ehre des Werkmeifters, zu I". 


Berilllommung ihrer jungen Schweſter. Nun wird dag Meer 
gebohren: 

A. Wer Schloß mit Schleufen ein das Meer, 

als es hervorbrach aus der Mutter Sch008 ? 

Ich legt’ die Wolt’ ihm zum Gewande an: 

in Duntel windelt' ich e8 ein, 

und richtet! meinen Rathſchluß drüber aus, 

und fatt’ ihm Thor und Riegel für: 

und ſprach: „biß hieher komm' und weiter nicht. 
„Hier foll’n fi brechen deine flürm’gen Wellen!” 

E. Ich glaube nicht, daß je ein größeres Bild von dieſem 
Element gegeben fei, ala da es hier Kind wirb und es der Schöpfer 
der Welt mit Windeln kleidet. Es bridt aus den Klüften ber 
Erde, wie aus Wlutterleibe, der Ordner aller Dinge redet3 als 
ein belebtes Weſen, als einen ftolzen Erbbezwinger mit wenigen 
Worten an; und das Meer fchweigt und gehorcht ihm ewig. 


A. Geboteft du in deinen Tagen 
dem Morgenroth: 
und wiefett ihren Ort an der Aurora, 
daß fie die Zipfel der Erb ergreif’ 
und fehüttele die Räuber von ihr fort. 











— 239 — 


Wie Thon verwandelt ſich der Dinge Bild: 
ſie ſtehen, wie mit Schmuck bekleidet, da. 

Und den Verruchten wird ihr Licht entzogen; 
zerbrochen wird ihr ſtolzer Arm. 


102 E. Es iſt übel, daß man das Morgenroth nicht deutlicher 
als Wächter, als einen Boten des Himmelsfürſten ausdrücken kann, 
der geſandt wird, die Rotte der Böſen zu verjagen. Welch ein 
andres Geſchäft, als das die Abendländer der Aurora geben! Es 
zeigt alte Zeiten der Furcht und des Raubes an vorm Aufgange 
der Morgenröthe.*) 


A. Biſt dur gegangen in des Meeres Klüften? 
Haft in des Abgrunds Tiefen du gewandelt? 
Und tbaten fih dir auf des Todes Thore? 

Die Pforten der Vernichtung ſaheſt du? 
Und deine Wißenichaft reicht bis zur Erdenbreite? 
Sag’ an mir und du kennſt fie ganz! — 


Wo wohnt das Licht? wo ift der Weg zu ihm? 
Die Finfternig? wo if ihr Ort? 
Daß du fie bis zu ihrer Grenz’ ertappeft: 
Denn du meißt ja den Richtpfad in ihr Haus! ' 
Du weißt ed, denn du wareft damals ſchon gebohren, 
und deiner Tage Zahl iſt groß! — 


E. Alles wird bier perfonificirt: das Licht, die Nacht, der 
Tod, die Vernihtung Diefe haben ihren verriegelten Pallaft: 
jene ihre Häufer, ihre Reihe und Grenzen. Cine ganze poetifche 
Welt und Weltbefchreibung ! 


103 A. Biſt du gelommen in des Schneed Vorrathstammern? 
und haft des Hagel Schäte ba gejehn? 
Die ih mir auf die Zeit des Drangs erfpare, 
zum Kriegedtage umd zur Schlacht! — 


E. Jronie gehet durchs ganze Gedicht. Gott fürchtet den 
Angrif ſeiner Feinde und hat ſich droben Hagelgewölbe, als Rüft- 


*) Es iſt dies noch die Gewohnheit der Araber, vor der Morgen- 
röthe auf den Raub auszugehn. 
Herders fämmtl,. Werke. XI. 19 


— I — 


fammern, gefüllt und bewahret. In den Wollen, wie in ver 
Tiefe, wird Alles voll Dichtung — 


A. 


Auf welchem Wege tbeilet fid) das Licht? 
wenn e8 der Oftwind auf die Länder fireut? 
Wer fpaltete des Himmels Waßergänge ? 
und 309 ben Weg ben Ungemitterwollen ? 
daß fie auf Länder regnen, wo fein Menſch ift, 
auf Wüften regnen, bie Niemand bewohnt, 
und fättigen die Einöd' und die Wüfte, 
und fproßen machen zarte junges Gras. 


Wer ift des Regend Vater? 
Des Thaued Tropfen, wer bat fie erzeugt? | 
Aus weßen Mutterleibe ging das Eis? 
Den Reif des Himmels, wer hat ihn gebohren? | 
Die Waßer bergen fih und werben Stein, ' 
Der Wellen Fläche Iegt in Feßeln fi. — 





E. Reiche Poefie über Himmel und Erde! Droben, wo fi | 
die Bäche des Lichts ergießen und fie der Oftwind über die Länder | 
binführet, wo der himmlische Vater dem Regen Kanäle zieht und 

den Wolfen ihre Bahnen zeichnet. Unten mo, das Waßer Fels 10 
wird und die Wellen des Meers in Eisfeßeln gelegt werben. 
Selbft der Negen, der Thau, der Reif befommen Mutter und 
Bater. — Und jebt kommt eine der ſchönſten erhabenften Ausfich- 

ten der Welt. 


A. 


Haft du das fchöne Siebenftern gebunden? 
Dder kannſt die Bande des Orions Löfen ? 
Und führft zu ihrer Zeit bes Thierkreis Stern’ empor? 
und führft die Bärin auf mit ihren Jungen? 
Weißt die Gefege dort am Himmel broben? 
und haft fie unten auf der Erb’ entworfen? — 
Kannft bis zur Wolf! erheben beine Stimme? 
und in ihr gehn, bededt mit Waßerfluthen ? 
Die Blitz' ausfenden und fie gehn! 
fie fagen dir: „bier find wir!” 


Wer bat ven Wollenzügen Sinn gegeben? 


‚den Luft - Erfheinungen Berftand? 


— I — 


mb zählt die Regentropfen weislich ab, 

und läßt des Himmels Güſſe fanft hernieder 
und übergießt den Staub, daß er zufammenläuft, 
den Klos, daß er zufammenbhängt. — 

E. Die Beichreibung ber_jogenannten todten Schöpfung ift 
biemit geendet; aber bier iſt nichts todte Schöpfung. Schweiter- 
lih zufammen gebunden find die liebliden Yrühlingbringenden 
Sterne. Drion (oder wer das Geſtirn Chefil fei,) ift der gegür- 
tete Mann und bringt Winter: die Zeichen des Thierfreifes wer- 

105 den wie ein Kranz der Erde allmälich emporgeführt: der Vater 
des Himmels läßt am Nordpol die Bärin nit ihren Jungen wei- 
den, oder (nah einer andern Mythologie und Lefart) die Nacht⸗ 
manbdererin,! eine Sternenmutter, die ihre verlohrne Kinder, 
untergegangne Sterne fucht, wird von ihm getröftet: (vermuthlich 
indem er ihr neue Sterne, ftatt der verlohrmen, heraufführt.) 
Mer in der Nacht den Bär fi) wenden fieht, ala ob er am Him- 
mel weide mit feinen Jungen: oder wie der Gurt des Thierfreijes 
mit feinen fchöngeftidten Bildern mit den Jahrszeiten allmälich 
heraufrüdt, und alsdenn an die Zeiten denkt, da die nächtlichen 
Schäfer unter dem morgenländifhen Himmel dieſe Bilder immer 
vor fih Hatten und nad ihrer Hirten» und Vaterphantaſie beleb- 
ten; dem, m. Fr., wird die Schönheit dieſer Stelle im Sternen 
glanz aufgehen, die überdem, ihrer Turzen Symmetrie nah, mit 
dem Binden und Löfen kaum überfett werden fann. So gehts 
auch mit der Stelle, daß Gott den tiefen Dunfelbeiten, den irren 
Wolkenzügen und leeren Luftgefichten Verftand gebe; die perſoni⸗ 
fieirtte Sinn» und Bilddichtung verſchwindet in einer andern 
Sprade. Alle diefe Bilder, die Ausfendung der Blite und ihre 
Antwort, der Gang Gottes in den Wolfen, fein Abzählen der 
zropfen im Regen, die fanfte und reichlihe Herablaßung derſelben 
find fo ſchöne Naturpoefie — 

106 A. Sie feinen überhaupt ein Liebhaber diefer Gattung; 
und unſre Kunftrichter halten fie doch für die todteſte Dichtkunft. 


1) Nfe. : Nachtwandlerin,“ [durcftrichen] 
u 19* 








— mM 


Man will ihr fogar den Namen Dichtkunſt nicht gönnen und nennt 
fie eine kalte Beſchreibung unbeſchreibbarer Dinge und Geftalten. 

E. Wenn fie das ift, bin ich völlig der Meinung, Daß fie 
den Namen Poeſie nicht verdiene. Die elenden Beſchreiber, die 
ben Yrübling, die Roſe, den Donner, das Eis, den Winter mit 
den gemeinften Zügen langweilig und falt fchildern, find weder 
gute Dichter, noch gute Profaiften. Die Naturpoefie hat etwas 
anders als eine matte Bejchreibung einzelner Züge, auf die fie 
fih überhaupt gar nicht einläßt — 

A. Und mas hätte fie ftatt ihrer? 

E. Dichtung. Sie belebt die Sade, fie ftellt fie handelnd 
bar. Sehen Sie Hiob. Die Erde war ein Pallaft, der ihr Haus- 
vater den Edftein legte und alle Kinder Gottes jauchzten drein 
Der Dean ward, wie ein Kind, gebohren und gemwindelt: das 
Morgenroth handelte, die Blige ſprachen. Bild für Bild ift eine 
neue Perfonendihtung: das macht nun die Poefie fo lebendig. 
Die Seele wird fortgerißen und denkt fih die Gegenftände felbft 
mit, weil fie ihre Wirkungen gewahr wird; lange Befchreibungen 
brächten fie eher davon ab und erfchlafften ihre Kräfte. Sie zeig- 
ten ihr elende Wortlumpen, abgezogne, halbirte Schatten der 10: 
Geftalten, da fie jegt wirkliche Weſen vor fich fiehet. 

A. Ya, Freund, wer Tann und mag aber auch wie bic 
Morgenländer dichten? Den Drean als ein geminbeltes Kind, 
BZeughäufer des Schnee und Hageld, im Himmel Waßerkanäle — 
wer mag das? 

—E. Nientand folls: denn jede Sprade, jede Nation, jedes 
Klima bat ein eignes Maas und eigne Quellen feiner Lieblings: 
dichtung. Es zeigte elende Armuth an, wenn man von fo ent: 
legnen Völkern borgen mollte; aber benjelben Weg gehen müßen 
wir! und auß eben den Quellen ſchöpfen. Bor weßen Auge und 
Empfindung fih die Natur nicht belebt, zu wen fie nicht fpricht, 
wen ſie nicht handelt; der ift nicht zu ihrem Dichter gebohren. 
Tobt Steht fie vor ihm; und fie wird auch in feinen Bejchreibungen 
tobt jeyn. 





A. So hätten alsdenn die Zeiten der Unmißenbeit grofle 
Vorzüge vor denen, in denen man die Natur fennet und ftubiret. 
Jene dichteten, diefe bejchreiben. 

E. Was Sie Zeiten der Unmißenheit nennen! — Alle finn- 
liche Völker Tennen die Natur, von der fie dichten ; ja fie kennen 
fie lebendiger und zu ihrem Zweck beßer, als der Linneifche Claßi⸗ 
filator aus feinem Bücherregifter. Zum Weberblid der Gattungen 
ift dies unentbehrlih; es zur Fundgrube der Poefie zu machen 

108 und aus Hübners Neimregifter zu dichten, wäre glei viel. — Ich 
Iobe mir jene Zeiten, da man die Natur, vielleiht in kleinerm 
Umfange, aber lebendig Tannte, fie mit_bem gefchärften Auge ber 


Empfindung, der Menſchenanalogie anjah und meiſtens anftaunte. 

A. Alſo kämen die Zeiten der Ummwißenheit, in denen man 
anftaunte,, wieder. 

E. eve Zeit kann und muß ihren Begriffen von dem Syſtem 
der Wefen anftändig dichten; oder wenn fies nicht thut, muß fie 
fih menigftens getrauen, größere Wirkung durch ihre poetifche 
Naturlüge bervorzubringen, als ihr die ſyſtematiſche Wahrheit 
gewähren könnte. Und follte, m. Fr., dies nicht oft der Fall 
ſeyn? ch zweifle nicht, daß aus Copernikus und Newtons, aus 
Buffons und Prieftlei Syitemen ſich eben jo hohe Naturbichtungen 
machen liefen, ald aus den fimpelften Anfichten; aber warum bat 
man fie nidt? Warum reizen uns die einfachen, rührenden 
Fabeldichtungen alter oder unwißender Völker immer noch mehr 
als diefe mathematiſch⸗ phyfiih- und metaphyſiſche Genauigkeiten ? 
Nicht wahr, weil jene Völker in lebendiger Anficht dichteten, meil 
fie Alles, Gott felbft, ſich gleihförmig dachten, bie Welt zu einem 
Haufe verengten und in ihr alles mit Haß und Liebe befeelten. 
Der erfte Dichter, der das auch in der Welt Buffons und Newtons 

109 kann, der wird, wenn Sie wollen mit mwahrern ober wenigſtens 
umfaßendern Begriffen die Wirkung thun, bie jene mit ihren 
engen menſchlichen Fabeldichtungen thaten. Wir wollen wünſchen, 
daß ſo ein Dichter bald gebohren werde: und ſo lang er nicht 


da iſt, wollen wir bei den alten Völkern die hohen Schönheiten 





— 24 — 


ihrer Dichtkunſt deßwegen nicht lächerlih maden, weil fie unire 


Phyſik und Metaphyſik nit kannten. Manche ihrer Allegorien 


| 


und Perſonendichtungen enthalten mehr Einbildungskraft und finn: 
liche Wahrheit, als dicke Syſteme; und Regung des Herzens ver: 
ftehet fih von felbft — 

U. Die Naturpoefie dünkt mich aber nicht jo gar rührend ? 

E. Sanft und daurend rührt fie allerdings, ja mehr als 
eine andre. Kann es eine jchönere Dichtung geben, als die uns 
Gott felbft in der Schöpfung dargeftellt Bat? die er uns durch 
alle Tags - und Jahrszeiten ncu vorführet? Kann es eine wirt: 
jamere geben, fobald die Sprache und nur einigermaaffen an Das 
was wir find und genießen, wenn aud nur fur und einfylbig 
erinnert? Wir leben ja in diefem groflen Haufe Gottes: unfre 
Empfindungen und Begriffe, Leiden und Freuden find alle Daher. 
Eine Poefie, die mir Augen giebt, die Schöpfung und mich zu 
jehen, fie in vechter Ordnung und Beziehung zu betrachten, überall 


höchfte Liebe, Weisheit und Allmacht zu erbliden, aud mit dem ı 


Auge meiner Phantafie und in Worten, die dazu recht geihaffen 
ſcheinen — eine ſolche Poeſie ift Heilig und edel. Welcher Unglüd- 
liche, der mit dem großen Tumult feines Herzens unter den Ster- 
nenhimmel tritt, wird nicht durch den hohen Anblid dieſer ftillen, 
veiten, ewigen Lichter gleihlam wider Willen und unvermerft 
befänftigt! allen ihm nun die fimpeln Worte Gottes ein: 
„Kannſt du die Bande der fieben Sterne zufammenbinden?“ u. f. 
its nicht, als ob vom Sternenhimmel ihm Gott felbft die Worte 
zufprähe? Diefe Wirfung bat jede wahre Naturpoefie, die ſchöne 
Auslegerin der Natur Gottes. Ein Zug, ein Wort aus ihr 
erinnert oft an groffe Scenen und bringt uns ihre rührenden 
Gemälde niht nur leibhaft vor Augen; ſondern führt. folche 
unmittelbar zum Herzen, zumal wenn das Herz des Naturbid: 
ters felbit janft und gut mar: wie es denn beinah nicht anders 
jeyn konnte. 

A. Das Herz der Naturbichter wäre aljo immer fanft und 
gut geweien ? 





E. Der grofien und wahren gewiß: fonft mwürben fie die 
feinen Bemerfer, die hellen und mächtigen Ausleger der Natur , 
nicht geworden feyn. Cine Poeſie, die ſich allein mit menfchlichen, 
oft ſehr niedrigen und jchlechten Handlungen beichäftigt, die in 
unreinen Grüften des Herzens, oft zu unreinen Sweden, inbeß 

111 lebhaft und wirkſam arbeitet, kann ihren Urheber wie ihre Lefer 
verderben; die Poeſie Gottes thut das nie. Sie erweitert das 
Herz, wie den Blid, macht diefen ruhig und aufmerffam, jenes 
wirkſam, frei und frölid. Sie Ichafft Liebe, Theilnehmung und 
Mitgefühl mit allem, was lebt; ja fie übt den Verftand, überall 
Naturgefebe zu bemerfen und bat die Vernunft auf die rechte Bahn 
geleitet. Bon der Naturpoefie der Morgenländer gilt die vor- 
züglich — 

A. Auch von unferm Kapitel Hiobs ? 

E. Allerdings. Es wäre thöriht, der Phyſik einzelner poe- 
tiſchen Borftellungen nadgraben oder fie mit dem Syſtem unfres 
Tages vereinigen zu wollen, damit doch auch Hiob ſchon jo gedacht 
babe, wie unſre Naturphiloſophen; aber die Hauptidee, daß Alles 
Ein Haus Gottes fei, wo Cr jelbft walte, mo alles nach ewigen 
Regeln, mit jevesmaliger Vorficht im Kleinften Moment, mit Güte 
und Sinn gefhehe — der Hauptgedanfe ift unverkennbar groß 
und edel. Er iſt in Beifpielen dargeftellt, wo Alles zu Einem 
Zwed, dem Ganzen eilet. Die munderbarften Phänomene treten 
ung ala Werte des immer fchaffenden Hausvaterd vor — geben 
Sie mir ein Gedicht, das unjre Phyſik, unſre Entdedungen und 
Meinungen vom Weltbau, von den Veränderungen des Univerjum 
in jo kurzen Bildern, mit fo lebendigen Perfonificationen, mit fo 

112 treffender Auslegung, in jo binreißendem Plan der Einheit und 
Mannichfaltigfeit darftelle, als dies jchlichte Kapitel Hiobs; ich laſſe 
Ihnen dafür eine Epopee von Helden und Waffen liegen. Aber 
vergeßen Sie nicht meine drei Hauptmworte: Belebung der Gegen- 
ftände für den Sinn, Auslegung der Natur fürs Herz, ‘Plan im 
Gediht wie in der Schöpfung für unfern Berftand. Der lebte 
fehlt vollends gar den meiften neuen Naturbefchreibern — 





— 923 — 


A Mi dünkt Sie fodern Unmöglichkeiten. Wie wenig Plan 
it in den Scenen der Natur für uns überſehbar. Dus Reich der 
allgemwaltigen Mutter ift fo groß, ihr Gang fo langfam, ihre Aus- 
fihten jo unendlid --- 

E Daß deßwegen aud ein menjchliches Gedicht jo groß, 

, langfam und unüberſehbar feyn müſte? Wem die große Mutter 
feinen Plan, feine Einheit ihrer Gedanken weiſet: wer das Gewebe 
biefer Penelope nur von der linfen Seite anſieht; der fchmweige, 
der dichte nicht von ihr. Aber wen fie den Schleier wegzog und 
ihr Angeficht zeigte, der rede; der fiehet überall Zufammenhang, 
Ordnung, Güte, Gedanken. Sein Gedicht wird alfo auch wie die 
Schöpfung xoouos, ein regelmäßiges Wert mit Plan, Umriß, 
Sinn, Endzwed ſeyn und fih im Ganzen jo dem Verſtande 
empfehlen, wie durch einzelne Gedanken und Auslegungen dem 113 
Herzen, und dem Sinn dur der Gegenftände Belebung. Alles 
ift in der Natur gebunden; und für den menſchlichen Blid bindet 
fih alles menfhlih. Tags - und Jahrszeiten find unfern Lebens- 
altern ähnlich; Länder und Climata der Erde bindet Ein Men- 
ſchengeſchlecht; Zeiten und Welten bindet Eine ewige Urſache, Gott, 
Schöpfer. Er wird das Auge der Welt in ihrer fonft unermeß- 
lichen Leere; und eben dies Auge macht Alles zu Einen Ange: 
fiht. Auch da fommen wir wieder nah Orient: denn fie brachten 
in ihre Naturpoefie, fo arm oder reich dieſe ſeyn mochte, zuerft 
BVerftandes » Einheit. Sie fahen überall den Gott Himmels und 
der Erde. Das that fein Grieche, fein Celte, fein Römer: mie 
weit fteht hierin Lucrez hinter Hiob und David! — 

A. Sie denfen jehr morgenländiih: infonderheit mit ihren 
Perfonificationen. Lejen Sie unſre Kunftrichter, wie ſparſam bie 
ſolchen Schmuck anrathen. 

E. Wenns Schmuck ſeyn ſoll, haben ſie Recht; ich rede aber 
von Seele, von Belebung. Nicht wahr, OBian iſt fein Morgen— 
länder, auch nicht einmal ein eigentlicher Naturihilderer; und — 

| alle Gegenftände find bei ihm perfonificirt, voll Leben, voll Bemwe- 

| gung: ſei's Wind und Welle, oder gar der Bart einer Diftel. 





114 Die Sonne ift ihm ein raſcher Jüngling, der Mond ein Mädchen, F >48 
der auch Schweitern, andre Monden, am Himmel gehabt hat, der 
Abendftern ein lieblicher Knabe, der kommt, blidt, und wieder 
weggeht — Kurz, Oßian ift in Perlonificationen Hiobs Bruber. 

Lejen Ste bier einige ſchöne Proben und ich hoffe, er wird Sie 
mit den Perfonendichtungen Orients verjöhnen. 


115 1. 
Oßians Anrede an die untergehende Sonne. 


Haft du verlaßen beinen blauen Lauf? *) 
goldhaariger Himmels - Sohn. 

Der Weſt hat feine Thore aufgetban: 

da ift das Bette deiner Ruh. 

Die Wogen kommen zu fchauen deine Schönheit, 
fie heben ihre zitternden Häupter auf: 

fie feben dich in deinem Sclafe lieblich 

und zittern weg vor Furcht. 

Ruh aus in deiner Schattenhöhl’ o Sonne 

und laß bein Wiederfommen in Freude feyn. 


2. 
An die Morgenfonne. 


D du, die du droben rolft, rund wie meiner Väter Schild, 
woher find deine Stralen, 0 Sonne, 
dein immerbaurend Licht? 
Du trittfi hervor in deiner erhabnen Schöne: 
da bergen die Stern’ im Himmel ſich, 
der Mond, kalt und blaß, ſinkt im die weitliche Woge. 
Du aber fchreiteft allein daher; 
wer fann Gefährte feyn von deinem Lauf? 


*) Lauf ift bei Oßian wie auch in den Pfalmen das gewöhnliche 
Wort für Thaten der Helden. 


Vu VE 


— I — 


A. Mich dünkt Sie fodern Unmöglichkeiten. Wie wenig Plan 
iſt in den Scenen der Natur für uns überſehbar. Das Reich der 
allgewaltigen Mutter iſt jo groß, ihr Gang fo langſam, ihre Aus: 
fihten fo unendlich 

E. Daß deßwegen aud ein menfchliches Gedicht jo groß, 


langſam und unüberfehbar ſeyn müfte? Wem die große Mutter 


feinen Plan, feine Einheit ihrer Gedanken mweijet: wer das Gewebe 
biefer Penelope nur von der linfen Seite anſieht; der jchmweige, 
der dichte nicht von ihr. Aber wen fie den Schleier wegzog und 
ihr Angeficht zeigte, der rede; der ftehet überall Zufammenbang, 
Ordnung, Güte, Gedanfen. Sein Gedicht wird alfo auch wie die 
Schöpfung xoouog, ein regelmäßiges Wert mit Plan, Unıriß, 
Sinn, Endzweck ſeyn und fih im Ganzen jo dem Verſtande 


empfehlen, wie durch einzelne Gedanken und Auslegungen dem 113 Ä 


Herzen, und dem Sinn durch der Gegenftände Belebung. Alles 
ist in der Natur gebunden; und für den menſchlichen Blid bindet 
fich alles menfhlid. Tags - und Jahrszeiten find unfern Lebens- 
altern ähnlich; Länder und Climate der Erde bindet Ein Men: 
ſchengeſchlecht; Zeiten und Welten bindet Eine ewige Urſache, Gott, 
Schöpfer. Er wird das Auge der Welt in ihrer jonft unermeß- 
lichen Leere; und eben dies Auge macht Alles zu Einem Ange- 
fiht. Auch da fommen wir wieder nah Drient: denn fie brachten 
in ihre Naturpoefie, jo arm ober veich diefe ſeyn mochte, zuerft 
Verftandes - Einheit. Sie fahen überall den Gott Himmels und 
der Erde. Das that fein Grieche, fein Celte, fein Römer: wie 


weit fteht hierin Luerez binter Hiob und David! — 


A. Sie denfen ſehr morgenländiih: injonderheit mit ihren 
Perfonificationen. Leſen Sie unfre Kunftrichter, wie fparjaın bie 
ſolchen Schmud anrathen. 

E. Wenns Schmud feyn foll, haben fie Recht; ich rede aber 
von Seele, von Belebung. Nicht wahr, Hfian ift fein Morgen⸗ 
länder, auch nicht einmal ein eigentlicher Naturſchilderer; und — 
alle Gegenftände find bei ihm perjonificirt, voll Leben, voll Bewe⸗ 
gung: ſei's Wind und Welle, oder gar der Bart einer Diftel. 


— 297 — 


114 Die Sonne iſt ihm ein raſcher Jüngling, der Mond ein Mädchen, F »98 
der auch Schweſtern, andre Monden, am Himmel gehabt hat, der 
Abendſtern ein lieblicher Knabe,/ der kommt, blickt, und wieder 
weggeht — Kurz, Oßian iſt in Perſonificationen Hiobs Bruder. 

Leſen Sie hier einige ſchöne Proben und ich hoffe, er wird Sie 
mit den Perſonendichtungen Orients verſöhnen. 


116 1. 
Oßians Anrede an die untergehende Sonne. 


Haft du verlaßen deinen blauen Lauf? *) 
goldhaariger Himmels - Sohn. 

Der We bat feine Tore aufgetban: 

da ift das Bette beiner Ruh. 

Die Wogen kommen zu fchauen deine Schönheit, 
fie heben ihre zitternden Häupter auf: 

fie fehen did in deinem Schlafe lieblich 

und zittern weg vor Furcht. 

Ruh aus in deiner Schattenhöhl’ o Sonne 

und laß dein Wiederkommen in Freude ſeyn. 


2. 
An die Morgenfonne. 


D du, die bu droben rollſt, rund wie meiner Väter Schild, 

woher find beine Stralen, 0 Sonne, 

dein immerbaurend Licht? . 

Du trittft hervor in beiner erbabnen Schöne; 

da bergen die Stern’ im Himmel fich, 

der Mond, kalt und blaß, fintt in bie weftliche Woge. 

Du aber fchreiteft allein daher; 

wer kann Gefährte ſeyn von deinem Lauf? 
*) Lauf ift bei Oßian wie auch in ben Pfalmen das gemöhnliche 

Wort für Thaten der Helden. 


ar Ad £ ‘ 
KrN, sr. 


N 


— DIE — 


Die Eichen der Berge fallen: 
Die Berge ſelber ſchwinden mit den Jahren: 


es ſchrumpft das Meer zuſammen und wächſet wieder: 


auch ſelbſt der Mond verliert am Himmel ſich; 
nur du biſt immer derſelbe, dich erfreu'nd 
im Glanze deines Laufs. 
Wenn die Welt in Stürmen dunlkel liegt: 
wenn Donner rollt und es fliegt der Blitz; 
denn blickſt aus Wolken du in deiner Schönheit nieder 
und lahft dem Sturm. 
Doch ah! auf Oßian bfideft du umſonſt; 
er fieht nicht deine Stralen mehr, 
ob jett dein gelbes Haar auf Ofte8-Wolten fliefle, 
oder ob du zitterfi an des Weftes Thor ? 
Bielleicht biſt dur auch, gleich wie ich, 
für eine Zeit, 
und beine Jahre werden ein Ende haben. 
Denn wirft auch bu in deinen Wolfen fchlafen, 
forglo® der Stimme des Morgens, die did wedt. 
Erfreu dich Sonne, jetzt in beiner Jugend Kraft: 
denn dunkel und unlieblich ıft das Alter. 
Es iſt wie Mondes Schimmerlicht, 
wenns duch gebrochne Wolten fcheint, 
und Nebel auf den Hügeln liegt; 
der Hauch des Nords ift auf der Ebene, 


der Wandrer fährt zufammen in ber Mitte feined Wege. 


— un — — — 


3. 
An den Mond. 


Tochter des Himmels, ſchön biſt du! 
Das Schweigen deines Angeſichts iſt freundlich. 
Du tritift hervor in Lieblichkeit. 
Die Stern’ erwarten beine blauen Zritt' im OÖften. 
Die Wollen freun fi, wenn du kommſt, o Mond, 
und ihre dunkeln Säume ſtehn vergülbet. 


115 


— 29 — 


Wer ift dir gleih am Himmel, 
Tochter der Nacht? 
Die Sterne find beſchämt wenn bu erjcheineft, 
fie wenden ſchnell ihr funtelnd Auge meg. 
Und wohin birgſt du dich von deinem Lauf 
wenn Duntelbeit bein Antlitz bedt ? 
Haft du auch deine Hall wie Oßian? 
und wohnft bafelbft in Grames - Schatten? 
weil beine Schmweftern wohl vom Himmel fielen, *) 
die fi mit dir erfreuten einft zu Nacht 
und find nicht mehr. 
Ja! fie fielen, ſchönes Licht! 
Und darum geheft du fo oft zu traureıt. 
Doch bu, du ſelbſt wirft auch einmal 
zu Nacht ausbleiben, 
und lafien deinen blauen Pfad 
am Himmel leer. 
118 Denn werben fie ihr dunkles Haupt erheben, 
die Sterne, die bu nun beſchämſt; 
fie werben denn frobloden. 
Noch bift du ſchön mit deinem Glanz geſchmückt, 
blid’ ber aus deinem Himmelsthor. 
Zerbrich die Wolle, Wind, daß fie da vor fich fehaue, 
das Kind der Nadıt: 
daß Büſch' und Berge wiederglänzen, 
und feine blauen Wogen roll’ im Lichte 
der Ocean. 


4. 
An den Abendftern. 


Stern der nieberfteigenden Nacht! . 
Schön ift bein Licht im Welt. 
Du bebft dein ungefchorne® Haupt 
aus deiner Woll' empor 
und flattlich ift dein Tritt auf deinem Hügel. 


*) Fallen ift bei Oßian der gewöhnliche Ausbrud des Todes. 





— 30 — 


Wornach blickſt du die Ebn' hinan? 
Die ſtürmgen Winde haben ſich gelegt: 
des Stromes Murmeln kommt von weitem her: 
brüllende Wogen klimmen den fernen Felſen hinan: 
des Abends Müden find auf ihren ſchwachen Flügeln: 
und auf dem Felde ift das Sumfen ihres Laufe. *) 
Wornach blickſt du, Schönes Licht? 
Doch du lächelſt und gehfl davon. 
Die Wellen umringen mit Freude dich 
und baden bein Tieblih Saar. 
Leb' wohl, du fliller Stral! 


*) Sie haben auch Uebungen und Schlachten wie Krieger. 





120 


121 


V. 
Inhalt des Geſprächs. 


Lebendige Schöpfung in Diob, SHauptfarbe ihrer Bilder. Wo Hiob 

gelebt? Ob im Thale Gutte ıtte bei Damaftus? Gründe für die Sprüche 

feined Buchs als einer Weisheit ber Kinder Edoms. Aegyptiſche Bil- 
der im Bud. Ob der Verfaßer deſſelben ein Aegypter geweſen? 

Umfang feiner Bilder. Ob Behemoth der Elephant oder das Nilpferb 

fi? Ob Mofes das Buch gefchrieben? aus dem Arabifchen Überſetzt ? 

bei Jethro gefunden? Wenn e8 nach Judäa gelommen? Ob e8 in 
der Epräifchen Poefie nachgeahmt worden? Ob bie Biftorifche Einlei- 
tung fo alt, als das Buh? Ob der Satan diefes Buchs ein Ehal- 

däiſcher Begrif ſei? Bon der gerichtlichen Denkart, die bei Hiob im 

Himmel und auf Erden herrſchet. Plan des Buchs als einer Gerichts- 

verhanbfung und eined Kampfes der Weisheit. Ob die Freunde Hiobs 

charafteriftifch gezeichnet? Ob ihre Reden einem Berfolg nach zufam- 
men georbnet find? Daß das Buch kein Drama in Auftritten, fon- 
NS, dern Gonsessus einiger Weifen fei, nach morgenländiicher Weife. Ob 
es fih auf eine Geichichte gründe? Dichteriſche Compofition in ihm. 

Beilage, Entwurf berfelben. 

Alciphron. Ich bin auf den zweiten Theil der Anrede 
Gottes an Hiob begierig, wo alle Thierbilder auch mit Menfchen- 
empfinbung befeelt ſeyn werden. ch will lejen; legen Sie aus, 
Der König der Thiere tritt zuerft auf: 

Jagft du dem Löwen feinen Raub? 
und fättigeft der jungen Löwen Gier? 
wenn fie geftredt in Hölen liegen, 
und Iauren da im Hinterhalt. 

Wer ſchafft dem Raben feine Speife? 


wenn feine Jungen ſchreyn zu Gott, 
und irren umber und finden feine Speie. 


r 


— IR — 


Bemerkeſt du bie Zeit, wenn die Felsgems gebieret? 
und nimmft in Acht der Hirfhe Mutterwehn? 
und zählft die Monden nach, da fie noch tragen muß, 
und weißt genau, wenn fie gebiert ? 
Sie frümmen fih und drängen aus bie Jungen, 
fie drängen ihre Schmerzentinber aus; 
und e8 gebeiben ihre Kinder, 
fie mehren in der Wuſſte fich, 
fie geheu weg und kommen nie 
zu ihren Müttern wieder. — 


Eutyphron. Die Graufamfeit des Löwen, die Häßlichkeit 
des jungen Raben an Stimme und an Körper, für den Bott aud 
jorgt, feine bier fo kurzgemahlte krächzende Anaftftimme ſprechen 
für fih jelbft. Auch die Vaterzärtlichleit Gottes, mit der er ſich 
der Gemje des Felſen annimmt, haben wir fchon bemerit; ſehen 
Sie jetzt die Entihädigung, mit der Gott ihr ihre Schmerzen ver- 
gilt: „ihre ungen gedeihen bald und machen ihr weiter feine 
Mühe.” — Auch bei andern Thieren werden wir diefen ſchonen 


ben und erftattenden Vaterfinn Gottes bemerkt finden. Das fol- ır: 


gende Bild ift gleich Zeuge. 
A. Wer machte den Waldeſel frei? 

und löſete ihm auf der Knechtfchaft Bande? 
Die Wiüfte gab ich ihm zum Haufe ein, 

die unfruchtbare Wilftenei zur Wohnung. 
Da ladet er des Lärms der Stabt; 

das Dranggefchrei der Treiber hört er nicht: 
Auf grünen Bergen fucht er feine Weide, 

wo grünes Gras ift, ſpäht ers auf. 

E. Mit wahrem Freibeitgefühl wird die Natur diefes ſcheuen 
Thiers befchrieben. Die unfruchtbare Wüfte ift feine Wohnung; 
und es taufcht nicht mit dem Lärm der Stadt; es darf, wie fein 
dienender Bruder des Treiber Stimme nicht hören. Aber nad) 
den grünen Bergen ſchaut fein Blid, das kleinſte Gräschen ſpähets 
auf: e8 lebt in der Wüſte kümmerlich und frei und frölid. 

A. Wird dir der Waldochs dienen wollen? 
wird er an deiner Krippe Übernachten? 








— 303 — 


Spann’ ihn einmal ins Seil ein, bir zu furchen, 
verſuchs, daß er, dir nach, die Thäler adre. 
Berlaß dich auf ihn, weil er fo ſtark ift, 

und trau ihm beine Arbeit an. 

Bertrau ihm an, daß er dir deine Frucht zuführe, 
daß er dir deine Tenne füllen foll. 


123 E. Der wilde und zahme Ochs ftehn Bier gegen einander; 
jener wird die Arbeit dieſes nicht übernehmen. Kurz, jedes 
Geſchöpf ift für ſich erichaffen und lebt in feiner Weife glüdlich. — 
Die drei ſchönſten Beichreibungen kommen jebt, des Straußes, des 
Roßes, des Adlers: fie beichließen die fieben Thierbilder prächtig: 


A. Mit Luſtgeſchrei erhebt ſich ein froher Fittig dort: 
FRE Storches Flügel und Kiel? 
Der Erde vertraut er feine Eier an, 
legt über den Sand fie, daß fie der erwärmt, 
und denkt nicht dran, daß fie ein Fuß zertriimmre, 
daß fie zertret’ ein wildes Thier. 
FR Hart auf feine Kinder: fie find nicht fein: 
umfonft ift feine Geburtsmüh’: doch er achtets nicht: 
denn Gott Tieß ihn vergefien nachzudenken, 
Borüberlegung theilt’ er ihm nicht mit; 
aber bebt er fih und fpornt ſich an zum Lauf, 
verlachet er den Reuter und fein Roß. 


Gabſt du dem Roß die Kraft? 
und ſchmückteſt ihm mit fliegender Mähne den Hals? 
Machſt e8 auffpringen, wie die Heufchred fpringt? 
Sein prädtig Wiehern fchredt: . 
es ſcharrt die Erb’ und freut fich feiner Kraft. 
Wenn e8 dem Waffenglanz' entgegen zeucht, 
lacht e8 der Furcht und zittert nicht, 
und fehrt nicht um, wenn es das Schwert erblidt. 
Ueber ihm ſchwirrt der Köcher, 
ganzen und Spiefle blitzen umher. 
Mit Muth und Zorn wühlts in ven Boden und ſtampft, 
und glaubt nicht, daß ſchon die Trommet‘ ertönt. 

124 Die Trommet’ tönt lauter; e8 ruft: Hui! 

und fchnaubt von fern in die Schlacht, 
ins Kriegsgefchrei der Führer, ins Feldgeſchrei! — 











— AM — 


RE dein Berfland, daß fih ter Habicht ſawingt ? 
und fpanııt dem Winde feine Fittig’ aus? 
IRE dein Gebot, daß fih der Adler hebt 
md baut fein Neſt fo Hoch? 
Er bewohnt den Felſen, übernadgtet da 
hoch auf der Fellenfpig’ im feiner Burg, 
Bon da erfpäht er fih den Raub; 
in weite Fernen blidt fein Aug’ 
und feine Jungen ſchlurfen Blut, 
wo ein Leihnam if, iR Er. 

E. Bemerten Sie das Stolze aller drei Beihreibungen. Tr 
Straus wirb in feinem Aufihwunge jo triumphirend geſchilder: 
daß er für plöglidder Bewunderung gar nicht genannt wirb um: 
ala ein Niefe des Flugs mit Lauf und Luftgeichrei fidh jelt“ 
mahlet. Seine vergeßliche Dummheit wird Weisheit des Schöpfers 
mit der er bei feinem fcheuen furchtſamen Leben in der Wüfte ibn 
gütig überbacht hat. Wäre er nachdenkender und weider, jo wür 
den ihm feine zurüdgelaßenen Zungen wehthun; darum Bat ihm 
Gott den Verftand verfagt und ihm das wilde Lufigefhrei und 
feinen geflügelten Lauf gegeben. Die Beichreibung des Roßes ift 
vielleicht die edelfte, die von diefem Thier gemacht ward; fo wir 
auh die Gegend, in der das Buch gefchrieben ift, die ebelften L. 
Pferde Hatte. Es ift bier, wofür es auch die Araber anfehn, 
ein verjtändiges, muthiges, kriegeriſches Weſen, der Theilnehmer 
des Siegs: fein Wiehern gehört mit ins Schlachtgeſchrei Der 
Helden. Der Adler endlih in feinem auffteigenden Fluge, 
mit feinem Königsblid, in feiner Königsburg, in feiner Blut- 
gier, in feiner räuberifhen Allgegenwart bejchließt: ein König 
des gefiederten Reihe mie der Löme als König der Erden: 
thiere anfing. Behemoth und Leviathan, die Waßerungeheuer, 
folgen. 

A. Ich will diefe für mich lefen; geben Sie mir lieber Auf- 
ſchluß vom ganzen Sinn des Vorführens diejer Bilder, vom Faden 
der Gefprähe des Buchs, wo möglich au von der Zeit und dem 
Drt, wo der Berfaßer Iebte. 


— 0 — 


E. Alſo vom Ort, wo der Verfaßer lebte. Aber wo wißen 
wir ben, wenn wir den Verfaßer nicht kennen? Es muß alſo dabei 
bleiben, wo etwa die Scene des Buchs liegt? Wo Hiob gewohnet? 
Iſt die hiſtoriſche Einleitung dieſer Gedichte alt und glaubwürdig 
(und ſie iſts doch mehr, als neuerfundne Nachrichten) ſo hat er im 
Lande Uz gewohnt; wo lag dies Ländchen Uz7? 

A. Es ſoll das angenehme Thal Gutte um Damaskus ge⸗ 
weſen ſeyn. 

126 E. So iſt die Einleitung des Buchs mit dem Buch ſelbſt 
nicht einſtimmend: denn hier kommen offenbar keine Syriſche, ſon⸗ 
dern Arabiſche und Aegyptiſche Scenen vor. An nichts, was 
Syrien unterſchiede, wird in allen Gedichten gedacht: und doch iſt 
auch dies Land ſo reich an eignen Naturſcenen. Wir geben alſo 
dieſen Schauplatz, der fich überhaupt nur auf eine ſpäte münd- 
lihe Benennung gründet, auf und unterfuhen nad eigner Angabe 
der Ebräiſchen Schriften — — Kennen fie außer Uz, der Damas- 
kus erbauet haben foll, feinen? Leſen Sie 1 Moſ. 36, 28. 

A. Alſo auch einer der Kinder Edoms Hat diefen Namen. 

E. Und wohin jeht Jeremias die Tochter Eboms ?*) 

A. „Tohter Edoms, die du wohneſt im Lande Uz.“ 

E. Klärer kann nichts jeyn. Und woher find die Freunde, 
bie Hiob bejuden, die ihm alſo in der Nähe leben? So— 
wohl Eliphas als Theman ftehn unter den Ejaus - Söhnen”) 
ihon bei Mofes; in vielen andern Stellen der Propheten“) 
ift Theman als ein Land oder eine Stadt Edoms voll Fugen 
Raths und weiſer Gedanken befannt; gerade wie Eliphas fich 

127 bier zeiget. Bildad von Suah, Zophar von Naemah, Elihu 
aus Buz find alle aus den Gegenden oder der Nachbarſchaft 
Idumäas. Suah war ein naher Verwandter von Dean‘) und 
Devan wohnte nah an Idumäa. Die andern Städte”) werben 





a) Klagelied 4, 21. b) 1 Mof. 36, 11. 12. 
c) Ier. 49, 7. Obad. 8, 9. 
d) 1 Mof. 25, 2. 3. Ger. 49, 8. Czech. 25, 13. 
e) Sof. 14, 21. Jer. 25, 28. 
Herders fänmtl. Werte. XI. 20 


— 306 — 


auch dahin gefezt und überhaupt find die Sitten des Buchs Idu 
mäiſch, Arabifch. 

4. Sollte in Idumäa fo frühe folde Aufllärung gemein 
ſeyn? 

E. Wäre das nicht, fo hätte der Dichter ſchlecht eingeleitet, 
weil er die Scenen des Gedichts dem Ort und der Beit mid 
gemäß darftellte; mich dünkt aber, das mußte er befer als wir. 
Wenns auf und anläme, läugneten wir dad Buch ganz ab umd 
jagten: in fo alte Zeiten, in fo rauhe Gegenden hat jo viel Weis 
beit, jo viel Naturlänntnig nimmer gehöret. Und doch wären 
mehrere Propheten offenbar gegen dieſe Abläugnung — 

A. Welde Propheten ? 

E. Die noch zu ihrer Zeit, da Edom ſchon oft unterjodt 
war, dies Ländchen als einen Winfel morgenländifcher d. i. Arabi 
ſcher Weisheit betrachten: die Klugen von Themen, die Weiten 
Edoms fcheinen ein gewöhnliches Sprüchwort.“) Nun wißen wir, 
worinn die morgenlänbifche d. i. Arabifche Weisheit beftand? in ır 
Poeſien, Sprüden, erhabnen Bildern und Räthfeln, wie! Died Buch 
fie darftellt. Es zeigt ja felbft auch von feinem Schauplag: denn die 
Scene und Sitten find ganz Edomitiſch. Hiob ift ein Emir, mic 
wahrſcheinlich auch feine Freunde und wie die Edomsfürſten gleich 
in den Büchern Mofes bergenannt werben. Sordan ift bei ihm 
der Name eines Stroms. Endlich die Moſaiſchen Geſetze Fennt 
dad Buch gar nidt; es tft voll gerichtlicher Ideen, aber alle 
nah der Geftalt eines morgenländifhen Emirs⸗-Gerichtes. Dieſe 
Denkart geht vom erften bis zum letzten Kapitel und ift des Buchs 
Seele — 

A. Es Hat aber auch fo viel Aegyptiſche Bilder: vom Ni- 
ftrom, der hier, wie in Aegypten, das Meer genannt wird, vom 
Papierfhilf, dem Krokodil, den Inſeln der Verftorbnen — 


N 


*) Jer. 49, 7. Obad. 8, 9. 
1) Dife.: eben wie 








— 3017 — 


E. Laßen Sie mich fortfahren: dem Behemoth, der mahr- 
Icheinlih das Nilpferd und nicht der Elephant ift, den Gräbern 
der Könige, (die Elephantiaſis nicht zu vergeßen;) aber was hindert 
das? In Aegypten bat Hiob gewiß nicht gelebt, oder mit andern 
Worten, die Scene und Denlart des Buchs ift gar nicht Aegyptiſch. 
Die Mythologie, die durch alle diefe Gedichte herrſcht, ift hebräiſch 
oder Drientaliich, (wenn ich das letzte Wort nehmlich für den Haupt» 

129 begrif der mit dem Hebräifchen verwandten Sprachen nehme). Die 
Ideen von Gott, der Welt, ver Weltentftehung, dem Menſchen, 
dem Schidjal, der Religion find hebräifch oder Orientaliih, wie fie 
ih in feiner Sprade der Welt, ala in dieſer, formen lieflen. 
Wenn Sie dies nicht aus unjern biöherigen Geſprächen gefunden 
hätten: jo könnten Sies auf allen Blättern des Buchs finden. 
Alfo bleiben die Aegyptiihen Bilder bloß Aegyptiihe Bilder d. i. 
ein fernbergeholter Reichtum. Es ift unverlennbar, daß im ganzen 
Buch diefe Art von Aftatiicher Pracht auch in Gleichnißen und 
Känntnißen berrihet. Wir werden zu einer andern Zeit ben 
ganzen Schatz Orientaliſchen Reichthums in einem Gedicht finden, 
wo wird am wenigiten erwarten, in einem Lobgedicht auf die Weis- 
beit; und fo ifts mit einer Reihe andrer Bejchreibungen. Sie 
ftehen des Seltnen und ber Gelehrfamleit wegen ba; beim Straus, 
dem Behemoth, Leviathan ift das unläugbar. Wären die beiden 
legten Thiere den Lande, wo Hiob wohnte, gewöhnlich gemefen, 
jo könnten fie unmöglih jo riefenhaft und feierlich befchrieben 
werben; eben aber als fremde Ungeheuer und Wunderthiere treten 
fie auf: das ift der Zweck ihrer Erſcheinung. 

A. Alfo könnte man ziemlich den Kreis beftinmen, der den 
Verfaßer diefes Buches befannt, und was ihm in demjelben fremd 
und nahe war? 

130 E. Ziemlih. Die Lebensart, der Reichtum, das Gericht: 
figen, die Glüdfeligleit der Emirs ift ihm eigen: darauf ift alles 
gebauet. Das Opfern ift ihm befannt; aber ein patriarchalifches 
Opfern, denn Hiob verrichtet® felbft, der Vater de Hauſes. 
Arabifche Wüſten, verfiegende Bäche, ziehende Horben und Kara⸗ 

20 M 


— 30 — 


vanen find im Buch die gewöhnlichſten Bilder. Näuberbanden 
Hölenbewohner, Löwen und Waldefel, die Blutrache, alle Formal 
täten des Afiatiichen Gerichts — eine Reihe andrer kleiner Um 
ftände, die ſchwer zu erzählen find, zeigen ſämmtlich für Die Gegen), 


in die ſowohl die 70, ala der hiſtoriſche Einleiter das Bud ſetzen 


Idumäa. Gegentheild, die Schäge Mohrenlandes, Die Seltiam 
fetten Aegyptens ftehen offenbar als ein Schmud ferner Gelch 
ſamkeit da; Leviathan und Behemoth enblih find Die Herkuls 
Säulen am Ende ded Buch, das non plus ultra einer andern Bet 

A. Sie hielten den Behemoth für das Nilpferd; und de 
gemeine Meinung hält ihn doch für den Elephanten. 

€. Ich mag die neuefte gemeine Meinung nit ändern; abet 
die ältere gemeine Meinung hielt ihn für den Rhinoceros und midt 
blos anjehnliche Autoritäten, ſondern offenbare Züge der Befchreibung 
find für fie. Ein Flußthier muß es ſeyn, denn es wird als em 


Seltenheit angeführt, daß es auch Gras freße wie die Ochſen,“ 


daß auch die Berge ihm Nahrung geben und die Thiere des Feldes 
um ihn fpielen. Im Rohr fchläft es, in den Sümpfen am Ufer 
liegts verborgen, welches fih nicht auf den Elephanten paßet. Es 
gehet dem Strom entgegen, als wolle es ihn mit dem Munde 
austrinten — offenbar aljo ein Thier des Waßers. Seine Kraft 
ift in den Lenden, feine Stärke im Nabel feines Bauchs, mo eben 
der Elephant am fchwächften ift. Seine Knochen find eherne Röh— 
ren: fein Rückgrad eine eijerne Stange: der ihn gemacht bat, ver 
ſah ihn mit einer Harpune; welches des Nilpferds ſpitzige, hervor⸗ 
geredte Zähne find und bei dem Elephanten nicht ftatt finden. 
Da überdem der Name Behemoth wahrfcheinlich jelbit der Aegyp- 
tifche Name des Meerochien, P-Ehe- Moüth ift, (hier nur nad 
Ebräiſcher Art ausgebrudt wie Ebräer und Griechen alle fremde 
Namen umbilden:) da er ferner mit dem Krokodil zujammen, den 
Landthieren, die in einer eignen Rebe vorgeführt worden, gegen: 
über ftehet und als ein fremdes Ungeheuer, wie die Morgenlänber 
alle Wapergefchöpfe betrachteten, den Trupp ſchließt: fo dünkt mid, 
bat diefe Meinung überwiegende Wahrfcheinlichfeit und wird zeitig 











‚132 


— 5090 — 


gnug wieber berrihende Meinung werden. Leſen Sie Bodart, 
Zudolf, Reimarus; und ih glaube, die Befchreibung ift fo 
paßend, als fie e8 von einem fremden Wunderthier nur feyn 
könnte. | 

A. Aber der Rüßel, den er wie eine Geber von fi 
ftredt ? 

€. Bon feinem Rüßel ift bier die Nebe, ſondern vom 
Schmanze; auch nicht die Länge der Geber ift der Punkt der Ber- 
gleihung; ſondern die Krümmung, wie die Geber ihre Xefte 
frümmet. Dies Krümmen iſts eigentlih, was aud die ältern 
Verſionen ausbrüdten; und dies Bild ift eben für das plumpe 
Waßer-Ungeheuer. Aber gnug: wer, denken Sie, hat das Bud 
geichrieben ? 

A. Man fagt: Mofes, da er bei Jethro mar. 

€. Es thut mir leid, daß ich mich abermals von diefer ziem- 
lich allgemeinen und alten Meinung nicht überzeugen kann. Ich 
Ihäge Mofen auch als Dichter hoch; aber Dichter diefer Gedichte 
ift er wahrlich nit, oder Solon hätte die Iliade und die Eume- 
niden des Aefchylus geichrieben. — Ich Tann mich rühmen, den 
Genius der Moſaiſchen und diefer Poefie unbefangen ftudirt zu 
haben: ich rechne auch alles dazu, was Veränderung der Umftände, 
ber Jahre, der Gefchäfte thun mögen; immer ftehen fie mir aber 
noch wie Dft und Weſt aus einander. Hiobs Dichtkunſt ift ganz 
son Fury, finnreih, ftark, Heroifch, immer (möchte ich jagen) auf 
dem höchſten Punkt des Auspruds und Bildes. Mofes Dichtkunft 
ift auch in den erhabenften Stellen verfloßener, fanfter; ja gerade 


133 die Eigenheiten in Mojes Styl und in der Stellung feiner Bilder 


find diefem Buch fremde. Die Stimme, die bier tönt, ſchallt rauh 
und abgebrochen zwifchen den Felſen hervor und kann fi unmög- 
ih in dem platten, flachen Aegypten gebildet haben: es ift die 
Dentart eines Araber, eines Idumäers ſowohl im Umkreiſe ber 
Bilder als in jenen Heinen Lieblingszügen, die eben am meilten 
harakterifiren. Die Phantafie des Dichters bildet fih in feiner 
Yugend und wie fie fih da gebilbet bat, bleibt fie, zumal in ben 











— 310 — 


Grundſtrichen, die frühe Eindrücke bezeichnen. Hiob iſt fo vel 
von hausväterlichen und gerichtlichen Bildern morgenländiſcher Emits 
bie er auch auf Gott anwendet, dag man fiehet, in Dem Kreiſe 
war er erzogen und gebilbet; davon fahe Mofes in Aegypten nid 
und feiner feiner Vorfahren war auf dieſe Weife ein morgen 
ländifcher Fürſt geweſen. Die ganze Denlart war ihm alfo fremic, 
und ed wäre ein wahres Wunder, wenn er neben feinen Gedichten, 
Gefegen und Verfaßungen auch biefe Sammlung Gebichte, nach 
der Seele eines ganz andern Völlkerſtamms, einer völlig ambern 
Lebensweiſe, kurz einer ihm fremden Welt hätte dichten follen. 
Wenn ich einzelne Stüde durchgehen wollte, hätte ih hierüber 
lange zu reden; Ste können aber leicht diefe Punkte der Vergleichung 
felbft finden. 

A. Wie aber? wenn Mojes dies Gedicht, ald er bei Syethro 1; 
wer, aus dem Arabiichen überſetzt hätte? 

E. Ich ſähe e8 gern, wenn es durch ihn unter die Hebräer 
gelommen wäre; wie beweijen wirs aber? Nach meiner Meinung 
ift das Buch nicht überfeht, fondern Ebräiſch gefchrieben; ich wüſte 
nicht, was für ein Grund da wäre, es für überfegt zu halten. €s 
nähert fi der Dichtlunft der Araber, jo wie Idumäa dicht an 
Arabien lag, und fih alſo Sitten und ber Geift der Dichtkunft 
natürlih mifchten; weiter finde ich nichts, was diefe Hypotheſe 
begünftigt. Vielmehr die ftärkiten Originalftellen des Buchs find 
ihr entgegen. 

AU. Wenn Moſes es alfo wenigftens bei Jethro gefunden 
hätte? — 

E. Daß Sie ihn doch bei Jethro's Schafen nicht müßig wollen 
jegn laßen! Und doch muß ich jagen, daß auch diefe Meinung, fo 
gern ich fie hätte, mir unwahrſcheinlich vorlommt. Wäre dies Buch 
von Moſes Anſehen bekräftigt in die Hände der Ebräer gelommen; 
wir würden, da e8 eine Sammlung fo unvergleichlicher Bilder und 
Gedichte ift, viel mehrere Spuren der Nachahmung befelben in 
den Ebräiſchen Dichtern entdeden, als jet merfbar werden. Wie 
drängen und brüden ſich die Propheten! wie borgen fie von eim 








— 31 — 


ander Bilder in einem ziemlich engen Sreife und führen fie nur, 

135 jeder nah feiner Art, aus. Diefe alte ehrwürdige Pyramide 
fteht im Ganzen unnachgeahmt da und ift vielleicht unnad- 
ahmbar. 

A. Mich dünkt, es gebe Nachahmungen in den Pſalmen? 

E. Nachahmungen einzelner Stellen und Bilder vielleicht; 
ſehen Sie aber auch eben zu Davids Zeiten keinen nähern Weg 
der Bekanntſchaft Iſraels mit Edom als zu Zeiten Moſes? 

A. David unterjochte Edom. 

E. Und dem Moſes verſagten ſie ſogar den Durchzug. Es 
war auch gar nicht in der Denkart Moſes, von den benachbarten 
Völkern Kanaans Bücher ober Begriffe der Religion zu borgen, 
da er vielmehr fein Voll, ıwo möglich in allem, abjondern wollte. 
Zu Davids Zeiten war die Sache anders. Als er feinen Schuh 
Edom als einem Knecht zumarf: da ftanden ihm, wie bie veiten 
Stäbte, jo noch vielmehr die etwannigen Schäge der Wißenjchaft 
des Landes zu Befehl und der König, der ſich eine größere Ehre 
aus feinen Liedern als aus feiner Krone machte, wird fi wahr: 
fcheinlih um biejelbe befümmert haben. Hier kam aljo auch dies 
alte MWeisheit- und Lobgebicht auf die bebarrende Gottesfurdt eines 
ihrer alten Emirs in feine Hände, und vor allen wars werth, von 
einem Fürften und Hausvater, wie David, gelejen zu merben. 
Wenn er aljo in jpätern Pjalmen (denn in dieſen find etwa ähn- 

136 lie Ausbrüde merkbar) ihm nacheiferte: jo bewiefe Dies, daB auch 
Er die hohe Poefie defjelben empfunden und mit jeiner Idyllen⸗ 
poefie vermählt babe. So gar viel eigentlih nachgeahmte Stellen 
werben mir aber auch in den PBialmen nicht fihtbar; noch weniger 
in den Propheten; und Ezechiel ift der Erfte, der den Namen Hiob 
und zwar binter Noah und Daniel nenne. Kurz, m. Fr., ih 
folge der älteften Nachricht, die wir von dieſem Buch haben; fie 
ift ber Weberjetung der 70. beigefügt und heißt aljo: „Dies Bud 
„it aus dem Syriſchen (aus einer Handſchrift mit Syriſchen Buch⸗ 
„faben) überfegt. In der Landſchaft Aufitis an den Grenzen 
„von Idumäa und Arabien hatte Hiob gelebt: fein Name war 


— 312 — 


„Sobab. Er war von Baterfeite aus den Kindern Efaus, de 
„fünfte von Abraham. Die Könige Edoms nämlid waren Balal, 
„der Sohn Beor, Yobab, der ob beißt u. f. Die Freunde, die 
„zu ihm kamen, waren Eliphas, ein Ebomit, Yürft von “Themen, 
„Baldad Emir von Suah, Zophar König der Minier.” Ganz 
aus der Luft gegriffen mag diefe Nachricht nicht feyn, Da ihr auf 
nichts im Buch widerftreitet; ob man freilid auch ſagen Fönnte, 
fie jet aus Aehnlichleit des Lauts im Namen ob und Jobab ent- 
ftanden und alfo nur auf das Gefchlechtregifter der Edomtiten bei 
Mojes gegründet. Etwas Gewißes wird in Dingen fo Hohen 
Alterthums nie herausgebracht werden; es ift auch zum Verftänbmiß !: 
des Buchs nicht nöthig. — | 

A. Halten Sie denn die biftorilche Einleitung mit Den Ge⸗ 
dichten gleich alt? 

E. Zuweilen habe ich daran gezweifelt; ich fand aber auch 
meine Zweifel unwichtig. Die erſten Kapitel ſind mit einer 
patriarchaliſchen Einfalt, mit einer ſo hinreißenden Kürze, einer ſo 
ſchweigenden Erhabenheit geſchrieben, daß ſie des Verfaßers der 
Poeſien ganz werth find: ja die Scene des erſten Kapitels if 
offenbar der Grund des ganzen Buches. 

A. Aber Satan? ein fo fpäter Begrif! — 

E. Wie Hier Satan erſcheint, Halte ich feine Vorſtellung für 
uralt. Auch Er ift unter den Engeln, d. i. unter dem Haus: 
gefinde des oberften Fürften. Ausgefandt die Welt zu burdforfchen 
und Nachricht zu bringen handelt er feinem Amt gemäß und Gott 
lenkt ihm jelbft auf Hiob. Er geht nicht weiter, als Gottes Wint 
gebeut und auch dies thut er nur als Probe. Gott behält Necht, 
freilich lange auf Hiobs Koften; und am Ende des Buchs ift von 
feinem Satan mehr die Rede. Sie fehen, dieſer Begrif von ihm, 
als einem Engel unter Gottes Sendung tft fo ganz vom fpäten 
Chaldäiſchen Begrif deſſelben unterfchieven,' daß ich mich über 
Heath u. a. wundere, die feinetwegen das ganze Buch zu einem 
Chaldäiſchen Buch haben machen wollen. Das ſchießt fehr fern 18 
vom Biel. Der Chaldäifhe Satan ift Drmuzd entgegen, bie 











, — 38 — 


primitive Urſache alles Böſen. Nicht einmal dem Typhon der 
Aegypter oder dem, was die Alten den böfen Genius eines Menfchert 
nennen, möchte ih diefen Satan vergleichen; er ift nichts als Ge⸗ 
richts- Engel Gottes, ein Bote zur Ausforfhung, zur Züch⸗ 
tigung, zur Strafe. Ich habe Sie ſchon aufmerkſam gemacht, 
was für eine gerichtlihe Denkart durch dies ganze Bud 
herrſcht — 

A. Sie wundert mid). 

E. Warum? Jede Zeit, jede Nation bringt ihre Sitten in 
den Himmel und in den Orkus. Wie der Geſichtspunkt im eriten 
Kapitel angegeben wird, daß Gott im Himmel als Emir figt und 
zu gewißen Zeiten feine Knechte, die Engel um ſich verfammlet, 
um von der Erde Nachricht zu erhalten: wie Satan als Gerichts: 
diener gefandt wird, Hiob zu prüfen, ob er auch ein ächter Anbeter 
Gottes fei und fi treu zu feiner Parthei Halte: fo figt diefer im 
ganzen Buch ala ein Geftrafter da, ber nicht verhört worben, als 
ein Gekränkter, dem Unrecht gefchehen fei. Er wünſchet nur feinen 
Richter zu fehn und feine Sade ihm ſelbſt vorzulegen: feine 
Freunde find Advokaten Gottes, die fich des oberften, mächtigen 
Richters gegen ihn den Berurtheilten annehmen und Ausflucht 
ſuchen bie und da. Zuletzt ericheint der Fürft jelbft und ftellt 

139 Hiob majeftätiih zur Rede. Hiob ſchweigt und ihm geſchieht 
Eritattung, veichliche Vergütung des Unrechts. Das ift der Plan 
des Buchs. 

A. Ich wünſchte ihn ausgeführt zu leſen. 

E. Ich habe einige Reihen darüber entworfen; wollen Sie 
fie leſen? Sie werden den Faden bes Geſprächs und die Charaktere 
der Redenden mit bemerkt finden. 

A. Alſo it doch eine Zufammenorbnung unter den Reben» 
den, ein Faden und Fortgang der dargeftellten Verhandlung merkbar ? 

E. Allerdings; nur nicht nah unfrer Weiſe. Hiob fängt 
mit feiner Klage an:*) die drei Gegner bringen ihre Rebe vor: er 


*), Kap. 3, 


— 34 — 


antwortet. Diefes Zufammentreffen geſchieht breimal,*) mer das 
beim dritten Sag Zophar fehle. Sept bleibt Hiob, der gegen fie 
vecht behielt, allein auf dem Kampfplatz und bringt jeine Sache 
in Sprüden vor, die gewiß mit zu ben ſchönſten Stellen 
des Buchs gehören”) Er malt feinen vorigen Buftanb der 
Glückſeligkeit, feinen jetzigen Zuftand des Jammers und jeine 
Unschuld jo Ihön und rührend, daß er felbft am Ende der Rede 
wünſcht: 

Ach, daß ich einen hätte, der mich höret! 

Ih ſprach itzt mein Vertheidgungswort; 

o daß der Mächtige antwortete darauf, 14 

und jemand meine Sad’ in Schrift verfaßte! 

als Mantel würd’ ich fie auf meine Schulter legen, 

al8 Diadem fie mir um meinen Turban winden. 

Ich wollt‘ ihm alle meine Schritte fagen, 

vor ihm erfcheinen, al® ein Held. 
Als ſolcher ftehet er auch bier wirklich, und läßt den Elihu veben:“) 
bis Gott erfcheinet, als Fürft und als Weifer.*) 

A. So wäre dad Buch eine Art von Drama? 

E. Ein Drama nad) unfern Begriffen nit; wie war auch 
ein foldyes über diefen Gegenftand möglich? Hier fteht alles ſtill in 
langen Sprüden und Reden. Die Gefchichte vorn und Hinten ift 
offenbar nur Prologus und Epilogus, Eingang und Ausgang. 
Doch ich will über das Wort nicht ftreiten. Abtheilung tft in den 
Reden; mich bünkt aber, auch bei ihr wird das Wort Gcene, 
Auftritt ganz gemißbraudt. Consessus einiger Weiſen iſts, Die 
pro und contra die Sache der Gerechtigkeit des oberften Welt: 
monarden verhandeln, ein Kampf der Weisheit über Gottes und 
Hiobs Sade; fein Drama — 

A. Sie glauben alfo, daß fih das Buch auf eine Geſchichte 
gründe? 

a) Kap. 4—14. 15-21. 23—26. 

b) Kap. 27 —31. 

c) Kap. 32 — 37. d) Kap. 38 — 42. 





— 35 — 


E. Das ift mir gleichgültig. Seine ftarle und tiefe Poefie 

141 machts zu einer Geſchichte, mie es wenige giebt: es wird bie Ge- 

fchichte aller leidenden Nechtichaffenen auf der Erde. Auch ifts mir 

angenehm zu denken, daß ein Mann wie Hiob gelebt, daß er eine 

fo ſtarke Seele, einen fo erhabnen Geift erwiefen babe, als dies 

Bud zeiget. Es ift ihm alsdenn das ewige Denkmal, das er fi 

wünſchte: ein Denkmal mehr ala in Erz gegraben, mehr ala in 

Fels gehauen. Es ift mit ſtarken Sprüden in menfchliche. Herzen 

gefchrieben, mit ewigen Bildern auf die Tafel der Nievergekenheit 
verzeichnet — 

A. Aber alle Reden, wie fie da find, Gottes Gericht und 
Erſcheinung, Satan und der Anhalt der meiften Bilder find doch 
nit Gedichte? Wer Lönnte ex temporo folde Neben halten? 
dazu ein gequälter? — 

E. Die Compofition ift Gedicht von Anfang bis zu Ende: 
daran ift Fein Zweifel; aber .ein Gedicht, das fi überall der 
Natur nähert. Die Morgenländer lieben ſolche gelehrte Consessus, 
lange Reben in geflügelten Sprüden, bie fie gebuldig aus- und 
anhören und denn in eben der Weife beantworten. Dies tn 
ift ihre Weisheit, der ſtolze Schmud ihrer Rede⸗ und Dichtkunft. 
Sn die Neigung derjelben, geflügelte Sprüche zu hören und Weis- 
beitsfämpfe zu feiern, fette ſich der Dichter, und fchrieb Diefen 
Kampf leidender Tugend, übermindender und überwundner Men- 

142 ſchenweisheit. Wie viel davon Geſchichte fei d. i. wirtlih und auf 
einmal möge ſeyn geiprodhen worden? nugt und zu wißen gar 
nidt. Der Dichter bat alles erhöhet und zu Einem Ganzen 
fomponirt, das vielleicht als die ältefte Kunftcompofition der Welt 
daſteht. 

| U. Ich freue mich darauf; denn aud die Materie ziehet mich 
an, wie bie älteſten Weifen von der Vorſehung Gottes, und dem 
Menſchenſchickſal geredet haben. 

€. Zum legten müßen wir erft die morgenlänbifchen Trabi» 
tionen von des Menſchen Schöpfung und feiner Beitimmung, für 
ſich betrachten. Wir werden dabei in einen Garten ſchöner poetiſcher 








— 36 — 


Feen Tommen, ;und bemerten, was aus ihm etwa an Blu- 
men und Früchten in den Kranz fpäterer Poeſie gelangt fer? 
Haben Sie Luft dazu? Den Werth, ben die Morgenländer 
und alle finnlihe Völler auf folde Sagen der Vorwelt; auf 
Sprüde, Namen und Nachrichten der Väter eben, wißen Sie; 
bie ältefte Poefie, auch bie Derlart dieſes Buches bat fi ganz 


darnach gebilbet. 


A. Ich begleite Sie gem in biefen Garten hebräiſcher 


Urmelt. 
E. Hier ift das Blatt über Hiob, an das ich badhte. ! 


Einige Züge des Buchs Hiob, als Kompofition 
betradtet. 


Im Buch ift eine zwiefache Scene, im Himmel und auf ber Exbe. 
Oben wirb gehandelt, unten gefprocden; das Untere weiß den Sinn bes 
Dbern nicht, deßwegen räth es bin und wieder — Das tägliche Verhältniß 
aller Philofophien und Theodiceen der Welt. 

Der Gegenftand des Buchs ift ein Leidender, ein unſchuldig⸗ umb 
fogar körperlich Gequälter. Ihm verzeibt man alle Klagen und Seufzer: 
denn auch ein Held ächzet bei Lörperlihem Schmerz. Ex fiehet den nahen 
Tod vor fih und wünſcht ihn: fein Leben ift verbittert; warum follte er 
nicht ächzen? 

Hiob leidet als der Ruhm und Stolz Gottes: feine Plagen find 
verhängt, das Ehrenwort des Schöpfers über ihn zu bewähren; kanns einen 
eblern Geſichtspunkt menfchlicher Leiden geben? Diefer große Umriß bes 
Buchs ift Theodicee des Weltmonarchen; nicht bie einfeitigen Rechtfertigungen 
aus dem Munde der Weifen ber Erde, obwohl auch von dieſen viel Schönes 
gejagt wird. 

Alles aber mas fie jagen, tröftet nicht; ja es erbittert. Hiob über- 
trift fie in Schilderung der Macht und Weisheit Gottes und bleibt doch 
elend — ein gemwöhnliches Bild des Troſtes der Erbe. Ihr Schauplak ift 


1) Im Mfc. fehlt dieſe Zeile. 


145 





— 31T — 


zu eng und umhüllet: ſie ſuchen Gründe im Staube, da ſie ſie über den 

144 Sternen fucden ſollten; und wer von ihnen reichte dahin? Keiner vermuthet 
nur, daß das ber Grund ber Leiden Hiobs war, was hier das erfte Kapitel 
faget. *) 

Wie wirb bed Unglüdligen Afchenbaufe geehret! Er ift ein Schau- 
fpiel der Engel und des ganzen bimmlifchen Heer. Hiob bewährt feine 
Tugend, vehtfertigt das Wort des Schöpfers: Gott hält den Kranz bereit, 
ihn zu frönen. — Diefe doppelte Scene, und bie unfichtbaren Zufchauer, 
wie Hiob fein Unglüd ertrage? machen den Schauplat des ganzen Buchs 
heilig. 

Der Mann, der ein Muſter menſchlicher Stärke und Treue im Him⸗ 
mel feyn ſoll, wird auf ber Erde in einen Weisheitskampf verflochten; 
und bier if er auch ein Menſch wie andre. Der Dichter hat ihm einen 
rafchen Charakter und eine Wärme gegeben, bie ibn gleich bei ber erften, 
wirllih gelinden Zuſprache Eliphas fortreißt. Diefer Sauerteig ift 
das Ferment feiner Tugenb und auch dieſer Gefpräcde: fie wären lang- 
weilig und umunterrichtend, wenn feine Freunde nur tröfteten unb Hiob 
nur Magte. 

Dur alle gebt ein feiner Faden fort. Die drei Weifen fprechen 
charakteriſtiſch und Hiob überwindet fie als Weifer und Dichter. Eliphas ift 
ber befcheibenfte, fo gar daß er die erfle Lehre, die er Hiob geben will, nicht 
ſelbſt fagt, fondern einem Orakel in den Mund legt.) Bildab greift Hiob 
mehr an und Zophar übertreibt meiftene nur, was Bildad fagte. Er ver- 
liert ſich auch zuerfi vom Schauplag. 

145 Es find drei Angriffe der Kämpfenden‘) Am Ende des erften ift die 
Sade ſchon fo weit, daß Hiob von ihnen, feinen Beſchuldigern, richterlich 
an Gott appelliret. 2) Im zweiten ift ber Faden am meiflen verworren, 
und gleihfam des Geſprächs Knote: denn am Ende deilelben behauptet 
Hiob gegen Zophar fo gar, daß es eben dem Böfen in ber Welt wohl- 
gehe) — mozu ibn blos die Hitze des Kampfs verleitet. Eliphas will 
durch eine feine Wendung einlenten; aber die Sache ift zu erbittert. Hiob 
behauptet feinen Spruch,ſ) Bildab weiß wenig, ) Zophar nichts mehr ent- 
gegen zu ſetzen und Hiob ift Ueberwinder. Gr gebt wie ein Löwe zwifchen 
niebergelegten Feinden einher, nimmt zurück, was er in der Hite gejagt 
batte,®) und fagt in drei Abſätzen Sprüde, bie bie Krone des Buche 
find‘) — 


a) Kap. 1,8—12. 8.2, 3—6, 

b) Rap. 5,12. 0) ap. 4-14. Rap. 15-21. Kap. 22-26. 
d) Kap. 18, e) Kap. 21. f) Kap. 24. 

g) Kap. 26. h) Rap. 27. i) Kap. 28- 31. 


— 318 — 


So eintoͤnig für uns alle Reben klingen, fo find fie mit Licht und 
Schatten angelegt und der Faden oder vielmehr die Verwirrung ber Materie 
nimmt zu von Rebe zu Rebe; bis Hiob fich ſelbſt fahet und feine Be 
hauptungen lindert. Wer diefen Faden nicht verfolgt und infonderbeit wicht 
bemerkt, wie Hiob feinem Gegner immer den eignen Pfeil aus der Hand it 
windet; entweder das beßer fagt, was jener fagte, oder bie Gründe jemes 
eben für fi braucht — der bat das Lebendige, Wachſende, kurz Die Seele 
bes Buchs verfeblet. 

Mit einer ſchönen Elegie fängt Hiob an*) und er fließt meiftens 
feinen Spruch mit einer bergleihen rührenden Wehllagen. Diefe finb 
wie der Chor des alten Zrauerfpield: fie maden den Inhalt allgemein und 
menſchlich. 

Da Hiob die Weiſen überwunden bat, wirft ſich ein junger Prophet 
auf den Schauplatz.) Er ift, wie bie meiften Gottbegeifterten der Art, 
anmaaffenb, kuhn, allein weile, er macht grofie Bilder ohne Ende und 
Abfiht,; daher antwortet ibm auch niemand. Gr fieht wie ein lauter 
Schatte da zwifchen Hiobs und Gottes Rebe; biefer widerlegt ihn nur 
durch feine Ankunft thätlih und — er ift wie ein Schatte verſchwunden. 
Sein Auftritt ift in der Eompofition de Ganzen weile und lebrreidh 
georbnet. — 

Gott erfcheint unvermuthet und prächtig. Er unterbridt den Pro⸗ 
pheten, ba biefer, ohne es zu wißen, feine Ankunft gemahlt und für un- 
möglich gehalten Batte; er läßt die Weifen, feine Bertbeibiger, ſtehn und 
fprit mit Hiob. Mit diefem redet er auch, zuerft nicht ale Nichter, fon- 
dern ale Weifer.”) Er legt ibm, der doch alle überwunden und alle Weis⸗ 
beit Himmels unb der Erde erfchöpft, Habe, Räthſel und ragen vor. Sie 
betreffen Geheimniße der Schöpfung und Weltregierung; ber Erdenweiſe 
ſteht verftummt. 

Er führt ihm fieben wilde ZThiergeftalten, zulett bie Ungeheuer bes 
Waßers vor,") bie Er, der Vater ber Welt, alle erfchaffen; für bie alle, 
als für feine Lieblinge, ex täglich forge — „Warum find dieſe Geſchöpfe da ? 147 
fie find nicht für den Menfchen, ja die meiften dem Menfchen ſchädlich.“ — 
Der Weife der Erde ſteht verftummt und befchämet. Unterwerfung alfo 
unter den unendlichen Berftand, unter den unüberfehbaren Plan, unter 
Die augenfcheinliche Güte des großen Hausvaters, die für den Krolobill und 
Raben forget — dies iſt die Aufldfung der Fragen Über Weltregierung und 
Schidjal aus dem Munde des Weltregiererd felbft, der im Ungewitter unb 


— — — — 


k) Kap. 3. l) Kap. 32—37. m) Kap. 38. 
n) Kap. 39--41. 


— 319 — 


mit Thaten der ganzen Schöpfung redet. Die wahre Theobicee eines 
Menſchen iſt Studium ber Macht, Weisheit, Güte Gottes in ber ganzen 
Natur und demlthiges Erlänntniß, daß fein Berftand, fein Plan fiber den 
unfern reiche. j 

Gott belehrt alfo auch den Hiob nicht: warım er ihn geprüft habe? 
Er erftattet, er vergilt ihm feinen Schaden und das ift, mas der Sterbliche 
fodern fonnte. Die Gemein-Derter ber fogenannten Gotteßvertreter werben 
fo wenig geehrt und belohnt, daß fie vielmehr — durch ein Opfer aus 
Hiobs Hand müßen verföhnt werden. — 

Hohe Anlage des Buchs, von der ih nur einige ſchwache Züge ent- 
worfen! Wenn e& kein Fürft gefchrieben bat, fo ift es eines Fürften werth: 
benn feine Dentart ift königlich und göttlih. Durchs Ganze des Buchs hin 
handelt Gott als König, Hausvater und Weifer der meiten Schöpfung. 
Engel und Menſch, Rabe und Behemoth find in feinen Augen gleich. — 
Die ſchönſten Beſchreibungen von Gottes Eigenfchaften und feiner Welt- 
regierung, bie berebteften Troftgründe umb was man über Providenz und 

148 Menſchenſchickſal für und wider fagen kann, find durchs Buch Bin zer- 
ftreuet; die höchſte Aufrichtung und Lehre ift aber die Einfaßung des Buchs 
ſelbſt. Epopee der Menſchheit, Theodicee Gottes, nicht in Worten, ſondern 
im Berbängniß, in feiner ftilen That. Ecce spectaculum dignum ad 
quod respiciat intentus operi suo Deus. Ecce par Deo dignum vir 
fortis cum mala fortuna compositus, 

Und wo ift bein Grab, bu früher Weifer, ber biefe Theodicee und 
Epopee ausfarın, der fie in dieſe ftille That, das Verhängniß eines Leiben- 
den auf feinem Afchenhaufen brachte und mit geflügelten Sprücden feiner 
Weisheit, wie mit den Funlen feiner rafchen Seele befeuerte und kränzte? 
Wo ift bein Grab, du hoher Dichter, Vertrauter des göttlichen Raths, ber 
Engel und Menfchenfeelen, der bu Himmel und Erde in Einen Blid zufam- 
men faßteft und von der Klage des Gequälten im Schattenreiche bis zu 
den Sternen, ja über die Sterne binauf deinen Geift, dein Herz, beine 
Dichtungsgabe, deine Leidenfchaft ſchwangeſt? Blüht eine ewiggrünende 
Cypreße auf deiner NRubeftäte? ober liegft du verborgen, mie bein ver- 
ſchwiegner Name und läßeſt dein Buch zeugen und fingft, hoch Über unferm 
großen Aſchenhaufen fo vieler Gequälten, mit Morgenfternen um deines 
Weltregierers Thron? 

Oder warft Du der Gefchichtfchreiber deiner Leiden und deines 
Triumpbs, deiner liberwindenden und überwundnen Weisheit, Du der 
glüdliche Unglüdliche, der Gequälte und Belohnte ſelbſt? So haft bu zum 
andern mal den Klagen beine® Herzens Luft gemacht und deinen Sieg über 
Jahrtaufende und Welttbeile verbreitet. Aus beiner Afche ift auch mit 

149 diefem Bud ein Phönig, ein verjüngter Palmbaum bervorgegangen, deßen 


— 320 — 


Wurzeln das Waßer ſaugen. Da bu, wie bu wünſchteſt, in deinem Neſt 
erſtarbſt, Hat fih der Weihrauch deſſelben umbergebreitet, bat mandhe 
Ohnmacht erquidt und wird fie erquiden bis zum Ende ber Zeiten. — 
Du ziebft den Himmel auf Erben, fein Himmlifches Heer lagerfi du unficht- 
bar um das Bett des Kranken, fein Leiden wird Schaufpiel der Engel, 
Bewährung Gottes in feinem Gefchöpf, auf das fi wie zu Rechtfertigung 
feiner eignen Sache prüfend fein Blid beftet. Siehe, wir preijen felig 
bie erbuldet haben. Die Geduld Hiobs habt ihr geböret, und 
das Ende des Herren habt ihr gefehen: denn der Herriftbarm- 
berzig und ein Erbarmer.°) 


0) Jacob. 5, 11. 


150 


VI. 
Inhalt des Geſprächs. 


Vom Paradieſe. Ideen deſſelben in Jugend⸗- Liebe- und Landfcenen. 
Ob es je exiſtiret? warum es Moſes in die Ferne des Zauberlandes 
ſetzet? Woher eben dieſe Gegend der Grund ſo vieler Zaubergeſchichten 
worden? Vom Baum des Lebens. Schöner Idiotismus deßelben in 
ber Ebräifchen Poeſie. Ob Bilder des Paradiefes die Menfchen zu veft 
am Sinnlihen halten? ob fie mit beigetragen, die Morgenländer in 
Ruhe zu wiegen? Vom Geſpräch Adams mit den Thieren. Schilde- 
rung! ber golbnen Zeit im friebliden Umgange aller Tiere mit 
einander. Bon der Liebe des Parabiefes. Ideal beffelben zu allen 
Liedern ber Liebe. Ob Adam die Eva mit Gefang und Weißagung 
empfangen babe? Zarte Entwidlung der Geſchlechtsempfindungen in 
diefen uralten Sagen.2? Bom Baum ber Weisheit. Was Erkenntniß 
des Guten und Bdfen bedeute? Warum bie Schlange vom Baum efen 
dorfte; der Menfch nicht? Charakter der Schlange, als eines Tlugen, 
liſtigen Thiers und als eines Verführers. Warum bie Menden wie 
Elohim feyn wollten? Unterſchied der wahren und falfchen Weisheit. 
Ob die Tradition vom Baum der Erlenntniß eine Aeſopiſche Fabel 
fi? Entwicklung derfelben als einer uralten Sage. Wirkungen des 
verbotnen Baums. Einleitung des Menſchen in einen andern Zuftand. 
Analogie diefer Gefchichte zu uns. Samentörner von mandherlei Gat- 
tungen morgenländifcher Poeſie in derfelben. — Bon den Eherubim. 
Ob fie Donnerpferde bedeuten? Vom Streitwagen Gottes bei Habakuk. 
Bon den Eherubim in Mofes, Salamo's und Ezechiels Tempel. Bon 
Ezechiels Eherub auf dem Götterberge. Xrabitionen vom älteften 
Fabelthier der Urwelt, das Schätte des Paradieſes bewachte. Ob Mofes 
Cherubim Sphynxre geweſen? Wie fie von ber Bundeslade in die Wol⸗ 
fen famen und zulett prophetiſche Biflon wurden? Gompofition der⸗ 


— — — —— 


1) AB: Schilberungen 
3) Im Mic. folgen durchſtrichen bie Worte: „Schändlichkeit ber Veverlandſchen 
Sppothefe.” u 
Herbers ſammtl. Werke. XI. 21 


N; 


— 32 — 


felben. Urfprung ihrer Mythologie. Bom Götterberge Orients. Vom 
Wagen Elias und dem Heerwagen Gottes in der Wüſte. Altefte Bor- 
ftellung des Donners. Beilagen: einige bibliihe Gedidte von den 
Cherubim und dem Donner. | 


Eutyphron. Wir begegnen uns heut in ciner fhönen Mor- 
genftunde. 

Alciphron. Ich glaube, fie ift fo ſchön zu unferm heutigen 
Geſpräch. Sie wollten mid in die Kindheit unfers Geſchlechts, 
alfo aud ins Paradies meiner Kindheit zurüdführen: denn mid) 
dünft, das Ganze durchlebt feine Lebensalter, wie das Einzelne. 
Alſo wird Heute für mid ein Morgen fchöner Erinnerungen 
fegn — 

E. Erinnerungen aus Ihrer Jugend ? 

A. Es war meine frühe Luft, in jenen Auen parabiefifcher 
Schönheit und Unſchuld zu wandeln, die Väter unfers Geſchlechts 
in ihren erften Begebenheiten zu begleiten, zu lieben oder zu 
bevauren. Frühe Eindrüde aus Dichtern trugen ohne Zweifel 


dazu bei; und wir haben über diefe Gegenftände ſchöne Dichter — 


E. Jedes Volk hat fie. Bei allen Nationen, die nicht ganz 
verwildert find, tönt wenigſtens ein ſchwacher Nahhall von der 
Glückſeligkeit erfter goldener Zeiten. Die Dichter, jedesmal die unſchul⸗ 
digſten und zärteften unter ihnen, gleichſam die Kinder der Mufe, 
haben biefe Sugen aufgefaßt: die Jugend liebt fie und bildet fie in 
eigenen Träumen aus: der Frühling erinnert an fie und weckt fie 
gleihjam jährlich wieder. So find Schäfergedidhte, poetiſche Scil- 
derungen der älteften glüdlichen Zeiten, paradiefifhe Scenen ent- 
ftanden und werden immer die Lieblingsgedanfen junger Jahre 
bleiben. Was Hat auh der Menſch mit allen feinen Wünſchen? 
was fann er haben, ald Paradise? Das ift, Schönheit und 
Ruhe, Gefundheit und Liebe, Einfalt und Unschuld. 

A. Schade aber, daß das Meiſte davon nur Traum ift oder 
jo bald Traum wird! Das alte Paradies iſt verlohren; das 
Paradies des Frühlings und der Jugend geht audh fchnell Hin 
und wir werden ausgetrieben aufs Feld des Aders, in den heißen 


152 


— 323 — 


Sommer ängftliher Mühe und Sorgen. Aud wo unter Völkern 
bie und da ein Geſchlecht der Erde Unfhuld, Ruhe und Paradies 
genießt: da fchleihet bald die Schlange Hinein, da verfcherzet es 
jeine Glückſeligkeit durch jelbjt errungnes Leiden. Neben dem 
Baum des Lebens blüht dem Menschen immer gern der Baum 

153 überfluger Weiöheit, von dem er fi den Tod Toftet — das ift 
der Sterbliden Schiefal. 

E. Sie find ein beredter Ereget der Sagen, von denen mir 
zu reden haben: Sie haben den feinen Sinn berjelben bis auf 
den Grund gefühlt. 

A. Und doch Habe ich gegen Manches Zweifel. Hat jemals 
ein Paradies erfiftirt und ift nicht alles poetifhe Sage? Mofes 
giebts offenbar als ein meit entlegnes, ihm unbelanntes Feenland 
an und ſetzts gerade in die fernen Gegenden, dahin die Fabel 
alles Wunderbare feste. An die Goldflüße nehmlih, den Phafis, 
der Colchis umfließt, den Drus, der Cafchmire umgiebt, den Indus 
und Euphrat. In diefem meiten Lande, das er Even, ein Land 
des Vergnügens, nennt, läßt er Gott einen Garten pflanzen — 
Wo lag der Garten in diefem weiten Erdſtrich? Wo find die 
Wunderbäume, die in ihm wuchſen, der Baum des Lebens und 
der Baum der Weisheit? Haben diefe Zaubergewächfe je geblühet? 
und wo ftehn die Cherubin? — Das Elingt alles als Fabel. 

- €. So ſolls auch klingen; und wir mollen eben fehen, mo 
Fabel und Wahrheit d. i. Geſchichte und Einkleivung fich ſcheiden? 
Sie haben richtig bemerft, daß Mofes oder die alte Sage das 
Land des Paradieſes nur meitläuftig angiebt; daß diefe Gegend 
154 eben das Yabelland fei, wohin die Nationen der alten Welt ihre 
ihönften Zauberiveen, das güldne Vlies, die goldnen Xepfel, das 
Gewächs der Unfterblichkeit u. f. fetten. Es war der Garten ihrer 
Ihönen Götter und Genien, der Dfinns, Peris und Neris, nebft 
andern Zaubermefen. — Zeigen aber nicht alle dieje Ipätere Mähr- 
den, daß urfprünglich eine einfachere Sage, irgend eine wahre 
Begebenheit der Urwelt ihr Grund geweien ſeyn muß? Denn dic 
Sagen aller Welt, die ungefähr auf Eine Gegend weilen, müßen 
21* 


— 324 — 


doch durch etwas veranlaßt ſeyn. Irgendwo muß Das menidlik 
Geſchlecht, das ſich (unſrer Geſchichte und ſeiner ganzen Kultur = 
folge,) nur allmälich auf die Erde verbreitet hat — irgendwo mut 
es angefangen haben; und mo könnte es bies, nah Maasgabe X 
Gedichte und des Baues ber Erde fügliher, als in Den Gegen 
den, auf welche eben dieſe Sage meifet? Hier ift die höchſte Hök 
Aliens, der Erbrüden der alten Welt: fie find die fruchtbaritr 
unter unfrer Eonne, wo die freiwillige Natur den Menſchen 
gleihfam in die Hand arbeitet und ihrer Mühe zuvorlommt. Ueber 
dem ift eben das Uinbeftimmte, wie Moſes diefe Urgegend angiekt, 
Zeuge von feiner Wahrheit: er wollte nicht mehr behaupten, al 
die Sage wußte und da er die Gegend weder bereifet hatte, noch 
wenn folhes gejchehen wäre, ein Archiv des Paradiefes im ihr 
angetroffen hätte; fo war das mas er that, alles was er thunl- 
fonnte. — Doch, m. Fr., wir find bier feine Netter der Gefhidk: 
wir lafjen die Tradition als eine Sage der Urwelt fhweben, und 
betrachten blos, was fie ala Wurzel der Poefie hervorgebracht habe? 

A. Freilih einen Baum mit vielen Aften und Blüthen: 
denn bie Tradition bes Parabiejes zieht fi in die fühnften Ahn 
dungen der Propheten und der Baum bes Lebens blüht noch im 
legten Buh der Schrift. Er iſt alfo Anfang und Ende be 
Ebräiſchen Dichtkunft. 

E. Ein fohöner Anfang! ein ſchönes Ende! Wie ift das 
Paradies Adams von den Propheten verevelt worden! Sie hobens 
in die Zeiten des Meßias; die Schriften des N. T. haben es gar 
in den Himmel gehoben. Da blühet der Baum bes Lebens! Da 
Schiffen wir alle hin, und fuchen jenfeit der Flüße und Weltmeert 
das alte Goldland, die ewig glüdlichen Infeln. In der ganzen 
morgenländiſchen Dichtkunſt, auch bei Arabern und Perfern find 
die Ideen des Paradiefes das deal menſchlicher Glückſeligkeit und 
Freude: es ift der Traum ihrer Liebe, ihrer Jugend, ihrer Hoff 
nungen und endlich gar der zufünftigen Welt — 


wo nichts vom Eitlen mehr geböret wird, 
und kein Andenken ift erftidender Angft: 





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— 325 — 


wo alles bleibend iſt und angenehm, 
ein ewig Brautbett, ewge Morgenröthe, 
und Waßer ſüßer Düfte rinnen, 

und Bäume treuen Schatten geben; 
der nimmer weidhet, nie verwellt. — 


A. Ob aber diefe Seen bie Menſchen nicht zu fehr am 
Sinnlichen veft gehalten hätten? — 

E. Und was wollen Sie Unfinnlices von biefer oder der 
zulünftigen Welt dichten? Außer der Schönen Sinnlichkeit unfrer 
Melt kennen wir ja feine andre; und die Urwelt der Zeiten dachte 
finnlid. Wenn Wohlluft - trunfne Leute daran bangen blieben: 
wenn Mahomed endlih das Paradies der Freuden nad feinen 
Neigungen grob » finnlih dachte; fo iſt dies die Schuld des Mis- 
brauchs, nicht der Sade. Und doch ift auch den Mahomedanern 
in diefem Punkt bisweilen Unrecht geſchehen; ihre Dichter und 
Philofophen haben über ihr zufünftiges Paradies jo metaphyficirt, 
als eine der nordifhen Nationen. Weberhaupt, dünkt mid, müße 
man dem Geift der morgenländifchen Völker wenigſtens im Aus- 
drud bier etwas zu gut halten. Sie empfinden und geniefjen 
feiner; warum follten aljo auch ihre Gedichte der Liebe, des Ver⸗ 
gnügens, der Sehnfuht und Hoffnung nicht diefen feinern Genuß 
und Wohlluftgeift athmen ? 

A. Meinetmegen, und ich habe ihn in Gedichten der Unſchuld 


157 und des Frühlings gern; nur fürchte ih, daß paradiefiihe Gemählde 


der Art gar zu leicht in’eine Ruhe wiegen, zu der die Morgen» 
länder überhaupt geneigt find — 

E. Wären fies nun aud! ich wüßte nicht, warum da wir fo 
viel bürgerliche Frohmvögte haben, auch die ländliche Poeſie ein 
Frohnvogt feyn müßte? Mir thut ed wohl, wenn fie in ihren 
verbrannten Gegenden beinah überall mo ſchattige Bäume ftehen, 
wo lebendige Quellen und fühlende Ströme rauhen, Reſte bes 
Paradieſes erbliden und dieſes Land Eden, jene den Gib der 
Ruhe, das Schloß des PVergnügens, u. f. benannten. Wäre es 
beßer, wenn fie wie die Norbifhen Helden ihr Paradies zu einem 


— 326 — 


goldnen Schmauſeſaal voll Meet und Bier umgeſchaffen oder ſich 
den Hobbeſiſchen wilden Krieg als den urſprünglichen Stand der 
Natur gedacht hätten? Mich dünkt, die Poeſie müße den Men— 
ſchen mild, nicht wild machen. Alle Ideen, die dazu beitrugen,“ 
trugen zu ſeiner Beßerung bei; die Bilder des Paradieſes von 
Unſchuld, Liebe und Vergnügen im Schoße der Natur haben dies 
unſtreitig gethan; alſo — 

A. Auch die beiden Zauberbäume? 

E. Der Baum des Lebens gewiß. Er iſt in der Poeſie der 
Morgenländer, auch nur als Idiotismus betrachtet, das angenehmfte 
Bild. Wüften wir, mo er blübete, würden wir nicht alle zu ihm 
wallfahrten? und nun, wenn Furt Gottes, Mäßigkeit, Weisheit 
ala ein Baum bed Lebens vorgejtellt wird, der uns allen blühet; 
follte er weniger Reize haben? Der Baum ber Uniterblichkeit, 
wie er im letzten Buch des neuen Teftaments vorkommt, wie cr 
am Ende der Laufbahn und des Kampfs unſrer Wallfahrt im 
Paradiefe Gottes dajteht, den angelommenen matten Streiter zu 
erquiden, und alle Nationen geſund zu maden mit feinen unver: 
weltlihen Blättern, mit feinen immer jungen und mwieberfehrenden 
Früchten — laßen Sie mid, wenn meine Zunge durch feine Erben- 
frucht mehr erquidt wird, mit der geiftigen dee diefer Hoffnung 
fterben. 

A. Und der Baum der Weisheit? 

E. Wir wollen fpäter von ihm reden. Dunkts Ihnen nicht 
gleichfalls ein ſchöner Zug des Paradiejes, wenn Gott die Thiere 
zu Adam führt, daß er ſähe, wie er fie nennete? Durch dies 
lebendige Anerfennen bildete der Menſch feine Anſchauungskraft, 
feine Bergleihungs ?» und Abziehungsgabe, feine Vernunft und 
Sprade. Die erften Namen feines Wörterbuhs waren lebendige 
Thierlaute, nach feinen Organen und mit feiner Empfindung modi⸗ 
fieiret. Die erfte Intuition von bejondern Gemütbhsarten und 


— — —— — — — — 


1) Mſe.: beitragen, 
2) AB (wie Mfc.): Bergleihung- [vgl. S.331 3.4 v. u.] 


[7 7 
% 


pr) 
7 











Charakteren hatte der Menſch in Thieren: denn auf ihrem Geficht, 
159 in ihrem Gange und ganzer Lebensweiſe tft ihr Individuelles 
eigenthümlich, perſönlich, beitehend und unveränderlich gebilvet. 
Die Gottheit fpielte alſo vor dem Menfchen eine fortwährende 
Aeſopiſche Fabel. Auch Hat Feine poetiihe Sage des Paradieſes 
vergeflen, ihn im Geſpräch mit Thieren zu fchildern. Er ihr König, 
Herr und ältefter Bruder; fie alle unter fih in Friede und alle 
dem Menſchen zugethan und unterthänig — 
A. Eine Yabelzeit in zwiefachem Verſtande. 
E. Wenigſtens eine gülpne Zeit; hören Sie davon ein ein- 
ziges Gemählde Jeſaias: 
Der Wolf wird mit dem Lamme wohnen, 
der Leopard ſich mit dem Widder lagern. 
In zahmer Heerde gehen Kalb und Löwe mit einander: 
ein kleiner Knabe leitet ſie. 


Kuh und die Bärin weiden mit einander, 
und ihre Jungen liegen mit einander, 
auf Stoppeln weidet Löw' und Stier. 
Der Säugling ſpielt am Loch der Natterſchlange, 
ber kaum Entwöhnte ſtreckt die Hand in Baſiliskens Höhle; 
und Nichts beſchädigt, Nichts verleist 
im Lande meiner Heiligkeit. 
Das Land ift voll von Wiſſenſchaft Jehovens, 
wie Wafjer füllen den Ocean - - 
Solcher Bilder find die Propheten voll, in der geiftigiten reichften 
Anwendung — — 

160 U. Und die Liebe des Paradiefes; wie werden Sie die loben! 
Es ift wahr, Milton und andre haben davon ſchöne Beichreibungen 
gegeben — 

E. Nicht Milton allein: Liebe des Baradiefes ift die einfache 
erfte Bejchreibung aller Liebe. Die neue geheime Sehnſucht des 
Mannes, der fich allein findet und fein Verlangen nit ausbrüden 
kann; (es tönt gleihfam nur aus dem Herzen feines Vaters wie⸗ 
der) fein Schlaf, vielleicht auch fein Traum, die Bildung feines 
Weibes aus feiner Bruft, aus feines Herzens Stäte; wie Gott fie 


jauchzet; wie beide nadt find und jchämen fi nit und fühlen 


zu ihm führt und beide fegnet; wie Adam fie umarmt und Iob- 





noch feine Regung — das alles ift fo zart empfunden, fo kurz 
und ſchön dargeftellt, daß, wäre es aub nur Dichtung, es para- 
biefiiche Dichtung zu feyn verdiente Liebe. der Art gehört ins 
Paradies: fie ift das erfte Erwachen unfres Herzens im fhönen 
Morgentraum unſrer Yugend: und id bin gewiß, daß ſich über 
fie nichts dichten und jagen läßt, das nicht feine ftillften Reize 
aus diefem Gefilde Edens, und dieſen Empfindungen voll Einfalt 
und Unfhuld hernähme. Auch find die Dichter Morgenlands 
gewohnt, ihre Liebe und Jugend in biefem Geift zu jchildern; 
das Hohelied ift wie im Paradiefe gefchrieben; Adams Lob- 
geſang: „Du bift mein zweites Ich! du bift die Meine!” tönt 
in ihm in Stimmen und Wechlelgefängen von Einem Ende zum 161 
Andern. 

A. Sie glauben doch nit, dag Adam die Worte,*) die ihm 
beigelegt werden, zumal die Weißagung in ihnen jelbft geipro- 
hen habe? 

E Habe ers ober nit; die Empfindung, die fie belebt, 
war feine Empfindung: ſonſt hätte fie ihm weder die Sage, noch 
der Schriftfteller, der fie auffchrieb, in den Mund gegeben. Möge 
er fie nun geäußert haben, wie er wollte und konnte, duch Töne 
oder Gebehrden, oder mahrjcheinlih durch beides; fie ift die ein- 
fachſte, vollefte Empfindung, die gefellet mit Unſchuld und weißagen⸗ 
der Ahndung das ganze Paradies des Herzens wird. Die Ent- 
widlung andrer Triebe ift diefer Sage nach jchon eine Frucht des 
verbotnen Baums, gleihlam die Schwelle des Ausganges aus 
Een; und Sie wißen, wie bad mas folgt, der Mutter unſres 
Geſchlechts aufgelegt wurde — 

A. Sie analyjiren die Geſchichte des Paradieſes fein; jollte 
e8 aber Zwed diefer alten Sagen jeyn, fie ung jo darzuftellen 
und zu zergliebern ? 


2) 1 Mofe 2, 23. 





& 
— 329 — 


E. Wenigftens ifts einer ber Nebenzwede dieſer Empfindungs- 
veihen Sage: denn die Erzählung ift offenbar darauf gerichtet. 
162 „Erft waren fie nadt und fchämeten fih nicht;“ fie geniefjen vom 
Baum und fehen ihre Nadtheit; der väterliche Richter erfcheint und 
fündigt ihnen ihr nunmehriges Loos an, offenbar das eigent- 
liche Ehe- und Hüttenleben, und die, Gottheit giebt ihnen ſelbſt 
Kleider. Die Zeit des Paradiejes ihrer Empfindungen ift alfo 
vorüber: das Blatt wendet fih und fie Zoften die Mühe des 
Lebens — 
A. Das nähert fih ja gar — 
. Daß Sie nur: feiner ſchlechten Hypotheſe erwähnen 1*8) 
Auch der Sprache und Allegorie der Morgenländer iſt nichts frem⸗ 
der, als ſie und manche neuere, die ſich ihr, nur um ein gut 
Theil ſchlechter und gezwungener nähern. Die Morgenländer wißen 
nichts von Einkleidungen der Art, daß der Baum der Weisheit 
das wäre, was dieſe Hypotheſe will: eine Fiction der Art iſt eines 
unzüchtigen Mährchens unſrer Zeit, nicht aber einer ſo alten, 
kindlichen, reinen, Erzählung würdig. Wenn Adam ſein Weib 
erkennet, wird es gerade geſagt; Gegentheils die Empfindungen, 
die aus dem Genuß des Baums entſpringen, werden auch treu 
und einfältig angegeben. Es waren neue, aber ſie verwirrende, 
unangenehme Empfindungen: ſie flohen und verſteckten ſich hinter 
die Bäume. Des Vaters Stimme unterbrach den Taumel ihrer 
bangen Erwartung; und was nun folgt, wißen Sie. Das alles 
163 war keine Schäferſtunde; oder man könnte überall das Schwärzeſte 
im Weißeſten finden. 

A. Ich wünſchte, daß Sie ſich alſo deutlicher über den Baum 
und das Werkzeug der Verführung erklärten; fie enthüllen mir 
damit vielleicht die ältefte Fabel und Hieroglyphe der Welt und 
das liegt doch eigentlich in unjerm Wege. 

E. Ob diefe Erzählung Fabel und Hieroglyphe fei? wird fich 
finden; jet laſſen Sie uns dieſelbe blos ala das, was fie ift, als 


*) Bermuthlich ift die Beverlandiſche hier gemeint. 





— 330 — 


alte kindliche Sage betrachten. Was, halten Sie, war der Baum 
der Weisheit? was bedeutet das Wort? 

A. Erlkenntniß des Guten und Böfen heißt bei den Morgen- 
ländern, fo viel ich weiß, Klugheit. Es wird gewöhnlich von Den 
Sahren gebraudt, da ein Menſch zu PVerftande kommt; oder es 
bedeutet das moraliſche Urtheil eines Menſchen, feine Fähigkeit 
dazu, kurz, feinen praktiſchen Berftand. 

E. Alfo wenn ein Menſch zu Jahren des Verftandes kommt, 
jo weiß er Gutes und Böfes zu unterfcheiden, das er bisher zu 
unterfcheiden gelehrt wurde. Wenn er feiner Pflicht freu bleibt 
und der Verfuhung zum Gegentheil widerftehet, unterjcheidet er 
Gutes und Böfes. Endlich wenn er durch einen Yehltritt gewitzigt 
wird, daß ihm nun die Strafe feines Nicht - Unterfcheidens nad): 
eilet, jo lernt er Böfes und Gutes kennen; aber nicht eben auf die 
angenehmfte Weife. Da fehen Sie die ganze Geſchichte biefes 
Baums und feiner Bedeutung. Gott verbot dem Menfchen den 
jelben; er befam alſo eine Pflicht auf fi; dies war die erfte 
leichte Webung im Unterfchicde des Guten und Böfen. Alle Bäume 
waren gut, denn fie waren ihm erlaubt; dieſer mar böfe, denn cr 
war ihm verboten. Die Schlange legte das anders aus und fagte: 
„euch ijt der Baum, weil er Erfänntniß des Guten und Böfen, 
„d. i. böhere Weisheit giebt, verboten. Eßet, ihr werdet aus 
„Kindern Männer, aus Menſchen Elohim werden;“ das mar die 
zweite Bedeutung. — Endlich fie aßen von demfelben und wurden 
wirklich gewigigt: fie jahen ein, daß fie unrecht gethan Hatten, ja 
es entwidelten fich bei ihnen Empfindungen und Blide, die jie wohl 
hätten entbehren mögen. Die machte ihnen der Schöpfer zu einer 
Pforte neuer Erfahrungen und Pflichten: er wies fie in einen 
andern Stand und half ihnen felbft mit der erften nothdürftigen 
Erfindung; das war bie dritte Bebeutung. Gott fonnte nun, im 
Spott oder Ernit jagen: „der Menih ift wie einer der Elohim 
„worden; er bat Gutes und Böfes kennen und unterjcheiden 
„gelernt.“ So drehet fi die ganze Erzählung; Eine und diefelbe 
Idee ſteht von einer andern Seite da und ift noch immer dieſelbe. 





— 3 — 


165 Halten Sie eine Entwicklung der Art nit ſchön? fie iſt fo rund 
und einfad. 

A. In einer Fabel wohl; id weiß aber nicht, ob fie es in 
einer Geſchichte wäre, von der fo viel abhing. Millionen Men- 
ſchen follen fi den Tod an biefem Apfel gegeßen haben und fein 
Genuß hing von einem Mifverftande ab? 

€. Die Dogmatiihen Folgen bleiben ganz an ihrem Ort; 
wir betrachten hier eine Sage aus den Zeiten ber Kindheit unſres 
Geſchlechts, die aud im Geift diefer Zeiten betrachtet werben follte. 
Wollen wir fie nit näher aus einander fegen? fie enthält Grund- 
ideen aller moralifchen Dichtkunſt im Morgenlande. 

A. Wenn fo viel darauf beruhet, gern. 

€. Zuerft alfo. Der Menſch Hatte eine Pflicht auf ſich; das 
Thier, das vom Baum wahrſcheinlich aß und den Menſchen mit 
feinem Beifpiel (ber mädtigften Sprache) veizte, hatte feine. Jenem 
zu eßen, wars feine; biefem wars Sünde. Bemerten Sie den 
Unterfchied ? 

A. Mir fällts eben bei, daß die Morgenländer die Geſchöpfe 
in freie und verpflichtete eintheilen. Das erfte find die Thiere, fie 
haben fein Gebot auf fih: der Menſch allein ift durch Gebot und 
Pflicht verbunden — i 

166 €. Diefe Unterſcheidung fegt unfre ganze Sache ins Licht. 
Die Schlange handelte in ihrer Natur, da fie vom Baum af; 
der Menſch handelte feiner Pflicht entgegen, da er bavon chen 
wollte und einem Thier auf unvernünftige Weife folgte. Erinnern 
Sie ih noch, was wir eben vom Umgange Adams mit den Thie- 
ven ſprachen? — 

A. Er lernte von und an ihnen; biesmal alſo lernte 
er übel. _ 

€. Und mas brauchte Gott für ein Thier, das die zufällige 
Urſache der erften Verirrung feiner Vernunft, feiner Anihauungs- 
und Nahahmungsgabe werden mufte? Konnte er ein gelegeners 
brauden? Der Charakter der Schlange ift Klugheit und Arglift: 
fo Handelt jo Sprit fie hier; in dem Charakter wird fie aud) 








— 332 — 


nachher dargeltellt: fie wird das Sinnbild und befommt ben Lohn 
eines Verführere — 

A. Die Wendung der Gefchichte geht mir neu auf; o da} 
es eine Fabel wäre! es wäre eine ſchöne Fabel. 

E. In Abſicht der Einkleidung betrachten Sie fie immer al; 
ſolche; es war eine Fabel, die thätig geſpielt ward. Ohne Zward 
werden Ihnen in der Aeſopiſchen oder Lockmanniſchen Fabel ein: 
Reihe Züge, ähnlih mit unfrer Geſchichte vom Schlangen - Che 
ralter und Schlangenfluch befannt ſeyn — 


A. Im Morgenlande find Yabeln und Sagen davon vol.‘ 


Man jchreibt der Schlange vielerlei Kunft und Weisheit zu, dab 
fie ſich z. E. (wornach der Menfch fo fehr ftrebt) zu verjünge, 
ih im Alter das Gefiht wieder zu geben wiße: daß fie fi in 
Gefahren fehr ſchlau, zumal mit dem Kopf, in dem ihre Stärk 
und Leben liegt, verberge. Man fagt: fie befite Geheimniße der 
Natur, und werde von einem Geift befeelet. Ich habe eine Reihe 
Mähren gelefen, wie Schlangen Kranke gejund machen, des Zau- 
berers Stimme vernehmen, ihr Ohr gegen widrige Zaubermort: 
verjtopfen, wie fie auf Muſik horchen, der Stimme ihrer Priejter 
folgen — eine Menge Sagen, wo man oft nicht weiß, mas man 
denken ſoll, wenn man fie liefet. 

E. Viele mögen Naturgefhichte des Thiers feyn, das wir zu 
wenig kennen; andre find Bruchftüde ber älteften Tradition, an 
die immer mehr und mehr Wunderbares und Unglaubliches gerciht 
worden. Dies ift endlih Meinung des Volks geworden, deren 
fh die Lift und der Betrug der Dichter, Zauberer und Prieſter 
treflih bedient hat. Gnug für uns: in ganz Orient ift bie 
Schlange als ein weiſes, liſtiges Thier befannt; und daß fie ein 
niebriges, ſchädliches Thier fei, brauchen mir nicht erft zu ermeilen. 
Bemerken Sie nun, wie genau alle diefe Züge in unfrer Erzählung 
gebraucht find. Zuerſt erfcheint fie ala ein weiſer, glänzenber; 





nachher als ein fchleichender, den Ferſen nachftellender, niedriger m 


Betrüger. Erft it fie Bötterjpeife, kennt die geheimen Kräfte ber 
Natur und hat mit den Elohim Gemeinschaft; nachher Triecht fie 











— 3 — 


auf dem Bauch und iſt verdammt, Staub zu freßen. Sie iſt ſo 
wenig eine Unſterbliche, daß ihr der Menſch vielmehr den Kopf 
zerknicken kann und fie mag ihn nur mit dem Ferſenſtich lohnen. 
Erſt eine Freundin der Eva, die ſie zur Göttin machen will; 
nachher eine Feindin ihrer und ihrer Kinder, ſo daß die Schlangen⸗ 
mutter gleichſam als Gegnerin ihres ganzen Geſchlechts betrachtet 
wird; können Sie fi lehrendere Kontrafte in Einem Thier den⸗ 
tem? Ein niedriger Wurm; und follte die Gotteögeftalt des Men- 
ſchen Weisheit lehren? Die Thorheit der Menſchen bei folder 
Nachahmung kam in ihr größeftes Licht. 

A. Und gerade fieht der Menſch feinen Verführer nad der 
That an, wie der Fluch Bier die Schlange entwidelt. Die Erzäh- 
lung ift ſchön gewandt und wenn die Geſchichte ſich zutrug, konnte 
den Menfchen fein lehrenberer Apologus gehalten werben. Hier 
lehrt Baum, Schlange, Handlung und die Worte entwideln nur, 
was leider! die Erfahrung lehrte. Ich ſehe, auf welder Irre die 
find, die ſich den Kopf zerbrechen, ob bie Schlange aud voraus 
Füße gehabt? | Menfchenverftand gehabt, den Fluch zu empfin- 
den? u. f. f. 

€. Die Rabbinen haben noch ärgere Einfälle; aber lagen Sie 
alle diefe Leute, denn wir haben noch eine Reihe Züge unfres lehr⸗ 
reichen Gemäldes zu entwideln. Die Schlange mollte dem Men- 
fen am Baume offne Augen, Weisheit der Elohim geben; woher 
diefeö? warum betrog fie den Menſchen gerade mit biefer Hoff- 
nung? — Erinnern Sie fih, was wir von den Elohim ſprachen? 

A. Ihre Meinung wird mir fait augenſcheinlich. Es mußten 
Elohim ſeyn, die, weiſer ala Menſchen, mit offnen Augen bie 
Geheimniße der Natur fahen und gleihjam Hinter den Vorhang 
verborgner Kräfte laufchten — 

€. Ein verbreiteter Glaube der Morgenländer, die nach dieſer 
verborgenen Naturwißenfchaft, wie wir etwa nad; dem Stein ber 
Weiſen ftreben. Es ift unglaublid, was für Sagen und Fabeln 
über bieje geheime Weisheit fih aus ben älteften Seiten hinunter 
geerbt haben. Hier blüht fie auf einem Baume; bald. ift fie in 


— 


— 334 — 


einer Figur, einem Siegel, einem Talismann verborgen; bald 
ſprechen von ihr die Vögel des Himmels, am meiſten aber finds 
Geifter, Genien, die von dem Duft der Blumen leben, mit dieſer 
Götterfpeife, auch Götterweisheit genießen und hie und da, zumal 
gezwungen, einzelnen Menſchen fie mittheilen. Die Moral ber 
Morgenländer bat in Lehrſprüchen und Dichtungen durch diele ı: 
Sagen einen ganz cignen Weg genonmen — 

AH. Auch die Lehrſprüche? 

E. Daß immer vor verbotnen Künften gewarnt, daß dieſe 
falfche verderbende Weisheit von der wahren, einzigen, einfältigen 
Weisheit forgfältig unterfchieden wird. ch könnte Ihnen eine 
Reihe Sentenzen hierüber anführen, in denen Furcht Gottes und 
Furcht der Dämonen, Gehorſam gegen Gott und Flut vor den 
Bezauberungen der falfehen Wißenfchaft einander entgegen ftehen. 
jene ift der Baum des Lebens; diefe der verbotene Baum ver | 
falſchen verderblichen Götterweisheit. Doch zu unferer Gefchichte! | 
Nicht wahr? Sie hielten fie gern für eine Yabel? 

A. Ich läugne es nicht. 

E. So möchte ich ſehen, wie Sie in ihr Folgen und Urſach 
auch nur mit einiger Conſequenz binden werden? Denn das iſt 
doch das Weſen der Fabel, daß ihre Theile zuſammen ſtimmen 
und was in Handlung vorgeſtellt werden ſoll, anſchauend vorge | 
ſtellt werde. Nehmen Sie den Baum in irgend Einer der Bebau- 
tungen, die er der Sprade gemäß haben muß: immer bleiben | 
überflüßige und inconjequente Züge. Iſt er ein Baum entiweber 
des Gehorfams oder des Todes, mie Gott jagt; der Tod erfolgt 
nicht; vielmehr erfolgen andre Effefte, die in jenem Verbot nicht 
liegen. Setzen Sie die Weisheit bei ihm in dem Begrif, den bie 171 
Schlange vorgiebt; fo Hat Gott unmahr geredet: denn einiger- 
maaſſen fcheint das Verſprechen der Schlange doch wirklich einzu- 
treffen. Site befommen eröfnete Augen, fie werden, wie Gott jelbft 
jagt, den Elohim gleih; warum hatte er ihnen alfo den Baum 
verboten? Und wie fommen nun zu diefer neuerlangten Clohims - 
Weisheit Dorn und Diiteln, Aderbau und Geburtsfchmerzen? ja 


17 


100) 


— 335 — 


warum müßen die neuen Elohim das Paradies räumen? Sie 
hätten bei ihren Brüdern, den Elohim, bleiben ſollen; es ſei 
denn, daß ſich Gott im Ernſt fürchtet, ſie möchten ihm, wie vom 
Baum der Weisheit, auch vom Baum des Lebens koſten und 
unſterbliche Elohim werden, wie ſie wider ſeinen Willen weiſe 
Elohim wurden. Retten Sie ihre Fabel. 

A. Das bleibt Ihnen. 

E. Ich kanns nicht, ſo lange ſie Fabel ſeyn ſoll. Setzen 
Sie ſie aber als Sage, als Erzählung einer mit den Kindern und 
Vätern des menſchlichen Geſchlechts wirklich vorgegangenen belehren⸗ 
den Geſchichte; fo ſoll alles natürlich folgen. Fangen Sie die Ent- 
widlung an, wo wir jie ließen: „fie waren nadt und fchämeten 
„ch nicht;“ konnten die Menjchen wohl in diefem Zuftande bleiben? 

A. Die Schwärmer fagend. Sie fagen: „Eva hätte nicht 
„empfangen und gebohren, wie jebt die Weiber gebähren, das fei 
„per Sünden Sold, ein Aequivalent für die Todesitrafe.“ 

E. So war au Eva nicht gebauet wie unfre Weiber: denn 
ihrem Bau nad follen diefe Mütter werben und der erfte Segen 
erflärt ausbrüdlich ven Menſchen dazu geſchaffen, daß er die Erde 
bevölfre. Die Erde ift dazu geichaffen, daß fie bewohnt werde und 
in jedem rauhen Clima fonnte doch dies Paradies am Quell diefer 
vier Flüße nicht ftatt finden? — Auch Schmweis des Angeſichts 
gehörte zum Bau der Erde, wie Schmerzen zur Geburt; fur, fo 
lange uns die Schwärmer nicht eine andre Erde, eine andre Menſch⸗ 
heit zeigen, als die wir fennen, und auf bie fi der Segen bei 
Schöpfung unſres Geſchlechts offenbar bezieht: jo wollen mir fie 
vom gläfernen Leibe Adams und vom Baradiefe unter den Norb- 
pol träumen laßen; wir haben zu lange von ihnen geredet — 

A. Ste meinen alfo, Gott habe den Menſchen wirklich zu 


dem Zuftende gefchaffen, in dem er ſich jetzt befindet? 


E. Und mer follte ihn fonft dazu geichaffen haben? Der 
Teufel doch nit; und Gott, der ihn aus Staube bildete, ſah 
nothwendig auch diefe Entwidlung vorher. Er mog den Staub 
in der Hand und mußte, was aus ihm werden würde: er maas 





— 336 — 


die Kräfte feiner Seele und kannte jeden Irrthum, deßen er fähig 
wäre. Wahrlich, wenn wir das leugnen wollen, maden wir 1:5 
und unfrer Vernunft, unſrer Menfchheit und unfrer Erde ım- 
wert. Keine Philoſophie ift mir verhaßter, als diefe, die alle. 
Kunft aufbietet, dem Menſchen die Augen auszuftehen, damit 
er fich felbft nicht ſehen möge. Die Poefie der Ebräer, ja bie 
Philoſophie beider Teftamente weiß von diefem erhabnen Unftnn 
nichts. In keinem Palm, in keinem Propheten ift dieſe Gefchichte 
fo angeführt und daraus ermwielen, mas dieſe Afterphilojophie will, 
daß daraus erwiejen werden fol. Adam, fagt die Schrift, fün- 
digte zuerft, und wir alle jündigen, wie er; müßen alſo aud, wie 
er, fterben. Wie die Eva berüdt warb, werden wir auch berüdt 
und entfremdet von der Einfalt — das fagt die Schrift: nicht aber, 
„wir ſehen vom Nabel an bis unten zu anders aus, ala Adam.“ 
Nicht, daß, fobald er fündigte, er feine Menſchheit verlohren, 
zehntaufend actus und raptus im Verſtand und Willen, Sinnen 
und allen Glievern für fih und feine Nachkommen erlitten habe. 
Was er erlitt, wird Bier beutlich bejchrieben — 

A. Was erlitt er? und mie folgt es aus dem Verbot und 
dem Baume? 

E. Setzen Sie, daß es ein jchänliher aber fein töbtlicher 
Baum war, für dem ihn Gott gewarnt hatte. Tod nannte Gott 
feine Wirkung, Theils im Gegenfat vom Baum des Lebens, Theile 
weil dies die fchärfite Bebrohung war, die den Menfhen vom 174 
Baum abichreden konnte. Indeßen fah Er, der die Grenzen aller 
Dinge kennet, auch dieſe Verirrung voraus; und da es thöricht 
geweſen wäre, ein Menjchengefhleht zu ſchaffen, damit es im erften 
Moment des Daſeyns unterginge: fo ftellte er auf den Weg feiner 
Verirrungen ein Gewächs bin, das im Plan der Menjchheit auch 
jest feinen Zweden entſprach und einen folgenden Zuftand auf eine 
Art einleiten mußte — 

A. Ich veritehe Sie nidt. 

E. Die Frucht erregte Lüfte, empörte ihr Geblüt, feßte fie 
in Furcht, Unruhe, Schreden und Erftaunen. Diefen Zuſtand 


175 


176 


— 3371 — 


ihrer Empfindungen nutzte der Vater und zeigte feinen Kindern bie 
Folgen ihres erjten Vergehens an ihnen jelbjt und ihrem Ver⸗ 
führer. Diefen machte er ihnen abſcheulich: ihmen ſelbſt prophezeite 
er eben aus ihren neuen Empfindungen nun andre Lebensfcenen. 
Die Jungfrau des Paradiefes müßte fünftig Mutter werden: fie, 
die bisher Braut Adams, Männin, geweien mar, müfte Eva, dag 
Weib der Hütte, die Dienerin der Lebendigen ſeyn, die durch fie 
das Licht der Welt erbliden follten. Dem ruhigen Bewohner des 
Varadiefes, der in diefem Garten früheiter Bildung nur. die erjte 
Zeit feiner Jugend durchleben follte, jtehen igt mühſamere Arbeiten 
vor, die indeß auch zu feiner Beitimmung gehörten: endlich ward 
ihm felbft das Harte Wort, Tod, angefündigt und er auch zu 
diefem Schidfal auf die lindeſte Weife bereitet. Kurz: fein erftes 
Berjehen warb väterliche Fortleitung feines Zuftandes, die Strafe 
Gottes ward (wie kann der Allgütige auch anders ftrafen?) ein 
neuer, nur bärter zu fühlender Segen. Dem Menjchen jollte die 
Thür zu feiner Hütte geöfnet werden; und fein eignes Berjehen 
mußte fie ihm öfnen — 

A. Welh einen andern Anblid bekommt fo die Gejchichte! 
Nun entwidelt ſich freilich alles; nun ift fein Zug vergebens: auch 
im Ton der Strafe ift alles väterlih und fchonend: denn es iſt 
fortgefegte Naturgefchichte der Menſchheit. Der Bater läßt fein 
Kind auf der weichſten Stelle fallen: es bricht ſich felbft den Apfel 
feiner künftigen Schmerzen und Beſchwerden: fi hats zuzufchreiben, 
daß e3 nicht mehr im Barabiefe ift, in dem es ewig — nicht feyn 
fonnte und ſeyn follte. Dem väterlichen Haufe hatte fi der Menſch 
durch fein eigenmächtiges Betragen felbjt entwunden; nun mochte 
er jein eigner Herr und Verſorger werben. 

E. Sehen Sie nihts mehr in diefer Geſchichte? keine Ana— 
logie mit unjerm Buftande ? 

A. Fortgehend: auch wir durchleben die Zuftände: auch wir 
jündigen wie Adam, auch wir werden mie er geftraft, d. i. zum 
Härtern, aber auch Nothmendigen geführt. 

E. Und feinen Aufſchluß: was eigentlih das aöle jei? 


Herders ſämmtl. Werle. XT. 


— 38 — 


A. Verrückung von der Einfalt, durch fremde, unſtatthafte, 
täuſchende Beweggründe. Ein Gebot iſt immer da, in uns oder 
außer uns; in unſerm Bewußtſein oder in poſitiven Pflichten. Eine 
Schlange iſt immer da, die uns verführet: Lüfternheit unſrer Sinne, 
falſche Vorſpiegelungen unſrer Vernunft, oder beide. Die Folgen 
des Vergehens ſind immer dieſelbe; ja ich traue es dem väter⸗ 
lichen Gott zu, daß auch die Strafen, die er jedem ſeiner irrenden 
Geſchöpfe zuerkennet, väterliche Wohlthaten, Fügungen zum Beſten 
ſeyn werden, nur freilich auf härterem Wege. 

E. Hier, m. Fr., ſehen Sie alſo den Kreislauf der Menſch⸗ 
beit von allen Seiten, gerade wie ihn auch nachher die morgen: 
ländifhe Poefie bearbeitet bat. Zuerſt Natur, Paradies, Liebe, 
Unſchuld, ein Königreih der Thiere, kurz alles womit fich die 
Phantafte der Jugend jo gern beichäftigt: in der Mitte fteht der 
Baum de Gehorfams, auf den die moralifche Poefie der Morgen: 
länder alles zurüdführet; vom Genuß des Baums füngt das ar, 
worüber jo manche rührende Elegie in Hiob und den Pſalmen 
weinet, Mühe, Knechtsdienſt, Krankheit, Tod. Ich möchte bie 
furzen Kapitel eine Encyklopädie der Menjchheit nennen und 
wünſchte mir jede Situation derfelben in Poefie oder Profe jo 17 
leicht und natürlich dDarftellen zu können, mie fie in diefer fimpeln 
Erzählung entwidelt ift; die Fabel vom Prometheus und der Pan- 
dora find arm dagegen. — Aber noch Eins ift in diefer Gefchichte, 
Etwas fehr Poetiſches — 

A. Die Cherubim mit dem flammenden Schwert ? Nun, das 
find Donnerpferde! 

E. Donnerpferde? in fo frühen Zeiten? wie unwahrſcheinlich 
hätte die Tradition gedichtet! Sie, die Doch alles Andre jo ganz 
den Zeiten angemeßen vorftellt. Kannte Adam Donnerpferde? und 
was stellte er fih in ihnen vor? wie fam er zum Bilde? — Und 
was follen fie hier? Donnerpferde mit den Flammen des Schwerts, 
zu bewahren den Weg zum Lebensbaume ? 

A. Sie maden mich wirklich verlegen; aber Cherubim find 
ja in der ganzen Ebräiſchen Poeſie Donnerpferde — 


— 339 — 


E. Ich wüſte keine einzige Stelle, die auch nur den Schein 
dazu gebe. Bei einem ſpätern Propheten*) werden Gott Roße zu⸗ 
geſchrieben; aber das ſind nicht Cherubim. Da erſcheinet er auf 
einem Streitwagen, vor den freilich Roße gehören; in dieſem Bilde 
donnert er nicht einmal. Er ſteht auf ſeinem Wagen und mißt 

178 das Land den Iſraeliten zu: vor ihm geht die Peſt, Raubvögel 
fliegen ihm zu Füßen. Er ſchaut und zertrennet die Völker: 
Paniſcher Schrecken fällt auf die Midianitiſchen Gezelte. Nun zieht 
er den Bogen und ſchießt: er ſchlägt und zerſchmettert; kurz er 
braucht alles Streitgewehr der alten Schlacht — majeſtätiſch zieht 
er wieder zurück und ſeine Roße vor dem ſiegeriſchen Streitwagen 
gehen, wie ſie kamen, durchs Meer, durch den Schlamm großer 
Waßer. Iſt bier von Donnerpferden oder von Cherubim nur die Rede? 

A. Aber die Griehen gaben ja ihrem Jupiter Donnerpferbe: 
Virgil hat davon fo fchöne Bilder — 

E. Iſt Jupiter Jehovah? find die Griechen Ebräer? ift 
Virgil ein Ebräifcher Dichter? Die Peruaner jtellen fih den Don- 
ner ala das Zerjchmettern eines Gefäßes vor, das die ſchöne Regen⸗ 
göttin in der Hand hat: ihr Bruder kommt und zerfchlägts, nun 
donnert3, nun fließt der Negen. Das ift Mythologie der Peruaner; 
mie aber, wenn jemand darnach Ebrätiche Poefie auslegen mollte ? 
Wißen wir denn von den Cherubim aus Ebräifchen Dichtern felbit 
nicht3? werden fie und nicht gar ald Kunstwerke deutlich befchrieben ? 
\ A. Laben Sie uns die Stellen durchgehn. Zuerft mie fie 
über der Bundeslade ftehen.**) 

179 E. Da haben fie Flügel und Angeficht, fehen auf den Dedel 
der Bundeslade nieder, und überfchatten den Gnabenftubl; das ift 
weder die Geftalt noch Stellung der Donnerpferde. Und mahr- 
ſcheinlich wie fie bier ftanden, wurden fie aud auf Die Teppiche 
gemwirket; in Salomo's Tempel ftanden fie eben fo, nur prächtiger, 
größer: die Beſchreibung wird ganz wieberholc.***) 





*) Habaknuk 4, 8. **) 2 Mof. 25, 17. 18. Kap. 36, 8. 35. 
“*r) 1 Kön. 6, 23. 2 Chron. 3, 7. 
22* 


— U — 


A. Mit ihr ift aber noch nicht viel befchrieben: denn mie 
manche Geftalten können nit Antlig und Flügel haben ? 

E. Alſo zum. Tempel Ezechiels!*) In feiner Beichreibung 
haben die Cherubim ein Menfchen- und Lömenhaupt; an die Ge— 
ftalt des Pferdes wird nicht gedacht. Eben dieſem Propheten er- 
jcheinen die Cherubim in den Wollen:**) Ein Cherub ftredt feine 
Hand hervor: es ift eine Menfchenhand, Die euer ergreift. Das 
Geſicht erfcheint zweimal und durch Zufammenhaltung wirds offen- 
bar: jedes Thier hat vier Angefichte, des Stiers, des Menfchen, 
bes Löwen, des Adlers, nachdem fie von foldher oder foldder Seite 
gejehen werden. Diefe vier Angefichte fieht auch Johannes, nur 
nit alle an Einem Thier. Alſo — 

A. Was wird aljo aus der Geftalt ? 1% 

E. Zweierlei folgt daraus unwiderſprechlich. Daß Cherubim 
eine Compofition mehrerer ‘Thiergeftalten; zweitens, daß unter dieſen 
Figuren feine Pferbögeftalt gemejen. 

A. Giebts feine Stelle mehr? 

E. Eine, die für unfern Drt entſcheidet. Der ſtolze König 
von Tyrus wird von Ezechiel***) ein Cherub genannt, der eben in 
Eden, im Garten der Elohim, auf dem heiligen Berge wohnt und 
daſelbſt zwiſchen feurigen Steinen wandelt. Es wird dies Bild 
ala das höchſte feiner Macht, und feines ftolzen Anjehns gebraucht: 
alle Pracht der Ebelfteine ift fein Schmud: feine Schöpfung ein 
Tag der Freuden. Er erjcheint als ein jtolzes volllommenes Ge— 
ſchöpf in feinen Werfen. — Nun wißen wir, mas in der älteften 
Welt, infonderheit bei den Morgenländern diefer Gegenden für 
Thiergejtalten die Sinnbilder der Pradt, des Stolzes waren? 
Genau die vier, die die Compofition der Cherubim zufammen 
faßte: Löwe, Stier, Menſch, Adler. Ihnen wird das Sprüd- 
wort der Ebräer befannt feyn: „Vier find die Stolgen ber 
„Welt: der Löwe unter den wilden, der Stier unter ben 


*) Ezech. 41, 18. **) Ezech. 10, 14. Kap. 1, 10 f. 
“er, Ezech. 8, 14. ſ. Beilage 2.: 


— 4 — 


„zahmen Thieren, der Adler unter dem Geflügel, der Menſch 
„über alle.” 

181 A. Mid dünkt aber für die früheften Zeiten entſchiede Dies 
Sprüchwort nit gewiß: denn die Stüde der Compofition in ben 
Cherubim jcheinen doch zu wechſeln — 

E. Wie alles Kunſtgebilde, zumal als Zierrath mit ben 

Zeiten etwa wechſelt; der Geift der Compofition ift indeß unver- 
fennbar. Ezechiel fegt feinen König zu Tyrus dahin, wo Die 
älteften Cherubim ftanden, auf den Berg Gottes im Parabieje 
und macht ihn zu einer glänzenden, weiſen, furdtbaren Pracht⸗ 
geſtalt. Er nahm diefen Eindruck wahrſcheinlich von feiner Er- 
icheinung und den Cherubim ber, die eben ala furdhtbare Schreck⸗ 
geftalten daftehn, den Weg zu bewahren zum Baum bes Lebens. 
Mich dünkt, diefe Beichreibung Ezechiels, fanıt den andern Tra- 
ditionen der Morgenländer, geben uns einen fo genauen Begrif 
von diefen Wundergeftalten, daß wir die Donnerpferde ganz aus 
dem Geficht verlieren dörfen. 

A. Andre Traditionen ? 

E. Kennen Sie kein fabelhaftes Thier, das auf den Bergen 
der älteften Welt, eben in ber Gegend, mohin unjre Sage das 
Paradies feet, wohnt und Schäße der Vorzeit bewachet? 

U. Jene Drachen, jener Greif, der Gold oder güldene Aepfel 
bemahret ? ' 

182 E. Das mar die Tradition fpäterer oder nordiſcher Völker. 
Die Morgenländer haben ein geflügeltes Thier, das auf dem Berge 
Kaf wohnt, und mit den Niefen der Urwelt viel Krieg gehabt bat. 
Es bat, fagen fie, Vernunft und Religion, ſpricht alle ‚Sprachen 
der Welt, bat die Weisheit der Sphinre, die Lift der Greife und 
bewahrt den Weg zu den Schägen des Paradieſes. Eine Wunber- 
geftalt der Werke Gottes, weder mit Lift zu bintergehen, noch mit 
Gewalt zu überwinden. — Der Sphinx der Aegypter, die Drachen 
ber Griehen, der Greif der Norbländer find alle Ein und dieſelbe 
Compofition, nur nach Ländern und Zeiten anders modificiret. 
Sehen Sie da die Ipätern Fabeln und Mährchen von jenen Wäd- 


— 342 — 


tern des Baums der Unfterblichleit an der Pforte des Paradieſes, 
ben glänzenden Schredgeftalten auf dem heiligen Berge mit der 
Flamme des Hin und Her fi) wendenden Schwert, genau mic 
Ezechiel feinen Cherub befchreibet. — Die bat nun jede Nation in 
Poefie und Trabition von Zeit zu Zeit vermehrt und verfabelt‘*) 
Für uns iſts gnug, daß wir die Geſchichte der Cherubim im Ber: 
folg der Ebräifchen Poeſie betrachten. — Anfangs erjcheinen fie 


bier als Hüter mit dem feurigen Schwert, (nicht als Verwüſter IN 


bes Paradieſes, wie man wider den Haren Buchftab bat erdichten 
müßen.) Im Moſes Stiftshütte fommen fie wieder, der, vielleicht 
weil er die Aehnlichkeit zwmifchen ihnen und den Sphinxen ſah, fie 
nad Aegyptiiher Art auf die Bundeslade fegte. Von der Bun- 
deglade famen fie in die Wollen, denn da ſich dort auf ihnen bie 
Herrlichleit Gottes niederließ: jo mußten fie auch bier die Herrlid- 
feit Gottes tragen. Jetzt wurden fie alfo eigentlih ein Ebräiſches 
Dichterbild und zulegt gar ein Geficht der Propheten. Der Ueber- 
gang, daß Cherub, ein Kunitwerf auf der Bundeslade jet Cherub 
in den Wolfen, ein tragendes Geſchöpf des Throns Jehovah 
wurde, lag offenbar in dem Ausbrud: „Gott, der über ben 
Cherub thronet,” ein Ehrenname der Herrlichkeit Gottes, der in den 
Büchern Samuels**) Thon vorkommt. Sobald die Anwendung 
davon auf den Gott in den Wolfen gemacht war, hatte die Gin- 
bildungsfraft der Dichter einen freien Raum, fie bei Gemälden 
des Himmels zu brauchen, und David jcheint der erfte geweſen zu 
ſeyn, der dies Bild componirt hat.***) Indeßen ift auch bei feinem 
Cherub jo wenig an ein Donnerpferd zu denken, daß er vielmehr 


dieſen Begrif hätte entfernen müßen, wenn einiger Grund dazu in 13 


irgend einer andern Stelle gemejen wäre. Sein Cherub ift ein 
geflügeltes Geſchöpf, auf dem Gott fliegt; er ftehet im Parallelis⸗ 
mus den Fittigen des Windes gegenüber, und Donner und Blis 


*) ©. bie Fabeln von Simorg-Anla, Soham u. a. Fabelthieren in 
Bochart, Herbelot und Hundert Morgenländifchen Gedichten. 
*e) 1 Sam. 4,4. 2 Sam. 6, 2. *ee) Bf. 18, 11. f. Beilage 3. 











— 33 — 


werden in eignen Bildern beſchrieben. Noch zu Jeſaias Zeiten *) 
war der Gott, der über den Cherubim figet, nichts als jener alte 
Moſaiſche Ausdruck, der in den Büchern Samuel3 und den Palmen 
vorkommt; als Gott ihm erichien,**) waren feine Cherubim im 
Bilde der Erfheinung. Erft in fpätern Zeiten, außerhalb Judäa, 
unter den Gefangnen am Waßer Chebar ward das alte bichterilche 
Bild prophetifche Vifion;***) und die Cherubim erfchienen hier in 
vollem Glanze. Es mar aber fein Donnerwagen, den fie trugen, 
vielmeniger zogen; fie trugen den Stuhl der Herrlichkeit des Herrn 
und über ihnen wars wie Sapphier, d. i. heller und klarer Him⸗ 
mel. Wie der Regenbogen in den Welten, alfo glänzte e8 um 
und um; ber ftillefte, herrlichite, prächtigfte Anblid, fein Donner- 
gemählde — 

A. Alſo haben Ihre CHerubim dreierlei Zeiten: als Kunft- 
werte im Tempel: ala Gemälde in den Wolfen, und ala prophetifche 
Viſion. 

E. Setzen Sie noch dazu, als Mythologie in der Tradition 

155 des Paradiefes; denn die war der Grund von allem. Hätten fie 
in diefer Sage nicht gelebt, fo hätte fie Moſes nicht auf die Bun- 
deslade geſetzt, jo wären fie von da nicht in die Wolfen gekommen, 
noch zulegt prophetiiche Bifion geworden. Uebrigens jehen Sie 
jelbft, wie fi im Curſus dieſes Gebrauchs auch das Bild felbft 
verändern mußte. in der älteften Sage war e8 ein ehrwürbiges 
MWunbergefhöpf: in der Stiftshütte war es todtes Kunſtwerk, in 
Pialmen und Gedichten Bild, in der prophetifchen Viſion endlich 
Iwov, himmliſches Geſchöpf, Träger der Herrlichkeit Gottes. — 
Den Unterjchied diefed Gebrauchs und feiner Sphäre giebt Ezechiel 
felbft an. Am Himmel befchreibt er die Geftalten mit ihren vier 
Wunderantligen lebendig und herrlich; in feinem Tempel läßt er 
ihnen nur zwei derjelben, entmweber weil er fein Menjchenantlig 
im Tempel haben wollte, um Abgötterei zu vermeiden, oder weil 
er an der Kunft bes Arbeiters verzweifelte. In Mofes Stiftöhütte 


) Jeſ. 37, 16. *) Jeſ. 6, 18. ***+) Ezech. 1. und 10, 


— 34 — 


trafen beide Umſtände zuſammen und die Abbildung der Cherubim 
war gewiß ſehr ſimpel. 

A. Der bleibende Hauptbegrif der Cherubim war alſo ein 
Wundergeſchöpf, eine Compoſition aus vielerley Thieren ? 

E. Das tft unwiderſprechlich. Noch Joſephus beichreibt ihre 
Geftalt aus der Tradition fo, daß Cherubim geflügelte Lebendige 
(Zoe) waren, mit einer Geftalt, der nichts von Menjchen Ge- I- 
jehenes gliche; eine fabelhafte Compofition des Herrlihen, Schred- 
lichen, Mächtigen, Wunderbaren. Ohne Zweifel ſchwebte fie, mehr 
oder weniger, immer zwiſchen ben vier Stolzen be Himmels und 
der Erbe, dem Adler, Stier, Menihen und Löwen; nachdem der 
Dichter ein Bild braudite, oder die Kunft es bilden konnte. Auch 
die Arabiſche Tradition weiß von den Cherubin der Arche, dab 
fie ein geflügeltes Weſen in Menſchengeſtalt mit Bliden gemefen, 
die wie eine Flamme glänzten und die zu Kriegszeit auf die Feinde 
einen ungeftümen Wind gejandt haben — eine Fabel, deren Grund 
man in der bibliihen Geſchichte ftehet. 

A. Wie glauben Sie aber, daß die erfte und ältefte Mytho- 
[ogie von den Cherubim an der Pforte des Paradieſes entftan 
den Sei? — 

E. Auch hierüber giebt die überall verbreitete Tradition 
ziemlich mahrfheinlihe Auskunft. Daß diefe Cherubim Bewahrer 
des Meges zum Baum des Lebens, zu den Gärten ber Heiperiben 
geweſen; iſt einmüthige Sage. Daß der Cherub der Morgenländer 
auf einem Berge gelagert, unter feurigen Steinen wandle, jagt 
Ezechiel und die durchgängige morgenländifche Sage beitätigtd. Sie 
lagern ihn alle auf ein Gebürge des fernen Afiens, hinter welchem 
das Paradies ruhe; ohngefähr in die Gegend, wohin auch Moſes 
das feinige feßet. ft ihnen nun feine andere Mythologie befannt, 18 
die von einem glänzenden Götterberge redet? — 

U. Ich wüſte nicht. 

E. Sie ift allen morgenländifchen Nationen von Tibet an 
bis zum rothen Meer bin geläufig; ein Berg, worauf die Götter, 
gaben, Elohim, Dämonen, jeligen Menſchen wohnen, den einige, 


— 











— 345 — 


in der Ebräiſchen Poeſie eingerückte Traditionen, Nordwärts ſetzten — 
Wer war jener König, der im Spottliede Jeſaias ſagte: 
— Zum Himmel will ich hinan! 
Ueber die Sterne Gottes erhöh' ich meinen Thron! 


Ich werde mit auf dem Berge des Götterrathes thronen, 
im höchſten Nord. 


Bei den Ebräern konnte dieſe Mythologie nicht aufkommen, die 
Sinai und Zion zu Gottesbergen hatten, und Sie wißen, mit 
welchem Eifer Jeſaias ſeinen heiligen Berg Zion über alle Berge 
der Welt erhöhet. Aber in der Rede Elihu's kommt Gott auch 
von Mitternacht her, im Goldglanz: er bricht auf aus ſeiner 
heiligen Götterverſammlung, wie er den Ebräern von Sinai auf⸗ 
bricht. Vielleicht war dieſer Mitternachtsberg eben auch das Gebürge 
der Cherubim, auf dem der König zu Tyrus beim Ezechiel vor 
dem Garten Gottes unter feurigen Steinen wandelt. 

A. Und die Entſtehungsart des Begrifs der Cherubim auf 
dieſem glänzenden Berge? — 

188 E. Sie war ohne Zweifel Anfangs fo ſimpel, als die Tra- 
dition vom Paradieje felbit. Die Menichen wurden aus ihm ver- 
bannet und ein hohes Gebürge lag wahrjcheinlich zwiſchen ihnen 
und dem feligen Wohnfig ihrer Kindheit. Das Gebürge war viel» 
leicht vol Thiergeftalten, von denen etwa die fühnen Wandrer, 
die einen Weg dahin verfuht haben wollten, fürdterlihe Nach⸗ 
richten brachten. Oder auf dem Gebürge lagen Donnermolten, 
ober vielleicht flammete der Berg gar; das war die Flamme des 
Schwert, die fih Hin und her wandte und die mit den Erzäb- 
lungen der Wandrer vermifcht, endlich ein Yabelthier ward, eine 
Compoſition diefer mancherlei Phantome.. Oder daß gar, als die 
Menſchen das Paradies verlaßen mußten und hinter fich ſahen, fie 
bin und ber fahrende Flammen nebſt andern glänzenden Quft- 
gefihten und wilden Thiergeftalten erblidten: ein Eindrud, den fie 
mitnahmen und der ſich nachher durch den Anblid des Berges und 
die Nachrichten der Wandrer, der Helden, der Dichter und der. 
gemeinen Sage zum Wundergeſchöpf ausbildete. Seys dies oder 





— 346 — 


das; wenigſtens iſt das ohne Grund, daß der Cherub die Memoe 
aus dem Paradieſe geführt habe, wie Bilder und Dichting 
fingen und mahlen; Gott führte fic aus dem Paradiefe und d 
Cherubim kamen ala Wächter davor. 

A. Ward aber nicht Elias mit feurigen Wagen und Robz i 
gen Himmel geholet? 

€. Aud das war Streit- Triumph-; fein Mythologiih: 
Donnerwagen:; noch meniger ein Cherub. So verſtehts Elija, x 
die Erfcheinung ſah. Er rief aus: „du bilt Iſraels Kriegsmach 
„seine Neuter und Wagen gemweien, darum wird bir auch Ti 
„heroiſche, Triegrifhe Auffahrt. Als Sieger erfcheinft du in ber 
„Himmelsgefilden.” So wenn der Wagen Gottes taufend mal tauien: 
genannt wird:*) das Bild ift vom Streit- und Triumphswagn 
bergenommen, wie der ganze Pfaln zeigt. Bon Sinai brid: 
Gott auf, vor Iſrael herzuziehn und das Land zu erobern: di 
Berge beben, die Könige fliehn. Er theilt Beute aus und fchwina: 
feinen Wagen in die Höhe, führt die Gefangnen im Triumph daher 
und giebt Gaben. Es ift diejelbe Vorftellung, die wir bei Habu- 
kuks Bilde ſahen und die wir, wenn von Erobrung des Landes 
Iſrael die Rede ſeyn wird, in den fchönften Triumphliedern mehr 
ins Licht ſetzen werden. 

U. Was geben Sie mir aber für ein anbres Bild des Don- 
ners, da fie mir die Donnerpferde geraubt haben? 
| E. Die Stimme de3 fcheltenden Vaterd. Dies Bild verftehen 
noch alle Kinder und es fteht in der fimpeln Gejchichte felbft, in ı 
der man die Donnerpferde bat finden wollen. ‚Sie hörten dic 
„Stimme Jehovahs, der im Garten wandelte zur Zeit, da ſich der 
„Tag kühlte;“ nichts ift wahrfcheinlicher, als daß dies der Donner 
fei, und daß eben durch diefen Ausdrud das Bild in die Ebräiſche 
Poeſie fortwährend eingeführt worden. Wenigſtens mwüfte ich nicht, 
wie in Eine und diejelbe ganz findlihe Erzählung ein fo früher, 
einfacher, findliher und ein fo zufammengefegter, jpäter und fünft- 


*) Bf. 68, 18, 








[4 e ... 
I 1 0 


wa 


— U — 


licher Ausbrud von Ein und derjelben Sache kämen. Mich dünkt, 
ich Habe Ihnen die Geſchichte der Cherubim genetifh und mit Er⸗ 
weijen dargelegt; das ift Alles, mas man vom mythologiihen Be- 
grif einer fo fernen Poefie erwartet. Leſen Stie*) und vergleichen; 
e8 werden Ihnen feine Zweifel mehr bleiben. Die herrlichen 
weifen Räthjelgeihöpfe tragen den Himmel, auf dem Gottes Thron 
rubt; und von wen könnte diefer befer getragen werden, als von 
Sinnbildern alles Hohen und Schredlichen auf der Erde, verbunden 
mit der Idee des Unbegreiflihen, des Unzugangbaren, geheimer 
Wißenihaft und Weisheit. 


% 


— — — — 


1. Erſcheinung Gottes über den Cherubim. 


Ich ſah und fieh! ein Wirbelwind kam ber 
von Norden: *) eine groffe Wolfe, rings 
im Feur fih wälzend, glänzend rings under. 
Und mitten in ihr ward wie Silbererz 

im Feuer glübend: mitten in ihr wars 
geftaltet wie ein vierfach⸗-Lebendes; 

(doch Dienfchenähnlichleit war unter ihnen.) 
Bier Angefichte hatte jedes: vier 

Geflügel: ihre Beine fanden grad’ 

und wie des Kalbed waren ihre Küße.®) 
Sie glänzten wie ein hellpolirtes Erz, 

und Menſchenhände bargen ihre Flügel. 





— — 


*) Beilage 1. 

a) Auch bier kommt von Norden die Gottederjcheinung, wie im Buch 
Hiob (Kap. 37, 22.) vermuthlich aljo bricht Gott vom Götterberge auf. 
(Jeſ. 14, 14. Ezech. 28, 14.) Auch im Gefiht Zacharias (Kap. 6, 1—8.) 
geben die Roße, die die Welt umzogen haben, gen Norden zur Ruhe, ba 
ift der Ort ihres Bleibens. (3. 8.) 

b) Die Aehnlichleit der Cherubim mit der Geftalt ber Sphinxe ift 
unvertenubar; nur biefe waren nach Aegyptiſcher Diythologie und Kunft 
modiflcirt. 


— 348 — 


Vierſeitig war ein jegliches; und vier 

Antlitz' und Flügel hatte jegliches. 

An Flügel Flügel, alſo fchloßen fie 

fih an einander: feines kehrte um: 

ein jedes ging, wohin’ fein Antlig trug.“) 
Und ihre Antlite, zur Rechten waren 

fie eines Menfchen, eines Löwen Antlik; 

zur Linken eines Stiers®) und eine® Aare. 

Ihr Angefiht und ihre Flügel theilten 

fih oben; zweene Flügel ſchwangen fie 

und zween dedten ihre Yeiber.") Jedes 

ging ftrad$ nach feinem Angeſicht: es ging 

wohin fein Geift es trieb und kehrte nimmer um. 
Wie glühnte Kohlen waren anzuſchaun 

die vier Geftalten. Feuerfaclelnglanz 

flog zwifchen ihnen ber und Feuerlicht, 

und aus dem Feuer gingen Blitze. Wie 

die Blitze funkelten, fo gingen fie 

dorthin und hieher, waren bie unb ba.) 
Und über ihren Häuptern breitete 

ein Himmel fi, wie ſchrecklicher Kryſtall: 

diht an dem Himmel ftanden ihre Flügel 

gerab empor, an Flügel Flügel: zween 

der Flügel trugen ihn: mit zween bargen 

fie ihre Leiber. Und ich hörte Schall 

bes Raufchen® ihrer Flügel: alfo raufchen 


c) Ein Sinnbild der Allgegenwart des Throne Gottes, des nie mwierer 
kehrenden Laufs feiner Wirkung in alle Welt. 

d) Was hier der Prophet Stieres » Antlig nennt nennt er (Rap. 10, 14. 
Cherubs-Antlitz; vermuthlich ift jener dem gemeinen Ausdrud nad ein: 
ber herrſchenden Geftalten der Compoſition gemwefen, wie abermals der An 
blid der Sphinre zeigt. 

e) Dies Verhüllen der Leiber ift aus Jeſaias Gefiht (Kap. 6, 2.) eır 
Sinnbild ihrer Unwürdigkeit dem Herrn der Schöpfung zu dienen. 

f) Ich Habe die Beicreibung der Räder unter dem Wagenthron aus 
gelaßen, wie fie auch Johannes (Offenb. 4.) nicht ſchildert. Auch fie zeigen 
indeß, daß die Cherubim ben Thron der Herrlichkeit nicht als Roße zichn. 
fondern als Flügelgefchöpfe tragen. Cherubim und lebendige Räber ftehn 
fowohl der Zahl ale dem Schwunge und Gange nad völlig parallel. 











— 349 — 


viel Waßerſtröme: alſo rauſcht der Donner, 
Schabdai’8 Stimme.) Wenn fie gingen, klangs 
wie wenn ein Kriegsheer zieht. Und ftanden fie, 
fo fentten fie die lügel nieder. Denn 

tönt’8 über ihnen in dem Himmel droben; 

fie fanden mit geſenkten Flügeln ba. 


Und über ihnen, überm Himmel droben 

wars anzuſchauen, wie ſapphierner Glanz. 

Es war ein Thron, und auf dem Throne ſaß 
94 Geſtalt wie eines Menſchen. Der ba faß, 

war anzufchaun wie glühend Silbererz, 

ein Feueranblid drinnen und umber, 

von feinen Lenden auf= und niederwärts: 

Ein Feueranblid, und ein Glanz umher, 

fo wie der Bogen in den Wolfen glänzt 

am Regentage; jo war ringsum Glanz. 


Den Anblid von Jehovahs Majeftät 
ſah ih und fiel hin auf mein Angeficht, 
und börte Stimme eines Rebenden, 
ber ſprach zu mir: u. f. 


193 g) Offenbar ift der Donner alfo vom Schall und noch mebr von ber 
Erfiftenz der Eherubim unterfchieden. Er ift bier blos ein Bild ber Ber- 
gleihung, wie Waßerftröme und das Zieh des Kriegsheers; er beißt auch 
bier Stimme Schaddais, wie überall in den Ebräiſchen Gebichten. Eben 
wenn bie Cherubim ftill ftehen und ihre Flügel nieberfenten, donnerts über 
ihnen im Himmel. Auch im Gefiht Johanues (Offenb. 4, 5.) donnerts 
vom Thron ber: fie tragen bazu nicht8 bei. Sie find die Träger ber Herr- 
lichkeit Gottes, das Sinnbild alles Herrlihen feiner Schöpfung, die ihm 
dient und ihn unaufbörlid, lobet: Symbole verborgner Weisheit. Wenn 
die Siegel des geheimen Buchs eröfnet werden, ruffen den Seher dieſe Ge- 
ftalten. (Sffenb. Iob. 6.) j 


— 850 — 


2. Klaglied über den Fall des Königs von Tyrus, 
unter dem Bilde eines Cherub3.*) 


Du Kunftgebilde, Weisheitsvoll und fchön!P) 
In Eden, in bem Garten der Elohim 
mwarft du: dich ſchmückte jeder Edelſtein, 
Rubin, Smaragd, Demant und Hyacinth 
und Jaſpis, Onyr und Sappbier und Gold. 
Am Tage deiner Bildung priefen dich 
willtommend fhon Zrommet- und Bautenfhail.) 
Zum Cherub, der fih firedt und Eden bedt, 
fett’ ih Dich auf den Berg ber Herrlichkeit 
der Elobim: da unter glühnden Steinen“) 
wanbelteft du. In allen veinen Wegen 
Ruhmvoll vom Tage deines Werbens an, 
bis deine Mißethat jetzt funden ift. 
Jetzt bat man dich in alle deinem Handel 
voll Uebertretung funden und voll Trug. 
Drum will ih di vom Berge der Elohim 
verfioßen! Dich den Eherub, der fich firedt, 
vertilg’ ich von dem Berg der glühnden Steine. 


a) Ezech. 28, 12. Das Tieb ift eine Nachahmung des Trauergefanges 1: 
Jeſaias über den König zu Babel (Ief. 14, 2.), da8 wir in Einen ker 
folgenden Gefpräche überfetst Tefen werben. Es ftehet bier wegen ver Be— 
ſchreibung bes Cherubs, die Ezechiel nah feiner Gewohnheit Bilber zu 
mablen, weitläuftig ausgeführt bat. 

b) Zyrus war bie reichfte Handelsftadt ber damaligen Zeit und fc 
wie Phönicifche oder Sidoniſche Arbeit im Alterthum der Name der Eünit- 1° 
lichſten Arbeit war, fo fonnte, der bier befungen wird, nicht ſchöner als 
unter ber Geflalt eines reichen Kunftgebilbes ſelbſt beflagt werben. 

c) Vermuthlich geht dies nad ber Sache felbft auf die ſchöne Lage 
bes Orts, Tyrus, der zum Handel und zur Pracht recht geſchaffen fchien: 
im Bilde iſts ein befannter Gebrauh Morgenlandes, daß Ehrendenkmale 
folder Art mit Mufit und Paukenſchall aufgerichtet werden. (Dan. 3, 5. 7.) 

d) Ich meiß nit, ob dieſe glühnden Steine Edelfteine find, oder ob 
fie mit jener Flamme des fih bin und ber wendenden Scmert® etma 
zufammen gehören; ich wilnſchte, daß die Mythologie von diefem Götter— 
berge aus mehreren Traditionen anfgehellt wilrbe, und ich hoffe, fie wirds 
werben. 








196 


197 


196 


— 8551 — 


Dein Herz erhob fich liber deiner Zier: 

ob deinem Glanz verlohrft du deine Weisheit. 
Drum will ih auf die Erd’ hinwerfen dich, 
den Königen dich geben anzufjchaun:°) 

denn viel ift deines Frevels; und bein Trug 
bat deine Götterzier mit Schimpf befledt. 
Aus deinem Bufen fol ein Feuer ausgehn,”) 
das Dich verzehret.. Du wirft Aſche feyn 

in aller Bölfer Augen rings umber: 

und wer di kennt aus allen Völkern, wird 
erftaunen über dir. Du warft der Stolz 
ber Erd’ und biſts in Ewigleit nicht mehr. 


3. Gemählde des Donnerg.*) 


Es umgaben mich die Flutben des Todes, 
an Belial® Strömen erbebt’ ich ſchon. 
Es umfingen mid die Stride des Grabes, 
des Todes Nebe fah ich vor mir. 
In meiner Angſt, ſprach ich, will ih zum Herren ruffen, 
hinauf zu meinem Gotte will ich ſchreyn. 
Er wird mid) hören aus feiner Burg, 
mein Angftgefchrei wird dringen in fein Obr. 
Da regte ſich die Erbe, fie zitterte! 
die Gründe der Berge bewegten fich, 
fie regten ſich, weil er fo zormig war. 


e) Nach ef. 14, 16. 

f) Bielleicht Tiegt auch diefer Zug im Bilde des Cherubs mit ber fidh 
bin und ber wendenden, verzehrenden Flamme. Es iſt Ezechiel® Art, feine 
Gemählde bis zum Meinften Zuge auszumalen. Des Cherubs Feuer ver- 
zehrt ihn jetzt ſelbſt. 

2) Pf. 13. Es wirb bier beigerüdt der Mythologie des Donners 
und des Cherubß wegen. Der ganze Gang des Pſalms ift ſchön. David 
in Todesgefahr will nur zu Gott ruffen und Gott böret ihn fehon: er rettet 


197 ihn durch ein Donnerwetter, vermutblih in der Schlacht, vom Tode und 


feinen Feinden. Daß der Tob bier als Jäger mit Net und Strid vor- 
geftellt werde, iſt befannt: bie andern Bilder von Belials Strömen und 
bem Reid) der Tobten werben im folgenden Geſpräch entwidelt werben. 





— 32 — 


Auf flieg Dampf aus feiner Naſe;*) 
das eur aus feinem Munde fraß umber, 
Kohlen erglühten vor ihm hin. 


Er neigte die Himmel und fuhr binab, 
Dunkel unter feinen Süßen: 
er faß auf dem Cherub und flog daber, 
er flog daber auf den Tlügeln des Sturms. 


Jetzt hüllet' er Nacht um fich, * 
Woltenduntel auf Wolkendunkel ſchloßen ihn ein; 
vom Glanz vor ihm entwich die Wolfe, 
glühende Kohlen und Hagel fiel. 


Im Himmel bonnerte der Herr, 
der Mächtige ließ hören feine Stimme, 
glübende Kohlen und Hagel fick. 


Da ſchoß er Pfeil’ umber, 
verboppelte die Blitz' und beflügelte fie: 
des Waßers Schlund war aufgethan, 
der Erben Gründe ftanden enthüllt, 
vor der fcheltenden Stimme des Herrn, 
vom Hauch bed Sturms aus feiner Naſe Damp. 


b) Das Ungewitter, vielleicht mit Erdbeben begleitet, wird Bier nad 
allen Erfheinungen gefchildert. Die Erde regt ſich: jebt gebt Dampf aus 
feiner Nafe, das ift (nah V. 16.) der Sturm ber dem lingemwitter vorber: 
gebt: nun fangen Blige au: der Himmel wird dunkler und niedriger, cr 
fcheint fih zur Erde herabzufenten: nun wehet, nun fleucht der Sturm: dic 
Nacht verdoppelt fih und nur Blitze zertheilen diefelbe: endlich fängt ber 
große Donner an, die Blige verdoppeln und beflügeln fih u. f. — Diet 
alles ift Zug für Zug in eine fortgebente Mythologie gekleidet, da der Jor- 
nige bald aus feiner Nafe Dampf, bald aus feinem Munde Feuer mirft, 
daß bie himmlischen Eisgewölbe zu Kohlen erglüben: bald die Wölbung des 
Himmel® neigt und gleichfam zur Erde will, bald die Nacht um fich büller 1: 
und Pfeile ſchießt, Blitze ſchwingt und beflügelt — In diefem Reichthum 
von Donnerbildern fteht der geflügelte Cherub blos den Flügeln des Sturme 
gegen. liber, wie der Parallelismus zeigt: Gott ſchwebt auf ihm hinweg: 
wie es jo oft beißt, daß er auf dem Fittigen des Windes gehe. Auch in 
diefem Pſalm ift das Hauptbild bes Donners, daß er die Stimme bes 
ſcheltenden Gottes ſei; ein Ausbrud, der im folgenden 29. Pf. allein fieben: 
mal vorfommt. 


— 85 — 


199 Er reicht' hinab? ans feiner Höh' 
und faßte mid). 
Aus tiefen Waßern 309 er mich hervor, 
von meinem flarfen Feinde rettete er mich: 
von Häßern, die mir viel zu mädtig waren ı. f. 


4. Die Stimme Jehovahß.*) 


Gebet Jehovah, ihr Götzendiener, 
gebet Iebovah Preis und Macht. 
Gebet Jehovah Ruhmpreis feiner Hoheit. 
Büdt euch Jehovah, dem Könige herrlich gefchmildt. 
Die Stimme Jehovahs ift Über den Waßern:?) 
Der Gott der Ehre donnert hoch! 
Jehovah donnert anf groffen Wafern: 
bie Stimme Jehovahs tönt mit Macht, 
die Stimme Jehovahs tönt mit Pracht. 
Die Stimme Jehovahs zerbricht die Eebern, 
Jehovah bricht die Eedern des Libanon. 
200 Er macht fie hüpfen wie das Kalb, 
den Libanon, den Sirion, 
wie ben jungen wilden Stier.” 
Die Stimme Jehovahs fireuet Flammen, 
Die Stimme Jehovahs macht die Wüſt' erbeben, 
Jehovah macht gebähren die Wüfte Kades, 
Die Stimme Jehovahs macht gebähren bie Hinbin,® 
fie entblättert den Hain. 
Jehovah figt nun und gießt Waßerſtröme; 
Jehovah thront, ein König in Ewigfeit. 


199 a) Bf. 29. 

b) Der Parallelismus giebts, daß biefe Waßer nicht das mittellän- 
difche Meer, fondern die Waßer des Himmels, die biden Regenwolken fepn. 
Im Berfolg wird entwidelt werden, warum Jehovah vorzliglih als Don- 
nergott gei&ildert werde. Daß diefer Pfalm ein fortgehendes Gemälde bes 
Ungewitters fei, ift augenfcheinlich. 

1) Mie.: Da reicht’ er binab 

2) Mie.: den Libanon, den Sirion hüpfen wie ein junger wilder Stier. 

3) Mic.:, die ſcheue Hindin 


derders ſaͤmmtl. Werte. XI. 23 








gl be. 


VII. 
Inhalt des Geſprächs. 


Sage vom Urſprunge des Menſchen. Wurzeln ſeiner Benennung von 
Hinfälligkeit, Schwachheit, Erde. Elegie Hiobs über des Menſchen 
Schickſal. Vom Othem Gottes, dem Sinnbilde der Kraft in Gedan— 
ken, Worten, That. Hymnus über die Stärke und Gottähnlichkeit der 
Menſchennatur. Hohe Vorführung deſſelben in der Schöpfung. Bon 
weldem Begriff eine_Epopee ber Menſchennatur im Phyſiſchen und 
Geiſtigen allein ausgehn könne? Was hievon die Bibliihe Poeſie ent- 
widelt habe? Ob biefe Genefis zu rein, zu göttlich fi? Warum bie 
früheſte Moral und Moralpoefie des Menſchen babe göttlich feyn müßen ? 
was dies Göttliche genutt babe? Urfprung des Begrifs vom Reide 
der Todten. Elegie von demſelben. Ob es der Unfterblichleit ver 
Seele entgegen fei? ober diefelbe nicht vielmehr vorausfege? Poetiſche 
Anficht der Gräber, des Lebens der Todten in benfelben; Dichtung des 
Reichs der Schatten bei Ebräern, Eelten und andern Rationen. Wo— 
ber das Niefenbafte im Todtenreich der Morgenländer wahrſcheinlich 
feinen Urfprung genommen? warum ganze Reiche und Städte in ihm 
fhlafen? Bon Belial, dem Könige der Schatten, vom Scheol, feinem 
Pallaſt oder Reh. Welche Bilder dieſe Vorftellung auch noch bem 
N. T. gegeben? Bon Wirkung diefer Begriffe auf die Seele des Men- 
fhen. Sprache Gottes von der Unfterblichleit in der Natur: in der 
Offenbarung. Aufnahme Henochs. Ob fie Fragment eines Gedichts? 
Nachhall vom frühen Tode deilelben ſei? Aufnahme ber Väter, ale 
ächter Gottesfreunde. Eindruck des VBegrifs vom Neich der Bäter. 
Zwei Pfalnen nebft ihrer Erflärumg. Daß der ſechzehnde Pſalm von 


David fei und Begriffe einer ewigen Wohnung bei Gott enthalte. O6 
die Sfraeliten von dem Aegyptern die Infeln der Glüdfeligen nad dem 2u> 


Tode geborgt oder gehabt haben? Urfprung des Begrifs der Aufer- 
ſtehung der Zodten. Beilage einer Beſchreibung von Hiobs Tobten- 
reih, eines Arabifchen Troſtgedichts über eine Verftorbene und einer 
Zeichnung des Ganges, wie fich ohngefähr die Ebräifchen Begriffe vom 
Zuftande nach dem Tode entwidelt haben. 








Es verjtrich eine ziemliche Zeit, ehe diefe Unterredungen fort- 
gefegt wurden. Wlciphron_hatte_feinen_beften Freund durch den 
Tod verlohren; und es lag ſtumme Dämmerung auf feiner Seele. 
Einmal bei einem Abendipagiergange, da das täglihe Bild unires uf. 245 Ninıpe. 
Abſchiedes, die untergehende ‚Sonne id ſchön mahlte, begann er ae 
nad andern Unterredungen voll fanfter Schwermuth aljo: 

Alciphron. Sie haben, Eutyphron, die ſchöne Sage vom 
Ursprunge des Menfchen vergefien, an die feine ganze Erbenbeftim- 
mung gefnüpft ift, Erde zu Erde! Da ging Adam hervor, dahin 
ging er, in den Schoos der "Mutter, bie ihn gebohren. Erde zu 
Erde! ijt der Nachhall des ganzen Menjchenlebend. Er tönet mir 
noch vom Testen dumpfen Wurf der Grabfchaufel meine Freundes 
wieder, und ich habe mich in diefen Tagen an mander Poeſie der 
Morgenländer, an der ih jonft feinen Geſchmack fand, melancholiich 

203 erfreuet. Alle Namen des Menſchen jagen in ihr von Nichtigkeit, 
von Verfall. Er ift eine Leimhütte, an der unaufhörlich die Motte 357. 
frißt und der Wurm naget: eine Blume, die abfällt, wenn ber 
Mind mehet, oder die vom Stral der Sonne vertrodnet. Vielleicht 
bat feine PVoefie die Bilder diefer Hinfälligkeit, diefer Schattenge- 
ftalt jo rührend dargeftellt, und alle gehen aus den Wurzeln der 
Sprade ſelbſt hervor: gleichſam als Urbegriffe der Beitinmung des 
Menſchen. 

Iſts eine Luſt dir zu bebrängen, *) 

fo zu verfchmähen deiner Hände Werl? 

Gedenke doch, ich flehe Dir! 

daß du wie Thon mich bildeteft 

und daß ich Bald muß wieder in den Staub! — 
Lagen Sie mich in biefer ftillen Abenddämmerung, da der “Treiber 
unfrer Erdenmühe, die Sonne untergeht und alle Kreaturen ich 
ihrer Entlaßung vom Dienft der ſchweren Eitelkeit zu freuen fchei- 
nen, laßen Sie mich eine Elegie**) Iefen, bie ich fonft nie, mie 
jetzt beherzist habe. Hiob war ein, großer philoſophiſcher Dichter; 


*) Hiob 10. **) Hiob 7. 
23* 





— 356 — 


er verſtands, was das Menſchenleben jei und nicht jet? und mas 
wir am Ende zu boffen haben. 


Sat Sklavenleben nicht der Menſch auf Erden? 
Sind nicht wie Tagelöhners feine Tage? 
Wie fih der Sklave nach dem Schatten fehnet, 
ber Tagelöhner feinen Lohn erwartet: 
fo find mir zugefallen böfe Monden, 
viel Kummernädte find mir zugezäblet. 
Wenn ich mich nieberlege, feufz’ ich: 
wenn ſteh' ich wieder auf? 
und lange dehnt fi mir die Nacht, 
und werde banger Träume fatt 
bis wieder Morgen dämmert. 


Mit Wurm und Moder ift ringsum mein Fleiſch befleidet: 


Es ſchließt fih meine Haut, und bricht 
in neuen Beulen wieder auf. 
Hinweggeflohn find meine Tage, 
geſchwinder, wie ein Weberfpul: 

fie fanfen unter an der Hoffnung Ende. 


Gedenle, daß ein Hauch mein Leben ift; 
Nie wird mein Auge wieberlehren, 
zu fehn der Erde Glüd. 
das Auge, bas mich fuchet, wirb mich nicht finden mehr. 
Dein Auge wird mich fuchen; ich bin nicht mehr! 

Wie eine Wolke ſchwindet und vergeht: 
fo geht der Menſch ins Schattenreich hernieder, 
und fommt nicht wieder hinauf. 
Er ehrt nicht wieder in fein Haus; 
die Stäte, mo er wohnte, fiebt 
ihn nimmermebr. 

So will ih auch nicht wehren meinem Munde, 
will in den Ängſten meines Geiſtes veben, 
will fprechen in Betrübniß meiner Seele: 
Bin ih der Nilftrom und fein Krofobill, 
daß du mir Wache feeft rings umber ? 
Sprech’ ich: mein Bette foll mich tröften, 
mein Lager mir Erquidung feyn: 
o fo zermalmft du mich mit Träumen, 
mit Nachtgefichten ſchredeſt du mich auf; 











— 357 — 


daß meine Seele lieber Tod ſich wünſchte, 
den Tod für dies Gebein. 
Des Lebens bin ich ſatt: und leb' auch nicht mehr lange; 

laß ab von mir: denn Nichts find meine Tage. 

Was ift ein Menſch, daß du fo groß ihn hältſt, 

und feteft gegen ihn dein Herz? 

beſuchſt ihn jeden Morgen neu, 

und prüfft ihn jeden Augenblid. 

Wie lange willt du denn nicht von mir bliden? 

mir Ruhe laſſen, bis ih! Athen Hole? 

Hab’ ich geflindiget ; was that ih Dir entgegen ? 

o du, der auf die Menfchen blidt! 

Warum, daß du mich dir zum Anlauf jetsteft? 

und mir zur Laſt. 

Barum vergißeft bu nicht mein Bergehn, 

und läßt verfchwinden meine Schuld? 

denn augenblidlich leg’ ich mich zum Staube, 

am Morgen fuchft bu mich; ich bin nicht mehr. 
Das ift das Schichſal der Menſchen; Erde zu Erde! das erfte und 
einzige Orakel Gottes "über unsre Beſtimmung. Was will bie 
ſtolze Leimhütte, in der ein flüchtiger Hauch wehet, mehr? 

Eutyphron. Sie vergeßen aber, m. Fr., daß dieſe Leim- 

206 hütte mit einen Hauch Jehovahs befeelt ward; in Gottes Othem 

weht der Geift der Unfterblichleit und aller Kräfte. Haben Sie die 
eben fo rührenden Bilder nicht bemerkt, daß in Gottes Hauch alle 
Stärfe, Wunder der Gebanten und eine® wie Gott mächtigen 
Willens, ja, mas das Wort jagt, Gottesbegeifterung und gött- 
licher Troft ruhe? Ihre Traurigkeit hat Sie nur die Eine_Seite 
des Menſchenſchickſals bemerken machen; die andre ift in biefer 
Poefie eben fo ſtark bezeichnet. 

4. Eben fo ftarl? was ift ein Hauh? Sie werben doch 
nicht die metaphufiiche Seele unfrer Philofophen darinn finden wollen? 

E. Gottlob nicht; auch feine Zergliederung ihrer Kräfte nad 
unſrer Weife. Aber das Weſentliche, Ewige ihrer Subftanz, daB 
fie von Gott kam und wieder zu ihm gehet, daß fie in ihrer zer 





1) Mic: ih Einmal 





— 858 — 


255. fallenden Leimhütte göttliche Kräfte äußert und inſonderheit vom 


Wort, vom Haud des Mundes Gottes abhängt; das ift in Diefer 
Sprache und Boefie reich entwidelt. 

A. Kaum! wie fpät wird nur daran gedacht! In einem Buch 
aus der Chaldäiſchen Gefangenſchaft ftehts erft,*) daß der Hauch 
wieder zu Gott fehre, der ihn gegeben; und da iſts offenbar fchon 
chaldäiſche Philofophie, dieſer alten einfachen Sage angebeftet; bei 
Adam, in Hiob, in den Palmen ift davon Nichts. 

E. Wollen wir nit etwa diefe Begriffe von de Menfchen 
Unfterblichleit, von feiner Schwachheit und Stärke, infonderheit nad) dem 
Idiotismus, daß feine Seele ein Hauch Gottes fei, durchgehen? Mich 
bünft, Sie haben Manches überfehen oder fih von neuern Meinungen 
binreißen laßen; und die Materie ift Doch jo wichtig, jo menſchlich! 

Geift Gottes weht mich an! 
Hauch des Allmächtigen belebet mich. 
Mein Antlig ift wie Deins vor Gott; 
aus Leinen bin ich auch geformt, wie Du — 
— So lang’ ein Othem in mir ift: 
jo lang’ in mir Hauch Gottes weht: 
fol meine Lippe nicht8 unrechte® veden, 
fol meine Zunge leine Läſtrung fagen — 
ift dies Schwachheit oder Stärke? 

A. Höchſtens Stärke in Worten. 

E. Und bei den Morgenländern ift Wort der Ausdrud der 
Gedanken, des Willens, aller Seelenkräfte.e Man bemerkte früh, 
was für ein Wunder darinn liege, daß unfre Seele denkt, Die 
Zunge ſpricht und die Hand thut; daß unfre Scele denkt und andre 
veritehn fie und gehorchen ihr, blos durch einen Hauch ihres Mun- 
des. Gott jelbft mußte man nichts Mächtigers zuzufchreiben, als 
Wort, Othem. Man verglich ihn der Feuerflanme, dem Hammer, 
der Felſen zerſchmeißt; wenn Alles vergehe, fei! der Hauch Gottes 
daurend und wirkſam — wirkſam, wie der Wind, erquidend, 
wie der Regen berabraujcht und belebt und befruchtet — 


*) Bredig. 12,7. 
1) Mfc.: verginge, wäre 


20% 


(2 


208 








— 359 — 


A. Das ift Hauch Gotteß in der Natur, unmittelbarer Wille 

feiner Allmacht; aber Hauch Gottes im Menjchen ? 
E. Auch der ift mädtig, weil er göttlicher Hau ift; fo daß 
es bald fortgehender Gegenfag wurde, Fleiſch und Geift, d. i. 
Menſchenſchwachheit und Gottesſtärke. — Erinnern Sie fi bes 
Ausdruds ſchon vor der Sündfluth und im Munde Gottes felbft: 

Mein Geift fol nit mehr eine Ewigleit 

in Menſchen wohnen; 
benn fie find Fleiſch, 

und wie das letzte durch ein allgemeines Verderben infonderbeit in 
Üppigfeit und Schwachheit erflärt wird. Ja gehen Sie auf bie 
erfte Vorftellung zurüd mit der Gott den Menſchen in die Welt 
einführt: Bild der Elohim follte er ſeyn, ein fichtbarer Abdrud 
ihrer unfichtbaren Kräfte, wie fie und an ihrer Stelle ſchaffend 
und waltend. Laßen Sie mid, da Sie fih an einer Elegie über 
des Menſchen Schwachheit freuten, einen Pſalm über feine Herr: 
ihaft und Stärke fagen: einen Pialm, der im Lallen der Unmün- 
digen Gott eine Burg des Lobgejangs beveftigt, an ber jeder Feind . 
209 erliegt, einen Palm, der den Menden wie einen Gott der Erbe, 
wie einen Triumphator über ale Werke Jehovahs, die ihm zu 
Füßen gelegt find, mit Würde und Herrlichkeit der Engel Trönet;*) 
er ift gleichfam gemadt, daß er unter dem freien, weiten Ster- 

nenbimmel, ber auch jet über uns aufgeht, tüne: 

Jehovah, unfer Gott, wie herrlich iſt dein Name 


in aller Welt! 
Dein Lob ſchallt über die Himmel empor! 
Vom Munde der Kinder und Säuglinge 
haſt du dir eine Burg des Lobs bereitet, 
deinem Feind' entgegen, an der er erliegt. 
Denn ſchau ich deine Himmel an, 
ſie, deiner Finger feingebildet Werk, 
den Mond, die Sterne, die du Herr bereitet; 
Was iſt der Menſch, daß du an ihn gedenkſt? 
Des Menſchen Kind, daß du ihn fo bedacht? 


*) Pſalm 8. 


— 30 — 


Zunächſt den Elohim geſtellt 
haft du mit Ehr' und Hoheit ihn gekrönt: 
haft ihn zum Herrn gemadt von allen deinen Werten, 
haft Alles ihm zu Füßen dargelegt. 
Sein find bie Heerben groß und Kleiner Thiere, 
des Feldes Wild iſt fein. 
Des Himmeld Bögel und die Fiſch' im Meer 
und was die Bahn der Fluthen gebt. 
Herr, unfer Gott, wie herrlich ift dein Name 
in aller Welt! — 

Führen Sie dies pindarifche Loblied in die Gefchichte der 2 
Schöpfung*) zurüd, aus der es genommen ift; mit welcher Majeftät 
erfcheinet der Menſch! — Da alles geihaffen ift, hält Gott im, 
rathfchlaget mit fih und Holt das Bild Seiner, gleihfam aus ſei⸗ 
nem Herzen hervor. Die noch ohne Krone gelaßene Schöpfung 
barrt und erwartet ihren fihtbaren Gott und Schöpfer. Ein 
Epopee über den Menden — könnte fie von einer höhern viel: 
faßendern bee ausgehn? 

A. Die Ebräiſche Poeſie Hat diefe Epopee nicht geliefert. 

E. Sie in einem irrdiſchen Sinne zu liefern war nicht ihr 
Zwed; da Bat der Menih fie, im Guten und Böfen, fich felbft 
geliefert. Was haben Menſchen nicht auf der Erde gefchaffen und 
gewaltet? wohin find fie nicht fommen? was haben fie nicht ange- 
firebet ? Ein Dichter, der dies in den vornehmften factis nur 
biftorifch befingen wollte; welch ein glorreihes Thema hätte er! er 
befänge nun Erfindungen bes Geiftes, oder Wirkungen ihrer Hand, 
ihres beinah allmächtigen Willens — Aber, tie gejagt, der Zwed 
dieſer Poefie war nicht, das Ideal des Menichen phyſiſch, ſondern 

nt 354, geiſtlich auszuführen; wie hohe und jchöne Begriffe bat fie durchs 
A. und N. T. aus dem Bilde Gotted in der Menfchengeftalt ent- 
widelt! Sohn Gottes war Adam, Freund Gottes war Henod, 211 
Abraham und die geliebteften der Väter. Gin zweiter Adam erfchien, 
2)1Moſ. 1. 
1) Mſc.: befränzt: 





— 261 — 


ſeinen Brüdern die Geſtalt eines Sohns Jehovah zu zeigen und 
zu gewähren: das Menſchengeſchlecht zu dieſer Idee in aller Würde 
und Schönheit emporzubilden; mich dünkt, es gebe keinen reinern 
und höhern Begrif des Zwecks der Menſchheit in Poeſie und Proſe 
der geſammten Welt. 

A. Wenn er nur nicht zu rein, zu hoch für uns wäre! Was 
wißen wir von Gott? und wie kann ein Menſch Gott nachahmen? 
ohne daß er unter feinen eignen Kräften erliege..e Menſchlich muß der 
Geſichtskreis unfrer Beſtimmung und Moral feyn, nicht Göttlih — 

E. Diefe Moral paart beides: denn Sie fagten ja eben, daß 
Schwahheit und Niedrigfeit des Menſchen in ihr fo wahr geſchildert 
werde. Unferm Körper nad konnten wir feine Gottesjöhne nach 
den reinen Begriffen Morgenlandes feyn: denn Gott hat feine 
Geftalt und wir find Erde. Aber fein Finger bildete und; und 
auf unſrem Munde und Angefiht bat die Lippe Jehovahs wie in 
einem Anhauch der Liebe gefchwebet. Da ſchwebt er noch: Geift - 
Gottes ift in unſerm belebten Angeficht fihtbar. Eine Poefie, bie 
die Schwachheit des Menſchen nicht vergißt, um ihm etwa Selbit- 
gnügjamfeit der Götter anzulügen, die fi) aber auch von feiner 


212 Schwachheit nicht beftegen läßt, um etma feinen Abel, feine große 


03.2,05, 


Beltimmung zu verlennen. In ihr ericheint ein Kind Gottes, zur 
Ewigkeit geihaffen; aber noch ein ſchwaches, fterbliches Kind — 
A. Ja wohl Kind! denn die Poeſie und Moral diefer Völker 
ift ſehr kindlich. Alle Begriffe werden auf Gott zurüdgeführt, alles 
vom Willen Gottes hergeleitet; das erfchlafft enblih den Willen 
des Menſchen, wie feine unterfuchenden Kräfte. Es wird blinde 
oder trunfne Ergebung an Gott, kurz Iſlamismus. 
E. Wädft die Bapierftaub’ ohne Saft empor? *) 
Die Waßerlilie erwächſt fie ohne Na? 
Noch grünt fie und fie wird nicht abgeichnitten werben, 
wenn alles Gras noch blühet, wett fie ſchon. 
So ift das Streben aller Gottvergefinen, 
bes Gottverläugners Hoffnung ſtirbt dahin. 


— 





*) Hiob 8, 11. 


La 


— 32 — 


der Spinne Pallaſt ift, worauf er fich verläßt. 
Sie ftügt fih auf ihr Haus; es ſtehet nicht, 

fie Hält fi veft daran; es kann nicht bauren. 
So fteht auch Er, voll Saft am frühen Morgen, 
weit übern Garten ziehn fich feine Ranken Hin: 
er fchlingt die Wurzeln um den Fels 

ein ganz Gemäur umfaßet er — 

fohnell ift er weg von feinem Ort, 

der fpridt zu ihm: „ich fab dich nie!“ 

U. Sie geben mir ein langes Bild; aber feine Antwort. 

E. Das Bild ſelbſt ift Antwort. Jede Poefie ohne Gott if 21: 

‚ eine ftolze Papierftaude ohne Naß; jede Moral ohne ihn, ift eine 

) Parafiten - Pflanze. Sie blühet ſchön in Worten und zieht ihre 
Ranken bie und dort bin, ja fie umfchlingt jede Nike einer Men⸗ 
ichenjeele; die Sonne geht auf, und fie ift nicht mehr! Der Menſch, 
ber fie erfand, verläugnet fie jelbft, und fein Ort kennt ihre 
Stäte. — Doch ich will damit pſychologiſchen Unterfuhungen, aud 
jogar Schilderungen nichts von ihrer Würde rauben; nur die erite, 
ältefte, kindliche Poefie und Moral, konnte nicht Piychologie ſeyn, 
oder fie wäre ewig ein Labyrinth von Sagungen geblieben. Was 
wir bei der Naturpoefie ſahen, gilt bei der älteften moralifchen 
Dichtkunſt noch mehr: der Begrif von Gott mußte ihr Faßlichkeit 
und Einfalt, Zartheit und Würde geben. Das Kind warb ans 
Wort des Vaters gefnüpft; der Sohn nah der Denfart feines 
Urhebers gebildet. Furcht Gottes, bei ber ſich nicht raifonniren 
ließ, mar auch bier der Menjchenweisheit Anfang — 

AU. Anfang wohl: fie Half ihm auf den Weg; nur warum 
wollte fie ihn unabtrennlich begleiten? fie hielt ihn immer am 
Leitbande und das Kind gewöhnte fich nie, ſelbſt gehen zu lernen. 
Sollte dies in Orient nit der Fall fein? Aus ber kindlichen Ä 
"Folge der Urwelt ward bald ein knechtiſcher moſaiſcher Dienft; 
ftatt daß fih der menſchliche Geiſt hätte heben follen, ſank er. 214 
Warum? weil er nur immer auf Gott ſah und fidh felbft nicht | 
Tennen lernte — | 


Sie Liegt am Boden, des Gottlofen Hoffnung, | 


— a268 — 


E. Was den moſaiſchen Knechtsdienſt veranlaßte, wollen wir 
zu feiner Zeit Iennen lernen und! feine ſpätere Begriffe in eine 
Urzeit, wo Mild und Honig aud in der Moral flo, übertragen. 
Einem Kinde iſts gut, wenn es feinem Bater folgt: in der Moral» 
poefie der Morgenländer ift die Idee Gottes Sonne am Himmel, 
die den ganzen Horizont des menſchlichen Daſeyns erleuchtet und 
auch fpäterhin feine Schattenuhr einzelner Beziehungen und Pflichten 
mit der Schärfe eines Strals bemerkt und bezeichnet. Uns bünft 
diefe Sonne jegt zu brennend; damals war ihr Licht nöthig, denn 
diefe einfache, Findliche Moral mit dem Anſehn Gottes bekräftigt 
und ganz von ihm hergeleitet, follte die Völker der Erde auf den 
Weg lenken und mußte alfo fo kindlich, einfältig, ftrenge und hoch 
angegeben werben. In biefer und jener Welt war Gott der Men- 
ſchen Leiter und Vater — 

A. Auch in jener Welt? Da kommen wir auf die Materie, 
von ber wir zuerjt reden wollten. Wie fpät und allmälih hat ſich 
die Hoffnung des Menſchen zur Unfterbligleit, und aus melden 
Heinen Beftanbtheilen, meiftentheils Schlüßen, die zu weit fließen, 


215 aus Bemeifen, die zu viel bemeifen, ja gar aus blinden Wünſchen 


und Ahndungen erzeuget! Adam warb Erde und mußte von feiner 
Unfterbligkeit: er ſah Abel im Blut liegen, der erfte Tobte ward 
betrauert, wie wohl fein Todter betrauert ward, — und fein Engel 
lam bie Weinenden durch Eine Heine Hoffnung ber Unfterblichkeit 
zu tröften. Seine Seele lag im Blut und war verfcüttet auf bie 
Erde: von da rief fie gen Himmel und warb verſcharrt mit dem 
Blute; das war der Glaube der erften Welt auch nad der Sünd- 
fluth.*) Die Väter entſchlafen und Haben ausgelebt. Ihre Tage 
werden genannt und nichts weiter; ober fie gehn in bie Berfamm- 
lung der Väter, d. i. ins Grab. Dies warb mit der Zeit zum 
Schattenreich ausgebildet; leſen Sie aber durchs ganze A. T. die 
dunfeln, fanften, Troftlofen Poefien ? dieſes Schattenreihes — oder 


) 1 Mof. 9, 4-6. 
1) Mfe.: und jegt 2) Mſe.: Bilder 





pP 





— A — 


erlauben Sie mir nur Cine derfelden, dem Andenfen meines 
Freundes zu opfern. Wenn er um uns fein könnte, ſchwebte er 
jegt gewiß bier; aber chen dies mahre Trauerlied fagt, daß es 
unmöglih, daß leine Rückkehr jei aus dem Todtenreiche: 
Der Menſch vom Weibe gebohren,*) 
ift kurzer Lebenszeit 
und reih an Müb. 
Wie eine Blume gebt er auf und welter, 
er fliebet wie ein Schatte 
und bleibet nicht. 
Und über foldem öfneſt du bein Auge 
und führft mich ins Gericht mit dir? 
IR unter den Unreinen Einer rein? 
Nicht Einer! 
Sind feine Tage fo beſtimmt, 
haft du ihm feiner Monden Zahl gezählt, 
baft du ihm veft gefett fein Ziel, 
das nie er übergeht; 
fo wende dich von ihm, daß er nur rube, 
daß er fich feines Tages nur 
wie ein Taglöhner freue. 
Der Baum bat Hoffnung, wenn er abgehauen wirb: 
er grünet wieder auf 
und feine Sproßen fommen wieder. 
Wenn auch die Wurzel in der Erb’ ihm altert, 
wenn in dem Staube gleich fein Stamm erflirbt; 
vom Duft des Waßers wird er wieder feimen, 
und Zweige jproffen, als wär’ er neugepflanzt. 
Der Menſch erftirbt und lieget Kraftlos ba: 
er wird hinweggethan; mo ift er nun? 
Die Waßer fchwinden aus dem Dieer: 
der Strom verfieget und ift dürres Yand; 
noch Tieget er und ftand nicht wieber auf, 
die Himmel altern, er erwacht nicht wieder, 
ihn weder keiner mehr aus feinem Schlaf. 
Ja! wollteſt du mich in das Schattenveich verbergen, 
verbergen mich, bis fich dein Grimm gelegt: 


*) Hiob 14. 


21 








— 35 — 


und denn ein neues Lebensziel mir ftellen, 
und an mic denken wieder! 
217 Ach aber, ift der Menfch geftorben, 
er lebt nicht wieder auf! 
So will ih denn, fo lang mein Müheleben bauert, 
noch hoffen, bi8 mein Glüdeswechlel kommt. 
Du wirft mich ruffen und ich werd’ antworten, 
wirft wieder liebgewinnen dein Geſchöpf. 
Du, der jetzt alle meine Schritte zäblet, 
wirft, wo ich fehltrat, denn nicht achten mehr. 
Berfiegelt wird denn meine Sünde liegen, 
zufammenwideln wirft du mein Vergehn und abtbun. 
Doch ach! der Berg verfällt und fintet ein, 
der Feld wird weggerüdt von feinem Ort: 
das Wafer bölet Steine aus! 
e8 fchmemmet fein Gebild, den Staub der Erbe weg; 
fo machſt du Menſchenhofnungen zu nicht. 
Du kämpfft mit ihm, bis daß er fich verliert, 
entftellft fein Antlig ibm und fchidft ihn fort. 
Ob feine Söhne denn auch groß und ‚glüdlich werben; 
Er weiß e8 nicht — 
und käme Schmach und Unfall über fie; 
Er nimmt davoı nit Kunde — 


Können ftärkere Ausdrüde gefunden werden, daß feine Nüd- 
fehr aus dem Todtenreiche fei, daß feine Nachricht vom Glück und 
Unglüd der Unfrigen dahin gelange, daß nichts ala Dunkelheit, 
Stille, ewige Vergeßenheit in ihm mohne? 

E. Sie haben Recht, m. Fr., aber von welcher Rückkehr, 

218 glauben Sie, ift bier die Rede? Offenbar von der Rückkehr in 
diefes Leben, das Bute diefer Erde wiederum zu jchmeden, das 
Hiob fo wenig ausgeniegen konnte. Und dies, dünkt mich, thäte 
der trengften Unfterblichleit leinen Eintrag, Welche Seele eines 
Geftorbenen ift je zurüdgelehrt, zu jehn das Gute der Erbe? 
Daß Hiob gewiß ein Ueberbleibendes im Reich der Tobten 
geglaubt habe, fehen wir eben bier aus dem Wunſch, daB Gott 
ihn verberge im Neih der Todten, bis fich fein Grimm ge- 
legt hat, und ihn jo denn wieberbrädte; er fieht aber das Zu 


fühne diefer Hoffnung und steht jelbft davon ab. Alſo laßen 
Sie und die Meinung vom Schattenreih der Morgenländer 
näher beberzigen, und von frühauf unterfuden, mas etwa ber 
erfte Anlaß dazu geweſen? was man fi urſprünglich dabei 
gedacht habe? 

A. Ohne Zweifel dad Grab, die bleibende ewige Wohnung 
der Todten; nur daß fie fie nicht als tobt betrachteten; fie ſchil⸗ 
derten fie (jüßer Wahn!) ala noch Iebend in ihren Gräbern. Dieſe 
nannten fie daher Häufer der Ruhe, bleibende Wohnungen des 
Friedens. Ich habe einige Gedichte der Araber gelejen, da fie Die 
Gräber ihrer Freunde als Wohnungen befuhen, mit folchen noch 
im Grabe fpredhen, den Staub ihres Haufes befeucdhten ober be= 
pflanzen: Kurz in Drient tft dies ein alter und verbreiteter Wahn 
gemwejen, der fi) bei den Ebräern noch ſpät Hinabziehet und zu 
mancherlei Traditionen, aud von Geſprächen, Gefihten, Schmerzen, 219 
Neifen in den Gräbern Anlaß gegeben. Weil man fih nun die 
Seele als einen Schatten, als einen belebten Hauch dachte: fo fette 
man fie wohin? als in unterirrdiihe Gegenden, in einen Ort der 
Ruhe und der völligen Gleichheit. Dies its, mas die Klage Hiobs 
fo rührend finget, daß Könige und Sklaven, Knete und ihre 
Dränger da alle frei, alle fich glei, ruhig aber kraftlos feyn, wie 
e8 ein Gliederloje Schatte, ein Nervenlojer Hauch ift. Sie fehen, 
daß dies alles nur Wahn war. Man Hatte die Todten jo lieb, 
daß man fie fih auch im Grabe noch nicht als tobt denfen konnte, 
denken mochte; man belebte alfo auch ihren Schatten im Grabe. 
Das Leben der Macht, der Wirkſamkeit war verftriden; nun irren 
fie, wie Kraft- wie Gliederloſe Wefen unten im Todtenreihe. Da 
rauſchen ftille traurige Ströme, da wohnt der König nichtiger 
Schatten: da fpielen Erbebezwinger noch ihre Scenen, fie fünnen 
fih von den Träumen der Erde nicht loswinden; es find aber 
nichtige Schatten-Scenen. So oft bittet David, Gott folle ihm 
hier noch Freuden⸗ und Siegslieder geben, denn tm Reich der 
Todten jet alles ftunm: da finge man feine Dankgeſänge über 
bezwungene Feinde. Und der philofophifche Verfaßer des Prediger- 


— 367 — 


buchs, den Sie mir als einen Zeugen der unſterblichleit anführien, 
ſagt kurz und gut: 

220 Was deine Hand zu wirken findet, 

das thue friſch, ſo lang' du Kräfte haſt: 

denn kein Geſchäft, und keine Kunſt, 

auch keine Wißenſchaft und keine Klugheit 

iſt in dem Schattenreich, wohin du einſt mußt wandern. 

Erinnern Sie fi Ihres Qßians und feiner Celten. Seine 
Heldenväter, die ihr Tobtenreih in den Wolfen haben, greifen 
nad dem Schwert, aber es tft Wind, es ift eine vöthliche Wolfe: 
denn ihr Arm ift felbft Schatte, ein Hauch, der mit der Luft ver- 
flieget — Und mie fie, mie die Ebräer haben alle alte Völker ein 
Reich der Väter und Seelen gehabt, wo jedes das Geſchäft fort- 
trieb, das es bier auf Erden zu treiben gewohnt war. Dieje ver- 
ſammleten fi auf einer grünen Aue, jene in Wolfen und fahn 
den Thaten ihrer Enkel zu; die Morgenländer, die dem erften 
Begrif des Grabes treu blieben, ſetzten es unter die Erde. Das 
alles ift nur geliebter Wahn; fein ſichrer Begrif von der Unfterblich- 
feit der Seele. Er ift Schatte, mie die Materie ſelbſt, davon er dichtet. 

E. Jeder Schatte jegt ein Weſen voraus: der Wahn felbft 
ift_ ein Schatte der Wahrheit. Würde der Wahn der Unfterblich- 
feit, wie Sie befennen, wohl fo allgemein gewejen oder geworden 
jeyn, wenn er nicht einen allgemeinen Grund im Herzen oder in 
der Tradition des Menſchengeſchlechts gehabt hätte? 

221 A. Am Herzen ward Wunſch, Freundſchaft, Hoffnung, die 
den füßen oder bittern Traum gebar, die ihn auch wahrſcheinlich 
zur allgemeinen Tradition machte. Sollte der Menih umkommen 
wie das Vieh? wollte man nicht gern mit den entichlafnen Seini- 
gen, den Vätern, den frühgeftorbnen Kindern leben? Bei den Mor- 
genländern gab ohne Zweifel die Sündfluth den eriten großen Anlaß 
zur bichteriichen Fortbildung des Reichs der Todten. — Bedenken 
Sie, was für Eindrud auf die fünftige Sage diefe ungeheure Bege- 
benheit, das Herabſinken einer ganzen lebenden Welt machen mußte. 


1) Mic : der Schatten reich, 


— 368 — 


In dieſen Tagen lebten die Weltbezwinger, 

die von den Söhnen der Götter mit Menſchentöchtern erzeugt, 

Gewaltige waren, 

die berühmten Helden der alten Zeit.*) 

Das waren nun die Rephaim, Rieſen die unter dem Waßer 
ächzen, deren Stimme man vielleicht in den brüllenden Meeres- 222 
wogen, deren Bewegung man im Erdbeben oder im Sturm ber 
See zu bemerken glaubte. Das find die älteften gigantifchen Be⸗ 
mwohner des Todtenreihe; mit der Zeit milderte fi dieſe Sage 
und e8 ward — eben die ftille Berfammlung der Todten, die 
Hiob, Die die Ebräer fhildern. Noch mwandelten immer aud 
Heldenfchatten drunten; Schattenfünige ſaßen auf Schattenthronen; 
ja ganze Königreiche, Städte und Heere der Erſchlagnen waren 
unten: (weil ja bei den Morgenländern alles feinen Geiſt Batte, 
nicht blos Perfonen, fondern auch Dinge, Werkzeuge der Macht 
und des Stolzes). Da befam nun dies unterirrbifche Reich mit 
der Zeit auch einen König, Beltal, den König Kraft- und Weſen⸗ 
loſer Schatten drunten: der Scheol wurde ein Pallaſt, ein unbe- 
zwingbares Neih, mit ehernen Pforten und Riegeln. Den Raub, 
den er einmal befam, lies er nie los und keine gefangene Seele 
fonnte ihm abgefauft werden. Noch im N. T. hat diefe Mytho- 
logie viele Begriffe gegeben, vom Könige, vom Bezwinger der Hölle 
und [des] Todes, der Pforten aufthat, die niemand aufthun, ber 
Mächte bezwang und Seelen entlich, die niemand bezwingen und 
retten konnte. Es giebt ſehr ungefchidte Deutungen, wenn mar 
dieß jedesmal auf unfern Begrif der Hölle und des Tode an- 
wendet; das Bild des Helden und Weltregenten wird aber ſehr 
groß, wenn man im rechten Umfange der alten Dichtung bleibet. 223 


*) 1 Moſ. 6, 4. Der Name IB ſelbſt hat von bem, was unter- 
fintt, vom tiefen Grunde und Meeres Grunde den Namen. In mehrern 
Bildern komt der Scheol als Grund einer untergefuntnen Welt vor, und 
die Rephaim, die Schattengeftalten haben in Hiob und ben Propheten immer 
etwas Gigantifche® mit fih. Die Stellen vom Scheol hat Scheib (diss. 
ad cantic. Hiskiae) mit Critit geſammlet. 


Der Machthaber über Menfchenjeelen, (Er, der des Todes Gewalt 
hatte) ward jetzt ein ungerechter Ujurpator und ber Gefalbte 
Gottes drang ihm feinen Raub ab. — Sie jeden, m. Fr., ganze 
vier Jahrtauſende waren die Menſchen ohne Beiftand gegen dieſe 
furchtbare Schatten - Mächte; Sklaven, die ihr Lebenlang in Banden 
und Furcht des Todes zittern mußten. Daher rühren denn aud 
ſolche betrübte Hisfias Klagen! ſolche Muthlofigkeit beim Anblid 
des Todes, dem andre Nationen als Helden entgegengingen. Das 
Ebräiſche Volt ift noch hierinn Eins der ſchwächſten der Erde. Die 
traurigen Bilder ihres Schattenreich8 quälten fie mehr, als daß fie 
fie hätten tröften können: fie waren vielleicht ärger als der Glaube 
einer völligen Vernichtung — 

E. Ich habe Sie ausreden laßen, m. Fr., und ihre hiſto⸗ 
riſche Deduktion des Todtenreiches iſt mir wie die Klage eines 
Betrübten, der gern unter Schatten irret, geweſen: Sie haben 
dieſe Reiche, wie es ſcheint, ſehr durchſtudiret. Sehen Sie aber zu 
den Sternen hinauf: das iſt das Buch der Unſterblichkeit, das Gott 
uns, das er allen Völkern jede Nacht aufſchläget. Denken Sie an 
den erquickenden Morgen, der jeden neuen Tag das Symbol unſrer 
Auferſtehung, ſo wie der Schlaf das Bild des Todes iſt — lauter 

224 redende, überall verſtandne Symbole! Wißen Sie aber auch feine 
andre Hoffnung, die frühe gnug den Menſchen offenbaret wurde, 
um ſie gegen die Schrecken des Grabes zu ſichern? Von wem 
heißts ſchon?*) 

Er lebete vertraut mit Gott 
und weil er mit Gott lebete, 
war er nicht mehr; 

Gott hatt' ihn aufgenommen — 

A. Sie halten diefe Sage, wahrſcheinlich das Fragment eines 
alten Liebes, doch nicht gar für eine Erzählung von der Himmel- 
fahrt Henochs? Sie ift der fanfte Nachhall eines Frühverftorbnen, 
der nicht au den Jahren feiner Väter und Brüder gelangte. Wenn 


*) 1 Mof. 5, 24. 
Derders ſammtl. Werte. XI. 24 


Kinder noch Feine Begriffe von der andern Welt haben, jo fagt 
man ihnen: „dein Bruder ift bei Gott! Gott Bat ibn jo früh 
weggenommen, weil er ihn liebte, weil dein Bruber jo fromm 
war.” Die erfte Welt war noch in foldher Kindheit — 

E. Ich gebe es gern zu, und allerdings ſollte die frühe Weg— 
nahme eben den kindlichen Eindrud machen, den Sie bemerkten: fo 
wie mehrere Völker es jagten und glaubten: „Dielen frommen 
und Schönen Züngling haben die Götter entführt, dies fanfte un- 
ſchuldige Mäbchen hat Aurora geraubet.” Erlauben Sie mir aber 
zu fagen, daß ich diefe Milderung der Worte kaum gnugfam biefer - 


Erzählung glaube. Die durdgängige Tradition auch fogar andrer 225 


Völker hat einen reichern Begrif damit verbunden, und die Poeſie 
der Ebräer hat augenſcheinlich darauf fortgebauet. „Gott nahm 
ihn zu fih, Gott nahm ihn in feine Herberge” ift nachher mehr⸗ 
mals das ausgezeichnete Wort des Schickſals der Lieblinge Gottes 
in jener Melt geworben; und ohne Zweifel ftammte der Begrif 
von diefem älteften Freunde Gottes Henod ber. Er lebte in böfen 
Zeiten und war ein Eifrer um Gottes Ehre: vermuthlich warb er 
verjpottet, verfolgt, wie nachher der Bruder feines glorreichen 
Schickſals, Elias; Gott wollte ihn aljo auch, wie dieſen, nod 
zulegt auszeichnen. Vielleicht nicht jo glänzend wie Elias, aber 
gewiß eben fo herrlich führte Gott feinen Freund in feine unfterb- 
liche Wohnung ein. So veriteht Paulus den Ausdrud: fo nimmt 
ihn das letzte Buch der Schrift im Bilde der beiden Zeugen auf 
der Wolfe: fo hat ihn auch der verwandte Drient verftanden. Die 
Araber haben eine Menge Fabeln von dem meifen, fronmen, ein- 
jamen, eifrigen, weißagenden, verfolgten, verfpotteten Idris (jo 
nennen fie Henoch) den Gott in den Himmel aufnahm, und der 
im Paradiefe wohne. Andre Völker fegten ihn auf Albordj, den 
glänzenden Berg der Götterverfjammlung, jo wie aud die Trabi- 
tion von feinem Umgange nicht mit Jehova, ſondern Elohim redet. 





Diefe Lehrende Wegnahme ward alſo bald ein Hoffnungsreider 226 


Idiotismus, ein Vorbild der Aufnahme andrer Gottesfreunde — 
A. Welder? außer Elias erinnre ich mich feines Beifpiels. 





— 371 — 


E. Abraham mar ein Freund Gottes, wie Henoch, und Sie 
wißen, mie auögezeichnet es bald hieß, der Gott Abrahams, 
Iſaak und Jakobs; Gott aber ift nicht der Todten fondern der 
Lebendigen Gott, ihm leben fie alle.*) Für dieſe Welt ftarben 
diefe Väter, ohne Genuß der Verheißung, die Gott ihnen gegeben ; 
fie gingen in die Wohnung ihres himmlischen Freundes, in ein 
befres Kanaan über; und die VBerfammlung der Väter warb alfo 
der ſchöne Familien⸗ und Volksausdruck der Hebräer, ihr Reich der 
Todten, oder der Beßerlebenden. Sie waren, wie Abraham, wie 
Henoch, im Paradiefe ihres Freundes. 

A. ch hielt den Ausbrud für nichts ala das Beifeken der 
Leiche in die Familiengrüfte. 

E. Allerdings hielt dieſe äußerlihe Sitte, die jedem auf 

227 feinen Stamm eingeſchloßenen Volf, das feine Vorfahren liebt, 
mit Recht werth ift — allerdings hielt fie diefen Glauben veſt und 
machte ihn dem Auge finnlih; mit nichten aber erichöpft fie ihn. 
Abraham ward verfammlet zu feinen Vätern, ob cr gleich nicht bei 
ihnen begraben ward, und Jakob wollte ins Scattenreich zu feinem 
geliebten Sohn fahren, ob er ihn gleich für zerrißen von einem 
Thier hielt. Sie erzählten eben felbft, wie alle Völker der Erde 
auch die wir Wilde nennen, eine ſolche Verfammlung der Väter 
im Reich der Seelen glauben und es tft wunderbar rührend, mit 
welcher Freude der Vater gebt, dajelbft feinen Sohn, der Sohn 
den Bater, die Mutter das Kind, der Freund den Freund zu 
empfangen. ch will ihnen eine rührende Todtenklage als Probe 
hievon mittheilen; in Reifebejchreibungen giebt eine Menge ſolcher 
Zeugniße und Proben. Das waren nun Völker, die im Schatten 
gingen und allein auf die alte Tradition fortbauen mujten; da 
bildete fich jedes fein Todtenreich,, feine Verfammlung der Väter nad) 
feinen Begriffen, nad) feiner Yebensart aus. Der Ebräifche Stamm 


*) (58 wirb bier aus Worten des N. T. nichts erwielen; ber Erweis 
bes N. T. (Matth. 22, 32. Ebr. 11, 13—16.) nimmt vielmehr felbft 
daber noch mehr Evidenz, da im A. T. auf diefe Begriffe fortzebauet worben. 

24* 


— Mm— 


blieb an den Begriffen feiner Väter und da es Hauptrubm des 
Stammes war, daß Abraham, daß feine Väter Freunde Gottes 
gewefen, follte der Gott, der feinen Freund bier geliebt, der ihn 
mit Bertröftungen bis an den Rand feines Grabes geführt hatte, 
follte er ihn im Grabe verlaßen? ihn der dunklen Nacht des 
tyranniſchen, gierigen Schattenreihd geben? Eben jetzt, fagte ihr 228 
Glaube, zeige er fih als Freund und öfne ihnen gaftfreundlich 
feine lichte glänzende Wohnung. Er nahm ihn zu fid — ift 
der Schöne Ausdruck auch der Pfalmen. 

A. Mir fällt Einer bei; er ift mir aber ſehr dunkel. 

E. Bir find eben jebt zu Haufe und wollen ein paar der⸗ 
felben, ehe wir ung trennen, lefen. Der Eine Elingt faft wie ein 
Abendgebet, und einige haben ihn fogar. für ein Grabmal des 
Dichters jelbft gehalten: 

Hört alle Völker! 
horcht alle Bewohner der Welt! 
Ihr Menſchenſöhne, ihr Heldenfähne, 
der Reihe und ber Arme höre zu. 

Mein Drund fol Weisheit reden, 
auf kluge Lehren finnt mein Herz; 
mein Ohr foll hohe Weisheitsſprüch' auflaufchen,*) 
verfchlungne Räthſel If’ ich fingend auf. 

Was fürchte’ ich mich in unglüdfeelgen Tagen, 
wenn mich das Unrecht meiner Feinde drängt. 
Die fih auf ihre Kraft verlaßen, 22% 
und ihres groffen Reichthums rühmen fich. 

Kann ihrer Einer denn auch feinen Bruder 
vom Tode kaufen 108? 
Kann er für ihm auch Gott ein Lößgelb geben? 
Nein viel zu theur ift eine DMenfchenfeele, 
in Ewigkeit bringt er kein Lösgeld auf. 


*) Der Dichter bei der Eitter borcht auf ein Lied, als ob e8 ihm aus 

den Saiten zutöne. Lyriſche Poeſie, Gefang und Inftrumentalmufil waren 

damals vereinigt. Das Räthſel, das er auflöfen will, iſt das Glüd ber 
©ottlofen, wie der folgende Vers faget. 





— 73 — 


Damit er etwa immerwährend Iche? 
Daß er nie fchaue feine Gruft? 
Er muß fie ſchaun: denn auch die Weifen fterben, 
fo wie der Thor, wie ber Sinnlofe ftirkt ,*) 
und laßen Fremden denn ihr Gut. 
Das Grab ift nun ihr ewig Haus, 
iR ihre Gezelt von Zeit auf Zeiten Bin. 
Und trügen Länder ihren Namen; 
der Dann im Ruhm?) Hleibt auch nicht ewig bier, 
er wird im Tode gleich dem Thier geachtet, 
er muß binmweg. 


Dies iſt ihr Schichſal; alfo fallen fie: 
und ihre Nachwelt — bie fingt auf fie Lieber! °) 
Wie Heerden wurden fie ind Schattenreich getrieben, 
ba naget fie der Tod; und die Gerechten werben 
am Morgen berrichen über fie. 
Ihr Bild ift bei den nichtgen Schatten brunten, 
da wohnen fie.) 
Und meine Seel wird Gott dem Todtenreidh ent- 
taufen; 
Er nimmt in feine Wohnungen mid auf. 


Drum zage nit, wenn jemanb mächtig reich wird, 
wenn feines Haufes Pracht ſich hoch vermehrt; 
er wird das Alles nicht im Zode mit fih nehmen 
und feine Pracht geht nicht mit ihm hinab. 
. Solang er lebete, that er fich wohl, 
unb lobt auch dich, wenn bu dir wohl zu thun weißt; 
bald geht er ein in feiner Väter Wohnung, 
fein ewig Haus und ſieht das Licht nicht mehr. 
Jetzt ſtolz im Glück und ohne Sinn; 
bald gleich dem Bieh und iſt dahin. 


a) Thor und Sinnlos find Synonymen, wie fie ber letzte Vers bes 
Pſalms erflärt. 

b) Dann im Ruhm) ift der Berlihmten Einer, bie Rändern ihren 
Namen gaben. 

c) Ich entfcheide e8 nicht, ob Hier Ruhm⸗ oder Spottlieder verſtanden 
werben? Bon beiden indeß wißen fie im Schattenreiche nicht®. 

d) Den Worten 75 >37 wuünſchte ich eine glückliche Erläuterung. 





— 34 — 


A. Ih Habe den Palm nie in dem hellen Zuſammenhange 
wahrgenommen. 

E. Und er ift dem Wortverftande gemäß; auch die Unter- 
ſcheidung, davon wir redeten, ift unverlennbar. Die blos finn- 
lichen Seelen, die fich brüften und praßen, nur wohlzuleben wißen 
und ohne Verſtand find, werden wie Schaafe berabgetrieben, da 
(gräßliches Bild!) der Tod an ihnen naget; die Seelen ber Ge- 231 
rechten entlauft Gott dem Orkus und nimmt fie in feine Wob- 
nungen auf. Jene verweien, ein Raub des Todes; und die Ge- 
vechten herrſchen über fie am Morgen, d. i. bald, frühe, wie nach 
der Nacht des Schlaf? ein Lichter Morgen hervorgeht. Der andre 
Pſalm fett diefen Unterjchied noch mehr bervor; da Gott felbit den 
Leichnam feiner Heiligen auch im Grabe in Schus nimmt und 
ihnen aus der Nacht des Grabes einen verborgnen Richtweg in bie 
Wohnungen feines Lichtes zeiget. 

A. Ich verftehe den Pſalm eben fo wenig, mie den vorigen; 
er fol ja das Gebet eines kranken Priefters jeyn, den Gott mit 
Speife und Trank reichlich nähret; der aljo um feine baldige 
Miedergenefung bittet — 

E. Er iſt fo fehr das Gebet Davids, ala einer feiner eigen- 
ften Pfalmen: jein Ausbrud und perſ onlicher Charakter ſind von 
Vers zu Vers kennbar.“) 

Beſchütze mich Gott: denn ich vertrau auf bich. 
Ich ſprach zu Jehovah: mein Gott bift bu! 
Mein Glüd hangt ganz an bir.) 
Die Heiligthümer feines Landes 232 
bie halt’ ich hoch; °) 
an ihnen bangt mein Herz. 
Laß andre vielen Götzen bienen, 
und fremde Gaben ihnen fchenten. 


a) Pf. 16. 

b) Statt >> ift vielleicht >> zu lefen; wenn man bie gewöhnliche 
kühne Hettung 71993 53 nicht vorzuziehen Luft bat. 

e) Ich leſe: TR Om IRARITIER DWSTTP2: das einige 
Miſt nur verſetzt; und bie Stelle ift ganz im Aufammenbange. 





233 


— 375 — 


Blutopfer ſinds; ich will damit nicht opfern, 
will ihre Namen nicht auf meine Lippen nehmen. 
Jehovah iſt mein Erbtheil und mein Becher. 
Du haſt mein Loos mir reich beſtimmt. 
Mir fielen ſchöne Fluren zu: 
mir warb ein glänzend Theil. 
Drum will ih den Jehovah preifen, 
ber mich fo wohl berietb; 
auch Nächte durch wallt nach ihm meine Bruſt. 
Stets ift Jehovah mir vor Augen: 
Er ift mein Schuß: drum want’ ich nicht. 
Und darum ift mein Herz erfreut; 
mein Innerſtes jauchzt auf in mir. 
Ya aud mein Leichnam wird einft fiher wohnen: 
denn meine Seele läßeft du 
dem Schattenreiche nicht: 
bu läßeſt deinen treuen Diener nicht 
die Grube der Berwelung ſchaun; 
bu wirft mir Weg zum Leben zeigen, 
der Freuden viel vor deinem Artgeficht, 
Bergnügen viel bei bir in Ewigfeit. 


Mid dünkt, der Pſalm ift nad feinem Anhalt ſowohl als 
nad) dem Charakter Davids Sonnenllar. Die Ausbrüde: „Goti 
ift mir zur Rechten (db. i. er ftreitet als Freund mit mir und für 
mich) Gott habe ihm ein jchönes Erbtheil gegeben, das ihm fein 
Bater nicht angeerbt Hatte (in Jehovahs Lande die Krone) dies fei 
ihm durch Gottes Rath und 2008 zugefallen (mie einft den Stäm- 
men das ihre und Gott ihn in feinen Drangfalen oft berieth) deß⸗ 
wegen bange er auch jo veit an Gott, verlange nad ihm, halte 
das Heiligthum Jehovahs hoch und walle nah ihm zu Tag und 
Nächten, wolle mit ausländifhen Götzen⸗Königen und ihren Opfern 
nichts zu Schaffen Haben, Jehovah ſei fein Erbtheil und jein Becher 
d. ti. ein geerbter goldner Freudenbecher, die Ehre und Zierde bes 
Haufes, fein Föftliches Erbtbeil, dad er gegen nichts umtaufche” — 
dünkt Ihnen das alles nicht augenſcheinlich und für David charal- 


— 316 — 





teriſtiſh?*) Es ift Zug für Zug aus feinem Leben und aus 
andern Pſalmen erweislich. 

A. Und weiter — 24 

E. Der Gott, der ihm bier Freund, Vater und Erbtheil 
war, wird ihn auch in der Nacht des Grabes nicht verlaßen: (da 
ruhe fein Leichnam eigentlih unter Gottes Schuß;) feinen treuen 
Chaſid werde er nicht dem furdhtbaren Todtenreich geben; ihm aus 
dem Duntel des Grabes einen Weg in feinen lichten Pallaft zeigen, 
ihn da Gaftfreundlih ald Vater und Freund aufnehmen. — Sie 
ſehen völlig den Begrif, den die Wegnahme Henochs gab, den 
die Berfammlung der Chaſidim, der Gottesfreunde, Abrahams, 
Mofes u. f. fefter prägte, den fpäter die Wegnahme Elias beftärkte 
und der enblid das Paradies, die Wohnung der Väter, dad ewige 
Gaftmahl am Bufen Abrahams ward — Begriffe, die wir no 
im N. T. finden und die in ihm eben vergeiftigt, aufgellärt, ſchön 
beveftigt werben, wie injonberheit das letzte poetifche Buch der Bibel 
zeiget. 

AH. Man jagt aber, die Ebräer haben die Aegyptiſche Mytho⸗ 
logie von den Inſeln der Verjtorbnen gehabt — 

E. Zwei Dichter, die Aegyptiſche Bilder lieben, Mofes und 
Hiob Haben einmal den Ausdrud vom jchnellen Ueberſchiffen in 
jene Welt; das ift aber auch alles. Platz gegriffen bat dieſe 
Mythologie bei den Ebräern gar nit, und konnte auch nidt; 
denn fie hatten viel beßere Gefchlehts- und Nationalbilder ihrer 235 
eignen Sage. Bon keinen Höllenrichtern, von feinem Charon 
wißen fie; und ihr Beltal ift nichts weniger, ala einer diefer Ge- 
ftalten. Ein König Kraftlojer Schatten ift er, wie Sie bemerften, 
und Sceol, die Hölle ift fein Neih, feine Wohnung. hr Reich 
der Väter bei Gott ift wahrlich nicht aus Aegypten. 


———.. — — 


*) Daß David in dieſem Pſalm ein Vorbild des Meßias babe ſeyn 
ſollen, iſt aus dem N. T. erfichtlich; gehört aber nicht hieher. Hier iſt 
vom Charalter der damals redenden Perſon und dem Inhalt des Pſalms 
nach ſeinem Zuſammenhange die Rede. 





236 


A. Und die Auferftehung der Todten? 

E. Die ift ein Begrif, zum Reiche des Meßias gehörig, da 
dieſes durch die Bilder der Propheten jchon beveftigt war; davon 
wollen wir Tünftig reden. Für beute gute Nacht! wir gehn beide 
dem Bilde des Todes in die Arme und nach der fpätern analo- 
giſchen Dichtung iſt der Guten Seele auh im Schlaf in Gottes 
Paradiefe. 


1. Hiobs Bejhreibung vom Todtenreiche.*) 


Warum doch ftarb ich nicht im Mutterſchoos? 

Warum zur Welt gelommen entfchlief ich nicht ? 

Warum daß Kniee mir entgegen kamen? 

Warum daß ih an Brüften faugen lernte? 
So läg' ih nun und raftete, 

ich fchlief und hätte Ruh, 

mit jenen Königen und Herrn ber Erbe, 

die Wüfteneien fih zu Gräbern baun: 

mit Goldesreichen Fürſten, 

die noch ihr Todtenhaus mit Schätzen fülleten. 

Wie eine Frühgeburt wär' ich verſcharrt, 

wie Kinder, die nie ſahn der Sonne Licht — 
Da hören die Boshaften auf zu drängen, 

da ruben die Ermüdeten. 

Da fingen die Gefangnen Freiheitlieder, 

Sie hören nicht des Treiberd Stimme mehr. 

Der Kleine und der Große find ba gleich: 

ber Knecht ift frei von feinem Herrn. 


IR meine Lebenszeit nicht kurz und nichtig? 
Er laße ab von mir, daß ih nur Ruhe fchöpfe! 
Ch ich hingeh' und nicht mehr wieberlehre, 
in® Land der Finfterniß und Todesnacht; 
ind Sand der Dunkelheit und öden Schatten, 
wo Wirrung berrfcht, wo felbft der Morgen Nacht if. 


a) Hiob 3, 11. Kap. 10, 20. 


— 57585 — 


2. Züge aus einem Arabiſchen Troftgediht über 
die verftorbne Mutter eines Helden”) 


Bir halten Schwerter unb Tanzen bereit; 
und dennoch tödtet, ohne Angrif, uns das Schidfal. 
Wir Kalten fehnelle Roße auf den Beinen; 
und doch entreißen fie uns nicht 
des fchnellen Unfalls Züde. 


Ber wars, der je die Welt nicht liebgewann? 
Und doc ift fein Genuß der Liebe möglich. 
Dein Antbeil am Geliebten dieſes Lebens 
ift Theil am Traumgeſicht der Phantafie. 


Erbarmen Gottes fei das Hanuthe) 
des Angefihts, dep Schleier Schönheit ifl. 
Berweit ihr Körper gleich im Bauch der Erbe, 
unfrem Anbenten bleibt ex frifch und nen. 
Der Ehre Teppich iſt auf Dich gebreitet, 
denn beine® Sohnes Herrſchaft blüht. 

Es tränle deine Lagerftäte?) 
ein Regen aus den Morgenmwolten , 
milde wie beine Hand einft war. 


Du baft an einen Ort dich hinbegeben, 
wo weder Siid- noch Norbenwind 


b) Es wirb biehergefetst, um die Armuth bes Troftes der Bölter zu 237 


erproben, die ohne Hoffnung der Unfterblichkeit find. Der Hauptgebante 
ber Arabiſchen Gedichte diefer Art iſt: „Das Grab ift unfre ewige Woh—⸗ 
nung, die Todten find Bewohner bes Staubed, der auf und alle wartet. 
Ihre Stimme daſelbſt ift ein bumpfer Todtenlaut* u. f. — Wie ungemein 
ſchönere Ideen find dagegen im Berfolg der Ebräifchen Poefie und Lehre 
langfam aber fortfchreitend entwidelt, davon das folgende Gebicht eine fimple 
Probe geben fol. — 

c) Das wohlriechende Streupulver, das die Araber aufs Angeficht bes 
Todten fireuen: der Schleier ift bier Leichenfchleier der Verſtorbnen. 


d) Ein gewöhnlicher Wunſch auf das Grab bei den Arabern. Sie 238 


glaubten, auch die Todten würden dadurch erquidt. Sie bepflanzen ihre 
Gräber mit immer grünenden Bäumen und mit Blumen , welche ihre Weiber 
alle Freitage mit Waßer beiprengen. S. Reiste zum Motanabbi, aus 
beßen Ueberſetzung bie Züge dieſes Gebicht8 genommen find. 


BAT] 


— 379 — 


den füßen Duft bes Rauchwerlks zu bir bringet, 
mit feiner fanften Kühle Dich beiprengt, 

In eine Wohnung, wo jebweber Wohner Frembling, 
ewig verbannt von feiner Heimath ift 
und feine Stride find zerftüdt. 

Da wohnt die Züchtige, die Wohlverwahrte, 
rein wie das Waßer in der Himmelswolte, 
verjchwiegen, wahrhaft im Geſpräch; 
der Arzt der Schmerzen hat fie nun gebeilt. 

Unfer Einer begräbt ven andern, 
die Nachwelt wandelt auf ber Vorwelt Haupt. 
Wie manches Auge, einft getüßt, 
iſt nun mit Kiefelflein und Sand erfüllt! >) 

239 Wie mander Bat die Augen jet verſchloßen, 
ber feinem Unfall je zublinzete. 
Nimm Zuflucht, Saiphobbaulab, zur Geduld! 
und kämen Berge beiner Gleichmuth bei? 
Abwechſelung der Zeit erfuhrft bu viel; 
bei allem Wechſel blieb dir ſtets Ein Muth. 


3. Das Land der Bäter, 
nah Sfraelitiihen Begriffen und Begebenheiten. 


Er ift hinweg! Wohin ift er gelommen? 
Elohims Freund — mir finden ihn nicht mehr. 

Elohims Freund — Gott Hat ihn weggenommen, 
bei feinem Gott ift Er.) 

Hinunter finten wird der Böſen Rottele) 
Berfinfen in des Meeres tiefen Schlund, 

Da toben, Schatten fie, fih jelbft zum Spotte: 
ein öder Höllengrund. 

Ihm aber nach ziehn bie gerechten Schaaren 
der Bäter ein in Gottes Paradies; 


e) Eine Anfpielung auf das Augenpulver, ein belannter Pub im 
Morgenlande. 
239 f) 1 Mof. 5, 24. Henochs Aufnahme. 
g) 1 Mof. 6, 17. Die Suündfluth: wahrſcheinlicher Urfprung der 
Rephaim bes Todtenreiches, Hiob 26, 5. 6. 


— 880 — 


Zum Kanaan, wo fie hier Fremde waren, 
das ihnen Gott verhieß.") 
Da wird dein Freund, Elias, einft erfcheinen') 240 
ein raſcher Sieger, vor des Himmels Thor: 
Ihn tragen Feuerroße, glei den Deinen, 
Jehovah, Hoc empor. 
Auch feine ſtillen Treuen läßt dem Staube 
des Grabes Er, ihr Freund, ihr Schutzgott nidt:*) 
Er giebt fle nicht dem Schattenreih zum Raube, 
er führt fie an das Licht. 
An deiner Hand, Jehovah, will ich ſchreiten 
durchs neblichte, durchs dunkle Tobesthal.') 
Sie Hält mich veſt, fie wird hinauf mich leiten 
in deinen Eprenfaal. 
Ob Erd’ und Himmel meinem Blid verfepwinben, 
ob Seel’ und Leib verſchmachtend untergehn; 
Dich Hab’ ich, Herr, did werd' ich wiederfinden 
in fhönern Himmelshöhn.”) 
Und HL’ und Schatten führt einft der gefangen, 
der ſelbſt hinab zu dunkeln Schatten ftieg. 
Sie folgen ihm: ich feh im Licht fie prangen! 
O Tod wo ift dein Sieg?") 


h) 1 Mof. 25, 8. Berfammlung der Bäter: vergl. Matth. 22, 32. 
br. 11, 13—16. 

i) 2 Rdn. 2, 11. 12. vergl. Bf. 68, 18. Habat. 3, 8. 240 

%) Bf. 16,10.11. DB. 23,4. 6. Pf. 73,23. 24. 

m) 1. 73, 25.26. n).1 Cor. 18, 5657. 


241 


242 


vom. 
Inhalt des Gefpräds, 


Bon der Poeſie Über die Vorſehung. Ob fie die Begebenheiten der 
Belt zu einem Schachfpiel mache, mit welchem Gott fpiele? ob ihre 
Contraſte Schellenflang und Opium fir die menfchlihe Seele feyn? 
Entwidlung einiger Sagen, aus der die fpätern Gemälde der Bor- 
fehung hervorgehn. Bott als Rächer verborgner Sünden in Kains 
Geſchichte. Rührende und poetifhe Züge ihrer Erzählung. Gerech— 
tigleit und Milde der Ahndung Gottes. Uebergang einiger lebhaften 
Berfonificationen in die Poefte fpäterer Zeiten. Vom fchreienden Blut, 
Hagenden Sünden, dem Bogel der Blutradhe u. f.. Erklärung der 
Worte Gottes zu Kain. Bom Gericht der Sündfluth. Wie iiber Be⸗— 
gebenheiten ber Art zu urtbeilen fei? in welchem Ton bie Sagen von 
diefer Begebenheit abgefaßt feyn? Neue Geftalt der Erbe nad der 
Sündfluth. Bon Riejenfagen, den Götterföhnen, dem Tageregiſter im 
Kaften, dem Oelblatt, dem Regenbogen, dem Duft des erften Opfers 
auf der verjüngten Erde. Warum ber Regenbogen das Zeichen der 
neuen Huld ward ? Vom Regenbogen der nordifchen Poefte, als einer 


Brücke der Riefen. Vom Thurm zu Babel. Zweck und Ton der 


ganzen Erzählung. Was der gewaltige Jäger vor bem Herrn bebeute? 
Stiller Spott diefer Sage. Charakter fümmtlicher Babelspoeſien ber 
Schrift. Jeſaias Todteulied auf den König zu Babel. Bon Gott, dem 
Unterbrüder der Tyrannen. Nechtfertigung ber kurzen Gegenfäte in 
den poetiihen Schilderungen ber Vorſehung. Eindrud diefer Boeflen 
anfs menfchliche Herz. Bergleihung der morgenländifhen mit andern 
Dihtungsarten in biefer Lehre. Gemählde der Borfehung aus Hiob. 
VBerbienft diefer Boefie für die Menfchheit. Beilage einiger Pfalmen 
und bes älteften Pindarifhen Lobſpruchs über die einzige wahre 
Menſchenweisheit. 


In einem geſellſchaftlichen Geſpräch wurden rührende Proben 


der Vorſehung erzählt, wie ſonderbar manche Menſchen fürm 


— 392 — 


Unglüd gewarnt, ja ihm aus dem Rachen gerißen, mie liebreich 
bie Kinder der Armen und Guten oft verforgt, wie unvermuthet 
Thaten der Bosheit and Licht gelommen, durch das Geſetz der 
ftrengften Wiedervergeltung beftraft und das Gebet der Reblichen 
oft auf recht wunderbare Weiſe erhört worden u. f. Jeder ber 
Geſellſchaft hatte aus feiner Erfahrung ein Scherflein dazu zu 
geben und man ging fanft gerührt aus einander. Unfre beiden 
orientalifchen Freunde blieben zuſammen und Alciphron fing nad 
feiner Denkart alſo an: 

Alciphron. Dünkte Ihnen, m. Fr., das Geipräh, momit 
mir uns unterhielten, nicht hie und da zu menſchlich? Es wird 
fo Hein und enge, wenn wir jeden Zufall ala eine göttliche Vor⸗ 
jehung betrachten, alles moralisch anfehen wollen und jede Hand- 
lung, die mir felbft thun follen, mit ihrem Glüd und Unglüd auf 
Gott zurüdichieben? Sie haben mir zwar in unfern Geipräcdhen 
hierüber jehr die Gegenparthei gehalten; fie befänftigten mich aber 
eher, als daß fie mich überzeugten. Auch in der Poefie der Mor- 
genländer find Menſchen die Steine des Schachbretts Gottes, bie 


der unfichtbare Spieler, wie er will, nicht wie fie wollen, ziehet 243 


und lenket. Das Tann allerdings, wie Sie neulich bemerften, 
ihrer Poefie eine Art Würde und Einfalt geben; ich fürchte aber 
nur in Worten; oder es wird eine Art benebelnder ſchädlicher Ein- 
falt. Sie madt den Menſchen ftumpf und ſchwach, daß er fi 
zulett in den Willen Gottes ergiebt und nicht handelt; er fingt, 
preifet Gott in Hymnen, kurz er feiert. Die Poeſie, von der wir 
reden, mit ihren erhabnen Contraſten, wie Gott wirkt und regieret, 
ift eine Art von Schellenflang, der unſre Wirkung endet, ein fanf- 
te8 Dptum der Seele. Sie preifet Gottes Thaten und unterläßt, 
menfchlihe Charaktere auf ihrem Gange nah Glück und Unglüd 
auszeichnend und treffend zu ſchildern. Sie überglänzt den Men⸗ 
ſchen mit Gottes Licht und verblendet ihn über fich ſelbſt. Ober 
wenn der Menſch gar ein Richter über Gottes Wege nach feinem 
engen moraliihen Maasitabe feyn will: welch ein kurzſichtiger, 
barter, eigenliebender, ftolzer Richter wird er! Die Poefie ber 


— IB — 


Morgenländer, wenn man fie mit ihrer Geſchichte zufammenbält, 
zeigt Died gnugſam. yene fliegt, diefe kriecht: dieſe ruhet ober 
thut böfes; jene tröftet fih und fchreibt es Gott zu — damit ift 
die Sache geendet. Mich dünkt, von diefer Seite hätte fie dem 
Verſtande und Herzen des Menſchen gewiß nicht aufgeholfen; fie 
bat ihn vielmehr zurüdgehalten und in einen Talar göttlicher Be- 

244 {chreibungen verhüllet oder ihn auf Stelzen einiger Contrafte der 
göttlichen Regierung gefegt, mo er entweder fällt oder ſchwerlich 
gehen lernet. — 

Eutyphron. Ich ſehe, m. Fr., die Wurzel Ihrer Vor: 
urtheile ift immer noch in Ihnen; und ohne fie auszureuten, ift 
alle Rede über das Schöne irgend einer Poefte der Erde vergeblich. 
Was nüßte die erhabenfte Dichtung, wenn fie Opium für bie 
Seele oder ein Schleier fürs Auge wäre, die wahren Geftalten und 
den Gang der Dinge nie kennen zu lernen? — — Über, wie 
meinen Sie, wollen wir die Sache betraditen? Nicht wahr, aus 
einzelnen Sagen und Begebenheiten bat ſich doch auch diejer Begrif 
und dieſe Darftelung der Vorficht Gottes erzeuget? fie hat fih an 
alten Begebenheiten veftgehalten und geht noch bei ſpäten Anwen⸗ 
dungen aus ihnen hervor; mollen wir nicht aljo den Strom in 
feine Quelle verfolgen? Denn ich befenne Ihnen, ich mag nicht 
gern über allgemeine Sachen ins Blaue des Himmels bineinreben. 

A. Ich auch nidt; und die Geſchichte Kain, Abels, der 
Sündfluth, der Himmelsftürmer, Sodoms und Gomorrhas, ber 
Erzväter find da gleich vor und; aus denen ſich wahrjcheinlich alle 
ſolche Begriffe erzeugt haben — 

E. Alſo zuerft Abels Geſchichte. Sie fteht wie eine traurige 

245 Blume mit Blut bezeichnet da, und ift in ihrer Einfalt jo poetiſch, 
ala fie der laute Ermeis der ftrafenden Gerechtigkeit und Vorſehung 
Gottes jeyn follte: 


Wo ift bein Bruder Abel?*) 
was baft du getban? 


*) 1 Mof. 4, 9. 


— I — 


Die Stimme ber Blutfirdöme deine® Bruders 
fchreien zu mir von der Erb’ empor. 
Und nun verflucht ſeyſt du, verbanmet von ber Erbe, 
die ihren Rachen aufgetban, 
Blutſtröme deines Bruders 
von deiner Hand zu trinken. 
Wenn du fle bauen wirft, 
wird fie dir ihre Jugendkraft nicht geben; 
verbannt und flüchtig wirft du feyn auf Erben. 

Was bewundern Sie mehr in diefer Stimme, Nichterfirenge 
oder Batermilde? Wer follte bier rächen, wenn Gott nicht rächte? 
Der Bater? Sohnes Blut an feinem eriten Sohne? Und follte es 
ungeftraft bleiben? Bruberblut follte wie das Blut eines Thieres 
vergoßen jeyn und Menjchen in Härtigfeit und Bosheit verwilbern? 
Und wie, wenn der Mörder feine That verichwiegen? wenn er 
fi) verzweifelnd gegen den Vater felbft empört hätte? Die ſtumme 
Erde fonnte dem Stammvater das Verbrechen nicht jagen; aber fie 
fagte e8 Gott, das Blut rief und foderte Strafe. Bemerlen Sie, 
wie natürlich und ftarf bier alles dargeftellt ſei: das fchreiende 
Blut, (in dad man lange die lebendige Seele des Menſchen ſetzte) 
der hallende Boden, die Mutter Erde, die das Blut ihres Sohnes 
von der Hand ihres Sohnes empfangen, es gleihlam mit Abfcheu 
eintranf, und dem Mörder Tünftig das willige Vermögen ihrer 
Jugendkraft verſaget. Bemerken Sie, wie gerecht Gott ftraft: denn 
fein Fluch — entwidelt nur die Folgen der Sünde. Im Haufe 
des Vaters konnte der Mörder nicht mehr bleiben; da war er fi 
jelbft und allem ein Gräuel. In ber Gegend des Mordes Tonnte 
er nicht bleiben: das Blut rief, der hallende Boden ſchrie; er jagt 
jelbft: „alles wird mich erichlagen, was mich findet: verbannt und 
flühtig muß ih feyn auf Erden.” Da thut nun der fchonende 
Richter, was der Verzmweifelnde nicht zu thun wußte. Er entfernt 
ihn aus der Familie, von den Gegenftänden der Erinnerung und 
des Abſcheus: er giebt ihm ein andres, vermuthlich unfruchtbares, 
bergigtes, aber ihn ficherndes Land; ja er verbürgt felbft jein Leben. 
Das Blut des Bruders ift alfo ohne Blutrache ausgeföhnt: der 


Lebendige ift geſchont und geftrafet. Halten Sie diefe Gefchichte 

nicht für ein Mufter des väterlichen Gericht3? und die Sage davon, 

war fie nicht Zug vor Zug ſchreckend, warnend, milde, rüglih? — — 
247 A. Hätte ſie auch dieſe Wirkung gethan? 

E. Allerdings. Erinnern Sie ſich des ſchreienden Bluts noch 
in den letzten Büchern der Bibel. Die Seelen, die unter dem 
Altar liegen,“) find vergoßenes Blut, wie Abel bier (dem Bilde 
nach) gleichjam ald Opfer am Altar lag. Sie ruffen Race; aber 
ihnen wird ein weiß Gewand gegeben: fie werben aus dem Blut 
gezogen, und auf den Tag der Rache Gottes vertröftet. So ruft 
durchs ganze A. T. hin das Blut der Propheten und Zeugen; 
Gott Hat fich ihre Rache vorbehalten: Er ift der Richter aller Ge- 
mwaltthätigfeiten, inſonderheit aller verborgnen Sünden und Xafter. 
Worüber fein Menſch Hagt, das Klagt zu ihn; was niemand auf 
Erden ftrafen will und kann, muß er Kraft feines Vater- und 
Richteramts über das Menſchengeſchlecht ftrafen — 

Berborgne Siuden ftellet er vor ſich, 

ruft unerlannte Sinden in die Schranken 

vor fein Gericht — *”) 
Das iſt der fortgehende Idiotismus der biblifhen Poefie; und 
wahrlich eine hohe lehrende Idee fürs Menfchengefchledt. — Damit 
wedte Gott das Gewißen der Menfchen und machte es wenigſtens 
durh Schreden und Furcht milde: er mollte ihre Hände vom Blut, 

248 auch vom Blut der Rache rein erhalten; und ließ deßhalb die 

Stimme der Mißethaten fo laut reden — 

A. Diefer Endzwed ift aber nicht erreicht: wie ſtark wütet 
die Blutradhe bei den Araberñ noch jet und auch bei den Ebräern 
muften ja Noah und Moſes fo gar lindernde Gefeße geben. 

E. Daraus folgt nichts, ald daß ihre Flamme im Herzen 
biefer Völker ſchwarz und tief glühete: mithin alles heilſam war, 
was fie nur einigermaaffen milderte und ſchwächte. Gift des 
Bafilisfen quillt in den Gedichten der Araber aus dem Leichnam 


*) Offenb. 6, 9. “*) Bf, 90, 8. 
Herders fjümmtl. Werte. XI. 25 


— 3888 — 


des Erſchlagnen: es quillt ſolang, bis er gerächt d. i. mit neuem 
Blut befleckt iſt.) Ein Vogel des Bluts ſchwingt ſich von ihm 
auf und verfolgt den Mörder: fo erbt ſich die Blutrache von Ge— 
ſchlecht zu Gefchleht Hinunter und der Rächer wird wieder des 
Rächers Beute. Jeder Ton, jede Stimme, die in dieſer wütenden 
Leidenſchaft das Herz der Menſchen mild macht und ihre Gedanken 
aufwärts richtet, ift eine Gabe des Himmels; und es liegt nicht 
an der Lehre und Sage diefer Dichtkunft fondern am Nachgeift der 
Morgenländer felbft, wenn fie fie nicht mehr angewandt haben. 
Indeßen find auch Ichöne Proben der Mäßigung in Pjalmen und 24% 
Propheten unverkennbar. Wie ſtark und gefaßt klagt Hiob: 

Mein Aug’ ift trübe von Weinen, 

auf meinen Augenliedern rubet fchon 

bes Todes Nadıt: 

und Raub ift nicht in meinen Hänben 

und mein Gebet ift rein. 

Erde, verdede nicht mein Blut! 

Ohn' Aufbalt töne mein Gefchrei | 

Denn fieh fürwahr im Himmtel ift mein Zeuge, 

mein Zeuge wohnet in ber Höb. 

Gleißredner nur find meine Freunde; 

mein Auge thränt au Gott! — 
Sanfte Empfindungen der Art find der ſchönſte Swed der Poefie, 
jo wie die Ehre der Menjchheit. 

A. Wäre es aber nicht beßer geweſen, wenn ber Richter als 
Bater, der Frevelthat Kains lieber zuvorgekommen wäre? und jeber 
Frevelthat lieber zuvorkäme, als daß er fie ftrafte? 

E. Er thats, wie ers thun konnte: er thuts noch jedesmal, 
wie ers thun kann: er fommt wahrlich zuvor. 

Jehovah blidte nicht auf Kains Opfer 

und Kain zürnte ſehr und ſchlug fein Anti nieder. 
Da ſprach Jehovah: warıım zlrmeft du? 

warum fchlägft du dein Antlig nieder? 


— — — — 


*) Man ſehe eine gute Anzahl Arabiſcher Gedichte dieſes Inhalts in 
der Hamafa und viele Proben diefer Gefinnung in ihrer Geſchichte. 


250 


— 37 — 


Nicht alfo; thuſt du gut, fo blickſt du auf, 

und thuft du böſes; fieh, fo lauret Sünde 

(wie ein Blutdürſtiger)*) vor beiner Thür. 

Gr will an did und du follt ihn bezwingen — 
Das mar alles was den Kain gefagt werden fonnte. Gott fpricht 
nit ihm, wie mit einem unmilligen Finde, enträthfelt ihm, was 
in feinem Herzen ſchlafe und vor feiner Thür, wie ein Löwe, wie 
ein wildes Thier laure. Die nahe Sünde konnte nicht wahrer und 
jchredlicher gefchildert werden. Und mas Gott an Kain that, thut 
er an jeden, wenn man_auf fein Herz und auf die Stimme Got- 
tes Acht hat — 

A. Wie wollen Sie aber den Richter der Sündfluth rechtfer- 
tigen, der, einiger Ritter und Rieſen wegen, die ganze Welt ftraft, 
alles Lebendige, auch die Thiere untergehn läßt, weil „auch Die 
Thiere ihren Weg verberbet hätten,“ und acht Berfonen mit dem, 
was ein Kaften beherbergen Tann, als allein Unfchuldige rettet? 
Gab die Sage nicht eben den engſten und partheilichſten Eindrud, 
der feyn Tonnte? 

E. Den Nicter der Welt rechtfertigt Teine Kreatur: Schid- 
fale, die über die ganze Erde gehn, find Naturgefege, denen fich 
jedes Einzelne unterwerfen nıuß; auf den Ruinen einer verfunfnen 
Königsſtadt oder eines untergegangnen Welttheils läßt fich übel 
philofophiren. Was vollends die Thiere anbetrift, folgen fie nicht 


— — nn 


*) 7727 ſteht im masculino, mit dem alfo MXUFT im masculino 
conftruirt werden muß, wie denn auch im folgenden Vers zwei masculina 
folgen. Da 7727 im Arabifchen vom Auflauren der Thiere gebraucht wird 
(f. Lette observ. ad quaed. loc. V. T. in symbol. liter. Bremens. P. III. 
p. 563.) fo ift kein Zweifel, daß Sünde bier als ein blutdürſliges Thier, 
etwa ein Löwe ober Tiger perfonificirt wird, das mit Hunger und Blut- 
gier vor Kains Thür laure. Lette führt zwei VBerfe aus dem Tograi an, 
die ſich hieher fehr paßen: „Meine Freundin ift, wo Feinde lauren, wie 
Löwen lauren um das Lager ber jungen Rehe.“ Auch die Ueberwindung 
der Sünde konnte Kain unter keinem fliglichern Zeitmäßigern Bilde vorge- 
ftellt werden. Das Bild einer unzüchtigen Weibsperfon gehört gar nicht 
bieber: denn mo gab e8 damals folde? — 

25* 


— 388 — 


immer dem Menſchen-Schickſal? und könnte man fie, wenns aufs 
pbilofophieren ankäme, ihres täglichen Mißbrauds wegen nicht 
gar aus der Welt hinaus vernünfteln? Alfo müßen wir Diele 
Begebenheit und Sage nicht metaphyfifch fondern phyfiih und mora- 
liſch beurtheilen und fehen, mas fie damals für Eindruck machen 
folte. Alle Relationen vom Berberben des Menſchengeſchlechts 
fingen in ihr fo beftig und traurig — 

A. Weil fie aus Niefenfagen hergenommen find und eben 
durch die Erretteten zu und famen — 

E. Defto urfprünglicer find fie. Das Angftlihe in ihnen 
und im ganzcır Tageregifter des Kaftens bürgt für ihr Alter. Wer- 
gleihen Sie nun unſre Jahre, unfre Kräfte mit den Jahren und 
Kräften jener Titanen, der Erftgebohrnen der alten Welt, die Das 
Mark der Schöpfung noch in fich fühlten und es allein auf Unter- 252 
drüdung, Ueppigkeit, MWohlluft und Bosheit anmwandten. Was 
kann jegt noch Ein böſer Menih von Kraft und Anfehen thun, 
in feiner Minute von Lebensjahren; und jene dort in einem Jahr⸗ 
taufend? Vielleicht mit vieler Cultur und mit allem Uebergewicht des 
Vermögens zur Bosheit. Da glaube ich der alten Tradition gern: 


Jehovah fah, der Menfchen Bosheit mar 

groß auf der Erbe: 

worauf fie tichteten, worauf fie fannen, 

war Bosheit jeden Tag. 

Ihn reute, daß er Menſchen je gefchaffen — 
Menſchen nehmlich, die jo frühe und fo weit verwildern könnten 
in Bosheit. Er handelte alfo auch hier ala Richter und Vater: 
er gab der Erde eine andre Einrichtung — 

A. Eine andre Einrihtung? 

E. Offenbar. Nach der Sündfluth nimmt das Leben der 
Menſchen augenſcheinlich ab und wie man diefe große Ueberſchwem⸗ 
mung auch erfären mag, jo gehörte fie gewiß zu den Naturgeſetzen 
der Sich bildenden Erde. Aus Waßern hat fi diefe langſam 
gebildet: Waßer haben lange und in verſchiednen Perioden über 
ihr geftanden ; in den erjten Zeiten ihrer Bewohnung waren Ueber- 


— 389 — 


253 ſchwemmungen überall häufig. Vermuthlich alfo war damals nur 
noch die Höhe der Erde bewohnbar: alles andre lag noch unter 
den Waßern. Irgend ein Stoß, ein weſentlicher Zufall fonnte die 
Waßer nochmals über das bewohnte Land zurüdbringen: vielleicht 
veränderte fih gar die Are der Erde; furz, alles Tam in bie 
Bahn, in der es noch jetzt fchreitet und das erfte heroifche Beit- 
alter ſollte wahrjcheinlih nur der Zuftand eines fich bildenden 
(und mißbildenden) Menſchengeſchlechts feyn, der auch zu dieſer 
Beränderung der Erde vom Schöpfer berechnet worden war. Zum 
Anfange der Bildung unfres Gefchlechts gehörte ein langes Leben, 
wie es jebt zu unferm Zuftande kaum mehr gehöret: ohne Zweifel 
gehörte auch dazu die damalige Beichaffenheit der Erde, mie fie für 
uns nicht mehr ift. Nach der Sündfluth machte Gott einen neuen 
Bund, eine neue Ordnung der Jahrszeiten, der Sitten, Geſetze, 
Lebensalter; von bier geht eigentlich, obwohl auch noch im Schwachen 
Dämmerliht, unſre Geſchichte an. Jene tönt uns nur wie eine 
Helden- und Niefenfabel über die Fluthen einer verfunfnen Welt 
hinüber — 

A. Sch wollte, daß wir mehr von diefer Niefenfabel wüßten. 

E. Wir folltens nit; und auch die wenigen Neihen, die 
wir daher haben, bat man übel gemißbraucht. Was Hat man 

254 nicht aus den Götterföhnen, die bei den Menfchentöchtern chliefen, 
gefabelt ? und doch ift der Ausdruck „Götterſöhne“ d. i. Helden, 
Heroen, Leute von überwiegender Macht, Schönheit, Stärke, in 
allen Heldenjagen gäng und gäbe — aber wir fommen vom Siel. 

AU. Ich glaube nit. Daß dies traurige Erdenfchidjal, wenn 
es Naturgefeg war, nun als eine Strafe der Riefen und ihres 
Beiſchlafs mit den Menfchentöchtern betrachtet wurde, daß Noah 
fih als den einzig Erretteten, den Liebling Gottes, den Einzig 
MWürdigen der Erde anfehn lernte — 

E. Er wars und Sollte fi fo anjehn lernen. Wie fein Name 
jagt, verichaffte Gott dur ihn der Erde Ruhe wider die Tyran- 
nen. Er war gequält worden und ſah ſich, miewohl auf eine 
beſchwerliche ängjtliche Weife, allein errettet. Wie enge und einge- 


— 30 — 


ſchloßen ift feine Haushaltung im Kaften! wie fehnlich öfnet er das 
Fenſter und läßt Vögel fliegen! wie lieblich und ſtärkend ift das 
erfte gefundne Delblatt der Taube! — Die ganze Erzählung enthält 
fein Wort des Spottes oder der Schadenfreude über die unterge: 
gangene Welt; vielmehr das Angjtgefühl einer Heinen Schaar von 
Erretteten, die den erſten lieblichen Regenbogen als ein Zeichen ber 
wieder fehrenden Sonne und ©ottesgnade anfehn, die auf den 
Schlamm der alten Mutter beinah mit einer träumenden Freude 
treten. „Jehovah roch den lieblihen Geruch ihres eriten Opfers 2% 
und fegnet die Erde und will fie nicht mehr verderben,” Tann 
das eigne Gefühl der Menſchen ftärker ausgebrüdt werden, als da 
Gott jelbft gleihfam für fie fühlt? Er fieht den wieder Tehrenden 
Regenbogen felbft mit Vaterfreude; und macht ihn, den Abglan; 
feiner Güte, den erjten Blid des fröhlichen Weltauges auf die 
dunkeln Wollen, zun Zeichen feines ewigen Bundes. Er umgiebt 
die Erde neu mit einem jungen, untrennbaren Reihentanz fröhlicher 
Stunden, und in dem fchreitet fie noch — 

A. Ich habe die Geſchichte nie fo betrachtet und mich oft 
gewundert, wie ein flüchtiges Wollenphänomen das Denkmal eines 
ewigen Bundes werden mochte? — 

E. Eines fo veften Bundes, daß, wie Jefaias*) dieſe Gejchichte 
ſchön deutet, ehe Berge und Hügel binfallen könnten, ehe Dies 
Berfprehen Gottes manfe. Die Nordiihe Tradition hat daher nad) 
ihrer Weife den Regenbogen jo gar zu einer Brüde gemacht, die bis 
ans Ende der Welt feftftehe und nur von den legten Himmelsftür- 
mern zeriprengt werden fünne — freilich eine gefrorne harte Ablci- 
tung dieſer alten kindlichen Sage, die indeßen den Sinn derſelben 
zeigt. Auch die andre jehr verbreitete Gloße jcheint daher, daß da 
die Welt nicht mehr durch Waßer untergehn jolle, fie durch Feuer 256 
untergehn werde — Kurz, ın. Fr., der Menſch ift ein moraliſh 
Geſchöpf und ſoll Alles moraliſch anjehen lernen. Reingelpült jollte 
die Erde werden durch die Waßer der Sündfluth und die Erret- 


*) Jeſ. 54, 7— 10. 





— 391 — 


teten Sollten in ihre neue Welt den Eindrud bringen: wie furdtbar 
Gott übermäcdhtigen ! Frevel ftrafe. Noahs Gefege find daher ſcharf 
und beftimmt: fie zeigen von der Höhe des Verderbens voriger 
Zeiten und find gleihfam das erfte Völfer- ja ich möchte jagen, 
Thier » und Menſchenrecht auf der verjüngten Erde. Sobald im 
Thurmbau zu Babel nur wieder der Schatte einer ähnlichen Helden - 
und Riefenthat vorlommt, erwacht auch der himmlische Richter wieder — 

A. Da find wir bei einer Schönen Fabel! Alle Menfchen find 
von Einer Zung’ und Sprache; und ala ob fie fie ewig hätten 
haben können, ala ob folh ein Wunder der Verwirrung nur im 
minbeften noth geweſen wäre, müßen fie einen Thurm bauen, deßen 
Spite bis in den Himntel reihe, Gott muß es nöthig finden, den 
Bau zu befehen und fid im Ernſt dafür zu fürdten. Er meint, 
fie würden anders nicht ablaßen, ala bis er — ich weiß nicht wel- 
es Wunder an ihrer Lipp’ und Sprade thut, damit es gefchehe, 


257 was ja immer gejchehen wäre, fie zogen in die Welt. Berzeihen 


Sie, daß ih die Erzählung an ſich und als Probe des himmliſchen 
Richteramts — einfältig finde. 

E. Wenn Sie fie jo betrachten, ijt fies; fehen Sie aber, wo 
fteht die Sage? - 

U. Zwiſchen lauter Gefchledtregiftern.*) 

E. Und hinter Gejchlechtregiftern, die fih ſchon nah Spra- 
hen, Ländern und Völkern theilen. Der Sammler diefer Sagen 
wer aljo jo Hug als wir und wufte, daß jich mit Völkern, Stän- 
men und Wanderungen auch Spracden theilen; eben deßwegen aber 
ſchob er diefe einzelne Sage hinzu, um etma zu zeigen, Durch wel: 
hen Zufall die Menfchen in die härtere Nothwendigfeit gekommen 
jeyn, aus einander zu ziehn und fich zu theilen — 

A. Und dies mar ber findiihe Bau in ben Himmel? 

E. Er wird hier auch kindiſch vorgeftelt und hat einen fin- 
diiden Ausgang. Weil fie von Einer Lipp’ und Sprade find, 


*) 1 Mofe 11. 
1) Mſe.: übermüthigen 


— IN 


wollen fie gen Himmel bauen, und eben da fie gen Himmel bauen, 
werden fie verichiebner Lipp’ und Sprade. Sie wollen ein Zeichen 
haben, daß fie ſich nie zerftreuen, und werben zerftreuet — Ber 
Zwed der Erzählung fpringt ins Auge. 

A. Und Gottes Niederfahren und Yurdt dabei ? 

E. Iſt offenbar Spott, wie denn die ganze Erzählung eine -i- 
Spottjage ift. Haben Sie nie den Pſalm gelefen?*) 

Warum denn toben die Bölter ? 

und denten auf nichtig Ding? 

Der Erden Könige ftehn zufammen, 

die Fürſten berathen zufamınen wider Jehovah —- 

Der im Himmel wohnet, lacht, 

Jehovah jpottet ihrer — 
Da haben Sie den beften Commmentar der ganzen Erzählung. Sehen 
Sie ins vorige Kapitel: wer herrichte in Babel, wer erbaute Babel ? 

A. „Der gewaltige Jäger vor dem Herrn, Nimrod.“ 

E. Und warum beißt er ſo? Doc nicht der platten Urfache 
wegen, daß er Füchſe und Hafen auf der Ebne Sinear, die gar 
fein bergiges, waldiges Land ift, jagte? und Füchſe und Hafen 
jagt man ja auch nicht vor dem Herrn. Das einfältigfte Sprüd- 
wort alfo, das je auf der Erde gejagt ward, mwenn es dies jagen 
wollte! — Was heißt im Ebräiſchen Jäger? 

A. Ein Auflaurer. 

E „Ein gewaltiger Jäger“ heißt alfo ein gewaltjamer Auf: 
laurer, ein Berüder der Menſchen durdh Lift und Madt. 
Das war Nimrod, das ift er nah der gejammten Tradition in zu 
Orient, die von ihm fehr rei ift, und eben das beurfundet Die 
Erzählung, über die Sie Ipotten wollten. Cr fand eine fchöne 
Ebne, er fand Materialien und willige Hände, feine Reſidenz und 
Königsthurm hoch hinauf zu bauen. Dem zahmen Wilde, das cr 
zuſammen jagte, bildete er ein, es jei ein Zeichen ihrer Sicherheit, 
ihrer dauernden Bereinigung; feiner Abfiht nach ward das Dent: 
mal feines Stolzes und ihrer Sklaverei. Nun wißen Sie, daß dic 





) pſ. 2. 


ältefte Zeit den Himmel als eine Wohnung Gottes betrachtete; mas 
fih ihm nahete, erhob fich alfo zur Region Gottes und beeinträchtigte 
ihn gleihfam auf feinem Throne. Gerade fo redet dieſe Erzählung: 
Wohlauf wir wollen Stadt und Thurm uns baun, 
deß Haupt bis in den Himmel reiche: 
und Gott ahınt ihren hohen Entſchluß demüthig nad: 
Wohlauf! wir wollen niederfteigen 
und ihre Tippen da verwirren — 
fie habens angefangen zu vollführen 
und werben nicht® fih Kindern laßen 
bis fie ihr Wert vollführt — u 
Bemerken Sie den fortgehenden Spott nicht offenbar ? 
A. Mich wundert, daß ich ihn ſonſt nicht bemerft habe. 
E. Und der größefte Spott liegt im Ausgange der großen 
260 That. Sie wollen in den Himmel fteigen: Gott fürchtet ſich, traut 
ihnen zu, daß fie von ihrem Riefenprojeft nie ablaßen werden und 
— legt nur den Finger an ihre Lippe, darf nur den Hauch ihrer 
Zunge verändern, und da fteht die Trümmer; fie heißt Verwir⸗ 
rung, Babel, ein emwiges Denkmal ihres dur ein Nichts geftürz- 
ten Stolzes. Dem Geift der Begebenheit folgt nun aud bie 
Erzählung nad: fie ift die fchönfte Probe eines mit kalter Einfalt 
durch die That felbft gefchilderten Spottes, da Größe und Klein- 
beit, der Menjchen Hinauffteigen, Gottes Herabſteigen, die Sicher: 
heit und Kühnheit jener, die Unficherheit und Furchtſamkeit dieſes 
nebft dem einzigen Mittel, wie er fih zu retten weiß, ftil und 
Ichweigend neben einander gejegt werden. Das vermwirrte Lüftchen 
des Mundes ift mehr als Blit und Donner: der Ujurpator des 
Throns Gottes fteht befhimpft da: Er und fein Königafig find -— 
Spottnamen. „Das war der gewaltige Menfchenjäger vor dem 
„Angeficht Jehovahs,“ der fich gleichjam mit ihm maas, der ihm 
vor Augen auf den Schultern einer betrognen und unterjochten 
Menfchenheerbe in den Himmel fteigen wollte. — Daß meine Erflä- 
rung wahr fei, bezeugen alle PBoefien der Ebräiſchen Dichter auf 
Babel, die genau den Ton und Charalter diefer eriten Sage haben. 





“ 


— 394 — 


AU. Diefen Ton und Charalter? 


E. Alle find Spottliever auf Babel genau im Umriß und 261 


in den Zügen diefer Sage. Wie bier, jo ift Babel fortgehend Der 
Name des Stolzes, der Pradt, der Kühnbeit, der Bölferunter- 
johung, der Berüdung und Tyrannei der Erde. Wie bier, jo 
its immer das Sinnbild der Frechheit gegen Gott, des Baus ober 
Auffhmwingens zum Himmel, des Thronend unter den Sternen; 
zugleich aber auch der Verwirrung, der Vermüftung, des Spottes 
Gottes über menſchliche Rieſenprojekte. Die ftoe Königin Hat 
jevesmal den QTaumelbecher in der Hand, aus der fie, wie bier, 
zuerjt den Völkern der Erde einſchenkt, zulegt felbft trinken muß; 
ihre Herrlichkeit Liegt denn als Trümmer da und heißt — Babel 

A. Sie geben mir eine Ausfiht über alle Propheten: denn 
wirflih die PVoefien über Babel find in dieſem Charalter. 

E. Die Poeſien über andere Völker find eben jo beitimmt 
und charakteriftiih, wie wir zu andrer Zeit jehen werden. Noch 
im legten Buche der Schrift fteht Babel in dem Bilde da, in dem 
ich es Ihnen bier zeige: fie hat den Taumelbecher in der Hand, 
womit fie die Völfer trunfen gemacht: auf ihrer Stirn ift der Name 
der Läfterung, der Kühnheit gegen Gott: fie geht endlich wie ein 
Mühlſtein unter, und über fie fhallt ein Spott= und Trauerlied, 


genau in dem Ton diefer jpottenden Sage. Die große Treiberin 262 


der Welt, die Menſchenjägerin vorm Angefiht Jehovahs, wird 
immer zu Schanden. 

U. Mir fällt aus Jeſaias ein ſchönes Trauerlied bei, das 
ich mir des Tobtenreihs wegen befannt gemadt hatte.*) Es ift 
eben der jtile Spott, der bumpfe Flötenton darinn, deßen Sie 
erwähnten. In langem Elegiſchen Sylbenmaafje gehts daher, wie 
der Klagegefang um einen Todten, und ift voll Hohn von Anfange 
bis zu Ende. 

E. Wollen Sies leſen? 

A. Am Tage, da Iehovah Ruhe wird geben bir 

von deiner Drangfal, Angft und harten Sklaverei, 


*) Jeſ. 14, 2. 





263 


denn wirft bu fingen ein Lied von Babels Könige, 
und alfo fingen: 


Wie rubt der Treiber jekt! 
Die Golderpreßerin feiert nun! 
Zerbrochen bat Jehovah der Unterbrüder Stab, 
die Ruthe der Tyrannen, 


Die die Bölter fchlug in heißem Zorn, 
mit Streichen, denen keiner entmwich, 
und herrſchte grimmig über fie, 
und niemand hielt den Dränger ein. 


Nun ruht, nun raftet alle Welt, 
die Länder fingen ein Feierlied. 
Die Tannen felbft erfreun ſich über bir, 
die Zebern Libanon: 
„Seit du gefallen, kommt niemand binauf, 
„und niederzuhaun.“ 


Das Todtenreih da drunten zitterte auf vor dir. 
Es ging entgegen bir, da du kamſt an. 
Die Schatten regt’ es auf und alle Erdehelden, 
der Völker Könige, alle ftanden 


von ihren Thronen auf, 


willkommten alle dich und fprachen: 
„Auch du bift Schatte geworden, gleich wie wir, 
„auch du uns gleich gemacht.“ 


Hinabgebeugt zu den Todten ift bein Stolz, 
binunter deiner Harfen Siegeston: 
Dein Bett ift unter dir der Wurm, 
der Moder deine Dede. 


Wie bift du gefallen vom Himmel, du Morgenftern! 
Aurorens Sohn! 
biſt Hin zur Erb’ gemorfen, 
der Völker niederwarf. 
Du ſprachſt in deinem Herzen: „ich will zum Himmel hinan! 
„Ueber die Sterne Gottes erhöh' ich meinen Thron! 
„ich werd' hoch auf dem Berge der Bötter thronen 
„im böcften Nord. ° 
„Ueber der Wollen Höben fteig’ ich auf! 
„ih werde gleich feyn dem Erbabenften!! — — 





— 396 — 


Zur Hölle nieder wirſt du geſtürzt 
ins tiefe Grab. 

Und die dich ſehen, blicken hin auf dich, 
ſchaun auf dich nieder: IIſt das der Mann, 
der zittern machte bie Erbe, 
ber Königreiche erſchütterte ? | 

Ringsum bat er die Welt zur Wüfte gemacht, 
bat ihre Städte zerftört, 
bat ihren Gefangenen nimmer eröfnet das Kerlertbor. 

Der Böller Könige alle fohlafen in Ruhm, 
jeder in feinem Haufe, dem Grabesmaal; 
nur du liegft hingeworfen aus beiner Gruft, 
wie eine Mißgeburt.*) 

Bededt mit Leichen, die das Schwert enwürgt, 
die in die Grube fahren mit Schutt bebedt, 
jo Tiegft du da wie ein zertreten Aas: 

Du follteft nicht mit jenen ein Grabmahl haben, 
benn felbft haſt du bein eigen Land verderbt, 
bein eigen Bolt erichlagen. 

Der Uebelthäter Geſchlecht werd’ nicht genannt 
in Ewigkeit! 

Gebt ihren Söhnen den Tod um ihrer Bäter willen! 
daß fig nicht wieder kommen empor und erben das Land, 
und füllen mit Städten umber die Welt.“ 

Aufftehen will ich ihnen entgegen, Tpricht 
Jehovah Zebaoth. 

Ausrotten will ich Babel8 Namen und Gefchlecht, 

und Sohn und Entel, fpricht Jehovah. 

Will fie zur Igelmohnung maden, zum Waßerfumpf, 965 
fie fegen in den Schutt der Verwüſtnng, fpricht 

Jehovah Zebaoth. 


E. Hier fehen Sie die ftolze Treiberin der Völker, die Him- 
melsftürmerin, die Erbauerin ihres Throns über den Sternen; 
und hinten nach — den Spott Gottes über fie, ihre Demütbhigung 


Y 


*) Es ift Jeſaias gewöhnlich, das Gefchleht mit einem Baum und 
ein Glied deßelben mit einem Zweige zu vergleihen. Gin abjcheulicher, 
verworfner Zweig heißt alfo bier ohne Zweifel eine Misgeburt. 





— 397 — 


zur Hölle: fie liegt im Schutt der Verwüſtung. „Die verftörte 
Tochter Babel“ ift der Name und das Sinnbild aller biblifchen 
Poefien über Babel, und mande Züge der Elegie, die Sie laſen, 
find, als ob fie auf Nimrod und den erften Thurmbau gemacht 
wären. Aber wir zerftreuen und auch, wie die Völker, von denen 
wir reden. Der Hauptzug, ben wir jeßo zu bemerken hatten, war 
der, daß die Poeſie Morgenlandes infonderheit darauf aufmerkſam 
mache, wie die Vorjehung des himmliſchen Richters den Stolz der 
Tyrannen breche, wie fie, was zum Himmel fteigen will, zur Hölle 
erniedrigt — 

A. Und das Niedrige erhebt; da find wir bei den hohen 
Contrajten im Gebiet der Vorjehung, von denen ich Anfangs fagte. 
Sie dünfen mir fo eintönig, fo wiederholt — 

E. Wie Ihnen der Parallelismus überhaupt Anfangs dünkte. 

266 Diefe Contrafte find Parallelismus: das höchfte und ftärffte Son, 
das dergleihen Gemälde ganzer Weltfcenen erlauben; find fie nicht 
aber auch Natur der Sache, Anblid der Weltbegebenheiten jelbft ? 
Was fiehet man überall in der Welt ald Ebbe und Fluth, Erhe- 
bung und Ermiebrigung? nichts bleibt, nichts Tann auf Einer Höhe 
bleiben. Alles ift Welle hienieden und vor Gott, mas ift Diefer 
Welt-Tropfe mit allen feinen Riefen und Himmelsftürmern als 
eine auffteigende und zeripringende Waßerblaſe? Heſiodus und 
Homer, Aeſchylus und Pindar können die Wogen der Weltbegeben- 
heiten gegen ben einzigbleibenden Gott des Schilfals nicht anders 
mahlen. Sie mahen eben die Gegenfäße des Niedrigen und Hohen, 
Starten und Schwaden, als ob fie8 aus Orient hätten. Nun 
glaube ich freilih, daß dergleihen Nevolutionen des Schickſals im 
deſpotiſchen Drient häufiger, jchneller, frappanter feyn mögen; im 
Grunde aber find fie überall Ende des Liedes, das Refultat aller 
Menſchen-Geſchichte. Wem bei diejen Contraften nichts beifällt, 
dem ftehen fie leer da: wen fie an Thatſachen und Erfahrungen 
erinnern, dem find fie ein poetifher Auszug aller Gejchichte, 
und ich ſchätze auch deßhalb Hiob, die Propheten und Pſal⸗ 
men hoch — 


— IRB — 


A. Unsere Kirchenlieder wohl nicht minder, wo dergleichen 
Contrafte vom Gange der Vorfehung den Pjalmen nadlallen — 
E. Aud. Freilih klingen fie bier fälter, matter, fremder; a’ 
im Grunde aber find mande Lieder und Pjalmen auf die Bor: 
ſehung beinah die jchönften unfrer Lieder. Einige find fchön ver- 
fificirt; ihr Inhalt ift allgemein verftändlih, ja ich möchte jagen, 
alltäglich. Auch haben genau dieje Lieder ihre Wirkung aufs menſch⸗ 
liche Herz gnug erwieſen: fie find des Unglüdlihen Troft und bie 
Stärke des Armen: fie kommen ihm als’ Stimmen des Himmels 
in feine MWüfte und beruhigen feine Seele. Hiob und die Palmen 
find ein Schat von Bemerkungen und Moral über das menfchliche 
Leben, über Glüd und Unglüd, Stolz und Demuth, wahres und 
falſches Selbftvertrauen und Butrauen auf Gott. Und da überall 
das Auge Gottes, über den Gang der Menſchen wachend, darge: 
jtellt wird, fo kann man fagen, dieſe Poefie habe eben die Einheit 
und Einfalt in die Begebenheiten der Welt gebradt, die fie, mie 
wir bemerkt, in die Auftritte der Natur brachte. Die künſtliche 
Poeſie der Griechen ift bunter Schmud gegen diefe findliche reine 
Einfalt und bei der Celtifchen Poefte, jo jehr ich fie liebe, ifts 
mir immer ala ob ich unter einem bewölkten Abenvhimmel wandle 
Schöne Scenen zeigt fie in Wollen und auf der Erbe; aber ohne 
Sonne, ohne Gott, ohne Zweck, der irgend ein Ende zeigte. Man 
verfliegt zulegt mit dem Lüftchen der Wolle, da man in Orient 3 
auf den Feld des ewigen Gottes veſt ftehet. 
Zu Gott will ich mich menden ‚*) 
zu Gott erheben meine Rebe, 
der große Dinge thut, die unerforfchlich, 
der Wunderdinge thut, fie find unzählich. 
Er gießet Regen auf die weite Erbe, 
und ſendet Ströme auf die dürre Wilfte, 
damit die Niedrigen er hoch erhöbe, 
dag er den Zraurigen zum Glück erbebe. 
Er macht umfonft der Liſtigen Gebanten, 
fie werdens nicht mit ihrer Hand vollführen. 


*) Hiob 5, 8. 





269 


⸗ 


Fraß Blutſaugender Thiere. 


— 399 — 


Die Weiſen fänget er in ihrer Klugheit 

und übereilt den Rath der Ränkerfinder, 

daß ſie am Tage Finſterniß begegnen, 

und tappen, wie zu Mitternacht, am Mittag'. 

So rettet er von ihrem Schwert den Armen, 
hilft dem Verlaßnen von der Hand des Starken; 
und ward des Armen Hoffnung, 
die Bosheit ſtand verſtummt. 

Glückſelig iſt der Menſch, den Gott zurecht weiſt. 
Die Züchtigung des Höchſten halte hoch, 
denn er macht Schmerzen und verbindet, 

Er ſchlägt und heilt mit ſeiner Hand. 

In ſechs Drangſalen wird er dich erretten, 
auch in der ſiebenden berühret dich fein Uebel. 
In Hungersnoth entreift er dich dem Xobe, 
im Kriege von der Hanb des Schwert®. 

Borm Geißelichlag’ der Zunge*) wirft bu dich verbergen, 
nicht fürchten Di, wenn der Verwüſſter einbricht. 
Entgegen lacheſt du dem Hunger, dem Bermälfter, 
und flicchteft dich vor wilden Thieren nicht. 

Der Stein des Feldes ift bein fichrer Gaftfreund, 
des Feldes Thier ift friedlich gegen dich; 
und bift gewiß, das bein Zelt ficher Tiege, 
bu kehreſt heim und findet e8 in Rub. 

Und bift gewiß, daß Zahlreich wirb dein Same, 
daß bein Geichlecht wird ſeyn, wie Gras ber Erbe. 
An Fahren reif gebft du denn in bie Grube, 
fo wie die Garbe reif zur Scheuer eingebt. 


Laßen Sie uns foldhe Lieblinge der Vorſehung feyn und es 
270 wäre unſre Schuld, wenn wir dabei fahrläßig und müßig feyn 
wollten. ch laße einem jeden feinen Geihmad; mir fommts aber 
vor, daß eben dieſe leichten Gegenfähe (die findlichen reinen Bemer- 
tungen über den Lauf der Welt aus dem Munde hochbejahrter 





*) Geißelſchlag der Zunge) ift nach tem Parallelismus der gierige 
Der Bermwüfter ift der Löwe, der im folgen- 
den Ber8 mit dem Hunger zufammen gefett wird, alfo ein bungriger gie- 
riger Verwüſter. Der leute Vers erflärt die drei vorigen deutlich. 





— 400 — 


Weiſen) dazu gehört haben, die zarte Pflanze einer Poeſie des 
Zutrauens auf Gott und feiner ſpeciellſten Vorſehung fürs menid- 
liche Gefchleht zu erziehen. Die Morgenländer haben fie erzogen, 
das ift unläugbar und die älteften Poeſien der Griechen find hierinn 
ganz morgenländifh. Nur in diefer einfältigen Form kann fie aud 
der fimpelfte Menfchenverftand und das gebrüdtefte, ihrer am mei 
ften benöthigte Menſchenherz fafien. Sie find der Spiegel Der Welt 
und das Nefultat des Lebens meifer Altväter. Wie Berge ver 
altern, verfallen Reihe: wie neues Laub wählt, Iproßt neues 
Glüf des Menſchen — fo binden fi Jahrs- und Lebenszeiten, 
Natur »" und Menfhenfcenen und von allem wird Gott der Führer. 
Noch jet hört man, wenn der braufende Moft des Lebens ausar 
gährt hat, erfahrne Weife jo ſprechen, wie Hiob, die Palmen, die 
Propheten Sprachen; und der ungläubige zu raſche Jüngling erfährt 
am Ende, daß fie wahr geredet haben. Am meiften gehen aud 
die Lobſprüche der Vorſehung aus denen Bildern und Geſchichten 
hervor, die wir betrachtet haben und betrachten werden, aus Sünb- 
Huth und groffen Strafzeihen, aus Verwirrung menjchlicher Ent- 
würfe und Entdedung geheimer Webelthaten; da gehen ſie hervor 
und endigen ſich überall in ftile Gottesfurdht und Menfchenmweis- 
heit — ohne Zweifel der größefte Schag, die nüglichite Poeſie und 
Lehre unfres wie ein Schatte vorübergehenden Lebens. Ich wünſchte, 
daß ich ein Gedicht kennte, das die frappantften und rührendften 
Scenen der Borjehung aus unfrer Geſchichte vereinigte; je finpler, 
defto morgenländifcher würde e3 in feinen Hauptzügen werben. 


1. Lobgeſang auf die Hülfe Gottes. 


Gott ift uns Zuverſicht und Macht! 
Eine Hilf’, in Nöthen ftark und treu erfunden. 
Drum fürchten wir uns nicht; und wankte gleich die Welt, 
und fünfen Berge in des Meeres Grund. 
Laß feine Fluthen fchallen, laß fie braufen! 
Laß Berge zittern feiner Majeftät; 


u” 
a‘ 


972 





— 41 — 


noch werden ſeine Ströme 
erfreuen Gottes Stadt, 
des Hocherhabnen Wohnung. 


Gott iſt in ihr! ſie wanket nicht! 
Gott hilft ihr, blickend auf ſie nieder 
zu rechter Zeit. 
Es ſtürzen Völker, Königreiche ſinken, 
Er donnert und die Erde ſchmilzt: 
der Heere Gott, Jehovah, iſt mit uns! 
Er iſt uns Schutz, Iſraels Gott! — 
Geht! ſchauet an die Werke 
des Hocherhabenen! 
Der Länder jetzt zu Wüſteneien macht, 
und jetzt den Kriegen, hin bis an den Rand der Welt, 
Ruhe gebent, 
zerbricht den Bogen und zerſchlägt den Spieß 
und brennt mit Feur die Kriegeswagen auf. 
„Laßt ab und wißet, ich bin Gott! 
„Der Völker König, König aller Welt!“ 


Der Heere Gott, Jehovah, ift mit uns! 
Er iſt ung Schuß, Iſraels Bott! 


273 2. Xobgefang auf die Borjehung. 


Hallelujah! 
Lobſinge den Jehovah meine Seele! 
Lobſingen will ich Jehovah mein Lebenlang, 
Lobſingen meinen Gott, fo lang' ich bin! 


Bertrauet nicht anf Dlächtige, 
auf feines Menſchen Sobn; er ift zu ſchwach! 
Sein Geift entfleucht und Er kehrt in die Erbe, 
und al fein Anfchlag ift dahin. 
Wohl ihm, dei Hülfe der Gott Jalobs iſt! 
Der auf Jehovah feinen Schubgott traut, 
Der Himmel, Erbe, Dieer, 
und was in ihnen ift, erfchuf, 
und ewig Glauben bält. 
Servers füämmtl. Werte. XI. 26 


Den Unterbrüdten ſchaft er Recht, 
und fchaffet Brot den Humgernben. 
Jehovah thut der Blinden Auge auf, 
Jehovah richtet den Gelrlimmeten empor; 
Jehovah liebet den Rechtſchaffenen, 
Jehovah ſchützt die Fremdlinge, 
Waiſen und Wittwen überzählet er, 
und macht zunicht der Unterbrüder Rath. 


Jehovah wird regieren in Ewigleit! 
Dein Gott o Zion von Geſchlechte zu Geſchlecht! 
Hallelujah. 


3. Hiobs Lobgedicht auf die Weisheit. 


Dem Silber bat der Menſch den Ausgang funden, 
den Ort des Goldes, das er gießt: 
bat Eifen aus dem Staub gewonnen 
und Stein zu Erz gefchmelzt. 


Hat Grenzen auch ber Finſterniß gefetet; 
bat jedes Aeußerſte erſpäht, 
den Stein der Todesichatten, 
der Tobesnacdht. *) 


Ein Strom geht auf vom Reiche der Bergeknen:**) 
vom Fuß des Berges ziehn fie ihn empor; 
von Menichen leiten fie ihn weg. 


Die Erb’, aus ihr gebt oben Brot hervor, 
tiefunten wirb fie wie vom feuer umgewählt: 
da Tiegt im ihren Felſen der Sappbier 
mit Goldesſtaub burchfprengt. 


*) Bermuthlid der Tettte Stein in Hiobs Bergwerld - Kunde: gleihfam 
der Ed- und Grenzftein des Reichs der Kinfterniß, der alten ewigen Nacht. 

**) Nach diefer Abtbeilung und Lesart wäre „die Wohnung der Ber- 
genen? das Todtenreich, tiefer als wohin die tieffte WBergarbeit reicht. 
Ströme vom untern Strom der ewigen Bergeßenbeit brechen bervor, unb 
bo werben fie von Menfchen überwunden, beraufgepumpt unb mweggeleitet. 
Doch befenne ich, daß mir die Stelle buntel bleibe. 


2,1 


275 


— ADB — 


Den Weg erſah kein Bergesvogel je: 
des Geiers Auge hat ihn nie erſpäht: 
Kein ſtolzes Hölenthier hat ihn betreten; 
Kein Löwe ging je diefen Gang. 


An Felſen legt der Menfch die Sand, 
umd fehret Berge von der Wurzel um; 
Aus Felſen Tpaltet er die Ström’ hervor 
und mas nur köſtlich if, erfah fein Blich; 
ſpäht auf der Flüße tiefverftedtten Quell ' 
und bringet die Verborgenheit ans Ficht. 
Wo aber aus foll man die Weisheit finden? 
und wo ift bes Verſtandes Ort? 
Der Menih, er weiß nicht ihren Siß, 
im Lande der Lebendgen ift fie nicht. 
Das Meer ſpricht: nicht in mir ift fie! 
Die Tiefe: nicht in mir! 
Auch nicht um Gold wird man fie fih erkaufen; 
tein Silber wäget ihren Werth. 
Kein Gold aus Ophir wird ihr gleichgenchtet, 
Kein edler Onyr und Sapphier. 
Kryſtall und Gold ift nimmer ihr zu gleichen: 
Kein Prachtgefäß taufcht je fie ein. 
Ramoth und Gabiſch ift nicht gegen ſie zu nennen: 
Schöner als Perlen reizet fie. 
Topas aus Mohrenland iſt nichtS zu ihr; 
Das reinfte Gold reiht an fte nicht.*) 


*) Alle diefer Reichthum zeigt abermal vom Idumäiſchen Urfprunge 


276 des Buchs Hiob. Die Ipumäer hatten frühe den Handel über Ezion Geber 


und Elath auf dem Arabiſchen Meerbufen, den bie Sfraeliten erft unter 
Salomo belamen. Daher alfo die Belanntſchaft mit Ophir, Aetbiopien 
und den bier genannten Kofbarleiten. Man bat aus ben Stellen von ber 
Bergwerkskunde, die in dieſem Buch vorlommen, Zweifel gegen fein Alter 
machen wollen; völlig ohne Gewicht. Sobald man Gold und belfteine 
aus den Bergen grub, mußte man auch Bergbau haben, und biefer ift nach 
vielen Beweifen fehr alt. — Nur die Stelle im Buch Hiob: „von Norden 
ber fommt Gold!” Yegt man ganz falih aus, wenn man fie auf den Golb- 
bandel deutet. Der Handel, den Hiob kannte, war ſüdlich iber das Ara- 


1) Mie.: Blick. Er hemmet Ylüße, daß fie nicht mehr weinen; 
26* 


— 4040 — 


Woher denn aus ſoll man bie Weisheit finden? 
Und wo if des Verſtandes Ort? 
Berborgen bat fie fi) dem Auge ber Lebenbgen; 
dem Bogel unterm Himmel tief verfledt. 
Vernichtung und der Tod, fie fprachen: 
wir hörten fernber ihr Gerlicht.‘ 
Gott kennt den Weg zu ibr, 
nur Er weiß ihren Ort. 
Er blidet bis zum End’ der Erb’ hinaus, ” 
ſchaut unter allen Himmeln weit umber. 
Und als dem Wind’ er zumog fein Gewicht, 
und er den Waßern gab ihr Maas, 
und orduete dem Regen fein Geſetz, 
und 309 ben Ungewittern ihre Bahn: 
Da fab er fie und rechnete fie aus,“) 
beftimmte fie, durchforſchete fie tief, 
und ſprach zum Menfchen: „dir ift Furcht des Herren Weisheit! 
„Das Böfe meiden, das fei dir Verftand.” 


bifche Meer; und der Parallelismus jener Stelle rebet vom Golbglanze, in 
dem Gott von Norden ber erfcheinet, wie es die vorigen Geſpräche beutlich 
entwidelt haben. " 

*) Die Weisheit ift Bier noch nicht, wie in den Sprüden Salomo's, 
eigentlich perfonificirt; die Poefle in Hiob ift ungleich älter, als die im den 
Salomonifchen Schriften. Diefe ift glänzend, jene erbaben; dieſe finnreich 
und woblgerlindet, bat aber im minbeflen nicht den Schwung und bie Fel- 
fenftärle, die den Genius des alten Ibumäifchen Buchs bezeichnen. Daber 
ich mich wunbere, wie man ben Verfaßer des Hobenliebes zum Dichter bes 
Buchs Hiob babe machen fünnen — zwei Ertreme der Poeſie und Dentart. 


1) Mic.: wir hörten ferneber nur ihr Gerücht. 


rg 





Tue na 


278 


279 


IX. 
Inhalt des Geſprächs. 


Borwürfe, die den Ifraeliten gemacht werden, und auch auf den Geift 
ihrer Poeſie wirlen follen: ein enger, anmaaflender, ausſchlieſſender 
Gefichtöfreis, müffige oder Lafterhafte Stammväter, Fluch und Men- 
ſchenfeindſchaft gegen alle Böller der Erbe, fo wie gegen die Stänme, 
die ihnen am näcdften verwandt waren. Standpunkt zu @rörterung 
biefer Vorwürfe. Bon Chams Verbrechen und Strafe. Was dieſe 
war? wiefern fie auf Kanaan fallen mußte? Bon ber Trunkenheit 
Noah's, den Zügen Abrahams und dem Recht, das ihm die Kananiter 
ſelbſt zugeftanden. Bon feinem Betragen in Aegypten, feinem groß- 
mütbigen, edeln Charakter. Bon feiner Freundicaft mit Gott. Schil- 
derung berfelben als des ftilleften Ideals der Menſchheit, des ebelften 
Zweds der Erwählung eines Volle, d. i. einer Nationalbildung. Erſter 
Charakter der Ehräiichen Boefie, als einer Freundſchaftspoeſie mit dem 
höchſten Weſen. Stellen aus Jeſaias vom Vorbilde Abrahams. Bon 
den Fehlern der Patriarchen, inſonderheit Jakobs. Ob er den Ehren⸗ 
namen Iſrael im Traum erhalten? Erläuterung ber Geſchichte feines 
Kampfes mit Elohim. Bon Kämpfen ber Sterbliden mit Götteru unter 
andern Nationen. Wefentlicher Unterfhieb und ſymboliſcher Sinn die- 
jer Geſchichte. Jakobs Traum von der Himmelsleiter, feine Begriffe 
von den Engeln. Ob die Segensiprüde auf die Söhne partbeilich 
geweſen? Segen Iſmaels. Gemählde vom Irren der Hagar in ber 
Wüfe. Segen Efaus, Jacobs. Blick auf Kanaanı. Zweiter Charakter 
der Poefie deſſelben, Poeſie eine Landes Gottes und ber Bäter. 
Beilage: einige Poefien Hiobs zu Bezeichnung feines Charakters, ale 
eines Ideals der Glückſeligkeit, Moral, Tugenb eines morgenländifchen 
Fürften. 


Alciphbron. Der Glaube an die Vorjehung, den Sie mir 


aus den Schriften und aus der Geſchichte des Ebräiſchen Volks 
neulich entwidelten und als eine Blüthe fürs Menſchengeſchlecht 





— A006 — 


anprieſen, hat an mir keinen Gegner; ich wünſchte vielmehr, daß 
ihn die Schriften dieſes Volks wirklich auf eine reine und fürs 
menſchliche Geſchlecht theilnehmende Art entwickelt hätten; ſollte aber 
das letzte geſchehen ſeyn? War bei ihnen dieſer Glaube nicht ein 
ſo enger, ausſchließender Nationalglaube, daß man ihn eher men— 
ſchenfeindlich als menſchenfreundlich nennen möchte? Es war das 
einziggeliebte Volk Gottes, ſchon in ſeinen Vorfahren erwählt: kein 
Segen kommt auf irgend eine neue Sproße deſſelben, wo nicht 
zugleich Fluch auf die benachbarten Stämme, ſollten es auch Brü- 
der und nahe Verwandten ſeyn, fiele. Noah kann den Sem nicht 
ſegnen, er muß zugleich den Cham verfluchen: Iſaak kann nicht 
geſegnet werden, ohne daß Iſmael aus dem Hauſe verſtoßen; 
Jakob nicht geſegnet werden, ohne daß Eſau beleidigend zurückge⸗ 
ſetzt würde. So geht es fort. Moſes und Joſua ſchlachten die 
alten rechtmäßigen Bewohner, um dem geliebten Volk Gottes ein 
Land zuzuwenden, das ihnen nach menſchlichen Geſetzen nicht gehörte. 
Sie wißen, wie viel Spott, wie manche Läſterungen über dieſe 
Geſchichte geſagt ſeyn, an denen ich feinen Theil nehmen will, weil zu 
fie oft unſchuldigen Perfonen ohne Känntniß der Sade und ber 
Zeiten wehe thun; die Hauptibee indeßen wird jchwer zu wiber- 
legen feyn, daß dies Volt ſchon von feinem Urfprunge an einen 
engen, ausjchließenden, anmaaſſenden Gefichtäfreis gehabt babe, 
der fih auch allen feinen Poeſien eindrüdte, der die beften Zweige 
diejes Baums mit Flüchen, mit Haß andrer Völker verdarb; und 
doch ſehe ich in der Geſchichte ihrer Stanmväter feinen Anſchein 
vorzüglicher Verdienſte. Was für Heldenthaten haben fie aufzu- 
weifen, die nicht von andern Nationen weit übertroffen würden ? 
Was für große Namen, auf die fi der Ruhm ihres Stammes 
nur einigermaaflen fügte? Den trunfnen Noah, Abraham, ‚der 
fein Weib in Aegypten verläugnet, einen furchtſamen Iſaak, einen 
Jakob, der Vater, Bruder, Better und die ganze Welt bintergebt, 
einen Blutihänderiihen Judah, einen rachgierigen Simeon und 
Levi, endlih gar den harten Völkervertilgenden Moſes? Und 
‚ jolde Leute jollten ein Volt Gottes gründen, das einzige Volf 





— 40T — 


Gottes auf der Erde? In ihm ſollen alle Geſchlechte der Welt 
geſegnet werden; und ſie fluchen allen Geſchlechten der Erde, die 
ſie nur dem Namen nach kennen, und freuen ſich ſchwach und 
menſchenfeindlich in ſo vielen Geſängen ihrer Propheten, daß ihr 
künftiger König ſie alle einmal würgen werde. Sie haben kein 
21 erfreulicher Bild, als wenn er vom Gebürge Seir, wie ein Kelter⸗ 
treter kommt, und ſich mit dem Blut eines ihnen ſo nahe ver⸗ 
wandten Volks über und über befleckt hat. Die ganze Erde muß 
verwüftet feyn, damit ihr armes Land, ihr von allen Völkern 
veradhteter Stamm allein herrſche. Antworten Sie mir bierauf, 
m. Fr.; aber ich bitte Sie, nicht myftiih und theologiſch — an 
dergleihen Nettungen babe ich mich überfatt geleſen. Warum 
blieb Abraham nicht, wo er war? Was hatte der unjchuldige 
Kanaan dafür zu büßen, daß fein Vater einen Leichtfinn ober 
ein Bubenſtück begangen? Der arme Eſau, daß feine Mutter 
fertiger ihr Bödlein kochen, ala er fein Wild auftreiben konnte? 
Und doch hangt an diefen weibiichen Erzählungen der ganze Vorzug 
diefes Volks, fein Ahnenruhm, der hohe Triumph ihrer Weißagun⸗ 
gen und Pſalmen. Die fchönfte Poefie der Welt wird arm und 
verächtlich, wenn fie fich ausfchliegend und menjchenfeindlih auf 
folhe Sagen gründet — 

Eutyphron. Sie haben mich überjchwenmet, m. Fr., mit 
Vorwürfen, die Gottlob! nicht meinen Stamm treffen. Ich bin 
fein Ebräer und nehme mich dieſes Volks, ala Volks, gar nicht 
an: feiner Würdigkeit wegen ifts nicht erwählt und niemand bat 
ihn feine Blößen und ‚Schändlichleiten mehr aufgededt, als feine 

282 eigne Propheten. ch gebe Ihnen gern zu, daß es den Zweck 
feiner Vorzüge und freien Erwählung ſehr verlannt und das 
Palladium, auf das es fih jo viel zu gut that, feinen Glauben 
an Einen, den wahren Gott, Jehovah, mit Aberglauben und 
Abgötterei, mit dummem Stolz, kriechender Anmanfiung und 
andern Laftern ſehr entweiht babe. Wir find aber auch bier, 
dünkt mich, nicht zufammen, das Boll als Volt, noch weniger 
jeine Nationalvorurtheile und Lafter, jondern den Zwei Gottes - 


— 418 — 


bei feiner Gejchichte, die Blüthe der Poeſie zu retten, Die in ber 
Folge doch wirklich (dies ift Yaltum und fein theologifcher Myſti⸗ 
cismus) jo viel andern Völkern Früchte gebradt hat. Laßen wir 
uns, da wir von einem Hirtenvolf reden, unter diefem Baum 
nieber! Wir mollen denten, daß es Abrahams Terebinthe zu 
Mamre jei, und aud, mie die Hirtenväter thaten, fanft ſprechen; 
nicht mit Voltärſchem Wis, nicht mit Bolingbrods und Morgens 
hämiſcher Bosheit. Die ftile Natur um ung ladet una zum 
Frieden ein; wir wollen auch mit diefen alten einfältigen Ge 
ſtalten Friebe haben. — 

Zuerſt alſo Noah. Sie nannten das Betragen Chams gegen 
ihn Leichtſinn oder ein Bubenſtück; ſei es jenes oder dieſes, ſo 
müßen Sies ja dem Vater verzeihen oder erlauben, daß ers ſtrafte 

A. Strafte? 


E. Nicht anders, und ich weiß nicht, warum, wenn mann 


ſich an mißverſtandnen Worten ſtößt, man nicht lieber verſtänd⸗ 
liche an ihre Stelle ſetzet. Der Vater war König des Hauſes, 
Herr ſogar über das Leben ſeiner Söhne: Noah war der zweite 
Adam, Stammovater einer neuen Welt. Er mußte feiner Familie 
als ein Gott erjcheinen: denn nur durd ihn und um jeinetwillen 
waren fie vom allgemeinen Gericht errettet worden. Nun fonnte 
gegen ihn fein größeres Bubenftüd begangen werden, als ver 
erwachſne Cham, der ſelbſt Söhne hatte, beging. Sie wißen, wie 
ftrenge die Geſetze kindlicher Ehrfurcht und häuslicher Schaam im 
Morgenlande bewahrt werden, und in jo frühen Zeiten mit doppel- 
tem Recht heilig bewahrt wurden. Die Glieder, die Cham ver- 
fpottete, wurden vor heilig gehalten: er ärgerte feine Brüder und 
beging, wenn Sie mir den Ausbrud erlauben, ein Verbrechen der 
beleidigten väterlihen Majeſtät. Häuslich war fein Verbrechen, 
bäuslih die Strafe; den Stamm⸗-Vater hatte er verjpottet, am 
Sohne und feinem Gefchlecht gejchieht die Strafe: kurz, er wird 
des Kindesrechts beraubt und unter feine Brüder zum Knecht des 
Haufes erniediigt. 
A. Heiffen das die Worte? 





284 


— 40 — 


E. Sehen Sie nach: 
Verflucht ſei Kanaan, 
ein Knecht der Knechte ſei er ſeinen Brüdern. 
Gelobet ſei Jehovah, der Gott Sems, 
und Kanaan ſei fein Knecht. 
Elohim breite Japhet aus: 
er wohne in den Hütten Sems 
und Kanaan fei fein Knecht. 

Möge Kanaan am Verbrechen feines Vaters Theil genommen 
haben, ober nicht; an der Strafe nahm er natürlicher Weife Theil, 
denn wenn dem Bater das Kindesrecht geraubt war, entgalten es 
die Kinder. So geht? noch jett bei allen Unglüdsfällen der Fami⸗ 
lie, und mich dünkt, Noah ftrafte, nach damaliger Sitte und 
Denkart, wo nicht gelinde, jo doch nicht unrecht: Schande mit 
Schande, Verachtung mit Veradtung, Hohn mit Hohn. 

U Warum wurde aber Kanaan, der jüngite Sohn Chams, 
allein genannt? und Cham hatte ältere Söhne. Ein Kleiner Blid 
auf das Ländchen Kancan fcheint da doch obzuwalten — 

E. Wäre dies, jo wars Anwendung der Sage auf einen ben 
Iſraeliten nähern Fall. Sie mwißen, auf ſolchen Traditionen und 
Berhältnigen der Stämme zu einander beruhete dad Wölferrecht 
alter Völker. In Orient, Indien, ja ich möchte jagen, bei allen 


285 Heinen Nationen, die fih in ihrem Stamm erhalten, berricht es 


no. Indeßen glaube ich wirklich, daß Kanaan, der jüngfte Sohn, 
am Berbredhen Theil gehabt habe, und vielleicht deutet der ſonder⸗ 
bare Ausdrud „Noah erfuhr, mas ihm fein Lleiner Sohn gethan 
hatte” eben Hierauf. Die Erzählung ift zu kurz, um hierüber zu 
entſcheiden; und Menjchenfeindihaft, das Würgen der Stananiter, 
wo man fie fände, privilegirt ja dieſe Weißagung nit. Jakob 
verflucht zween feiner Söhne, Simeon und Leni noch auf dem 
Sterbebette, daß fie den größeſten Schimpf feines Haufes mit dem 
Blut einer Kananitiſchen Familie gerächt hatten. 

A. Und Joſua würgte doch? — 

E. Wir werden davon fpäter reden: laßen Sie uns jegt bei 
der Geichichte der Stammmwäter bleiben. Sie nannten Noah den 


⸗ 


— 410 — 


Trunknen; Sie nehmen ohne Zweifel das Wort zurück, wenn fe 
die Gefchichte im Zuſammenhange leſen. Es war der erftie Beriud 
des Baus einer unbelannten Pflanze, der dem Dionyſus felbit io 
hätte gerathen können. 

A. Vergehen Sie das Wort — Barım blieb Abraham nidit, 
wo er war: Das legte den Grund aller folgenden Uebel. 

E. Beil er ein Nomabe war und alle Romaden ziehen: fe 
ziehn bis auf biefen Tag und drei taufend Jahr, dünkt mich, joll- - 
ten in Anjehung ber Bevölkerung dieſer Länder doch einer beträcht 
lichen Unterſchied gemacht haben. Nicht Er, jondern fein Bater 
30g bereits mit feiner Familie: deßen Väter zogen: Pelegs Bruder 
batte ji mit feinen Stämmen bis nad Arabien hinunter gewandt, 
Abrahams Brüder und Brubdersföhne die beiten Länder der Nad- 
berichaft, Mefopotamien, Syrien, Chaldäa bepflanzet; im Leiblichen 
befam Abraham ja bei weitem nicht Die befte Gegend und Gott 
verfpricht,, ihn deßhalb mit einem andern Segen jchablos zu Halten. 
Ja endlich. In Kanaan beeinträdtigt den Abraham niemand, fo 
wie er auch niemanden beeinträchtigt. Wie ein Fürſt Gottes ziehet 
er umber, ift großmütbig gegen Lot, gegen die Könige, Die et 
errettet, gerecht gegen die Kananiter, von denen er fein Grabmaal 
kaufte. Diefe gejtehn es ihm freywillig zu; er wills umfonft nicht 
annehmen; und wißen Sie, was fie ibm damit zugeftanden? 
Dffenbar den Mitbefig ihres Landes für fih und feine fpäteften 
Geſchlechter. Wo die Väter jchliefen, müflen ! au die Nachkom⸗ 
men jchlafen: Das war der erfte Grundjak des Völkerrechts aller 
alten Nationen. „Bei den Gräbern der Väter wollen wir euch 
finden“ war der gewöhnliche Ausdruck, fein Recht gegen andringende 
Feinde zu vertheidigen. Wahrlich, wer dem edeln Abraham 
Menſchenfeindſchaft, Unterbrüdung, Eigennug, Kleinheit des Her- 287 
zens Schuld geben wollte, der müßte eine neue Geſchichte von 
ihm finden. 

A. Er verläugnete aber doch fein Weib in Aegypten ? 


1) Mic.: muften 





— 41 — 


E. Das gereicht nicht ihm, fondern dem policirten Aegypten 
zur Schande, in dem ein Fremdling, wenn aud aus einer halb 
ungegründeten Furcht, thun mußte, was er that: denn ganz unge- 
gründet war die Furcht nicht, wie der Erfolg zeiget. Uebrigens, 
m. Fr., müßen wir einen SHirtenvater nicht als einen galanten 
Schäfer oder ala einen Ritter von Profeßion betrachten, der zehn- 
taufendmal für feine Geliebte zu fterben weiß. Abraham verging 
fid und mir gefällts, daß von dem großen Manne auch dieſe 
Schwachheit, eine zu große Behutſamkeit aufgezeichnet ſtehet; indeßen 
jagt die Erzählung durchaus nicht, was die der alten Sitten Mor- 
genlanded jo gar untundigen Läfterer fagen. Wir wollen dem 
Hirten, der fih am Hofe nicht zu führen weiß, feinen Fehler über: 
fehen und dafür bemerfen, mit welcher Aufrichtigleit, Würde, Güte 
und Einfalt er in feinem Zelt, in feiner Hütte handelt. Kann etwas 
edler ſeyn, als wie er für Sodom bittet, wie er fich gegen ben 
König zu Salem über den Raub, wie er fich gegen Loth erlläret! 


288 Kann etwas Idyllenmäßiger feyn, ala wie er die Engel aufnimmt 


und fie unter dem Baum bemwirthet! Dan glaubt die Dichtung 
von Philemon und Baucis zu lefen, und möchte vor feinem gaft- 
freundlichen, einfältigen Zelt jelbft Engel erwarten. Endlich fein 
Umgang mit Gott, wie er ihm das Liebfte, das er bat, daran 
alle feine Hoffnung Bing, darauf er als auf den Gewinn feines 
Lebens fo lange, jo jehnlich gewartet hatte, wie er, da fein Freund 
ed fobert, ihm feinen Sohn Iſaak ftil, und willig aufopfert — 
Vergönnen Sie mir, m. Fr., zu jagen, daß ich über biefen ſchwei⸗ 
genden Heldenglauben, über die zärtliche Vertraulichkeit zwiſchen 
einem Hirten und — Gott beinah nichts zu fegen weiß. Die 
Poeſie feines Volks der Erde hat etwas bergleihen. Mit Göttern, 
Genien, abgefchiebnen Helden gefellten fie etwa die Menjchen; nicht 
aber mit Gott, dem Einigen Gott Himmels und der Erde, auf 
eine jo ftille, vertrauliche Weife. Der Frembling hat keinen andern 
Freund, ala den Gott, der ihn in diefe Ferne ſandte; ihn aber 
befigt er auch als den Freund ber Freunde. Wie zarte Stellen 
giebts im Gefpräh und Umgange Gottes mit ihm, da er ihn 


tröftet, aufrichtet, ihm guten Muth madt für die Zukunft, im 
jegt ein Bundes» und Freundichaftzeichen, jest einen neuen Ram, 
jegt Bilder der Erinnerung giebt und bald diefe, bald jene Gen 
liebe von ihm fodert. 

— ‚Furchte dich nicht, Abram, 

ih bin bein Schild und grofier, großer Lohn. 

Und führte ihn hinaus und ſprach: 

„Blid auf gen Himmel! zähle die Sterne, 

kannſt du fie zählen? 

fo fol dein Saame feyn!" 

Er glaubte dem Jehovah 

und ber nahm biefen Glauben an 

für Würdigleit. — 
So lange ein menschliches Herz Einfalt fühlt, wird man die Schön⸗ 
beit folder Stellen fühlen. So auch, da Gott mit Abraham einen 
Bund madt und fi berabläßt, in Geftalt des Rauchs mitten 
duch die Opferftüde durch zu gehen, und den Bund, wie cin 
Sterblider, zu beihwören. Es war ein Bund ber Freundſchaft 
für Abraham und fein Gefchlecht, der ihn zum Borbilbe ber ſchwer⸗ 
ften Tugend, der fein Bolf zum ausgezeichneten Volk ſchwerer 
Zugend machen, der es zu nichts anderm auszeichnen follte, 
als zum Gejchleht, in dem alle Geſchlechter der Welt gefegnet 
würden. Halten Sie diefen Zweck Gottes, Died Ideal einer 
Volksbildung nicht für groß? und wo finden Sites, nur als vor: 
gelegten Zweck, ala Ideal betrachtet, bei einer andern Nation ber 
Erde? Ihre gerühmteften Zwede waren enge politiihe Bildung 
für fih oder Macht und Unterjohung andrer Nationen. 

U Wo zeigt fich denn aber der Erfolg auch bei diefem Wolfe? 2 
E. Bei feinem Stammovater gewiß: er fteht gleihjam als 

Symbol des ganzen Bundes da. In die Fremde muß er, fein 
väterlih Haus verlaßen und mit der Pilgrimſchaft in einem ſchlech⸗ 
tern Lande vorlieb nehmen. Lange wartet er auf die Verheißung 
und fiehet fie nic; da er in Iſaak endlih die Erftlinge Davon 
empfängt, muß er diefe aufopfern. Sehen Sie das alles ala Sym- 
bol an, wie es mit feinem Gott = verbündeten Volk ſeyn follte. 








— 413 — 


Freundſchaft Gottes follte der Zweck ihrer Erwählung feyn, aber 
eine aufopfernde, jchwere Freundſchaft. Die Tugend, zu der Abra- 
ham erzogen ward, ift eine nicht in die Augen fallende, eine ver- 
kannte und verjchwiegene, aber deſto edlere und jchönere Tugend. 
Sie heißt — Vertrauen zu ihm auch über die mwidrigfte und fer- 
nefte Zufunft, Glaube. Ein Held im Glauben, d. i. in einfältiger 
Größe der Seele, in Vertraulichkeit des Herzens mit dem reinften 
Weſen — das war Abraham! das Sollte fein Volk ſeyn; und ein 
Held der Art ift eine höhere Stuffe des menfchlichen Geiftes, als 
ein Held mit der Fauſt oder mit dem Wurffpieß oder mit poli- 
tifcher Lift und Ränken. 

AU. Alſo wird auch wohl die Poeſie diejes Volks eine Bun- 
despoefie heißen follen ? 

E. Sie treffen den rechten Namen; nur wollen wir ihn nicht 
tbeofophifh und myſtiſch deuten. Cine Freundſchaftspoeſie der 
Menſchen mit Gott follte fie ſeyn: eine Kindespoeſie ſchwacher 
Menſchen vom väterlichen höchſten Weſen, die fih an feinen Bund 
erinnern, auf fein gegebnes Wort beziehen und ihr Herz durch 
Thaten Gottes ftärten. Daher auch die Wirkung diefer Poefie 
auf alle zarte Kindesherzen oder veine Heldenſeelen, infonberheit 
zur Seit der Noth und bei dem Gebet in Stunden der Kränfung. 
Sie knüpft ein Band zwiſchen Menſchen und — (nidht Göttern, 
nit Genien, nicht abgeſchiednen Helden, ſondern) Gott, dem 
Bater des Menſchenfchickſals. Wie angenehm ift in diefem Betracht 
bie fimple Erzählung von den Stammvätern! Ihr äußere Glüd 
ift nicht glänzend; menig und böfe, jagt ber letzte, ift die Zeit 
ihreß Lebens: fie find auf einer Wanderſchaft ohne Ruhe und 
Unglüdefälle der Familie fehlen aud nit. Uber immer ift ihmen 
Gott nahe: fein Engel begleitet fie, Elohim find um fie ber, daB 
Land wird gleihjam durch ihren Fußtritt geheiligt. Und in ihrer 
Hütte wird Neinigkeit alter Sitten, Glaube an Gott, kindliche 
Einfalt und Ergebung wie ein Schatz ber Urwelt bewahre. — 
Hierinn waren fie auch für die Poefie künftiger Zeiten fchöne redende 
Denkbilder: 


— 44 — 


Hört an mich, die ihr der Nechtfchaffenheit nachftrebet,-) * 

die ihr Jehovah treu verbleibt. 

Schaut an den Fels, aus dem ihr ſeyd gehaun,“) | 

haut au bie luft, aus der ihr feyb gegraben. . 

Schaut euren Vater Abraham an, 

und Sarah, welche euch gebar. 

Ich rief den Einzigen‘“) 

und fegnet’ ihn und mehret' ihn. 

So wird Jehovah jet auch Zion tröften, 

wirb tröften, was in ihm verwüſtet Liegt, 

wirb feine Eindden zu Eden machen, 

Jehovahs Garte wird die Wüfte feyn, 

und Freud' und Jubel werben in ihr wohnen, 

und Dant und Tobgefang. 
Bemerken Sie hier den Ehrennamen Abrahams: der Einzige! ein: 
Fels, der fi) auf Gott verläßt und aus dem Gott fi fein Bolt 
hauet — was für zarte Anmendungen des Zutrauens Tonnten 
immer davon gemacht werben! 


a) Je. 51, 1— 3. 

b) Ohne Zweifel bezieht ſich bierauf auch die Anrede Matth 3,4 
Ifrael trogte darauf, daß fie Kinder Abraham feyn und der Bropbet ter 
Wüfte jagt: Sott könne fih aus einem neuen Feljen Kinder bauen. Werig- 
ſtens war durch Jeſaias Ausbrud das Bild befannt. 

c) Hieraus erflärt fih die dunkle Stelle: Malach. 2, 14. 15., Die gegen 
die Verſtoßung der Weiber eifert: 

Der Herr if Zeuge zwiſchen bir 

und beiner Yugenb Weibe, 

die bis verachteſt und verfößeft, 

unb fie ift beine Genoßin boch, 

ift deines Bundes Weib. 

So that der Ein’ge nit; 

und winfdgte ſehnlich Kinder. 

Was that der Ein’ge denn? 

. Er hoffte fie von Gott. 

Auf das Wort der Ginige, das ſchon durch Jeſaias als ein Ehrenname 2 
Abrabams belannt war, wirb bier ein befondrer Nachbrud geſetzt. Er war 
der Einzige, von dem das Geſchlecht abſtammen konnte und follte: er war 
alt, Sarah alt; und doch verftieß er fie nicht, doch wütete er nicht gegen fie: 

So wacht auch Ihr auf eure heiffen Wunſche; 

und thut nicht Unrecht eurer Tugend Weibe 


1) Mic.: und wünſchte fi doch ſehnlich Kinder. 


294 


— 45 — 


Scan ber vom Himmel, ſchan aus deiner heilgen Wohnung, 
dem Site deiner Pracht und Majeftät. 
Wo ift dein Eifer? wo ift deine Kraft? 
Dein wallend, dein mitleidig Baterberz 
ift gegen uns mun Bart! 

Und bu biſt unfer Vater doch: 
denn Abraham weiß von uns nicht, 

Ifrael kennt und nicht. 

Du, Herr, bift unfer Vater, unfer Netter, 

das ift dein Name von Alter® ber. 

Und warum läßeſt du von deinen Wegen 

uns denn fo irregehn ? 

Barum verhärtet fih Jehovah unfer Herz 

von beiner Furcht ? 

D wende dic zurüd zu deinen Knechten! 

Wir find dein Erbtbeil ja. 

Gott Hat alfo Abrahams Baterrecht auf ſich genommen, der Freund 
bat ihm feine Kinder übergeben und mit ihm fein Herz gewechſelt. — 

AU. Alles ſchön und gut, m. Fr.; was jagen Sie aber zu 
den Fehlern der Patriarchen ? 

E. Sie find menſchliche Yehler, und eben daß fie erzählt 
werden, daB in ihrer Gefchichte nichts verichwiegen und bemäntelt 
wird, — eben das macht mir ihre Hirtengeihichte, wie eine Idyl⸗ 
lenerzählung unſchätzbar. Der furchtfame Iſaak, ver liftige Jakob 
ftehen in Thaten da; läugnen Sie aber auch nicht, daß diejem feine 
gift allemal übel vergolten wurde und er in feinem Alter, wie ber 
Ulyßes unter dieſen Hirtenvätern einen jehr geprüften Charalter 
zeiget. Seine Gefchichte ift ein lehrreicher Spiegel des menjchlichen 
Herzens ‚,*) und Gott hat dem männlichen Jakob felbft den Flecken 
abgewiſcht, den der jugendliche Jakob mit feinem Namen umber 
trug. „Du folt nicht mehr Jakob, (Berüder) heißen: Held Got: 
tes, Iſrael, fol dein Name feyn,“ ein Chrenname, den auch bie 


*) Sterne hat eine lehrreiche, nur etwas zu witige Predigt über 
das Schidfal Jakobs, die das Hecht der Wiebernergeltung, jo ihm wieber- 
fahren, in® Licht fekt. 


— 46 — 


Poeſie dieſes Volks billig träge. Nicht Lörperlide Stärke win m 
ihr befungen ; fondern Heldentbum Gottes, Gebet, Glaube. — 

A. Sie Hat fih doch nit auch dieſen Ehrennamen, m 
Jacob den Seinigen, erworben, dur einen Kampf im Traume? — 

€. Im Traume? Da höre ih etwas — zwar nicht Neus. 
aber das, fo oft es gejagt und wiederholt würde, dem Zuſammen 
bange der Erzählung entgegen feyn wird. Jakob hat Läger und 
Gezelte abgetheilt aus Furcht für dem nädtliden Ueberfall jem: 
Bruderd. Nun entfernt er fih vom Zelte, wahrlih nicht um u 
ſchlafen, ſondern eben um nicht zu fchlafen. 

A. Und was that er denn? 

E. Was vorbergeht, läßt es deutlich fchliefien:*) er betek, 
er rang mit Gott im Gebet; und da follte ihm ein fihtbares Eym 
bol werden, daß fein Heldenglaube Gott überwunden. Elohir 
erfhien, nicht Jchovah; und Sie wißen, daß das Wort in Jalob⸗ 
Geſchichte ſowohl ala in den frühern Sagen immer mit Grund 
unterfchieden wird. Heere Gottes ftellten fih dem Jakob als zwi 
Flügel eines gelagerten Kriegäheers dar: der Begrif von den Engeln 
war alſo in Jakobs Seele. Und fiehe da erfcheint ein jolder 
Held, die Göttergeftalt eines bimmlifchen Kriegsmanns und rinat = 
mit Jakob. Sie erſcheint, fie verichwindet mit den Schatten der 
Dämmrung; kurz lefen Sie das ſchöne Nachtgeficht ſelbſt, Das aud 
dem Ton und der Farbe feiner Erzählung nah in den Ahırndung? 
vollen Schatten der Nacht ſchwebet.**) 

YA. Und Jalob blieb allein die Nacht: 

da rang ein Dann mit ihm, bis daß der Morgen anbrach, 

und ilbermocht’ ihn nicht. 

Und ſehend, daß er ihn nicht übermochte, 

rührt’ er ihm das Gelenk der Hüfte an. 

Es regt fi das Gelenk der Hüfte Jakobs, 

dieweil er mit ihm rang. 

Es fprad der Mann: laß mich! die Morgenröthe 

bricht an. 

Er fprad: ich laß dich nicht! Erſt fegne mid! 


1 Mof. 82, 10— 12. “*) 1 Mof. 32,24. 





=] 


— 14T — 


Da fprah der Mann: „wie beißeft du?“ 

„Ich heiße Jalobl“ „Iatob follt du nicht mehr heißen! 
Held Gottes ſoll dein Name feyn! 

Mit Göttern und mit Menfchen zeigteft du bich Held 
und Üüberwanbft.“ 

Und Jakob fragt’ und ſprach: „fo fage mir 

auch deinen Namen an.” 

Er ſprach: „warum fragft bu nach meinem Namen ?* 
Und fegnet’ ibn daſelbſt. 

Und Jakob hieß die Stäte Pniel: „denn, fprach er, 
ih jahb Elohim hier von An- zu Angeficht 

und rettete mein Leben!” Da ging eben 

die Sonn’ auf, als er weg von Bniel ging, 

und Jakob hinkete — 

E. Steht hier ein Wort vom Traum? ft nicht alles fo 
ſchlicht Hiftorifh erzählt, ale wie Jakob die Schaafe theilet? Ja 
denten Sie, was es für ein Ehrenname wäre, der dem Stamm- 
vater, der dem ganzen Gejchlecht gegeben ward: der Träumer hätte 
fih im Schlaf die Hüfte verrentt, und deßwegen beißt er Held 
Gottes, deßwegen beißt fein ganzes Gejchlecht jo, deßwegen fteigt 
Sehovah ein andermal jelbjt herniever, um ihm den wirklichen 
Schimpf- und Spottnamen eines Helden im Traum zu beftätigen? 
Und das erzählte alles eine Yamilienfage? — Yühlen Sie nicht 
das Ungereimte der Behauptung in jedem Zuge? 

A. Ganz. Und der Name Elohim, wie Sie ihn mir in 
einem andern Geſpräch gezeiget, entnimmt mir allen Zweifel. Ein 
Kampf mit Göttern, Geiftern, Heldengeftalten war in den alten 
Zeiten nichts Unerhörtes, ja nad den Begrif, den uns die Dichter 
davon geben, die gemöhnliche höchſte Probe menjchlicher Heldenfräfte. 
Bei Homer find Götter und Helden in fortgehendem Streit und aud) 
Fingal kämpft einmal zu Nacht mit einem Rieſengeiſte; in Orient 
müßen Begriffe der Art gemein geweſen ſeyn — 

E. Nach Dichtern und Geſchichte waren ſie das Coſtume ihrer 


298 älteſten Helden, die jo oft mit Geiſtern und Rieſen ſollen gelämpft 


haben. Laßen Sie uns indeß dieſe einfältige Erzählung mit ſolchen 
Fabeln fpäter Tradition und ungeheurer Aufſchraubuns nicht ver⸗ 
Herders ſammtl. Were. XI. 


— 4183 — 


mengen: wie ſtille und hirtenmäßig geht hier Alles zu! Der 
Kämpfer wird nicht genannt, er nennt ſich ſelbſt nicht und läßt. 
wer er geweſen? nur aus dem Namen muthmaaſſen. Jakob trium 
phirt nicht, erzählt die Geichichte niemanden, wundert ſich als an 
einfältiger Hirt, wie Er mit Elohim, Gefiht gegen Geſicht, hak 
kämpfen und fein Leben davon bringen fünnen? — Das Schönſte kı 
der Begebenheit ift aber ihr innerer Sinn: dem ängftliden Stamm 
vater follte gezeigt werden, wie unnüß e3 jet, daß er ftch vor Eſau 
fürchte, da er Jehovah mit feinem Gebet und Elohim mit ſeinem Arm 
überwunden. So legt e8 der Prophet aus*) und der bildliche Sinn 
erhellet aus dem Drt, der Zeit, dem Zufanmmenhange der Erzählune. 

A. Alſo follte dieſe Gefchichte dem fürdtenden Mann des 
fagen, was einmal das Geficht der Himmelgleiter dem furchtfamen 
Jüngling fagte? 

E. Eben das; nur auf eine den Mann anftändige Weile: 
er mußte fih feinen Heldennamen erringen, nicht erträumen. In—. 
beßen iſts eine treffende Parallele, die Sie anführen. Das Geſicht 
zeigt bie kindlichen Borftellungen des Hirtenjünglings von Gott 
und den Engeln: man Tann den Traum immer ald eine Idylle 
leſen. Wollen Sie8? Der Abend bricht allgemach ein und die 
Sonne gehet dort fo ſchön nieder — 

A. Er kam an einen Ort und nachtet' da; **) 

beim die Sonne war fon nieber. 

Da nahın er einen Stein bes Orts 

und legt’ ihn zum Hauptlißen fich 

und fchlief ba ein. 

Und träunıte: fiehe, eine Leiter fand 

hoch aufgerichtet über der Erde, 

zum Himmel reichte fie: 
- Und Boten Gottes fliegen an ihr auf und nieber. 
Und fieh, Jehovah fand auf ihr und ſprach: 
„Ih bin Jehovah deines Vaters Gott u. f." — 


Erwacht von feinem Traum, ſprach Jakob: 
„Fürwahr! Jehovah ift an biefem Ort, 


— — —— — — — — 


*) Hoſ. 12, 4. 6. *) 1Moſ. 28, 11. 








300 


— 419 — 


das mußt ich nicht!" Und furchte fih und ſprach: 
„Wie fchauerlich ift diefer Ort, 
Elohim mwohnet hier! 
Hier ift des Himmels Pforte.” 

Und nahm den Stein, alsbald ber Morgen anbrad, 
und richtet’ ihn zum Denkmal auf, 
goß Del darauf und nannt' den Ort: Haus Gottes! 
gelobete und ſprach: 
„St Gott forthin mit mir, 
behiltet mich des Weges, bei ich gebe, 
und giebt mir Brot und Kleid: 
tehr’ ich denn friedlich beim zum Haufe meines Baters, 
fo joll Jehovah Gott mir feyn! \ 
und diefer Stein, den ich zum Denkmal anfgerichtet, 
Haus Gottes werden!" — 

E. Sie fehen die einfachen Begriffe des Hirtenjünglings. Er 
glaubt nicht, daß feines Vaters Gott auch außer ber väterlichen 
Hütte fei: er erfchridt, daß er hier, ohne daß ers mufte, auf Bei- 
ligem Lande, gleihfam im Vorhofe der Wohnung Gottes fchlafe. 
Cr bat die offne Pforte derfelben im Traum gejehn, und gelobt 
alfo auch diefem Ort, — was anders, als ein Haus Gottes? 
weil Gott bier fo eigentlih wohne. Steigen Engel hier auf einer 
Leiter auf und nieder: fo kann auch Einer derfelben, ein Elohim 
an Stärke und Würde mit Jakob kämpfen. — Haben Sie noch 
etwas gegen dieje Hirtengeihichten? — 

A. Die groffe Partheilichkeit der Väter im Segen ihrer Söhne, 
da doch, nad) der Meinung des Stammes, an dieſer legten weißa⸗ 
genden Stimme dad ganze Schiefal der Nachkommenſchaft lag. 

E. Wie? lag dieſes am Willen der Väter? war Iſaak nicht 
eben für Efeu partbeilih? und wollte Abraham fih nidt mit 
Iſmael begnügen? Wie fchmerzte es Jakob, da er feine drei erften 
Söhne übergehen mufte! und wurde denn Einer von denen, die 
wir genannt haben, mit leiblihen Segen übergangen? Eſau zog 


301 Salob als ein Fürft entgegen; Jakob war und blieb ein Fremd⸗ 


ling, ein Zeltbewohner. Iſmael lebte in feiner Wüfte, mie das 
Thier, mit dem er vergliden wird, frei und frölid. Seine Nad)- 
27” 


— 4200 — 


kommen rühmen ſich derſelben, als des ihnen von Gott gegebnen 
Landes, in dem ſie ihren Beruf treiben und wollen nichts beßeres 
auf der Welt. Die Weißagung: 
Er wird ein Wild*) vom Menſchen ſeyn, 
entgegen allen feine Sand! 


Und aller Hand entgegen ihm. 

Er wohnt! im Angeficht all feiner Brüder — 
ift erfüllt an den Iſmaeliten und ganz in ihrem Sinn. — Laßen 
Sie uns die rührende, wirklich Theilnehmende Geſchichte von der 
auögeftoßnen Hagar, die in der Wüfte irret, Iefen: Sie werben fin- 
ben, daß unfre Erzählung nicht menjchenfeindlich, nicht Hart erzähle: 

Das Waßer in dem Schlauche war verfieget, 

fie warf den Knaben unter einen Baum, 

und ging hinweg und faß ihm gegenüber, 

fern einen Bogenſchuß: 

„denn, fagte fie,? ich mag nicht ſehn 

den Knaben ſterben.“ Sie ſaß gegenüber, 

erhob bie Stimm’ und weinete. 

Da hörte Gott des Knaben Weinen: 

Der Engel Gottes rief ihr zu vom Himmel: 

„was ift dir, Hagar? fürchte dich nicht! 

Gott hat erbört ded Knaben Stimme, ap 

wo er da liegt — — 

Steh auf und nimm ihn auf 

und ſtärke deine Hand an ihm: 

Ih will ihn einft zum großen Volle machen“ — — 

Da dfnete Gott ihre Augen 

und fie ſah eine Quelle, 

ging Hin und füllete den Schlauch 

und träntete den Knaben. 

Und Gott war mit ibm: er erwuchs 

und wohnte in der Wille, 

und warb ein Bogenſchütze. 


Eben jo theilnehmend wird die Gefchichte des weinenden Eſau 
erzählt, da er den Segen nicht erhalten kann, meil ihn das Schid- 





*) Waldeſel. 
1) Mic.: Und doch wohnt er 2) Mſc. X: ich [verichrieben.) 








— 21 — 


ſal auf Jakob lenket. Wir wollen beide Segensſprüche zufam- 
menjeten, um den Unterfchied zu bemerken: 


Iſaaks Segen auf Efau. 


Auch deine Wohnung wird im Saft der Erbe feyn, 
vom Himmel droben auch betbaut. 
Bon deinem Schwerte wirft bu leben, 
und deinem Bruder dienftbar feyn. 
Doc wird die Zeit auch deiner Herrfchaft kommen, 
da du zerbrichft fein Joch. 


Iſaaks Weißagung auf Jakob. 


„Komm ber und küße mich, mein Sohn!“ 

Er tam und küßte ihn. 

Da roh er den Geruch von feinen Kleidern 

und fegnet’ ihn und fprad: 

„Sieh meine Sohns Geruch it mie Geruch des Feldes, 

das Gott gefegnet bat. 

Gott gebe dir vom Thau des Himmels 

und von der Erde Saft und Kornd und Moftes viel. 

Es dienen dir die Bölter! 

fie beugen ſich vor dir! 

Sei Herr auch deiner Brüber! 

Es bücken fich dir deiner Mutter Söhne! 

Berflucht fei, wer dir fluchet! 

Geſegnet, wer dich fegnet.” 
Hören Sie nit in beiven Sprüden die Stimme des Schickſals 
eben wider Willen des Vaters? Unter der Geftalt des Eſau muß 
er eben den andern fegnen, muß Worte, die er gegen dieſen aus- 
Ipriht, für ihn ausiprechen u. f.e Alle Ihre Zweifel gegen diefe 
ausfchließenden Sprüche fallen weg, wenn Sie bebenten, daß es 
nicht zeitlicher Segen war, wozu ber erwählte Sohn vom Schickſal 
auögezeichnet wurde. Seine Nachkommenſchaft follte den Namen 
des Jehovah bewahren und von Moſe an das och des Gejekes 
tragen — ein Segen, deßen mande Nation gern überhoben war. 

U. Auf Kanaan wars doc aber auch wohl angejehen! — 


— IM — 


E. Und was war an dem Ländchen? irgendwo in der Welt 
mußte doch dies Volk wohnen. Die Poefie deßelben bat freilid >- 
diefen Winfel der Erde fehr erhoben: beinah jeder Berg, jeder 
Bach, jedes Thal ift in ihr gepriefen; merken Sie aber immer, als 
Gottes Land, ala Land der Verheißung preifet fies, nicht anders. 
Das gelobte Land bat nit von Lobe, fondern von Angelobung, 
von Gelübde den Namen und Sie werben finden, daß die Poeſie 
Kanaand aud alles in diefem Licht Gottes und ihrer Väter betradte. 
Zion, Libanon, Karmel find Gottes Berge: die Ströme, mo 
Thaten geihahen, Gottes Ströme: das Land ift das heilige Land, 
Fußboden Gottes und der Väter, Pfand der Erwählung In der 
Geſchichte andrer Völker find auch Spuren, daß fie hie und da 
Stride ihres Landes dutch die Gegenwart ihrer Götter beiligten; 
mir iſt aber feine Poeſie befannt, die jo ganz ihre Armuth zum 
Reichthum Gottes gemaht und den Winkel ihres Erdſtrichs zum 
Schauplat der Majeftät Jehovahs eingeweiht hätte. Noch jest täufcht 
fih der große Haufe der zerjtreueten Stämme mit Hoffnungen dahin, 
weil Stammesſage, Geſetz, Poefie, Alles fich darauf beziehet, und 
gleihfanm ohne das Land der Baum in der Luft ſchwebet. — 

4. Schlimm gnug alfo für uns, da wir nicht in dem Lande 
find und die Flüche der Propheten auf andre Länder nicht mit dem 
Enthuſiasmus lefen können, mit dem das Volk fie hörte. Alle 
ihre goldnen Träume vom Glanz diefed engen Landes unter dem zu: 
jo lang erwarteten und nod zu erwartenden Könige dünfen uns 
Thorheit: ein großer Theil ihrer Poeſie wird uns alfo leere bien- 
dende Tirade. — 

E. Wir wollen davon bei Gelegenheit der Propheten ſprechen. 
Surgamus, solent esse gravos sedentibus umbrae. Mid ſollte es 
freuen, wenn ich Ihnen einige Ihrer Zweifel gegen die Stammes 
gejchichte Diefeg Volle entnommen und die Charalterzüge feiner 
Poeſie chen aus diejen Geſchlechtsſagen ins Licht geftellt hätte. 
Eine Hirtenpoefie ift. fie: eine Poefie des Bundes d. i. eines Fami— 
- lienvertrages und einer väterlihen Freundſchaft mit Gott, endlich 
Poeſie Kanaans, als eines Landes der Verheißung. So lejen Sie 


306 


307 


— 413 — 


fie; wollen Sie aber ein ander Ideal eines Helden Morgenlandes 
an Weisheit, Glüdfeligkeit, ftiler und großer Tugend fehen; fo jey 
es Hiob. Ich zeichne Ihnen die Stellen aus, die feinen Charalter 
am jchönften ins Licht fegen; o daß alle Chriftliche Emirs fo däch⸗ 
ten, jo glaubten, fo lebten! 


— — — — — 


1. Bild des Glückes, der Thätigkeit und Würde 
eines morgenländiſchen Fürſten.“) 


O wäre mirs, wie in den alten Zeiten, 
in jenen Tagen, da noch Gott mein Schutzgott war! 
Da fein Licht belle ſchien mir überm SHaupt,®) 
und ich an feinem Stral durchs Dunkel ging. 
Wie ich einft war in meinen Ingendtagen, 
da Gott in meinem Zelte faß zu Rath: 
da der Allmächtge bei mir war, 
und ringsber um mich meine Sflaven flanden. . 


Und wo ich ging, da floßen Ströme Milch, 
der Feld ergoß fih mir in Bächen Oels. 
Ging ih aus meinem Hanf in die Berfammlung, 
ließ auf dem Marktplatz meinen Teppich breiten; 
bie Züngling' fahn mich und veritedten fich, 
die Alten fanden auf und blieben ftehn: 
die Fürſten bielten ein in ihrer Rede, 
fie Tegeten bie Hand auf ihren Mund: 
die Stimme der Rathführer war verftummt, 
die. Zunge hing an ihrem Gaum. 
Und welches Ohr mich hörte, pries mich glüdlich, 
und welches Aug’ mich fabe, ſprach mir bei: 
denn ich errettete ben Armen, ber ba fchrie, 
das Waifenfind, bas feinen Helfer fand. 
Auf mid kam Segen deß, der untergehen wollte. 





a) Hiob 29. 

b) Im Zelt des Morgenländers bing eine Yanıpe: bie Glorie des 
Schutsgotte® vertritt Bier die Stelle. Ja Gott Teuchtet ihm in der Dunkel⸗ 
beit vor, fit in feinem Belt mit ihm zu Rath, und was er vornimmt, 
gebt glildlich. 


IB 


— 424 — 


Der Wittwen Herz macht' ich Geſanges voll. 
Zog an Gerechtigkeit, ſie zierte mich: 
wie Kleid und Turban legt' ich an das Recht. 
Ich war des Blinden Auge, 
des Lahmen Fuß war ich; 
Ich war den Armen Vater, 
nahm mich der Rechtsſach' auch des Fremden an, 
und brach dem Ungerechten aus die Zähne, 
riß aus dem Rachen ihm den Raub. 
Und ſprach: mit meinem Neſte will ich fterben,“) 
des Phönir Alter wirb mein Alter ſeyn. 
Und meine Wurzel wird das Waßer faugen, 
ber Thau auf meinen Zweigen übernachten. 
Es wird fi meine Kraft mit mir verjüngen, 
mein Bogen fi in meiner Hand erneun. — 
Sie bordeten mir zu und warteten, 
fie ſchwiegen meinem Rath. 
Rah meinem Wort fprach feiner mehr, 
denn meine Rebe trof auf fie, wie Than. | 
Die auf den Regen barreten-fie mein, 
eröfneten den Mund, wie auf den Krühlings- Regen. 
Lacht' ich zu ihnen; fie mißbrauchtens nicht: ZUR 
mein fröhlich Angeficht mocht keiner je betrüben. 
Ich wählete fir fie und faß als Haupt, 
als König wohnt‘ ich unter meiner Schaar, 
wie unter Traurigen der Tröfter wohnt. 





.—— bu. 


2. Bild der Großmuth und einer Felfenveften Hoffnung 
im Unglüd. 


(Nachdem in ftürmender Eile alle Trauerbotbfchaften von Hiobs 
Unglüd, von feinem Berluft an Gütern und Kindern ihm überbract find, 
fährt das Bud in ſanftem Ton fort:) 

c) Offenbar wirb bier ber Phönix gemeint: nur durch einen ſchönen 
Doppelfinn des Worts wird das Bild des Vogels nachher in das Bild bes 
Balmbaums verwandelt: ein Zeichen, daß die Analogie. beider auch im ! 
Diorgenlande bemerkt und ausgebrüdt war. 





— 45 — 


Da ſtund Hiob auf, 
zerriß ſein Kleid, 
und ſchor fein Haupt,“) 
und warf ſich hin zur Erde 
und betet' an und ſprach: 
Nackt bin ich kommen aus meiner Mutter Schoos, 
nackt werd’ ich wieder zu ihr kehren.“) 
Jehovah hats gegeben ! 
Jehovah hats genommen! 
Die Majeſtät Jehovahs fey gepriefen! 


309 (Da ihn feine Freunde hart drängen, und ihm geheimer Frevelthaten 
wegen mit einem noch größern Gericht Gottes drohen: da Hausgenofien 
und Verwandte ihn verlaßen, verltennen und verachten, fpricht er rüb- 
rend alfo:”) 


Ein Abfcheu bin ich meinen Herzvertrauten: 

ich liebte fie; fie wenden ſich von mir. 

An meiner Haut, an meinem Fleifch 

bangt mein Gebein; 

die Haut hab' ich in meinen Zähnen kaum 

als Raub davon getragen.®) 

Erbarmt, erbarmt euch mein, ihr Freunde, 
denn Gottes Hand traf auf mich Bart: 

Warum verfolgt ihr mich, wie Gott mich fchon verfolgt, 
und werdet fatt von meinem Fleiſche nicht? 
Ad! dag mein Wort jetzt aufgefchrieben würde, 
daß es gezeichnet würde in ein Buch! 

daß es in Eifenfchrift, in Blei, 

daß zum Andenken es in Fels gegraben würde: 





d) Nicht Zeichen ber Ungebuld, fondern der Trauer im Morgenlanbe. 

e) Der Schoo8 der Mutter und die Erde werden in Orient anfpie- 
lend oft verwechfelt. 

f) Hiob 19, 19. 

g) Das Bild if vom Raube bergenommen, den Thiere in Zähnen 
forttragen; feine Haut ift der arme elende Körper, den er allein bavon 
gebracht dat, (nicht aber die Haut an feinen Zähnen u. dergl) Seine 
Freunde werben als Fleiſchfreßende Thiere geſchildert, die an feiner Haut, 
am armen Reſt feines Lebens nagen. 


— 46 — 


Ich weiß, daß mein Bluträcher lebt!) 
Zuletzt wird Er noch auf den Kampfplap treten. . 
Laß diefe meine Haut zernagen fie; a 
noch werd’ ich Leibeslebend ſchauen Gott! 
Ihn werd’ ich fchauen und als Netter mir. 
Diein Auge wird ihn fehn, deu Dieinigen, 
nach dem fo lange meine Bruft gefchmachtet.” 
Da werdet ihr denn ſprechen: 
warum verfolgeten wir ihn? 
Die Wurzel meiner Sache 
wird denn erfunden werben. 
Scheut euch vor feinem bellen Schwert: , 
es ift ein Schwert des Zorus, das Unrecht rächt! 
das euch es zeigen wird, es fei Gericht! 
all 


— 


3. Sittenlehre eines Idumäiſchen Fürſten.) 


Mit meinen Augen hatt' ich einen Bund gemacht; 
denn was ſäh' ich an einer Jungfrau? 
und was für Theil behielt ich denn an Gott? 
welch Erbe bei dem Gott im Himmel droben? 
Denn folgt nicht Untergang dem Frevler nach? 
und dem, der Unrecht ausübt, offne Schmach? 
Drum dacht' ih: er fieht meine Wege ja! 
und alle meine Schritte zählet Er! 


h) Diefe Worte find im Zufammenbange fo deutlih, daß es ſchwer 
wird, die Urfache anzugeben, warum man fie fo oft verftiimmelt und ver- 310 
fannt bat. Seine Freunde haben fi von ihm gemandt; er hat noch Einen 
Freund, Einen Berwandten, der fein — Bluträder feyn wirb (bie war 
die Pflicht des beften Freundes, des nächften Berwanbten:) und bie® ift, wie 
der Berfolg Ichret, Gott. Der wirb auf dem Staube ſtehn und für ibn 
das Schwert züden, das Schwert bes Rächers und Richters. Für ihn wird 
ex ſeyn und nicht für die Freunde: Hiobs Bruſt lennet ihn als den Seinigen, 
(feinen Freund, feinen Verwandten,) da auf Erden ihn alles verlaße. Da 
wird die Wurzel feiner Sade, fein Recht erfunden werden — ich fkeune 
nichts, das über dies herrliche Felſenbekänntniß gebe, das auch, wiewohl 
nit ganz in Hiobs Meinung, erflillt ward. Ich wünfchte, daß man ſich 
über diefe Deutung vereinigte und nicht weiter fubtilifirte. 

i) Siob 31. 


— — wm. 


312 


— 427 — 


Hab’ ich des Heuchlers Pfade je gewanbelt, 
und eilete zum Truge je mein Fuß: 
(Er wäge mich auf fixenger Rechtes Waage, 
und Gott wird felbft denn meine Unfchuld ſehn!) 
Wi je mein Tritt ab von der Bahn, 
[hlid) meinen Augen je mein Herze nach, 
und blieb an meiner Hand je etwas Kleben; 
jo mög’ ich fäen und ein anbrer efe, 
fo wurzle, was ich pflanz’, ein andrer aus! 


Ward je mein Herz bei einem Weibe lüftern, 
und lauert’ ih an meines Freundes Thür; 
fo fei mein Weib auch eines Fremden Stlavin, 
fo werde fie von andern mir entehrt: 
denn das wär’ Lafter auch vor menſchlichem Gericht. 
Es wär’ ein Feuer, das bis zur Verzehrung brennt, 
das all mein Glüd mir fengte Wurzel- aus. 


Hab’ meinem Sklaven ich fein Recht je abgeldugnet, 
und meiner Magd, in Rechtsſach' auch mit mir; 
was follt’ ich thun, wenn Gott nun gegen mid aufftünbe, 
wenn er ed unterfuchte, wa® antwortet’ ich? 
Hat nicht, der mich gemacht, auch ihn gemacht‘? 
find wir nicht gleich in Mutterleib' gebilbet ? 


Bermweigert’ ich dem Dürftgen feinen Wunſch, 
und lied der Witwen Aug’ nah Speife ſchmachten, 
und aß mein Mahl allein, 
und ließ den Waifen nicht davon genieflen, 
der mit mir von Kind auf erwachlen war, 
daß ich fein Vater würde, 
den ih von Mutterleib' an Teitete: 


Sah den Unglücklichen ich ohne Kleid, 
und unbebedet den Elenden gehn; 
daß feine lieder fih nicht mein erfrenten, 
daß meiner Schaafe Wolle ihn nicht wärmte: 


Erhob ich gegen Waifen meine Hand, 
weil vor Gericht ih mir ſchon Beiſtand fab; 
fo falle von ber Achfel mir die Schulter, 
fo drehe ſtracks der Knoche meines Arms! 
Erzittern müßt’ ich jett vor Gottes Strafe, 
denn gegen feine Hoheit könnt’ ich nichts! 


— 428 — 


Setzt' ich auf Reichthum mein Bertraun, 
und ſprach zum Golde: du biſt meine Zuverſicht! 
und freuete mich meiner vielen Güter, 31: 
dag meine Sand fo viele vor fih fand; 
Sah ih die Sonn’ an, wie fie glänzete, 
ben Mond, wie er fo prächtig gebt, 
und im Berborgnen nur verirrete mein Herz, 
daß mein Mund ihnen nur den Handkuß zugeworfen; 
auch das wär fchon gerichtlich Mißethat, 
denn ich hätt! damit Gott im Himmel abgefagt- 
Erfreuet’ ih mich je bei meines Feindes Unglück, 
froblodte, wenns ihm übel ging; 
nein! meiner Zung’ entfuhr kein böfes Wort, 
nie ließ ich ihr Verwünſchung Seiner zu: 
auch wenn die Männer meines Zeltes ſprachen: 
„o bätten wir fein Fleiſch, es follt' ung fättigen!” —*) 
Kein Fremdling dorfte draufien übernachten; 
dem Wandrer tbat ich meine Thüren auf! — 
Verheelt' ich, wie ein fchlechter Menſch, mein Fehlen, 
und wollt’ im Wintel meinen Frevel bergen, 
weil etwa ich die Menge fürchtete, 
weil die Verachtung der Familien mich fchredte 
und fchwieg alfo und blieb daheim — 
O wo find’ ih den Richter, der mich hört! 
Sieh meine Rechtsſchrift; o antwortete mir Gott! 
o fchriebe jemand ganz mir meine Sade auf: 
auf meine Schulter wollt’ ichs prangend legen,!) 
al8 Diadem die Schrift um meinen Zurban binden. 314 
Ich wollt' ihm alle meine Tritte ſagen: 
ihm, wie ein Held, mich nahn! 
Schreyt wider mich mein Land, 
und weinen ſeine Furchen, 
weil ſeine Frucht ich unbezahlt genoß, 
und quälete des Landmanns Seele aus; 
fo trag’ er mir ſtatt Weizen künftig Doruen, 
und Unkraut ftatt der Frucht. 


k) D. i. au wenn er der ärgfte Feind meine® Hauſes und alles 
gegen ihn bis zur Wuth aufgebradht war. 
1) Wie ein Ehrenkleid, einen Kaftan. 





315 


316 


X. 
Inhalt des Gefpräds. 


Ob die Sprache der Ebräer urſprünglich Kananitifch fei? und die Ebräer 
fie von den Kananitern gelernt haben? Unwahrſcheinlichkeit dieſer 
Meinung: wie fehr fie von der Geichichte und den Sprachen verwandter 
Semiten widerlegt werde. Daß die Bhönicier auch Antömmlinge in 
Kanaan geweſen. Worauf ſich das Recht der Semiten auf dies Land 
und Aften überhaupt gründe? Wie fern die Religion bier ins Spiel 
kam? Unterfchied der Ehamiten und Semiten an Lebensweife, Reli⸗ 
gion, Sitten und Sprade. Auf welche Weile fi) diefe Sagen unter 
Semiten erhalten konnten? Die Gefchichte Joſephs, der Väter bis zu 
Abraham hinauf. Was wir vor Abraham Bis zur Sündfluth haben? 
Berbältnif der Glieder diefes Geſchlechtregiſters. Ob Mofes es erfun- 
den? wie es zur Gefchlechtächarte geinacht worden? ob man an ibm 
eine vollſtändige Eharte der Wanderungen babe?  Anficht berfelben, 
was fie urfprünglich feyn follte? Ob die Nachrichten von der Sünd⸗ 
fluth aus der Arche her ſeyn? ob die Sünbfluth allgemein geweſen? 
Daß fi die Gefchichte vor der Sündfluth an wenigen bebeutenben 
Namen feftbalte. Beiſpiele. Woher dieſe bedeutenden Namen? ob aus 
Prophezeiung, Ueberfegung oder Umbildung? Daß an diefen bebeuten- 
den Namen wahrfcheinlid die Buchftabenfchrift entftanden. Wie fie 
entitanden? Wie etwa die erften Sagen aufbehalten worden? Wer 
ber Erfinder der Buchſtabenſchrift geweſen. Daß nur Ein Buchſtaben⸗ 
alphabet in der Welt und dies Semitifch fei. Ob das Bild von der 
Schöpfung aus Aegyptifchen Hieroglyphen genommen worden? Daß 
die äÄlteften Sagen vom Paradiefe aus dem höhern Aſien allmälich 
beruntergeftiegen.. Was in diefen Sagen Fiction fei? ob der Thurm 
zu Babel, bie Salzfäule, Jacobs Kampf mit Gott? Bon Lamechs 
Liede, dem Sinn und der Form defielben. Vom Styl der andern 
Erzählung. Unterſchied der Sagen mit Elohim und Jehovah. Beilage: 
die Stimme der Vorzeit. 


— 430 0 — 


Alciphron. Ans wichtigſte fommen wir zulegt; und vid- 
leicht haben wir uns bei unfern Geſprächen fehr vergebliche Mühe 
gegeben, die Poeſie der Ebräer aus ihren Väterſagen berzuleiten: 
denn eben dieſe Väterfagen find fie nicht neu? Hat nicht das Boll 
die Sprade, in der fie geichrieben find, erſt von feinen Erb 
feinden, den Sananitern, erlernt? Alfo find fie fpäter zuſam 
mengeflickt oder Mofes hat fie gar ſelbſt erfunden. 

Eutyphron. Alſo, ehe das Voll nah Kanaan kam, war 
es ftumm, es hatte feine Sprade? 

A. Das nicht: wer weiß, mas für ein Gemiſch von Worten 
es geredet. Aber die Sprade, in der diefe Stüde verfaßt ſind, iſt 
unläugbar die Sprache Kanaanz, die Phöniciſche Sprade. 

E. Und von wen mögen die Phönicier fie haben? Kennen 
Sie Teine verwandten Dialekte derfelben? und wurden dieſe nicht 
von lauter Semiten geredet? Syrien, Arabien, Chaldäa — 
lauter Senitifhe Stämme, Verwandte Abrahams und feiner Väter; 


nothmwendig mußten auch die Sprachen ihrer Nachkommen verwandt 3: 


ſeyn. Es ift Eine der Fabeln unfrer Zeit, deren Sinn ich nidt 
einmal begreife, daß man die Ebräiſche Sprade ausfchließend und 
urfprünglih für die Sprade der Kananiter hält. Auch nach der 
weltlihen Geſchichte haben ſich die Phönicter, die erft am rothen 
Meer wohnten, allmälih nur höher hinauf gezogen und ihre Küften 
des mittelländischen Meers bepflanzt. Nun will ichs nit ent: 
ſcheiden, ob fie voraus, ehe fie fich zwiſchen lauter Semitiſche 
Völferftämme drängten, nicht gar eine andre Sprache gefprocden, 
jo wie e8 auch noch völlig unbewieſen ift, mad man in neuem 
Zeiten ala Hypotheſe gewagt hat, daß die ältefte Aegyptiiche Sprache 
eine Schweiter der Ebrätfchen geweſen. Mir leuchtet das legte nicht 
ein; die Chamitifhen und Semitiihen Stämme jcheinen ſich fo 
wie in Sitten, der Religion, der Denkart, der politifchen Ein- 
rihtung; jo auch in der Sprade völlig von einander zu fondern. — 
Aber ſei das letzte, wie ihm wolle, alle verwandten Stämme aus 
der Gejchlechtstafel Abrahams Sprachen dem Ebräiſchen verwandte 
Dialekte; und fo muß aud fein Stamm cine folde, ja warum 


— 431 — 


nicht eigentlich das Ebräiſche, von feinem Vater Eber ber geſprochen 
haben. Alle diefe Sagen, alle Religionsiveen in denjelben von ber 
älteften Zeit ber find in einer dem Arabiſchen, Chaldäiſchen, 
Syrifhen verwandten Mundart urjprünglid gebadt und verfaßt 

318 worden; das bemeifet das ihnen fo ähnliche Idumäiſche Buch 
Hiob, das beweiſen die Wurzeln aller genannten Dialekte. Es ift 
fo fremde zu fagen, das Kapitel von der Schöpfung jei Aegyptiſch 
gedacht; als daß es urſprünglich Mericanifch verfaßt ſei. Mit den 
berabfolgenden Sagen iſts nicht anders. Semiten warens, die den 
Namen Jehovah aus der Urwelt brachten und in ihre Sprache 
feftprägten; nicht Chamiten, nicht Migraimen. Auch das Alphabet 
der Phönicier ift nicht von dieſem Boll erfunden: feine Namen 
find Chaldäiſch, nicht Afrilaniſch. Das Ebrätfche ift alfo die dem 
Stamme Ebers eigne Sprache, Teine erbettelte, feine erborgte; die 
Phönicier ufurpirten die ihre, wie ihr Land, ihre Gegend: beibes 
wahrfcheinlich des Handels megen. 

A. Warum follten fie das Land ufurpiren? Stand ihnen 
nicht die Melt offen und haben fich die Semiten, die Hirtenvölfer, 
je auf die Schiffahrt geleget ? Die Küfte gehörte alſo dem, der fie 
zu brauchen mußte. 

E. Bon der Küfte wollte fie au niemand verdrängen. In⸗ 
deßen ift aus der Art von Scheidung und Theilung der Völker 
offenbar, daß fie gewiße Richtungen ihrer Züge nahmen, und fich, 
woher es nun auch ſei? gewiße Gegenden und Striche gegeben 
glaubten. Japhets Stämme gingen Norbwärts über die Gebürge: 

319 da zogen fie weitläuftig in Zelten umber, wie auch der Nanıe jagt: 
fein Semit zog ihnen nad. Cham zog ſich nad den heißen Län⸗ 
dern, nah Süden, nach Afrika bin, wie abermals theils Moſes 
Geſchlechtscharte, tbeild fein Name ſagt. Blieben Stämme von 
ihm, wie wirklich geſchah, hie und da in Afien figen, oder dräng⸗ 
ten fie fi fpäter unter die Semiten; fo ſetzten fie ſich der Aus⸗ 
treibung aus: das ältefte Völkerrecht, Das auf foldden Sagen bes 
Urfprungs und urfprünglichen Vorrechts berubte, wollte es einmal 
nicht andere. Sie fehen, warum bie Iſraeliten ein fo gegründetes 


4 





— 482 — 


Recht auf Kanaan zu haben glaubten: denn daß fie dies veñ 
glaubten, ift aus den Schriften Mofes offenbar. Ihr Gejekgeber 
denkt mit einem Eifer daran, der ihm nicht nur feinen Zweite 
möglich machte, weil alle Sagen, der ganze Urfprung feines Bolls 
davon auögingen und darauf gebauet waren; fondern, es konme 
ihm auch fein Gedanke einmal einfallen, daß beide Stämme etwa 
gemeinschaftlich das Land bewohnen könnten. Semiten ſahen die 
Chamiten als einen Knechtsſtamm an; mit dem auch ber gefällige 
Abraham durchaus keine Vermengung zugab. Eliefer mußte nad 
Aram, Jacob nah Aram bin, um dem Geſchlecht Nachkommen zu 
verichaffen; die Heirath mit einer Rananiterin wurde als eine Ber 
legung der Stammes »Ehre angefehen — Turz, diefe Völker theil- 
ten fih fo wie an Religion, fo aud an Gegenden, Sitten und Denl- 
art; und an eine Verbrüberung zmifchen ihnen war nicht zu gebenten. 5" 

A. Das thut mir leid; infonderheit, daß fo frühe ſchon die 
Religion daran Schuld geweſen. Quantum relligio — fagt Lukrez 
mit Recht. 

E. Aud das war die Schuld der Chamiten. Woher es ge: 
fommen ſei, fo jehen wir offenbar, daß von den frübeften Beiten 
an in Chams Stämmen ſchwarzer Aberglaube, dunkle Abgötterei 
geherricht bat. Die Tradition fehreibt den Urfprung berfelben dent 
Cham felbft zu; ſei's oder nicht, bei feinen Nachkommen ift dieſer 
dunkle Zug einer finftern oder gar graufamen Religion unverfenn- 
bar. Denlen Sie an die Aegypter, Phönicier, Karthaginenſer, die 
gebildetiten Völfer dieſer Stämme: mie ſchwarz oder graufam waren 
ihre Religionsgebräude! und bei andern Afrikaniſchen Völkern ift 
ber elendefte Fetiſch⸗ Dienft daraus geworben. Thun Sie nun einen 
Blid in die Sprade und Religion der Semiten (denn im Grunde 
haben alle diefe Stämme vom Eupbrat bis zum rothen Meer nur 
Eine Sprade) wie hell und einfach ift ihre Religion! wie fehr 
von Sinnlichkeit abgezogen ift ihr Name Gottes! wie menſchlich 
und rein find ihre Begriffe vom Menſchen und feinen Pflichten! 
Es ift, ald ob man aus der Anechtshütte ins freie Zelt der Kinder 
und Freunde Gottes träte: benn bedenken Sie: eben dieſe Semi- 








— 433 — 


321 tiſchen Stämmes die Araber mit eingeſchloßen, haben das Verdienſt 
um die Welt, daß fie die Einheit Gottes und die reinften Ideen 
von Religion und Schöpfung mit einem Eifer erhalten und fort- 
gebreitet haben, die ihnen die höchſte Stammesehre fchien. Die 
Chamiten bingegen kamen ihnen an dem, was wir jebt Cultur 
nennen, zuvor: fie ftifteten Reiche und Polizeien: fie trieben Han- 
del, baueten Städte. Die meiften der Semiten blieben lange Hir- 
tenvölfer, ober erhielten fi) menigftend, auch bei andern Einrich⸗ 
tungen der Einfalt nahe: und Sie fehen, wie gut das für bie 
Sprade und Sage der Urwelt war. Sie wurde nicht verfünftelt, 
nicht verſchwemmt und verborben; einfältig und abgefondert mie 
das Belt, blich fie auch Väterheiligthum im Zelte. 

A. Da kommen Sie eben auf einen neuen Knoten. Wie iſts 
möglich, daß fo alte Sagen und Nachrichten, bei einem fo unmwißen- 
den Volk, bei feiner wandernden Lebensart ſich fo lange, fich Jahr⸗ 
taufende hinab erhalten konnten, daß fie nur einigermanffen Glauben 
verdienten? Meine Zweifel dagegen find beinah unauflöslid. 

E. Wir wollen vom Ende anfangen, fie zu löjen; von der 
Geſchichte Joſephs. Ste muſte fih, dünkt mich, erhalten, weil fie 

322 auf eine große Thatjache, auf die Verpflanzung des ganzen Volks 
nach Aegypten gebauet war und diefe erflärte. Solang ein Iſraelit 
in Aegypten lebte, konnte Joſeph nicht vergeßen werden; wenn 
nicht aus Dankbarkeit und Liebe, fo aus Noth, aus Drangfal. 
Alfo konnte und mußte diefe Geichichte zu Mofes kommen, geſetzt, 
daß fie auch vorher nicht aufgefchrieben wäre. Und fie ift fo 
urkundlich, fo Aegyptiſch! — 

A. Das ift wahr. Sie beurkundet Aegypten gewißermaaſſen 
jelbft aus fo frühen Zeiten, ob fie gleich ſehr Iſraelitiſch gedacht ift. 

E. Weil fie von Siraeliten, nicht von Aegyptern gedacht und 
erzählt wurde; das eben bürgt für fie. Mit ihr hängt Jakobs 
Geſchichte unauflöslich zufammen; fie ift auch, nebft der Gejchichte 
Joſephs die ausführlichite der Sagen,*) theils, weil fie dem Samın- 

a) 1 Mofe 27—50. 
Herters fümmtl Werke. XI. 28 





— 44 — 


ler die nächſte war, theils, weil ſich von ihr durch zwölf Söhne 
und ihre Geſchlechter viel erhalten muſte. Einzelne Traditionen 
find in ihr unverkennbar; aber von Einer Begebenheit zweierlei 
Traditionen, wie bei den ältern Sagen, finden wir nidt. Alles 
tft, fo viel möglich, durch Namen, Ort, Denkmal, Gefhlechtregifter 
bewiefen und ba die legten aud von benachbarten Stämmen fleißig 
und ausführlich zwiſchengeſchoben find,”) jo beurkunden fie auch Die 
Geſchichte dieſer. Gefchlechtregifter find das Archiv der Morgen- 
länder und die hiſtoriſchen Sagen ihr Commentar. Auch klingt in 
der Geſchichte Jakobs, feiner Züge, Kinder und Weiber alles jo 
birtenmäßig, hausmäſſig, weiblid — 

U. Und weiter hinauf? 

E. Wird die Gefchichte, wie es ſeyn muß, ärmer; bei Abra- 
hams Zuge in Aegypten ift eine zwiefache Tradition Tenntlich.*) 
Alles aber bleibt auch bier fo treu der Sade, fo Beit- und Drt- 
mäßig, daß fich jede Sage beinahb von der andern unterfcheibet. 
Bemerken Sie 3. B. den Nachhall der Arabiſchen Wüfte in Ismaels 
Geſchichte.) Daher find auch die Segend- und Heirathsgefchichten 
fo lang, denn aus ihnen gehet der Stammbaum bes Geſchlechts 
beroor, an den fih nachher alles Andre reihet. 

A. Und die Abfiht auf Kanaan ift auch immer merkbar. 

E. Sie muß es feyn, weil Kanaan der Zweck ber Züge 
Abrahams, der Inhalt aller Verheißungen, auch Schauplag Der 
ganzen Scene war. Derter und Familien waren die Zeugen ein- 
zelner Begebenheiten und das lange Leben der Stammväter ein 
Zaun um die Aufbewahrung der ganzen Geihichte.e Der Stamm 
war abgefchloßen, genoß einer ruhigen Lebensart und die Vater- 
jagen, nebft den Segensſprüchen und Verheißungen waren gleich⸗ 
fam die Seele defjelben, feine geiftige Speife. Ein kriegeriſches 
Volk hat Kriegslieder, ein Hirtenvoll Hirtengeſchichte — 

A. Und über Abraham hinauf? 

E. Verſchwindet die Gefhichte bis zur Sündfluth; bloß eine 
Geſchlechtstafel fteht da.) Und bemerken Sie, eben die Dürftigfeit 


b)1Mof. 36. c) 1Mof. 12.20.16.21. d)c.16.21. e) IMoſ. 10.11. 


& 
h 


3231 








— 485 — 


der Nachrichten in dieſem Zeitraum bürgt für ihre Wahrheit. Jetzt 
waren die Stämme auf ihren Wandrungen, drängten ſich dorthin 
und hieher; ſie muſten erſt Conſiſtenz und Ruhe bekommen, bis 
ſie mehreres von ſich hören ließen. Alſo von Abraham bis Noah 
füllen bloße Namen den Zeitraum; indeß wichtige Namen, weil ſie 
die Genealogie der Völker dieſes Orients ſind. 

A. Wenn ſie nur auch beurkundet wären! 

E. Sie müßen ſich ſelbſt beurkunden und das Verhältniß 
ihrer Glieder, der Stämme und Gegenden, dazu ſie gehören, beur⸗ 
kundet ſie ziemlich. Von Japhets Nachkommen iſt nur wenig, zwei 
Gefchleter:”) fie ſtehn wie terra incognita, eine eherne Mauer 

325 jenfeit der Gebürge da. Chams Nachkommen find zahlreicher ;*) Die 
Nachrichten von ihnen erftreden fich aber auch genau nur auf den 
Erdſtrich, der im Gebiet diefer Sage lag, von Aegypten, bis zum 
Euphrat; die übrigen Namen hängen ihm ebenfall® nur als terra 
incognita an. Auch bei ihnen geht offenbar das Ausführlichere 
immer aus beftimmten Anläßen und Sagen hervor z. E. die nähere 
Nahriht von Nimrod und den Kananitern.) Das Regifter der 
Kinder Sems bat noch deutlicher dieſes Verhältniß. Hebers Linie 
gehet hinunter fo wohl in Peleg als Joktan;) von Aram wird 
nur Ein Geſchlecht angeführt;*) die übrigen Brüder gehen leer aus, 
weil fie zu entfernt waren und feine Nachrichten fich von ihnen, 
wie von den näher anliegenden fanden. Das Verhältniß der Glie- 
der des Gefchlechtregifterö bürgt für feine Wahrheit. 

A. Alfo glauben Sie nit, daß Mofes dieſe Charte aufge- 
nommen babe? 

E. Wie konnte ers? Es ift ja eigentlich Feine Charte; ſon⸗ 
dern, mie eben gejagt ift, ein Gejchlechtregifter. Hätte ers erfun- 
den, gölte es nichts; und aus dem Verhälmiß der Glieder wird 
ja auch eben fo augenſcheinlich, aus welcher Zeit und Gegend es 
fegn möchte? 





— — —— 


NM1Mof.10,2—4. g)1Mof. 10, 6— 14. h)8.9—12. 14—19. 
i) 1Mof. 10,24— 29. Rap. 11, 10 - 20. K)1Mof. 10,28. 
28* 


— 436 — 


Aus welcher? ich bin begierig. 

E. Ohngefähr aus Pelegs Zeit und Gegend. Zu deßen Jet 
wanderten die Völker und wie die MWandrung nun verabredet 
wurde, oder mit wie viel Gliebern die Hauptftämme ausgegangen 
waren; das fcheint der Grund dieſer Geſchlechtscharte. Daher fteht 
von Japhets und Sems ältern Söhnen fo wenig; daher zieht fid 
die Sage in einem ſchmalen Erbftrich beinah zwiſchen dem Nil und 
Euphrat oder Tigris herunter. Da waren die Unternehmungen 
Nimrods, da zog das Geſchlecht Pelegs und Joktans, da pflanzte 
fh Aram an, da zogen ſich die Kananiter hin; das find alfo die 
Grenzen diefer Geichlechtregifter. 

A. Und hätte Mofes nichts dabei gethan ? 

E. Er machte vielleicht das Gefchlechtregifter, das er vorfand, 
fo viel er konnte, zur Landcharte: d. i. er feßte hinzu, mo und 
wohin ſich ohngefähr dieſe alten Familienſtämme ber aus einander 
gehenden Welt nah der alten Tradition gewandt hatten? Bon 
Japhet wuſte er gar nichts Näheres und fegte alfo (V. 5.) feine 
allgemeine Bezeichnung gleichſam in bie dunkle ſchwarze Welt der 
unbekannten Nordbländer hin. Bei Nimrod, Aflur und den Kana 
niteen (B. 8— 12. 18. 19.) jeßte er geographiih Hinzu, was cr 
von ihnen mußte; von den Kananitern das meifte, weil fie bie 


nächſten waren; doch fcheinen auch einzelne geographiiche Beftim: 3 


mungen tbeil® früher, theils ſpäter. Don Soltans Kindern that 
er nur ein kurzes Wort hinzu,) weil fie ihn, (gefehweige die andern 
Semiten) unbelannt waren. Sie fehen, die Armuth diefer Charte 
und Nachrichten felbit ift ihre Bewährung. 

U. Es Scheint mir alfo, daß man fi viel unnütze Mühe 
gegeben, da man dies Kapitel auch in den Namen als eine eigent- 
liche vollftändige Charte der alten Völkerwandrung betrachtet und 
jeden Namen als ein Land, als eine Stadt auffinden wollen. 

E. Das fcheint mir auch; indeß jede Mühe ift zu loben, 
wenn fie nur wicht ganz auf unrehten Weg kommt. Wer bürgt 


1) Kap. 10,30. 


Ih 


uns dafür, daß nicht einige dieſer Gefchlechter, die damals aus ein- 
ander gingen, bald verichwunden, verjhlungen, mit andern ver- 
mischt jeyn? und mer jagt und, daß man noch aller Yamilien 
Namen in Ländern finden müße? Schon Mofes oder ein früherer 
Erzvater wufte von Japhets, ja ſelbſt Sems und Joktans Wohnungen 
jo wenig, als bier (8. 5. 22. 30.) vorfommt, und wir follteng 
wien? Andre Glieder und Stäbte werden wieder mit einer Aus⸗ 
‚ führlichleit genannt, die bei der älteften Länderbezeichnung überall 
gewöhnlich ift, ala ob ein kleiner Strich die ganze Welt wäre? 
328 (B. 10. 11. 19. 26— 29.) wer jagt und nun, daß von dieſen 
Fleden und Städten fih Nachricht erhalten, daß nur z. €. alle 
Joktans-Söhne (B. 26 — 29.) fich in der (V. 30.) benannten Gegend 
namentlich angebauet haben? Der Grund aller diefer Irrungen 
ift, daß man das Kapitel als eine eigentliche Charte und zwar als 
eine Charte Mofes anfieht, da es urjprünglid nur Geſchlechtsregiſter 
der aus einander ziehenden Stämme und Söhne war, denen |pätere 
Gloſſen, die für uns indeßen aud uralt find, nur fo obngefähr 
ihre Site und Wohnungen bezeichneten, ohne doch dafür, daß und 
ob jeder Name geblieben? und in der Reihe geblieben fei? zu baf- 
ten. — Gnug indeß für uns, das Geſchlechtregiſter ziehet ſich 
jogar mit Chronologie der Lebensjahre, wie wirs von feinem andern 
Volk haben, big zur Sünbfluth hinauf — 

A. Und fo halten Sie auch das Tageregifter aus der Arche 
für ächt und urkundlich? 

E. Ich wüſte fonft nicht, wie e8 zu dieſer Geftalt, der Aus- 
meßung der Waßer über den Gebürgen nad Tagen feiner Zu⸗ und 
Abnahme käme? Alles ift in wirklicher enger Anficht der Sache 
jelbft aufgezeichnet: fein Ton, das Fragmentarifche diefer Nachrich⸗ 
ten vor, in und nad der Sünbfluth bürgt für ihr hohes Alter. 

A. Und die Sündfluth wäre jo allgemein geweſen, wie fie 
diefer Aufzeichner hielt ? 

399 E. Zu unjerm Zweck ſchadete es nicht, wenn fie auch nicht 
allgemein geweſen wäre. Gnug, der Aufzeichner hielt fie dafür 
und kannte fein Land, das ihren Waßern entronnen fei. Gefeßt, 





— 18 — 


daß im fernften Dft fich hohe Berge, und hinter ihnen ganze Reiche 
erhalten hätten; er kannte fie nit und follte fie nicht kennen 
Die Riefen, feine Verfolger und mit ihnen alles Lebendige des 
öftlihen Süd⸗Aſiens follten untergehen und er fich feine Haushal⸗ 
tung auch an Thieren in eine mweitlichere Gegend, von welcher nun 
die Bevölferung der Welt durch ihn anfangen jollte, mitnehmen. 
Giebts im fernften Oſt ſolche Völker, jo werben wir fte zeitig 
gnug fennen lernen — 

A. Wie aber? und wodurch? 

E Durch Zuſammenhaltung ihrer Spraden, PVerfaßungen 
und älteften Sagen mit dem, was fi vom Ararat nachher fort- 
gebreitet. Es verfteht ſich, daß dies lange Zeit nur Muthmaaſſun⸗ 
gen jeyn können, aber ich hoffe, nicht immer bleiben werben. 

A. Und die Gefhichte vor der Sünbfluth? 

E. Geht offenbar an einige bedeutende Namen, Gefchledt: 
regifter und Geſchlechtsſagen zujammen; auch bier bürgt alfo ihre 
Armuth. Sie will nicht mehr jagen, als fie weiß, und ſich auf 
diefem fchmalen Wege erhalten konnte. Ein dürftiges Geſchlecht⸗ 
vegifter,”) und die bedeutenden Namen deßelben find bie ganze 33! 
Brüde ihres Weberganges aus jener in unfre Welt. 

A. Sie fagten: bedeutende Namen — 

E. Never Name faßt die ganze Gefchichte des Stammpvaters 
in fih. Bemerken Sies von Adam an. Erdenmann heißt er, das 
ift feine Geſchiche. Aus Erde gemacht, zum Bau ber Erde 
beftimmt, zur Erde werdend; weiter wißen wir nichts von ihm. 
Abel ein Traurender, oder um ben getrauret wird; da ift feine 
Geſchichte. Kain, der erfte Beſitzthümer; auch feines Sohns Hanoch 
Namen ftimmet dahin. Noah, unter dem die Erde Ruhe finden 
würde vom Frevel der Tyrannen; jo ferner. 

A. Alſo können das nicht die Namen ſeyn, die jeder ber: 
jelben im Leben führte: denn alle, die ihren Kindern Namen 
gaben, waren doch nicht Propheten über ihr ganzes Leben. Wußte 
Eva Abels Schickſal voraus, da fie ihn Abel nannte? 


m) 1 Mof. 5. 











— 49 — 


E. Das glaube ich nicht; bei einigen werden indeß ihre 
Namen, als fie ihnen gegeben wurden, anders gedeutet. So z. E. 
bei Kain, bei Noah; andre ließen vielleiht, da die Sage ausge⸗ 
bildet ward, eine Biegung zu, wie wir fie in jpätern Traditionen 
gebräudlich finden. Denten Sie an Abram und Abraham, Sarai 

331 und Sarah, Eau und Edom, Jakob, Iſrael und ferner. Der 
Mann nahm aus fpätern Begegnißen feines Lebens entweder einen 
andern Namen an, oder bog den feinigen unvermerft über, daß 
er der bedeutende Name feines Lebens wurde. Bei einigen Namen 
ſcheint mir dies leicht geweien zu ſeyn, wie die verwandten Wur- 
zeln, die um das Hauptwort, wie Zweige um den Alt ftehn, zeigen. 
Der Kainit Hanoch führte feinen Namen der Weihung in einem 
andern Verſtande, ala der gemweihete Sethite Henoch: Kain, Methu- 
falem u. f. kann jo oder fo gedeutet werben; doch zu unfrer Sache 
thut das Nichts. Mögen alle Namengebende Eltern vor der Sünb- 
fluth Propheten gemwefen jeyn oder nicht; die Namen ihrer Kinder 
find bedeutende Namen. An vielen derfelben, wie aud nad 
der Sündfluth der Name Sems, Japhets, Chams zeigt, hangt 
die Geſchichte ihres Lebens, jo gar ihres Stammes. Aus 
Namen ging alfo die ältefte Gefchichte Hervor, an Namen wurde 
fie gehängt, durch fie erhalten, die allgemeine Sitte der Mor» 
genländer mit ihren Gefchlechtregiftern beweifet dies unwider⸗ 
ſprechlich. 

A. Wo aber im Namen die Lebensgeſchichte nicht lag? 

E. Da wurde ſie durch ein Lied, eine Sage beigeſchoben. 
Sie ſehens bei Lamechs Schwert, bei Henochs Wegnahme. Von 
Kainiten ſind keine Namen überblieben, als das Geſchlecht der 

332 Erfinder, und ſo zieht ſich dieſer ſchmale, ziemlich ſichre Familien⸗ 
pfad zum höchſten Alterthum hinauf. 

A. Und wir ſollten dieſe Namen noch in der Urſprache 
haben? 

E. Das kümmert mich nicht. Wars eine andre Sprache und 
ſie wurden überſetzt, wie z. E. der Name Moſes: deſto beßer, ſo 
konntens wirklich bedeutende Namen werden. 





— 40 — 


A. Sie ſetzen damit aber wenigſtens die Erfindung der Bud- 
ftabenjchrift jehr hoch hinauf: denn fonft war die Erhaltung folder 
Namen in Gejchledtregiftern kaum möglich. 

E. Zuerft wurden vielleiht nur Zahlen etwa mit einem Zei⸗ 
chen der Bedeutung des Namens angefchrieben; und bei dem Zeichen 
erhielt fich der bedeutende Name, mithin auch des Mannes Geſchichte 
So machens noch jetzt alle finnlihen Völfer, und ohne Sachbebeu- 
tung waren Namen neben den Striden und Zahlen faum aufzu- 
ichreiben oder zu behalten möglid. Bei Abels Namen fam etwa 
dad Bild eines Erſchlagnen, bei Hanochs das Symbol einer 
Stadt u.f. So wäre es gegangen, wenn feine Budftabenjchrift 
da war; mid dünkt aber, fie war frühe da und eben auf diefem 
Wege durh Namen und Gejchlechtregifter muſte fie bald erfunden 
werden. 

A. Bald? jedermann hälts für die fpätefte und ſchwerſte 
Erfindung. 

E. Nach drei taufend Jahren war fie jo fchwer, ala im erften 
Jahrtauſend; ja ſchwerer. Hatte die Bilder» auch nur die Hiero- 
glyphenichrift einmal Wurzel gefaßt und fih nur jo weit ausge- 
bildet, daß man das Nothoürftigfte mit ihr jchreiben fonnte, fo 
dachte man gewiß an feine Budhitabenichrift, wie das Exempel der 
Aegypter und Sinefen zeiget. Aus Bildern können Hieroglypben 
werden; aber aus Hierogigphen nie Buchftaben und wenn fie zehn: 
taufend Jahr lang modificirt würden. Aus der Sade felbjt, die 
man mablt, wird nie der artifulirte Theil eines Schalled, vielmehr 
fommt man durch jene unendlich von diefen ab; und es ift wahr- 
ſcheinlich die Buchftabenfchrift frühe erfunden worden, over fie wäre 
noch nicht da — 

A. Der allgemeinen Meinung ift das ziemlich zumiber. 

E. Mih dünkt, die allgemeine Meinung bat fi in diefem 
Punkt nicht gnug auseinander gejegt: denn, wenn die Buchſtaben⸗ 
Ihrift je erfunden werben follte, fo mußte fie bei fimplen, ſehr 
beftimmten und den nöthigften Anläßen, die nit durd Bilder 
ausgebriidt werben fonnten, erfunden werben; das find Nanıen. 


FI TR) 
N 





— 4 — 


334 Und daß Namen und Geſchlechtregiſter die erſte Tradition der älte- 
ften Welt find, das ift That. Sie mufte zweitens bei Gegenftän- 
den erfunden werben, die allgemein befannt waren, mo ein Wort 
oder mo allenfalls ein dabei gejehtes Zeichen alles in Erinnerung 
brachte; und das waren offenbar bedeutende Namen, wo das Wort 
die “dee vom Leben des ganzen Mannes wedte. Drittens gehör- 
ten dazu beihelfende Umftände der Erfindung und Erinnerung z. ©. 
das lange Leben der Patriarchen, ihre Einfalt, ihre Flucht für 
Bildern und Symbolen der Gottheit, die Verehrung, in der fie 
bei einem ganzen Geſchlecht von Nachkommen ftanden, die bobe 
dee, in der fie durch diefe fimple myſtiſche Zeichen den ganzen 
Urfprung des Menſchengeſchlechts, ja die ganze urjprüngliche Got⸗ 
tes » Offenbarung auf eine von ihnen entjpriefiende Nachwelt brach⸗ 
ten. Dos veinfte, frübefte, ftärkite Bebürfniß weckte alles ober es 
ward nichts gewedt; dünkt Ahnen das nicht aljo? 

A. Beinah. Wer hätte alfo die Buchflabenjchrift erfunden? 
E. Das weiß ich nit; mer weiß e8? Die Tradition meh> 
rerer Völker nennet ihn Seth, Thet, Theut, Thoit, alles Ein 
Name; vielleicht ifts eben ber, ber, feinem bebeutenden Namen 
jelbft nad, ein Denkmal feste; Schrift war gewiß ein ewiges Denk⸗ 

335 mal. Und die Erfindung war fo ſchwer nicht, jobald man einmal 
darauf gerieth. Er zerglieberte etwa den Schall des Mundes bei 
einigen Namen, die auf die Stammtafel fommen follten, und fich 
etwa nicht in bedeutenden Bildern darauf fegen ließen: jo war bie 
Erfindung geſchehen. Kinder und Enkel verfammleten fi daran 
infonderheit an Religionstagen: denn dies Vaterdenkmal war ihnen 
Religion ſelbſt. Sie lernten die Namen ihrer Väter mit diefen 
Zeichen der Schälle verbinden und jo wurde die Erfindung beve- 
ftigt, wie etwas beveftigt werden konnte. Sonad wäre das fünfte 
Stapitel unfres erften Buchs Moſes in feinen Namen und Zahlen 
die erfte Denktafel in artitulirten Schällen geweſen, die ſich wahr⸗ 
fcheinlid durh Noah auf Sem fortgeerbet, wie der bebeutende 
Name des legten abermals anzeigt. 

U. Und die frühern Sagen ? 


— 4 — 


E. Die erbten fi wahrſcheinlich in Bildern oder als Gage 
fort, bis die Buchſtabenſchrift tiefere Wurzel gefaßt hatte. Die 
Geſchichte der Schöpfung ift ganz Bild nad Tagwerken und Zahlen; 
in fieben Bildnigen der Sache felbft; etwa nah dem Barallelismus 
ihrer Beziehungen geftellt, konnte fie aufbehalten und anerkannt 
werben, weil das Inſtitut des Sabbats fie erneute und aufbewahrte. 
Mit ihr aber war der Grund nur zur Hieroglyphenſchrift geleget. 
Ein gleiches wars mit der Geſchichte des Paradieſes. Wenn man 3% 
Baum, Weib, Schlange mahlte, hatte man Crinnerungszeichen 
gnug; und bie Sache felbft, die Entfernung aus Eben, Die ver: 
Ainderte Lebensweiſe erhielt fie leider! thätlih. Sehen Ste von 
dieſer Art der Erhaltung feine Spuren in dieſer Erzählung ſelbſt? 

A. Ich wünſchte fie zu fehen: denn fonft bliebe alles Meinung. 

E. Zu Enos Zeiten fing man an fi beim Namen Jehovah 
zu nennen; was bie Worte auch heißen mögen, fo ſetzte das ſchon 
eine Art von Belänntniß und Angelobung etwa bei einem öffent- 
lichen Denkmal der Religion voraus: denn daß biemit auf bie 
Kinder Gottes, die bei den Töchtern der Menſchen fchliefen, gejehen 
werde, ift eine unftatthafte Erklärung. Jene heißen Söhne der 
Elohim, kommen in einem Fragment von Heldenfage vor, und 
beißen offenbar Helden, Mäctige, wie fie auch deutlich erklärt 
werden. Hier nennte man fich beim Namen Jehovah, d. i. man 
gab ſich als einen Verehrer deßelben an; vermuthlich war dies die 
Zeit, wo Seth ein foldhes Denkmal des Namens und Worts Got- 
tes errichtet Hat, und die alten Fabeln von Seths Säulen wären 
ebenfalls daher. — Doch tft und bleibt das alles nur Muth- 
maaflung: mag die Erfindung der Schrift auch fpäter gefchehen 
jegn, gnug, in der Familie Seths oder Sems ift fie erfunden 
worden. Alle öftlihe Völker, die einſylbige Sprachen haben, ken⸗ 3: 
nen nur Hieroglyphen: Ein einziges Buchſtabenalphabet erfiftirt nur 
auf der Erde und die Namen deffelben, auch wie die Griechen 
nachher fie durch die Phönicier überkamen, find offenbar Chaldäiſch 
db. t. in der Semiteniprade. Die Phönicier hatten fie nicht erfun- 
den: denn, wie gejagt, auch ihre Sprache hatten fie wahrſcheinlich 











— 443 — 


von Semiten angenommen, weil ſie mitten unter ihnen wohnten, 
und die andern Chamiten haben keine Buchſtaben. Selbſt die 
Aegypter hatten nur Hieroglyphen; als ſie Buchſtaben annahmen, 
wars eben dieſe dem Vorurtheil nach Phöniciſche Schrift. 

A. Sie halten alſo die Erzählung vom Baum der Erkännt⸗ 
niß und das Bild der Schöpfung nicht für Aegyptiſchen Urſprungs? 
Etwa aus Hieroglyphen geſchöpft, die Moſes vorgefunden — 

E. Freund, was iſt hier Aegyptiſch? oder nur einer Aegypti⸗ 
ſchen Hieroglyphe ähnlich? Es iſt ja alles verlacht, was dieſe 
Geſchichte in Kunſtdenkmalen aufzeigen wollte, und iſt als ſpäter 
Betrug mit Recht verlacht worden. Worauf gründet man nun die 
Meinung? wo exrſiſtirt die Hieroglyphe aus der Moſes geſchöpfet? 
wo iſt auch nur etwas Aehnliches von dieſer Geſchichte in der 
Aegyptiſchen Mythologie und Sprache? Daß ſich einige Begriffe 

338 von Nacht, Geiſt, Licht, Aether mit einigen Aegyptiſchen Göttern 
begegnen, thut zur Sache nichts: denn auch Mizraim hatte ſeine 
Urbegriffe von den Vätern, alſo von Noah her; wie dunkel und 
ſchwarz ſind ſie aber in dieſer Götterlehre mizraimiſiret! Ich 
möchte den Esra kennen, der aus dem Schlamm des Aegyptiſchen 
Nils das heilige Feuer der erſten Schöpfungsbegriffe rein auffinden 
könnte, und den Jeremias kennen, der es dahinein verborgen. 
In den Sprachen der Nachkommen Sems, die wir gewöhnlich die 
morgenländiſchen nennen, liegt alles augenſcheinlich: die Wurzeln, 
die Grundbegriffe, der Parallelismus Himmels und ber Erbe, 
Gottes und des Menfchen, Geſchöpfe der todten und lebendigen 
Schöpfung find nach ihnen geftellt und georbnet. Kann ein größe- 
rer Beweis jeyn, als diefer ? die Bildung einer ganzen Reihe von 
Stammesſprachen nah Bildern, Wurzeln und in folder Denkart. 
Erinnern Sie fi überdem, aus melden Gegenden diefe Sagen 
offenbar feyn? Paradies, Baum des Lebens, die Cherubim, bie 
Sündfluth — wohin fie der Sammler felbft jeget? bemerken Sie 
ben fortgehenden Gang ber Cultur von Dften nach Weiten, vom 
Ganges zum Ararat, von diefen Höhen Aliens den Zug der Völ⸗ 
fer in die Thäler der Welt, endlich aud in das fpäte, aus dem 


— MM — 


Schlamme des Nils zum Theil erwachſne Aegypten; wie natürlicer, 
wie einftimmender ift das Alles zur Gefchichte der Erde und des 3" 
Menſchengeſchlechts! Oſtwärts um die größefte Höhe von Aſien 
finden ſich wahrſcheinlich noch die älteften Mythologien, Sprachen 
und Verfaßungen der Völlker: ba ift noch ein großer Strich gan; 
einfylbiger Sprachen (denn alle Kinder ſprechen zuerft einiylbig) 
und, was fonderbar ift, hangen dieſe Völker auch noch an ben 
Hieroglyphen, kennen feine Bucftaben und haben ihre alte Ber: 
faßung, die offenbar aus dem Vater - Defpotismus entftanden iſt, 
Jahrtauſende dur, gleihfam zum emigen Denkmal der Kindheit 
der Welt erhalten. Werben wir die Mythologien und Sprachen 
dieſer Gegenden einmal mehr kennen lernen: jo werben wir manches 
aus der Urgefchichte unfres Geſchlechts und aus ber Yortleitung 
der früheften Ideen in hellerm Licht fehen. So viel aber fehen 
wir Sonnenklar, daß Aegypten nun und nimmermehr das Vater⸗ 
land diefer Traditionen feyn Tann; von der Höhe Aſiens ſtammen 
fie herunter: fie haben fi mit den Semiten fortgebreitet; zuletzt 
ward Kanaan der Winkel ihrer Aufbewahrung und alle Umftände 
des Volks jo eingerichtet, daß fie rein aufbewahrt werden Tonnten. 

A. Die Ebräifche Sprade halten Sie alfo doch nicht für die 
ältefte Sprache unter der Sonne, die Sprache des Paradiefes, die 
Mutter aller Spraden der Erde — — 

E. Wie könnte fie das, wenigftens in ihrem jetzigen Zuftande 34 
ſeyn? Ihre Wurzeln find alle geregelt und zweifylbig; in ihren 
Grundfäben ift fie fchon eine fehr gebildete Sprade. Menschen, 
die Jahrtauſende leben, müßen einen andern Bau, andre Organe, 
mithin auch eine andre Sprache gehabt haben; offenbar ift das 
niedre Afien, wo diefe Völferftämme wohnen, (nicht Kafchmire oder 
der Ganges) Elima zu diefer Mundart. Indeßen halte ich fie für 
eine_ Tochter ber Urſprache und zwar für eine der älteften Töchter. 
Ihre Regelmäßigfeit auch in den Wurzeln Hindert fie daran nidt: 
biefe ift eben aus dem frühen Gebraud der Buchſtabenſchrift ent- 
ftanden, denn es ift aus der Geſchichte aller Sprachen und Völker 
zu erweiſen: „Buchſtaben und Schrift haben alle Sprachen geregelt, 











— 445 — 


bei Hieroglyphen bleiben ſie in einer ewigen Kindheit und unüber⸗ 
ſehbaren Wildheit.“ — 

A. Sie geben mir einen hellern Ueberblick dieſer Dinge, als 
ich ſonſt hatte. Je mehr man Alles in Allem finden will; deſto 
mehr findet man nichts. Ich will mich gewöhnen, dieſe Echo 
älteſter Zeiten auf die Simplicität ihres Urſprungs zurückzuführen 
und von ihr nicht mehr hören zu wollen, als ſie ſagen kann und 
ſaget. Sollte aber nicht manches in ihr blos ſpätere poetiſche 

341 Fiktion ſeyn z. E. der Thurmbau zu Babel, die Geſchichte der Ver⸗ 
wüſtung Sodoms, Jakobs Kampf mit dem Engel u. f. 

Bei dem erften Haben Sie mir gezeigt, daß es ein Spotige- 
dicht auf die Unternehmungen des erjten Ufurpators ſei. Ver⸗ 
muthlich fiel etwas bei dem Bau vor, daß die Stämme uneinig 
madte: fie ließen das Werk liegen und gingen aus einander. 
Sobald einige zogen, zogen mehrere; wie ſich der Schnee wälzt 
und ein Haufe den andern drängt. Es ging bier fo, wie bei ber 
Völfermandrung im Anfange der chriftlihen Epode, und dieſe 
war nur die erfte folder Art. Sie fam auch aus eben der Gegend, 
von der alle Wandrungen feitbem gekommen find, vom Ararat, 
aus der Tatarei, der ewigen Gebährmutter wilder Völker. — Die 
Geſchichte der Zerftörung Sodoms ift wahrfcheinlich fpätere poetische 
Einfleivung eines Ebräers, wie die Salzläule, vermuthlih ein 
fpätes Monument, zeige. Und endlich der ganze Kampf Jakobs 
mit dem Engel, aud wie Sie ihn erfläret, ift vielleicht nichts als 
eine poetiſche Umfchreibung ſeines ringenden Gebet? mit Gott, daß 
er ihn vor Cjau bewahren möchte. Wir finden dies Gebet vorher 
erzählt, und ber nächtliche Kampf war vielleicht blos Fiktion einer 
andern Sage, die den Namen Elohim Hat und alles poetiicher 
erzähle. Der Sfraelitiihe Prophet, den Sie anführten, hats 

342 eben jo verftanden: „Er kämpfte mit dem Engel und fiegete: 
denn er meinete und bat ihn;“ weinend und betend kämpft 
man förperlih eben nit am beften. Solder Einkleivungen 

kann es nod viel mehr geben, die wir treuberzig für Gejchichte 
halten — 


— U — 


E. €3 wäre nichts daran, wenn das Alles jo wäre; Sie 
befriedigen mich indeßen mit diefer Deutung nicht, Die Berichte: 
denheit der Sprachen auf der Erde iſt ein Problem, das ſich durch 
die ruhigen Wandrungen der Völker nicht erklären läßt, auch wenn 
ih Clima, Land, Lebensart, Sitten des Stamms als genetiſche 
Urfachen derfelben dazu rechne. Oft wohnen Böller dit an einan- 
der, die von Einem Stamm d. i. von Einer Bildung und den ver- 
ſchiedenſten Spraden find. Eine Inſel, ein Heiner Welttheil faßt 
deren oft viel in einem engen Sreife und die kleinſten, wildeſten 
Völker find die reichiten an Verfchievenheit der Spraden. Wenn 
wir Einmal die Liften aller Völker nah den drei Haupt - Rubrifen, 
die hierher gehören, ihren Bildungen, Spraden und Stammes- 
mythologien neben einander haben werden, wird fi) davon beßer 
urtheilen laßen; jo viel ich jegt weiß, ift mir aus dem Begrif der 
Wandrung nicht alles erflärbar. Nicht Verfchievenheit, d. i. Mund- 
arten Einer Sprache nad verjchiebnen Dimenfionen und Urfachen 
der allmäligen Veränderung ift bier das Problem; fondern totale 
Verſchiedenheit, Verwirrung, Babel. _ Da muß etwas Bofitives 3% 
vorgegangen jeyn, das dieſe Köpfe auseinander warf; philoſophiſche 
Debuctionen thun fein Gnüge. — Sch nehme alfo die wunderbare 
Erklärung unfrer Sage an, weil ich Feine natürliche weiß. — 

Ein gleiches iftö mit der Vermüftung Sodoms. Sie hat ſtarke 
poetiihe Züge, wie z. ©. 

Auf ging die Sonne über der Erbe 

und Loth erreichte Zoar. 

Da ließ Jehovah regnen über Sodom und Gomorra, 

Schwefel und Feuer von Iehovah vom Himmel herab. 

Er kehrte diefe Städte um: 

die ganze Ebne warb verberbt 

und alle Bewohner der Städte und was die Erde fproßt. 

Und als Loths Weib umfchaute hinter ihm her 

erfiarzte fie zu Salz — 
d. i. fe verbrannte und warb auch in ihrer Geftalt ein Denkmal 
der Vermüftung; wovon in Morgenlande das Salz immer ein 
Dentmal war. Mags feyn, daß nachher auf der Stäte, da fie 


— HUT — 


ſtarb, ein Denkmal von Harzſtücken zuſammengeworfen wurde, wie 
die Morgenländer zu thun gewohnt ſind; mags ſeyn, daß ſich eben 
dieſer Ausdruck der Salzſäule an ihm fortgeerbt hat: ſo iſt ſo 
wohl dies Wort als der doppelte Name Jehovah, der regnen ließ 
und von dem es regnete, eine ſehr natürliche Energie des Aus— 
drucks, weil, jede Sage ſich ihrer Materie anfchließt; die Räthfeleien 
344 über beides find unnöthig oder Mähren. — Endlich die Gefchichte 
Jakobs mit dem Engel wird ganz hiſtoriſch erzählt; fie fteht neben 
und nad dem Gebet, nicht ala feine Paraphraſe da, und mid 
dünkt, wir haben gnug über fie geredet. — 
A. Sie finden aljo feine eigentliche Poefie in allen diefen Sagen? 
E. Wie Sie das Wort Poefie nehmen. Lieb tft nur ein 
Einziges darinn, Lamechs Lied auf die Erfindung des Schwerts 
(denn das iſts dem Zufammenhange und dem gefunden Verftande 
nad, fein unfinniges Frohlockungslied über Kains Ermordung). . 
Es hat Maas der Glieder, und fogar Affonanzen: her Parallelis- 
mus ift in ihm und Sie fehen, wie alt diefer ift. Lyriſche Poeſie 
und Muſik find zu Einer Zeit, in Einer Familie erfunden: jene 
war die Tochter diefer und immer find fie vereinigt geweſen. Kurz, 
bier ift das Heine Triumphslied, ich kanns Ihnen aber nur ohne 
Aflonanzen, ohne Reime geben: 
Ihr Weiber Lamechs, höret meine Rebe! 
hört meine Sage: 
Sch tödte jett den Dann, ber mich verwundet, 
ben Jüngling, der mir eine Beule fchlägt. 
Sol Kain fiebenmal gerächet werben, 
fo wirds igt Lamech fiebzig fiebenmal. — 


Er fühlte nehmlich die Uebermacht des Eifend und Schwerts gegen 
345 die Angriffe andrer Mordinftrumente. — Eigentliche Lieder wie 
diefe finden wir weiter in dieſen Sagen nicht; aber viel Poefie in 
der Erzählung, in Anfiht der Dinge überhaupt, infonderheit in 
Sprühen und Lehren. Dem kurzen, abgemeßenen majeftätifchen 
Inhalt nah ift das Bild der Schöpfung hohe Poefie, obwohl 
nicht zum Gefange. Die Segensſprüche der Väter find alle bon 





— 48 — 


in Sprüchen voll Parallelismus; obwohl nicht zum Geſange. Die 
ganze Erzählung iſt bald Idylle, bald eine Art Heldenſage, voll 
Einfalt des Ausdrucks. Ihre Materie und Ton ward Grund der 
folgenden Poeſie und Geſchichte, wie die Sagen der Väter bei allen 
Völkern. — Kurz, m. Fr., wir find jetzt die Zugänge durch und 
werben fünftig das Gebäude felbft fehen. 

A. Sie müßen mir noch cine Trage erlauben. Sind Sie 
mit der Hypothefe vom Unterſchiede dieſer Sagen, die theils Jeho— 
vah, theild Elohim haben, auf etwas Gewißes gelommen ? 

€. Der Unterſchied infonderheit in den älteften Stüden fält 
in die Augen und er ift von einem neuen Schriftfteller*) mit 
einer Genauigfeit durchgeführt worden, die faum etwas übrig läßt; 
wenn nicht allenfalls die zu große Genauigkeit der Hypotheſe ſebſt 
ſchadet. Es werben durch fie Stüde zerrißen, die offenbar zufam- # 
men gehören, auch mwahricheinlih aus Einer Zeit und vielleicht von 
Einer Hand find. Wahrſcheinlich Hatte man Rüdfihten, wo man 
Elohin und wo man Jehovah fegte; die älteften Stüde hatten 
Elohim, auch die, wo man den älteften Stüden folgte, oder etwas 
erzählte, das der Würde Jehovahs nicht eigentlih gemäß mat. 
Andre Stüde, aus dem Munde der Tradition vielleicht ſpäter auf- 
genommen, haben durchhin Jehovah; doch auch jenen ward biefer 
Name wahriheinlih vom Sammler oft eingefhoben. Zur höchſten 
Gewißheit wird man in Dingen der Art nie kommen und bei allen 
Sagen, dieſes ober jenes Namens, ift ihr Uriprung aus Einer 
Quelle, der Tradition des Stammes der Semiten, unverkennbar. 


*), Eichhorns Einleitung ins A. T. Th. 2. ©. 301-383. 


347 


— HI — 


Stimme der Vorzeit. 


Wo fommft du her, du Stimme alter Zeiten? 
wo gebft du bin? 

Und wie erbielt im Sturm der Wetter und ber Sabre 
fih dein gelinder Hauch? 


Kommt du vom Lebensbaum der heilgen Quelle 

in Edens Hain? 

Daß du don Schöpfung uns und von der erſten Liebe 
weißagendem Gefühl, 


Vom Trugesbaum und von der Vaterhütte 
voll Muh und Schmerz, 

von Fluthen, Riefen, von ben Himmelsſtürmern, 
nit fingefl, fondern fagft? 

Sprich, wie entlameſt bu den ſchiveren Wogen 
bes Weltgerichts? 

Und leiſe wie bu bift, entranneft der Zerftreuung 
ber Bölfer in die Welt? 


Verbarg dein Bater bi vor Sturm und Wettern 
ins Paradies? 

Und fandte mit dem Blatt der holden Friedenstaube 
dich ſeinem neuen Sohn? 


Ja Tochter Gottes und der Menſchenſtimme, 
du ſtiegſt mit ihm 

(fein Pfand, fein Heiligthum, die Echo ſeelger Bäter!)" 
ein in fein Fluthenſchif. 

Und hielteft di) am Stamme ber Gefchlechter 
im Namen veft, 

und famft hinab, beſchützt vom heilgen Gottes - Namen 
binab auch bis zu uns. 

Gebrochne Züge der Gebächtniftafel 
uralter Welt, 

feyb heilig mir! Ihr gabt welch einer weiten Erbe! 
Religion und Schrift. 


Herders ſanuntl. Werke. XI. 29 





Moſes. * 


“ a4, 2, 9. Unfre Entfernung, m. Fr., fol uns nicht hindern, den großen 
Mann zu betrachten, der, fo wie zur. ganzen Iſraelitiſchen Ve: 
faßung, To auch zum Gebrauh und Genius ihrer Poeſie den 
näheren Grund gelegt bat. Wir find jebt die Zugänge zum 
Gebäude durchgegangen und haben fo wie in ber Cosmologie und 
älteften Tradition dieſes Volks, fo auch in den Grundbegriffe 
ihrer Poefie und Religion aus den Sagen der Bäter Materie 
zufammengetragen, auf die wir uns fünftig oft beziehen werben 
Seht ändert fi die ganze Scene: fein Hirtenvoll, Teine Hirten 
begriffe von Gott und dem Kreife des Lebens umher finden mir 
mehr; ein in Aegypten gebohrner und erzogner Mann, dem Ara 
bien fein zweites Vaterland, der Schauplag feiner Einrichtungen, 
Thaten, Züge und Wunder ift, ftehet vor und. Auch der Gall 
der Poefie feines Volks wird alfo daher Geftalt und Bildung nehmen 

Ich nahe mich dir, erniter, heiliger Schatte! Einer ber älte 
ften Gejeggeber und Wohlthäter des menſchlichen Gefchlehts! Dein 
Antlig glänze nicht zu fehr, daß ich deine Züge erfenne und fie 
meinem Freunde mit Licht und Wahrheit, die du dem Fürſten 
deines Volks als Heiligtum auf die Bruft legteſt, zeige. 

Das frühe Schickſal Mofes war fo wunderbar, wie wird im: 
ſpätern Alterthum bei mehrern Gejehgebern und großen Männern 
entweder ala Geſchichte, oder als Fabel nahgeahmt finden. Ein 
Cyrus, ein Romulus u. a. wurden wie Er errettet, und jean 
Name erinnerte ihn daran, daß ihn die Gottheit durch Die Hand 
einer Fürftentochter eben des Volks, das die Seinigen unterbrüdte, 
nicht umfonft aus dem Waßer gezogen habe. Es fcheint, die Vor: 








— 41 — 


ſehung habe ihr weiſes Spiel darinn, die größejten Dinge an einem 
jeidnen, oft widerwärtig geflochtnen Faden aus dem Schlamme des 
Nichts bervorzuziehen und die Hand der Feinde ihres Raths zu 
ihren tiefverborgenen Zweden zu gebrauden. 

Am Hofe Pharaond ward Moſes erzogen. Gelehrt in aller 
Meisheit der Aegypter ward er aud mit den Geheimnißen ihrer 
Priefter umd der Staatsverfaßung des Landes befannt, das bie 
Wiege der politiihen Einrichtung mehrerer Völker geworden. Die 
Sage macht ihn auch zum Kriegshelden; wovon aber die Gefchichte 
feines Volks ſchweiget. 

Es iſt dem Gange der Vorſehung durchaus nicht ſchimpflich, 
daß ſie ihr Werk durch Werkzeuge treibt und göttliche Zwecke durch 
| menfhlihe Mittel befördert. Ein Boll follte zu den Sitten und 
‚351 dem Gott feiner Väter, wie e8 feyn fonnte, zurüdgebildet werden, 
das diefe Sitten in Aegypten verlohren hatte, dem, nahe am 
Götzen⸗ und Priefterbienft der Mizraimen, der Gott feiner Väter 
fremde geworden war. Ein Wegyptiicher Weiler mußte es feyn, 
der es von feiner Verwilderung zurüdbrachte, der jelbft Aegyptifche 
Einrihtungen dazu nutzte, ihm die Religion feiner Väter wieber- 
zugeben, wie es fie jet faßen konnte, und um fie daran veft zu 
halten, um aud ihre Sinne und Gewohnheiten zu bejchäftigen, aus 
den Geräthen und Kleinodien eines abergläubiihen Volks ihnen 
einen Gottesdienft, eine Hütte aufzurichten, die Troß alles Sinn- 
lichen und Bildlichen das erjte politifche Hetligthum der reinen Er⸗— 
fenntniß auf der Erde war. Es iſt thöricht, leugnen zu wollen, 
daß Mofes bei der Einrichtung feines Priefterftammes, feine® Tem- 
pels, feiner Gebräude nicht auf das Aegypten Rüdfiht gehabt 
hätte, in dem er felbft gebildet war und von dem er fein Bolf 
wegbilden mollte; die Spuren der Aehnlichkeit find unverkennbar. 
Daß er auf Prieftertfum Alles bauete, daß er dazu einen eignen 
Stamm wählte, Opfer, Reinigungen, Kleider, das Bruſtſchild des 
Hohepriefters, viele einzelne Gebräude, die es bier aufzuzählen und 
mit Aegypten zu vergleichen, zu lang wäre, zeigen es gnugfam. 
Der Geift feiner Neligion aber mar nicht Aegyptiſch. Sein Gott 

29 ” 


war Jehovah, der Gott feiner Väter; und aud in Gerimonten 308 : 
er feine Einridtung wie Geift aus der groben Materie, ja wo 
etwas abergläubig war, wo es nur von fern zur Abgötterei führen 
fonnte, arbeitete er dem ſchwarzen Geift des Inechtifchen Aegyptens 
itrads entgegen. Keine Gögenbilver lernte fein Volk fennen: das 
güldne Kalb, das Nahbild Aegyptiiher Kunft und Weisheit, ver- 
brannte er mit Feuer und gabs, voll Zorn und Eifer feinen Abgöt- 
tifchen, al einen Gräuel in der Aſche, zu trinten. Keine Figuren 
hatte und litt fein Tempel; die Cherubim jelbft nahm er nicht als 
Hegyptiihe Sphynxe auf, fondern als bedeutungsvolle fchredliche 
Wundergeſchöpfe der Sage feiner Väter. Weber Hieroglyphen, noch 
Gögenbilder trug fein Hohepriefter an Stimm und Bruft; jondern 
Buchſtaben, heilige Schrift. Er weihete ihn Gott und den zwölf 
Stämmen feines Volks durch Lit und Nechtichaffenheit, d. i. durch 
erleuchtete Wahrheit. Das Heiligtum, das er angab, war der 
dunkle, nach morgenländifcher Art geihmüdte Pallaft eines unfict- 
baren, nicht nachzubildenden Königs, deßen Diener die Priefter 
waren, fein Heer das ziehende Hoflager Gottes. In Opfern und 
Reinigungen entfernte er fih vom Aberglauben der Aegypter ganz 
und in der Wahl der Speifen arbeitete er ebenfalls dem an Waßer: 
thieren und Ungeheuern reihen Aegypten entgegen. Seine Gefeh: 3) 
gebung ift das ältefte Mujter, das wir, zumal in Schrift verfaßt, 
haben, wie Gefundheit, Sitten, politifche Ordnung und Gottesdienft 
nur Ein Werk find. 

Indeßen iſts nicht au läugnen, daß diefe ganze Einrichtung 
ein Zeitmäßiges Aegyptifches Koh war, den damaligen Iſraeliten 
und überhaupt als ein großer Schritt auf dem Wege der Volks⸗ 
bildungen unentbehrlich; unglüdlihd aber, wenn dies Joh, auf 
gut Xegyptiih und Sineſiſch, ein ewiges Jod, ein ewiger Rüdhalt 
der Menfchheit hätte feyn ſollen oder feyn wollen. Das war die 
Abfiht Moſes nicht, fo oft ers einen ewigen Bund nannte und 
jeinem barbartichen widerjeglichen Volk es, wie Lykurg feine Geſetze, 
nennen mufte. Cr verjpradh feiner Nation in feinen letzten Reben, 
Propheten, d. i. weife, von Gott gejandte und erleuchtete Männer, 


— 453 — 


wie er geweſen: er beßerte ſelbſt an ſeinen Geſetzen und that nach 
Beſchaffenheit der Umſtände hinzu; er ſagte ſelbſt zuletzt, daß Liebe 
Gottes von ganzem Herzen, nicht fllavifhe Furcht und Aegypti⸗ 
t fcher Knechtsdienſt das Wort im Herzen und das größeſte aller 
Gebote bleibe. Seine harte Strafen waren allefammt nur traurige 
Bedürfniße der Zeit und des Polls; in feiner letzten herzlichen 

Nede und immer vorher erinnerte er an bie väterlihen Wohlthaten 

. 354 Gottes und fest Fluch und Segen, harten Knechtöbienft und frei- 
willige Rindesliebe gegen einander. Sein Gott ift der Langmüthige, 
Gütige; erft nah langem Schonen und aud denn nur auf kurze 

Zeit ein eifriger Rächer, bis er wieder die Hände frei hat, wohl 

zu thun, zu fegnen. Wäreſt du in Zeiten erjchienen, göttlicher 
Mann, da man deine Gebote zum Net machte, menſchliche Seelen 

zu fangen und ewig in ihrer Kindheit feftzuhalten; in Zeiten, da 

deine einft in allen Gliedern lebendige Gefetgebung ein tobter Kör⸗ 

per war, an deßen Würmern man zebrte, da die kleinſte deiner 
Vorſchriften ein güldnes Kalb war, um meldhes man im Taumel 

Ä der beuchelnden Abgötterei büpfte und frohlodte; taufendmal hätteft 
du es zerichlagen und beinen Entweihern, deinen Abgöttern in 
Ä gräuelnder Aſche zu trinfen gegeben. 
Ä Doc ich kehre zurüd zu feiner Lebensgeſchichte. Eine jugend- 
liche Heldenthat trieb den Fünftigen Retter feines Volks aus Aegyp⸗ 

' ten, da Aegypten ihm nicht mehr noth und die Zeit der Errettung 
noch nicht da war. Die MWüfte Arabieng mufte der ftille Aufent- 

’ balt feiner veifern männlichen Jahre werden und Völker, die mit 
Iſrael in Sprade und Stammesart verwandt waren, waren jebt 
40. Jahr feine Nachbarn. Die Fabel Hat den Arabifhen Emir 
oder Scheik, Jethro zu feinem Aufwiegler, zum Urheber feiner 
politiihen Plane machen wollen; nichts in der Welt ift der Anficht 
355 diefer Gefchichte, wenn etwas in ihr wahr ift, mehr entgegen. Ein 
kluger Mann mar Jethro, nicht aber der Geift, der den Mofes 

zu feinem befchwerlichen, einem Menfchenauge unüberfehbaren Werf 
zwang: denn gezwungen mußte er dazu werden, wie man aus fei- 
nee ihm felbft unerwarteten, ungelegnen, nad feiner Meinung 


— 464 — 


unauszuſührenden Sendung ſiehet. — Welch eine rechtfertigende 
Epopee iſt dieſe einfältige, ſtille Geſchicht der Sendung Moſes, 
feines Werts in Aegypten, feiner Ausführung, Wunder und Züge! 
Ohne Geſchwätz und Aufruf, mit Fehlern und Schwachheiten jogar, 
ftellet e8 uns den Mann dar, der nie von ſich felbit fpricht, der 
nie gerühmt wird, der nur in feinem Werk, feinen Anftalten, ſei 
nen barten Sorgen und Thaten lebet. — 

Die Erfcheinung Gottes im flammenden Buſch ift ganz Ara— 
bi, fo wie die Wunder und Zeichen, die er in feine Hand 
befommt, ganz Aegyptiſch. Jene Wüfte, die gleichſam ganz Feuer 
und Fels ift, muß einen bürren Strauch tragen, in dem ihn die 
Gegenwart des Emwigen medet und fi ihm offenbart. Die Wun— 
der in feiner Hand follen ihm Waffen ſeyn gegen die Aegyptiſchen 
Zauberer und Wunderthäter. Sie finds aud ihrer Art nad, jo 
wie alle Plagen, mit denen er fein Volk frei maht. Schlangen, 


Inſekten, der Nilſtrom, garſtige und ſchädliche Waßerthiere, Finfter: 3 


niß, der Würgengel finds, mit denen fi aud hier Aegypten 
gleihjam genetiſch und geographiich malet. 

Gott führt fein Volk aus Aegypten mit hohem Arm: er erfauft 
ſich feinen Knecht aus der Dienftbarfeit und tauft ihn gleihjfam in 
den Fluthen des vothen Meer, daß er nun fein erlaufter, leibeig⸗ 
ner Knecht ſei. Auch die Erftgeburt ift fein: denn fie iſt einft 
errettet, verfhont worden, und ein ewiges Feſt des Ausgangs mit 
dem Blut des gejchlachteten Lammes an der Thür muß dies Anrecht 
Gottes auf jedes Haus, auf jedes Gefchlecht bezeichnen. Hinter 
dem rothen Meer, im Angeficht ihrer untergegangnen Feinde ertönt 
in zwei Chören der Lobgefang Moſes und der Mirjam, der nad 
ber das Vorbild jo vieler Errettungspfalmen und Siegeslieder dieſes 
Volkes ward. 

Auf Adlersflügeln trägt Gott fein errettetes Volk weiter: cine 
unfrudtbare Wüfte fol das Haus feiner Bildung werben, wo ers 
‚als feinen Erftgebohrnen ſelbſt fpeifet, ſelbſt tränket. Ewig werben 
nachher dieſe Wohlthaten befungen und wiederholt; wenn fie nur 
aber auch den Zwed erreicht hätten, den der Vater dieſes Volks 


—* 


ſich vorfegte, ed abgefondert von allen Völkern in einer Wüſte, 
wo fie von der Milde feiner Hand lebten, aud im Sinn der Gefete 
und Gebräude zu feinem Voll zu bilden. 

357 Fürdterlih ward das Geſetz gegeben, in einer fürdhterlichen 
MWüfte: unter Schauer und Entjeßen ward der Bund gemacht, der 
fo oft durch ſchauerliche Strafen, durch feurige Schlangen, Ber: 
Schlingung der Erde eingefchärft werden mufte. Wo mwarft du jet, 
fanfter freundlicher Eindrud des Gottes Abrahams und feiner Hir- 
tenfühne? Als er mit dem Vater dieſes Volks, Freund zu Freunde, 
brüderlich ſprach, durch einen Engel mit Iſrael vang, und ihn ala 
Süngling auf feiner träumenden Lagerftäte jegnete? Wo mareft 
du jet, unfchuldige, jelige Zeit, da das Zelt der Patriarchen Engel 
bewirthete und fih um einen Hirtenzug zwei Heere Gottes lahern? 
Jetzt flammt der Berg von Engeln Gottes, jebt zittert die Erbe 
von jeinen zum Kriege ziehenden Heeren! — Niemand in ber Welt 
kann die veränderte Sprache verfennen, die jetzt, verglichen mit 
jener Patriarhengejchichte, in ber Beichreibung diefer Züge berr- 
ſchet. MWeberall tönt die Wüfte Arabiens dur: ein Fels ift Gott: 
ein brennendes, verzehrendes Feuer. Hornißen gehen vor ihm ber, 
die er auf die Völfer Kanaans ſendet. Er wett den Blig feines 
Schmwerts: er zieht Pfeile, die nach Blut dürften. Seine Rachengel 
find Seraphim, feurige Schlangen, die er felbft auf fein Volt fen- 
det; und immerdar erhebt er feine Hand durch die Himmel und 

358 ſchwört: id bin Jehovah! der Eine! dein Gott, abtrünniges Iſrael 
und lebe ewig. — Die größten Poefien und Bilder in Pfalmen 
und den Propheten find aus diefem Zuge Mofes durch die Wüfte, 
aus feinen Wundern, Reben, infonderheit aus feinem lebten Liebe 
genommen: denn dies Lied ift, wie man offenbar ftehet, gleichlam 
die Urmweißagung, das Vorbild und der Kanon aller Propheten. Wie 
dies fih in Fluch und Segen, väterlihe Bermahnung und War- 
nung theilt: fo alle Propheten. Ja felbft im Schmunge des Lie- 
des, wie dies mit Himmel und Erbe anfängt: jo fängt auch Jeſaias, 
jo fangen mehrere Weißagungen und Gejänge an und wahrſchein⸗ 
lich ward unfer erſtes Kapitel Jeſaias eben das Erfte und der Ein- 





— 46 — 


gang zu allen Propheten, dieſes Moſaiſchen Anfangs wegen. ad 
dem Moſaiſchen Geje wurden die Propheten gerichtet, nad ihm 
muften fie fich bilden. 

Auf breierlei Weiſe bat alfo Moſes in die Poeſie feine 
ganzen Volks gewirkt und auch dieſelbe, wie alles in feinem 
Staat umſchränket. Zuerft durch feine Thaten: die Ausführung 
aus Aegypten, bie Reife durch die Wüfte, die Eroberung des Lan- 
des, da Gott vor ihnen geht und fireitet, warb der ewige Stef 
ihrer Bilder und Lieder, wovon ich jet nur, (vielleicht Die beiden 
größeften,) den Trauergefang Habakuls und den 68.ten Pfalm, 
die ich Ihnen beide zufenden werde, befonders nenne. Diefer Zug 
warb in fpätern Zeiten das Vorbild aller Wunder Gottes mit die- x 
fem Voll, das Urbild ihrer Kriege und Siege, ihrer Wohlthaten 
und Strafen. Die Einrichtung des Gottesdienſtes und Prieſter⸗ 
thums vechne ich auch zu den Thaten Mofes, dadurch er forthin 
auf die Poeſie feines Volks wirkte. Sie warb hiedurch Tenpel- 
gefang, fie ſchloß alle Götter und Hymnen auf Gefchöpfe oder 
fabelhafte Weſen aus, fie brachte den Namen Jehovahs in die 
Heinfte der bürgerlichen und häuslichen Pflichten, kurz fie machte 
die Poefie der Ebräer in allem Heilig. Wie Moſes und Mirjam 
am rothen Dleer gejungen batten: fo befang man nachher alles als 
Gottes That. Da der ganze Staat priefterlih, da auf Opfer und 
Heiligthum alles gegründet war: fo Heidete ſich auch die Dichtkunft 
in allen Schmud der Priefter, des Tempels, der Gottesgebräude; 
zumal da David, der Wiederermeder des Jüdiſchen Geſanges auch 
viel auf die Pracht des Heiligtbums hielt und in feinen Gefängen 
fo gar Gott in diefelbe kleidet. Erft fpätere Propheten wagtens, 
wieder zum reinen Bunde Gottes mit Abraham zurüdzulehren, und 
weil fie den Misbrauch der Opfer, den Verfall der Prieſter, bie 
Abgötterei der Tempelgebräuche mit allen ſchädlichen Folgen vor 
fih jahen, über das alles hinweg zu fehn und Sfrael wieder an 
Abraham zu erinnern. Vorzüglich that diefes der groſſe Jeſaias, ber 
Adler mit dem Flammenblid und dem ätheriſchen Sonnenſchwunge 360 
unter den Propheten. Auch bier hatte alfo die Einrichtung Moſes 





| 


— 47 — 


das Schickſal aller Einrichtungen auf dieſer Erde: zuerſt heben ſie, 
zuletzt ſchränken ſie ein. Die Poeſie der Ebräer bekam einen un⸗ 
verkennbaren Vorzug vor allen Nationalpoeſien der Erde, daß fie . 
Gottes⸗ daß fie reine Tempelpoeſie ward; zulegt ward fie auch ala 
folche gemißbraudt: der Baum blieb ftehen und wuchs nicht weiter, 
er erfticte im QTempelgemölbe. Der erhabenfte Vorhall alter Zeiten 
ward öder Nachhall im Ohr der ſchlummernden, abgöttiichen Nachwelt. 
Das zweite Mittel, wie Mofes unfterblich auf die Poeſie fei- 
nes Volks wirkte, war, die Befchreibung feiner Thaten, feine eigne 
Poefien und Lieder. Sein letztes Lied warb, wie gejagt, das 
Vorbild der Propheten: Iſrael mufte es auswendig lernen und fie 
baltens, fo hart es für fie tft, noch ſehr hoch. Sein Lied am 
rothen Meer ward das Vorbild der Lob⸗ Gieges- und Errettungs- 
pfalmen, fo wie der erhabne neunzigfte Pfalm das ſchöne Vorbild 
lehrender Lieder. Ueberhaupt ift die Poeſie Mofes, wie eö auch 
fein Leben und Charakter war, viel umfaßend, aber hart, ernft und 
einfam. Sie glänzt, wie fein Angeſicht; aber eine Dede hangt 
vor ihr. Der Geift in ihr, in feinen Anftalten und Schriften, ift 
vom Geift Hiobs, Davids, Salomo's jehr verſchieden. — Die eigne 
361 Beichreibung feiner Anftalten und Reifen gehört ebenfalls zu dem 
Werkzeuge, von dem ih rede. Daß er feine Gefege und Züge 
auffchrieb und jene zum Kanon der Priefter, diefe, inſonderheit bie 
legte Wiederholung des Geſetzes, zur Lehre des Volle machte, daß 
er einen eignen Stamm von Menjchen wählte, die, befreiet von 
andern Geſchäften, ſich dem Lefen, Abfchreiben und Ausüben ſei⸗ 
ner Gefege und Rechte widmen muften, daß er Denkzeichen, Figu⸗ 
ven, Hieroglyphen ausſchloß und Schrift, Buchſtabenſchrift ſowohl 
zum Schmuck des Hoheprieſters, als zum Geſchäft der Prieſter und 
damals gewiß zum Vorzuge ſeines Volks machte, daß wahrſcheinlich 
Er die alten Geſchichten und Sagen ſeines Volks ſammlete und ſie 
als ein Heiligthum der Vorwelt, ja als den Grund ſeines Geſetzes, 
feiner Lehre, der Rechte Iſraels auf Kanaan u. f. der Geſchichte 
vorihob: dadurch machte oder mollte er ein barbarifches Volt, 
wenigftens einem Theil nah und in Grundgeſetzen der Verfaßung, 


— 458 — 


zu einem literaten Volk machen. Die Arche ſeiner Hütte, ſo fern 
ſie Buchſtabenſchrift enthielt, verwahrte einen Schatz der Vorwelt 
und das große Mittel der Völkerbildung bis auf die ſpäteſten Zei⸗ 
ten. Wären ſeine rauhen Geſetztafeln noch da, fänden ſich die 
Felſen, die er vor ſeinem Ende mit Buchſtabenſchrift beſchreiben ließ, 
noch auf; wir hätten an ihnen das verdienteſte Denkmal der Urwelt 

Das dritte Mittel endlich, wodurch Moſes auch die Mieber- 362 
erwedung bed heiligen Gefanges in Zeiten des Verfall? beforgte, 
war das Recht, das er den Propheten gab und vorſchrieb. Der 
weife Mann abndete ſowohl mit feinem Recht der Könige als die⸗ 
fem Propheten - Recht Zeiten vorher, da man von feiner Borfchrift 
wiche; öffentlichen Gräueln der Art ſetzte er alfo eine Stimme ent- 
gegen, die das Volk, die den König felbft zu feiner Beftinnmung 
zurüdrief und fi) mit dem Anfehen Moſes, des Stifterö der Ration 
ſchützen konnte. Das waren aljo die Wächter, die Weile des Volks, 
die aufmunterten, wenn alles fchlief, die, wenn die Priefter ſchwie⸗ 
gen und die Großen dbrüdten, im Namen Jehovahs ſprachen, unter: 
weiſend, tröftend, warnend. Dieje Befugniß Mofes bat uns einen 
Elias und Elifa, einen Jeſaias und Habaluk gegeben: fie hat feine 
Geftalt und Stimme wenigftend im Schatten, im Nachhall erneuret. 
Man liefet die Propheten nie recht, wenn man fie ald Weißager, 
ala Träumer, ald Marktfchreier anfieht; Nachfolger Mofes waren 
fie, Anwender und Erneurer jeines Geſetzes in verfallnen Zeiten; 
und einige unter ihnen waren jehr weltiluge Männer, große Ned- 
ner, lehrreihe Dichter. Am Jeſaias ift vielleiht mehr ala cine 
Republik Platons. — Uebrigens balte ich Moſes für den Verfaßer 
der Sprüde und Weißagungen Bileams nicht: in ihnen athmet ein 
andrer und darf ich jagen poetifcherer Geift als in den Poefien 363 
Mofes. Diefer, fo großer Dichter er war, war mehr Gefeßgeber 
ala Dichter, und infonderheit zeigt fein letter Segen, zumal wenn 
man ihn mit dem Spruch Jakobs vergleicht, fein mattes Alter, 
jeine das Grab ſuchende Seele. 

Er ftarb, fagt die Ichöne Sage jeines Volks, am Munde Got> 
tes und Gott begrub ihn felber. Er ftarb auf einem Berge, das 





— 459 — 


Land überfhauend, für das er alles gethan und gelitten hatte, 
was Menjchenkräfte leiden und tragen mögen: fein Auge follte es 
ſehen, fein Fuß aber nicht berühren. Auch den Fels im Dulden, 
Thun und Tragen hatte Unglaube und Ungebuld wankend gemadt ; 
er kam alfo nicht zur Ruhe, erlebte nicht das Ziel feiner Reife. 
Weiſe und gut, daß ers nicht erlebte! Nicht mit Blut der Kana⸗ 
niter mußten die Hände befledt werden, die den Stab übers rothe 
Meer ftredten, die in der Wolle das Geſetz empfingen, die Gottes 
Heiligthum bauten. Auch in der Schladht mit den Amalefitern 
erhoben fie fih nur betend. 

Welch ein Unterſchied, wenn man bie beiden Brüder, Mofes 
und Aaron, zufanımen betrachtet. Diefer Körper, jener die Seele: 
„Er fol dein Mund ſeyn, bu follt fein Gott feyn!” fo iſts aud 
zwifchen Prieftern und Propheten immer geblieben. Wie wenige 

364 Priefter ftellten fih auch in einem Volt, mo fie der lehrende, der 
richtenbe, der die Geſetze der Nation bemahrende, gewißermaaſſe ber 
töniglihe Stand waren, dem Berderben entgegen? ja fing bei 
ihnen unter Richtern und Königen nicht immer das Verderben zuerft 
an? Eben wie Aaron das goldne Kalb machte, indeß jein Bru- 
der auf Sinai mit Gott ſprach und Geſetze überdachte: fo waren, 
als Mofes Nachfolger, Elias, am Berge Horeb oder auf dem 
Karmel trauerte, hunderte von Prieftern gemäftete Baalspfaffen. 
Unter allen Propheten find nur zween, nicht eben die mutbigften, 
nicht eben die größeften, Priefter. 

Empfangen Sie hier die harte, eifrige, biß zum Tode gequälte 
Seele Mofes noch in feinem legten Flammen - Lieve. Was feine 
Thaten, Anitalten, Beichreibungen und andre Lieder für Stimmen 
der Poeſie hervorgebracht Haben, wollen wir im Berfolg fehen; 
aber in diefem Gedicht ericheint Ihnen ganz der flammende Berg, 
die Feuer- und Wollenfäule, die vor Sfrael 208, und in ihr der 
Engel des Angefichts Jehovah. 


— 460 — 


Lied Moſes vor feinem Ende ans verſammlete Iſrael 35 


Bernehmt ihr Himmel meine Rebe; 
die Erbe böre meines Mundes Wort.*) 
Wie Regen fließe meine Rebe fanft, 
es träufele mein Wort wie Than, 
wie Regen auf das junge Grün, 
wie Thau auf Pflanzen träuft: 
denn Gottes Namen will ich laut verkünden, 
gebt ihm den Ruhm, Jehovah unferm Gott. 
Ein FelsP) ift er: untabelich fein Wert‘) 
und alle feine Führungen gerecht: 
Gott iſt die Wahrheit, fonder Trug, 
redlich unb treu ift er. 
Nur fie, nicht feine Kinder mehr,“) 
ihr Schanbdfled bat fie von ihm abgeführt 
die untreu = bdfe Art. 
Giebſt du Jehovah das zum Dant, 
bu ımerlänntlich= thöricht Volt? 
M er dein Vater, bein Befiter nicht ? 
ber dich bereitet, der dich ibn erfauft bat?®) 


— — — —— — — 


a) Himmel und Erde nimmt Moſes zu Zeugen (5 Moſ. 31, 28.) wie 365 


nachher oft die Propheten. Der ganze ſanfte Eingang zu einem Lehrgedicht, 
das ſo flammend endigt, iſt nachher mehrmals Eingang der Lieder und 
Lehre geworden. 

b) Ohne Zweifel iſt das Bild des Felſen, das in dieſem Liede ſo oft 
und faſt als eine gemeine Redart vorkommt (V. 15. 30. 31. 37.) vom Sinai 
und ben Yelfen Arabiend bergenommen, zwifchen benen Sfrael fo lange 
gewandelt hatte. Auf Sinai war der Bund gemacht und von Gotted Sei- 
ten war ber Bund, wie ein Fels ewig. 

c) Iſrael tadelte oft die Führungen Gotte8 auf ihrem Wege in ber 
MWiüfe, Mofes nimmt des Erhabnen Partei und zeigt, daß von ben Ber- 
heißungen, die er ihnen feit Abraham gegeben, noch kein Wort auf die Erde 
gefallen fei. 

d) Diefe etwas harte Wortfügung ift gewiß ächt, weil fie mehrmals vor- 
tommt (8. 17. 21.) und gleichſam die Seele des ganzen Liedes if. Gott bleibt 
der emwigtreue Vater; nur fie verlaßen ihn und werben erft durch Unart, als⸗ 
denn im Schidfal nicht mehr feine Kinder. Sie vertennen ihn; er verlermet fie. 

e) Schon Mofes Kat den Ausprud, den bie Propheten oft brauchen: 
daß Gott in Abraham Ifrael als fein Kind angenommen und fich daſſelbe 


ef) 


367 


Dent an die alten Tage! 

bör’ an, die Jahre von Gefchlechte zu Gefchlecht, 
frag’ deinen Bater drum, er wird dirs fagen, 
und deine Greife, daß fie dir erzählen.) 

Da der Erhabene den Böllern Länder gab, 

da er die Menſchenkinder ſchied, 

umfchränfte er ber Bölter Grenze, 

daß wohnen könnte die Zahl Sfraele.r) 

Denn Gotted Erbtbeil ift fein Bolt, 

Jakob der Umfang feines Eigenthums. 


Er fand ihn in der Wiftenei,b) 
in Einöden, wo Thiergebeul erfchallt; 
und nahm ihn unterweifendb in den Arm, 
wie feines Auges Apfel bütete er ihn. 
Gleichwie der Adler rings umbedt fein Neft 
und über feinen Jungen ſchwebt: 
Aus fpreitet er die Flügel, nimmt fie drauf, 
und trägt fie hoch auf feinen Fittigen; 


als Bolt zubereitet, gebohren, erzeugt bat. Unter Moſes kaufte ers ſich aus 
Aegypten als einen leibeigen gemeinen Knecht zu; alfo bat er Herren- und 
Baterrecht an ihm, wie Mofes Bier deutlich unterfcheivet. Wie wahr ift bie 
Unterfeibung auch im Geift und in der Begegnung beider Zeiten! 

f) Im Folgenden wird fogleih angeführt, was die Bäter erzählen. 
follen. Moſes fteigt bis zur Böllerfcheidung und Ländertbeilung hinauf, da 


367 der Allmädtige, indem er aller Nationen Wohnfige beftimmt, die Grenzen 


berfelben gleihfam enger abzirkt, bamit die Meßſchnur feines Erbes, Kanaan, 
den 12. Stämmen bleibe. Died Land wird biemit gleihfam das meditul- 
lium, ber Mittelpunkt der Erde, wofür jede Nation bes Alterthums ihr 
Heiligthum hielt; davon wir ein andermal fprecdhen werben. 

g) d. i. das zahlreiche Ifrael: fo groß es ift, fo viel Raum die zwölf 
Stämme braudten. Die Worte haben zu viel Fabeln Anlaß gegeben und 
find fo deutlich. 

h) Der Zug Ifrael® durch die Wüſte. Am Ufer des rothen Meere 


* findet Gott den Knaben und führt ihn bis auf die Gebürge Bafans, deren 


Früchte und Vorzüge befchrieben werben. Die Worte: ein fremder Gott 
war mit ibm, beziehen fich drauf, daß frael unter feinem andern Schutz⸗ 
gott, als dem Ichovah, ans Aegypten ausgezogen, errettet und fortgezgogen. 
Ihre Abgötterei und Schändlichkeiten mit Baal-Peor gefhahen nur an ber 
Kananitifhen Grenze. 





— I — 


fo führte ihn Jehovah, Er allein, 
fein fremder Götze war mit ibm. . 
Er führer’ ihn Hin auf der Berge Höhn, 
und ließ ihn koſten da der Erde Frucht, 
ließ aus dem Fels ihn Honig faugen, 
gab Del ihm aus dem harten Stein, 
Butter der Kübe und der Schaafe Milch, 
das Fett der Lämmer und ber Widder Baſans, 
das Nierenfett der Böde, Weizenbrot') 
und Blut der Traube, Wein. 
Da warb Yilchirun*) muthig und fchlug aus, 
du warft zır fett, zu fatt, zu voll, 
entliefft dem Gott, der dich zum Bolt gemacht, 
bielteft geringe deiner. Rettung Fels.) 
Ya fie ereiferten ihn über Sremdlingen,” 369 
mit Scheufaldgögen reizeten fie ibn: 
fie opferten Dämonen und nicht Gott, 
Söttern und lannten fie auch nicht,“ 
Neulingen, kaum erfundnen Göten,”) 


i) 3b bin bier von der Interpunftion abgegangen, weil mir das 368 
Nierenfett des Weizens nicht gefällt und der natürlichere Sinn daliegt. Daß 
alle diefe rückte und Speijen bier fo betaillirt werben, zeigt, jo wie alles, 
vpn ber genetifchen Wahrheit dieſes Gedichts. Da das Boll fo lang' in 
der Wüfte geweſen war, muften ihm biefe Gebirge Elyfium und feine Früchte 
Speifen des Paradieſes dünken. 

k) Das Wort iſt ein Lieblingsname, der Iſrael als einem Knaben 
gegeben wirb, welche Perjonifilation den größeften Theil dieſes Gedichts 
durchgehet. Auch in Moſes Segen und bei Jeſaias kommt der Name fo vor. 

I) Abermal® der Unterfchieb, daß Ifrael unter Abraham ale Sohn 369 
ermählet, unter Moſes vom Schutgott als Knecht erlauft fei. 

m) Hier ſehen wir bie firengen und wahren Begriffe Moſes von der 
Adgötterei, die der Grund feiner Gefeßgebung waren. Die Götzen waren 
ein Nichts, fie waren Scheufale, fie waren Iſrael frembe: die erfte Urfache 
war philoſophiſch, die andre moralifh, die dritte national. Ihr Jehovah 
war ihnen der einzig wahre, ber reine gute, ber alte Stammes- und 
Schutzgott, dem fie fih am Sinai aufs neue verpflichtet hatten. 

n) Dan fieht, wie Moſes an den Gott feine® Bolls und der Bäter 
als an einen alten Gott denkt: ihre Nachrichten von ihm und ben Bätern 


1) Mie.: Göttern und lannten fie nicht einmal, 








— 463 — 


vor denen euren Vätern nie gegraut°) — 
Unb ihn, der dich gezeugt, den Fels vergaßeft bu,r) 
vergaßeft Gott, der Dich zur Welt gebobren. 
370 Das jah Jehovah und verwarf im Zorn, 
bie feine Söhne, feine Töchter waren. 
Abwenden, fprach er, will ich mein Geficht, 
und ihren Ausgang fehn:*) 
denn ein verkehrt Gefchlecht find fie, 
Kinder von böſer Art. 
An ihrem Ungott machten fie mich eifern, 
fie reizten mich durch ihrer Götzen Dunft; 
auch fie will ich durch ein Unvolk erzürnen, 
ein Dunft der Nation foll reizen fie.) 
Dem meine® Grimmes Glut ift angebrannt, 
und brennen fol fie bis zur Unterwelt, 
fol zehren auf, die Erb’ und ihre Frucht, 
fol der Gebürge Gründe flammen an. 
Aufhäufen will ih auf fie Noth auf Notb, 
will meine Pfeil’ auf fie verfenden all’. 
Berzehrt vom Hunger und verzehrt von Geiern, 
verzehrt von bittrer Belt — 
will ich auf fie den Zahn der Thiere fenden, 
das Gift der Schlange, die im Staube fchleicht. 
Bon außen fol das Schwert fie Waifen machen, 
von innen") Angft, 
mußten alfo au alt und früber als von Mofes feyn. Vielmehr verän- 
derte er ihre alte Hirtenreligion und machte das Kind zum Knechte. 

0) Der Ausdruck wird gebraucht, nicht weil e8 den Bätern vor dem 
rechten Gott, fondern weils dieſen vor den Nichtigfeiten, der Dämo— 
nen graute. 

p) Das Wort Feld wird hier nicht als Bild gebraucht: e8 beißt Bun⸗ 
des⸗ und Schußgott; und biefer Schußgott war Bater. 

370 q) Wie es mit ihnen abläuft. 

r) Der Ipiotismus Kinder Niht- Kinder, Gott Nicht-Gott, Bolt 
Nicht- Volt gebet durchs ganze Stüd und iſt völlig aus des Geſetzgebers 
Seele. Die Einrichtung, die Er gemacht, war ihm die Einzige: alle andere 
Nationen waren ihm nicht Völker, nicht eingerichtete Staaten, ſondern 
uncivilifirte Horden. 

8) Außerhalb und innerhalb der Städte und Häufer. 


— IA — 


ſeis Jüngling oder Jungfrau, 
ſeis Säugling oder Greis. 
Faſt ſpräch' ich:) ich vertilge fie, 
loſch' unter Menſchen ihr Gedächtniß aus; 
wenn ich des Feindes Hohn nicht ſcheuete, 
daß ihre Dränger das verlenneten 
und ſprächen: „unfre hohe Hand 
und nicht Jehovah Kat das Wert getban!” 
Denn ein im Rath beillofes Bolt ift dies, 
Berftand ift nicht in ihm. 
O wären weiſe fie, dies zu verftehn, 
bedächten fie, was ihnen einft geſchieht. 
Wie fommts, daß dort ein Ein’ger Taufend jagt?") 
daß ihrer zwei Zehntaufenb vor fich treiben? 
Iſts nicht, weil fie ihr Schuß verlaßen? 
weil fie Jehovah Preisgegeben hat? 
Denn fonft war jener nicht und unfer Schutgott gleich, 
deß mögen felbft die Feinde Richter feyn. 


Bon Sodoms Weinſtod ift ihr Weiuftod ber, 
aus dem Gefild’ Gomorrha's ihre Trauben, 
Gifttrauben; ihre Beeren bittre Gall', 
ihr Saft der Draden Gift, 
der Schlangen tödtend Gift. 

Liegt nicht bei mir geheimer Rathſchluß ſchon? 
Berfiegelt Tiegt er fhon in meinem innen Schatz: 
„Mein ift die Rach' und ber Vergeltung Zeit! 
ſchon wantt ihr Fuß: 
es naht ihr Unglüdstag: 
ihr Schidfal eilt herbei.“ 


371 


372 


t) Daß Gott Hier mit menſchlicher Eiferfucht als Schutgott gegen 371 


andre Nationalgätter rebend eingeführt werbe, ift offenbar. 

u) Auf einmal ſetzt fi der Dichter in den Anblid des traurigen 
Ausganges diefes Boll; und o wie genau, wie lange und ſchreclich ift 
die Weißagung erfüllet worden! Und der Gefetsgeber des Volks mufte fie 
ſelbſt thun! mußte mit folcher prophetifchen Ausſicht fein mitche gemachtes 
Leben jchließen! ein Schidfal, das nur ein Feld, wie Mojes war, ertra- 
gen Tonnte. 


Jehovah wirb nun Richter feines Bolte,*) 
ihn reuets, daß fie feine Kinder find: 
er fiehet: matt ift ihre Hand, 
nichts! nichts ift ihnen übrig mehr! 
Da fragt er: „wo find ihre Götter nun? 
der Schutgott, dem fie ſich vertraueten? 
die ihre fetten Opfer aflen 
und foffen ihrer Göbenopfer Wein. 
Laß fie num aufftehn und euch Hülfe leiſten, 
laß fie euch Dede feyn! 


Nun fehet ihr, daß Ich, dag Ich es bin, 
und feine Götter find mit mir. 
Ich bins, der töbtet und belebt, 


373 ih bin es, der zerſchlägt und heilt, 
von mir errettet Nichts. 
. Zum Simmel beb’ ich meine Hand 


und ſpreche: Ich, der Lebende 

in Emigteit! 

Wenn ih den Blitftral meines Schwerte® fchärfe 
und meine Hand greift zum Gericht, 

fo will ih Rad’ an meinen Feinden üben 

und meinen Saflern es vergelten reich.”) 

Will Blutes trunken maden meine Pfeile, 

mein Schwert ſoll fätt’gen fih an Leichnamen, 
am Blute des Erfchlagnen, des Gefangnen, 

an der Bornehmften meines Feindes Haupt.” 


Jauchzt auf, ihr Heiden, itt fein Bolt! 
Er rächet feiner Knechte Blut, 


372 x) Die Ueberjegungen, die dieje Reihen als gutes Schidfal barftellen, 
haben die Verbindung offenbar wider fih. Der Fluch auf das Bolf gebt 
fort und bis zu des Gedichte Ende; im folgenden Kapitel folgt erft ber 
Segen. Es iſt fchauerlich, wie Gott num als Richter ven Vater vergehen 
muß, und nod fühlt, daß fie feine Kinder waren. 

373 y) Ih kann biefe Worte nicht anders, als noch immer vom Jüdiſchen 
Bolt verfiehen. Einſt feine Kinder, jet feine offenbaren Feinde, an 
denen er Rache übe. Er verwirft fie und nimmt die Heiden zu feinem 
Bolt an. 

Herbers fänmtl. Werte. XI. 30 


— 46 — 


und übt an ſeinen Feinden Rache 
und reiniget fein Land und Bolt.“) 


z) Die letzte Reihe ift mir duntel, weil vor dem Bolt im Ebräifchen 
bie Berbinbungspartifel fehlet. Es ſcheint, man habe das, was Fluch feon 
follte, vielleicht gern al® Segen leſen wollen; ba do ber Segen eigentlid, 374 
in einem abgetrennten Kapitel folget. Die Heiben, jetzt das Bolt Gottes, 
werben berzugeruffen, das Gericht Gottes über Ifrael zu ſehen: er rächt 
das Blut feiner Knechte an diefem Bolt und entjündigt das Land, daß ers 
von feinen Einwohnern reinigt. (Ich entfcheide nicht, ob die Partilel vor 
dem lebten Wort 7 ober 2 feyn müßte. Der Segen Mofes, fo wie 
Jalobs ift in den Briefen, das Studium der Theologie betref- 
fend, überfegt [X, 54 — 77]; die alfo beide hier nicht wiederholt werben.) 
Gnug, ber Erſte endigt, mie ber lebte der Propheten: das Bolf mirb 
binausgemworfen und verbannt.! 


1) Mic.: binausgerworfen und ein ewiger Bann. 


Ende des erften Theils. 








1 Mof. 1, 


Berzeihniß 
der überfegten und erläuterten Schriftftellen. 


1. ©. 48 - 56. 

2. ©. 64 - 67. 
3. ©. 56. 57. 

4. ©. 68. 69. 

6. ©. 70-73. 
11. 12. ©. 76. 77. 
14. ©. 78. 
20 f. ©. 82. 


26. ©. 207 = 210. 


1 Moſ. 2, 7. ©. 202. 211. 


1 Mof. 3, 


8 f. ©. 158 - 155. 
9. ©. 155. 162 f. 


17. ©. 164. 165. 173. 


18-22. ©. 160. 
23-24. ©. 161. 
25. ©. 162. 

1. ©. 167. 

5. ©. 169. 

7. ©. 174. 

10. ©. 19%. 

14. 15. ©. 168. 
16-23. ©. 1741. 


24. ©. 177. 186. 188. 


1 Moſ. 4, 5-8. ©. 249. 250. 


9-12. ©. 245 f. 
21-24. ©. 344. 
25. 26. ©. 336. 


1 Mof.5, 1.f. ©. 335 


22. * S. 224. 234. 
29. ©. 251. 


1 Moſ. 


2 Mof. 
5 Mof. 


6, 2.©. 264. 
3. ©. 208. 251. 


5 
— 
DD | 


— 
oo 


11, 


BonmmSmonsS 
AR 


18, 1.17. ©. 288. 
19, 24. ©. 343. 
21, 15. f. ©. 301. 
22, 1. ©. 288. 

27, 26-29. ©. 302. 308. 
39. 40. ©. 302. 
28, 11. f. ©. 296. 297. 
32, 10-12. ©. 295. 

24-31. ©. 296. 
35, 10. ©. 297. 
37-50. ©. 321. f. 
25, 17. 18. ©. 178. 
32. ©. 365. 
30* 


— IE — 


1 Sam. 4, 4. ©. 183. 
1 Kön. 6, 233. ©. 179. 
2 Kön. 2, 11. 12. ©. 189. 
Hiob 1, 6. 7.f. ©. 138, 
20. 21. ©. 308. 
2, 11.12. ©. 126. f. 
8, 3-10. ©. 64. 65. 
11-19. ©. 236. 
4, 12.f. &. 67. 


5, 8-26. ©. 268. 269. 
7, 1-21. &. 203 - 205. 


8, 9-10. ©. 91. 
11-18. ©. 212. 
9, 2-12. ©. 4. 4. 
10, 3. 9. ©. 203. 
20-22. ©. 236. 
11, 7-9. ©. 58. 


14, 1-21. ©. 215 - 217. 


16, 16:20. ©. 249. 
19, 19-21. ©. 309. 
35, 2-6. ©. 9. 

26, 2-14. ©. 92. 9. 


28, 1-28. ©. 274 - 277. 
29, 2=25. ©. 306 - 308. 
31, 1-40. ©. 311-314. 


26 -28. ©. 77. 78. 


35-37. ©. 139. 140, 


32, 1.f.©. 146. 
18-20. ©. 15. 

33, 4-6. ©. 207. 

36, 2-32. ©. 96. 

37, 1-4. ©. 97-9. 
6. ©. 57. 


Hiob 38, 1-38. S. 100 - 104. 
39-41. ©. 121. 

29, 1:30. ©. 121 - 124. 

49, 10-19. ©. 130 - 132. 
Pſ. 2,1.2.4 ©. 2358. 

8. ©. 209. 

16. ©. 231. 232. 

18, 5-18. S. 196 - 19. 

19, 5=7. ©. 78. 79. 

29, 1-10. ©. 19%. 200. 

46. ©. 272. 

49. ©. 228 - 230. 

73, 23-26. ©. 240. 

104. ©. 68 - 84. 

133. ©. 23. 24. 

139, 1-18. ©. 45 - 47. 

146. ©. 273. 

147, 15-18. ©. 57. 
Jeſ. 6, 1:11. ©. 184. 

1l, 6-9. ©. 159. 

14, 3-23. ©. 262 - 265. 

37, 16. ©. 165. 

51, 1-3. ©. 29. 

54, 7-10. ©. 255. 

63, 15:17. ©. 293. 
Klagel. Ser. 4, 21. ©. 126. 
Ezech. 1, 4-28. ©. 191 - 19. 

28, 12-19. ©. 194 : 196. 
Habak. 4, 1-15. ©. 177. 178. 

10. 11. ©. 79. 
Maleachi 2, 14. 15. ©. 22. 


— — — — — — — — — — 











Berzeihniß des Inhalts. 


"Abel: Rache feines Todes ©. 245. 246. Sein ſchreiendes Blut in der 
Poefie der Morgenländer 247. 248. 
Abendftern: Oßians Anrede an ihn ©. 118. 


Abgrund des Ungebohrnen ©. 64. 65. Des Ungefchaffenen S.94. Thore 
und Tiefen deſſelben ©. 102. 


Abraham: warum er gezogen? ©. 286. fein Mitbeſitz Kanaans 286. 
Berläugnung feines Weibes in Aegypten 287. Seine Freundſchaft mit 
Gott 288. 289. Symbol des Bundes feines VBolts 290. 

Adler: Schilverung deſſelben S. 124. 125. 

Aegyptifche Bilder im Buch Hiob S. 128. 129. im Todtenreiche 234. 

. was in der Mofailhen Berfaßung Aegyptiſch und Anti Aegyptifch gewe⸗ 
fen 351. 352. 

Babel: fortgehendes Bild beffelben in der Ehräifchen Poefie S. 261 - 265. 

Baum ber Weisheit: ob er Einkleidung fei? ©. 162. was fein Name 
bedeute? 163. 164. Pflicht an ibm S. 165. Entwidlung der Sage bef- 
felben 172 = 177. 

Baum bes Lebens ©. 158. 

Bebemotb: was er fei? ©. 130 = 132. 

Belial ©. 222. 

Berg der Götter in Norden ©. 187. 

Blut: ruffet &. 247. 248. 

Buchſtabenſchrift: wenn und wie fie erfunden ©. 332. 333. bei wen 
und womit fie fich fortgeerbet 335. 

Chaos: ob e8 die Morgenlänber gelanıt? ©. 66. 

Charte: ob das Gefchlechtregifter der Söhne Noahs Eharte der Welt fei? 
©. 324. 325. wer e8 zur Charte gemacht? 326 - 828. 

Cherubim: obs Donnerpferbe waren? S. 177. 178. Geftalt derſelben 
bei der Bundeslade und im Tempel 179. 180. Urfprung der &ompo- 
fition 181. 182. Gefchichte derfelden in ber Poefie der Ebräer 183. 184. 





— 40 — 


Hauptbegriff derfelben 186. Eherubim an ber Pforte des Parabiefes 
186 - 188. Erſcheinung Gottes über ihnen 191 - 19%. König von Tyrus 
ein Cherub 194 - 196. 

David unterjodte Edom ©. 135. 

Donner: Größe Gottes in bemfelben S. 96-99. Stimme Gottes 189. 
190. 199. Gemaählde des Donners 196. 


Donnerpferde f. Cherubim. 


Eis: Bilder befielden S. 57. 108. 

Elihu: Charakter der Poefie befielden S. 95. Gemählde des Donners 
©. 96 - 99. 

Elohim: wahrſcheinlicher Urfprung ihres Begriſs ©. 48-50. Kampf 
Jacobs mit Elobim 295-298. Unterfchied der Sagen mit Elohim und j 
Jehovah 345. 346. Elohim auf dem Berge der Bötterwerfammlung 187. 
im Barabiefe 169. 

Engel: Berbältniß Derfelden gegen die Elobim S. 50. Perfonificationen 
des Worts Gottes S. 58. 

Erde: poetifches Bild ihrer Schöpfung ©. 74-76. Perfonification derfel- 
ben ©. 100. 

Efau: fein Segen S. 302. 


Fabel: aus Bemerkung der Thiere entflanden 158. 159. Ob die Sage 
vom Erkenntnißbaum eine Aecfopifhe Kabel ſei? S. 170. 171. ob der 
Thurmbau zu Babel Fabel fei? 340 - 343. 


Gedichte: Sprade und Schrift S. 32-35. Lobgeſang auf Gott ©. 61. 
62. Gedichte von Ofßian 115-119. Arabifches Troſtgedicht S. 237. 
238. Das Land der Bäter 239. 240. Stimme der Vorzeit 347. 348. 

Geift: Urfprung des finnlichen Begriffs deſſelben S. 67. 

Gemfe: Schilderung berfelben ©. 121. 

Geſchlechtregiſter der Patriarchen S. 322. von Abraham bie Noah 324. 
der Söhne Noahs 326 - 329. vor der Sündfluth 329 - 331. 

Gott: Empfindung befielben in der Natur S. 40. 41. Ob der Schauer 
für bemfelben in der älteften Religion Stupidität oder Verehrung bes 
Teufels geweien? S. 42, Die erften Begriffe von Gott fcheinen rein und 
edel gewefen zu ſeyn ©.43-48. ab fie polytheiftifch waren? ©. 48. 50. 
Wie wichtig der Begriff der Einheit Gottes dem menſchlichen Gefchlecht 
gewefen ©. 51. Gott Himmeld und der Erbe ©. 52-56. als König 
S. 56. 57. als Hausvater ©. 58. 59. Lobgefang auf Gott ©. 61 - 62. 
Reine Natnrideen von Gott im Buch Hiob S. 91-104. Bild deflelben 





— 41 — 


als eines Richters unter Sternen ©. 91. al® Gebieter8 über das wilde 
Meer und den Abgrund des Ungebohrnen S. 93-95. Gottes Anrebe 
an Hiob S. 99-104. ©. 121-124. Sein Umgang mit ben Patriarchen 
S. 288. 289. Glaube an ihn, die ftillete Tugend und ebelfte National- 
bildung S. 2%. 291. Moſes Begriffe von Gott ©. 351. 352. Seine 
Vorſehung ſ. Borjehung. 

Götterſöhne S. 254. 

Grab: Urſprung des Todtenreichs S. 218. 219. Arabiſche Bilder deßel⸗ 
ben 237. 238. 


Hauch Gottes in der Natur und im Menſchen S. 205. 208. 

Henoc giebt den Begrif der Aufnahme zu Gott ©. 224 - 234. 

Hieroglyphen Helfen der Buchftabenfchrift bei den bebeutenden Namen 
332. ob aus ihnen je Buchllabenfchrift werde? 333. Hieroglyphe ber 
Schöpfung und des Falles 335. 336. ob fie Aegyptifchen Urſprungs 
337 - 339. 

Himmel: wie ihu fih die Morgenländer urfprüngli dachten S. 70. ob 
als Waflergewölbe? Zelt? Sapphier? gläfernen Fußboden? Vorraths⸗ 
haus der Erquidung? ©. 71-73. 

Himmel und Erde: ältefter Parallelismus berfelben ©. 52. ob in ihm 
Berbältnig ſei? S. 53. was die Poefie der Morgenländer mit ihm 
gewonnen? ©. 54 - 56. 

Hiob: Buch Hiobs, wie es zu Iefen? S. 89. 90. wo fein Berfaßer lebte? 
S.125 - 127. Wrabifche Weisheit in demſelben S. 127. 128. Aegyptifche 
Bilder in ibm ©. 128. 129. Kreis der Känntnife in demſelben ©. 130. 
Ob Moſes es gefchrieben? S. 132. 133. 0b ers überfett habe? 134. 
Wenn und durch wen e8 nad Judäa gelommen? ©. 136. von der hiſto⸗ 
rifhen Einleitung deſſelben S. 137. Gerichtliche Bilder befielben ©. 138, 
Entwurf deſſelben S. 139. Ob e8 ein Drama fei? ©. 140. 141. Com⸗ 
pofition befielben als Kunft betrachtet S. 143-149. Bild Hiobs im 
Glück, in Thätigleit und Würde 306. im Unglüd 308. in felfenvefter 
Hoffnung 309. 310. feine Sittenlehre 311 - 314. 

Hymnen: ob die Ehräifche Poefie fie auf Gegenftände der Natur leide? 
©: 77. 78. 


Jacob ringt mit Gott 295-298. fiehet die Himmelsleiter 298. 299. 
Segen auf ibn 302. 303. fein Kampf mit Elohim, ob er eine Kabel? 
341. 344. 

Idumäa: daß es früh gebildet geweien &. 127. 128. fein Handel 275. 

Joſephs Geſchichte, wie fie fi erhalten ©. 321. 322. 





— 412 — 


Iſmael: Weißagung über bvenfelben 301. 302. Ton feiner Gefchichte 
323. 


Kanaan: Abfichten darauf von frühen Zeiten S. 284. 323. Poefſie 
Kanaans 304. Sprache Kanaans 316. 317. Anrecht der Kananiter aufs 
Land 318. werden von den Semiten wie ein Knechtsſtamm betrachtet 
©. 319. ihr Gottesdienſt und Geift 320. 

Klagegefang über den König zu Tyrus ©. 19-196. Hiobs über das 
Menſchenſchickſal 203 - 205. daß keine Rückkehr fei aus dem Zobtenreiche 
215-217. Jeſaias über den König zu Babel 262 - 265. 


Lebrpoefie muß die Menſchen mild, nicht wild machen ©. 248. über bie 
Borfehung f. Vorfehung. Lettes Ichrendes Lieb Mofes S. 366. 

Licht: morgenländifche Begriffe deßelben S. 68. 69. Miltons Anreie ans 
Licht S. 86-88. Wohnung defielben S. 102. 

Lied Lamechs: das ältefte Lied, feine Bebentung S. 344. 345. 

Lobgeſang auf Gott ©. 61. 62. auf die Schöpfung ©. 68. 74. 83. 84. 
woher der Ton befielben ſei? S. 5. Miltons Lobgefang ans Licht 
©.86-88. David8 über die Majeftät des Menfchen 209. auf die Hülfe 
Gottes 272. auf die Borfehung 273. Lobgebicht Hiobs auf die Weis- 
beit 274 - 277. 

Löwe: Schilderung befelben ©. 121. 


Menſch: Urfprung defſelben S. 202-205. Schwachheit und Stärke 205-209. 
Begrif ber Epopee feiner 210. Der Menfch ein Gotteögebilde 211. ein 
Kind Gottes auch in der älteſten Moral 212-214. Weiſe Abnahme 
feiner Iabre und Kräfte 251-253. foll alles moralifh anfehn ler- 
nen 256. 

Meer: Perfonification deßelben S. 101. 

Miltons Anrede ans Licht ©. 86 - 88. 

Mond: BPerfonification deſſelben S. 79. Oßians Anrede an benfelben 
117. 118. 

Morgenröthe: Bild derſelben &. 36. 37. erſtes und natürliches Bild ber 
Schöpfung ©. 38-40. Perfonification derfelben S. 69. 101. 

Morgenftern: Perfonification befielben S. 69. 

Mofes: ob er das Buch Hiob gefchrieben oder überjetst habe S. 132 - 134. 
Sein Leben und Character 349. f. was er aus Aegypten genommen? 351. 
ob der Geiſt feiner Geſetzgebung Aegyptiſch ei? 352. wie er auf die 
Ebräiſche Dichtkunſt nach ihm gewirket. 358. Mofes und Yaron gegen 
einander ©. 363. Sein Tob ©. 363. Daß er nicht Berfaßer ber 
Beißagungen Bilcams fei ©. 364. Sein letztes lied ©. 365. 





— 4173 — 


Nacht: ältefte Nacht der Morgenländer, in der auch bie Stunden und 
Tage fchlafen ©. 64. 65. Nachtgeiſt S. 67. Reich der Schatten S. 9. 

Namen der Ebräifchen Sprache |. Spracde: bedeutende Namen ber Patriar- 
hen ©. 330. 331. geben Anlaß zur Schrift 332 - 334. | 

Naturpoefie der Morgenländer verbindet Wahrheit mit Empfindung u. 
Didtung S. 67. Schönbeit derſelben im Buch Hiob S. 90. 91. Gottes 
bei Hiob Über die Erde S. 100. Das Meer S. 101. Die Morgenrötbe 
©. 101. 102. Licht, Nacht, Thau, Eis, Regen S. 102. 103. Über Sterne 
und Wolten S. 104. 105. Ob Naturpoefie den Namen der Poefie ver- 
diene? ©.106. Schönheit und Maas der Dichtungen in ihr S. 106-108. 
ob fie rührend und mütlich fei? S. 109-111. Daß fie Zwed und Blan 
haben müße S. 111-113. Naturpoefie in Oßian ©. 114 - 119. 

Nimrod: was der gewaltige Jäger vor dem Herrn bebeunte? ©. 258. 259. 

Noahs Fluh auf Cham ift Strafe des Königs und Hausvaters S. 283. 
284. warım er au Kanaan ftrafet? S. 285. 


Oßians Anrede an die Sonne S. 115. 116. den Mond S. 117. 118. 
Abendftern S. 119. 120. 


Paradies: Kindliche Begriffe deſſelben S. 151. 152. mo e8 gelegen? 
S. 1583. 154. was es der Ebräiſchen Poefie für Bilder gegeben? ©. 155. 
ob die ſinnliche Vorftellung deſſelben gefhabet S. 156. 157. Güldne Zeit 
©. 159. Liebe des Paradieſes S. 160. 161. 

Barallelismus der Ebräer ift daß fimpelfte Ebenmaas der Boefie in 
Gliedern und Tönen ©. 22. Was die beiden Glieder zu einander find? 
©. 23. Wie der Parallelismusd der Enıpfindung und dem Berftande 
diene? S. 24. 25. Ob er nachzuahmen fei in andern Spraden ©. 26. 
27. Parallelismus Himmels und der Erde ©. 52-56. Daß im älteften 
Liede Thon Parallelismus und Reim fei ©. 344. 345. 

Patriarchen: Tehler derfelden S. 294 mie fich ihre Gefchichte erhalten 
©. 322. 323. 

Berfonendihtung: wie nothwendig fie der Naturpoefie fei S. 106 - 109. 
Perfonendichtungen Oßians S. 113. 114. auf die Sonne ©. 115. 116. 
Mond ©. 117. 118. Abendſtern S. 119. 120. Perfonendidtung in 
Thieren ©. 120 - 125. des Todtenreichs S. 222. 223. der Siinde ©. 250. 

Bflanzen und Blumen: Belebung derfelben in der Ebräiſchen Dicht- 
tunft S. 76. Ehe und Liebe, Perfonification und Kabeln derſelben ©. 77. 
Erziehung derfelben wem fie zugefchrieben werde? S. 80. 

Boefie: Ebräifche ift eine Poeſie des Bundes d. i. der Freundſchaft mit 
Gott S.291. Kanaans 304. was im erfien Buch Moſe Boefie jei? 
344. 34h. 

Herder ſammtl. Werke. XI. 31 


— 44 — 


Propheten: was ihnen Moſes für Rechte gegeben? S. 362. 


Rabe: Schilderungen deſſelben S. 121. 

Regen: Bilder deſſelben S. 72. 98. 103. 104. 

Regenbogen: ein verſchiedenes Symbol in Orient und Norden S. 255. 256. 

Reich der Ungebobrnen ©. 65. 66. der Vernichtung S. 102. 

Roß: Schilderung beilelben S. 123. 124. 125. Roße Gottes S. 175. 
Roße Elias ©. 189. 


Salzfüule des Weibes Loths, ob fie eine Babel? S. 343. 

Satan: Begrif befielben in Hiob S. 137. 138. 

Semiten: ibre Spraden S. 316. 317. Ihr Rede auf Alien S. 319. 
ihr Gottesbienft und Geiſt S. 320. 321. 

Schlange: Character derſelben in ber Poeſie S. 166 - 169. 

Schnee: Schöpfung befielben S. 57. 97. feine Vorrathskammern S. 108. 

Sonne: warum die Ebräifche Poeſie ſie nicht in Hymnen befinge? S. 77. Ber- 
fonification berfelben S. 78:80. Oßians Anrebe an diejelbe ©. 115. 110. 

Sprache: wie fie ſich der ‘Denfch gebilvet? S. 158. 

Sprache, Ebräifche, wie fie gemeiniglich gelernt werde S. 2. 3. Bor- 
würfe gegen fie S.4-6. daß fie eine poetifhe Sprade fei in Anſehung 
der Berben 5.7. 8. der Nominun ©. 9-11. der Wurzeln ihrer Beben- 
tung S. 13-15. der Ableitung aus den Wurzeln ©. 16. 17. der Tem- 
porum ©. 18. 19. der Bartifeln S. 20. des Parallelismus S. 21 -27. 
von ihren Buchftaben und grammatifhen Form S. 28. 29. wie fie zu 
treiben? S. 30. ob fie die ältefte Sprache der Welt ſei? S. 340. daß 
fie fih dur Buchſtabenſchrift frühe gebildet S. 340. 

Sprade und Schrift: ein Gedicht über das Wunderbare und Göttliche 
beider ©. 32 - 35. wie ſich beide durch einander bilden S. 340. 

Sprechen Gottes ©. 56. 57. 

Stammesfagen des Ebräifchen Volks ob fie menfchenliebend und ebel? 
5. 279-282. wie fie fih erhalten ©. 321. bis zu Abraham Binauf 
S. 322 - 324. über Abraham bis zur Sundfluth S.325 -328. vor ber 
Sündfluth S. 329 - 339. 

Sterne: Perjonificationen berfelben ©. 78-81. 106. Oßians Anrebe an 
den Abendftern ©. 118. 119. 

Straus: Schilderung befielben S. 123. 124. 

Sünde perfonificirt S. 250. 

Sündfluth, ächte Erzählung derſelben S. 254. 255. 328. Ob fie allge 
mein geweſen? 329. 





— 4 — 


Thiere: poetifhe Schilderung und Belebung derſelben ©. 81. 82. wie viel 
fie der Ebräifhen Poefie gelten? S. 83. Perſonendichtung in ihnen 
©. 120 » 125. ihr beftimmter Character ift Anlaß ber Fabel ©. 158. 159. 
folgen dem Dienfchenfchidial 251. 

Thurmbau zu Babel: Sage von ibm, mo fie ehe? S. 257. ihr Ton 
und Zwed ©. 258 -260. ob fie eine Fabel fei? ©. 340 - 342. 

Todtenreih: Urſprung deßelben in den Gräbern ©. 218-220. Urfprung 
der Riefenform deßelben S. 221. Perfonificationen und Mythologie defel- 
ben S. 222. Beichreibungen deſſelben &. 228 - 230. 236. 06 es aus 
Aegypten fei? ©. 234. 

Unfterblidleit der Seele ©. 206. 214-217. Todtenreih S. 218-222 
Aufnahme zu Gott S. 224 - 228. Danflieb dariiber S. 231 - 234. Auf- 
erfiehung ©. 235. das Land der Väter S. 239. 240. 

Uz, wo es gelegen? ©. 125 - 127. 

Vorſehung: Poeſie der Morgenländer darauf, ob fie nützlich oder fehäb- 
ih geweien? ©. 242 - 244. Contraſte in Schilderungen berfelben find 
allgemein S. 266. wahr und nütlih S. 267. 268. Lehrſpruch auf Die 
Borfehung S. 268. 269. Was diefe Poefien für Gute gewirtet S. 270. 
271. Pſalmen S. 272. 273. Glaube des Ebräiſchen Volts an diefelbe, 
ob er rechter Art geweſen? S. 279-281. 

Waldefel: Schilderung beffelden S. 122. 

Waldochs: Schilderung deſſelben S. 122. 


Weisheit: wahre und falfche der Morgenländer ©. 169. 170. Lobgedicht 
auf die Weisheit S. 274-277. perfonificirt S. 277. . 


Rudolſtadt, 


gedruckt mit Löwiſcher Erben Schriften, unter 
Schirachſcher Addreſſe. 


— — — — — — — 


31* 


Dalle, Buhpruderei des Waifenhanjee. 











Angus [AED 


HA 7, 32]. 


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Nolan N 249. 


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